Texte zu Einsteins Relativitätstheorie 9783787337439, 9783787337422

Der Philosoph und Physiker Moritz Schlick zählt aufgrund seiner bahnbrechenden Arbeiten zur Einstein’schen Relativitätst

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German Pages 209 [260] Year 2019

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Texte zu Einsteins Relativitätstheorie
 9783787337439, 9783787337422

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Philosophische Bibliothek

Moritz Schlick Texte zu Einsteins Relativitätstheorie

Meiner

MORITZ SC HLIC K

Texte zu Einsteins Relativitätstheorie Eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von

Fynn Ole Engler

FELIX MEINER VERL AG H A MBURG

PHILOSOPHISC HE BIBLIOTHEK BAND 733

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN  9 78-3-7873-3742-2 ISBN E-Book  9 78-3-7873-3743-9

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim  /  Hüfingen. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Josef Spinner, Ottersweier. Gedruckt auf alte­ rungs­beständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

I N H A LT

Einleitung von Fynn Ole Engler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 1. Von Berlin über Zürich nach Rostock . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII 2. Die erste Begegnung mit Einstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XII 3. Diskussionen über Philosophie und Wissenschaft . . . . . . . XX 4. Einstein in Rostock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIV 5. Schlicks Auseinandersetzung mit verschiedenen Deutungen der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX 6. Die Naturforscherversammlung 1922 in Leipzig . . . . . . XXXVII 7. Neue Herausforderungen in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIX 8. Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLIII 9. Zu dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLIV

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLV

MOR ITZ SCH LICK

Texte zu Einsteins Relativitätstheorie 1.1 Die philosophische Bedeutung des Relativitätsprinzips

3

1.2 Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Zur Einführung in das Verständnis der allgemeinen ­Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1.3 Einsteins Relativitätstheorie und ihre letzte Bestätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1.4 Einsteins Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1.5 Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen P ­ hysik? Bemerkungen zu Ernst Cassirers Buch »Zur ­Einstein’schen Relativitätstheorie« . . . . . . . . . . . . . 125

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Inhalt

1.6 Die Relativitätstheorie in der Philosophie . . . . . . . . . . . . 144 1.7 Relativitätstheorie und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Anhang 2.1 Rezension von Werner Bloch, Einführung in die ­Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2.2 Rezension von Hermann Weyl, Raum, Zeit, Materie . . 169 2.3 Rezension von Albert Einstein, Geometrie und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2.4 Rezension von Hugo Dingler, Physik und Hypothese . . 176 2.5 Rezension von Ernst Gehrcke, Physik und Erkenntnis­ theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2.6 Rezension von Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2.7 Rezension von Hans Thirring, Die Idee der ­Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2.8 Rezension von Josef Winternitz, Relativitätstheorie und Erkenntnislehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2.9 Rezension von Hans Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

EIN LEITU NG

Vorbemerkung Der Philosoph und Physiker Moritz Schlick zählt aufgrund seiner bahnbrechenden Arbeiten zur Einstein’schen Relativitäts­ theo­rie zu den einflussreichsten Denkern in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts. Als Philosoph gehörte er zum Denkkollektiv der Physiker und leistete wichtige Beiträge zum Verständnis der Grundlagen der modernen Physik. Schlick hat in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, aber auch in der Wissenschaftsgeschichte den Rang eines Klassikers, er steht insbesondere für einen wechselseitigen und fruchtbaren Austausch zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und philosophischer Reflexion. Die in diesem Band zusammengestellten Texte zur Relativitätstheorie wurden von Schlick aus unterschiedlichen ­A nlässen verfasst, der Zeitraum ihrer Entstehung reicht von seiner ersten Begegnung mit Albert Einstein im Dezember 1915, dem Ausgangspunkt für einen jahrelangen Gedankenaustausch, über die Berufung nach Wien im Herbst 1922 auf den Lehrstuhl für Naturphilosophie in der Nachfolge von Ernst Mach und Ludwig Boltzmann bis in das Jahr 1929, das den Beginn der öffentlichen Phase des heute weltberühmten »Wiener Kreises« markiert, der aus einem privaten Diskussionszirkel um Schlick hervorging.1 Schlicks Texte zeichnen sich durch eine außerordentliche Klarheit und ein tiefgehendes Verständnis für die physikalischen 1  Ausgewählte Texte von Mitgliedern des Wiener Kreises sind ab-

gedruckt in: Michael Stöltzner und Thomas Uebel (Hg.), Wiener Kreis. Texte zur wissenschaftlichen Weltauffassung von Rudolf Carnap, Otto Neurath, Moritz Schlick, Philipp Frank, Hans Hahn, Karl Menger, ­E dgar Zilsel und Gustav Bergmann, Hamburg: Felix Meiner 2006 sowie in: Christian Damböck (Hg.), Der Wiener Kreis. Ausgewählte Texte, Stuttgart: Reclam 2013.

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Einleitung

Gedanken aus, sowohl mit Blick auf die spezielle Relativitäts­ theo­rie, die Einstein in seinem »Wunderjahr« 1905 formulierte, als auch die allgemeine Relativitätstheorie aus dem Jahre 1915. Die Texte sind wichtige Dokumente, die einen lebhaften Eindruck von den Diskussionen um die Relativitätstheorie und ihre unterschiedlichen philosophischen Deutungen vermitteln, und nicht zuletzt zeugen sie von der Durchsetzung unseres modernen Weltbildes, das durch die Relativitätstheorie entscheidend mitbestimmt ist. 1.  Von Berlin über Zürich nach Rostock Friedrich Albert Moritz Schlick wird am 14. April 1882 in Berlin geboren.2 Die Ursprünge der Familie liegen im Harz; es war Schlicks Großvater, Friedrich Ernst Schlick (1817–1877), der sich in Berlin niederließ und die später vom Vater, Albert Schlick (1846–1918), übernommene Firma »F.  E. Schlick – Elfenbein-­ Handlung und Dampf-Schneideanstalt« gründete, eine Manu­ faktur, die sich am Anfang des 20. Jahrhunderts auf Klaviatur-­ Beläge und Billardbälle spezialisiert hatte. Schlicks Mutter, A ­ gnes Arndt (1849–1915), stammte aus Ranzow auf der Insel Rügen, aus ihrer 1874 geschlossenen Ehe mit Albert Schlick gingen zwei weitere Söhne hervor: Der erste, Ernst Moritz Paul (1875–1880), starb früh, zu seinem Bruder August Hans (1878–1940), der die Leitung des Familienunternehmens 1918 übernahm, hatte Schlick über lange Zeit ein gutes, ab Anfang der Zwanzigerjahre jedoch eher ein distanziertes Verhältnis. Über die Kindheit Schlicks, die von einigen Krankheiten bestimmt war, ist nur wenig bekannt, er spielte Klavier, interes2  Weiterführendes zur Biographie Schlicks findet sich in: Mathias

Iven, Moritz Schlick. Die frühen Jahre (1882–1907), Berlin: Parerga 2008 sowie in: Fynn Ole Engler und Mathias Iven, Moritz Schlick in Rostock, Rostock: Weiland 2007.

Fynn Ole Engler

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sierte sich für Malerei und Literatur, erste philosophische Lektüren führten ihn zu Platon, Descartes, Nietzsche, Schopenhauer und Kant; überdies gab Schlick später in einem undatierten Lebenslauf an: Ich las allerlei und machte mich besonders über die paar Tropfen Wissenschaft her, die ich aus mir zugänglichen Büchern herauspressen konnte. Allein die rein passive Thätigkeit befriedigte mich nicht recht, denn ich wollte durch die Beschäftigung nicht blos unterhalten sein, sondern hätte auch gern etwas Greifbares zu stande gebracht. So baute ich allerhand physikalische, besonders elektrische Apparate, doch meist nahm ich sie wieder auseinander, ehe sie noch fertig geworden, um dann das Material zu neuen Zusammenstellungen zu verwenden. […] Von den Wissenschaften zogen mich stets Mathematik und Physik am meisten an […] Vor allem interessierte mich die Mechanik.3

Nach dem Abschluss des Luisenstädtischen Realgymnasiums und dem Erhalt des Reifezeugnisses am 22. September 1900 nimmt Schlick zum Herbst das Studium der Physik, Mathematik, Chemie und Philosophie an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin auf. Mit einer Arbeit zur klassischen Strahlenoptik wird er bei Max Planck und Emil Warburg im Mai 1904 promoviert,4 allerdings bieten ihm weder die theoretische noch die experimentelle Physik eine berufliche Perspektive, so 3  Moritz Schlick, [Curriculum vitae], Noord-Hollands Archief, Nach­ lass Schlick, Inv.-Nr.  82, C. 1 a, Bl.  1/2. 4  Moritz Schlick, Über die Reflexion des Lichtes in einer inhomogenen Schicht / Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, hrsg. und eingeleitet von Fynn Ole Engler und Matthias Neuber, Wien / New York: Springer 2006. Siehe dazu Dieter Hoffmann, »Max Planck als akademischer Lehrer von Moritz Schlick und die Beziehungen beider Gelehrter im Spiegel ihrer Korrespondenz«, in: Fynn Ole Engler und Mathias Iven (Hg.), Moritz Schlick. Leben, Werk und Wirkung, Berlin: Parerga 2008, S.  31–58.

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Einleitung

dass sich Schlick wieder verstärkt der Philosophie zuwendet. Die empirischen Wissenschaften spielen aber auch weiterhin eine wichtige Rolle. Kurz nach der Hochzeit mit der Amerikanerin Blanche Guy Hardy (1879–1964), die Schlick in Heidelberg kennengelernt hatte, und der Veröffentlichung seines Erstlings Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre5 im Herbst 1907, übersiedelt das junge Paar für zwei Jahre nach Zürich. Über diese Zeit schrieb Schlick: Meine Beschäftigung galt hier hauptsächlich dem Studium der Psychologie, dessen Notwendigkeit ich so deutlich empfunden hatte. Ich hörte einige Vorlesungen an der Universität, und verdanke besonders der persönlichen Freundlichkeit G[ustav] Störrings viele Anregungen; in der Hauptsache aber benutzte ich die grossen und kleinen Lehrbücher der Psychologie. Dabei stimmte die übergroße Verschiedenheit der Ergebnisse und Methoden, die sich bei vergleichender Lektüre der Standardwerke aufdrängte, den Leser oft nachdenklich und gab den Anstoß zur Ausbildung bestimmter Überzeugungen von der Rolle und Brauchbarkeit der Begriffe verschiedener Wissenschaftsklassen zur Bezeichnung der Wirklichkeit.6

Schlicks Interesse an den begrifflichen und methodischen Grundlagen der Wissenschaften, insbesondere der Psychologie und der Physik, war geweckt; in seinem ersten wissenschaftsphilosophischen Aufsatz, der im Juli 1910 erschien,7 thematisierte er aber auch Fragen ihrer systematischen Einteilung in Geistes- und Na5  Moritz Schlick, Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre /

Fragen der Ethik, hrsg. und eingeleitet von Mathias Iven, Wien / New York: Springer 2006. 6  Moritz Schlick, [Autobiographie], Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  82, C. 2 a, Bl.  9/10. 7  Moritz Schlick, »Die Grenze der naturwissenschaftlichen und philosophischen Begriffsbildung«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie 34 (1910), S.  121–142.

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turwissenschaften, wobei er die philosophische Begriffsbildung keinesfalls allein auf die Geisteswissenschaften beschränkt sehen wollte. Denn diese fand, so Schlick, »reichlich Platz zur Entfaltung innerhalb der Naturwissenschaften, wie sie gegenwärtig sind, ja die letzteren mit ihrer Fülle qualitativer Relationen, die sie noch aufweisen, bieten gerade das Hauptfeld für ihre Tätigkeit dar«8, die Schlick letztlich darin erblickte, die qualitativen Relationen in den exakten Begriffsrahmen der Naturwissenschaft zu überführen. Insbesondere die objektiven Begriffe von Raum und Zeit galt es dabei mit den subjektiven Raum- und Zeitvorstellungen zu vereinbaren, ein Problem, das ihn gerade auch im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie beschäftigen sollte. Nach einem halbjährigen Aufenthalt in Berlin, Schlicks Sohn Albert (1909–1999) war noch in Zürich zur Welt gekommen, seine Tochter Barbara (1914–1988) wird ein paar Jahre später geboren, erfolgt im Herbst 1910 der Umzug in die Hansestadt Rostock. Kurz zuvor spielte Schlick noch mit dem Gedanken, sich in Potsdam niederzulassen, schließlich fiel aber die Entscheidung auf Rostock. Die Familie bezieht ein großzügiges Haus in der zur Uni­versität nahegelegenen Steintorvorstadt, einer Wohngegend für Professoren, die Eltern übernahmen zunächst auch weiterhin die finanzielle Unterstützung des Haushalts und beteiligten sich später am Kauf der Stadtvilla. Im Mai 1911 habilitiert sich Schlick und wird Privatdozent; im Wintersemester 1911/12 hält er seine ersten Vorlesungen über Grundzüge der Erkenntnislehre und Logik und beginnt sich bald darauf auch intensiv mit der neuen Theorie von Raum und Zeit auseinander zu setzen.

8  Ebenda, S.  140.

XII

Einleitung

2.  Die erste Begegnung mit Einstein Seit Beginn seiner Rostocker Jahre hat sich Schlick mit der Einstein’schen Relativitätstheorie beschäftigt.9 Es dürfte sein Kommilitone, der spätere Nobelpreisträger Max von Laue, gewesen sein, der Ende 1911 den Anstoß gab, etwas über das Relativitätsprinzip zu Papier zu bringen: Wäre es nicht gut, so von Laue an Schlick, »wenn einmal von berufener philosophischer Seite etwas darüber geschrieben würde. […] Wollen Sie sich nicht einmal daran setzen?«10 Das Ergebnis war der Mitte 1915 abgeschlossene Aufsatz »Die philosophische Bedeutung des Relativitätsprinzips«11. In diese Zeit fällt auch die Arbeit an der Allgemeinen Erkenntnislehre, die bis zum Ende des Jahres 1915 im Wesentlichen fertiggestellt war, deren Veröffentlichung sich aber kriegsbedingt 9  Ein erster Hinweis findet sich in seiner Ende 1910 / A nfang 1911 ver-

fassten und Mitte 1911 erschienenen Rezension von Paul Natorp, Die ­logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. Schlick gibt hier an, dass »[d]ie Darstellung des Einsteinschen Relativitätsprinzips und die daran geknüpften Betrachtungen, die den Schluß des Bandes bilden, […] einen etwas unsicheren Eindruck [machen]« (in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie 35 (1911), S.  254–260, hier S.  260). 10  Max von Laue an Moritz Schlick, 27. Dezember 1911, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  108 / Lau-9. Eine Referenz auf die Arbeiten des russischen Physikers Wladimir Sergejewitsch Ignatowski in einem Notizheft aus dieser Zeit belegt Schlicks Beschäftigung mit dem Relativitätsprinzip (siehe [Notizheft 1], Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  180 / A. 193, S.  30), zudem verweist er auf Ernst Gehrckes, »Nochmals über die Grenzen des Relativitätsprinzips«, in: Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft 13, Nr.  21 (1911), S.  990–1000 (ebenda, S.  54). In einem anderen Notizheft, das Schlick vermutlich von Mitte 1912 bis Ende 1914 führte, referenziert er auf Hendrik Antoon Lorentz, Das Relativitätsprinzip. Drei Vorlesungen gehalten in Teylers Stiftung zu Haarlem, Bearbeitet von W. H. Keesom, Leipzig / Berlin: Teubner 1914 (siehe [Notizheft 2], Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  180 / A.  194, S.  67). 11  Beitrag 1.1, S.  3–56.

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bis Anfang 1919 verzögerte.12 Sein Aufsatz zum Relativitätsprinzip bot Schlick die Gelegenheit, die in der Erkenntnislehre entfaltete Position auf die aktuellen Entwicklungen in der Physik anzuwenden, aber auch auf dem Gebiet der Naturphilosophie, speziell der Philosophie der Physik, galt es in die Debatte zwischen Neukantianern und Positivisten, die Deutungshoheit über das naturwissenschaftliche Weltbild betreffend, einzugreifen, und schließlich wollte Schlick auch die Physiker überzeugen. Im Dezember 1915 sandte er ein Exemplar des Aufsatzes an Einstein, der ihm sofort antwortete: Ich habe gestern Ihre Abhandlung erhalten und bereits vollkommen durchstudiert. Sie gehört zu dem Besten, was bisher über Relativität geschrieben worden ist. Von philosophischer Seite scheint überhaupt nichts annähernd so Klares über den Gegenstand geschrieben zu sein. Dabei beherrschen Sie den Gegenstand materiell vollkommen. Auszusetzen habe ich an Ihren Darlegungen nichts.13

Und Einstein lud Schlick auch sogleich zu sich nach Berlin ein. Den entscheidenden Hinweis darauf, dass es schon wenige Tage später zu einer ersten Begegnung kam, liefert Schlick in einem Brief vom 14. Dezember an seinen Vater, denn er kündigt ihm hier einen Besuch in Berlin an: »Wir werden nun am Freitag kommen […] um 9.54 Abends Stettiner Bahnhof.« Die briefliche 12  Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, hrsg. und eingeleitet

von Hans Jürgen Wendel und Fynn Ole Engler, Wien / New York: Springer 2009. 13 Albert Einstein an Moritz Schlick, 14. Dezember 1915, in: The Collected Papers of Albert Einstein (kurz: CPAE) 8/A, Doc. 165. Zum Briefwechsel zwischen Einstein und Schlick siehe Don Howard, »Realism and Conventionalism in Einstein’s Philosophy of Science: The Einstein-Schlick Correspondence«, in: Philosophia Naturalis 21 (1984), S.  618–629 und Klaus Hentschel, »Die Korrespondenz Einstein-Schlick: Zum Verhältnis der Physik zur Philosophie«, in: Annals of Science 43 (1986), S.  475–488.

XI V

Einleitung

Einladung Einsteins an Schlick erfolgte ebenfalls am 14. Dezember, sie dürfte ihn also noch vor der Abreise nach Berlin erreicht haben. Es ist daher wohl mehr als wahrscheinlich, dass Schlick, sollte er die Reise nach Berlin tatsächlich angetreten haben, am Wochenende des 18./19. Dezember auch Einstein einen Besuch abstattete.14 Doch worüber haben beide miteinander gesprochen? Sicherlich über Schlicks Aufsatz, aber auch über die allgemeine Relativitätstheorie, die Einstein Ende November 1915 nach jahrelangem Ringen schließlich formuliert hatte.15 Wie sich zeigen sollte, bahnte dieses Treffen Einstein einen Weg aus einer verzwickten Situation und führte schließlich zu einer glänzenden Bestätigung einer zentralen Auffassung in der Allgemeinen Erkenntnislehre.16 Einstein war seit 1907 mit einer Verallgemeinerung seiner speziellen Relativitätstheorie beschäftigt, im Jahre 1913 gelangte er dabei zu der Überzeugung, dass es allgemein kovariante Feldgleichungen der Gravitation nicht geben könne; mit dem berühmten »Lochargument« meinte er sogar einen Beweis dafür gefunden 14  Am Freitag, den 17. Dezember 1915, trug Einstein in der Deutschen

Physikalischen Gesellschaft über »die allgemeine Relativitätstheorie und die durch sie gelieferte Erklärung der Perihelbewegung des Merkurs« vor (vgl. Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft 17, Nr.  24, S.  437); am Wochenende dürfte er für Schlick Zeit gehabt haben. 15  Siehe dazu Jürgen Renn und Tilman Sauer, »Pathways out of Classical Physics: Einstein’s Double Strategy in Searching for the Gravitational Field Equation«, in: Jürgen Renn (Hg.), The Genesis of General Relativity. Sources and Interpretations, Bd.  1: Einstein’s Zurich Notebook: Introduction and Source, Dordrecht: Springer 2007, S.  113–312. 16  Zu weiteren Details und Hintergründen des ersten Treffens zwischen Einstein und Schlick vgl. Fynn Ole Engler und Jürgen Renn, »Hume, Einstein und Schlick über die Objektivität der Wissenschaft«, in: Fynn Ole Engler und Mathias Iven (Hg.), Moritz Schlick. Die Rostocker Jahre und ihr Einfluss auf die Wiener Zeit, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013, S.  123–156, hier Abschnitt 8 sowie Fynn Ole Engler und Jürgen Renn, Gespaltene Vernunft. Vom Ende eines Dialogs zwischen Wissenschaft und Philosophie, Berlin: Matthes & Seitz 2018, Kap. 8.

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XV

zu haben.17 Einerseits war er davon ausgegangen, dass in einer materiefreien Region der Raumzeit – dem »Loch« – zwei Raumzeitpunkte einer vierdimensionalen Mannigfaltigkeit ­allein aufgrund ihrer Koordinaten physikalisch voneinander unterschieden werden können. Andererseits sah er es als notwendig an, dass die Feldgleichungen in der materiefreien Region eine eindeutige Lösung besitzen. Unter der Voraussetzung, dass sich Raumzeitpunkte unabhängig vom metrischen Tensor nur durch ihre Koordinaten identifizieren lassen, lieferten die Feldgleichungen in dieser materiefreien Raumzeitregion jedoch keine eindeutige Lösung. Dies bestätigte Einstein darin, die Forderung der allgemeinen Kovarianz der Feldgleichungen der Gravitation fallen zu lassen, um die Eindeutigkeit physikalischer Vorgänge zu retten. Schlick war mit den Konsequenzen dieses Arguments vertraut, er gab in seinem Aufsatz an, dass damit auch das Mach’sche Prinzip als heuristische Direktive der Einstein’schen Theorie unhaltbar sei.18 Dies dürfte Einstein hinlänglich herausgefordert haben, schließlich hatte er in der Zwischenzeit sein Ziel erreicht, die Ableitung von allgemein kovarianten Feldgleichungen. Zudem wollte er an der Mach’schen Heuristik nicht rütteln. Ließ sich aber für Einsteins neues Verständnis von Raum und Zeit, 17  Siehe dazu John Stachel, »Einstein’s Search for General Covari-

ance, 1912–1915«, in: Don Howard und John Stachel (Hg.), Einstein and The History of General Relativity, Boston: Birkhäuser 1989, S.  63–100; Don Howard und John D. Norton, »Out of the Labyrinth? Einstein, Hertz, and the Göttingen Answer to the Hole Argument«, in: John Earman, Michel Jannsen und John D. Norton (Hg.), The Attraction of Gravitation. New Studies in the History of General Relativity, Boston: Birkhäuser 1993, S.  30–62; Michel Janssen, »What Did Einstein Know and When Did He Know It? A Besso Memo Dated August 1913«, in: Jürgen Renn (Hg.), The Genesis of General Relativity. Sources and Interpretations, Bd.  2: Einstein’s Zurich Notebook: Commentary and Essays, Dordrecht: Springer 2007, S.  785–837 und John Stachel, »The Hole Argument and Some Physical and Philosophical Implications«, in: Living Rev. Relativity 17 (2014). 18  Siehe den Beitrag 1.1, S.  51.

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Einleitung

das er rasch in einer Fußnote in seinem Brief an Schlick notierte, nämlich dass diese »den letzten Rest von physikalischer Realität [verlieren]«19, auch ein überzeugendes Argument finden? An die Stelle des Locharguments, das einer befriedigenden Deutung der allgemeinen Relativitätstheorie entgegenstand, trat das »Punktkoinzidenzargument«20, das Einstein von Schlick übernahm, der sich, wie wir sahen, bereits in Zürich mit der eindeutigen Bestimmbarkeit von Wirklichem in den Wissenschaften beschäftigt hatte. Schlick war im Zusammenhang mit dieser Frage zu einer einheitlichen Methode der Messung gelangt, die sich auf »raum-zeitliche Koinzidenzen« zurückführen ließ.21 In der Erkenntnislehre gab er an: »Jede Orts- und Zeitbestimmung geschieht durch Messung und alles Messen, vom primitivsten bis zum entwickeltsten, beruht auf Beobachtungen raumzeitlicher Koinzidenzen […].«22 Und auch mit Blick auf Einsteins Theorie sollten sich derartige Koinzidenzen, d. h. das Zusammenfallen 19  Albert Einstein an Moritz Schlick, 14. Dezember 1915, a. a. O. 20  Vgl. in diesem Zusammenhang auch Don Howard, »Point Coinci-

dences and Pointer Coincidences: Einstein on the Invariant Content of Space-Time Theories«, in: Hubert Goenner, Jürgen Renn, Jim Ritter und Tilman Sauer (Hg.), The Expanding Worlds of General Relativity, Boston: Birkhäuser 1999, S.  463–500 und Marco Giovanelli, »Erich Kretschmann as a Proto-Logical-Empiricist. Adventures and Misadventures of the Point-Coincidence Argument«, in: Studies in History and Philosophy of Science. Part B: Studies in History and Philosophy of Modern Physics 44 (2013), S.  115–134. 21  Erstmals verwies Schlick auf die Koinzidenzmethode im Zusammenhang mit Messungen in einem nachgelassenen Manuskript aus dem Jahre 1910: »Die psychischen Phänomene sind unräumlich, uns bieten aber bekanntlich räumliche Verhältnisse die einzige Möglichkeit des Messens. Alle Messungen finden in der Weise statt, dass räumliche Coincidenzen (Galvanometerausschläge, Uhrzeigerstellung etc.) beobachtet werden.« (Moritz Schlick, »Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung«, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  151, A.  97-1, S.  9 r.) 22  Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, hrsg. und eingeleitet von Hans Jürgen Wendel und Fynn Ole Engler, a. a. O., S.  614.

Fynn Ole Engler

XVII

von raum-zeitlichen Ereignissen in einem Punkt, als entscheidend erweisen, um Wirkliches in der Physik auszeichnen. »Das physikalisch Reale an dem Weltgeschehen (im Gegensatz zu dem von der Wahl des Bezugssystem Abhängigen) besteht in raumzeitlichen Koinzidenzen [und in nichts anderem]«, so Einstein Ende 1915 in einem Brief an Paul Ehrenfest.23 Und an seinen engen Freund, den Maschinenbauingenieur Michele Besso schrieb er Anfang Januar 1916: An der Lochbetrachtung war alles richtig bis auf den letzten Schluss. Es hat keinen physikalischen Sinn, wenn inbezug auf dasselbe Ko­ ordi­natensystem K zwei verschiedene Lösungen G(x) und G'(x) existieren. Gleichzeitig zwei Lösungen in dieselbe Mannigfaltigkeit hin­einzudenken, hat keinen Sinn und das System K hat ja keine physikalische Realität. Anstelle der Lochbetrachtung tritt folgende Überlegung. Real ist physikalisch nichts als die Gesamtheit der raum-zeitlichen Punktkoinzidenzen. Wäre z. B. das physikalische Geschehen aufzubauen aus Bewegungen materieller Punkte allein, so wären die Bewegungen der Punkte, d. h. die Schnittpunkte ihrer Weltlinien das einzig Reale, d. h. prinzipiell beobachtbare. Diese Schnittpunkte bleiben natürlich bei allen Transformationen erhalten (und es kommen keine neuen hinzu), wenn nur gewisse Eindeutigkeitsbedingungen gewahrt bleiben. Es ist also das natürlichste, von den Gesetzen zu verlangen, dass sie nicht mehr bestimmen als die Gesamtheit der zeiträumlichen Koinzidenzen. Dies wird nach dem Gesagten bereits durch allgemein kovariante Gleichungen ­erreicht.24

Die Übernahme des Schlick’schen Prinzips der Koinzidenzen konnte schließlich auch die wichtige Rolle, die das Mach’sche Prinzip ontologisch für die allgemeine Relativitätstheorie spielte, 23  Albert Einstein an Paul Ehrenfest, 26. Dezember 1915, in: CPAE

8/A, Doc. 173. 24  Albert Einstein an Michele Besso, 3. Januar 1916, in: CPAE 8/A, Doc. 178.

XVIII

Einleitung

ergänzen, indem es materiellen Ereignissen nun auch erkenntnistheoretisch den Vorrang vor der Struktur der Raumzeit gab. Schon wenig später sollte Schlick für die Zeitschrift Die Naturwissenschaften auf Empfehlung des zunächst für diese Aufgabe vorgesehenen Münchner Philosophieprofessors Erich Becher einen längeren Aufsatz verfassen, der, wie Arnold Berliner, der Begründer und einer der beiden Herausgeber der Zeitschrift, an Schlick schrieb, »recht allgemein verständlich«25 in die Relativitätstheorie einführte. Nach Fertigstellung des Aufsatzes »Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Zur Einführung in das Verständnis der allgemeinen Relativitätstheorie«26 schrieb Schlick im Februar 1917 an Einstein: Bei Gelegenheit meines letzten Besuches bei Ihnen waren Sie so freundlich, sich zu einer Durchsicht eines Aufsatzes über die Relativität bereit zu erklären, den ich für die »Naturwissenschaften« zu liefern versprochen hatte. Arbeitsüberlastung und andere Störungen haben mich bis jetzt an der Fertigstellung des Aufsatzes gehindert, nun bin ich aber endlich doch dazu gekommen und erlaube mir nun, Ihnen das Manuscript zu senden mit der herzlichen Bitte, es einer Prüfung zu unterziehen, wenn Ihre Zeit es gestattet. […] Es ist wirklich so sehr zu wünschen, dass die Gedanken des allgemeinen Rel.-Prinzips recht bald überall bekannt und verstanden würden, nicht blos aus physikalischen, sondern auch besonders aus philosophischen Gründen – und ich würde mich glücklich schätzen, wenn der Aufsatz dazu fühlbar beitragen könnte. Weil es sich wirklich um die Förderung der Sache handelt, zögere ich deshalb auch nicht, von Ihrer damals erteilten Erlaubnis Gebrauch zu machen und Ihnen die Arbeit vor der Publikation zur Begutachtung vorzulegen.27

25  Arnold Berliner an Moritz Schlick, 21. Juli 1916, Noord-Hollands

Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  092 / Berl-1. 26  Beitrag 1.2, S.  57–99. 27 Moritz Schlick an Albert Einstein, 4. Februar 1917, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-25.

Fynn Ole Engler

XIX

Der Aufsatz, der in zwei Heften am 16. und 23. März 1917 erschien, war »weniger eine Darstellung der allgemeinen Relativitätstheorie selbst als eine eingehende Erläuterung des Satzes, dass Raum und Zeit nun in der Physik alle Gegenständlichkeit eingebüsst haben«28; also genau dem Aspekt gewidmet, der Schlick und Einstein bereits in ihrer ersten Begegnung beschäftigt hatte. Zwei Tage später lobte Einstein die Darlegung für ihre »unübertreffliche Klarheit und Übersichtlichkeit«, und weiter heißt es: »Sie haben sich um keine Schwierigkeit herumgedrückt[,] sondern den Stier bei den Hörnern gepackt, alles Wesentliche gesagt und alles Unwesentliche weggelassen. Wer Ihre Darlegung nicht versteht, der ist überhaupt unfähig, einen derartigen Gedankengang aufzufassen. […] Zu kritisieren habe ich gar nichts, sondern nur die Treffsicherheit Ihres Denkens und Ihres Wortes zu bewundern.« Schließlich bat er Schlick noch »um 2 oder wenn möglich 3 Exem­plare dieser Ihrer neuen Arbeit […]. Ich möchte meinen Freunden in Zürich gern eines zukommen lassen.«29 Schon bald darauf wurde Schlick eingezogen. Er leistete seinen Kriegsdienst von März 1917 bis November 1918 als ziviler Angestellter in der Physikalischen Abteilung der Königlichen Flugzeugmeisterei in Berlin-Adlershof,30 womit er Einstein auch räumlich näher rückte.

28 Ebenda. 29  Albert Einstein an Moritz Schlick, 6. Februar 1917, in: CPAE 8/A,

Doc. 297. Einstein schrieb in diesem Zusammenhang am 16. April 1917 an Heinrich Zangger in Zürich: »In den ›Naturwissenschaften‹ ist eine ausgezeichnete Darlegung der Theorie von dem Philosophen Schlick in Rostock. Ich sende Ihnen den Aufsatz mit der Bitte, ihn auch [Aurel] Stodola und [Michele] Besso zu geben.« (Robert Schulmann (Hg.), Seelenverwandte. Der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Heinrich Zangger 1910–1947. Unter Mitarbeit von Ruth Jörg, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2012, S.  235–237 und CPAE 10, Doc. 326 a.) 30  Vgl. dazu Mathias Iven, »Moritz Schlick und der Erste Weltkrieg. Adlershof 1917/18«, in: Fynn Ole Engler und Mathias Iven (Hg.), Moritz Schlick. Leben, Werk und Wirkung, a. a. O., S.  59–90.

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3.  Diskussionen über Philosophie und Wissenschaft Im Mai 1917 war die Buchausgabe von Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik bei Springer in Berlin erschienen, die bis 1922 drei weitere, vermehrte Auflagen durchlief.31 Einstein schrieb an Schlick: »Immer wieder sehe ich mir Ihr Büchlein an und freue mich der vortrefflich klaren Ausführungen. Auch der letzte Abschnitt ›Beziehungen zur Philosophie[‹] scheint mir vortrefflich.«32 – Schlick stellte hier dem subjektiven Erleben räumlicher Distanz und zeitlicher Dauer die Objektivität der Begriffe von Raum und Zeit gegenüber, zugleich grenzte er sich von einem strikt positivistischen Standpunkt Mach’scher Prägung zugunsten einer realistischen Position ab, und er zeichnete das Auftreten von raum-zeitlichen Koinzidenzen sowohl im Bereich der Empfindungen als auch der physikalischen Ereignisse als Kriterium von Wirklichem aus. Dabei konnte sich Schlick auch auf die Allgemeine Erkenntnislehre stützen.33 Zwischenzeitlich hatte er Einstein das Manuskript zukommen lassen, wohl auch in der Absicht, eine gemeinsame Position zu erarbeiten. In diesem Zusammenhang schlug Einstein vor, den Begriff von Wirklichem differenziert zu verwenden: Bezeichnen wir aber als »wirklich« das im Raum- und Zeitschema von uns Eingeordnete, wie Sie es in der Erkenntnistheorie gethan haben, so sind in erster Linie zweifellos die »Ereignisse« wirklich. Was wir nun an der Physik als »wirklich« bezeichnen, ist zweifellos das »Zeiträumlich Eingeordnete«, nicht das »Unmittelbar-Ge-

31  Siehe Moritz Schlick, Über die Reflexion des Lichtes in einer in-

homogenen Schicht / Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, hrsg. und eingeleitet von Fynn Ole Engler und Matthias Neuber, a. a. O. 32 Albert Einstein an Moritz Schlick, 21. Mai 1917, in: CPAE 8/A, Doc. 343. Der von Einstein erwähnte letzte Abschnitt war von Schlick für die Buchversion verfasst worden. 33  Vgl. Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, hrsg. und eingeleitet von Hans Jürgen Wendel und Fynn Ole Engler, a. a. O., S.  559–636.

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gebene«. Das Unmittelbar-gegebene kann Illusion sein, das Zeiträumlich-eingeordnete kann ein steriler Begriff sein, der nichts zur Aufhellung der Zusammenhänge zwischen dem Unmittelbar-Gegebenen beiträgt. Ich möchte hier eine reinliche Begriffs-Scheidung vorschlagen.34

Der Hintergrund dafür war ein an Mach orientierter Erfahrungsbegriff: »Wirklich im Sinne von ›in der Erfahrung unabweislich gegeben‹ sind gewiss nur die ›Elemente‹, nicht aber die ›Ereignisse‹«. Letztere gehören, so Einstein, »sicherlich zu den begrifflichen Konstruktionen«35. Die Wahl eines physikalischen Begriffssystems orientierte sich dabei auch am Kriterium der Einfachheit, wie es der Konventionalismus in den Werken von Pierre Duhem und Henri Poincaré forderte, mit denen Einstein und Schlick vertraut waren.36 Grundsätzlicher aber war für beide, dass eine physikalische Theorie durch die Welt der Tatsachen nahegelegt wurde. Die Wahrheit der Theorie verstanden sie als eine eindeutige Zuordnung zwischen den Urteilen und den Tatbeständen, die letztlich durch den Vergleich ihrer Vorhersagen mit tatsächlichen Beobachtungen festgestellt wurde.37 Und auch in der Beantwortung der fundamentalen Frage, ob und inwieweit Raum 34  Albert Einstein an Moritz Schlick, 21. Mai 1917, a. a. O. 35 Ebenda. 36  Siehe Don Howard, »Duhem und Einstein«, in: Synthese 83 (1990),

S.  363–384; Renate Huber, Einstein und Poincaré. Die philosophische Beurteilung physikalischer Theorien, Paderborn: Mentis 2000 und Michael Friedman, »Coordination, Constitution, and Convention: The Evolution of the A Priori in Logical Empiricism«, in: Alan Richardson und Thomas Uebel (Hg.), The Cambridge Companion to Logical Empiricism, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S.  91–116. 37  Siehe dazu Thomas Ryckman, »Conditio Sine Qua Non? Zuordnung in the Early Epistemologies of Cassirer and Schlick«, in: Synthese 88 (1991), S.  57–95 und Don Howard, »Einstein and Eindeutigkeit: A Neglected Theme in the Philosophical Background to General Relativity«, in: Jean Eisenstaedt und Anne J. Kox (Hg.), Historical Studies in General Relativity, Boston: Birkhäuser 1991, S.  154–243.

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und Zeit in der Relativitätstheorie als etwas Wirkliches ausgezeichnet werden können, stimmten Schlick und Einstein überein: Erst unter der Voraussetzung von praktisch-starren Körpern, der Annahme von Längenmaßen und Uhren, wurde eine Raum- und Zeitmessung möglich. Raum und Zeit waren so nur in der Abstraktion von materiellen Dingen und physischen Prozessen zu trennen, sie besaßen keine selbständige Realität. Als wirklich erwies sich allein ihre Einheit in der Praxis der Messung. Einsteins revolutionäre Theorie von Raum und Zeit hatte für den Moment eine befriedigende philosophische Deutung erhalten, Schlicks Anteil daran ist nicht zu unterschätzen: Er war Einsteins »Hausphilosoph«. An seine Frau schrieb Schlick am Morgen des 12. Juni 1917 über ein erneutes Treffen mit Einstein: Now I must tell you about the preceding days. On Saturday I […] rode to Haberlandstrasse, where the Einstein’s much lives – […] Well, Einstein and I sat on the balcony in the Haberlandstrasse for over two hours, talking about philosophy and science, and I had an exceedingly good time. He was awfully nice, and when I left he took me to Prager Platz, where I got into the tram. He talked very nicely about my book and said I was much more bedeutend than Mr. Riehl or Mr. Erdmann or any of those people including Mr. Becher in München. He really seems to think that pappy is überhaupt the most wonderful philosopher at present.38

Aus Anlass von Plancks 60. Geburtstag waren Einstein und Schlick am 26. April 1918 in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Berlin. Einsteins Vortrag rückte die wissenschaftliche Persönlichkeit Plancks in den Mittelpunkt, er stellte aber auch Prinzipielles über die Physik heraus und der Einfluss Schlicks zeigte sich hier in deutlichen Zügen: 38  Moritz Schlick an Blanche Schlick, 12. Juni 1917, Noord-Hollands

Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  139. Gemeint waren die Philosophen Alois Riehl, Benno Erdmann und Erich Becher.

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[M]an [könnte] denken, daß beliebig viele, an sich gleich berechtigte Systeme der theoretischen Physik möglich wären; diese Meinung ist auch prinzipiell gewiß zutreffend. Aber die Entwicklung hat gezeigt, daß von den denkbaren theoretischen Konstruktionen eine einzige jeweilen sich als unbedingt überlegen über alle anderen erweist. Keiner, der sich in den Gegenstand wirklich vertieft hat, wird leugnen, daß die Welt der Wahrnehmungen das theoretische System praktisch eindeutig bestimmt, trotzdem kein logischer Weg von den Wahrnehmungen zu den Grundsätzen der Theorie führt. Noch mehr: dies der Erfahrungswelt eindeutig zugeordnete Begriffssystem ist auf wenige Grundgesetze reduzierbar, aus denen das ganze System logisch entwickelt werden kann. Der Forscher sieht hier bei jedem neuen wichtigen Fortschritte seine Erwartungen übertroffen, indem jene Grundgesetze sich unter dem Drucke der Erfahrung mehr und mehr vereinfachen.39

Im September 1918 schrieb Schlick an Gerda Tardel, eine gute Bekannte, über einen weiteren Besuch bei Einstein: »Wir sprachen hauptsächlich über die zweite Auflage meines Büchleins, die jetzt meine grösste Sorge bildet, denn ich habe baldigste Ablieferung versprochen.«40 Die zweite Auflage von Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik erschien im März 1919, vorab hatte Einstein ein Manuskript erhalten und ließ Schlick wissen: »Ich finde Ihre Darlegung, wie Ihre früheren, ausgezeichnet. Einige kleine Korrekturvorschläge, die ich anbrachte, werden sie ohne Begründung begreifen. Sie sind wirklich ein Künstler der Darstellung.«41

39  Albert Einstein, »Motive des Forschens«, in: CPAE 7, Doc. 7, S.  57.

Schlick schrieb darüber an Gerda Tardel: »Neben andern Rednern sprach Einstein rührend schön, und ich war begeistert.« (4. Mai 1918, Staatbibliothek zu Berlin (Handschriftenabteilung), Nachl. 281, Moritz Schlick.) 40  Moritz Schlick an Gerda Tardel, 10. September 1918, Staatsbibliothek zu Berlin (Handschriftenabteilung), Nachl. 281, Moritz Schlick. 41  Albert Einstein an Moritz Schlick, 10. Dezember 1918, in: CPAE 8/B, Doc. 668.

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Im Frühjahr 1919 nahm Schlick seine Lehrtätigkeit wieder auf, zwischenzeitlich war auch endlich die Allgemeine Erkenntnislehre veröffentlicht worden, und Ende des Jahres wird Einstein an der Universität Rostock zu Gast sein. 4.  Einstein in Rostock Anlässlich der Fünfhundertjahrfeier, die vom 25. bis 27. November 1919 stattfand, wurde Einstein neben Planck die Ehrendoktorwürde der Rostocker Alma Mater verliehen.42 »Am meisten reizt mich die Aussicht, wieder einmal in Ruhe mit Ihnen plaudern zu können«, so Einstein an Schlick, »zumal ich festliche Stimmung doch niemals aufbringen kann. […] Morgen fahre ich nach Holland für 2 Wochen und habe als einzige Lektüre Ihre Erkenntnistheorie mitgenommen. Dies zum Beweise dafür, wie gern ich drin lese. Auch Born liebt Ihr Buch sehr.«43 Im holländischen Leiden erreichte Einstein die Nachricht, dass die von der allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagte Lichtablenkung an der Sonne bei der Beobachtung der Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 durch zwei britische Expeditionen, die eine zur Vulkaninsel Principe im Golf von Guinea stand unter der Leitung von Arthur Stanley Eddington, die andere nach Sobral in Brasilien wurde geleitet von Andrew Crommelin, bestätigt worden war.44 An Planck berichtete Einstein: »Heute Abend im Kolloquium zeigte mir Hertzsprung einen Brief Eddingtons, nach welchem die genaue Vermessung der Platten exakt den theoretischen Wert für

42  Im Unterschied zu Einstein hat Planck aus familiären Gründen an

der Verleihung nicht teilgenommen. 43  Albert Einstein an Moritz Schlick, 17. Oktober 1919, in: CPAE 9, Doc. 143. 44  Siehe dazu Daniel J. Kennefick, No Shadow of a Doubt. The 1919 Eclipse That Confirmed Einstein’s Theory of Relativity, Princeton: Princeton University Press 2019.

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die Lichtablenkung ergeben hat.«45 Dies Ereignis dürfte neben den Feierlichkeiten auch die Gespräche bei Schlick in Rostock bestimmt haben. Er logierte in dessen Haus, gemeinsam besuchte man auch eine jüdische Studentenverbindung und kam mit dem Psychologen David Katz und dem Physiker Rudolf Heinrich Weber zusammen. Nach seiner Rückkehr schrieb Einstein an seinen Freund Max Born: Ich war einige Tage bei Schlick in Rostock bei Gelegenheit der Jubiläumsfeier der Universität, hörte dort bei diesem Anlaß arge poli­ tische Hetzreden und sah recht Ergötzliches in Kleinstaat-Politik. Das Drollige lag darin, daß alle einander von der menschlichen Seite so genau kennen, daß große Töne, wo sie auch angeschlagen werden, immer von komischen Mißtönchen begleitet sind. Als Festsaal stand nur das Theater zur Verfügung, wodurch der Feier etwas Komödiantenhaftes gegeben wurde.46 Reizend war da zu sehen, wie in zwei Proszeniumslogen untereinander die Männer der alten und der neuen Regierung saßen. Natürlich wurde die neue von den akademischen Größen mit Nadelstichen aller erdenklichen Art traktiert, dem Ex-Großherzog eine nicht endenwollende Ovation dargebracht. Gegen die angestammte Knechts-Seele hilft keine Revolution!

Soweit Einstein zu den Rostocker Feierlichkeiten kurz nach der Novemberrevolution. Über seinen Gastgeber hielt er fest: »Schlick ist ein feiner Kopf; wir müssen sehen, ihm eine Profes45 Albert Einstein an Max Planck, 23. Oktober 1919, in: CPAE 9, Doc.  149. 46 Näheres über die von Einstein erwähnte Festveranstaltung im Rostocker Stadttheater vom 26. November 1919 findet sich in Martin Buchsteiner und Antje Strahl, Zwischen Monarchie und Moderne. Die 500-Jahrfeier der Universität Rostock 1919 (= Rostocker Studien zu Universitätsgeschichte 4), Rostock 2008. Siehe auch Hermann Reincke-­ Bloch und Gustav Herbig, Die Fünf hundertjahrfeier der Universität Rostock 1419–1919. Amtlicher Bericht im Auftrag des Lehrkörpers, Rostock: Selbstverlag der Universität 1920.

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sur zu verschaffen, zumal er’s bei der Entwertung der Vermögen auch bitter nötig hat. Es wird aber schwer halten, weil er nicht der philosophischen Landeskirche der Kantianer angehört.«47 An Schlick selbst hatte Einstein geschrieben: Mit Freude gedenke ich der rührenden Sorgfalt, mit der Sie und Ihre heilige Barbara mich während dieser Festtage gehegt und gepflegt haben. Dabei weiss ich noch, dass diese Tage mit warmen Zimmern und üppiger Schlemmerei nicht eine freundliche Geste sondern eine Kraftleistung, ja eine entsagungsvolle Heldenthat bedeuten. Denn jetzt sitzen Sie wieder um den einzigen Wärme spendenden Ofen und die Hausfrau späht sorgenvoll aus nach dem Brot für die nächsten Tage und das Mehl ist bitter, ohne dass die Maus satt ist. Es waren schöne Tage, die ich bei Ihnen verbringen durfte, kaum be­ einträchtigt durch den feierlichen Excess der alma mater und die rednerischen Heldenthaten ihrer Söhne.48

In seinem Antwortschreiben brachte Schlick auch seine Hoffnung zum Ausdruck, dass Einstein »später recht oft ein Bedürfnis nach Erholung in mecklenburgischer Kleinstadtruhe empfinden möchte«,49 einem weiteren Gedankenaustausch also nichts im Wege stünde. Im Nachgang der Rostocker Jubiläumsfeier erschien am 11. Januar 1920 ein Artikel Schlicks in der Norddeutschen Zeitung, der Landeszeitung für Mecklenburg, Lübeck und Holstein, über den Ehrendoktor Einstein,50 die Kurzfassung des am 1. Januar in der Elektrotechnischen Umschau veröffentlich47 Albert Einstein an Max Born, 8. Dezember 1919, in: CPAE 9,

Doc.  198. 48  Albert Einstein an Moritz Schlick, 1. Dezember 1919, in: CPAE 9, Doc. 184. 49  Moritz Schlick an Albert Einstein, 19. Dezember 1919, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-27. 50  Moritz Schlick, »Rostocker Ehrendoktoren. III. Albert Einstein«, in: Moritz Schlick, Rostock, Kiel, Wien. Aufsätze, Beiträge, Rezensionen 1919–1925, hrsg. und eingeleitet von Edwin Glassner und Heidi König-­

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ten Aufsatzes »Einsteins Relativitätstheorie und ihre letzte Bestätigung«51. Schlick hatte hier Grundgedanken der Einstein’schen Theorie erläutert und war speziell auf die Resultate der Sonnenfinsternisbeobachtung eingegangen. Im Juni 1920 stellte Einstein im Zusammenhang mit der Rolle der Kausalität in der Relativitätstheorie und der Newton’schen Mechanik Ausführungen Schlicks in Frage. Den Anlass dafür lieferte ein Aufsatz von Schlick über das Kausalprinzip in den Naturwissenschaften,52 aber auch die Vorbereitungen Einsteins auf seine Antrittsvorlesung in Leiden, die ursprünglich für den 5. Mai vorgesehen war, tatsächlich aber erst am 27. Oktober stattfand. An Schlick schrieb Einstein: Übrigens hat der physikalische Raum auch nach der allg. R. Theo[rie] Realität, aber keine selbständige, indem er in seinen Eigenschaften durch die Materie vollständig bestimmt wird. Er wird dem Kausalnexus einverleibt, ohne in der Kausalreihe eine einseitige Rolle zu spielen. Es ist für Newtons logisches Gewissen höchst ehrenvoll, dass er sich zur Schöpfung des absoluten Raumes (und der absoluten Zeit, was allerdings weniger nötig war) entschloss. Er hätte den absoluten Raum ebensogut »starren Aether« nennen können. Er brauchte eine solche Realität, um der Beschleunigung einen objektiven Sinn zu geben. Die späteren Versuche, ohne diesen absoluten Raum in der Mechanik auszukommen, waren (bis auf den Mach’schen) nur »Versteckenspielen«.53 Porstner unter Mitarbeit von Karsten Böger, Wien / New York: Springer 2012, S.  213–215. 51  Beitrag 1.3, S.  100–105. 52 Moritz Schlick, »Naturphilosophische Betrachtungen über das Kausalprinzip«, in: Moritz Schlick, Rostock, Kiel, Wien. Aufsätze, Beiträge, Rezensionen 1919–1925, hrsg. und eingeleitet von Edwin Glassner und Heidi König-Porstner unter Mitarbeit von Karsten Böger, a. a. O., S.  109–149. 53 Albert Einstein an Moritz Schlick, 30. Juni 1920, in: CPAE 10, Doc.  67. Vgl. dazu Albert Einstein, Äther und Relativitätstheorie. Rede

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Daraufhin kündigte Schlick für die vierte Auflage von Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, die Drittauflage war bereits im März 1920 in den Druck gegangen, Korrekturen an: »In der Frage der Kausalität des Newtonschen Raumes hat [der Brief] mich restlos von Ihrer Ansicht überzeugt, und es kommt mir vor, als wenn ich wirklich recht dumm gewesen wäre; ich hatte die Angelegenheit nicht physikalisch genug betrachtet. Aber auch die Anmerkung, die ich in ›Raum und Zeit‹ über die Frage gemacht, kann ich nun nicht mehr aufrecht erhalten; sie muss fort, wenn dem Büchlein noch eine neue Auflage beschieden sein sollte.«54 Auf Empfehlung Einsteins erhielt Schlick über das Jahr 1920 Einladungen zu Vorträgen über die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie. Diese führten ihn nach Düsseldorf und Harburg. Darüber hinaus wurde Schlick von der Redaktion des liberal-demokratischen Berliner Tageblatts des jüdischen Verlegers Rudolf Mosse Mitte des Jahres gebeten, Artikel über die Theorie Einsteins zu verfassen. Im Mosse Almanach 1921 erschien »Einsteins Relativitätstheorie«55, ein für das Tageblatt geschriebener Text wurde nicht veröffentlicht, ebenso wie ein Aufsatz für die englische Zeitschrift The Monist. Hingegen war Schlicks Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik 1920 in einer englischen Übersetzung erschienen,56 später folgten noch eine spanische, russische und französische Ausgabe. Gehalten am 5. Mai 1920 an der Reichs-Universität zu Leiden, Berlin: Springer 1920 (in: CPAE 7, Doc. 38). Einstein spricht hier von einem »Machschen Äther«, der »nicht nur das Verhalten der trägen Masse [bedingt], sondern […] in seinem Zustand auch bedingt durch die trägen Massen [wird].« (Ebenda, S.  317.) Siehe dazu Jürgen Renn, »The Third Way to General Relativity: Einstein and Mach in Context«, in: Jürgen Renn (Hg.), The Genesis of General Relativity. Sources and Interpretations, Bd.  3: Gravitation in the Twilight of Classical Physics: Between Mechanics, Field Theory and Astronomy, Dordrecht: Springer 2007, S.  21–75. 54  Moritz Schlick an Albert Einstein, 29. August 1920, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-37. 55  Beitrag 1.4, S.  106–124. 56  Moritz Schlick, Space and Time in Contemporary Physics. An

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5.  Schlicks Auseinandersetzung mit verschiedenen Deutungen der Relativitätstheorie Es war Einstein, der Schlick im April 1920 auf die Schrift von Hans Reichenbach Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori aufmerksam machte: »Der junge Reichenbach hat über Kant & allgemeine Relativität eine interessante Abhandlung geschrieben […].«57 Im Oktober kam Schlick darauf zurück: »[I]n diesen Tagen habe ich mit dem größten Genuß das Büchlein von Reichenbach über Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori gelesen. […] In einigen Punkten möchte ich freilich Reichenbach doch nicht ganz recht geben; ich hoffe mich brieflich mit ihm darüber zu einigen, denn die Sache liegt mir wirklich sehr am Herzen.«58 Der Briefwechsel zwischen Schlick und Reichenbach, der von September 1920 bis Juli 1934 andauerte, zählt zu den wichtigen Quellen der Auseinandersetzung mit der Einstein’schen Relativitätstheorie.59 Persönlich getroffen haben sich beide erstmals auf der Hundertjahrfeier der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig im September 1922. Im Zentrum ihrer Intro­duction to the Theory of Relativity and Gravitation. Rendered into English by Henry L. Brose, with an Introduction by Frederick A. Linde­ mann, Oxford: Clarendon Press / New York: Oxford University Press 1920. Vgl. dazu auch Heidi König-Porstner, »General Relativity in the English Speaking World: The Contributions of Henry L. Brose«, in: Historical Records of Australian Science 17 (2006), S.  169–195. 57 Albert Einstein an Moritz Schlick, 19. April 1920, in: CPAE 9, Doc.  378. 58  Moritz Schlick an Albert Einstein, 9. Oktober 1920, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-38. 59  Vgl. dazu Fynn Ole Engler, »Moritz Schlick und Hans Reichenbach über die Eindeutigkeit der Zuordnung, die Gründe diese aufzugeben und die heuristische Stärke eines Empirismus mit begriffskonstitutiven Prinzipien«, in: Fynn Ole Engler und Mathias Iven (Hg.), Moritz Schlick. Leben, Werk und Wirkung, a. a. O., S.  131–135 und Thomas Oberdan, »Geometry, Convention, and the Relativized Apriori: The Schlick-Reichenbach Correspondence«, in: Schlick-Studien 1 (2009), S.  186–211.

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Diskussion über die Relativitätstheorie stand die Frage, ob eine Kantische Auffassung von Raum und Zeit mit der Einstein’schen Theorie vereinbar sei. In seinem ersten Brief an Reichenbach hatte Schlick auf der letzten Seite noch schnell per Hand den entscheidenden Unterschied zwischen ihnen notiert: »In Ihrem Bestreben, Kant zu retten, haben Sie ihn m[eines] E[rachtens] zu günstig interpretiert.«60 Schlick war ein Zertrümmerer des Apriorismus, während Reichenbach versuchte, die Kantische Lehre von den apriorischen Erkenntnisprinzipien in einer relativierten Fassung zu reformulieren. Für ihn erfüllten Erkenntnis- oder Zuordnungsprinzipien auch weiterhin ganz im Sinne Kants eine erfahrungskonstitutive Rolle, allerdings beanspruchten sie nur noch in Bezug auf einen spezifischen Theorierahmen Geltung, sie waren insoweit ein relativiertes Apriori. Schlick hingegen vermochte zwischen der Position Reichenbachs und dem Konventionalismus keinen sachlichen Unterschied auszumachen, er schrieb an Einstein: »Reichenbach scheint mir der Konventionslehre von Poincaré gegenüber nicht gerecht zu sein; was er apriorische Zuordnungsprinzipien nennt […], scheint mir vollkommen identisch mit Poincarés ›Konventionen‹ zu sein und keine darüber hinausgehende Bedeutung zu haben. R[eichenbach]’s Anlehnung an Kant scheint mir genau betrachtet nur rein terminologisch zu sein.«61 Vor diesem Hintergrund beabsichtigte Schlick, Reichenbach davon zu überzeugen, dass sie bezüglich der wichtigen Rolle erfahrungskonstitutiver Prinzipien übereinstimmten, zugleich betonte er, dass »wir m. E. beide weit davon entfernt [sind], Kantianer zu sein«, und weiter lautete es: Mir ist die Voraussetzung gegenstandskonstituierender Prinzipien so selbstverständlich, daß ich, zumal in der »Allg. ErkenntnisI.«

60  Hans Reichenbach an Moritz Schlick, 17. Oktober 1920, Noord-Hol-

lands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  115 / Reich-1. 61  Moritz Schlick an Albert Einstein, 9. Oktober 1920, a. a. O.

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nicht nachdrücklich genug darauf hinwies […]. Es ist ganz klar, daß eine Wahrnehmung nur dadurch zur »Beobachtung« oder gar »Messung« wird, daß gewisse Prinzipien vorausgesetzt werden, durch die dann der Begriff des beobachteten oder gemessenen Gegenstandes aufgebaut wird. In diesem Sinne sind die Prinzipien a priori zu nennen – Kant aber würde uns unzweifelhaft sagen, daß dies Apriori allein keinen Pfifferling wert sei; es komme vielmehr darauf an, daß jene Prinzipien identisch mit den evidenten Axiomen wären (z. B. Kausalsatz, Substanzgesetz); erst dann haben sie alle Merkmale des Kantschen A-priori.62

Schlick und Einstein waren in der Kritik am Apriorismus Kants im Zusammenhang mit der Interpretation der Relativitätstheorie einer Meinung,63 sie verteidigten einen Realismus auf empirischer Grundlage mit freier Begriffsbildung und beide stimmten auch darin überein, dass die von Einstein so genannte »praktische Geometrie« im Unterschied zur »rein axiomatischen Geometrie« eine Erfahrungswissenschaft und mithin die Verwendung der nicht-euklidischen Geometrie in der allgemeinen Relativitätstheorie keine bloße Konvention sei. »Einstein glaubt (nach mündlicher Mitteilung), daß man in der Schule der Zukunft die Anfänge der Geometrie so in ihrer Abhängigkeit von physischen Erfahrungen lehren wird, daß die euklidischen Axiome ihre ausgezeichnete Stellung von vornherein einbüßen. Ich zweifle nicht, 62  Moritz Schlick an Hans Reichenbach, 26. November 1920, Noord-­

Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  115 / Reich-42. 63  An Born hatte Einstein geschrieben: »Ich lese hier unter anderm Kants Prolegomena und fange an die ungeheure suggestive Wirkung zu begreifen, die von diesem Kerl ausgegangen ist und immer noch ausgeht. Wenn man ihm nur die Existenz synthetischer Urteile a priori zugibt, ist man schon gefangen. Das ›a priori‹ muss ich in ›konventionell‹ abschwächen, um nicht widersprechen zu müssen, aber auch dann passt es nicht in den Einzelheiten. Immerhin ist es sehr hübsch zu lesen, wenn auch nicht so schön wie sein Vorgänger Hume, der auch bedeutend mehr gesunden Instinkt hatte.« (Albert Einstein an Max Born, nach dem 29. Juni 1918, in: CPAE 8/B, Doc. 575.)

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daß er recht hat«, so Schlick in seinem Brief vom 26. November 1920 an Reichenbach. Schließlich vermochte auch Reichenbach einen solchen Empirismus zu akzeptieren,64 er verteidigte aber auch bis auf Weiteres ein relativiertes Kantisches Apriori. Mit Ernst Cassirers neukantianischer Interpretation der Relativitätstheorie hat sich Schlick 1921 in »Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? Bemerkungen zu Ernst Cassirers Buch ›Zur Einstein’schen Relativitätstheorie‹«65 in den Kant-Studien auseinandergesetzt und sie zugunsten seiner empiristischen Position zurückgewiesen.66 Aus Kiel schrieb Einstein an Schlick: »Heute morgen habe ich Ihre Abhandlung über Cassirer mit wahrer Begeisterung gelesen. So scharfsinnig und wahr habe ich schon lange nichts gelesen.«67 Am Schluss des Aufsatzes war Schlick auch noch sehr lobend auf Borns Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre physikalischen Grundlagen. Gemeinverständlich dargestellt sowie auf Reichenbachs Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori eingegangen, eine Rezension dieses Buches erschien in den Naturwissenschaften am 29. September 1922.68 64  Siehe Hans Reichenbach, »Der gegenwärtige Stand der Relativi-

tätsdiskussion. Eine kritische Untersuchung«, in: Logos X (1921/1922), S.  316–378, hier S.  359  f. 65  Beitrag 1.5, S.  125–143. 66  In einer Postkarte an Reichenbach führte Cassirer mit Blick auf einen Vergleich ihrer Positionen aus: »Unsere Gesichtspunkte sind verwandt – decken sich aber, so viel ich bis jetzt ersehen kann, gerade nicht mit Bezug auf die Bestimmung des Begriffs der Apriorität und mit Bezug auf die Interpretation der Kantischen Lehre, die Sie meiner Ansicht nach zu psychologisch sehen u. daher in einen zu scharfen Gegensatz zu ihrer ›wissenschaftsanalytischen‹ Betrachtung rücken. Der streng ›transzendental‹ verstandene Kant steht dieser Auffassung glaube ich viel näher, als es bei Ihnen erscheint.« (Ernst Cassirer an Hans Reichenbach, 7. Juni 1920, Archives of Scientific Philosophy: Hans Reichenbach, ASP-HR 015-50-09.) 67  Albert Einstein an Moritz Schlick, 10. August 1921, in: CPAE 12, Doc. 202. 68  Beitrag 2.6, S.  180 f.

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Zuvor schon hatte Schlick zwei Schriften zur Relativitätstheorie in den Kant-Studien besprochen: die kurze Einführung in die Relativitätstheorie69 von Werner Bloch, der in den Jahren 1916 bis 1918 bei Einstein Vorlesungen zur Relativitätstheorie gehört hatte und dessen Büchlein, so Einstein, »mit vollem Recht das Lob der Kritik ernte«70. Überdies nahm sich Schlick Hermann Weyls Raum, Zeit, Materie. Vorlesungen über allgemeine Relativitätstheorie71 vor. Weyl hatte zuvor Schlicks Interesse an einer Professur am Züricher Polytechnikum Anfang des Jahres 1920 begrüßt.72 Auch Einstein hatte sich hier für Schlick bei »einem guten Züricher Freund«73, dem Direktor des Gerichtlich-Medizinischen Instituts der Universität, Heinrich Zangger,74 und bei dem Mathematiker und engen Vertrauten auf dem Weg zur allgemeinen Relativitätstheorie Marcel Grossmann eingesetzt. Einstein schrieb über Schlick: Der noch junge Mann hat in den letzten Jahren ein Buch über Erkenntnis-Theorie sowie ein Büchlein über Relativitäts-Theorie (Ver-

69  Beitrag 2.1, S.  167  f. 70  Albert Einstein an Arthur von Oettingen, 16. November 1919, in:

CPAE 9, Doc. 167 und zu Werner Bloch, siehe die dortige Anm.  2. 71  Beitrag 2.2, S.  169–173. 72  Edgar Meyer, ein Bekannter aus seiner Züricher Zeit, schrieb in diesem Zusammenhang an Schlick: »Ich habe jedenfalls sofort nach Erhalt Ihres Briefes von dem Inhalte Prof. Weyl Kenntnis gegeben und ihn dafür zu interessieren gesucht. Das war aber gar nicht erst nötig, denn das Projekt gefiel auch ihm sehr gut. Allerdings aber ist wohl vorläufig wenig zu machen, denn soviel ich bisher gehört habe, wird Medicus von hier nicht fortgehen wollen.« (Brief vom 6. April 1920, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  109 / Mey-3.) 73  Albert Einstein an Moritz Schlick, 27. Februar 1920, in: CPAE 9, Doc. 331. 74  Albert Einstein an Heinrich Zangger, 27. Februar 1920, in: Robert Schulmann (Hg.), Seelenverwandte. Der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Heinrich Zangger 1910–1947. Unter Mitarbeit von Ruth Jörg, a. a. O., S.  344–346 und CPAE 9, Doc. 332.

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lag Springer) erscheinen lassen, die beide meine Bewunderung erregt haben. Seine klare Sprache erinnert an die von Stuart Mill. Ich schreibe Dir dies, weil das Gerücht geht, dass [Fritz] Medicus eventuell von Zürich fortgehen will. Er ist in ziemlich prekären Verhältnissen und hat als Nicht-Kantianer, modern denkender Mensch und Pazifist wenig Aussicht auf eine deutsche Philosophie-Professur. Nationale Bedenken wären bei diesem ausserordentlich feinen und ganz international orientierten Menschen durchaus unangebracht.75

Einsteins Einsatz blieb hier allerdings noch ohne Erfolg. Schlick musste ihm mitteilen: »Aus Zürich schrieb mir Edgar Meyer, daß Medicus leider gar keine Neigung zeige, von dort wegzugehen, wenn er auch eine endgültige Entscheidung offiziell noch nicht bekanntgegeben habe. Schade!«76 Im Wintersemester 1920/21 hatte Schlick seine erste Lehrveranstaltung zur »Einführung in die Gedankenwelt der Einsteinschen Relativitätstheorie« durchgeführt. Am 27. Januar 1921 war er möglicherweise bei Einsteins öffentlichem Vortrag »Geo­me­ trie und Erfahrung« in der Preussischen Akademie der Wissenschaften anwesend, den Separatdruck des Vortrags besprach Schlick in der Ausgabe Der Naturwissenschaften vom 3. Juni 1921.77 Zwei weitere Besprechungen erschienen am 30. September: zu Hugo Dinglers Physik und Hypothese78 und Ernst Gehrckes Physik und Erkenntnistheorie79, seinerseits erklärter Geg75  Albert Einstein an Marcel Grossmann, 27. Februar 1920, in: CPAE

9, Doc. 330. 76  Moritz Schlick an Albert Einstein, 22. April 1920, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-30. 77  Beitrag 2.3, S.  174 f. Siehe dazu Michael Friedman, »Geometry as a Branch of Physics: Background and Context for Einstein’s ›Geometry and Experience‹«, in: David B. Malament (Hg.), Reading Natural Philosphy: Essays in the History and Philosophy of Science and Mathematics to Honor Howard Stein on His 70th Birthday, La Salle, Ill.: Open Court 2002, S.  193–229. 78  Beitrag 2.4, S.  176  f. 79  Beitrag 2.5, S.  178  f.

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ner der Relativitätstheorie.80 Und schließlich hatte Schlick schon im Oktober 1920 Einstein darauf aufmerksam gemacht, dass er an einem Wettbewerb teilnehmen würde: »Erzählte ich Ihnen schon, daß ich mich an dem Preisausschreiben des ›Scientific American‹ für eine populäre Darstellung Ihrer Theorie beteiligt habe? Es hat mich viel Schweiß gekostet, wegen der 3000-WortSchranke, aber der Preis ist so enorm hoch (5000 Dollar), daß ich glaube, es selbst bei äußerst geringen Chancen versuchen zu sollen: der Familie wäre gleich für eine Reihe von Jahren weiter geholfen.«81 Schlicks Beitrag wurde angenommen,82 den Preis gewann er allerdings nicht. Sieger des Wettbewerbs wurde der Ire Lyndon Bolton, ein Mitarbeiter des britischen Patentamts. Die besten 14 Arbeiten wurden in einem Sammelband abgedruckt, darin finden sich in zwei der einführenden Abschnitte auch längere Passagen aus dem Beitrag von Schlick.83 Nachdem es zuvor mit einer Professur in Zürich nicht geklappt hatte, wird Schlick zum Wintersemester 1921/22 nach Kiel berufen. Zu seinen Unterstützern zählten Planck und wiederum Einstein. In der Vorschlagsliste der Kieler Universität vom 7. Mai 1921 an das Preussische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung lautete es: 80 Zu der auch international gut vernetzten Anti-Einstein-Bewe-

gung in den 1920er Jahren und ihren weltanschaulich-politischen Motiven siehe Milena Wazeck, Einsteins Gegner. Die öffentliche Kontroverse um die Relativitätstheorie in den 1920er Jahren, Frankfurt / M .: Campus 2009. 81  Moritz Schlick an Albert Einstein, 9. Oktober 1920, a. a. O. 82  Vgl. Moritz Schlick, »Einstein’s Theory of Relativity«, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  165, A.  142 [unvollständiges Typo­skript]. 83  Siehe J. Malcolm Bird, Einstein’s Theories of Relativity and Gravitation. A Selection of Material from the Essays submitted in the Competition for the Eugene Higgins Prize of $ 5,000, New York: Scientific American Publishing Co., Munn & Co. 1921 und Fynn Ole Engler, »Moritz Schlicks Beitrag zum Einstein-Wettbewerb des Scientific American«, in: Schlick-Studien 1 (2009), S.  281–291.

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Schlick ist von der theoretischen Physik ausgegangen. In seinen Arbeiten hat er sich auf Logik und Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften beschränkt. Auf diesem Gebiet aber ist er der fachwissenschaftlich bestunterrichtete Forscher der Gegenwart. Sein Hauptwerk, eine »Allgemeine Erkenntnislehre« (1918), ist auch nach dem Urteil von Planck und Einstein ein mit vollkommener Beherrschung der modernen Physik verfaßtes philosophisches Werk. Schlick würde insbesondere der berufene Interpret der durch die Ereignisse der letzten Jahre so sehr in den Vordergrund des Interesses gerückten Wechselwirkungen sein, die zwischen den jüngsten Vorgängen in der theoretischen Physik und den modernen philosophischen Problemstellungen bestehen.84

Im März 1922 hielt Schlick im Rahmen der Lübecker Hochschulwoche einen öffentlichen Vortrag über »Das Weltbild der Relativitätstheorie« und im Sommersemester 1922 veranstaltete er gemeinsam mit dem mathematischen Logiker und evangelischen Theologen Heinrich Scholz ein Seminar zur »Philosophischen Analysis der Relativitätslehre«. Die vierte Auflage von Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik konnte Schlick am 13. ­August 1922 an Einstein übersenden, das hierin neu verfasste Vorwort schloss Schlick mit dem Wunsch, »die Schrift möge weiter d ­ aran mithelfen, daß die wundervolle Gedankenwelt der Relativitäts- und Gravitationstheorie im Geistesleben der Gegenwart die Rolle spiele, die ihr gebührt«.85

84  Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, Sign. GstA PK,

I.HA Rsp 76 va Sekt. 9 Tit. IV Nr.  1 Bd.  18, Bl. 383. 85  Moritz Schlick, Über die Reflexion des Lichtes in einer inhomogenen Schicht / Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, hrsg. und eingeleitet von Fynn Ole Engler und Matthias Neuber, a. a. O., S.  162.

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6.  Die Naturforscherversammlung 1922 in Leipzig Einer der Höhepunkte der Auseinandersetzung Schlicks mit der Relativitätstheorie, in gewissem Sinne aber auch eine Zäsur mit Blick auf die Rückwirkung des weltanschaulich-politischen Kontexts auf die Wissenschaft, bildete sein Vortrag »Die Relativitätstheorie in der Philosophie«86, den er auf der ersten allgemeinen Sitzung der Naturforscherversammlung in der prall gefüllten Alberthalle des Krystallpalastes in Leipzig am Vormittag des 18. September 1922 hielt. Schlick war von Planck im Dezember 1921 eingeladen worden. Ursprünglich sollte auch Einstein reden, er musste jedoch aufgrund der sehr angespannten politischen Lage – am 24. Juni 1922 war Außenminister Walther Rathenau ermordet worden – Anfang Juli absagen und blieb der Veranstaltung schließlich ganz fern.87 Von Laue war für ihn eingesprungen, er sprach über »Die Relativitätstheorie in der Physik«. Schlick hatte an Einstein in diesem Zusammenhang geschrieben: »Ich war sehr bestürzt, als ich durch Planck und Laue von Ihrer Absage erfuhr, und sie können sich denken, welcher Abscheu mich erfüllte, dass (wie Planck sich ausdrückte) eine Mörderbande das Programm der Leipziger Tagung stört. Das ist ein trauriges Kapitel.«88 Um der Situation zu entgehen – sein Name fand sich auf einer Todesliste rechter Gruppierungen – zog sich Einstein zunächst zu dem Industriellen und Erfinder Hermann 86  Beitrag 1.6, S.  144–159. 87  Er schrieb an Planck: »Ich muss Ihnen mitteilen, dass ich den ver-

sprochenen Vortrag an der Naturforscher Versammlung nicht halten kann, trotz meiner früheren festen Zusage. Ich bin nämlich von Seiten durchaus ernst zu nehmender Menschen (von mehreren unabhängig) davor gewarnt worden, mich in der nächsten Zeit in Berlin aufzuhalten und überhaupt insbesondere davor, irgendwie in Deutschland öffentlich aufzutreten.« (Albert Einstein an Max Planck, 6. Juli 1922, in: CPAE 13, Doc. 266.) 88  Moritz Schlick an Albert Einstein, 13. August 1922, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-39.

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Anschütz-Kaempfe nach Kiel, später in die Umgebung Berlins, nach Boxfelde, zurück. Anfang Oktober trat er eine längere Reise nach Japan an. Auf der Leipziger Tagung trug Schlick noch einmal die gemeinsam mit Einstein entwickelte Position zur Relativitätstheorie vor, betonte ihr aufklärerisches Potential und stellte ihren physikalisch-philosophischen Charakter in methodischer und sachlicher Hinsicht heraus. Was die methodische Seite der Beziehung der Physik zur Philosophie anbelangte, so verwies Schlick auf das Koinzidenzprinzip, das in der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie das Kriterium für Wirkliches als Resultat von Messungen bildete, darüber hinaus aber auch eine fundamentale erkenntnistheoretische Bedeutung hatte, insofern es, dem empiristischen Leitmotiv folgend, forderte, »daß als Erklärungsgrund in der Naturwissenschaft nur etwas wirklich Beobachtbares eingeführt werden dürfe«.89 Mit Blick auf die sachliche Bedeutung der Relativitätstheorie lieferte gerade ihre methodische Ausrichtung an der Erfahrung den Nachweis für die Fruchtbarkeit des Empirismus als philosophischer Strömung. Denn »weil es der Relativitätstheorie geglückt ist zu zeigen, daß jene erkenntnistheoretische Forderung sich in der Physik wirklich erfüllen läßt und gerade durch ihre Erfüllung erstaunlichste naturwissenschaftliche Erfolge erzielt wurden«, so Schlick in seinem Vortrag, »so darf der Empirismus den Sieg der Relativitätslehre als einen eigenen Sieg in Anspruch nehmen, darf darin eine Bestätigung seiner eigenen Ideen, einen Beweis der Fruchtbarkeit seiner eigenen Ansätze erblicken.«90 Schlick hatte damit für den Moment den Empirismus zum Sieger in der philosophischen Auseinandersetzung um die Relativitätstheorie gekürt. Seine unmittelbar bevorstehende Übersiedlung nach Wien vor Augen schrieb er noch etwas wehmütig an Einstein: »Es wird mir doch recht schwer, nach Wien zu gehen, nicht nur, weil die 89  Siehe den Beitrag 1.6, S.  147. 90  Ebenda, S.  150.

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Zukunft in Oesterreich so dunkel aussieht, sondern auch, weil ich mich zuletzt unter den Kollegen und Studenten hier überaus wohl gefühlt habe.« Letztlich überwogen für ihn jedoch die positiven Aussichten: »Aber das Wiener Klima ist besser und die Aufgaben für einen philosophischen Lehrer sind größer.«91 7.  Neue Herausforderungen in Wien Dass Schlick zum Herbst 1922 nach Wien berufen wurde, war sicherlich auch seinen guten Kontakten zur Gemeinschaft der Physiker geschuldet, die er gleichfalls in Wien und nun teils mit anderen Absichten pflegte. Im Oktober 1925 setzte er sich in einem Brief an Planck für die Habilitation Reichenbachs in Berlin ein, nachdem Schwierigkeiten aufgetreten waren, die Aktivitäten Reichenbachs als Freistudent und seine publizistische Tätigkeit als 1. Vorsitzender der Sozialistischen Studentenpartei Berlin (SSPB) betrafen.92 Schlicks Argumente dürften ausschlaggebend gewesen sein, um Planck davon zu überzeugen, seine persönlichen Bedenken zurückzustellen und Reichenbach weiter zu unterstützen. Anfang Januar 1926 trafen sich Schlick und Planck abermals in dieser Angelegenheit in Wien,93 wenig später konnte Schlick an Reichenbach schreiben:

91  Moritz Schlick an Albert Einstein, 13. August 1922, a. a. O. 92  Siehe dazu Hartmut Hecht und Dieter Hoffmann, »Die Berufung

Hans Reichenbachs an die Berliner Universität«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 30 (1982), S.  651–662. 93  Ein Treffen mit Planck dürfte es zuvor schon in Berlin zwischen dem Beginn der Urlaubsreise Schlicks am 16. Juli 1925 und seinem Aufenthalt in Müritz an der Ostsee bzw. Rostock gegeben haben. In Rostock hielt Schlick am 22. Juli einen Vortrag unter dem Titel »Begriff und Möglichkeit der Metaphysik« in der Kant-Gesellschaft, deren Mitglied er seit 1914 war.

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Vor einiger Zeit ist Planck hier gewesen & ich habe mit ihm über Ihre Angelegenheit ausführlich sprechen können, nachdem ich, wie Sie wissen, früher schon mit ihm über die Sache korrespondiert hatte. Während es in der Korrespondenz so schien, als ob Planck nicht sehr grosse Hoffnung auf ein gutes Ende hätte, denkt er jetzt wieder optimistisch, so dass ich hoffe, dass Ihr Berliner Plan sich doch noch voll verwirklichen wird. Auf jeden Fall ging sowohl aus der Korrespondenz wie aus den mündlichen Gesprächen hervor, dass Planck sich mit ausserordentlicher Wärme & Energie für Sie einsetzt. Ihre Sache ist also bei ihm in sehr guten Händen und Sie haben Grund ihm sehr dankbar zu sein.94

Was Schlicks Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie betraf, so stellte seine kritische Replik »Relativitätstheorie und Philosophie«95 auf Beiträge des Prager Philosophen Oskar Kraus für die liberale Wiener Tageszeitung Neue Freie Presse vom 22. November 1923 eine Art Schlusspunkt dar.96 Darüber hinaus sind in der Wiener Zeit drei weitere Besprechungen von Büchern zur Relativitätstheorie zu erwähnen: Hans Thirrings Die Idee der Relativitätstheorie97 und Josef Winternitz’s Relativitätstheorie und Erkenntnislehre98, beide für die Monatshefte für Mathematik und Physik, und schließlich Reichenbachs Philosophie der Raum-Zeit-Lehre99, die am 5. Juli 1929 in den Naturwissenschaften erschien. Gleichwohl lag Schlicks Interesse nun verstärkt auf der philosophischen Interpretation der Quantentheorie, er tauschte sich zu diesem Thema mit Werner Heisenberg, Wolf94  Moritz Schlick an Hans Reichenbach, 19. Januar 1926, Archives of

Scientific Philosophy: Hans Reichenbach, ASP-HR 016-18-16. 95  Beitrag 1.7, S.  160–163. 96  Siehe Oskar Kraus, »Der gegenwärtige Stand der Relativitätstheo­ rie«, in: Neue Freie Presse, Nr.  21238, 25. Oktober 1923, S.  16/17 und Nr.  21240, 27. Oktober 1923, S.  15/16. 97  Beitrag 2.7, S.  182. 98  Beitrag 2.8, S.  183  f. 99  Beitrag 2.9, S.  185  f.

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gang Pauli und Erwin Schrödinger aus, aber auch zu Einstein hielt er weiterhin Kontakt. So schrieb er ihm im Juli 1927 auch über seine Leidenschaft, die Logisch-Philosophische Abhandlung von Ludwig Wittgenstein betreffend: Ich weiss nicht, ob es Sie interessiert, aber ich möchte Ihnen doch gerne mitteilen, dass ich jetzt mit der grössten Begeisterung bemüht bin, mich in die Grundlagen der Logik zu vertiefen. Die Anregung dazu verdanke ich hauptsächlich dem Wiener Ludwig Wittgenstein, der einen (von Bertrand Russell englisch und deutsch her­ ausgegebenen) »Tractatus logico-philosophicus« geschrieben hat, den ich für das tiefste und wahrste Buch der neueren Philosophie überhaupt halte. Allerdings ist die Lektüre äusserst schwierig. Der Verfasser, der nicht die Absicht hat, je wieder etwas zu schreiben, ist eine Künstlernatur von hinreissender Genialität, und die Diskussion mit ihm gehört zu den gewaltigsten geistigen Erfahrungen meines Lebens.100

Seit 1924 hatte sich um Schlick ein Diskussionszirkel gebildet, der später sogenannte »Wiener Kreis«, zu dessen Mitgliedern Rudolf Carnap, Otto Neurath, Hans Hahn, Philipp Frank, Herbert Feigl und Friedrich Waismann zählten.101 In den Sitzungen stand zunächst Wittgensteins Tractatus im Mittelpunkt der Diskussionen. Schlicks wachsendes Interesse an der Logik und Sprachphilosophie wurde hier stetig genährt. Aber auch die Naturphilosophie blieb ein konstantes Arbeitsfeld. 1925 erschien ein Überblicksartikel in Max Dessoirs Lehrbuch der Philosophie, in dem Schlick in einem breit angelegten historisch-systematischen 100  Moritz Schlick an Albert Einstein, 24. Juli 1927, Noord-Hollands

Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-47. 101  Siehe Friedrich Stadler, Der Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Überarbeitete Auflage von Studien zum Wiener Kreis (1995/2001), Basel: Springer 2015.

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Zusammenhang auch die Relativitätstheorie einordnete.102 »Ich habe einen anspruchsvollen Grundriss der Naturphilosophie verfasst (für ein größeres Lehrbuch), den ich Ihnen im Winter zu unterbreiten hoffe«, so Schlick in einem Brief an Einstein.103 Über das Jahr 1924 trafen sich beide in Wien, und im November wandte sich Schlick an Einstein mit einer Bitte: Hier ist ein Komité in der Bildung begriffen zu dem Zwecke, die Aufstellung eines Denkmales für Mach zu veranlassen. Besonders tätig ist dabei Prof. Pauli (physiologischer Chemiker, Vater von W. Pauli jun.); im Komité sind bereits einige bekanntere Persönlichkeiten der Stadt und Universität, und ferner meine Wenigkeit. Ich bitte Sie recht herzlich, auch im Namen von Pauli, in das Komité einzutreten, und hoffe bestimmt, eine zusagende Antwort von Ihnen zu erhalten. Mach hielt wohl nicht viel von Denkmälern, aber in mehr als einer Hinsicht wäre es doch sehr zu begrüßen, wenn ein schlichtes Monument des Mannes vor die Universität gestellt würde (wir hoffen auf einen Platz im Rathauspark gegenüber der Universität).104

Einstein trat dem Komitee bei und verfasste auch einen kurzen Text mit dem Titel »Zur Enthüllung von Ernst Machs Denkmal«, den er Schlick am 22. Januar 1926 übersandte.105 Neben Einsteins Beitrag und weiteren an die Leistung Machs erinnern102  Moritz Schlick, »Naturphilosophie«, in: Moritz Schlick, Rostock,

Kiel, Wien. Aufsätze, Beiträge, Rezensionen 1919–1925, hrsg. und eingeleitet von Edwin Glassner und Heidi König-Porstner unter Mitarbeit von Karsten Böger, a. a. O., S.  599–742. 103  Moritz Schlick an Albert Einstein, 15. Juli 1923, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-40. 104  Moritz Schlick an Albert Einstein, 23. November 1924, Noord-­ Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-41. 105  Albert Einstein an Moritz Schlick, 22. Januar 1926, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-18. Der Text Einsteins ist abgedruckt in Rudolf Haller und Friedrich Stadler (Hg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1988, S.  59–62.

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den Artikeln erschien am 12. Juni 1926 in der Chronikbeilage des Abendblatts der Neuen Freien Presse auch Schlicks Rede »Ernst Mach, der Philosoph«.106 Am selben Tage fand in dem der Universität zugewandten Teil des Rathausparks die Enthüllung des Denkmals, einer auf einem Granitsockel stehenden Marmorbüste, statt. Im Anschluss an den Festakt schrieb Schlick an Einstein: »Das kleine Denkmal würde Ihnen sicher gefallen. Es ist schlicht und steht an einer ruhigen schattigen Stelle des Parks. Welch eine Freude wäre es für mich, wenn ich es Ihnen bald einmal zeigen könnte! Die gegenwärtige Quantenphysik erfüllt die Philosophen mit grossem Staunen. Aber Staunen ist ja gut für sie. In Wien wird jetzt viel philosophiert. Bald hoffe ich Ihnen einige Proben davon vorlegen zu können, die Sie gewiss auch interessieren werden.«107 8. Danksagung Zuvorderst möchte ich mich bei Mathias Iven bedanken. Unsere gemeinsame Arbeit zu Schlicks Leben, Werk und Wirkung stand über die Jahre im Kontext verschiedener Projekte und Unternehmungen. Zum Verhältnis zwischen Einstein und Schlick haben Jürgen Renn und ich im Rahmen einer langjährigen Kooperation zwischen dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin und der Universität Rostock intensiv geforscht, miteinander diskutiert und zusammen publiziert. Für Anregungen, Hinweise und Kommentare gilt mein Dank aber auch Domenico Giu­lini, Dieter Hoffmann, Friedrich-Olaf Jungk, Matthias Neuber und Thomas Uebel. 106  Siehe Moritz Schlick, »Ernst Mach, der Philosoph«, in: Moritz

Schlick, Die Wiener Zeit. Aufsätze, Beiträge, Rezensionen 1926–1936, hrsg. und eingeleitet von Johannes Friedl und Heiner Rutte, Wien / New York: Springer 2008, S.  61–68. 107  Moritz Schlick an Albert Einstein, 12. Juni 1926, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-45.

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Dem Meiner Verlag, insbesondere Marcel Simon-Gadhof, sei schließlich gedankt für die Aufnahme der Texte Schlicks in die Philosophische Bibliothek und die gute Zusammenarbeit. 9.  Zu dieser Ausgabe Den abgedruckten Texten liegen die Originalpublikationen zugrunde. Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden. Abweichende Schreibweisen von Wörtern im Text von Schlick wurden stellenweise vereinheitlicht. Zitate Schlicks sind an den Originalen überprüft worden. Im Original durch Sperrung hervorgehobener Text wurde kursiv gesetzt. Abweichend von den Erstdrucken sind Eigennamen nicht hervorgehoben. Anführungszeichen wurden überall belassen. Seitenwechsel im Original wird durch einen senkrechten Strich kenntlich gemacht; die originale Paginierung wird im Kolumnentitel innen mitgeführt. Die bibliographischen Angaben wurden weitgehend vereinheitlicht, einschließlich der im Text von Schlick angegebenen Literatur, die an einigen Stellen ergänzt und korrigiert wurde. Schlicks Fußnoten erscheinen wie im Original auf der jeweiligen Seite. Die Anmerkungen des Herausgebers sind am Ende des Bandes ­abgedruckt. Die Texte erscheinen in chronologischer Reihenfolge, die Rezensionen sind in einem Anhang abgedruckt. Auf Schlicks nachgelassene Schriften, die im Noord-Hollands Archief in Haarlem / N L liegen, wird über die entsprechenden Signaturen des Nachlassverzeichnisses verwiesen, auf die zitierten Briefe anderer Autoren durch die Signaturen der Archives of Scientific Philosophy (ASP) in Pittsburgh. Zitate aus Briefen Einsteins sind den Bänden der Collected Papers of Albert Einstein (CPAE), Princeton University Press 1987  ff. entnommen.

L I T E R AT U RV E R Z E IC H N I S

1.  Nachweis der Erstveröffentlichungen Aufsätze 1.1 »Die philosophische Bedeutung des Relativitätsprinzips«, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 159 (1915), S.  129– 175. 1.2 »Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Zur Einführung in das Verständnis der allgemeinen Relativitätstheorie«, in: Die Naturwissenschaften 5, Heft 11 (1917), S.  161–167 und Heft 12, S.  177–186. 1.3 »Einsteins Relativitätstheorie und ihre letzte Bestätigung«, in: Elektronische Umschau 8 (1920), S.  6–8. 1.4 »Einsteins Relativitätstheorie«, in: Mosse Almanach 1921, Berlin: Mosse 1920, S.  105–123. 1.5 »Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? Bemerkungen zu Ernst Cassirers Buch ›Zur Einstein’schen Relativitätstheorie‹«, in: Kant-Studien 26 (1921), S.  96–111. 1.6 »Die Relativitätstheorie in der Philosophie«, in: Alexander Witting (Hg.), Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. 87. Versammlung zu Leipzig, Hundertjahrfeier vom 17. bis 24. September 1922, Leipzig: Vogel 1923, S.  58–69. 1.7 »Relativitätstheorie und Philosophie«, in: Neue Freie Presse, Nr.  21265 (Morgenblatt), 22. November 1923, S.  17/18.

Rezensionen 2.1 Werner Bloch, Einführung in die Relativitätstheorie (= Aus Natur und Geisteswelt, Bd.  618), Leipzig  /  Berlin: Teubner 1918, in: Kant-­ Studien 26 (1921), S.  174/175. 2.2 Hermann Weyl, Raum, Zeit, Materie. Vorlesungen über allgemeine

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Literaturverzeichnis

Relativitätstheorie, Berlin: Springer 1918, in: Kant-Studien 26 (1921), S.  205–207. 2.3 Albert Einstein, Geometrie und Erfahrung. Erweiterte Fassung des Festvortrages gehalten an der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 27. Januar 1921, Berlin: Springer 1921, in: Die Naturwissenschaften 9, Heft 22 (1921), S.  435/436. 2.4 Hugo Dingler, Physik und Hypothese. Versuch einer induktiven Wissenschaftslehre nebst einer kritischen Analyse der Fundamente der Relativitätstheorie, Berlin  /  Leipzig: Vereinigung wissenschaftlicher Verleger 1921, in: Die Naturwissenschaften 9, Heft 39 (1921), S.  778/779. 2.5 Ernst Gehrcke, Physik und Erkenntnistheorie (= Wissenschaft und Hypothese, Bd.  22), Leipzig  /  Berlin: Teubner 1921, in: Die Naturwissenschaften 9, Heft 39 (1921), S.  779. 2.6 Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis apriori, Berlin: Springer 1920, in: Die Naturwissenschaften 10, Heft 39 (1922), S.  873/874. 2.7 Hans Thirring, Die Idee der Relativitätstheorie. Zweite, durchgesehene und verbesserte Auflage, Berlin: Springer 1922, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 33 (1923), S.  55. 2.8 Josef Winternitz, Relativitätstheorie und Erkenntnislehre. Eine Untersuchung über die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Einsteinschen Theorie und die Bedeutung ihrer Ergebnisse für die allgemeinen Probleme des Naturerkennens (= Wissenschaft und Hypo­these, Bd.  23), Leipzig  /  Berlin: Teubner 1923, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 33 (1923), S.  55. 2.9 Hans Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin: de Gruyter 1928, in: Die Naturwissenschaften 17, Heft 27 (1929), S.  549.

2.  Zeitgenössische Texte zur Relativitätstheorie Born, Max: Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre physikalischen Grundlagen. Elementar dargestellt, Zweite, umgearbeitete Auflage, Berlin: Springer 1921.

Literaturverzeichnis

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Cassirer, Ernst: Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin: Bruno Cassirer 1921. Cohn, Emil: Physikalisches über Raum und Zeit, 4. Auflage, Leipzig  / Berlin: Teubner 1920. Eddington, Arthur S.: The Mathematical Theory of Relativity, Cambridge: The University Press 1922. Einstein, Albert: Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie, Leipzig: Barth 1916 (zuerst erschienen in: Annalen der Physik 49 (1916), S.  769–822).  – Geometrie und Erfahrung. Erweiterte Fassung des Festvortrages gehalten an der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 27. Januar 1921, Berlin: Springer 1921.  – Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie. Gemeinverständlich, 11. Auflage, Braunschweig: Vieweg 1921.  – Mein Weltbild, Amsterdam: Querido 1934. Freundlich, Erwin: Die Grundlage der Einsteinschen Gravitationstheo­ rie. Mit einem Vorwort von Albert Einstein, Dritte, erweiterte und verbesserte Auflage, Berlin: Springer 1917. Gehrcke, Ernst: Kritik der Relativitätstheorie: Gesammelte Schriften über absolute und relative Bewegung, Berlin: Meusser 1924. Kopff, August: Grundzüge der Einsteinschen Relativitätstheorie, Leipzig: Hirzel 1921. Laue, Max von: Das Relativitätsprinzip, Braunschweig: Vieweg 1911.  – Die Relativitätstheorie, Erster Band: Die spezielle Relativitätstheorie, Vierte Auflage und Zweiter Band: Die allgemeine Relativitätstheorie und Einsteins Lehre von der Schwerkraft, Braunschweig: Vieweg 1921. Lorentz, Hendrik Antoon: Albert Einstein und Hermann Minkowski, Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen, Leipzig  /  Berlin: Teubner 1913. Moszkowski, Alexander: Einstein. Einblicke in seine Gedankenwelt. Gemeinverständliche Betrachtungen über die Relativitätstheorie und ein neues Weltsystem. Entwickelt aus Gesprächen mit Einstein, Hamburg: Hoffmann und Campe 1921. Petzoldt, Joseph: Die Stellung der Relativitätstheorie in der geistigen

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Entwicklung der Menschheit, Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig: Barth 1923. Pauli, Wolfgang: Relativitätstheorie, Leipzig  /  Berlin: Teubner 1921. Reichenbach, Hans: Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori, Berlin: Springer 1920. Ripke-Kühn, Lenore: Kant contra Einstein, Erfurt: Keyser 1920. Study, Eduard: Die realistische Weltansicht und die Lehre vom Raume. Geometrie, Anschauung und Erfahrung, Braunschweig: Vieweg 1914. Weyl, Hermann: Raum, Zeit, Materie. Vorlesungen über allgemeine Relativitätstheorie, Vierte, erweiterte Auflage, Berlin: Springer 1921.

3.  Weiterführende Literatur Barber, Julian B., und Herbert Pfister (Hg.), Mach’s Principle: From Newton’s Bucket to Quantum Gravity, Boston: Birkhäuser 1995. Carrier, Martin: Raum-Zeit, Berlin  /  New York: de Gruyter 2009. DiSalle, Robert: Understanding Space-Time: The Philosophical Development of Physics from Newton to Einstein, Cambridge: Cambridge University Press 2006. Earman, John: World Enough and Space-Time: Absolute vs. Relational Theories of Space and Time, Cambridge, Mass.: MIT Press 1989. Engler, Fynn Ole, und Jürgen Renn: Gespaltene Vernunft. Vom Ende eines Dialogs zwischen Wissenschaft und Philosophie, Berlin: Matthes & Seitz 2018. Friedman, Michael: Foundations of Space-Time Theories: Relativistic Physics and Philosophy of Science, Princeton: Princeton University Press 1983.  – Reconsidering Logical Positivism, Cambridge: Cambridge University Press 1999.  – Dynamics of Reason. The 1999 Kant Lectures at Stanfort University, Stanford: CSLI Publications 2001. Galison, Peter: Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit, Frankfurt / M.: Fischer 2003. Goenner, Hubert: Einstein in Berlin 1914–1933, München: Beck 2005.

Literaturverzeichnis

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MO R I T Z S C H L IC K

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1.1  Die philosophische Bedeutung des Relativitätsprinzips I. Seit den Zeiten Kants wissen wir, daß die einzig fruchtbare Methode aller theoretischen Philosophie besteht in der kritischen Erforschung der letzten Prinzipien der Einzelwissenschaften. ­Jeder Wandel in diesen letzten Grundsätzen, jedes Auftauchen eines neuen fundamentalen Prinzips muß daher die philosophische Arbeit in Bewegung setzen, und hat es natürlich auch schon vor Kant getan. Das strahlendste Beispiel ist wohl die Geburt der neueren Philosophie aus den wissenschaftlichen Entdeckungen der Renaissance. Und der Kantsche Kritizismus selbst darf als eine Frucht der Newtonschen Naturlehre betrachtet werden. Es sind vornehmlich, oder sogar ausschließlich, die Grundsätze der exakten Wissenschaften, denen die hohe philosophische Bedeutung innewohnt, aus dem einfachen Grunde, weil allein in diesen Disziplinen so feste und scharf umrissene Fundamente vorhanden sind, daß eine Änderung daran eine merkliche Erschütterung hervorruft, die dann auch Einfluß auf die Weltanschauung gewinnen kann.1 Es ist sehr lehrreich, zu beobachten, wie die Philosophie – oder soll ich lieber sagen: die Philosophen? – auf die Zumutungen reagieren, die von den neu entdeckten Prinzipien an sie gestellt werden. Es kann der Fall eintreten, daß ein philosophisches System seine Sätze und Begriffe modifizieren muß, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden, oder sogar dabei ganz ins Wanken gerät. Es kann aber auch sein, daß das Neue in schönster Harmonie sich einfügt in die Struktur des Ganzen und vielleicht seinen sinnvollen Zusammenhang nur in noch helleres Licht | rückt. Wo dieser letztere Fall eintritt, bedeutet es natürlich einen Triumph für das geprüfte System, eine Verifikation, die manchmal dem Eintreffen einer Voraussage gleichkommen kann. Andrer-

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seits ist ein philosophischer Gedankenbau, in den nicht einmal geringere Entdeckungen der Einzelwissenschaften hineinpassen, ein höchst labiles Gefüge, das leicht aus den Fugen geht. Man kann kein Vertrauen haben zu einem System, welches uns aus Begriffen deduziert, daß die Zahl der Planeten des Sonnensystems sieben betragen müsse (Hegel), zu der gleichen Zeit, in der der achte entdeckt wird;2 oder zu einem System, das uns beweist, die Materie müsse ihrer Masse nach konstant sein, zur gleichen Zeit, da physikalische Forschungen es wahrscheinlich machen, daß dies tatsächlich gar nicht zutrifft.3 In dem Verhalten zu neu entdeckten Prinzipien haben wir also gleichsam ein Kriterium für die Tüchtigkeit einer Philosophie. Aber freilich ist die Anwendung dieses Kriteriums so lange noch sehr schwer, als sich noch darüber streiten läßt, welches Verhalten denn eine bestimmte philosophische Theorie den neuen Errungenschaften gegenüber konsequenterweise zeigen muß. Bekanntlich hielten z. B. die Entdecker der nichteuklidischen Geometrie die Kantsche Erkenntnistheorie dadurch für widerlegt; heute aber ist der Kantianer geneigt, in jenen Entdeckungen eher einen Beweis für die Richtigkeit der Kantschen Ansicht zu erblicken.4 Nun ist die Physik der letzten Jahre wieder auf Fragen von so prinzipieller Bedeutung gestoßen, daß sie sich dadurch mit einem großen Schritt mitten in die Erkenntnistheorie hinein­ begeben hat: sie stellte das »Relativitätsprinzip« auf, verneinte damit die strenge Gültigkeit des bisher scheinbar bestfundierten Teiles der Naturlehre, nämlich der Newtonschen Mechanik, und forderte die Einführung einer neuen Auffassung vom Wesen der Zeit, ja der Zeit und des Raumes. Mit diesem Prinzip scheint also ein Prüfstein gegeben zu sein, an dem die Haltbarkeit verschiedener erkenntnistheoretischer Ansichten erprobt werden kann. Ist eine der herrschenden Richtungen imstande, sich mit dem Prinzip abzufinden, es ganz natürlich in sich aufzunehmen, oder zwingt es etwa die Philosophen, von bisher verfolgten Pfaden abzubiegen und andere noch unbetretene Wege einzuschlagen? |

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Die beiden am schärfsten umrissenen in der Gegenwart herrschenden philosophischen Systeme, der Neukantianismus und der Positivismus, haben sich des neuen Prinzips bereits liebevoll angenommen: beide behaupten, daß es sich mit ihren Anschauungen aufs beste vertrage, ja sich als eine notwendige Folge davon darstelle, das Prinzip sei genau das, was man von ihrem Standpunkt aus hätte erwarten müssen, oder sogar schon vorausgesagt habe. Von den übrigen erkenntnistheoretischen Gedankenbildungen unserer Zeit sind die einen (man denke etwa an die Wertphilosophen oder die Phänomenologen) so allgemeiner Natur, daß sich fast jedes beliebige naturwissenschaftliche Prinzip mit ihnen gleich gut vertragen würde, die anderen hängen so sehr an den geläufigen Vorstellungen des common sense (der Philosophie der Unphilosophischen), daß sie einfach das Relativitätsprinzip selber als absurd verwerfen, weil es mit jenen Vorstellungen in der Tat nicht vereinbar ist. Indem wir nun darangehen, diese von den verschiedenen Seiten erhobenen Ansprüche auf ihre Berechtigung zu prüfen, dürfen wir hoffen, nicht bloß ein Kriterium für die Brauchbarkeit jener Standpunkte zu gewinnen, sondern darüber hinaus einen Ausblick auf die Richtlinien, denen die Erkenntnistheorie folgen muß, um die Errungenschaften des gegenwärtigen physikalischen Denkens sich ganz zu eigen zu machen – einen Ausblick auch auf das Verhältnis der Gedankenbildungen der Philosophie zu den Ergebnissen der Einzelwissenschaft überhaupt. Damit die Erkenntnistheorie ein allgemeines wissenschaftliches Prinzip ganz in sich aufnehme und sich von ihm befruchten lasse, muß eine Bedingung natürlich vor allem unweigerlich erfüllt sein: das fragliche Prinzip muß restlos verstanden sein. Solange der rein physikalische Sinn eines physikalischen Grundsatzes nicht mit vollkommener Sicherheit beherrscht wird, darf man wahrlich nicht daran denken, es philosophisch auszuwerten. Leider sehen wir diese fundamentale Bedingung oft ungenügend erfüllt, obwohl es nicht an Darstellungen von berufener Hand

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fehlt, durch die es auch dem physikalischen Laien ermöglicht wird, zum völligen Verständnis des neuen Gesetzes zu gelangen. Der Uneingeweihte wird über die wahre Stellung des Relativitätsprinzips in der gegenwärtigen Naturwissenschaft leicht getäuscht durch den Umstand, daß auch unter den Physikern manche abseits stehen, manche die | Relativitätstheorie sogar ganz ablehnen, teils weil sie sich bewußt sträuben, von der gewohnten Auffassung von Raum und Zeit abzugehen, teils aber auch, weil sie infolge von Mißverständnissen die Theorie für widerspruchsvoll, für in sich falsch halten. Auch die letzteren haben durch populäre Darstellungen1) die Gunst der Laien und der Philosophen zu erringen gesucht und dadurch der Einsicht in die Wahrheit geschadet. Die Wahrheit aber ist, daß dem Prinzip samt seinen erkenntnistheoretischen Grundlagen keine Undeutlichkeit2) anhaftet, sondern daß es genau so klar und einfach formuliert werden kann und formuliert worden ist wie irgendein exaktes Natur­ gesetz. Auf Grund bestimmter experimenteller Erfahrungen 1)  Es ist sehr beklagenswert, daß zu diesen auch der Artikel von

E.  Gehrcke »Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der verschiedenen physikalischen Relativitätstheorien« in den Kantstudien, Band XIX (1914), S.  481–487, gehört. Er baut sich auf schweren Irrtümern und Fehlern auf, und um diese im Interesse der Leser jenes Artikels nicht ganz unberichtigt zu lassen, werde ich in der folgenden Darstellung in den Anmerkungen gelegentlich darauf Bezug nehmen müssen, so wenig auch die in ihm erhobenen Einwände gegen das Prinzip einer ausdrücklichen Widerlegung würdig sind. Gehrcke hat als experimenteller Forscher überaus Tüchtiges geleistet; das Recht aber, in allgemeineren und theoretischen Fragen ernst genommen zu werden, hat er sich verscherzt durch alle seine Bemerkungen zur Relativitätstheorie (man findet sie besonders in den Jahrgängen 1911–1913 der Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft); sie sind erstaunlich. 2)  Gehrcke behauptet nicht nur das Bestehen einer solchen Undeutlichkeit, sondern auch, daß auf ihr die suggestive Kraft beruhe, welche die Relativitätstheorie entfaltet hat (a. a. O. S.  482). Daß unsere bedeutenden Physiker sich gerade von undeutlichen Theorien besonders angezogen fühlen, dürfte neu sein.

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wurde es aufgestellt und in allen Fällen bestätigt gefunden, wo eine erfahrungsmäßige Prüfung überhaupt möglich war; seine Anwendungen auf alle Gebiete der Physik sind wenigstens im Prinzip vollständig durchgeführt3), und es wird deshalb von den berufenen Vertretern der theoretischen Physik als sicherer Besitz dieser Wissenschaft angesehen. Eben hierauf 4) beruht es, daß die physikalische Forschung sich jetzt nicht mehr so eifrig mit der Diskussion des Prinzips beschäftigt: die Zeit für eine ruhige philosophische Erwägung seiner Bedeutung ist gekommen. | Wir müssen uns zunächst ganz kurz klar machen, was denn das Relativitätsprinzip eigentlich behauptet, und dann wollen wir zusehen, auf welchem Wege man zu seiner Aufstellung gekommen ist. Das letztere ist für unsern Zweck von besonderer Wichtigkeit, denn die erkenntnistheoretischen Grundlagen eines Satzes müssen am deutlichsten aus den Motiven herausleuchten, die zu seiner Aufstellung geführt haben. Dagegen ist es überflüssig, hier noch einmal die allgemeinen Folgerungen abzuleiten, die aus unserm Prinzip fließen und in ihrer Gesamtheit eben die Relativitätstheorie ausmachen. Jedermann kann diese Ableitung, wo nicht aus den Originalarbeiten, so doch aus den erläuternden Darstellungen der kompetenten Forscher kennen lernen5). 3)  Besonders in dem zusammenfassenden Werk von M. von Laue:

Das Relativitätsprinzip, 2. Auflage, Braunschweig: Vieweg 1913. 4)  Nicht also, wie Gehrcke in den ersten Sätzen seines Kantstudien-­ Artikels andeutet, darauf, daß das Urteil der Physiker über das Prinzip sich geändert hätte. 5)  Siehe die kurze Darstellung von Einstein, »Die Relativitäts­theorie«, im Bande Physik der Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hrsg. von Paul Hinneberg, Leipzig / Berlin: Teubner 1915, S.  703– 713, ferner die lichtvollen Ausführungen von Laue, »Das Relativitätsprinzip«, in Jahrbücher der Philosophie I (1913), S.  99–128, beide nur von den einfachsten mathematischen Mitteln Gebrauch machend. Ganz ohne solche behandelt den Gegenstand der hübsche Aufsatz von Emil Cohn in »Himmel und Erde«, Band 23, S.  117, auch separat erschienen; er trägt den Titel: »Physikalisches über Raum und Zeit«. Sehr empfehlenswert, obwohl nicht auf Einsteinschem Standpunkt stehend, ist auch

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Im folgenden behandeln wir die Relativitätstheorie6) zunächst ausschließlich in ihrer klassischen Form, wie sie 1905 von Albert Einstein aufgestellt wurde; nur am Schluß müssen wir kurz auf die neueren Versuche ihres Urhebers eingehen, ihr eine erweiterte Fassung zu geben. Es sei aber gleich bemerkt, daß die an die ursprüngliche Form geknüpften philosophischen Folgerungen nichts von ihrer prinzipiellen Bedeutung einbüßen, wenn sich etwa einst herausstellen sollte, daß jene einer erweiterten Fassung Platz machen muß. II. Das Prinzip läßt sich nun kurz etwa so aussprechen: Alle geradlinigen und gleichförmigen Bewegungen, von denen in den Naturgesetzen die Rede ist, sind relativ. Anders ausgedrückt: Es ist durch keine Erfahrung möglich, | eine absolute geradlinig-gleichförmige Bewegung in der Natur festzustellen. Noch anders formuliert: Die Naturvorgänge, die in einem beliebigen abgeschlossenen System stattfinden, spielen sich in genau der gleichen Weise (nach denselben Gesetzen) ab, ob nun das System ruht oder in geradlinig-gleichförmiger Bewegung sich befindet. – Wäre das nämlich nicht der Fall, verliefen die Erscheinungen des Systems im Bewegungszustande anders als in der Ruhe, so könnte ein im System ruhender Betrachter durch Beobachtung des Ablaufs jener Erscheinungen konstatieren, ob H. A.  Lorentz, Das Relativitätsprinzip, Drei Vorlesungen gehalten in Teylers ­Stiftung zu Haarlem, Bearbeitet von W. H. Keesom, Leipzig / Berlin: Teubner 1914. 6)  Gehrckes Aufsatz redet von verschiedenen Relativitätstheorien; streng genommen gibt es aber keine außer der Einsteinschen. Minkowskis Arbeiten geben nur eine sehr elegante mathematische Formulierung und Interpretation von Einsteins Gedanken; Wiechert ist überhaupt ein Gegner derselben und vertritt eine physikalische Absoluttheorie.

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es ruht oder sich bewegt; die Relativität der Bewegung bedeutet aber gerade, daß es auf keine Weise möglich ist, einen Unterschied zwischen einem ruhenden und einem geradlinig-gleichförmig bewegten System festzustellen. Die Gesetze, die den Verlauf irgendwelcher Naturvorgänge beherrschen, werden durch Gleichungen dargestellt, und in diesen Gleichungen treten im allgemeinen Größen auf, welche den Ort jener Naturprozesse, d. h. die Lage aller daran beteiligten Punkte bezeichnen. Die Lage eines Punktes läßt sich natürlich immer nur relativ zu einem festen System angeben, auf welches alle Ortsangaben bezogen werden. Als solch ein Bezugssystem denkt man sich meist drei zueinander senkrechte Ebenen im Raum, die sich in drei zueinander senkrechten Achsen schneiden, und die drei Abstände eines Punktes von diesen drei Ebenen, seine Ko­ ordinaten, sind eben die Größen, die seinen Ort bestimmen. Das Relativitätsprinzip sagt dann also: Die Naturgesetze und die sie darstellenden Gleichungen bleiben genau dieselben, wenn ich statt des benutzten Bezugssystems ein anderes wähle, das sich relativ zum ersten in beliebiger Richtung geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit bewegt. Es gibt also nicht eines, sondern unendlich viele zueinander bewegte Koordinatensysteme, in bezug auf welche die Naturgesetze genau die gleiche Form haben, die Naturprozesse sich in genau derselben Weise abspielen. Keins dieser Systeme ist vor den andern bevorzugt oder irgendwie ausgezeichnet, es gibt kein »absolut« ruhendes, sondern sie sind alle gleichberechtigt. Welches von diesen Systemen wir als ruhend bezeichnen wollen, ist unserer Willkür überlassen: keine Beobachtung von Naturvorgängen kann unsere Wahl leiten, denn deren Gesetze sind ja für alle jene Systeme streng dieselben. | Daß dieses Relativitätsprinzip für alle mechanischen Vorgänge richtig ist, war eigentlich von jeher wohlbekannt. Es findet seinen Ausdruck nicht bloß in den Grundsätzen und Grundgleichungen der Newtonschen Mechanik, sondern jedermann weiß aus der alltäglichen Erfahrung von seiner Richtigkeit. In einem auf gerader Strecke mit gleichförmiger Geschwindigkeit

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dahinfahrenden Eisenbahnzug spielen sich alle mechanischen Vorgänge ganz ebenso ab wie im stillstehenden – abgesehen natürlich von Erschütterungen, die auf der Unvollkommenheit des Schienenweges beruhen. Der Lauf der Erde um die Sonne, der mit einer Geschwindigkeit von 30 km/sec stattfindet und innerhalb kurzer Zeiten mit größter Annäherung als geradlinig betrachtet werden kann, ist durch mechanische Experimente auf keinem Wege nachzuweisen: sie verlaufen alle genau so, als ob die Erde in Ruhe wäre. Hat man ein Koordinatensystem gefunden, für welches z. B. das Galileische Trägheitsgesetz gilt (ein solches wird Inertialsystem genannt), so gilt es auch für alle Bezugs­ systeme, die sich relativ zum ersten geradlinig-gleichförmig bewegen (sie sind gleichfalls Inertialsysteme). Zugleich aber sehen wir, daß unter den Voraussetzungen der Newtonschen Mechanik7) das Relativitätsprinzip nicht etwa gilt für ungleichförmige Bewegungen. Die Stöße auf der Eisenbahn, die ja nichts sind als Bewegungen mit schnell variabler Geschwindigkeit, und die Erfahrungen bei einer Beschleunigung oder Verlangsamung des Fahrtempos lehren es uns. An ihnen erkennen wir ja mit Leichtigkeit, daß wir keineswegs in einem ruhenden, sondern in einem bewegten Zuge sitzen. Beschleunigungen haben also in der Newtonschen Mechanik absoluten Charakter8). Das gleiche gilt von Drehungen, denn die Rotation ist nichts als ein besonderer Fall beschleunigter Bewegungen (Bewegung unter dem Einfluß einer Zentripetalbeschleunigung). 7)  Wie sich die Sachlage ändert, wenn man gewisse Voraussetzungen der Newtonschen Mechanik fallen läßt, wird weiter unten zu erwähnen sein. 8)  Herr Gehrcke bestreitet es (Kantstudien XIX , S.  484  f.) auf Grund eines rechnerischen »Beweises«, den ich in der analytischen Mechanik bewanderten Lesern zur Lektüre empfehle (»Über die Koordinatensysteme der Mechanik«, in: Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft 15 (1913), S.  260). Noch wunderbarer aber ist, daß er in seiner Ansicht über die Newtonsche Mechanik mit Einstein übereinzustimmen glaubt.

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Hiernach durfte man nicht erwarten, daß jemals irgendwelche mechanischen Experimente die Auszeichnung eines bestimmten  | Koordinatensystems als des allein berechtigten erlauben oder fordern würden. Aber ganz anders stand es mit den optischen Versuchen (oder den elektrischen, denn das Licht ist eine elektromagnetische Erscheinung). Die bis dahin durch alle Erfahrungen durchweg auf das glänzendste bestätigte Theorie dieser Erscheinungen nämlich schien zu fordern, daß für sie keineswegs sämtliche Bezugssysteme, die sich voneinander nur durch eine gleichförmige Translation unterscheiden, gleichberechtigt seien; es mußte vielmehr unter den unendlich vielen eines9) ausgezeichnet sein: dasjenige, welches im »Äther« ruhte, d. h. in dem allverbreiteten Medium, das als der Träger der elektrischen und mithin der optischen Erscheinungen betrachtet wurde. Gewisse Versuche zwangen zu der Annahme, daß dieser Äther nicht teilnimmt an den Bewegungen der Materie, sondern überall in Ruhe verharrt. Alle unsere Instrumente, die ja z. B. wegen des Laufs der Erde um die Sonne in steter Bewegung sind, reißen dabei den Äther nicht mit sich fort, sondern unser Planet mit allem was auf ihm ist bewegt sich durch ihn hindurch, viel leichter als ein Netz durch die Luft, die Ruhe des Äthers wird dadurch nicht im geringsten gestört. Durch diese unerschütterliche Ätherruhe mußte das mit ihm fest verbundene Koordinatensystem vor allen andern ausgezeichnet sein: die elektromagnetischen (z. B. optischen) Vorgänge hätten sich anders abspielen sollen, je nachdem die Apparate, in denen sie stattfanden, in bezug auf den Äther ruhten oder sich bewegten. Mit andern Worten: für die optischen Erscheinungen mußte man erwarten, daß das Relativitätsprinzip nicht gelte. Mit Hilfe solcher Erscheinungen hätte es möglich sein müssen, von den für die mechanischen Vorgänge 9)  Die Gesamtheit aller zueinander ruhenden Systeme rechnen wir

natürlich als ein einziges, denn sie sind physikalisch absolut gleichwertig, man gelangt von einem zum andern durch bloße rein geometrische Umformungen.

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gleichberechtigten Bezugssystemen eins als ausgezeichnet zu erweisen und als das absolut ruhende zu bezeichnen. Freilich ist das Wort absolut dabei nicht im ganz strengen philosophischen Sinne genommen, denn es bedeutet hier ja nur: relativ gegen den Äther. Man könnte immer noch sagen, dem Äther als Ganzem mitsamt dem in ihn eingebetteten Kosmos dürfe man eine beliebige Bewegung oder Ruhe im Raume zuschreiben und so die Relativität aller Bewegung aufrecht erhalten. | Das ist natürlich richtig, aber der Gedanke ist völlig unfruchtbar, weil er das Gebiet aller möglichen Erfahrung überschreitet, und er wird zudem, wie man gleich sehen wird, durch das allgemeine Relativitätsprinzip überhaupt gegenstandslos. Es kam darauf an, durch Versuche den Einfluß der Bewegung unserer Apparate gegen den Äther nachzuweisen und so zu zeigen, daß in der Tat die Gesetze der Erscheinungen nicht dieselben sind, wenn ich sie auf ein gegen den Äther bewegtes (z. B. mit der Erde fest verbundenes) Koordinatensystem beziehe, als wenn ich ein im Äther ruhendes System wähle. Man hat solche Versuche angestellt, indem man den Ablauf gewisser Vorgänge beobachtete einmal in Richtung des Erdlaufs um die Sonne, das andere Mal senkrecht dazu, also in relativer Ruhe zum Äther. Alle diese Versuche, z. B. der von Michelson über die Fortpflanzung des Lichtes5, der von Trouton und Noble über das Verhalten ­eines geladenen Kondensators6, haben nun ein durchaus negatives Resultat ergeben. Sie zeigten wider Erwarten, daß die Vorgänge in geradlinig-gleichförmig bewegten Körpern genau so verlaufen, als ob die Körper in Ruhe wären (beides relativ zum Äther), daß sich also nicht etwa bloß durch kein mechanisches Experiment, sondern überhaupt durch gar kein Mittel ein Bezugssystem vor den andern als ausgezeichnet nachweisen läßt, es kann keines als absolut ruhend festgestellt, sondern höchstens willkürlich als »ruhend« angenommen werden. Mit andern Worten: nur relative, nicht absolute gleichförmige Translationsbewegungen gehen in die Naturgesetze ein. Die Erfahrung lehrt also, daß das Relativitätsprinzip in der

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oben ausgesprochenen Form tatsächlich ein gültiges Naturgesetz ist. Irgendein philosophischer Streit darüber, ob das Prinzip in eben jener Form wirklich gilt, kann gar nicht stattfinden, denn die Erfahrung hat ihn bereits entschieden. Sie zeigt, daß eine absolute Bewegung (im folgenden ist, wo nicht ausdrücklich anders bemerkt, unter »Bewegung« immer eine gleichförmige Translation verstanden) auf keine Weise festgestellt werden kann. Man darf nicht etwa die Unvollkommenheit der physikalischen Versuche für das Mißlingen einer solchen Feststellung verantwortlich machen wollen; diese waren vielmehr von völlig ausreichender Genauigkeit. Der oft wiederholte Michelsonversuch war es so sehr, daß der Einfluß einer absoluten Bewegung auch dann | noch hätte bemerkt werden müssen, wenn seine Größe auch nur den hundertsten Teil der von der Theorie geforderten betragen hätte. Es wurde aber keiner bemerkt. Man könnte ferner einwerfen, das bisherige Mißlingen jener Feststellung berechtige nicht zur Behauptung ihrer Unmöglichkeit, denn später könnte der Nachweis der absoluten Bewegung ja einmal glücken. Dieser Einwand ist im Prinzip richtig, er stellt aber bloß einen Vorbehalt dar, den wir allen empirischen Naturgesetzen gegenüber ohne Ausnahme machen müssen. Prinzipiell ist kein Naturgesetz, und wäre es ein grundlegendes, wie etwa das Energieprinzip, dagegen gefeit, durch spätere Erfahrungen einmal umgestoßen zu werden: aber wenn alle unsere Prüfungen es bestätigen, und wenn es sich sonst in die Gesamtheit der Naturregelmäßigkeiten harmonisch einfügt, so haben wir allen Grund, es als richtig hinzunehmen, denn bessere Gründe gibt es in der empirischen Wissenschaft überhaupt nicht. Dies alles aber trifft für das Relativitätsprinzip in vollem Maße zu: überall, wo seine Richtigkeit prüfbar war, hat sie sich restlos bestätigt, und es ist keine einzige Erfahrung bekannt, die ihm widerspräche. Damit sind alle Voraussetzungen erfüllt, um ihm den Rang eines allgemeingültigen Gesetzes zuzuerkennen. In der Form, die wir dem Prinzip gaben, sagte es aus, daß eine absolute Bewegung nicht nachweisbar ist. In dieser Form ist es

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einfach der Ausdruck einer Erfahrungstatsache und zweifellos richtig. Wie aber, wenn man es in der Form ausspricht: »es gibt keine absolute Bewegung«? Sagen beide Formen dasselbe? Und wenn etwa nein, ist dann trotzdem auch die zweite Form richtig? Die sind philosophische Fragen, zu denen man entweder eine Antwort suchen oder von denen man nachweisen muß, daß sie nicht sinnvoll gestellt werden können. III. Wir sahen soeben, daß wohlbegründete, in aller Erfahrung bis dahin glänzend bewährte theoretische Anschauungen (wir wollen sie unter dem Namen »Lorentzsche Elektrodynamik« zusammenfassen) dem Relativitätsprinzip entgegenstanden, indem sie notwendig die Auszeichnung eines bestimmten Bezugssystem vor den anderen zu fordern schienen, welches man dann als »im Äther ruhend« bezeichnete. Dieser Gegensatz zwischen jenen Anschau | u ngen und dem tatsächlich als gültig befundenen Relativitätsprinzip mußte beseitigt werden, und diese Aufgabe erst führte zu den paradoxen Konsequenzen, die so viel Aufsehen erregt haben. Verschiedene Wege der Versöhnung sind möglich, und es ist für unser Thema durchaus nötig, sie einzeln zu betrachten. Der erste Weg besteht darin, daß man jene dem Relativitätsprinzip widerstreitenden Anschauungen der Lorentzschen Elektrodynamik aufgibt und neue physikalische Grundlagen sucht. Diesen Weg ging seinerzeit die Theorie von Ritz.7 Er ließ die bis dahin allgemein angenommene Voraussetzung fallen, daß die Geschwindigkeit der Ausbreitung des Lichts, oder anderer elektrischer Erregungen, konstant sei; er nahm vielmehr an, daß sie von der Geschwindigkeit der Lichtquelle abhänge. Seine auf Grund dieser Annahme entwickelte Theorie blieb nun zwar mit dem Relativitätsprinzip mühelos im Einklang, verstieß »aber sonst so ziemlich überall gegen die gesichertsten Tatsachen der

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Optik«10). Durch allerlei Hilfshypothesen hätte man die Theorie vielleicht zurecht flicken können, so daß sie mit den Tatsachen in Übereinstimmung blieb, aber inzwischen kann es durch astronomische und physikalische Beobachtungen als dargetan gelten, daß die Geschwindigkeit des Lichtes nicht von der Geschwindigkeit der Lichtquelle abhängig ist, von der es ausgesandt wird11). Damit erwies sich also der erste Weg aus innerphysikalischen Gründen ungangbar. Einen zweiten Weg, den Widerspruch jener wohlbewährten Theorie vom Wesen der elektromagnetischen Vorgänge mit der experimentell festgestellten Gültigkeit unseres Prinzips fortzuschaffen, fanden H. A. Lorentz und Fitzgerald. Sie behielten die Lorentzsche Elektrodynamik im wesentlichen bei, und damit die Annahme eines physikalischen Einflusses der absoluten Bewegung, nur fügten sie die Hypothese hinzu, daß die absolute Bewegung außer diesem Einfluß noch eine andere Wirkung habe, nämlich die, daß jeder bewegte Körper sich in der Bewegungsrichtung um einen gewissen Bruchteil verkürze, und zwar so, daß das Verhältnis der verkürzten zur ursprünglichen Länge den Wert | k = √ 1 −  q 2∕c 2 hat, wenn q die Geschwindigkeit des Körpers, c diejenige des Lichtes bedeutet. Sie konnten leicht zeigen, daß diese Hypothese in der Tat die Ergebnisse der Beobachtungen vollständig erklärt. Unter dieser Voraussetzung ist es nämlich unmöglich, durch physikalische Maßmethoden den Effekt einer absoluten Bewe10)  von Laue, »Das Relativitätsprinzip«, in: Jahrbücher der Philoso-

phie I (1913), S.  105. 11)  de Sitter, »Ein astronomischer Beweis für die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit«, in: Physikalische Zeitschrift 14 (1913), S.  429. Physikalische Gründe findet man in einer Abhandlung von Richard C. Tolman, »The Second Postulate of Relativity«, in: Physical Review 31 (1910), S.  26. Weitere Literatur bei H. A. Lorentz, in den oben zitierten 3 Vorlesungen, S.  4, Anmerkung 3.

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gung wirklich festzustellen, weil der verkürzende Einfluß der Bewegung auf unsere Meßapparate jenen Effekt genau kompensiert und dadurch aller Beobachtung entrückt. Es muß aber hervorgehoben werden, daß außer dieser Kontraktionshypothese auch noch andere Nebenannahmen nötig wurden, um zu einem allseitig befriedigenden System physikalischer Erklärungen zu gelangen.8 Immerhin stellt diese Lorentzsche Theorie auf jeden Fall einen durchaus gangbaren Weg dar. Da führte 1905 der geniale Gedanke Einsteins auf den dritten (oder, nachdem der zuerst erwähnte ausgeschlossen ist, den zweiten) Weg.9 Einstein erkannte, daß man überhaupt keiner neuen physikalischen Hypothesen bedürfe, um mit allen Beobachtungen in Einklang zu bleiben, sondern nur nötig habe, eine Voraussetzung zu revidieren, die bisher ungeprüft in alle physikalischen Betrachtungen als etwas Selbstverständliches eingegangen war: die Voraussetzung des absoluten Charakters der Zeitmessung. Unter Beibehaltung des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit bleibt das Relativitätsprinzip vollständig gewahrt, wenn man annimmt, daß keiner Zeitbestimmung eine absolute Bedeutung zukommt, sondern daß ein und derselbe Vorgang, wenn er auf verschiedene berechtigte Bezugssysteme bezogen wird, auch auf verschiedene Weise zeitlich eingeordnet wird. Zwei räumlich getrennte Ereignisse, die für das eine System gleichzeitig sind, finden für ein zweites, gleichfalls berechtigtes Bezugssystem zu verschiedenen Zeiten statt. Ein und derselbe Vorgang, z. B. die Pendelschwingung einer Uhr, hat in dem mit der Uhr ruhenden System eine kürzere Dauer, als wenn man ihn von einem berechtigten System aus betrachtet, das sich relativ zu der Uhr bewegt. Infolge des Prinzips der Konstanz der Licht­ geschwindigkeit bedingt die Relativität der Zeitbestimmung auch eine solche der Längenmaße: ein Stab hat in einem mit ihm ruhenden System eine um den Faktor 1 : k größere Länge, als wenn seine Länge festgestellt wird durch Beobachtungen von einem System aus, in bezug | auf welches er sich mit der Geschwindigkeit q bewegt. Die Kontraktion also, die bei Lorentz eine reale

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physische Wirkung der absoluten Bewegung war, ist bei Einstein nur der Ausdruck für die Relativität aller Längenmaße. Man darf nicht etwa sagen, ein Stab »scheine« in bezug auf das eine System kürzer zu sein als in bezug auf ein anderes; ein Unterschied zwischen scheinbarer und wirklicher Länge des Stabes darf in diesem Sinne nicht gemacht werden. Alle in beliebigen berechtigten Systemen ruhenden Beobachter können vielmehr mit gleichem Rechte als »wirkliche« Länge des Stabes diejenige bezeichnen, die sie von ihrem eigenen System aus feststellen, denn von den verschiedenen berechtigten Systemen nimmt ja keines eine ausgezeichnete Sonderstellung ein. Es gibt eben keine »absolute« Zeitdauer oder »absolute« Länge; der Begriff Länge ist ein relativer, wie auch die Begriffe »länger« und »kürzer«. Es kommt für unsere Zwecke alles darauf an, den Unterschied zwischen der Lorentzschen und der Einsteinschen Auffassung ganz klar zu machen. Nach der ersteren existiert ein realer Einfluß der absoluten Bewegung, es wird aber außerdem noch eine Reihe anderer physikalischer Einflüsse hypothetisch angenommen, um zu erklären, warum jener Einfluß nicht beobachtet wird. Nach Einstein dagegen existiert ein Einfluß absoluter Bewegung nicht, es gibt eine solche gar nicht; und die Übereinstimmung mit der Erfahrung wird nicht durch viele einzelne ad hoc ersonnene Hypothesen erreicht, sondern erscheint völlig selbstverständlich unter Zugrundelegung eines einzigen kühnen erkenntnistheoretischen Gedankens. Die mathematische Form der Gesetze, nach denen die Naturprozesse verlaufen, ist für beide Theorien genau dieselbe, nur ihre Deutung ist verschieden. Die Theorien leisten also beide das gleiche, aber die Einsteinsche ist sehr viel einfacher – benutzt sie doch nur ein einziges Erklärungsprinzip, während die andere einer Reihe eigentümlicher Hypothesen bedarf. Bei dieser Sachlage würde niemals ein Zweifel darüber aufgekommen sein, welche Theorie vorzuziehen, welche also als die »richtige« zu betrachten sei, jeder würde  – bewußt oder unbewußt – nach der Regel »principia non sunt augenda praeter necessitatem« verfahren und ohne weiteres die

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Einsteinsche Theorie angenommen haben – wenn nur eben ihr Grundgedanke | nicht weit von Denkgewohnheiten abgewichen wäre, die niemals vorher angetastet worden sind. … Kann unser Geist eine solche Abweichung vollziehen? Oder besteht etwa in der Welt unserer Anschauung nur die altgewohnte Auffassung von Raum und Zeit zu recht, so daß jede Änderung daran für unsere Welt unmöglich wäre? Auf solche Fragen darf man Antwort von einer philosophischen Besinnung verlangen. Und sie ist wohl auch nicht schwer zu geben. IV. Die vorhergehenden Betrachtungen haben uns gelehrt, zu unter­ scheiden zwischen dem Relativitätsprinzip als einem Gesetz, dessen Gültigkeit experimentell festgestellte Tatsache ist, und dem Komplex der Einsteinschen Folgerungen, welche wir unter dem Namen Relativitätstheorie zusammenfassen wollen. Daß die Theorie Einsteins in sich widersprechend wäre, sollte man heute nicht mehr behaupten dürfen. Schon die erste Arbeit Einsteins bewies, daß sie ein in sich völlig konsequenter Gedankenbau ist, und alle Versuche ihrer Gegner, ihr immanente Widersprüche nachzuweisen, leiden ausnahmslos an dem Fehler, daß sie bei ihren Einwänden den Begriff der absoluten Zeit versteckt voraussetzen12). Diesem widerspricht die Relativitätstheo12)  Ein drastisches Beispiel dafür sind die Darlegungen Gehrckes,

Kantstudien, S.  484. Er hält dort fälschlich das Nachgehen einer »bewegten« Uhr gegenüber einer »ruhenden« für ein absolutes und glaubt daher, »der Vergleich der Zeitangaben von relativ zueinander bewegten Uhren« gebe »nach dieser Theorie ein Mittel in die Hand, um zu erkennen, bei welchem System die absolute Bewegung die größere ist«. Natürlich ist aber für den »bewegten« Beobachter die »ruhende« Uhr die langsamer gehende, jener Vergleich der Zeitangaben fällt also verschieden aus, je nachdem, von welchem System aus er vorgenommen wird, und die Relativität bleibt gewahrt. In alle dem liegt keine Spur eines Widerspruchs, da nach der Theorie »langsamer« eben ein relativer Begriff ist.

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rie allerdings, denn sie vollzieht ja gerade seine Aufhebung, ihren eigenen Thesen aber widerspricht sie nicht. Diejenige Richtigkeit, welche in der Folgerichtigkeit besteht, die logische Makellosigkeit, kommt der Theorie zweifellos zu; aber damit ist natürlich die Frage nach ihrer Wahrheit noch nicht erledigt. Wir verlangen ja nicht nur zu wissen, ob sie in sich widerspruchslos sei, sondern vor allem, ob ihr objektive Gültigkeit zukommt. Wenn nicht sich selbst, so könnte sie doch, mit Kant zu reden, unserer Anschauung | a priori widersprechen und würde dann keine Gültigkeit für die objektive Welt haben, weil diese unter den Gesetzen unserer Anschauung steht. Ich glaube, daß die Theorie mit unserer ummittelbaren Zeitschauung sehr wohl vereinbar ist, aus dem einfachen Grunde, weil die letztere uns über die Eigenschaften der Zeit, von denen die Relativitätstheorie handelt, überhaupt gar nichts lehrt. Die Zeit unserer Anschauung ist die psychologische Zeit, etwas Unmeßbar Qualitatives, Einsteins Theorie aber handelt von der Zeitmessung. Die wahrhaft anschauliche Zeit ist ein rein qualitatives Moment unseres Erlebens, das sich in keiner Weise zu objektiven Bestimmungen eignet. Es bewirkt, daß Vorgänge, die uns langweilig sind, im Schneckentempo dahinschleichen, während es andere von objektiv gleicher Dauer im Nu an uns vorüberziehen läßt; in der Bewußtlosigkeit verschwindet es ganz, und ohne nachträgliche Erwägung würden wir nicht wissen, daß auch während des Schlafs Zeit verstrichen ist. Dieses qualitative Moment kann uns in seinen Abwandlungen allenfalls zur Schätzung von Zeitintervallen dienen (die experimentell psychologischen Unter­ suchungen des Zeitbewußtseins beschäftigen sich meist mit diesem Punkt10), es kann aber selbst weder gemessen noch zur Messung benutzt werden. Es lehrt uns nichts darüber, ob der Begriff der Gleichzeitigkeit absolut oder relativ ist, denn Gleichzeitigkeit von Ereignissen an verschiedenen Orten wird niemals unmittelbar anschaulich erfahren, weil mindestens der eine von zwei räumlich getrennten Vorgängen nur durch Vermittlung räumlich-physischer Prozesse zu unserer Kenntnis gelangt (Tele­graph,

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Licht, Schall). Und wenn mancher dennoch auf Grund der Anschauung eine Reihe von Sätzen glaubt a priori aussprechen zu dürfen – wie etwa den, daß die Dauer eines Vorgangs etwas absolutes, vom Bezugssystem unabhängiges sein müsse – so täuscht er sich über die Herkunft solcher Sätze. Es sind in Wahrheit einfachste Annahmen, zu deren Korrektur bis dahin die Erfahrung niemals nötigte, und die sich daher festsetzten, obgleich unser anschauliches Erleben keinerlei Zwang dazu enthält. Daß auch Kant zur reinen Anschauungsform manches rechnete, was in Wahrheit als Zutat des Verstandes oder der Reflexion angesehen werden muß, hat sich in bezug auf den Raum in der Entwicklung der neueren Mathematik deutlich gezeigt, es gilt aber ebenso in bezug auf die Zeit. Kants Anschauungsformen | haben ja alle Eigen­schaften des absoluten Raumes und der absoluten Zeit Newtons. Da wir auf das Verhältnis der Relativitätstheorie zur Kantschen Philosophie sogleich noch zurückkommen, so sollen diese Andeutungen jetzt nicht weiter verfolgt werden. Wir halten nur fest, daß man kein Recht hat zu sagen, die Theorie verstoße gegen die unserm Geiste eigentümliche Zeit­anschauung, in die er die Erscheinungen der Welt mit Notwendigkeit einordnen muß. Damit ist der Stein des Anstoßes weggeräumt, der sonst der Annahme der Theorie im Wege gestanden hätte; und wer sich unsern Erwägungen nicht verschließt, muß infolge der erwähnten Vorzüge der Einsteinschen Auffassung zu einem Anhänger der Theorie werden. Aber ist sie damit schon als die einzig wahre erwiesen? Ist jener Satz, wonach stets die einfachste und hypothesenärmste Theorie als die richtigste zu gelten hat, ein unweigerlich bindendes Prinzip? Worin liegt seine philosophische Rechtfertigung?11 Wenn jemand uns sagt – und ein so hervorragender Forscher wie Lorentz tut es –: wir ziehen es vor, die altgewohnten Vorstellungen von Raum- und Zeitmaßen beizubehalten und führen lieber physikalische Hilfsannahmen (z. B. die Kontraktionshypothese) ein, um mit der Erfahrung in Einklang zu bleiben, so gibt es keine Tatsache, durch die dieser Standpunkt als schlechthin

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unhaltbar erwiesen würde. Er bleibt nach wie vor als eine mögliche Lösung bestehen. Man kann, wie gesagt, zur Empfehlung der Relativitätstheorie nur auf ihre große Einfachheit hinweisen, die mit einem Schlage eine Übereinstimmung mit der Erfahrung erzielt, die sonst nur mit Hilfe besonders erfundener Hypothesen erreicht werden konnte. Ja, noch darüber hinaus bedeutet sie eine beträchtliche Vereinfachung des Weltbildes; sie führt z. B. zwei bisher unverbunden nebeneinanderstehende Grundgesetze der Physik aufeinander zurück: die Prinzipien der Erhaltung der Masse und der Erhaltung der Energie, indem sie das erste als ­einen Spezialfall des zweiten darstellt, wobei sich zugleich ergab, daß dem ersteren keine strenge Gültigkeit zukommt – ein Resultat, zu dem auch Überlegungen andrer Art bereits geführt hatten. Die alte Newtonsche Mechanik muß in der Hauptsache verlassen werden; sie ist nur eine Annäherung, richtig für Massenbewegungen, die langsam sind im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit. Dieses Er | gebnis ist der Lorentzschen und der Einsteinschen Theorie gemeinsam. Überhaupt stellen beide Theorien alle beobachtbaren Naturvorgänge durch dieselben Gleichungen dar, und nur die Interpretation, der Gedankengang, der zu den Gleichungen führt, ist bei beiden verschieden. So wiederholen wir: durch keine Mittel des Experiments, also der Erfahrung, ist es möglich (zum mindesten beim jetzigen Stande der Dinge), einen der beiden Standpunkte zu widerlegen und damit die alleinige Wahrheit des andern zu beweisen. Es ist ja nicht schlechthin ausgeschlossen, daß in später Zukunft einmal ein Experiment überhaupt die allgemeine Gültigkeit des Relativitätsprinzips widerlegte, aber darauf deutet, wie gesagt, kein Anhaltspunkt hin, und wir können doch die Ordnung unserer Gedanken nicht in der Erwartung eines solchen Ereignisses einfach aufschieben, sondern müssen wissen, was wir zu denken haben in dem wahrscheinlichen Fall, daß es niemals eintritt, daß also die Feststellung einer »absoluten« Bewegung nicht bloß bis jetzt, sondern prinzipiell unmöglich ist. Dies also setzen wir in der Folge immer voraus.

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Die Frage ist also physikalisch nicht entscheidbar. Dürfen oder müssen wir sie aus erkenntnistheoretischen Gründen entscheiden? Mit Recht sagt v. Laue13), die Relativitätstheorie verdanke ihren Erfolg zweifellos Gründen philosophischer Art. Um den Wert dieser Gründe abschätzen zu lernen, wollen wir einmal die Gegengründe etwas näher ins Auge fassen, welche die Wider­sacher der Theorie gegen sie ins Feld führen. Außer der Scheu vor der Relativierung der Raum- und Zeit­ begriffe erweist sich vor allem die Anhänglichkeit an den stoff­ lichen Lichtäther als hinderlich für die Annahme der Theorie. Sie muß nämlich (wir sprechen weiter unten noch davon) mit der Existenz eines ausgezeichneten Bezugssystems auch das Dasein des Äthers verneinen, weil letzterer zur Definition eines solchen dienen könnte, und der Vollzug dieses Schrittes fällt dem meist an die Substanzvorstellung stark gebundenen Denken des Physikers sehr schwer. Sehr instruktiv sind E. Wiecherts Betrachtungen über diesen Punkt14). Er stellt unter Betrachtung dreier Beispiele die Erklärungen der Relativitätstheorie und der Ätherhypothese | Fall für Fall einander gegenüber und findet jedesmal die Behauptung der ersteren »höchst unbefriedigend«, weil sie als Erklärungsgrund »eine uns Menschen verborgene eigenartige Verbindung von Raum und Zeit« setze, während die Ätherhypothese uns »sehr eindrucksvoll« die Wirkung des substantiellen Äthers als Ursache der besprochenen Erscheinungen erkennen lasse15). Warum erscheint die Erklärung durch die Einwirkung von Substanzen aufeinander sehr eindrucksvoll? Offenbar nur, weil gegenseitige Wirkungen von Körpern etwas altgewohntes, vertrautes sind. Fragen wir aber nach dem Wie und Warum solcher Einwirkung, müßte uns da der Physiker nicht auch antwor13)  »Das Relativitätsprinzip«, in Jahrbücher der Philosophie I (1913),

S.  106. 14)  Vgl. »Die Mechanik im Rahmen der allgemeinen Physik«, in: Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, Erster Band: Physik, hrsg. von Paul Hinneberg, Leipzig / Berlin: Teubner 1915, S.  50  ff. 15)  a. a. O. S.  51.

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ten, sie beruhte auf »einer uns Menschen verborgenen eigenartigen Verbindung?« Warum soll uns dieser Gedanke beruhigender sein als der, daß unsere Raum- und Zeitmessung in der Natur eben an ganz bestimmte besondere Bedingungen geknüpft ist, und keine andern? Mit eigentümlicher Gedankenwendung sagt Wiechert, die Grundlagen der Relativitätstheorie habe man »im Transzendenten zu suchen, nämlich in jenen raumzeitlichen Beziehungen, welchen alles Sein in der Welt unterworfen ist«; sie sage mehr den mathematisch gerichteten Geistern zu. »Diejenigen dagegen, welche mehr gewohnt sind, das Augenmerk auf die Fülle der Einzelerscheinungen in der Welt zu richten, scheuen sich, hier schon die Grenzen des Transzendenten anzuerkennen, und sind darum mehr geneigt, nach einer Stütze in der Äther­ hypo­these zu suchen«16). Man wird es uns nicht verargen, wenn wir aus diesen Darlegungen nur den Gedanken hervorlugen sehen: »solange nur eine Möglichkeit besteht, mit den altgewohnten Vorstellungen auszukommen, wollen wir von einer philosophischen Besinnung über diese Vorstellungen nichts wissen.« Aus all diesem ist wohl ganz deutlich, wie wirklich nur das Verharren in gewohnten Denkbahnen, nicht die Macht philosophischer Gründe hier der Annahme der Relativitätstheorie entgegen ist. Der Kuriosität halber sei noch erwähnt, daß ein anderer ­Autor die Theorie durch folgende Argumentation zu widerlegen glaubte: Erklären heißt Zurückführen des Unbekannten auf das Bekannte, des Ungewohnten auf das Gewohnte; da nun die Relativitäts | t heorie nichts dergleichen leistet, sondern im Gegenteil das Gewohnte umwerfen will und dafür das Ungewohnteste uns anbietet, so taugt sie nichts und ist zu verwerfen.12 Dazu ist nur zu bemerken, daß Erklärung nicht notwendig Zurückführung des Neuen auf das Alte bedeutet – obgleich man oft dieser gedankenlosen Formel begegnet –, sondern eine Erklärung liegt schon überall vor, wo nur überhaupt Begriffe aufeinander redu16)  a. a. O. S.  56.

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ziert werden, gleichgültig, welches die früheren oder die späteren sind. Die Naturwissenschaft liefert tausend Beispiele dafür, daß die Zurückführung altbekannter Erscheinungen auf später entdeckte echte Erkenntnis ist; so wird das wohlbekannte Wasser als Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff erklärt, das altvertraute Licht als eine elektromagnetische Erscheinung. Doch wir kehren zu den Gründen gegen die Relativitätstheorie zurück. Was H. A. Lorentz betrifft, so zeigt auch er eine gewisse Vorliebe für den substantiellen Äther und ein Mißfallen an der für die Theorie notwendigen Behauptung, daß nie eine Körper­ geschwindig­keit die des Lichtes überschreiten kann. Er erblickt darin »eine hypothetische Beschränkung des für uns Zugänglichen […], die nicht ohne einigen Rückhalt akzeptiert werden kann«17). Im übrigen meint er, daß der Physiker sich in die Frage nach der Bedeutung des Prinzips »nicht allzu sehr zu vertiefen braucht«18). Es liegt ihm fern, seine Anschauung als die allein wahre hinzustellen, aber er gesteht von sich, er finde »wohl eine gewisse Befriedigung in den älteren Auffassungen« (d. h. der Äthertheorie), und er wendet sich zur Erkenntnistheorie mit den Worten: »man kann denn auch das Urteil ihr überlassen, im Vertrauen, daß sie die besprochenen Fragen mit der benötigten Gründlichkeit betrachten wird«19). Auch von Laue meint20), die Auseinandersetzung zwischen den beiden entgegenstehenden Anschauungen müsse philosophischen Methoden vorbehalten bleiben.

17)  In den oben zitierten drei Vorlesungen, S.  23. 18)  Ebenda S.  22. 19)  Ebenda S.  23. 20)  »Zwei Einwände gegen die Relativitätstheorie und ihre Wider­

legung«, in: Physikalische Zeitschrift XIII (1912), S.  120.

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V. So sehr nun das in den zitierten Aussprüchen bewiesene Vertrauen zur Erkenntnistheorie den Philosophen ehrt, und so ver | führerisch es für ihn sein mag, hier einen Richterspruch zu fällen, so wird er doch erst auf das sorgfältigste seine eigene Kompetenz prüfen müssen, ehe er sich an eine Entscheidung wagt. Und zwar nicht etwa bloß deshalb, weil in der Zukunft irgendein bedeutungsvolles Experiment die erkenntnistheoretischen Gründe belanglos machen und dem Ansehen der Philosophie schaden könnte, sondern aus viel allgemeineren Erwägungen heraus. Entspricht es, könnte man fragen, der wahren Aufgabe der Philosophie, dort einzuspringen, wo die exakte Einzelwissenschaft erklärt: ich weiß im Prinzip kein Mittel mehr zur Entscheidung? Verfügt die Philosophie über spezifische Erkenntnismittel, deren Gebrauch einer Einzelwissenschaft auf ihrem Gebiete versagt bleibt? Bejaht man diese Frage, so macht man damit die Philosophie zu einer Wissenschaft, die neben oder vielmehr über anderen Wissenschaften steht. Und die Geschichte lehrt, daß dieser Standpunkt nicht ohne Gefahren ist. Vielleicht ist es weiser, die Philosophie zu betrachten nicht als etwas von den Wissenschaften Verschiedenes, sondern als etwas in ihnen, an dem sie in verschiedenem Grade teilhaben. Jede Wissenschaft birgt wohl das Philosophische in sich als eigentliches Lebensprinzip, der Philosoph aber ist der Schatzgräber, der es ans Tageslicht bringt und läutert.13 Sieht man die Sachlage so an, so wird man es für bedenklich halten zu sagen, ein für die Einzelwissenschaft unlösbares Problem könne durch die Philosophie gelöst werden. Dann würde eine physikalische Frage, die für den Physiker unentscheidbar ist, es auch für den Philosophen sein. Das heißt nun aber nicht, daß er schweigend und achselzuckend dabei stehen müßte, sondern gerade diese Tatsache der Unentscheidbarkeit kann für ihn zum

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Gegenstand des Interesses werden und ihm bedeutungsvolle Erkenntnisse erschließen. Es kann nichts schaden und wird vielleicht gute Früchte tragen, wenn wir uns wenigstens vorderhand auf diesen vorsichtigsten Standpunkt stellen und seine äußersten Konsequenzen entwickeln. Danach wird es dann immer noch Zeit sein zu versuchen, ob wir nicht darüber hinaus noch einige Schritte weiter und höher gelangen können. Wo immer sich zwei Anschauungen gegenüberstehen, zwischen | denen nicht entschieden werden kann, da liegt es nahe zu fragen, ob denn notwendig die eine wahr, die andere falsch sein muß. Der Widerspruch zwischen ihnen könnte ja vielleicht nur ein scheinbarer sein, nur unter gewissen Voraussetzungen bestehen, die nicht unaufhebbar sind. Von den beiden streitenden Auffassungen des Relativitätsprinzips sagt die eine: es gibt »wirklich« ein ausgezeichnetes Bezugssystem, es ist jedoch nicht nachweisbar, weil die Bewegung zugleich gewisse »wirkliche« kompensierende Veränderungen verursacht. Die andere aber sagt: Kein Bezugssystem ist »wirklich« ausgezeichnet, und jene Veränderungen sind nicht eine Folge »wirklicher« physikalischer Einflüsse, sondern durch die Eigentümlichkeit der Raum- und Zeitmessung bedingt. Beide widersprechen sich, wenn sie unter Wirklichkeit dasselbe verstehen. Tun sie das aber? Identifiziert nicht vielmehr Einstein das Wirkliche mit dem Erfahrbaren, während Lorentz glaubt, auch eine nicht erfahrbare Wirklichkeit annehmen zu dürfen? Berücksichtigt man dies, so darf man wohl in der Tat beide Aussagen nur als verschiedene Worte für ein und dieselben objektiven Verhältnisse auffassen und bleibt damit in Übereinstimmung mit einer Ansicht über das Verhältnis wissenschaftlicher Theorien zur objektiven Welt, zu der man auch auf anderen Wegen gedrängt wird. Die Gesamtheit unserer naturwissenschaftlichen Sätze in Wort und Formel nämlich ist nichts als ein Zeichensystem, das den Tatsachen der Wirklichkeit zugeordnet ist; und das ist gleich sicher, mag man nun die Wirklichkeit für ein transzendentes

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Sein erklären oder nur für den Inbegriff und Zusammenhang des unmittelbar »Gegebenen«. Das Zeichensystem heißt aber »wahr«, wenn die Zuordnung vollständig eindeutig ist21). Gewisse Eigenschaften dieses Zeichensystems sind unserer Willkür überlassen, wir können sie so oder so wählen, ohne doch der Eindeutigkeit der Zuordnung zu schaden. Es ist also kein Widerspruch, sondern liegt vielmehr in der Natur der Sache, daß unter Umständen mehrere Theorien zugleich wahr sein können, indem sie eine zwar verschiedene, aber doch jede für sich völlig eindeutige Bezeichnung der Tatsachen leisten. Freilich wird eine davon das | auf geschicktere, einfachere Weise tun als alle anderen, und man wird daher allein mit ihr arbeiten, ja man kann auch übereinkommen, sie als die allein »richtige« zu bezeichnen, aber ein logisch zwingender Grund dafür ist zunächst nicht ersichtlich. Um der klaren Einsicht willen sei die Sachlage an einigen bekannteren Beispielen erläutert. Ein oft angeführter, bei Relativitätserörterungen besonders naheliegender Fall ist der Gegensatz des Kopernikanischen und Ptolemäischen Weltsystems. Streng genommen kann keine Erfahrung uns das Kopernikanische als das einzig wahre beweisen, sondern was die Erfahrung wirklich beweist, ist nur, daß allein dieses System uns gestattet, die Gesetze der Mechanik in ganz einfacher Form als allgemeingültig anzunehmen, z. B. das Trägheitsgesetz. Die Beobachtung zeigt, daß das von Kopernikus benutzte Bezugssystem, welches im Mittelpunkt der Sonne (oder vielmehr im Schwerpunkt des Planetensystems) ruht, vor dem Ptolemäischen mit der Erde ruhenden ausgezeichnet ist, indem es zu unvergleichlich einfacheren Gesetzen führt. Aber natürlich kann keine Erfahrung uns zwingen, alle Bewegungen gerade auf ein bestimmtes Koordinatensystem zu beziehen. Erst die Kopernikanische Anschauung ermöglichte die Entdeckung einer Himmelsdynamik, die zum Ptolemäischen Weltbild gehörende 21)  Vgl. meine Ausführungen über die Wahrheit. Vierteljahrsschrift

für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie XXXIV (1910), S.  466  ff.

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Dynamik hätte sich durch ihre Kompliziertheit der Auffindung entzogen. Liegt hierin der einzige Grund dafür, daß wir alle niemals das Gefühl los werden können, das Kopernikanische System ­a llein entspreche der »Wirklichkeit«? Als zweites Beispiel können wir auf die Möglichkeit hinweisen, bei der physikalischen Weltbeschreibung verschiedene Geometrien zu benutzen, ohne der Eindeutigkeit Eintrag zu tun. H. Poincaré hat mit überzeugender Klarheit dargetan22), daß uns keine Erfahrungen zwingen können (obwohl noch Gauss und Helmholtz der entgegengesetzten Meinung waren), der Darstellung der physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Welt ein bestimmtes geometrisches System zugrunde zu legen, etwa das Eukli­dische; sondern man kann dazu auch ganz andere Systeme wählen, nur muß man dann zugleich auch andere Naturgesetze annehmen.14 Die | Kompliziertheit der nichteuklidischen Räume läßt sich durch eine Kompliziertheit der physikalischen Hypothesen kompensieren, und so kann man zu einer Erklärung des einfachen Verhaltens gelangen, das die Naturkörper in der Erfahrung wirklich zeigen. Der Grund für die Möglichkeit dieser Willkür liegt in dem Umstand (den schon Kant hervorhob), daß niemals der Raum selbst, sondern immer nur das räumliche Verhalten der Körper Gegenstand der Erfahrung, Wahrnehmung und Messung werden kann: Wir messen gleichsam immer nur das Produkt zweier Faktoren, nämlich der räumlichen und der im engeren Sinne physischen Eigenschaften der Körper, und wir können den einen der beiden Faktoren beliebig annehmen, solange wir nur dafür sorgen, daß das Produkt mit der Erfahrung übereinstimmt, was sich dann durch passende Wahl des andern Faktors erreichen läßt. Mit der Zeit verhält es sich nicht anders; wir können ihr innerhalb gewisser Grenzen verschiedene Maßeigenschaften zuschrei22)  Wissenschaft und Hypothese, Leipzig: Teubner 1904, Teil II, Kap.  5;

Der Wert der Wissenschaft, Zweite Auflage, Leipzig / Berlin: Teubner 1910, Kap. 3, § 1; Science et mèthode, Paris: Flammarion 1908, Buch 2, Kap.  1, Teil I.

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ben – wenn wir zugleich gewisse Hypothesen über das physikalische Verhalten der Körper einführen, vermögen wir den Erfahrungstatsachen völlig gerecht zu werden. Die Theorie muß es sich nun zur Aufgabe machen, beide Faktoren so zu wählen, daß die Naturgesetze auf den einfachsten Ausdruck gebracht werden. Sobald ihr dies gelingt, erscheint sie uns mit großer Überzeugungskraft als die »richtige«. Im Falle des Raumes lehren bekanntlich alle Erfahrungen, daß es bei weitem am bequemsten ist, die Euklidische Geometrie zugrunde zu legen; die Physik kann dann auf die allereinfachsten Annahmen gegründet werden (z. B. auf die, daß ein Körper während einer gleichförmigen Translation seine Figur unverändert bei­behält). Wir bezeichnen mithin unsern Raum schlechthin als Euklidisch, obgleich streng genommen kein Zwang besteht, den Naturgesetzen das Euklidische Gewand anzulegen. Das geschieht, wie Poincaré es ausdrückt, auf Grund einer Konvention, und man hat seiner Ansicht deshalb den Namen Konventionalismus gegeben. Man muß sich aber vor ­Augen halten, daß es sich dabei natürlich keineswegs um eine völlig freie Konvention handelt, sondern es liegen gute Gründe für sie vor; sie bietet sich eben sofort als die einfachste, bequemste dar, so daß jeder sie ganz von selbst wählt, eine Verabredung mit anderen Forschern, also eine Konvention im eigentlichen Sinne gar nicht nötig ist. Bekanntlich ist ja der Laie sogar schwer da | von zu überzeugen, daß andere Festsetzungen überhaupt möglich oder zulässig sind. Nun darf aber der Philosoph doch wohl die Frage nach der Ursache dieses eigentümlichen Verhaltens aufwerfen. Daß der Mensch etwa aus biologischen Gründen stets ohne weiteres die einfachste Hypothese den anderen vorzieht, erscheint ja durchaus plausibel; es muß aber doch einen Grund dafür geben, daß die Naturgesetze gerade unter Zugrundelegung einer ganz bestimmten Theorie und keiner anderen den einfachsten Ausdruck gestatten. Und es könnte doch sein, daß wir die bequemste Theorie nicht bloß wegen ihrer Bequemlichkeit, sondern auch aus jenem verborgenen Grunde für die richtigste halten müßten. Viele

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Forscher sagen nun23),15 der Grund dafür, daß wir die Welt durch einfache Theorien bemeistern können, liegt einfach darin, daß sie wirklich einfach ist. Wir sind von dem Glauben an die Einfachheit der Natur beseelt, und der stützt sich auf die Erfahrung, daß die großen fruchtbaren Fortschritte der Wissenschaft fast immer zuletzt auf eine Vereinfachung unserer Anschauungen hinausliefen. So dürfen wir die einfachere Hypothese als die »der unbekannten Wirklichkeit näher kommende« ansehen24). Niemand wird sich wohl dem Reiz dieser Auffassung ganz entziehen können; betrachtet man aber ihre Argumente streng auf ihre rein logische Struktur hin, so verlieren sie ihre Beweiskraft. Der Glaube an die Einfachheit der Naturgesetze läßt sich nicht auf Erfahrung gründen, denn man kann stets statt der einfachen Theorien sich komplizierte erdenken, die dasselbe leisten; sondern jener Glaube erweist sich stets als eine Voraussetzung, die wir an die Erfahrung heranbringen. Diese zeigt uns, daß wir mit der Voraussetzung auskommen, sie kann uns aber nicht zeigen, daß es die einzig richtige ist. Der logische Kern des Ganzen bleibt daher ein Appell an den Glauben, steht also völlig auf einer Stufe mit dem biologischen Argument. So war es um die logische Klärung der großen Prinzipien | frage schlecht bestellt, aber in den beiden betrachteten Fällen brauchte man sich darüber nicht zu beunruhigen, weil kein ernstlicher Zweifel darüber bestand, welche Anschauung man zu wählen habe. Niemand leugnet, daß Kopernikus »recht« hatte, und daß unser Raum, wenigstens so weit unsere Erfahrung bis zu den fernsten Gestirnen reicht, als Euklidisch zu bezeichnen ist. In diesen Fällen sind es eben lauter wohlvertraute Vorstellungen, 23)  Diesen Standpunkt verteidigt z. B. fast mit Leidenschaftlichkeit

E. Study, Die realistische Weltansicht und die Lehre vom Raum, Braunschweig: Vieweg 1914, der für die Existenz einer »natürlichen Geo­me­ trie« eintritt, die ein »in jeder Beziehung treues Abbild« (S.  59) des realen Raumes sei. Der Schärfe der Poincaréschen Gedanken wird er nicht völlig gerecht. 24)  a. a. O. S.  122.

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die in den Bau der einfachsten Theorie eingehen. Anders ist es beim Relativitätsprinzip. Hier verlangt die einfachere Theorie ein Aufgeben tief eingewurzelter Anschauungen; die entgegenstehende Theorie will lieber die gewohnten Vorstellungen beibehalten, erkauft aber diesen Vorzug durch eine größere Kompliziertheit. Hier zeigt sich nun, daß die größere Einfachheit allein doch nicht ausreicht, alle Forscher für eine Theorie zu gewinnen – sonst würde ja niemand die Lorentzsche Auffassung der Einsteinschen vorziehen –, und damit wird eine Frage akut, über die man sonst ohne große Skrupel hinwegging, weil man ihrer Lösung für die Zwecke der Wissenschaft nicht bedurfte. So kann man wohl sagen, daß die Relativitätstheorie uns zwingt, aus einem kleinen dogmatischen Schlummer aufzuwachen. Und darin scheint mir ein nicht geringer Teil ihrer philosophischen Bedeutung zu liegen. Zur Lösung jener Frage freilich gibt sie uns im Prinzip nicht mehr Mittel an die Hand, als etwa das eben besprochene Raumproblem, aber sie führt uns doch alle in Betracht kommenden Momente besonders deutlich vor Augen. Zunächst wiederholen wir: Die Auffassungen von Einstein und Lorentz können beide als wahr gelten, sofern sie beide eine eindeutige Bezeichnung aller Erfahrungstatsachen ermöglichen. Kommt eine von ihnen »der Wirklichkeit näher?« Wenn wir das Prinzip gelten lassen, daß die einfachste, hypothesenfreieste Theorie als »getreues Abbild« der Wirklichkeit anzusehen ist, dann muß die Frage zugunsten der Einsteinschen Relativitätstheorie beantwortet werden. Und damit können wir den wichtigen Satz aussprechen: In demselben Sinne, in welchem nach allen bisherigen Erfahrungen unser »wirklicher Raum« der Euklidische und in welchem das Kopernikanische Weltsystem das richtige ist, in demselben Sinne gelten auch nach allen bisherigen Erfahrungen die Einsteinschen Sätze (von der Relativität der Längen, der Gleichzeitigkeit usw.) von unserer wirklichen Welt. | Was nun jenes Prinzip der Einfachheit betrifft, so besteht ein Weg, seine Richtigkeit zu gewährleisten, einfach in einer passenden Definition des Wirklichkeitsbegriffes. Dergleichen ist sehr

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wohl möglich, weil dieser Begriff in der Wissenschaft meist ohne nähere Bestimmung vorausgesetzt wird. Man kann einfach festsetzen, daß unter den möglichen Annahmen eben die einfachsten als die »der Wirklichkeit entsprechenden« bezeichnet werden sollen. »Wirklichkeit« bedeutet dann eben nur ein Wort für jenen unbekannten Grund, der da »bewirkt«, daß bestimmte Theorien die einfachste Naturgesetzlichkeit ergeben. Natürlich kann man niemanden zwingen, diese Definition anzunehmen, aber es scheint mir doch, daß durch sie nur auf eine Formel gebracht wird, was in der Wissenschaft die Auffassung des Wirk­ lichen tatsächlich in hohem Grade bestimmt. Sieht man aber das Wirkliche als ein letztes an, das keinerlei einschränkende Definition duldet, so gibt es wohl nur noch e­ inen Weg, das Prinzip der Einfachheit wenigstens in vielen Fällen logisch zu rechtfertigen. In sehr vielen Fällen beruht nämlich die größere Einfachheit einer Theorie darauf, daß sie weniger willkürliche Elemente enthält (wo freilich die »Einfachheit« in anderen Momenten besteht, versagt jede logische Begründung). Je mehr Hypothesen ich zur Erklärung eines Tatbestandes einführe, desto mehr sind ihre einzelnen Bestandteile in mein Belieben gestellt, denn je mehr Annahmen ich mache, auf desto mehr verschiedenen Wegen kann ich Übereinstimmung mit der Erfahrung erreichen. Nun ist aber klar: Je größer die Zahl der willkürlichen Elemente, welche eine Theorie enthält, umsomehr ist an ihr aus meinem Belieben, umsoweniger aus dem Zwang der Tatsachen entsprungen. Wir müssen aber natürlich sagen, daß eine Theorie nur insofern die Wirklichkeit darstellt, als sie eben durch die objektiven Tatbestände bestimmt wird. Was sie darüber hinaus noch enthält, ist nicht durch das Gebot der Tatsachen, sondern durch meine Willkür hinzugefügt, ihm kann etwas in der Wirklichkeit entsprechen, aber wir wissen es nicht, die Tatsachen schweigen darüber. Wir wollen aber natürlich an unsern Theorien nicht nur das Falsche, sondern auch das überflüssige Beiwerk, die eigene Zutat, möglichst ausschließen. Wir tun es, indem wir diejenigen mit einem Minimum willkürlicher An-

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nahmen wählen, d. h. die einfachsten. Dann sind wir sicher, uns von der Wirklich | keit wenigstens nicht weiter zu entfernen, als durch die Schranken unseres Wissens überhaupt bedingt wird. Man kann z. B. in irgendeiner kosmologischen Theorie annehmen, daß jenseits aller sichtbaren Fixsterne eine alles umschließende Kugel oder ein Neumannscher Körper Alpha sich befinde,16 man kann die Hypothese einführen, daß ein Elektron eine ganze Welt von Milchstraßen in seinem Innern berge, man kann annehmen, daß es einen Äther gebe, in dem ein ruhendes Koordinatensystem sich denken lasse: aber aller dieser Hypothesen bedürfen wir nicht, um mit der Erfahrung in Einklang zu bleiben, es sind subjektive Zutaten, denen keine Bedeutung für die Darstellung des Objektiven zukommt. Eine solche Zutat ist eben auch der Begriff der absoluten Bewegung, und wir müssen deshalb der Relativitätstheorie den Vorzug geben, und das Fallenlassen solcher subjektiven Bestandstücke wie der hergebrachten Voraussetzungen über Raum- und Zeitmessung spielt dabei gar keine Rolle. Andrerseits darf es uns aber in philosophischen Augenblicken auch nicht verwehrt sein, uns darüber zu freuen, daß uns eigentlich nichts zwingt, nur ein Weltbild als das einzig richtige zu betrachten, sondern daß der Reichtum des Menschengeistes uns erlaubt, verschiedenen Zeichensystemen, einfachen und komplizierten, die gleiche Wahrheit zuzuschreiben, in der Einsicht, daß sie auf verschiedene Art, das eine in der knappsten Weise, das andere in reicher Ausmalung, doch schließlich einer und derselben Wirklichkeit eindeutig zugeordnet sind. VI. Nicht alle philosophischen Systeme sind mit dieser letzten weitherzigen Beurteilung der Sachlage einverstanden. Die meisten möchten von vornherein genau darüber verfügen, was als Wirklichkeit zu gelten habe und wie sie dargestellt werden müsse. Der

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logische Idealismus der Marburger Neukantischen Schule z. B. faßt die Wirklichkeit nicht auf als etwas der Wissenschaft fest Gegenüberstehendes, sondern behauptet, sie werde durch die Wissenschaft, durch das Denken erst geschaffen, sei Produkt des Denkens, freilich niemals fertig produziert, sondern eine Grenze, der sich die Wissenschaft ins Unendliche asymptotisch annähert, der Gegenstand der Erkenntnis sei ihre unendliche Aufgabe. Hiermit ist die Ansicht unvereinbar, die unter Umständen verschiedenen | Theorien den gleichen Wahrheitsgehalt zuschreiben will, denn sonst würde ja nicht eine, sondern mehrere Welten des Seins durch das Denken logisch erzeugt, und das wird der logische Idealismus nicht zugeben dürfen. In der Tat sagt z. B. Cassirer von der These der logischen Gleichberechtigung äquivalenter Theorien25): »Der Mangel dieser Schlußweise aber liegt deutlich zutage: denn die Aufhebung des absoluten Maßstabes schließt in keiner Weise die Aufhebung des Wertunterschiedes der verschiedenen Theorien selbst ein.« Das ist vollkommen richtig, aber es ist noch nichts damit bewiesen, denn die Frage ist eben, mit welchem logischen Recht der Schritt vom Wertvollsten zum einzig Wahren vollzogen wird. Wir dürfen ihn natürlich vollziehen, aber das Postulat, daß wir es tun müßten, ist logisch weiter nichts als eine besondere Definition des Wahrheitsbegriffs; und über deren Zweckmäßigkeit läßt sich sehr streiten. Aber, wie gesagt, der Neukantianer kann bei der von uns in manchen Fällen für möglich gehaltenen ἐποχή nicht stehen bleiben, sondern muß uns sagen, wie sich sein System bestimmten Theorien gegenüberstellt. Dieser Aufgabe hat sich für die Relativitätstheorie Natorp26) unterzogen. Indem wir uns nun anschicken, diese Stellungnahme zu prüfen, um dadurch indirekt einen Maßstab für den Wahrheitsge25)  Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin: Bruno Cassirer

1910, S.  426. 26)  Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Leipzig  / Berlin: Teubner 1910. S.  392  ff.

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halt des logischen Idealismus zu gewinnen, müssen wir leider zuerst bemerken, daß der Natorpschen Darstellung der Relativitätstheorie eine gewisse Unsicherheit anhaftet, auf die ich schon einmal andeutend hinwies27) und die es zweifelhaft erscheinen läßt, ob der Autor sich mit jenem vollen Verständnis in sie eingelebt hat, das wir eingangs als unerläßliche Voraussetzung jeder philosophischen Verwertung fordern mußten. (Der Pflicht, dieses Urteil zu begründen, will ich wenigstens durch Heraushebung einer Stelle genügen: Natorp sagt S.  395: Einstein habe »bewiesen17, daß die Lichtgeschwindigkeit für das bewegte System in der Tat notwendig konstant bleibt, wenn sie es im ruhenden System ist«. Wir sahen oben, daß Einstein dies nicht beweist, sondern als berechtigte Voraussetzung einführt – ein gewaltiger Unterschied! Ebenda | fährt Natorp fort, offenbar in der Meinung, damit den Grundgedanken des vorgeblichen Einsteinschen Beweises wiederzugeben: »Die Lichtgeschwindigkeit beweist sich eben durchweg als ein letzter Faktor, der in alle unsere empirischen Zeit- und Raummessungen gleichermaßen als Bedingung eingeht. Es gibt gar keine Möglichkeit, sie selbst als nicht konstant zu erweisen, solange es über sie hinaus kein Maß der zeitlichen und räumlichen Bestimmung mehr für uns gibt.« Wir brauchen demgegenüber nur an unsere obigen Angaben und Zitate über das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zu erinnern, S.  139, Anm.  11). Aus ihnen geht hervor, daß gerade die Erfahrung sehr wohl über seine Gültigkeit entscheiden kann.) Der Vertreter des logischen Idealismus behauptet nun, daß die Gedanken der Relativitätstheorie ganz trefflich in sein System hineinpassen. Am deutlichsten finden wir Natorps Stellungnahme vielleicht in dem Satz ausgedrückt, in dem er sagt28), er erkenne in dem Relativitätsprinzip »nur die konsequente Durchführung des bereits von Newton aufgestellten, von Kant festge27)  Vgl. meine Besprechung des zitierten Werkes, Vierteljahrsschrift

für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie XXXV (1911), S.  260. 28)  a. a. O. S.  399.

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haltenen und schärfer gefaßten Unterschieds der reinen, absoluten, mathematischen von der empirischen, physikalischen Zeitund Raumbestimmung, welche letztere durchaus nur relativ sein kann. Ohne Grund hat man jene Unterscheidung selbst von den neuen Anschauungen aus anfechten zu müssen geglaubt; sie wird im Gegenteil gerade durch sie dem Prinzip nach unwidersprechlich bestätigt …« Aus diesen Sätzen und aus den Erörterungen, deren Abschluß sie bilden, geht hervor, daß der Neukantianer den Begriff des absoluten Raumes und der absoluten Zeit doch glaubt beibehalten zu müssen; zwar natürlich nicht als Begriffe von etwas »Wirklichem« – Kant selbst hatte sie ja schon für »bloße Ideen« erklärt –, aber doch als reine Voraussetzungen, die allen empirischen Raum- und Zeitmessungen schon zugrunde liegen. Nur von den letzteren soll die Relativität gelten. Demgegenüber müssen wir aber unter allen Umständen daran festhalten, daß die Einsteinsche Theorie den Begriff der absoluten Zeit auch als Voraussetzung nicht zuläßt. Sie weiß nichts von einer solchen und von dem hier geltend gemachten Unterschied. Nach ihr liegt nur die Idee der relativen Zeiten der Messung zu | grunde. Die schon angeführte Wahrheit, daß wir niemals streng genommen Zeiten (und Räume) selbst wahrnehmen und messen, gilt nicht etwas bloß von der »absoluten« Zeit, sondern allgemein, auch von der »empirischen, physikalischen« Zeit. Der ganze Unterschied ist hinfällig. Was wir Messung des Raumes nennen, ist stets ein Vergleichen von Körpern (Anlegen eines Maßstabes an Gegenstände), Messung der Zeit ist ein Vergleichen von Bewegungen oder anderen Vorgängen (eine Uhr ist nach Einstein ein »System, welches genau denselben Vorgang automatisch wiederholt«). Die Zugrundelegung einer Idee ist nötig, um aus der Vergleichung von Körpern und Vorgängen eine Messung von Raum und Zeit werden zu lassen, aber es braucht nicht die Idee einer absoluten Zeit, eines absoluten Raumes zu sein. Das Relativitätsprinzip lehrt uns vielmehr, daß wir, um überflüssige Hypothesen zu vermeiden, das Maß der Zeit vom Bewegungszustand des Bezugssystems abhängig wählen müssen. Die »physikalische«,

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die gemessene Zeit ist also nicht etwas, das man direkt messen könnte, und das sich dadurch von einer »bloßen Idee« unterschiede, sondern ist selbst immer eine bloße Idee, die der Messung zugrunde gelegt wird. Die in den Gleichungen der Relativitätstheorie auftretenden Größen t sind »reine, mathematische« Zeiten im vollsten Sinne der Worte, obgleich es keine »absoluten« Zeiten sind. Physikalische Zeit ist immer gemessene, und damit mathematische, eine Idee. Den Gegensatz zu ihr bildet nur die wahrhaft anschauliche, die psychologische Zeit. Von ihr gilt dergleichen nicht. Sie ist wirklich im Bewußtsein (eine »durée réelle«), sie ist nicht meßbar, sondern reine Qualität – ein Umstand, auf dem bekanntlich Bergson ein ganzes metaphysisches System zu errichten sich erkühnte.18 Wer da glaubt, daß die absolute Zeit, der absolute Raum »doch als Idee notwendig ist: um alle relative Bestimmung von Bewegung und Ruhe auf sie zu reduzieren  …«29), der kann nicht die Einsteinsche Theorie annehmen, sondern muß (etwa mit ­Lorentz) die absolute Fassung vorziehen. Das gleiche muß tun, wer der Meinung ist, »daß die unabweisliche Forderung der »Eindeutigkeit« des Geschehens die Beziehung auf die einzige, absolute Zeit und den einzigen absoluten Raum nicht sowohl fordert als | einschließt«30). In Wahrheit gibt auch die Relativitätstheorie ohne absolute Zeit ein schlechthin eindeutiges Bild des Geschehens31). Diese Erwägungen lehren uns, daß die Relativitätstheorie durchaus nicht als eine natürliche Konsequenz der Gedankengänge des logischen Idealismus betrachtet werden kann, daß sie sich vielmehr nicht einmal in den Bau dieses Systems einfügen läßt, ohne ihn beträchtlich zu erschüttern. 29)  a. a. O. S.  337. 30)  Ebenda, wo eine ältere Arbeit von Petzoldt, »Das Gesetz der Ein-

deutigkeit«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie XIX (1895), S.  146–203, zitiert wird. 31)  Vgl. z. B. von Laue, Das Relativitätsprinzip, 2. Auflage, a. a. O., S.  37.

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Wenn nun die Theorie sich mit dem Marburger Kantianismus nicht recht vertragen will, wie steht es mit ihrem Verhältnis zum echten, Königsberger Kant? Natorp behauptet32): »Gerade das, was, wie es scheint, für die Entdecker des Relativitätsprinzips selbst das am meisten Überraschende war: diese gänzliche Relativierung der Zeitbestimmung, ist somit nur die Bestätigung eines der fundamentalsten Sätze Kants, und für den, der dessen Thesen durchdacht hat, genau nur das, was man erwarten mußte.« Der hier angezogene Satz von Kant ist der, daß die absolute Zeit kein Gegenstand der Wahrnehmung ist. Folgt aus dieser Einsicht, die Kant selbstverständlich besaß, das Relativitätsprinzip? Keineswegs, denn wir sahen ja, daß Relativitäts- und Absoluttheorie in gleicher Weise mit ihr vereinbar sind. Dagegen steht die erstere zweifellos in unleugbarem Widerspruch mit der Kantschen Ansicht, daß eben doch die eine Zeit als notwendige Vorstellung immer zugrunde liegt. Die Kantsche Anschauungsform a priori ist – dies kann nicht genug betont werden – die Newtonsche Zeit. Und so gewiß die Physik der Relativitätstheorie nicht die Newtonsche Physik ist, so gewiß kann sie nicht in der Kantschen Ansicht untergebracht, geschweige denn aus ihr abgeleitet werden. In der transzendentalen Erörterung des Begriffs der Zeit in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft heißt es: »Also erklärt unser Zeitbegriff die Möglichkeit so vieler synthetischer Erkenntnis a priori, als die allgemeine Bewegungslehre, die nicht wenig fruchtbar ist, darlegt.« Kann man im Ernst glauben, Kant hätte auf seinem Standpunkt den Satz, daß zwei gleichgerichtete Geschwindigkeiten sich bei der Zusammensetzung einfach addieren, nicht für a priori notwendig angesehen? Damit wäre aber die Einsteinsche Kinematik schlechthin aus | geschlossen. Man lese alles, was Kant in der transzendentalen Ästhetik, in den drei Analogien und anderswo über die Zeit geäußert hat und frage sich: hätte ein Anhänger der Kantschen Lehre von »der« Zeit, in die wir alle Erscheinungen einordnen müssen, 32)  a. a. O. S.  403.

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die Sätze der Relativitätstheorie für richtig halten oder sie sogar voraussagen können? Hand aufs Herz! Er hätte niemals wesentlich hinauskommen können über solche Sätze wie etwa die 28, die Schopenhauer33) einstmals zusammenbrachte. Den tiefstgehenden Versuch, die Relativitätstheorie mit der echten Kantschen Lehre in Übereinstimmung zu bringen, hat Hönigswald unternommen34). Ausdrücklich lehnt er (hierin ganz anders verfahrend als Natorp) jeden Versuch ab, den Kantschen Kritizismus als eine vorausnehmende Bestätigung der Theorie anzusehen35), aber er meint, daß beide aufs beste miteinander vereinbar seien. Er erkennt an36), daß physikalische Zeit immer so viel bedeute wie gemessene oder meßbare, weist aber darauf hin, daß man natürlich trotzdem zwischen Zeit und Zeitmessung unter­scheiden müsse, und nun glaubt er (wie Natorp), diese Unterscheidung führe zu der Ansicht: »Es gibt keinen Begriff einer Zeit- und Raumbestimmung ohne die Begriffe jener letzten Bezugssysteme der absoluten Zeit und des absoluten Raumes …«37). Wenn man von der Relativitätstheorie aus zu einer Verneinung dieses Satzes gelange, so setze man fälschlich Zeit und Zeitbestimmung einander gleich und begehe damit einen Fehler, dessen Aufdeckung sonst eigentlich gerade dieser Theorie zu danken sei. Hierzu sei zunächst folgendes bemerkt. Man braucht jene beiden Begriffe durchaus nicht gleichzusetzen, man kann sie sicherlich sehr wohl auseinanderhalten, ohne doch jenem Satze zuzustimmen. Es ist nicht einzusehen, warum die Zeit, von der man die Zeitbestimmung unterscheidet, gerade die Newton-Kantsche sein muß. Wir hatten ja z. B. oben selbst an der Zeit das quantitativ Bestimmbare gesondert von dem rein Qualitativen, also dem33)  Die Welt als Wille und Vorstellung II, 1. Buch, 4. Kapitel. 34)  Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik. Eine erkennt-

nistheoretische Studie, Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1912, S.  84  ff. 35)  Ebenda S.  95  f. 36)  Ebenda S.  93. 37)  Ebenda S.  92.

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jenigen rein Anschaulichen, welches da macht, daß etwa eine | Zeitstrecke nicht dasselbe ist wie eine Raumstrecke, obwohl doch beide eindimensionale Kontinua, also in der rein mathematischen Darstellung schlechthin auf keine Weise zu unterscheiden sind38). Dieses Qualitative ist aber natürlich nicht die NewtonKantsche Zeit; man kann auf sie keine Bewegungslehre gründen. Hönigswald meint aber offenbar gerade, wenn man von der Zeit dasjenige gleichsam wegnehme, dessen quantitative Bestimmung die Relativitätstheorie gebe, so bleibe ein allgemeiner Begriff der Zeit übrig, welcher gerade der Kantische sei. Dieser allgemeine Begriff könne auf verschiedene Weise spezialisiert werden, und eine dieser Differenzierungen werde in der Relativitätstheorie vollzogen. So »liegt ihre erkenntnistheoretische Bedeutung gerade in denjenigen Momenten, durch welche sie sich der Kantschen Lehre gegenüber differenziert.«39) Ihr Zeitbegriff erscheint also als ein Spezialfall, der dem Kantschen untergeordnet werden kann. So kommt Hönigswald zu der abschließenden Bestimmung: Die verschiedenen Zeiten, die in der Relativitätstheorie auftreten, sind »einer gemeinsamen Bedingung unterworfen. Und diese eben ist die ›Zeit‹ Newtons und Kants. Verschiedene Beobachter auf verschiedenen Himmelskörpern h ­ aben verschiedene ›Ortszeiten‹; aber eine und dieselbe ›Zeit‹ ist es, die sie umschließt, und auf deren Hintergrund jene Ortszeiten als solche vermittelst der Relativitätstheorie erst bestimmbar werden.«40) Wiederum können wir dies nicht als richtig anerkennen. Gewiß sind die Zeiten der Theorie einer gemeinsamen Bedingung unterworfen. Aber welches ist doch diese Bedingung? Nur eben die der Relativität! Sie sind ja alle völlig gleichberechtigt, jede umschließt, von ihrem System aus betrachtet, alle andern, und es gibt daher keine Bedingung »Zeit«, die ihnen, sie alle um38)  Vgl. meine früher zitierte Besprechung der Logischen Grundlagen

der exakten Wissenschaften von Natorp, S.  257  f. 39)  a. a. O. S.  98. 40)  a. a. O. S.  99.

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schließend, gegenüberstände. Es ist völlig unmöglich, von den relativen Zeiten durch Aufsuchen irgendeiner Gemeinsamkeit zu einer absoluten zu gelangen. Wären die verschiedenen Zeiten der Relativitätstheorie anzusehen als Differenzierungen ­einer sie umfassenden allgemeinen Newtonschen Zeit, so müßte auch die Mechanik der Theorie irgendwie durch Spezialisierung aus der Newtonschen | Mechanik hervorgehen können: in Wahrheit widersprechen sie sich. Höchstens kann man umgekehrt die letztere als einen Spezialfall der ersteren auffassen, weil jene für langsame Bewegungen immer näher in diese übergeht. Nach der Relativitätstheorie ist überhaupt keine Mechanik möglich ohne Relativierung der Zeit, weil diese mit dem Begriff der Bewegung unlöslich zusammenhängt – wie könnte da eine den relativen Zeiten gemeinsame absolute Bedingung zum Grundbegriff einer Mechanik gemacht werden (denn dies ist ja die Rolle der Newtonschen Zeit)? Die Relativitätstheorie trifft, sofern sie richtig (und das setzen wir ja ein für alle Mal voraus), mit ihren Maßbestimmungen alles, was überhaupt an den Zeiten physikalisch, meßbar ist; sucht man sonst noch etwas an ihnen, so findet man niemals eine Newtonsche Zeit, die eine Physik begründen kann, sondern immer nur jenes qualitative Moment; dieses allein ist es in der Tat, das einem eindimensionalen Kontinuum den Charakter der »Zeit« verleihen kann. Noch dies sei erwähnt: wäre »die« Kantsche Zeit eine gemeinsame Bedingung, die allen Einzelzeiten – und diese allein sind ja nach der Theorie erfahrbar – auferlegt ist, so würde man zu ihr von den Einzelzeiten aus auf dem Wege der Abstraktion gelangen, und das hat Kant ja bekanntlich ausdrücklich zurückgewiesen. Zusammengefaßt: Der ganze Gedanke Hönigswalds ruht, wie auch aus den zitierten Sätzen hervorgeht, darauf, daß er sich die verschiedenen Relativzeiten von einem Standpunkt außerhalb ihrer betrachtet denkt, der an ihrer Relativität nicht teil hat, dessen Zeit die andern umschließt, und von dem aus sie einer gemeinsamen absoluten Bedingung unterworfen scheinen. Nach der Theorie ist aber gerade ein solcher Standpunkt nicht möglich.

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Und damit wird es auch unmöglich, die Theorie mit dem Kantschen Zeitbegriff in Einklang zu bringen. Wir müssen also über das Verhältnis des historischen Kantschen Systems zu der neuen Theorie den Schluß ziehen: sie läßt sich aus ihm weder voraussagen, noch findet sie in ihm einen fertig bereiteten Platz vor, an dem sie sich lückenlos einfügen könnte. Der Kantsche Zeitbegriff erweist sich als zu eng, um die prinzipiellen Fortschritte der Naturwissenschaft in sich aufzunehmen. Die bedeutsamste philosophische Lehre, die wir aus der Relativitätstheorie ziehen müssen, bleibt doch die, daß der Newtonsche Zeitbegriff fortan nicht mehr als der einzig mögliche betrachtet wer | den kann, selbst dann nicht, wenn etwa einmal die Theorie aus empirischen Gründen wieder verlassen werden sollte. Indem Kant in die reine Anschauungsform alle Eigenschaften der Newtonschen Zeit aufnahm, determinierte er sie in zu spezieller Weise. Wir deuteten schon an, Kant habe der reinen Anschauungsform manches zugeschrieben, was in Wahrheit auf Rechnung des vergleichenden Verstandes zu setzen sei (oben S.  143). Wir können das jetzt dahin präzisieren, daß als solche Zutat alles Quantitative, alles Mathematische, alle Maßeigenschaften der Zeit zu betrachten sind. Als subjektive, notwendige apriorische Form des Anschauens sind mithin nur die rein qualitativen Eigenschaften der Zeit und des Raumes zu betrachten, kurz das eigentlich zeitliche an der Zeit, das spezifisch räumliche am Raum. Damit wird die Kantsche Lehre in ihrem Kern nicht aufgehoben, wohl aber ergibt sich die Notwendigkeit, sie in wesentlichen Stücken zu modifizieren. Wir leisten, glaube ich, der Philosophie einen besseren Dienst, wenn wir uns nicht scheuen, an den uns lieb gewordenen Lehren die durch den Fortschritt der Erkenntnis geforderten Modifikationen vorzunehmen, als wenn wir versuchen, sie unter allen Umständen mit den neuen Errungenschaften in Übereinstimmung zu bringen. Den historischen Sinn mag es mehr befriedigen, Prinzipien moderner Wissenschaft nach Kants System, und Kantsche Gedanken nach den Platonischen zu deuten: der philo-

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sophische Sinn wird sich mehr freuen über das Neue in der Erkenntnis und es fröhlich als neu anerkennen, wo es ihm begegnet. VII. Neben der Kantischen steht keine philosophische Richtung der Gegenwart in so engem Konnex mit den exakten Wissenschaften wie der Positivismus. Wir wollen jetzt unsere Absicht ausführen, die Ansprüche zu prüfen, die er auf die Relativitätstheorie erhebt. Er hat mit großem Triumph von ihrem Prinzip Besitz ergriffen und es für eine echt positivistische Errungenschaft erklärt. Am eifrigsten ist in dieser Beziehung J. Petzoldt tätig gewesen; er hat in mehreren Arbeiten »die Relativitätstheorie im erkenntnistheoretischen Zusammenhange des relativistischen Posi­tivismus behandelt«41) behandelt, am ausführlichsten wohl in einer | Abhandlung in der Zeitschrift für positivistische Philosophie42); und er sucht vor allem nachzuweisen, daß die Ideen von Mach mit Notwendigkeit zu unserm Prinzip hinführen mußten. Die Grundbedingung: durchdringendes Verständnis der physikalischen Seite der Theorie, finden wir hier zweifellos erfüllt; nirgends begeht Petzoldt Irrtümer in ihrer logischen Auffassung (außer an einer Stelle43) bei der Beurteilung eines bekannten Paradoxons der Theorie; doch ist dieses Versehen wohl zu entschuldigen, da auch andere ganz in die Theorie eingelebte Forscher44) an diesem Punkte fehlgegriffen haben).19

41)  Titel eines Aufsatzes von Petzoldt. Verhandlungen der Deutschen

Physikalischen Gesellschaft 14 (1912), S.  1060. 42)  »Die Relativitätstheorie der Physik«, in: Jahrgang 2 (1914), S.  1  ff. 43)  a. a. O. S.  50. 44)  Z. B. Normann Campbell, »Relativitätsprinzip und Äther. Eine Entgegnung an Herrn Wiechert«, in: Physikalische Zeitschrift 13 (1912), S.  123. Die richtige Behandlung des Paradoxons findet man z. B. in den zitierten drei Vorlesungen von Lorentz, S.  31  f. u. Nachtrag 4.

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Von vornherein muß man in der Tat zugeben, daß schon vor der Aufstellung des Relativitätsprinzips keine Gedankenkreise so eng mit denen der Theorie verwandt waren wie diejenigen des Positivismus. Man wird wohl auch sogar sagen müssen, daß Einstein kaum zu seiner Theorie gelangt wäre, wenn er nicht schon selbst in jenen Gedankenkreisen sich bewegt hätte.20 Wir dürfen also gleich als feststehend annehmen, daß unser Prinzip in der positivistischen Erkenntnistheorie bequem Platz findet; – das überhebt uns aber nicht der Untersuchung der Einzelheiten dieses Zusammenstimmens, und da wird sich ergeben, daß man die Leistungsfähigkeit des Positivismus doch überschätzt, wenn man glaubt, er hätte so einfach aus sich selbst heraus das physikalische Relativitätsprinzip hervorgebracht und könne gar nichts mehr von ihm lernen. Der Grundgedanke des Positivismus, nur das Wahrgenommene für wirklich zu erklären, die Welt allein aus unmittelbar gegebenen »Elementen« aufzubauen, hat oft zu der Behauptung geführt: da nur relative Bewegungen wahrnehmbar sind, so sind auch nur sie allein wirklich, absolute Bewegungen existieren gar nicht und können daher auch keine physikalische Bedeutung, keine physikalische Wirkung haben. Ist dieses Postulat irgendwie äquivalent dem Satze, den wir bisher als Relativitätsprinzip bezeichnet haben? (Nur von diesem reden wir jetzt; das erweiterte Prinzip wird sogleich noch zu besprechen sein.) Die Antwort lautet natürlich: | durchaus nicht. Denn während unser Prinzip sich allein auf gleichförmige Translationsbewegungen bezieht, redet jener Satz von Bewegungen schlechthin, begreift also Beschleunigungen in sich. In der Tat, rein kinematisch betrachtet, d. h. als bloße Ortsänderung ohne Rücksicht auf Massen und Kräfte, sind natürlich beschleunigte Bewegungen genau so relativ wie gleichförmige. Der Positivist muß jenen Satz entweder für jede beliebige Bewegung behaupten, oder er hat überhaupt kein Recht, ihn zu behaupten. Denn die Gründe für seine Behauptung liegen ja eben bei jeder Bewegung in gleicher Weise vor. Bestätigt also die Erfahrung den Satz bloß für gleichförmige

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Bewegung, so ist das überhaupt keine gültige Bestätigung, sondern nur eine zufällige. Ebensogut wie die Erfahrung uns das Bestehen absoluter Beschleunigungen lehrt (und das tut sie nach der Newtonschen Ansicht sowohl wie nach der bisher besprochenen Relativitätstheorie), hätte sie uns die Existenz absoluter gleichförmiger Bewegung zeigen können; und daß sich in Wahrheit nur die erstere, nicht auch die letztere physikalisch nachweisen läßt, das ist dann nur ein empirischer Satz, nicht, wie jene Meinung behauptet, ein notwendig gültiges Prinzip. Tatsächlich hätte uns die Erfahrung doch lehren können, daß es nur ein Koordinatensystem gibt, in bezug auf welches alle Gesetze der Physik die einfachste Form annehmen. (Dies absolute Bezugssystem könnte astronomisch-physikalisch etwa dadurch bestimmt werden, daß man seinen Bewegungszustand relativ zu unserm Planetensystem angibt.) Darin liegt nichts Undenkbares, und es ist eine reine Erfahrungstatsache, daß es eben nicht nur eins, sondern unendlich viele solcher Systeme gibt. Das Relativitätsprinzip ist also ein Resultat durchaus spezifischer Erfahrungen, nicht bloß eine Konsequenz jenes allgemeinen relativistischen Satzes. Das führt uns dazu, diesen Satz überhaupt ein wenig näher zu prüfen. Zu seiner Klärung ist es zweckmäßig, das berühmte Beispiel einmal im einzelnen zu betrachten, durch welches Newton die Existenz absoluter Beschleunigungen nachweisen ­wollte.21 Er denkt sich einen rotierenden Körper (ein Glas Wasser) im Raume und meint nun, an den auftretenden Zentrifugalbeschleunigungen (dem Emporsteigen des Wassers an den Gefäßwänden) könnte die absolute Rotation erkannt werden. Der Versuch zeigt, daß die Fliehkräfte nicht abhängen von der Rotation des Körpers relativ | zu seiner Umgebung (des Wassers relativ zum Glase), es handelt sich hier also um den Einfluß einer absoluten Drehbewegung, welcher, wie Newton schließt, auch dann bestände, wenn der Körper gar keine Umgebung hätte, wenn also außer ihm überhaupt keine andern im Universum existierten, in bezug auf welche die Bewegung rein kinematisch konstatiert werden könnte.

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Mach bemerkt, und zwar mit Recht, daß dieser Schluß Newtons anfechtbar ist. Die Erfahrung lehre allerdings, daß die Ursache der Zentrifugalbeschleunigungen nicht in der Relativrotation des Körpers in bezug auf seine nähere Umgebung liegt, daraus folge aber nicht, daß sie in der Absolutrotation liegen müsse, sondern sie könne auch zu suchen sein in der Relativdrehung zu den gewaltigen, wenn auch entfernten Massen, die wir im Fixsternhimmel vor uns haben, oder zu einem allverbreiteten Medium, dem Äther. Die Erfahrung zeigt uns nicht, daß an einem Körper nicht auch dann Fliehkräfte auftreten, wenn der ganze Fixsternhimmel um ihn herumgedreht wird. Bis hierher muß man Mach zweifellos beistimmen. Aber dann fährt er fort45): »Der Versuch ist nicht ausführbar, der Gedanke überhaupt sinnlos, da beide Fälle sinnlich voneinander nicht zu unterscheiden sind. Ich halte demnach beide Fälle für denselben Fall und die Newtonsche Unterscheidung für eine Illusion.« Gegen diese Sätze ist auf jeden Fall Einspruch zu erheben. Erstens ist freilich die Drehung des Fixsternhimmels um einen der Beobachtung zugänglichen Körper ein unausführbarer Versuch, und es ist auf diese direkte Weise unmöglich, die Relativität der Rotation zu beweisen oder zu widerlegen – es ist aber wohl denkbar, daß aus der Annahme einer solchen Relativität Folgerungen abgleitet werden könnten, die ihrerseits experimentell prüfbar sind, und wir werden bald sehen, daß dergleichen wirklich nicht ganz ausgeschlossen ist und von Einstein ernstlich in Betracht gezogen werden konnte. Zweitens aber ist der Satz, daß jene beiden Fälle sinnlich nicht voneinander unterscheidbar seien, eine petitio principii, hervorgerufen durch Nichtbeachtung des Unterschiedes zwischen kine­ matischer und dynamischer Betrachtungsweise. Sind die Zentrifugalbeschleunigungen, durch deren Vorhandensein oder Fehlen die Fälle sich nach Newton unterscheiden müßten, etwa nicht sinnlich wahr | nehmbar? Wir wollen es ganz einwandsfrei for45)  Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt,

3. Aufl., Leipzig: F. A. Brockhaus 1897, S.  233.

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mulieren. Es wäre doch folgendes denkbar: Es könnten in einer Reihe von Fällen ein Körper und ein sehr großes System (etwa Milchstraßensystem) sich in relativer Rotation zueinander befinden, und es könnte in einigen dieser Fälle das Auftreten von Fliehkräften an dem Körper beobachtet werden, in andern nicht. Und die Verhältnisse könnten so liegen, daß man diesem verschiedenen Verhalten am einfachsten durch die Annahme der Existenz absoluter Drehungen gerecht würde, indem man sagt: in dem einen Fall dreht sich eben der Körper, in dem andern das umgebende System. Man würde dann die absolute Rotation, wie Newton das wollte, auf dynamischem Wege definiert haben. Auf kinematischem ist es natürlich nicht möglich. Machs Gedankengang war wohl explizite der: Bewegung (und Beschleunigung) ist ein rein kinematischer Begriff – dies ist ja ein identischer, tautologischer Satz –, wo also kinematisch kein Unterschied zu machen ist, da ist eben die Bewegung dieselbe; wo aber die Bewegung dieselbe ist, können auch die Wirkungen der Bewegung, die Fliehkräfte, nicht verschieden sein. Aber hier ist etwas außer acht gelassen, nämlich der Unterschied zwischen dem bloßen Begriff der Bewegung, welcher eine Abstraktion ist, und der physikalischen Tatsache der Bewegung, welche ein rea­ ler Vorgang ist. In Wirklichkeit ist Bewegung immer Ortsveränderung eines physischen Gebildes; das Dynamische ist vom Kinematischen nicht wirklich, sondern nur in der Abstraktion zu trennen. Es ist mithin ganz ungerechtfertigt, die dynamischen Erscheinungen, also die Fliehkräfte, allgemeiner die Trägheitswiderstände, als die Wirkungen oder Folgen der Bewegung aufzufassen, sondern sie gehören ebenso unmittelbar zur physischen Bewegung wie die Ortsveränderung selber. Der Begriff der reinen Kinematik oder Phoronomie (Ortsveränderung mathematischer Punkte in der Zeit) ist eine Abstraktion, über deren Bedeutung sich a priori nichts sagen läßt; nur die Erfahrung kann darüber entscheiden. Es ist merkwürdig zu beobachten, wie manchmal gerade das Bestreben, immer nur bei den sinnlichen Erfahrungen zu bleiben, zu kühnen apriorischen Aufstellungen

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führt, weil man vergißt, daß Erfahrungen nur in der Abstraktion voneinander isoliert werden können. Denken wir uns frei im Raume vor unsern Augen zwei Körper, die relativ zueinander in | ungleichförmiger, etwa ruckweiser Bewegung sich befinden, so können wir ihnen nicht ansehen, ob beide Beschleunigungen erfahren, oder nur einer von ihnen, und welcher von beiden: wohl aber könnten wir es ihnen nach Newton gleichsam anfühlen: wir könnten unsere Hand mit einem der Körper mitführen, dann würde sich jeder Ruck, jede Beschleunigung darin äußern, daß wir Trägheitswiderstände dabei zu überwinden haben; fehlen sie, so befindet sich der Körper in gleichförmiger Translation oder »Ruhe«. Die absolute Rotation eines Köpers würden wir nach der Newtonschen Anschauung gleichfalls durch den Muskelsinn feststellen können, indem wir mit seiner Hilfe finden würden, daß Zentripetalkräfte nötig sind, um dem Körper seine Gestalt zu bewahren, um seine Teile zusammenzuhalten. Es wäre vielleicht ganz im Sinne des Positivismus, die kinematische Betrachtungsweise auf die optischen, die dynamische dagegen auf die kinästhetischen Erfahrungen zurückzuführen. Dann hätte also Mach seinen Satz in der Form aussprechen können: »Wo optische Erfahrungen uns nichts lehren, dürfen auch die kinästhetischen uns nichts lehren.«22 In dieser Formulierung erkennt man leicht, daß dem Satz nicht die geringste Notwendigkeit innewohnt, sondern nur die Erfahrung kann über seine Richtigkeit entscheiden. Dennoch übt der Satz von vornherein einen gewissen Reiz aus; der Beweis seiner Richtigkeit würde uns große intellektuelle Befriedigung gewähren. Denn wenn man sagen dürfte: nicht nur die geradlinige, unbeschleunigte Bewegung ist in der Natur relativ, sondern überhaupt jede Bewegung, so würde dies zweifellos eine außerordentliche prinzipielle Vereinfachung des Weltbildes bedeuten. So hat denn Einstein versucht, eine Erweiterung der Relativitätstheorie vorzunehmen und sie auch auf beschleunigte Bewegungen auszudehnen, und deshalb sagt er selbst, seine Ansicht stütze sich »in der Hauptsache auf erkenntnistheoretische Gründe«.23

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Wir sahen oben (S.  135), daß Beschleunigungen in der Newtonschen Mechanik unmöglich als nur relativ aufgefaßt werden konnten, und zwar liegt der Grund dafür darin, daß in ihr die Trägheit der Materie und ihre Schwere (also die Gravitation) ganz unabhängig voneinander sind, gleichsam nur zufällig dieselben Massen zum Gegenstande haben. Man kann diese Voraussetzung fallen lassen, indem man mit Einstein46) folgende interessante Betrach | tung anstellt: Wenn ein in einem verhängten Eisenbahnwagen abgeschlossener Beobachter aus den Erschütterungen auf eine stoßweise Bewegung seines Wagens schließt, so ist dieser Schluß streng genommen nicht zwingend, denn die Erfahrungen des Beobachters könnten auch erklärt werden durch plötzliche Änderungen der Intensität der Schwerkraft. Die beste Verdeutlichung gibt Einstein durch die Fiktion des folgenden einfaches Falles: Ein Physiker in einem völlig abgeschlossenen Kasten, über dessen Orientierung im Weltraum er nichts weiß, beobachte, daß alle losgelassenen Gegenstände mit bestimmter Beschleunigung auf den Boden des Kastens fallen. Um dies zu erklären, kann er entweder annehmen, daß sein Kasten in einer beschleunigten Bewegung nach »oben« begriffen ist, oder daß er auf einem Himmelskörper ruht, dessen Anziehung eben jene Beschleunigung bewirkt. Beide Auffassungen sind möglich, und wir kennen schlechterdings kein Mittel, daß dem Physiker eine Entscheidung zwischen ihnen gestatten würde. Indem nun Einstein annimmt, daß es ein solches Mittel überhaupt nicht gibt (Äquivalenzprinzip), hat er die Relativierung der Beschleunigung vollzogen, denn nun ist ja eben der Newtonsche Schluß von dem Auftreten gewisser Kräfte auf das Vorhandensein absoluter Beschleunigungen nicht mehr erlaubt.24 Zugleich ist damit eine Theorie der Gravitation aufgestellt, deren Folgerungen für verschiedene Gebiete der Physik von Einstein entwickelt worden

46)  Vgl. z. B. »Zum gegenwärtigen Stande des Gravitationsproblems«,

in: Physikalische Zeitschrift 14 (1913), S.  1249.

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sind47). Nach dieser Theorie wäre nun die Lichtgeschwindigkeit keine absolute Konstante mehr, sondern in bestimmter Weise von Gravitationsgrößen abhängig; die von uns bisher besprochene Relativitätstheorie wäre dann also nicht mehr mit voller Strenge richtig, sondern nur eine Annäherung, gültig für die weiten Bereiche, in denen jene Geschwindigkeit als unveränderlich betrachtet werden kann. Leider läßt sich die ganze Theorie schwer an der Erfahrung prüfen, denn die Abweichungen, welche die Naturerscheinungen nach ihr gegenüber den sonst erwarteten zeigen müssen, sind so außerordentlich klein, daß sie sich der Beobachtung entziehen.25 Mit einer Ausnahme: die Theorie fordert, daß Lichtstrahlen durch den Einfluß großer Massen aus ihrer geradlinigen Bahn etwas abgelenkt werden – ein Resultat, dessen Richtigkeit man bei einer | totalen Sonnenfinsternis prüfen könnte durch Beobachtung von Sternen, deren Licht auf dem Wege zu uns dicht an der Sonne vorbeilaufen muß. Die Beobachtungsgenauigkeit würde für den erwarteten Effekt gerade noch ausreichen. Die Finsternis am 21. August des vergangenen Jahres hätte vielleicht eine Entscheidung bringen können, aber die zu ihrer Beobachtung ausgerüsteten Expeditionen konnten meines Wissens ihre Aufgabe wegen des Krieges nicht erfüllen48).26 Aber nehmen wir einmal an, die Wissenschaft hätte Einsteins erweiterte Theorie in vollem Maße bestätigt – würde das einen großen Triumph der Machschen Philosophie bedeuten, weil dieser die Relativität aller Bewegungen als notwendig behauptet hat? Müßten wir, wie Petzoldt das tut49), überhaupt Mach als

47)  In elementarer Darstellung findet man einiges davon in den zitier-

ten drei Vorlesungen von Lorentz. 48)  Gehrcke behauptet im letzten Satz seines Kantstudien-Artikels (S.  487) schlechtweg: »Der Erfahrung widerspricht die neue Theorie.« Sollte er Gelegenheit gehabt haben, die erwähnte astronomische Beobachtung anzustellen? 49)  a. a. O. S.  3–8.

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den eigent­lichen Begründer der Relativitätstheorie preisen? Ich glaube wir dürfen das aus mehreren Gründen nicht.27 Den ersten Grund, der für sich schon völlig entscheidend ist, haben wir soeben bereits dargelegt, indem wir zeigten, daß die Argumente gar nicht haltbar sind, die Mach zu seinem Satze führten. Erweist er sich dennoch als richtig, so liegt darin mehr eine zufällige Übereinstimmung als eine echte Verifikation. Bei Mach erscheint der Satz denknotwendig, bei Einstein wird er als eine Voraussetzung der Theorie zugrunde gelegt und schließlich doch der Erfahrung die Entscheidung darüber gelassen, wie weit er als gültig betrachtet werden darf. Dies führt uns sogleich auf den zweiten Grund, der ebenfalls für sich allein schon entscheidend ist: es hat sich nämlich herausgestellt, daß auch Einsteins erweiterte Theorie den Gedanken der schrankenlosen Relativität der Beschleunigungen nicht durchzuführen vermag; nicht jedes beliebige Bezugssystem ist nach ihr gleichberechtigt, wie das Machsche Prinzip es unbedingt fordern muß, es zeigt sich vielmehr bald, daß unter den möglichen zueinander beschleunigten Bezugssystemen eine engere Auswahl zu treffen ist, um z. B. nicht gegen den Satz der Erhaltung der Energie zu verstoßen, den die moderne Physik auf keinen Fall aufgeben möchte.28 Ja, später hat Einstein bewiesen50),29 daß es eine | Lösung des Problems für ganz beliebig bewegte Koordinatensysteme überhaupt nicht geben kann.30 Damit wird es völlig unmöglich, in der Einsteinschen Theorie, wenn die Erfahrung sie bestätigen sollte, eine Verifikation des Machschen Postulats zu erblicken, denn dieses verlangt eben die Gleichberechtigung schlechthin aller Bezugssysteme, und seine Unhaltbarkeit ist dargetan, wenn auch nur die geringste Einschränkung dabei gemacht werden muß. Allerdings würde damit auch der erkenntnistheoretische Grund überhaupt fortfallen, der Einstein zur Erweiterung seiner Theorie veranlaßte. 50)  »Prinzipielles zur verallgemeinerten Relativitätstheorie und Gra-

vitationstheorie«, in: Physikalische Zeitschrift 15 (1914), S.  178.

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Drittens endlich muß gesagt werden, daß Mach nur einen zwar kühnen, aber doch sehr naheliegenden51) und, wie wir zeigten, nicht einwandfrei begründeten Gedanken ausgesprochen hat; aber erst Einstein hat aus diesem Gedanken herausgeholt, was daran zu verwerten war und darauf eine Theorie aufgebaut, die physikalisch in Betracht kommt und gerade durch die Originalität ihrer einzelnen Gedanken überrascht. Zusammenfassend müssen wir also über die Stellung des Positivismus zur Relativitätstheorie folgendes sagen: Die allgemeinen Gedanken der positivistischen Erkenntnistheorie geben zweifellos einen günstigen Boden ab für das Relativitätsprinzip und die Konsequenzen für Raum und Zeit, die sich aus ihm ableiten. Sie nimmt die neuen Anschauungen ohne jede Schwierigkeit in sich auf. Nicht richtig aber ist, daß der Positivismus diese Anschauungen aus sich heraus als die einzig richtigen entwickelt und vorhergesagt habe – andere würden ebenso gut hineinpassen. Wo vielmehr speziellere Relativitätsbehauptungen aufgestellt wurden, wie Mach es z. B. tat, da sind sie durch den Fortschritt der physikalischen Wissenschaft eher widerlegt als bestätigt worden. Es muß auch bemerkt werden, daß die direkten Ausführungen Machs oder anderer Positivisten über den Zeitbegriff gerade die bedeutsamsten Schritte Einsteins in keiner Weise vorweggenommen haben; an die Relativierung der Gleichzeitigkeit z. B. hat niemand gedacht. |

51)  Um zu zeigen, wie naheliegend der Gedanke ist, darf ich vielleicht

erwähnen, daß ich ihn bereits als Primaner faßte und in Gesprächen hartnäckig die daraus fließende Behauptung verteidigte, als Ursache der Trägheit müsse eine Wechselwirkung der Massen angenommen werden, und ich war dann erfreut, aber gar nicht überrascht, dem Gedanken bald darauf wieder zu begegnen, als ich Machs Mechanik kennen lernte.

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VIII. Es gibt noch eine Konsequenz des Relativitätsprinzips von hoher philosophischer Bedeutung. Die betrifft den Substanz­begriff. Mit dem Relativitätsprinzip ist nämlich, wie wir schon bemerkten, die Annahme der Existenz eines Lichtäthers unvereinbar, solange man mit dem Worte überhaupt einen physikalischen Sinn verbindet. Die Ätherhypothese wurde einst aufgestellt, damit man einen Träger der Licht- (und der übrigen elektromagnetischen) Erscheinungen habe. Er war das Medium, in welchem sich das Licht mit der Geschwindigkeit c = 300.000  km / sec. fortpflanzte. Nach den Voraussetzungen der Relativitätstheorie müßte dieser Äther in jedem berechtigten System ruhen – das ist natürlich ein Widerspruch. Denn ein in einem System K ruhender Körper ist in Bewegung in bezug auf alle Systeme, die sich gegen K bewegen, und kann in ihnen nicht auch noch ruhen. Solange kein Bezugssystem vorgeschrieben ist, kann einem physikalischen Körper jede beliebige Bewegung zugeschrieben werden, sobald aber ein solches einmal gegeben ist, hat er relativ zu diesem eine ganz bestimmte Geschwindigkeit, und nur eine: es kann keinen Äther geben, weil er in einem und demselben System beliebig viele Geschwindigkeiten zugleich haben müßte. Dieser Schluß Einsteins ist völlig zwingend. Und wenn es dennoch eine Reihe von Physikern gibt, die den Äther nicht entbehren mögen, obwohl sie an die Relativitätstheorie glauben, so ist es in Wirklichkeit gar nicht der Begriff, an dem sie festhalten, sondern das bloße Wort, welches dann jede physikalische Bedeutung verloren hat. Man kann ja natürlich ein beliebiges berechtigtes Bezugssystem herausgreifen und festsetzen: in diesem soll der Äther ruhen – aber das wäre absolute Willkür; nach der Relativitätstheorie kann es niemals physikalische Gründe für eine solche Festsetzung geben. Es hat aber keinen Sinn, die Existenz eines physikalischen Körpers anzunehmen, über den man prinzipiell auf physikalischem Wege nichts aussagen kann. Den Zweck, zu welchem die Hypothese des Äthers überhaupt aufge-

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stellt wurde, vermag er dann doch nicht mehr zu erfüllen: er ist nicht mehr »Träger« der elektrischen Erscheinungen, diese verlaufen ja gerade unabhängig von seinem Bewegungszustand, er trägt sie nicht mit sich fort in seiner Bewegung. | Fragt man nun: wie ist die Fortpflanzung der Lichtwellen möglich, wenn es keinen Äther gibt? so lautet die Antwort natürlich: sie bedürfen keines Trägers. Die Größen, die man früher als Bestimmungsstücke des Ätherzustandes auffaßte, die elektrische und die magnetische Feldstärke, brauchen gar nicht »Eigenschaften« eines Mediums, einer beharrenden Substanz zu sein, sondern sie haben »selbständige« Existenz, obwohl sie in unauf­ hörlichem Wechsel, in stetem Entstehen und Vergehen begriffen sind. Manche Forscher betrachten, um wenigstens in der Redeweise an die Substanzvorstellung anzuknüpfen, jene Zustandsgrößen als Eigenschaften oder Bestimmungsstücke der Energie. Planck redet z. B. von der Lichtgeschwindigkeit als einer Eigenschaft der elektromagnetischen Energie52). Das ist natürlich zulässig, solange man nicht die Energie wiederum substantiell auffaßt als Träger der Eigenschaften, als etwas von ihnen Verschiedenes, ihnen zugrunde Liegendes. G. Helm meinte53) vom Energiebegriff, »daß er die Gefahr einer neuen Substanziierung ausschließt«. Wenn das auch nicht ganz zutreffend ist, wie das Beispiel Ostwalds lehrt, so verführt doch in der Tat die Art, wie das Prinzip der Erhaltung der Energie in der mathematischen Physik immer zum Ausdruck kommt, kaum dazu, sie als eine metaphysische Substanz zu denken, sondern bringt auf den richtigen Weg, sie als den bloßen Ausdruck einer Gesetzmäßigkeit alles Geschehens zu fassen, das sich nämlich immer so abspielt, daß be52)  M. Planck, Acht Vorlesungen über Theoretische Physik, Gehalten

an der Columbia University in the City of New York im Frühjahr 1909, Leipzig: Hirzel 1910, S.  117. 53)  Die Lehre von der Energie historisch kritisch entwickelt. Nebst Beiträgen zu einer allgemeinen Energetik, Leipzig: Arthur Felix 1887.

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stimmte Beziehungen zwischen den Größen unverändert dieselben bleiben.31 Diese Revision des Substanzbegriffes nun, nach welcher die Annahme von Substanzen als hinter den Dingen verborgenen Trägern ihrer Eigenschaften verworfen wird, ist ein Gedanke, der in der Philosophie längst aufgetaucht war und dort schon eine lange Entwicklung durchgemacht hatte54), durch den sie also der Wissenschaft tatsächlich vorausgeeilt war. Wir finden ihn bei Hume als einen seiner wichtigsten Gedanken, ebenso, doch in mehr metaphysischer Gestalt, schon bei Berkeley; bei beiden allerdings kamen als »Eigenschaften« nur die sinnlichen Qualitäten in Betracht. Dasselbe gilt von dem Wiederaufleben des Gedankens | im modernen Positivismus. In viel reinerer Form erscheint er bei Kant. In seinem System ist dem Substanzbegriff alle metaphysische Bedeutung genommen und er wird zu einem Ausdruck der Gesetzlichkeit der synthetischen Einheit der Apperzeption. Ob ihm damit nicht als Ersatz für die verlorene metaphysische Bedeutung eine zu hohe erkenntnistheoretische von Kant vindiziert wird, braucht hier nicht untersucht zu werden. Uns genügt es zu sehen, daß diese wichtige Wahrheit hier längst ganz unzweideutig und klar formuliert war, und wir erleben nun, daß die Entwicklung der Forschung den Physiker durch das Relativitätsprinzip zwingt, diese Wahrheit anzunehmen, indem sie ihn einen Fall kennen lehrt, in welchem es aus physikalischen Gründen überhaupt unmöglich ist, eine beharrende Substanz, nämlich den »Äther«, als Tragendes und Zusammenhaltendes hinter den »Eigenschaften« vorauszusetzen. Gewiß war die Einsicht in die wahre Bedeutung des Substanzbegriffs auch schon vorher von der Erkenntnistheorie aus in die Naturwissenschaft eingedrungen, aber sie konnte sich kaum die gebührende Geltung verschaffen. Die substantiellen Stoffe waren 54)  Vgl. die letzte der Studien zur Philosophie der exakten Wissen-

schaften von Bruno Bauch, Heidelberg: Carl Winter’ Universitätsbuchhandlung 1911.

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nun einmal das Reich der Physiker, und der von ihnen der Relativitätstheorie hier und da noch entgegengesetzte Widerstand hat, wie wir oben sahen (S.  145  ff.), seinen Grund nicht zum wenigsten in der Macht der Substanzvorstellung. Ihr zuliebe halten manche Forscher noch mit Zähigkeit am Äther fest, obgleich ihnen die physikalische Bedeutung des Wortes dabei unter den Händen zerrinnt. Das ist um so merkwürdiger, als in einer andern Wissenschaft, der Psychologie, die Substanzvorstellung seit langem alle ihre Kraft eingebüßt hat: kaum je wird wohl die Seele noch als substantieller Träger der Bewußtseinsinhalte angesehen, sondern allgemein als die Einheit jener Inhalte aufgefaßt; diese aber gelten durchaus als selbständige, wenn auch mannigfach untereinander verknüpfte Realitäten. Doch jetzt wird der vom philosophischen Denken lange errungenen Erkenntnis durch die Kraft der experimentellen Erfahrung das Tor in die Naturwissenschaft weit geöffnet. Dort kann sie nun frei herrschen und manches Vorurteil besiegen, das den Gang der Forschung sonst wohl auf falsche Bahnen leitete, z. B. die Bahn des populären Materialismus, oder das hartnäckige Suchen nach einer rein mechanischen Erklärung der Natur, oder die | metaphysische Wendung der Energielehre. Hat der Berkeley-­Hume-Kantsche Gedanke aber einmal den Sieg erfochten, so wird er auch aus der exakten Naturwissenschaft nie wieder verschwinden können, selbst dann nicht, wenn etwa das Relativitätsprinzip, welches ihn in der Experimentalforschung zur Geltung brachte, durch künftige Erfahrungen einmal widerlegt werden sollte. Denn er bedarf keines Helfers, um sich durchzusetzen, sondern trägt seine überzeugende Kraft in sich selbst. Nachdem einmal erkannt ist, daß der Substanzbegriff nur eine besondere Form des Gesetzesbegriffs darstellt und sich auf diesen zurückführen läßt, kann diese große Wahrheit der Wissenschaft nicht wieder verloren gehen.

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1.2  Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Zur Einführung in das Verständnis der allgemeinen Relativitätstheorie I.  Von Newton zu Einstein In unsern Tagen ist die physikalische Erkenntnis zu einer solchen Allgemeinheit ihrer letzten Prinzipien und zu einer solchen wahrhaft philosophischen Höhe ihres Standpunktes hinaufgestiegen, daß sie an Kühnheit alle bisherigen Leistungen wissenschaftlichen Denkens weit hinter sich läßt. Die Physik hat Gipfel erreicht, zu denen sonst nur der Erkenntnistheoretiker emporschaute, ohne sie jedoch immer ganz frei von metaphysischer Bewölkung zu erblicken. Der Führer, der einen gangbaren Weg zu diesen Gipfeln zeigte, ist Albert Einstein. Er reinigte durch eine erstaunlich scharfsinnige Analyse die fundamentalsten Begriffe der Naturwissenschaft von Vorurteilen, die durch all die Jahrhunderte unbemerkt geblieben waren, begründete so ganz neue Anschauungen und schuf auf ihrem Boden eine physikalische Theorie, die der Prüfung durch die Beobachtung zugänglich ist. Die Verbindung der erkenntniskritischen Klärung der Begriffe mit der physikalischen Anwendung, durch die er seine Ideen sofort in empirisch prüfbarer Weise nutzbar machte, ist wohl das Bedeutsamste an seiner Leistung, und bliebe es selbst dann, wenn das Problem, das Einstein mit diesen Waffen angreifen konnte, auch nicht gerade das Gravitationsproblem gewesen wäre, jenes hartnäckige Rätsel der Physik, dessen Lösung uns notwendig tiefe Einblicke in den Zusammenhang des Universums gewähren mußte. Die fundamentalsten Begriffe der Naturwissenschaften aber sind Raum und Zeit. Die beispiellosen Erfolge der Forschung, durch die unsere Naturerkenntnis in den vergangenen Jahrzehnten bereichert wurde, ließen bis zum Jahre 1905 diese Grund­ begriffe vollkommen unangetastet. Die Bemühungen der Physik

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richteten sich immer nur auf das Substrat, welches Raum und Zeit »erfüllt«: was sie uns immer genauer kennen lehrten, war die Konstitution der Materie und die Gesetzmäßigkeit der Vorgänge im Vakuum, oder, wie man bis vor kurzem sagte, im »Äther«.32 Raum und Zeit wurden gleichsam als Gefäße betrachtet, die jenes Substrat in sich enthielten und die festen Bezugssysteme abgaben, mit deren Hilfe die gegenseitigen Verhältnisse der Körper und Vorgänge zueinander bestimmt werden mußten; kurz, sie spielten tatsächlich die Rolle, die Newton in seinen bekannten Worten für sie festlegte: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand«, »Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand stets gleich und unbeweglich.«33 Von der Seite der Erkenntnistheorie wandte man schon früh gegen Newton ein, daß es keinen Sinn habe, von Zeit und Raum »ohne Beziehung auf einen Gegenstand« zu reden34; aber die Physik hatte vorerst keine Veranlassung, sich um diese Fragen zu kümmern, sie suchte eben in der gewohnten Weise alle Beobachtungen dadurch zu erklären, daß sie ihre Vorstellungen von der Konstitution und den Gesetzmäßigkeiten der Materie und des »Äthers« immer weiter verfeinerte und modifizierte. Ein Beispiel für dies Verfahren ist die von H. A. Lorentz und Fitzgerald zur Erklärung des bekannten Michelsonschen Versuches aufgestellte Hypothese, daß alle Körper, die sich gegen den Äther bewegen, in der Bewegungsrichtung eine bestimmte, von der Geschwindigkeit abhängige Verkürzung (»Lorentz-Kontraktion«) erfahren sollten. Ich führe dies Beispiel natürlich deshalb an, weil es, wie man weiß, den ersten Anstoß zur Aufstellung der Relativitäts­ theorie gegeben hat.35 Einstein erkannte nämlich, daß es einen prinzipiell viel einfacheren Weg gibt, den Michelsonversuch zu erklären: es bedarf dazu überhaupt keiner besonderen physikalischen Hypothese, sondern nur einer kritischen Besinnung über die Voraussetzungen, die unsern Raum- und Zeitmessungen bisher stillschweigend zugrundegelegt wurden. Es finden sich dar-

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unter unnötige, ungerechtfertigte (z. B. die, daß dem Begriff der »Gleichzeitigkeit« eine absolute Bedeutung zukomme, während es ganz wohl sein kann, daß zwei Ereignisse, die für einen Beobachter zu gleicher Zeit stattfinden, von einem andern zum ersten bewegten Beobachter mit demselben Rechte als nacheinander folgend beurteilt werden); läßt man sie fallen und hält den auch sonst in der Erfahrung wohlbestätigten Satz aufrecht, daß die Lichtausbreitung stets nach allen Seiten mit gleicher Geschwindigkeit erfolgt, so erhält man das Ergebnis des Michelsonschen Versuchs als etwas Selbstverständliches. Von einer Bewegung relativ zum »Äther« kann man nicht mehr sprechen (sie spielte vorher physikalisch die Rolle einer »absoluten« Bewegung), der Äther als eine Substanz, der man Ruhe oder Bewegung zuschreiben könnte, ist aus der Physik verbannt, und es gilt | das »spezielle Relativitätsprinzip«. Es besagt, daß alle Naturgesetze, in bezug auf ein bestimmtes Koordinatensystem formuliert, in vollständig derselben Form gültig bleiben, wenn man sie auf ein anderes Koordinatensystem bezieht, das sich in bezug auf das erste geradlinig-gleichförmig bewegt. Dieses Prinzip ist so oft besprochen worden – auch in trefflichen populären Darstellungen –, daß wir hier wohl nicht dabei zu verweilen und auf seine Konsequenzen einzugehen brauchen.36 Zu ihnen gehört bekanntlich die Relativität der Längen und Zeiten; d. h. für die Dauer eines Vorganges und für die Länge eines Körpers ergeben sich verschiedene Werte, je nachdem, von welchem Bezugssystem aus die Messung vorgenommen wird. Da nun alle gleichförmig zueinander bewegten Systeme völlig gleichberechtigt sind – jedes kann mit gleichem Rechte als ruhend betrachtet werden –, so ist von jenen Werten keiner vor den andern als der allein wahre ausgezeichnet. Wir bezeichnen dieses Relativitätsprinzip und den Komplex der aus ihm gezogenen Folgerungen als die »spezielle Relativitätstheorie«, weil sie sich allein auf geradlinig-gleichförmige, nicht etwa auf beliebige Bewegungen bezieht. Hiermit ist man über den Newtonschen Raum- und Zeitbegriff noch nicht allzu weit hinausgekommen, denn das spezielle Rela-

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tivitätsprinzip hatte auch schon in der Newtonschen Mechanik volle Gültigkeit, und beschleunigte Bewegungen hatten auch in der neuen Theorie keineswegs relativen Charakter; ihnen gegenüber behielt also der Raum nach wie vor seine absoluten Eigenschaften. Aber seit dem Jahre 1905, in dem Einstein das spezielle Prinzip für die gesamte Physik aufstellte, ist er unablässig bemüht gewesen, es zu verallgemeinern, so daß es nicht nur für gerad­ linig-gleichförmige, sondern für ganz beliebige Bewegungen gültig bleibt. Diese Bemühungen sind im Jahre 1915 zu einem glücklichen Abschluß gebracht und von vollständigem Erfolg gekrönt worden.37 Sie führten zu einer neuen Theorie der Gravitations­ erschei­nungen und zu einer denkbar weitestgehenden, nicht mehr überbietbaren Relativierung aller Raum- und Zeitbestimmungen; beide Begriffe spielen in der modernen Einsteinschen Physik eine von Grund aus andere Rolle als in der Newtonschen.38 Das sind Ergebnisse von so ungeheurer prinzipieller Bedeutung, daß kein irgendwie naturwissenschaftlich oder erkenntnistheoretisch Interessierter an ihnen vorbeigehen kann. Man muß sich weit in der Geschichte der Wissenschaften umsehen, um theoretische Errungenschaften von vergleichbarer Wichtigkeit zu finden. Man könnte etwa an die Leistung des Kopernikus denken; und wenn auch Einsteins Resultate wohl nicht eine so große Wirkung auf die Weltanschauung der Allgemeinheit haben können wie die kopernikanische Umwälzung, so ist dafür ihre Bedeutung für das rein theoretische Weltbild um so höher, denn die letzten Grundlagen unserer Naturerkenntnis erfahren durch Einstein eine viel tiefer gehende Umgestaltung als durch Kopernikus. Es ist daher begreiflich und erfreulich, daß auf allen Seiten das Bedürfnis besteht, in die neue Gedankenwelt einzudringen. Viele aber werden durch die äußere Form der Theorie davon abgeschreckt, weil sie sich die höchst komplizierten mathematischen Hilfsmittel, die zum Verständnis der Einsteinschen Arbeiten nötig sind, nicht erwerben mögen. Der Wunsch, auch ohne jene

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Hilfsmittel in die neuen Anschauungen eingeweiht zu werden, muß aber erfüllt werden, wenn die Theorie den ihr gebührenden Anteil bei der Ausgestaltung des modernen Weltbildes gewinnen soll. Und er ist wohl auch erfüllbar, denn die Grundgedanken der neuen Lehre sind ebenso einfach wie tief. Die Begriffe von Raum und Zeit sind ursprünglich nicht erst durch komplizierte wissenschaftliche Denktätigkeit erzeugt, sondern schon im täglichen Leben müssen wir unaufhörlich mit ihnen arbeiten. Von den vertrautesten, geläufigsten Anschauungen ausgehend kann man Schritt für Schritt alle willkürlichen und ungerechtfertigten Voraussetzungen aus ihnen entfernen und behält dann Raum und Zeit ganz rein in der Gestalt, mit der sie in der Einsteinschen Physik allein noch fungieren. Auf diesem Wege soll nun hier versucht werden, die Grundideen besonders der neuen Raumlehre herauszuarbeiten.39 Man gelangt ganz von selbst zu ihnen, indem man die altgewohnte Raumvorstellung von allen Unklarheiten und unnötigen Denkzutaten befreit. Wir verfolgen hier also nicht sowohl den Zweck, einen orientierenden Überblick über die allgemeine Relativitätstheorie im Ganzen zu gewinnen – einen solchen hat Erwin Freundlich in dieser Zeitschrift bereits trefflich gegeben40 –, sondern wir wollen uns einen Zugang zu ihr bahnen, indem wir in kritischer Besinnung die Ideen über Raum und Zeit zur Klarheit zu bringen suchen, die das Fundament der neuen Lehre bilden und ihr Verständnis mit sich führen. II.  Die geometrische Relativität des Raumes Die fundamentalste Frage, die man über Zeit und Raum stellen kann, lautet, zunächst in ganz populärer, vorläufiger Formulierung: Sind Raum und Zeit eigentlich etwas Wirkliches? Bereits im Altertum herrschte unter den Philosophen ein unfruchtbarer Streit darüber, ob der leere Raum, das κενόν etwas Wirkliches oder einfach mit dem Nichts identisch sei. Aber auch heutzutage wird nicht jeder, mag er Naturforscher, Philosoph

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oder Laie sein, ohne weiteres eine bejahende oder verneinende Antwort auf jene Hauptfrage erteilen wollen. Niemand zwar betrachtet wohl Raum und Zeit als etwas Reales in ganz demselben Sinne wie etwa den Stuhl, auf dem ich sitze, oder die Luft, die ich atme; ich kann mit dem Raume nicht verfahren wie mit | körperlichen Gegenständen oder mit der Energie, die ich von einem Platz zum andern transportieren, handgreiflich verwenden, kaufen und verkaufen kann. Jeder fühlt, daß da irgendein Unterschied besteht: Raum und Zeit sind in irgendeinem Sinne weniger selbständig als die in ihnen existierenden Dinge, und Philosophen haben diese Unselbständigkeit oft hervorgehoben, indem sie sagten, beides existiere nicht für sich, man könnte vom Raum nicht reden, wenn keine Körper da wären, und der Begriff der Zeit würde gleichermaßen sinnlos, wenn keine Vorgänge, keine Veränderungen in der Welt existierten.41 Aber doch sind Raum und Zeit auch für das populäre Bewußtsein keineswegs einfach nichts; gibt es doch große Zweige der Technik, die allein ihrer Überwindung dienen sollen. Natürlich hängt die Entscheidung der Frage davon ab, was man unter »Wirklichkeit« verstehen will. Mag nun auch dieser Begriff so im allgemeinen sehr schwer oder garnicht zu definieren sein, so ist doch der Physiker in der glücklichen Lage, daß er sich darüber mit einer Bestimmung begnügen kann, die ihm die Abgrenzung seines Reiches mit voller Sicherheit gestattet. »Was man messen kann, das existiert auch.«42 Diesen Satz Plancks darf der Physiker als allgemeines Kriterium benutzen und sagen: nur was meßbar ist, besitzt sicher Realität oder, um es vorsichtiger zu formulieren: physikalische Gegenständlichkeit. Sind nun Raum und Zeit meßbar? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen. Was wäre überhaupt meßbar, wenn nicht Raum und Zeit? Wozu sonst dienen denn unsere Maßstäbe und Uhren? Gibt es nicht sogar eine besondere Wissenschaft, die es mit gar nichts anderem zu tun hat als mit der Raummessung ohne Rücksicht auf irgendwelche Körper, nämlich die metrische Geometrie? Aber gemach! Der Kundige weiß, daß Streit herrscht über

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die Natur der geometrischen Objekte43 – und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, haben wir doch neuerdings gelernt, gerade in den Grundbegriffen der Wissenschaften nach verborgenen, ungeprüften Voraussetzungen zu fahnden, und so werden wir nachforschen müssen, ob nicht auch die gewohnte Auffassung der Geometrie als Lehre von den Eigenschaften des Raumes durch gewisse unrechtmäßige Vorstellungen beeinflußt ist, von denen sie gereinigt werden muß. In der Tat hat schon seit längerer Zeit die erkenntnistheoretische Kritik die Notwendigkeit einer solchen Reinigung behauptet und an ihr gearbeitet. Dabei hat sie bereits Gedanken über die Relativität aller räumlichen Verhältnisse entwickelt, als deren konsequente Ausgestaltung und Anwendung wir die Raum-Zeit-Auffassung der Einsteinschen Theorie ansehen können. Von jenen Gedanken führt zu ihr ein kontinuierlicher Weg, auf dem der Sinn der Frage nach der »Wirklichkeit« des Raumes und der Zeit immer deutlicher wird, und den wir hier als Zugang zu den neuen Ideen benutzen wollen. Wir beginnen mit einer einfachen Überlegung, die wohl fast jeder, der über solche Dinge nachdenkt, schon als Gedanken­expe­ riment angestellt hat, die wir aber besonders schön bei H. Poincaré beschrieben finden. Denken wir uns, sämtliche Körper der Welt wüchsen über Nacht ins Riesenhafte, ihre Dimensionen vergrößerten sich um das Hundertfache ihres ursprünglichen Betrages: mein Zimmer, heute noch 6 Meter lang, hätte morgen früh eine Länge von 600 Metern, ich selbst wäre ein Goliath von 180 Metern und würde mit einem fünfzehn Meter langen Federhalter meterhohe Buchstaben aufs Papier werfen, und in analoger Weise sollen sich alle Größen des Universums geändert haben, so daß die neue Welt, wenn auch hundertfach vergrößert, doch der alten geometrisch ähnlich ist. – Wie würde mir, fragt Poincaré, nach einer so erstaunlichen Änderung am Morgen zumute sein? und er antwortet: ich würde davon nicht das geringste merken. Denn da nach der Voraussetzung alle Gegenstände an der hundertfachen Ausdehnung teilgenommen haben, mein eigener Körper, alle Maßstäbe und Instrumente, so würde jedes Mittel feh-

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len, die gedachte Veränderung festzustellen; ich würde also die Länge meines Zimmers nach wie vor als 6 m bezeichnen, denn mein Meterstab würde sich in ihm sechsmal abtragen lassen, usw. Ja – und dies ist das Wichtigste –, jene ganze Umwälzung existiert überhaupt nur für die, welche fälschlich so argumentieren, als wenn der Raum absolut wäre. »In Wahrheit müßte man sagen, daß, da der Raum relativ ist, überhaupt gar keine Änderung stattgefunden hat, und daß wir eben deshalb auch nichts bemerken konnten.«44 Also: das hundertfach vergrößert gedachte Universum ist von dem ursprünglichen nicht bloß ununterscheidbar, sondern es ist einfach dasselbe Universum, es hat keinen Sinn, von einem Unterschiede zu reden, weil die absolute Größe eines Körpers nichts »Wirkliches« ist. Diese Erörterungen Poincarés bedürfen freilich, um zwingend zu sein, noch einer Ergänzung. Die Fiktion einer durchgehenden Größenänderung der Welt oder eines Teiles derselben entbehrt nämlich von vornherein jedes angebbaren Sinnes, solange nicht zugleich etwas darüber vorausgesetzt ist, wie sich denn die physikalischen Konstanten bei dieser Deformation verhalten sollen. Denn die Naturkörper haben ja nicht bloß eine geometrische Gestalt, sondern auch vor allem physische Eigenschaften, z. B. Masse. Setzten wir etwa nach einer hundertfachen Linearvergrößerung der Welt für die Masse der Erde und der Gegenstände auf ihr dieselben Zahlen wie vorher in die Newtonsche Attraktionsformel ein, so würden wir für das Gewicht eines Körpers auf der Erdoberfläche nur den 10.000sten Teil seines früheren Wertes erhalten, denn es ist ja umgekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung vom Erdmittel | punkte. Ließe sich nun diese Gewichtsänderung, und damit indirekt die absolute Größenzunahme, nicht feststellen? Man könnte meinen, das sei durch Pendelbeobachtungen möglich, denn ein Pendel würde wegen der Gewichtsabnahme und wegen der Vergrößerung seiner Länge gerade 1000mal langsamer schwingen als vorher. Aber wäre diese Verlangsamung feststellbar, hat sie physikalische Realität? Wiederum ist die Frage unbeantwortbar, solange nicht ge-

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sagt ist, wie es sich mit der Rotationsgeschwindigkeit der Erde nach der Deformation verhalten soll, denn durch Vergleich mit der letzteren entsteht ja erst das Zeitmaß. Zwecklos wäre auch der Versuch, die Gewichtsverminderung etwa mit Hilfe einer Federwaage beobachten zu wollen, denn es bedürfte dazu wieder besonderer Voraussetzungen über das Verhalten des Elastizitätskoeffizienten der Feder bei der gedachten Vergrößerung. Die Fiktion einer bloß geometrischen Deformation aller Körper ist mithin völlig nichtssagend, sie hat keine bestimmte physikalische Bedeutung. Beobachteten wir also eines schönen Morgens eine Verlangsamung des Ganges aller unserer Pendeluhren, so könnten wir daraus nicht etwa auf eine nächtliche Vergrößerung des Universums schließen, sondern die merkwürdige Erscheinung wäre stets auch durch andere physikalische Hypothesen erklärbar. Umgekehrt: wenn ich behaupte, daß alle linearen Abmessungen sich seit gestern um das Hundertfache verlängert hätten, so kann mir keine Erfahrung das Gegenteil beweisen; ich brauche nur gleichzeitig etwa zu behaupten, daß auch alle Massen den hundertfachen Wert angenommen, das Tempo der Erddrehung und der andern Vorgänge dagegen sich hundertfach verlangsamt habe. Man sieht nämlich leicht aus den elementaren Formeln der Newtonschen Mechanik, daß sich unter diesen Voraussetzungen für alle beobachtbaren Größen (wenigstens soweit Trägheitsund Gravitationswirkungen in Betracht kommen) genau die gleichen Zahlen ergeben wie vorher. Die Änderung hat also keinen physikalischen Sinn. Durch dergleichen beliebig zu vervielfältigende Überlegungen, die noch ganz auf dem Boden der Newtonschen Mechanik bleiben, wird bereits klar, daß raumzeitliche Bestimmungen in der Wirklichkeit mit anderen physischen Größen untrennbar verbunden sind, und wenn man die einen unter Abstraktion von den übrigen für sich betrachtet, so muß man sorgfältig an der Erfahrung prüfen, inwieweit der Abstraktion ein realer Sinn zukommt. Vervollständigt durch diese Erörterungen, lehren uns nun die Betrachtungen Poincarés einwandfrei, daß wir uns die Welt

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durch gewisse gewaltige geometrisch-physikalische Änderungen in eine neue übergeführt denken können, die von der ersten schlechthin ununterscheidbar und mithin physikalisch völlig mit ihr identisch ist, so daß jene Änderung in der Wirklichkeit gar keinen realen Vorgang bedeuten würde. Wir hatten die Betrachtung zunächst durchgeführt für den Fall, daß die gedachte transformierte Welt der ursprünglichen geometrisch ähnlich ist; an den dargelegten Schlüssen ändert sich aber nicht das geringste, wenn wir diese Voraussetzung fallen lassen. Nehmen wir z. B. an, daß die Abmessungen aller Objekte sich nur nach einer Richtung hin beliebig verlängerten oder verkürzten, etwa in der Richtung der Erdachse, so würden wir von dieser Transformation wiederum nichts bemerken, obgleich die Gestalt der Körper sich gänzlich verändert hätte, denn aus Kugeln wären Rotationsellipsoide, aus Würfeln Parallelepipede geworden, und zwar vielleicht sogar sehr langgestreckte. Aber wollten wir mit Hilfe eines Maßstabes die Änderung der Längendimension gegenüber der Querdimension konstatieren, so wäre dies Bemühen vergeblich, weil ja der Maßstab, sobald wir ihn zum Zwecke der Messung in die Richtung der Erdachse drehen, sich nach unserer Voraussetzung selber in entsprechendem Maße verlängert oder verkürzt. Wir könnten auch die Deformation nicht sehend oder tastend direkt wahrnehmen, denn unser eigener Körper hat sich im gleichen Sinne deformiert, mitsamt unserem Augapfel, ebenso die Wellenflächen des Lichts: wiederum ist zu schließen, daß zwischen beiden Welten ein »wirklicher« Unterschied nicht besteht, die gedachte Deformation ist durch keine Messung feststellbar, sie hat keine physikalische Gegenständlichkeit. Man sieht leicht, daß die vorgetragenen Überlegungen noch einer Verallgemeinerung fähig sind: wir können uns mit Poincaré die Gegenstände des Universums nach beliebigen Richtungen beliebig verzerrt vorstellen, und die Verzerrung braucht nicht für alle Körper die gleiche zu sein, sondern kann von Ort zu Ort wechseln – sobald wir voraussetzen, daß alle Meßinstrumente, wozu auch unser Leib mit seinen Sinnesorganen gehört, an je-

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dem Orte die dort vorhandene Deformation mitmachen, wird die ganze Änderung schlechthin ungreifbar, sie existiert für den Physiker nicht »wirklich«. III.  Die mathematische Formulierung der räumlichen Relativität In mathematischer Sprechweise können wir dies Resultat ausdrücken, indem wir sagen: zwei Welten, die durch eine völlig beliebige (aber stetige und eindeutige) Punkttransformation ineinander übergeführt werden können, sind hinsichtlich ihrer physikalischen Gegenständlichkeit miteinander identisch. Das heißt: wenn das Universum sich irgendwie deformierte, so daß die Punkte aller physischen Körper dadurch an neue Orte gerückt werden, so ist damit (unter Berücksichtigung der obigen ergänzenden Erwägungen) überhaupt gar keine meßbare, keine »wirkliche« Änderung eingetreten, wenn die Koordinaten eines physischen Punktes am neuen Orte auch ganz beliebige Funktionen | der Koordinaten seines alten Ortes sind; nur wird natürlich vorauszusetzen sein, daß die Körperpunkte ihren Zusammenhang bewahren, daß also solche, die vor der Deformation benachbart waren, es auch nachher bleiben (d. h. jene Funktionen müssen stetig sein), und ferner darf jedem Punkt der ursprünglichen Welt nur ein Punkt der neuen entsprechen, und umgekehrt (d. h. die Funktionen müssen eineindeutig sein). Man kann sich die geschilderten Verhältnisse anschaulich klar machen, wenn man sich den Raum durch ein System dreier Scharen von Ebenen, die zu den Koordinatenebenen parallel sind, in lauter Würfel geteilt denkt. Diejenigen Punkte der Welt, die auf einer solchen Ebene liegen (z. B. der Decke des Zimmers), werden nach der Deformation eine mehr oder weniger verbogene Fläche bilden. Die zweite Welt wird also durch das System aller der­a rti­gen Flächen in achteckige Zellen geteilt werden, die im allgemeinen alle verschiedene Größe und Gestalt haben. Wir

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würden aber in dieser Welt jene Flächen nach wie vor als »Ebenen« und ihre Schnittkurven als »Gerade«, die Zellen als »Würfel« bezeichnen, denn es fehlte ja jedes Mittel, festzustellen, daß sie es »eigentlich« nicht sind. Denken wir uns die Flächen fortlaufend numeriert, so ist jeder physische Punkt der deformierten Welt durch drei Zahlen bestimmt, nämlich die Nummern der drei Flächen, die durch ihn hindurchgehen; wir können also diese Zahlen als Koordinaten jenes Punktes benutzen und werden sie füglich als »Gaußsche Koordinaten« bezeichnen, weil sie für dreidimensionale Gebilde genau dieselbe Bedeutung haben wie die seinerzeit von Gauß zur Untersuchung zweidimensionaler Gebilde (Flächen) eingeführten Koordinaten. Er dachte sich nämlich eine beliebig gekrümmte Fläche von zwei sich kreuzenden ganz in der Fläche liegenden Kurvenscharen durchzogen und jeden Punkt auf ihr als Schnitt zweier solcher Kurven bestimmt. – Nun ist klar, daß unter den gemachten Voraussetzungen die Begrenzungsflächen der Körper, der Lauf der Lichtstrahlen, alle Bewegungen und überhaupt alle Naturgesetze in der deformierten Welt, in diesen neuen Koordinaten ausgedrückt, durch identisch dieselben Gleichungen dargestellt werden wie die entsprechenden Gegenstände und Vorgänge der ursprünglichen Welt, bezogen auf gewöhnliche Cartesische Koordinaten, wenn nur jene Numerierung der Flächen in der richtigen Weise vollzogen wurde. Ein Unterschied zwischen beiden Welten besteht ja, wie gesagt, nur solange, als man fälschlich annimmt, man könne im Raume Flächen und Linien überhaupt definieren ohne Rücksicht auf Körper in ihm, als wäre er also mit »absoluten« Eigenschaften ausgestattet. Beziehen wir aber nun das neue Universum auf die alten Koordinaten, also auf das System der rechtwinklig sich schneidenden Ebenen, so erscheint nunmehr dieses als ein – in entgegengesetzter Weise – gänzlich verbogenes, gekrümmtes Flächensystem, und die geometrischen Gestalten und physikalischen Gesetze erhalten auf dieses System bezogen ein völlig verändertes Aus­sehen. Statt zu sagen: ich deformiere die Welt in bestimm-

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ter Weise, kann ich ebensogut sagen: ich beschreibe die unveränderte Welt durch neue Koordinaten, deren Flächensystem gegenüber dem ersten in bestimmter Weise deformiert ist. Beides ist einfach dasselbe, und jene gedachten Deformationen würden gar keine reale Änderung der Welt bedeuten, sondern nur eine Beziehung auf andere Koordinaten. Es ist daher auch erlaubt, unsere eigene Welt, in der wir leben, als die deformierte aufzufassen und zu sagen: die Körperoberflächen (z. B. die Zimmerdecke), die wir Ebenen nennen, sind »eigentlich« gar keine; unsere Geraden (Lichtstrahlen) sind »in Wahrheit« krumme Linien usw. Wir können ohne Widerspruch etwa annehmen, daß ein Würfel, den ich ins Nebenzimmer transportiere, auf dem Wege dahin seine Gestalt und Größe beträchtlich ändert, und wir würden es nur nicht gewahr, weil wir selbst nebst allen Meßinstrumenten und der ganzen Umgebung analoge Änderungen erleiden; gewisse krumme Linien würden als die »wahren« Geraden zu gelten haben; die Winkel unseres Würfels, die wir als Rechte bezeichnen, würden es »in Wahrheit« nicht sein – doch könnten wir es nicht konstatieren, weil der Maßstab, mit dem wir die Schenkel des Winkels gemessen haben, seine Länge entsprechend ändern würde, wenn wir ihn herumdrehen, um den zugehörigen Kreisbogen zu messen. Die Winkelsumme unseres Quadrats betrüge »in Wahrheit« garnicht vier Rechte – kurz, es wäre so, als ob wir eine von der Euklidischen verschiedene Geometrie benutzten. Die ganze Annahme käme also hinaus auf die Behauptung, daß gewisse Flächen und Linien, die uns als krumm erscheinen, eigentlich die wahren Ebenen und Geraden seien, und daß wir uns ihrer als Koordinaten bedienen müßten. Warum nehmen wir tatsächlich nichts dergleichen an, obwohl es theoretisch möglich wäre, obwohl alle unsere Erfahrungen dadurch zu erklären wären? Nun, einfach deshalb nicht, weil diese Erklärung dann nur auf eine sehr komplizierte Weise geleistet werden könnte, nämlich nur durch die Annahme höchst verwickelter physikalischer Gesetzmäßigkeiten. Die Gestalt eines Kör-

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pers wäre ja von seinem Orte abhängig, der Einwirkung äußerer Kräfte entzogen würde er eine krumme Linie beschreiben usw., kurz, wir gelangten zu einer höchst verworrenen Physik, und – was die Hauptsache ist – sie wäre gänzlich willkürlich, denn es gäbe beliebig viele gleich komplizierte Systeme der Physik, die alle der Erfahrung in gleichem Maße gerecht würden. Ihnen gegenüber zeichnete sich das übliche, die Euklidische Geometrie benutzende System als das einfachste aus, soweit man es bisher beurteilen konnte. Die Linien, die wir als »Gerade« bezeichnen, spielen eben physikalisch eine besondere | Rolle, sie sind, wie Poincaré es ausdrückt, wichtiger als andere Linien45; ein an diese Linien sich anschließendes Koordinatensystem liefert daher die einfachsten Formeln für die Naturgesetze. IV.  Die Untrennbarkeit von Geometrie und Physik in der Erfahrung Die Gründe, weswegen man das gebräuchliche System der Geometrie und Physik allen anderen möglichen vorzieht und als das allein »wahre« betrachtet, sind genau dieselben, welche die Überlegenheit der Kopernikanischen über die Ptolemäische Welt­ ansicht begründen: die erstere führt zu einer außerordentlich viel einfacheren Himmelsmechanik. Die Formulierung der Gesetze der Planetenbewegungen wird eben ganz unübersichtlich kompliziert, wenn man sie, wie Ptolemäus, auf ein mit der Erde fest verbundenes Koordinatensystem bezieht, höchst durchsichtig dagegen, wenn ein in bezug auf den Fixsternhimmel ruhendes System zugrunde gelegt wird. So sehen wir, daß uns die Erfahrung keineswegs zwingt, bei der physikalischen Naturbeschreibung eine bestimmte, etwa die Euklidische Geometrie zu benutzen; sondern sie lehrt uns nur, welche Geometrie wir verwenden müssen, wenn wir zu den einfachsten Formeln für die Naturgesetze gelangen wollen. Hieraus folgt sofort: es hat überhaupt keinen Sinn, von einer bestimmten

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Geometrie »des Raumes« zu reden ohne Rücksicht auf die Physik, auf das Verhalten der Naturkörper, denn da die Erfahrung uns nur dadurch zur Wahl einer bestimmten Geometrie führt, daß sie uns zeigt, auf welche Weise das Verhalten der Körper am einfachsten formuliert werden kann, so ist es sinnlos, eine Entscheidung zu verlangen, wenn von Körpern überhaupt nicht die Rede sein soll. Poincaré hat dies prägnant in dem Satze ausgedrückt: »Der Raum ist in Wirklichkeit gestaltlos, und allein die Dinge, die darin sind, geben ihm eine Form.«46 Ich will noch einige Ausführungen von Helmholtz ins Gedächtnis rufen, in denen er die gleiche Wahrheit verkündet. Er sagt gegen den Schluß seines Vortrages über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome folgendes: »Wenn wir es zu irgend einem Zwecke nützlich fänden, so könnten wir in vollkommen folgerichtiger Weise den Raum, in welchem wir leben, als den scheinbaren Raum hinter einem Convexspiegel mit verkürztem und zusammengezogenem Hintergrunde betrachten; oder wir könnten eine abgegrenzte Kugel unseres Raumes, jenseits deren Grenzen wir nichts mehr wahrnehmen, als den unendlichen pseudosphärischen Raum betrachten. Wir müßten dann nur den Körpern, welche uns als fest erscheinen, und ebenso unserem eigenen Leibe gleichzeitig die entsprechenden Dehnungen und Verkürzungen zuschreiben, und würden allerdings das System unserer mechanischen Principien gleichzeitig gänzlich verändern müssen; denn schon der Satz, daß jeder bewegte Punkt, auf den keine Kraft wirkt, sich in gerader Linie mit unveränderter Geschwindigkeit fortbewegt, passt auf das Abbild der Welt im Convexspiegel nicht mehr … Die geometrischen Axiome sprechen also gar nicht über Verhältnisse des Raumes allein, sondern gleichzeitig auch über das mechanische Verhalten unserer festesten Körper bei Bewegungen.«47 Seit Riemann und Helmholtz ist man gewohnt, von ebenen, sphärischen, pseudosphärischen und andern Räumen zu reden und von Beobachtungen, die darüber entscheiden sollten, welcher von diesen Klassen unser »wirklicher« Raum angehöre. Wir

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wissen jetzt, wie diese Redeweise zu verstehen ist: nämlich nicht so, als ob dem Raum ohne Rücksicht auf die Gegenstände in ihm eines jener Prädikate zugeschrieben werden könnte; sondern so, daß die Erfahrung uns nur darüber belehrt, ob es praktischer ist, die Euklidische oder eine nicht-Euklidische Geometrie bei der physikalischen Naturbeschreibung zu verwenden. Riemann selbst war sich natürlich wie Helmholtz über den Sachverhalt vollkommen klar; aber die Ergebnisse dieser beiden Forscher sind oft mißverständlich formuliert worden, so daß sie sogar gelegentlich zu einer Stärkung des Glaubens an den absoluten Raum führten als an etwas, dem eine bestimmte erfahrbare Gestalt für sich zukomme. In diesem Punkte scheint mir z. B. E. Study fehlzugehen, der in seinem Buche »Die realistische Weltansicht und die Lehre vom Raume« die Meinung vertritt, den Gegenständen der Geometrie, also dem Raume, komme eine gewisse »physische Realität« zu: »Eine Art von Realität, die der ebenfalls angenommenen Realität der Körper verwandt, aber doch von ihr verschieden ist« (S.  58 der zitierten Schrift). Er glaubt an die Existenz einer »natürlichen Geometrie«; sie sei »ein in jeder Beziehung treues Abbild des Raumes, in dem wir leben« (S.  59). Diese Ausdrucksweise werden wir nach dem Dargelegten nicht für erlaubt halten können. – Bekanntlich versuchte Gauß durch Ausmessung mit Hilfe von Theodoliten festzustellen, ob in einem sehr großen Dreieck die Winkelsumme zwei Rechte betrage oder nicht. Er maß also die Winkel, die drei Lichtstrahlen an drei festen Punkten (Brocken, Hoher Hagen, Inselsberg) miteinander bildeten. Gesetzt, es hätte sich eine Abweichung von zwei Rechten gezeigt, so hätte man entweder die Lichtstrahlen als krummlinig annehmen und die Euklidische Geometrie beibehalten können, oder man könnte den Weg eines Lichtstrahls nach wie vor als Gerade bezeichnen, müßte dann aber eine nicht-Euklidische Geometrie einführen. Es ist also nicht richtig, daß die Erfahrung uns jemals eine »nicht-Euklidische Struktur des Raumes« beweisen, d. h. zu der zweiten der beiden möglichen Annahmen zwingen könnte. Andrerseits hat aber auch Poincaré nicht recht, wenn

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er an einer Stelle meint, daß tatsächlich der Physiker immer die erste Annahme wählen werde.48 Denn niemand konnte voraussagen, ob es nicht einmal nötig werden würde, von Euklidischen | Maßbestimmungen abzugehen, um das physikalische Verhalten der Körper auf die einfachste Weise beschreiben zu können. Nur dies konnte man schon sagen, daß man niemals Veranlassung finden würde, in erheblichem Grade von der Euklidischen Geometrie abzugehen, denn sonst hätten wir durch unsere Beobachtungen, besonders astronomische, längst darauf aufmerksam werden müssen. Es ist aber bisher unter Zugrundelegung der Euklidischen Geometrie vortrefflich gelungen, zu einfachen physikalischen Prinzipien zu gelangen. Daraus ist zu schließen, daß sie mindestens zur näherungsweisen Darstellung stets geeignet bleibt. Sollte uns daher die physikalische Zweckmäßigkeit ein Aufgeben der Euklidischen Maßbestimmungen nahelegen, so werden doch die Abweichungen nur geringfügig sein und an der Grenze des Beobachtbaren liegen. Ob aber groß oder klein, prinzipiell ist ihre Bedeutung natürlich genau dieselbe. Dieser Fall, bis dahin nur eine theoretische Möglichkeit, ist jetzt eingetreten. Einstein zeigte, daß man tatsächlich nicht-Euklidische Beziehungen zur Darstellung räumlicher Verhältnisse in der Physik verwenden muß, um diejenige ungeheure prinzipielle Vereinfachung der Naturauffassung aufrecht erhalten zu können, die jetzt in der Gestalt der allgemeinen Relativitätstheorie vorliegt. Wir kommen sogleich darauf zurück. Einstweilen halten wir das Resultat fest, daß der Raum für sich auf keinen Fall irgendeine Struktur besitzt, weder Euklidische noch nichtEuklidische Konstitution ist ihm eigentümlich, ebenso wenig wie es einer Strecke eigentümlich ist, nach Kilometern gemessen zu werden, nicht aber nach Meilen. Wie eine Strecke eine angebbare Länge erst dadurch erhält, daß ich einen Maßstab als Einheit wähle und dazu die Bedingungen der Messung genau festsetze, so wird die Anwendung einer bestimmten Geometrie auf die Wirklichkeit erst möglich, wenn bestimmte Gesichtspunkte festgelegt sind, nach denen die räumlichen Beziehungen aus

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den physikalischen abstrahiert werden sollen. Alles Messen von Raumstrecken geschieht in letzter Linie durch Aneinanderlegen von Körpern; damit eine solche Vergleichung zweier Körper zu einer Messung werde, muß man sie erst nach gewissen Prinzipien interpretieren (man muß z. B. annehmen, daß gewisse Körper als starr zu betrachten sind, also einen Transport ohne Gestaltänderung überstehen).49 Ganz analoge Betrachtungen wie für den Raum lassen sich mutatis mutandis für die Zeit anstellen. Die Erfahrung kann uns nicht zwingen, der Naturbeschreibung ein bestimmtes Maß und Tempo des Zeitlaufs zugrunde zu legen, sondern wir wählen dasjenige, welches die einfachste Formulierung der Gesetze ermöglicht. Alle zeitlichen Bestimmungen sind mit physischen Vorgängen ebenso unlöslich verknüpft wie die räumlichen mit physischen Körpern. Die messende Beobachtung irgend eines physikalischen Prozesses, z. B. der Lichtausbreitung von einem Orte zu andern, schließt zugleich die Ablesung von Uhren ein und setzt mithin eine Methode voraus, nach welcher verschieden lokalisierte Uhren zu regulieren sind; ohne eine solche haben die Begriffe der Gleichzeitigkeit und der gleichen Dauer keinen bestimmten Sinn. Doch das sind Dinge, auf welche die spezielle Relativitätstheorie schon lange die allgemeine Aufmerksamkeit gelenkt hat. Alle Zeitmessung findet durch Vergleichung zweier Vorgänge statt, und damit ein solcher Vergleich eine Messung bedeute, muß eine Vereinbarung, ein Prinzip vorausgesetzt werden, dessen Wahl wiederum durch das Streben nach möglichst einfacher Formulierung der Naturgesetze bestimmt wird. So sehen wir denn: Raum und Zeit sind nur in der Abstraktion von den physischen Dingen und Vorgängen trennbar. Wirklich ist nur die Vereinigung, die Einheit von Raum, Zeit und Dingen; jedes für sich ist eine Abstraktion. Und bei einer Abstraktion muß man sich immer fragen, ob sie auch naturwissenschaftlichen Sinn hat, d. h. ob das durch die Abstraktion Getrennte auch tatsächlich voneinander unabhängig ist.

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V.  Die Relativität der Bewegungen und ihr Verhältnis zur Trägheit und Gravitation Wäre man sich dieser letzten Wahrheit1) stets bewußt gewesen, so hätte der berühmte, immer wieder erneuerte Streit über die Existenz der sogenannten absoluten Bewegung von vornherein ein anderes Antlitz bekommen. Der Begriff der Bewegung nämlich hat einen realen Sinn zunächst nur in der Dynamik, als Ortsveränderung materieller Körper mit der Zeit; die sogenannte reine Kinematik (zu Kants Zeiten »Phoronomie« genannt) entsteht aus der Dynamik dadurch, daß man von der Masse abstrahiert, sie ist also die Lehre von der zeitlichen Änderung des Orts bloßer mathematischer Punkte. Inwieweit dieses Abstraktionsgebilde zur Naturbeschreibung dienen kann, läßt sich nur durch die Erfahrung entscheiden. Die Gegner der absoluten Bewegung (z. B. Mach) argumentierten vor Einstein immer folgendermaßen: Jede Ortsbestimmung ist, da nur für ein bestimmtes Bezugs­system definiert, ihrem Begriff nach relativ, also auch jede Ortsveränderung; es gibt mithin nur relative Bewegung, d. h. es kann kein ausgezeichnetes Bezugssystem geben; da nämlich der Begriff der Ruhe ein relativer ist, muß ich jedes beliebige Bezugs­ system als ruhend betrachten können. Diese Beweisführung übersieht aber, daß die Definition der Bewegung als Ortsveränderung schlechthin nur die Bewegung im Sinn der Kinematik trifft. Für reale Bewegungen, d. h. für die Mechanik oder Dynamik, braucht der Schluß nicht bindend zu sein; erst die Erfahrung muß zeigen, ob er berechtigt war. Rein kinematisch ist es natürlich dasselbe, ob man sagt: die Erde ro1)  Raum und Zeit sind nur in der Abstraktion von den physischen

Dingen und Vorgängen trennbar. Wirklich ist nur die Vereinigung, die Einheit von Raum, Zeit und Dingen; jedes für sich ist eine Abstraktion. Und bei einer Abstraktion muß man sich immer fragen, ob sie auch naturwissenschaftlichen Sinn hat, d. h. ob das durch die Abstraktion Getrennte auch tatsächlich voneinander unabhängig ist.

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tiert, oder: der Fixsternhimmel dreht sich um die Erde; daraus folgt aber nicht, daß beides auch dynamisch ununterscheidbar sein müsse. Newton nahm vielmehr bekanntlich das Gegenteil an. Er glaubte – scheinbar im besten Einklang mit der Erfahrung –, daß man einen rotierenden Körper von einem ruhenden durch die Zentrifugalkräfte (Abplattung) unterscheiden könnte, und eben durch das Fehlen der Zentrifugalkräfte würde dann die absolute Ruhe (von gleichförmiger Translation abgesehen) definiert sein. In der erfahrbaren Wirklichkeit geht eben jede beschleunigte Ortsveränderung mit dem Auftreten von Trägheitswiderständen (z. B. Fliehkräften) Hand in Hand; und es ist willkürlich, von diesen beiden Momenten, die gleichermaßen zur physischen Bewegung gehören und nur in der Abstraktion trennbar sind, das eine als die Ursache des andern zu erklären, nämlich die Trägheitswiderstände als Wirkung der Beschleunigung aufzufassen. Es läßt sich also nicht aus dem bloßen Begriff der Bewegung beweisen (wie Mach das wollte), daß es kein ausgezeichnetes Bezugssystem, d. h. keine absolute Bewegung geben könne, sondern die Entscheidung muß der Beobachtung vorbehalten bleiben. Darin freilich hatte Newton unrecht, daß er glaubte, die Beobachtung habe bereits die Frage entschieden, nämlich so, daß zwar geradlinig-gleichförmige Bewegungen in der Tat relativ seien (d. h. die Gesetze der Dynamik sind genau die gleichen für zwei Bezugssysteme, die sich geradlinig-gleichförmig zueinander bewegen), daß dies aber nicht gelte für beschleunigte Bewegungen (also z. B. rotierende); vielmehr hätten alle Beschleunigungen absoluten Charakter, gewisse Bezugssysteme seien dadurch ausgezeichnet, daß allein in ihnen das Trägheitsgesetz gültig ist. Man nennt sie deshalb Inertialsysteme. Ein Inertialsystem würde also nach Newton dadurch definiert und daran zu erkennen sein, daß ein Körper, auf den keine Kräfte wirken, in ihm sich geradlinig-gleichförmig bewegt (oder ruht), daß also an einem Körper nur dann keine Fliehkräfte (keine Abplattung) auftreten, wenn er in bezug auf das Inertialsystem nicht rotiert.

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Diese Anschauungen machte Newton, wie gesagt, mit Unrecht zum Fundament der Mechanik, denn sie haben in Wahrheit keine ausreichende Grundlage in der Erfahrung; keine Beobachtung nämlich zeigt uns einen Körper, auf den gar keine Kräfte wirken, und es liegen keine Erfahrungen darüber vor, ob ein in einem Inertialsystem ruhender Körper nicht vielleicht doch Zentrifugalkräfte aufweist, wenn etwa eine außerordentlich große Masse in seiner Nähe rotiert, ob also nicht doch vielleicht auch jene Kräfte nur Eigentümlichkeiten der relativen Rotation sind. Die Sachlage war also tatsächlich folgende: Einerseits reichten die bekannten Erfahrungen | nicht aus, um die Richtigkeit der Newtonschen Annahme von der Existenz absoluter Beschleunigungen (d. h. ausgezeichneter Bezugssysteme) zu erweisen; andrerseits waren aber auch, wie eben gezeigt, die allgemeinen Argumente (z. B. Machs) für die Relativität aller Beschleunigungen keineswegs zwingend. Vom Standpunkte der Erfahrung mußten also einstweilen beide Ansichten als möglich zugelassen werden. Erkenntnistheoretisch betrachtet hat aber natürlich der Standpunkt, welcher die Existenz ausgezeichneter Bezugs­ systeme leugnet und mithin an der Relativität aller Bewegungen festhielt, großen Reiz und gewaltige Vorzüge vor dem Newtonschen, denn wenn er sich durchführen läßt, so würde das eine ganz außerordentliche Vereinfachung des Weltbildes bedeuten.50 Es wäre überaus befriedigend, wenn wir sagen dürften: nicht bloß gleichförmige, sondern überhaupt alle Bewegungen sind relativ; der kinematische und der dynamische Bewegungsbegriff würden dann realiter zusammenfallen; zur Feststellung des Charakters einer Bewegung würden rein kinematische Beobachtungen genügen, es brauchten nicht noch Beobachtungen von Trägheitswiderständen (Fliehkräften) hinzuzukommen, deren es bei Newton bedurfte. Eine auf relative Bewegungen aufgebaute Mechanik würde also ein sehr viel geschlosseneres, vollendeteres Weltbild ergeben als die Newtonsche. Es wäre zwar nicht etwa (wie Mach meinte) als das einzig richtige Weltbild erwiesen, wohl aber emp-

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fähle es sich (wie Einstein hervorhebt) von vornherein durch seine imposante Einfachheit und Abrundung2). Bis zu Einstein war aber solch ein Weltbild, d. h. der Gedanke einer allein auf relative Bewegungen gegründeten Mechanik, immer nur eine Forderung, ein lockendes Ziel gewesen, eine der­ artige Mechanik war nie aufgestellt oder auch nur ein gangbarer Weg zu ihr gewiesen worden; man konnte nicht einmal wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen sie überhaupt möglich, mit den Erfahrungstatsachen vereinbar war. Ja, die Wissenschaft schien sogar in der entgegengesetzten Richtung fortschreiten zu müssen, denn während in der klassischen Mechanik alle in bezug auf ein Inertialsystem geradlinig-gleichförmig bewegten Systeme gleichfalls Inertialsysteme waren, so daß wenigstens alle gleichförmigen Translationsbewegungen relativen Charakter be2)  Einstein fügt hinzu, die Newtonsche Mechanik leiste z. B. in be-

zug auf den Fall des rotierenden sich abplattenden Körpers der Forderung der Kausalität nur scheinbar Genüge (»Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie«, in: Annalen der Physik 49 (1916), S.  771  ff.) und E. Freundlich (Die Grundlagen der Einsteinschen Gravitationstheorie, Berlin: Springer 1916, S.  30) meint gleichfalls, erst das neue Weltbild verleihe dem Kausalprinzip »wirklich die Bedeutung eines für die Erfahrungswelt gültigen Gesetzes«. Diese Formulierung erscheint mir aber nicht ganz einwandfrei. Man braucht die Newtonsche Lehre wohl nicht so aufzufassen, als erkläre sie den Galileischen Raum, der ja freilich keine beobachtbare Sache ist, für die Ursache der Zentrifugalkräfte, sondern man kann die Redeweise vom absoluten Raum wohl auch als eine Umschreibung der bloßen Tatsache des Daseins dieser Kräfte betrachten; sie wären dann eben ein schlechthin Gegebenes, und die Frage, aus welchem Grunde sie bei dem einen Körper auftreten, bei dem anderen fehlen, würde auf derselben Stufe stehen wie die Frage, aus welchem Grunde sich an dem einen Ort der Welt ein Körper befinde, am andern nicht. Die absolute Rotation braucht nicht als die Ursache der Abplattung bezeichnet zu werden, sondern man kann sagen: jene ist eben durch diese definiert. Ich glaube also, daß Newtons Dynamik hinsichtlich des Kausalprinzips ganz in Ordnung ist; gegen den Einwand, sie führe bloß fingierte Ursachen ein, könnte sie sich wohl verteidigen, wenn auch Newtons eigene Ausdrucksweise nicht korrekt war.

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hielten, schien für die elektromagnetisch-optischen Erscheinungen selbst dies nicht mehr zu gelten: in der Lorentzschen Elektrodynamik gab es nur noch ein einziges ausgezeichnetes Bezugssystem (man bezeichnete es als das »im Äther ruhende«). Wie bekannt, gelang es dann aber Einstein schon 1905, das in der alten Mechanik bereits geltende Prinzip der Relativität aller gleichförmigen Translation – das spezielle Relativitätsprinzip – auf die gesamte Physik auszudehnen, wozu er den Begriff der Zeit und der Länge in der besprochenen Weise relativieren, d. h. abhängig vom Bezugssystem annehmen mußte. Erst auf dem so geschaffenen Boden konnte nun der Gedanke der ganz allgemeinen Relativität beliebiger Bewegungen wieder aufgenommen werden, und wiederum war es Einstein, der ihn wirklich nutzbar machte. Er hat ihn gleichsam aus den erkenntnis-theoretischen Regionen auf den Boden der Physik verpflanzt und damit erst in greifbare Nähe gerückt. Einstein stellte den erkenntnistheoretischen Gründen, so schwerwiegend sie auch sein mochten, vor allem ein physikalisches Argument dafür zur Seite, daß in der Tat alle Bewegungen in Wirklichkeit höchst wahrscheinlich relativen Charakter hätten. Dieses physikalische Argument stützt sich auf die Gleichheit der trägen und der schweren Masse. Wir können es uns folgendermaßen verdeutlichen. Gesetzt, alle Beschleunigungen sind relativ, dann beruhen alle Zentrifugalkräfte oder sonstigen Trägheitswiderstände, die wir beobachten, auf der Relativbewegung zu andern Körpern, wir müssen folglich die Ursache der Trägheitswiderstände in der Anwesenheit jener andern Körper suchen. Wären z. B. außer der Erde überhaupt keine andern Himmelskörper vorhanden, so könnte man nicht von einer Rotation der Erde reden, und sie könnte nicht abgeplattet sein. Die Zentrifugalkräfte, durch die ihre tatsächliche Abplattung zustande gekommen ist, müssen also einer Wirkung der Himmelskörper auf die Erde ihr Dasein verdanken. Nun kennt aber die klassische Mechanik in der Tat eine Wirkung, welche alle Körper gegenseitig aufeinander ausüben: das ist die Gravitation. Gibt die

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Erfahrung irgend einen Anhalt dafür, daß etwa diese Gravitation auch für die Trägheitswirkungen verantwortlich gemacht werden könnte? Ein solcher Anhalt ist tatsächlich vorhanden, und zwar ein | höchst bemerkenswerter: es ist der Umstand, daß es für irgend einen bestimmten Körper eine und dieselbe Konstante ist, welche für die Trägheits- wie für die Gravitationswirkungen maßgebend ist; sie heißt bekanntlich die Masse. Beschreibt z. B. ein Körper eine Kreisbahn relativ zu einem Inertialsystem, so ist nach der klassischen Mechanik die dazu nötige Zentralkraft proportional einem für den Körper charakteristischen Faktor m; wird aber der Körper von einem andern vermöge der Gravitation angezogen (z. B. von der Erde), so ist die auf ihn wirkende Kraft (z. B. sein Gewicht) diesem selben Faktor m proportional. Hierauf beruht es, daß an derselben Stelle des Gravitationsfeldes alle Körper ohne Ausnahme dieselbe Beschleunigung erleiden, denn die Masse m des Körpers hebt sich fort, da sie sowohl in dem Ausdruck für den Trägheitswiderstand wie für die Attraktion als Proportionalitätskonstante auftritt. Den Zusammenhang zwischen Gravitation und Trägheit hat Einstein durch folgende Betrachtung überaus anschaulich gemacht.51 Wenn ein irgendwo in der Welt in einem geschlossenen Kasten befindlicher Physiker beobachtete, daß alle sich selbst überlassenen Gegenstände in eine bestimmte Beschleunigung geraten, etwa stets mit konstanter Beschleunigung auf den Boden des Kastens fallen, so könnte er diese Erscheinung auf zwei Arten erklären: erstens könnte er annehmen, daß sein Kasten auf einem Himmelskörper ruhe, und den Fall der Gegenstände auf die Gravitationswirkung desselben zurückführen; zweitens aber könnte er auch annehmen, daß der Kasten sich mit konstanter Beschleunigung nach »oben« bewege: dann wäre das Verhalten der »fallenden« Gegenstände durch ihre Trägheit erklärt. Beide Erklärungen sind genau gleich möglich, jener Physiker hat kein Mittel, zwischen ihnen zu entscheiden. Nimmt man an, daß alle Beschleunigungen relativ sind, daß also ein Unterscheidungsmittel prinzipiell fehlt, so läßt sich dies verallgemeinern: an jedem

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Punkte des Universums kann man die beobachtete Beschleunigung eines sich selbst überlassenen Körpers entweder als Trägheitswirkung auffassen oder als Gravitationswirkung, d. h., man kann entweder sagen: »das Bezugssystem, von dem aus ich den Vorgang beobachte, ist beschleunigt« oder: »der Vorgang findet in einem Gravitationsfelde statt«. Die Gleichwertigkeit beider Auffassungen bezeichnen wir mit Einstein als das Äquivalenzprinzip. Es beruht, wie gesagt, auf der Identität von träger und gravitierender Masse. Dieser Umstand der Identität der beiden Faktoren ist nun höchst auffällig, und wenn man sich ihn einmal recht vor ­Augen stellt, muß man staunen, daß vor Einstein niemand daran gedacht hat, Schwere und Trägheit in eine engere Verbindung miteinander zu bringen. Hätte man auf einem anderen Gebiete Analoges beobachtet, hätte man z. B. irgendeine Wirkung gefunden, die der auf einem Körper vorhandenen Elektrizitätsmenge proportional ist, so würde man sie von vornherein in Zusammenhang mit den übrigen elektrischen Erscheinungen gebracht haben, man würde die elektrischen Kräfte und die gedachte neue Wirkung als verschiedene Äußerungen einer und derselben Gesetzmäßigkeit aufgefaßt haben. In der klassischen Mechanik ist aber nicht die geringste Beziehung hergestellt zwischen Trägheits- und Gravitationserscheinungen, sie sind nicht in ­einer einzigen Gesetzmäßigkeit zusammengefaßt, sondern stehen ganz unverbunden nebeneinander; und daß bei beiden ein und derselbe Faktor – die Masse – eine Rolle spielt, ist für Newton rein zufällig. Sollte es wirklich Zufall sein? Das wäre unwahrscheinlich im höchsten Maße. Die Identität der trägen und der gravitierenden Masse ist also der eigentliche Erfahrungsgrund, der uns erst das Recht gibt zu der Annahme oder der Behauptung, daß die Trägheitswirkungen, die wir an einem Körper beobachten, auf den Einfluß zurückzuführen sind, den er von andern Körpern erleidet. (Natürlich ist der Einfluß gemäß den modernen Anschauungen nicht als eine Fernewirkung aufzufassen, sondern als durch ein Feld ­vermittelt.)

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Jene Behauptung bedeutet die Forderung einer unbeschränkten Relativität der Bewegungen, denn da jetzt alle Erscheinungen nur von der gegenseitigen Lage und Bewegung der Körper abhängen sollen, so kommt der Bezug auf irgendein besonderes Koordinatensystem gar nicht mehr vor. Der Ausdruck der Naturgesetze in bezug auf ein in einem beliebigen Körper (z. B. der Sonne) ruhendes Koordinatensystem muß derselbe sein wie in bezug auf ein in einem beliebigen andern Körper (z. B. ein Karussel auf der Erde) ruhendes; man muß beide mit gleichem Rechte als »ruhend« betrachten können. Die Newtonsche Mechanik mußte ihre Gesetze auf ein ganz bestimmtes System (ein Inertialsystem) beziehen, das von der gegenseitigen Lage der Körper unabhängig war, denn nur für dieses galt das Trägheitsgesetz; in der neuen Mechanik dagegen, welche Trägheits- und Gravitationswirkungen als Ausdruck eines einzigen Grundgesetzes zu fassen hat, müssen nicht nur die Erscheinungen der Schwere, sondern auch die der Trägheit allein von der relativen Lage und Bewegung der Körper zueinander abhängen. Der Ausdruck jenes Grundgesetzes muß demnach so beschaffen sein, daß durch ihn kein Koordinatensystem vor den andern ausgezeichnet wird, sondern daß er für jedes beliebige seine Geltung unverändert behält. Es ist klar, daß die alte Newtonsche Dynamik nur eine erste Näherung an die neue Mechanik bedeuten kann, denn die letztere fordert ja im Gegensatz zur ersteren, daß z. B. an einem Körper Zentrifugalbeschleunigungen auftreten müssen, wenn große Massen um ihn herum rotieren, und der Widerspruch der neuen gegen die klassische Mechanik tritt in diesem besonderen Falle nur | deshalb nicht zutage, weil jene Kräfte auch für die größten bei einem Experiment verwendbaren Massen noch so klein sind, daß sie sich der Beobachtung entziehen. Einstein ist es nun wirklich gelungen, ein Grundgesetz aufzustellen, welches Trägheits- und Gravitationserscheinungen in gleicher Weise umfaßt. Wir sind nun bald genügend vorbereitet, um den Weg klar zu überschauen, auf welchem er dahin gelangte.

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VI.  Das allgemeine Relativitätspostulat und die Maßbestimmungen des Raum-Zeit-Kontinuums Soweit wir den Gedanken der Relativität zuletzt im physikalischen Denken verfolgt haben, bezog er sich nur auf Bewegungen. Sind diese wirklich ausnahmslos relativ, so sind ganz beliebig zueinander bewegte Koordinatensysteme gleichberechtigt, und der Raum hat seine Gegenständlichkeit insoweit eingebüßt, als es nicht möglich ist, irgendwelche Bewegungen oder Beschleunigungen in bezug auf ihn zu definieren. Er hat aber doch noch eine gewisse Gegenständlichkeit behalten, solange er noch stillschweigend mit ganz bestimmten Maßeigenschaften ausgestattet gedacht wird. In der alten Physik legte man jedem Meßverfahren ohne weiteres die Idee eines starren Stabes zugrunde, der zu jeder Zeit dieselbe Länge besäße, an welchem Ort und in welcher Lage und Umgebung er sich auch befinden möge, und an der Hand dieses Gedankens wurden alle Maße nach den Vorschriften der Euklidischen Geometrie ermittelt. Hieran wurde durch die neuere auf der speziellen Relativitätstheorie aufgebaute Physik nichts geändert, sofern nur die Voraussetzung erfüllt war, daß die Messungen alle innerhalb desselben Bezugssystems mit ­einem jeweils in ihm ruhenden Maßstabe ausgeführt wurden. Damit war dem Raume eine »Euklidische Struktur« noch gleichsam als selbständige Eigenschaft gelassen, denn das Resultat jener Maßbestimmungen wurde ja als gänzlich unabhängig gedacht von den im Raume herrschenden physischen Bedingungen, z. B. von der Verteilung der Körper und ihren Gravitationsfeldern. Nun sahen wir aber allerdings, daß es stets möglich ist, die Lagen- und Größenbeziehungen der Körper und Vorgänge nach den gewöhnlichen Euklidischen Vorschriften, etwa durch Cartesische Koordinaten, festzulegen, wenn man nur die dazu gehörende Formulierung der physikalischen Gesetze einführt. Nun sind wir aber jetzt in bezug auf die zu wählende Formulierung der Physik bereits in einer Hinsicht gebunden: wir hatten ja die Aufgabe gestellt, sie, wenn möglich, so zu bestimmen, daß das

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allgemeine Relativitätspostulat erfüllt wird. Und daß wir unter dieser Bedingung mit der Euklidischen Geometrie auskommen, versteht sich keineswegs von selbst. Wir müssen damit rechnen, daß es nicht der Fall ist. Hatte sich doch gezeigt, daß sogar dem speziellen Relativitätspostulat nur Genüge geleistet werden kann, wenn der in der Physik bis dahin stets vorausgesetzte Zeitbegriff modifiziert wird; da könnte es ganz wohl sein, daß das verallgemeinerte Relativitätsprinzip uns zwänge, von der gewohnten Euklidische Geometrie abzugehen. Einstein kommt durch Betrachtung eines ganz einfachen Beispiels zu dem Ergebnis, daß dies in der Tat der Fall ist. Er zeigt nämlich (»Die Grundlage der allgemeinen Relativitäts­theorie«, in: Annalen der Physik 49 (1916), S.  774), daß die Länge eines Stabes als von seiner Orientierung abhängig anzusehen ist, wenn wir z. B. zwei zueinander rotierende Koordinatensysteme als gleichberechtigt betrachten. (Haben wir zwei Koordinatensysteme mit gemeinsamer z-Achse als Rotationsachse, und bestimmen wir in dem einen derselben für einen um den Koordinatenanfang geschlagenen Kreis das Verhältnis des Umfangs zum Durchmesser durch Aneinanderlegen eines unendlich kleinen jeweils im System ruhenden Maßstabes, so erleidet, vom andern System aus betrachtet, der Stab eine Lorentzkontraktion bei der Umfangmessung, nicht aber bei der Radiusmessung; für das Verhältnis ergibt sich also ein größerer Wert als π, wir sind mithin nicht in der Euklidischen Geometrie.) Wenn wir also in der Physik das allgemeine Relativitätspostulat aufrecht erhalten wollen, so müssen wir darauf verzichten, die Abmessungen und Lagebeziehungen der Körperwelt mit Hilfe Euklidischer Methoden zu beschreiben. Es ist aber nicht etwa so, daß an die Stelle der Euklidischen Geometrie nun eine bestimmte andere, etwa die Lobat­schewskysche oder die Riemannsche, für den ganzen Raum zu treten hätte, so daß unser Raum als pseudosphärischer oder sphärischer zu behandeln wäre, wie Mathematiker und Philosophen sich das wohl vorzustellen pflegten – sondern es sind die verschiedenartigsten Maßbestimmungen zu verwenden, im allgemeinen an jeder Stelle

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andere; und welche es sind, hängt nun von dem Gravitationsfelde an jenem Orte ab. Darin liegt nicht die geringste Denkschwierigkeit, denn wir haben uns ja oben ausführlich davon überzeugt, daß es überhaupt erst die Dinge im Raum sind, die ihm eine bestimmte Struktur, eine Konstitution geben, und es ergibt sich jetzt nur – wir werden das alsbald sehen –, daß wir eben den schweren Massen bzw. ihren Gravitationsfeldern diese Rolle zuweisen müssen. Damit wird es nun ganz unmöglich, dem Raum irgendwelche Eigenschaften zuzuschreiben ohne Rücksicht auf die Dinge in ihm, und es ist nun auch in der Physik die Relativierung des Raumes so vollständig vollzogen, wie wir sie oben aus allgemeineren Betrachtungen heraus als das einzig Natürliche erkannten. Der Raum und die Zeit sind für sich niemals Gegenstände der Messung; sie bilden zusammen nur ein vierdimensionales Schema, in welches wir mit Hilfe unserer Beobachtungen und Messungen die physikalischen Objekte und Prozesse einordnen. Wir wählen das Schema so (und wir können es, da es sich um ein Abstraktionsgebilde handelt), daß das auf diese | Weise entstehende ­System der Physik einen möglichst einfachen Bau erhält. Wie findet denn nun diese Einordnung statt? Was beobachten und messen wir eigentlich? Man sieht leicht ein, daß die Möglichkeit alles exakten Beobachtens darauf beruht, identisch dieselben physischen Punkte zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ins Auge zu fassen, und daß alles Messen hinausläuft auf die Konstatierung des Zusammenfallens zweier solcher festgehaltenen Punkte am selben Ort und zur gleichen Zeit. Die Messung einer Länge geschieht, indem wir einen Einheitsmaßstab an einen Körper ­anlegen und die Koinzidenz seiner Enden mit bestimmten Punkten an dem Körper feststellen. Die Messung aller physikalischen Größen wird nun durch unsere Apparate in letzter Linie auf Längenmessung zurückgeführt. Die Einstellung und Ablesung aller Meßinstrumente, welcher Art sie auch sein mögen, ob sie mit Zeigern und Skalen, Winkelteilungen, Wasserwaagen, Quecksil-

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bersäulen oder was sonst arbeiten, geschieht stets durch die Beobachtung der zeiträumlichen Koinzidenz zweier oder mehrerer Punkte. Das gilt vor allem auch für alle der Zeitmessung dienenden Apparate, die bekanntlich Uhren heißen. Solche Koinzidenzen sind also streng genommen das einzige, was sich beobachten läßt, und die ganze Physik kann aufgefaßt werden als ein Inbegriff von Gesetzen, nach denen das Auftreten dieser zeiträum­ lichen Koinzidenzen stattfindet. Alles, was sich in unserm Weltbilde nicht auf derartige Koinzidenzen zurückführen läßt, entbehrt der physikalischen Gegenständlichkeit und kann ebenso gut durch etwas anderes ersetzt werden. Alle Weltbilder, die hinsichtlich der Gesetze jener Punktkoinzidenzen übereinstimmen, sind physikalisch absolut gleichwertig. Wir sahen früher, daß es überhaupt keine beobachtbare, physikalisch reale Änderung bedeutet, wenn wir uns die ganze Welt in völlig beliebiger Weise deformiert denken, falls nur die Koordinaten eines jeden physischen Punktes nach der Deformation stetige, eindeutige, im übrigen aber ganz willkürliche Funktionen seiner Koordinaten vor der Deformation sind. Bei einer derartigen Punkttransformation bleiben nun in der Tat alle räumlichen Koinzidenzen restlos bestehen, sie werden durch die Verzerrung nicht berührt, so sehr auch alle Entfernungen und Lagen durch sie geändert werden mögen. Befinden sich nämlich zwei koinzidierende – d. h. unendlich benachbarte – Punkte A und B vor der Verzerrung an einem Orte, dessen Koordinaten x1, x 2, x3 sind, und gelangt A durch die Deformation an den Ort x1', x 2', x 3', so muß, da nach Voraussetzung die x' stetige und eindeutige Funktionen der x sind, auch B nach der Verzerrung die Koordinaten x1', x 2', x3' haben, sich also in demselben Orte, d. h. in unmittelbarer Nachbarschaft von A befinden. Alle Koinzidenzen bleiben mithin bei der Deformation ungestört erhalten.52 Wir hatten früher unsere Betrachtungen der Anschaulichkeit wegen zunächst für den Raum allein durchgeführt; wir können sie jetzt dadurch verallgemeinern, daß wir uns die Zeit t als vierte Koordinate hinzugefügt denken. Besser noch wählen wir

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als vierte Koordinate das Produkt ct = x4, worin c die Lichtgeschwindigkeit bedeutet. Das sind Festsetzungen, welche die mathematische Formulierung und Rechnung erleichtern und also zunächst rein formale Bedeutung haben. Es wäre mithin verkehrt, an die Einführung der vierdimensionalen Betrachtungsweise irgendwelche metaphysischen Spekulationen knüpfen zu wollen. Auch unabhängig von der mathematischen Formulierung kann man den Nutzen einsehen, den die Auffassung der Zeit als vierte Koordinate mit sich bringt, und die innere Berechtigung dieser Darstellungsart erkennen. Denken wir uns, um dies zu verdeutlichen, ein Punkt bewege sich irgendwie in einer Ebene, die wir als x1-x 2-Ebene wählen; er beschreibt also in ihr irgend eine Kurve. Zeichnen wir diese Kurve auf, so können wir aus ihrer Betrachtung wohl die Gestalt seiner Bahn entnehmen, nicht aber die übrigen Daten der Bewegung ablesen, etwa die Geschwindigkeit, die er an verschiedenen Orten seiner Bahn hat, und die Zeit, zu welcher er sich an diesen Orten befindet. Nehmen wir aber die Zeit als dritte Koordinate x4 hinzu, so wird dieselbe Bewegung durch eine dreidimensionale Kurve dargestellt, deren Gestalt restlos über den Charakter der Bewegung Aufschluß gibt, denn man kann an ihr unmittelbar erkennen, welches x4 zu irgendeinem Ort x1 x 2 der Bahn gehört, und auch die Geschwindigkeit läßt sich jeweils aus der Neigung der Kurve gegen die x1-x 2-Ebene ablesen. Wir nennen die Kurve mit Minkowski passend die Weltlinie des Punktes.53 Eine Kreisbewegung in der x1-x 2-Ebene würde z. B. durch eine schraubenförmige Weltlinie in der x1-x 2-x4-Mannigfaltigkeit wiedergegeben. Die Bahnkurve des Punktes drückt gleichsam willkürlich nur eine Seite seiner Bewegung aus, nämlich die Projektion der dreidimensionalen Weltlinie auf die x 1-x 2-Ebene. Findet nun die Bewegung des Punktes selbst schon im dreidimensionalen Raume statt, so erhält man als seine Weltlinie eine Kurve in der vierdimensionalen Mannigfaltigkeit der x1-x 2-x3-x4-, und an dieser Linie kann man sämtliche Eigenschaften der Bewegung des Punktes äußerst be-

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quem studieren. Die Bahnkurve des Punktes im Raume ist die Projektion der Weltlinie auf die Mannigfaltigkeit der x1, x 2, x 3, sie stellt also willkürlich und einseitig nur einige Eigenschaften der Bewegung dar, während die Weltlinie sie alle vollständig zum Ausdruck bringt. Die in bezug auf die allgemeine Relativität des Raumes angestellten Überlegungen lassen sich ohne weiteres übertragen auf die vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit; sie bleiben auch hier richtig, denn durch die Vermehrung der Zahl der Koordinaten um eine wird ja im Prinzip nichts geändert. In dieser Mannigfaltigkeit der x1, x 2, x 3, x4 stellt nun das System aller Weltlinien den zeit | lichen Verlauf aller Vorgänge des Universums dar. Während eine Punkttransformation im Raume allein eine Deformation des Universums darstellte, also eine Lageänderung und Verzerrung der Körper, bedeutet eine Punkttransformation im vierdimensionalen Universum zugleich auch eine Änderung des Bewegungszustandes der dreidimensionalen Körperwelt, denn die Zeitkoordinate wird ja von der Transformation mit betroffen. Die für die vierdimensionalen Gestalten erhaltenen Resultate kann man sich stets wieder anschaulich machen, indem man sie als Bewegungen dreidimensionaler Gebilde auffaßt. Denken wir uns eine derartige durchgehende Veränderung im Universum vorgenommen, welche jeden physischen Punkt so an einen andern Raum-Zeit-Punkt bringt, daß seine neuen Koordinaten x1', x 2', x3', x4' ganz beliebige (nur stetige und eindeutige) Funktionen seiner vorigen Koordinaten x1, x 2, x 3, x4 sind, so ist wiederum die neue Welt von der alten physikalisch überhaupt gar nicht verschieden, die ganze Änderung ist weiter nichts als eine Transformation auf andere Koordinaten. Denn das durch unsere Apparate allein Beobachtbare, die raum-zeitlichen Koinzidenzen, bleibt ja erhalten. Zwei Punkte, die in dem einen Universum in dem Weltpunkt x1, x 2, x3, x4 zusammenfielen, koinzidieren im andern in dem Weltpunkt x1', x 2', x3', x4'; ihr Zusammenfallen – und weiter läßt sich ja nichts beobachten – findet in der zweiten Welt genau so gut statt, wie in der ersten.

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Der Wunsch, in den Ausdruck der Naturgesetze nur physikalisch Beobachtbares aufzunehmen, führt mithin zu der Forderung, daß die Gleichungen der Physik ihre Form bei jener ganz beliebigen Transformation nicht ändern, daß sie also für beliebige Raum-Zeit-Koordinatensysteme gelten, mithin, mathematisch ausgedrückt, allen Substitutionen gegenüber »kovariant« sind. Diese Forderung enthält unser allgemeines Relativitätspostulat in sich, denn zu allen Substitutionen gehören natürlich auch die, welche Transformationen auf gänzlich beliebig bewegte dreidimensionale Koordinatensysteme darstellen – sie geht aber noch darüber hinaus, indem sie auch noch innerhalb dieser Koordinatensysteme die Relativität des Raumes in jenem allgemeinsten Sinne bestehen läßt, den wir so ausführlich besprochen haben. Auf diese Weise wird in der Tat, wie Einstein es ausdrückt, dem Raum und der Zeit »der letzte Rest physikalischer Gegenständlichkeit«54 genommen. Wie oben erläutert, können wir die Lage eines Punktes in der Weise bestimmen, daß wir uns im Raume drei Scharen von Flächen gelegt denken, jeder Fläche innerhalb ihrer Schar eine bestimmte Zahl – einen Parameterwert – zuordnen und die Zahlen derjenigen drei Flächen, die sich in dem Punkte schneiden, als seine Koordinaten benutzen. Zwischen den so bestimmten (Gaußschen) Koordinaten bestehen dann im allgemeinen natürlich nicht die Beziehungen, welche für die gewöhnlichen Cartesischen Koordinaten der Euklidischen Geometrie gelten. Die Cartesische x-Koordinate eines Punktes stellt man z. B. in der Weise fest, daß man auf der x-Achse von ihrem Anfang bis zur Projektion des Punktes auf die Achse einen starren Einheitsmaßstab abträgt; dann gibt die Zahl der nötigen Abtragungen den Wert der Koordinate. Bei den neuen Koordinaten ist das anders, denn der Wert eines Parameters ist dort nicht so ohne weiteres durch eine Anzahl von Abtragungen gegeben. Die x1, x 2, x 3, x4 der vierdimensionalen Welt müssen wir nun auch als Parameter ansehen, deren jeder einer Schar dreidimensionaler Mannigfaltigkeiten entspricht; von vier solchen Scharen ist das Raum-

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Zeit-Kontinuum durchzogen, und in jedem Weltpunkt schneiden sich vier dreidimensionale Kontinua, deren Parameter dann eben seine Koordinaten sind. Wenn man nun bedenkt, daß prinzipiell eine ganz beliebige Einteilung des Kontinuums durch Flächenscharen zur Festlegung der Koordinaten soll dienen können – es sollen ja die physikalischen Gesetze beliebigen Transformationen gegenüber invariant sein –, so scheint zunächst jeder feste Halt und alle Orientierung verloren zu sein. Man sieht auf den ersten Blick nicht, wie überhaupt noch Messungen möglich sind, wie man überhaupt dazu kommen kann, den neuen Koordinaten noch bestimmte Zahlenwerte beizulegen, selbst wenn diese keine unmittelbaren Meßresultate mehr sind. Ein Vergleichen von Maßstäben, ein Beobachten von Koinzidenzen wird, wie wir sahen, erst dadurch zu einer Messung, daß wir irgendeine Idee zugrunde legen, irgendeine physikalische Voraussetzung machen, oder vielmehr Festsetzung treffen, deren Wahl streng genommen in letzter Linie stets willkürlich bleibt, wenn sie uns auch durch die Erfahrung als die einfachste so nahe gelegt wird, daß wir praktisch nicht schwanken. Es ist also hier nötig, eine Festsetzung zu treffen, und wir gelangen zu ihr durch eine Art Kontinuitätsprinzip auf folgende Weise. In der üblichen Physik pflegte man ohne weiteres anzunehmen, daß man von starren Maßstäben sprechen und sie mit gewisser Annäherung realisieren könne, deren Länge an jedem beliebigen Orte, in jeder Lage und Geschwindigkeit als ein und dieselbe Größe betrachtet werden darf. Schon durch die spezielle Relativitätstheorie wurde diese Annahme in gewisser Hinsicht eingeschränkt; nach ihr ist eine Stablänge im allgemeinen von der Geschwindigkeit seiner Bewegung relativ zum Beobachter abhängig, und das gleiche gilt von den Angaben einer Uhr. Die Vermittelung mit der alten Physik und gleichsam der kontinuierliche Übergang zu ihr ist nun dadurch hergestellt, daß die Änderungen der Längen- und Zeitangaben unmerklich klein werden, wenn die Geschwindigkeit nicht groß ist; für kleine Geschwindigkeiten (verglichen mit der des Lichtes) kann man also

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die Annahmen der alten Theorie als zulässig betrach|ten. In der Tat gelangt die spezielle Relativitätstheorie zu ihren Gleichungen, indem sie sie so einrichtet, daß sie für geringe Geschwindigkeiten in die Gleichungen der gewöhnlichen Physik übergehen. In der allgemeinen Theorie ist nun die Relativität der Längen und Zeiten eine noch viel weitergehende; eine Stablänge wird in ihr z. B. auch vom Ort und von der Orientierung abhängen können. Um nun überhaupt einen Ausgangspunkt, ein Δός μοι ποΰ στϖ zu gewinnen, werden wir nun natürlich die Kontinuität mit der bisher bewährten Physik aufrecht erhalten und demgemäß annehmen, daß jene Relativität für ganz minimale Änderungen verschwindet. Wir werden also die Länge eines Stabes so lange als konstant betrachten, als sein Ort, seine Orientierung und seine Geschwindigkeit nur um ein geringes sich ändert – m. a. W., wir setzen fest, daß in unendlich kleinen Bereichen und in einem solchen Bezugssystem, in welchem die betrachteten Körper keine Beschleunigung besitzen, die spezielle Relativitätstheorie gilt. Da die spezielle Theorie sich der Euklidischen Maßbestimmungen bedient, so liegt darin die Annahme eingeschlossen, daß in bezug auf die gekennzeichneten Systeme die Euklidische Geometrie im unendlich Kleinen gültig bleiben soll. (Ein solcher »unendlich kleiner« Bereich kann immer noch groß sein im Vergleich mit den Dimensionen, die sonst für die Physik in Betracht kommen.) Die Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie müssen für den angegebenen Spezialfall in diejenigen der speziellen Theorie übergehen. Damit ist nun eine Idee zugrunde gelegt, welche Messung ermöglicht, und wir haben die Voraussetzungen überschaut, von denen man zur Lösung der im allgemeinen Relativitätspostulat gestellten Aufgabe gelangen kann.

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VII.  Aufstellung und Bedeutung des Grundgesetzes der neuen Theorie Gemäß den letzten Bemerkungen begeben wir uns ins unendlich Kleine und wählen dort ein dreidimensionales Euklidisches Koordinatensystem so, daß die zu betrachtenden Körper in bezug auf dieses keine merklichen Beschleunigungen besitzen. Diese Wahl kommt dann der Einführung eines bestimmten vierdimensionalen Koordinatensystems für das betreffende Gebiet gleich. Wir fassen nun in diesem Gebiet irgendein Punktereignis ins Auge, also einen Weltpunkt A des Raum-Zeit-Kontinuums, dessen Koordinaten in unserm lokalen System X1, X 2, X3, X4 sein mögen, wo nun X1, X 2, X3 in der gewohnten Weise durch wiederholtes Anlegen eines kleinen Einheitsmaßstabes gemessen werden, und der Wert von X4 durch Uhrenablesung bestimmt wird. Ein zeiträumlich unendlich benachbartes Punktereignis möge durch den Weltpunkt B repräsentiert werden, dessen Koordinaten sich von denen des Punktes A um die Werte dX1, dX 2, dX3, dX 4 unterscheiden. Der »Abstand« der beiden Weltpunkte ist dann gegeben durch die bekannte einfache Formel ds2 = dX12 + dX 22 + dX32 – dX42. Dieser »Abstand«, das Linienelement der die beiden Punkte A und B verbindenden Weltlinie, ist natürlich im allgemeinen keine Raumstrecke, sondern hat, da es eine Verbindung von Raum- und Zeitgrößen ist, die physikalische Bedeutung eines Bewegungsvorganges, wie wir uns das ja bei der Einführung des Weltlinien­ begriffs klargemacht haben. Der Zahlenwert von ds ist immer derselbe, welche Orientierung auch das gewählte lokale Koordinatensystem haben möge. (Die spezielle Relativitätstheorie gibt über die Bedeutung von ds näheren Aufschluß. Ist z. B. ds2 negativ, so kann man, lehrt sie, es durch geeignete Wahl der Koordinatenrichtungen erreichen, daß ds2 = – dX42 wird, während die drei andern dX verschwinden.

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Dann besteht also zwischen den beiden Weltpunkten kein Unterschied ihrer Raumkoordinaten, die ihnen entsprechenden Ereignisse finden mithin in jenem System an demselben Orte, aber mit der Zeitdifferenz dX4 statt. Man nennt daher ds in diesem Falle »zeitartig«. Dagegen nennt man es »raumartig«, wenn ds2 positiv ist; denn in diesem Falle lassen sich die Koordinatenrichtungen so wählen, daß dX4 verschwindet, die beiden Punktereignisse finden dann also für dies System zur gleichen Zeit statt, und ds gibt ihre räumliche Entfernung an. ds = 0 endlich bedeutet eine Bewegung mit Lichtgeschwindigkeit, wie man leicht sieht, wenn man für dX4 seinen Wert c.dt einsetzt.) Jetzt führen wir irgendwelche neuen Koordinaten x1, x 2, x3, x4 ein, die ganz beliebige Funktionen der X 1, X 2, X3, X 4 sein mögen; d. h. wir gehen von unserm lokalen System nunmehr zu einem beliebigen andern über. Dem »Abstand« der Punkte A und B entsprechen in diesem neuen Systeme gewisse Koordinatendifferenzen dx1, dx 2, dx 3, dx4, und die alten Koordinatendifferenzen dX lassen sich durch die neuen dx mit Hilfe elementarer Formeln der Differentialrechnung ausdrücken3). Setzt man die so erhaltenen Ausdrücke der dX in die obige Formel für das Linienelement ein, so erhält man den Wert desselben in den neuen Koordinaten ausgedrückt in der Gestalt: ds2 = g11dx12 + g22dx 22 + g33dx32 + g44dX42 + 2g12dx1dx 2+ 2g13dx1dx3 + …, also eine Summe von 10 Gliedern, in der die 10 Größen g gewisse Funktionen der Koordinaten x | sind4). Sie hängen nicht von der ∂ X ∂ X ∂ X ∂ X 3)  Es ist nämlich dX 1 = ∂ x 1  dx 1 + ∂ x 1  dx 2 + ∂ x 1  dx 3 + ∂ x 1  dx 4, 1 2 3 4 ∂   X2 ∂   X2 ∂   X2 ∂   X2 dX 2 =  dx +  dx +  dx +  dx usw. ∂ x1 1 ∂ x 2 2 ∂ x 3 3 ∂ x4 4 4)  Es bedeutet nämlich, wie man durch Ausführung der beschriebenen Operationen leicht findet, g 11 = ( ∂ X 1  )2 + ( ∂ X 2 )2 + ( ∂ X3  )2 – ( ∂ X4 )2, ∂ x1 ∂ x1 ∂ x1 ∂ x1 ∂   X 1 ∂ X 1 ∂ X 2 ∂ X 2 ∂ X3 ∂ X3 ∂ X 4 ∂ X 4 g12 =      +    +    –    usw. ∂ x1 ∂ x 2 ∂ x1 ∂ x 2 ∂ x1 ∂ x 2 ∂ x1 ∂ x 2

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besonderen Wahl des lokalen Systems ab, denn der Wert von ds2 war ja selber davon unabhängig. Als Riemann und Helmholtz die dreidimensionalen nichtEuklidischen Mannigfaltigkeiten untersuchten, sprachen sie von den im obigen Ausdruck für das Linienelement auftretenden Faktoren g als rein geometrischen Größen, durch welche die Maßeigenschaften des Raumes bestimmt würden. Sie wußten aber wohl, daß man von Messen und vom Raume ohne physikalische Voraussetzungen nicht gut reden kann. Helmholtz’ Worte haben wir oben bereits zitiert; hier sei nur noch auf die Ausführungen von Riemann am Schlusse seiner Habilitationsschrift hingewiesen (Werke S.  26855). Er sagt dort, bei einer stetigen Mannigfaltigkeit sei das Prinzip der Maßverhältnisse nicht schon in dem Begriff dieser Mannigfaltigkeit enthalten, sondern es müsse, »anders woher hinzukommen«, es sei in »bindenden Kräften« zu suchen, d. h. der Grund der Maßverhältnisse muß physikalischer Natur sein. Wir wissen ja: Betrachtungen der metrischen Geometrie werden erst sinnvoll, wenn man die Beziehungen zur Physik nicht aus den Augen verliert. Jene g gestatten also nicht nur, sondern fordern direkt eine physikalische Interpretation. In Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie erhalten sie eine solche ohne weiteres. Um nämlich die Bedeutung der g zu erkennen, brauchen wir uns nur den physikalischen Sinn der soeben besprochenen Transformation von dem lokalen System auf das allgemeine zu vergegenwärtigen. Das erstere war dadurch definiert, daß ein sich selbst überlassener materieller Punkt sich im Raume der X1, X 2, X3 geradlinig-gleichförmig bewegen sollte; seine Weltlinie – d. h. das Gesetz seiner Bewegung – ist also eine vierdimensionale Gerade5), deren Linienelement gegeben ist durch ds2 = dX12 + dX 22 + dX32 – dX42. 5)  Ihre Gleichung, als Gleichung der kürzesten (geodätischen) Linie,

lautet: δ (∫ ds) = 0.

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Transformieren wir nun auf die neuen Koordinaten x1, x 2, x3, x4, so heißt dies: wir betrachten denselben Vorgang, dieselbe Bewegung des Punktes von irgend einem anderen System aus, in bezug auf welches das lokale sich natürlich in irgend einem Beschleunigungszustand befindet. In dem Raume der x1, x 2, x3 bewegt sich daher der Punkt krummlinig und ungleichförmig; die Gleichung seiner Weltlinie, d. h. sein Bewegungsgesetz, ändert sich insofern, als ihr Linienelement, in den neuen Koordinaten ausgedrückt, nunmehr gegeben ist durch ds2 = g11dx12 + … + g12dx1dx 2 + … Nun entsinnen wir uns des »Äquivalenzprinzips« (S.  179). Nach ihm ist die Aussage »ein sich selbst überlassener Punkt bewegt sich mit gewissen Beschleunigungen« identisch mit der Aussage »der Punkt bewegt sich unter dem Einfluß eines Gravitationsfeldes«. In den neuen Koordinaten stellt also die Gleichung der Weltlinie die Bewegung eines Punktes im Gravitationsfelde dar; die Faktoren g sind mithin die Größen, durch welche dieses Feld bestimmt ist. Sie spielen, wie man sieht, eine analoge Rolle wie das Gravitationspotential in der Newtonschen Theorie, und man kann sie daher auch als die 10 Komponenten des Gravitations­ poten­tials bezeichnen. Die Weltlinie des Punktes, die für das lokale System eine Gerade war, also die kürzeste Verbindungslinie zwischen zwei Weltpunkten, stellt in dem neuen System der x1 … x4 gleichfalls eine kürzeste Linie dar, denn die Definition der geodätischen Linie ist unabhängig vom Koordinatensystem. Streng genommen dürfen wir die Weltlinie im lokalen System nur für einen unendlich kleinen Bereich betrachten. Aber nun stützen wir uns wieder auf das Kontinuitätsprinzip und sehen die auf dem beschriebenen Wege gewonnene Bewegungsgleichung als allgemeingültig an. Damit ist dann das gesuchte Grundgesetz gefunden. Während das Trägheitsgesetz von Galilei und Newton lautete: »Ein kräftefreier Punkt bewegt sich geradlinig-gleichförmig«, lautet das Einstein-

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sche Gesetz, welches Trägheits- und Gravitationswirkungen in sich begreift: »Die Weltlinie eines materiellen Punktes ist eine geodätische Linie im Raum-Zeit-Kontinuum.« Dieses Gesetz erfüllt die Bedingung der allgemeinen Relativität, denn es ist beliebigen Transformationen gegenüber kovariant, weil die geodätische Linie unabhängig vom Bezugssystem definiert ist. Noch einmal sei hervorgehoben, daß die Koordinaten x1 … x4 Zahlenwerte sind, welche Ort und Zeit bestimmen, nicht aber die Bedeutung von auf gewöhnlichem Wege meßbaren Strecken und Zeiten haben. Das »Linienelement« ds dagegen hat unmittelbar physikalischen Sinn und läßt sich direkt durch Maßstäbe und Uhren ermitteln. Es ist ja definitionsgemäß vom Koordinatensystem unabhängig; wir brauchen uns also nur in das lokale System der X1 … X4 zu begeben, und der darin für ds ermittelte Wert gilt dann allgemein. Damit sind diejenigen Schritte vollzogen, die von allgemeiner erkenntnistheoretischer Bedeutung und für die Auffassung von Raum und Zeit in der neuen Lehre grundlegend sind, und die uns hier interessieren. Für Einstein waren sie nur die Vorbereitung zu der physikalischen Aufgabe, | die Größen g nun wirklich zu ermitteln, d. h. ihre Abhängigkeit von der Verteilung und Bewegung der gravitierenden Massen aufzufinden. Gemäß dem Kontinuitätsprinzip schließt sich Einstein dabei wieder an die Ergebnisse der speziellen Relativitätstheorie an. Diese hatte gelehrt, daß nicht nur der Materie im üblichen Sinne, sondern jeder Energie schwere Masse zugeschrieben werden muß, daß die träge Masse überhaupt mit Energie identisch ist.56 Also nicht die »Massen«, sondern die Energien6) mußten in den Differen­ tial­g leichun­gen für die g figurieren.57 Die Gleichungen müssen natür­lich beliebigen Substitutionen gegenüber kovariant sein. Außer diesen Ansätzen, die vom Standpunkt der Theorie sich 6)  Sie werden in der speziellen Relativitätstheorie durch die Kompo-

nenten eines vierdimensionalen »Tensors«, des Impuls-Energie-Tensors, dargestellt.

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eigent­lich von selbst verstehen, macht Einstein bloß noch die Annahme, daß die Differentialgleichungen von zweiter Ordnung seien; hierbei diente als Fingerzeig der Umstand, daß das alte Newtonsche Potential einer ebensolchen Differentialgleichung genügt. Auf diesem Wege wird man zu ganz bestimmten Gleichungen für die g geführt, und mit ihrer Aufstellung ist das Problem gelöst. Man sieht also: von jener letzterwähnten rein formalen Analogie abgesehen, erhebt die gesamte Theorie sich auf Grundlagen, die mit der alten Newtonschen Gravitationslehre nicht das geringste zu tun haben; sie wird vielmehr ganz allein aus dem Postulat der allgemeinen Relativität und den bekannten Ergebnissen der (durch das spezielle Relativitätsprinzip geformten) Physik entwickelt. Um so überraschender ist es, daß nun jene auf so ganz anderem Wege erhaltenen Gleichungen tatsächlich in erster Näherung die Newtonsche Formel für die allgemeine Massenanziehung ergeben. Dies allein ist schon eine so vortreffliche Bestätigung der Gedankengänge, daß sie das allerhöchste Vertrauen zu ihrer Richtigkeit erwecken muß. Aber bekanntlich geht die Leistung der neuen Theorie noch weiter: verfolgt man nämlich die Gleichungen bis zur zweiten Näherung, so geben sie ganz von selbst, ohne irgendwelche Hilfsannahmen, die restlose, quantitativ genaue Erklärung der Anomalie der Perihelbewegung des Merkur, einer Erscheinung, welcher die Newtonsche Theorie nur mit Hilfe ad hoc eingeführter Hypothesen ziemlich willkürlicher Natur gerecht werden konnte.58 Das sind erstaunliche Erfolge, deren Tragweite nicht leicht überschätzt werden kann, und jeder wird gerne zugeben, daß Einstein vollständig recht hat, wenn er (am Schluß des § 14 seiner Schrift »Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie« sagt: »Daß diese aus der Forderung der allgemeinen Relativität auf rein mathematischem Wege fließenden Gleichungen … in erster Näherung das Newtonsche Attraktionsgesetz, in zweiter Näherung die Erklärung der von Leverrier entdeckten … Perihelbewegung des Merkur liefern, muß nach meiner Ansicht von der physikalischen Richtigkeit der Theorie überzeugen.«59

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Das neue Grundgesetz hat vor der Newtonschen Attraktionsformel ferner den Vorzug, daß es ein Differentialgesetz ist, d. h. nach ihm hängen die Vorgänge in einem Raum- und Zeitpunkt unmittelbar nur ab von den Vorgängen der unendlich benachbarten Punkte, während in der Newtonschen Formel die Gravitation ja als eine Fernkraft auftritt. Es bedeutet entschieden eine beträchtliche Vereinfachung des Weltbildes und folglich einen erkenntnistheoretischen Fortschritt, wenn nunmehr mit der Gravitation die letzte Fernwirkung aus der Physik verbannt und alle Gesetze des Geschehens allein durch Differentialgleichungen ausgedrückt werden. Natürlich müssen auch alle andern Naturgesetze eine Formulierung erhalten, die gegenüber beliebigen Transformationen invariant ist. Der Weg dazu ist durch die spezielle Relativitätstheorie und das Kontinuitätsprinzip vorgezeichnet und auch von Einstein und andern bereits beschritten worden. Vor allem kommt hier die Elektrodynamik in Betracht, von der zu hoffen ist, daß sie im Verein mit der Gravitationstheorie zum Aufbau eines lückenlosen Systems der Physik hinreichend sein wird. Auch für die Hydrodynamik hat Einstein bereits die Aufgabe gelöst, ihre Gesetze in einer Form darzustellen, in welcher sie dem allgemeinen Relativitätspostulat genügen.60 Außer der vorhin erwähnten astronomischen Bestätigung gibt es noch andere Möglichkeiten einer Prüfung der Theorie durch die Beobachtung, denn es muß nach ihr in sehr starken Gravitationsfeldern eine immerhin wohl merkliche Verlängerung der Schwingungsdauer des Lichtes und eine Krümmung der Lichtstrahlen stattfinden (letztere sind die geodätischen Linien ds = 0). Die Astronomen hegen begründete Hoffnung, daß beides sich bei höchster Verfeinerung der Beobachtungsmethoden wird feststellen lassen. Die schon vorliegenden und die Möglichkeit neuer Bestätigungen zeigen, wie fest die ganze scheinbar so abstrakte Theorie in der Erfahrung und den Tatsachen verankert ist. Darin liegt ein wertvoller Beweis der Richtigkeit ihres physikalischen Gehaltes und der Wahrheit ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen.

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Die Behauptung der allgemeinen Relativität aller Bewegungen und Beschleunigungen ist gleichbedeutend mit der Behauptung der physikalischen Gegenstandslosigkeit von Raum und Zeit. Mit dem einen wird auch das andere verbürgt. Raum und Zeit7) sind nichts für sich Meßbares, sie bilden nur ein Ordnungsschema, in welches wir die physikalischen Vorgänge ein | ordnen. Wir können es im Prinzip beliebig wählen, richten es aber so ein, daß es sich den Vorgängen möglichst anschmiegt (so daß z. B. die »geodätischen Linien« des Ordnungssystems eine physikalisch besonders ausgezeichnete Rolle spielen), dann erhalten wir für die Naturgesetze die einfachste Formulierung. Eine Ordnung ist nichts Selbständiges, sie hat Realität nur an den geordneten Dingen. Hatte Minkowski als Ergebnis der speziellen Relativitätstheorie in prägnanter, wenn auch vielleicht nicht einwandfreier Formulierung den Satz aufgestellt, Raum und Zeit für sich sänken völlig zu Schatten herab, und nur noch eine unauflösliche Union der beiden bewahre Selbständigkeit,61 so dürfen wir auf Grund der allgemeinen Relativitätstheorie nunmehr sagen, daß auch diese Union für sich noch zum Schatten, zur Abstraktion geworden ist, und daß nur noch die Einheit von Raum, Zeit und Dingen zusammen eine selbständige Wirklichkeit besitzt.

7)  Es braucht kaum besonders hervorgehoben zu werden, daß hier

von Raum und Zeit allein in dem objektiven Sinne die Rede ist, in dem diese Begriffe in der Naturwissenschaft auftreten: das subjective psychologische Erlebnis räumlicher und zeitlicher Ausdehnung ist etwas gänzlich davon Verschiedenes.

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1.3  Einsteins Relativitätstheorie und ihre letzte Bestätigung Der menschliche Geist vollbringt seine größten Entdeckertaten nicht selten durch eine Überwindung alteingewurzelter Vorurteile. Sätze, an deren Richtigkeit bis dahin niemand zweifelte, werden vom Genie als falsch erkannt und durch umfassende Wahrheiten ersetzt, die den früheren Irrtum zugleich erklären und überwinden. So befreite Kopernikus die Menschheit für immer von dem Glauben an die ausgezeichnete Stellung der Erde im Weltall, und so hat in unsern Tagen Albert Einstein Newtons Lehre vom absoluten Raum und von der absoluten Zeit endgültig gestürzt und mit unerhörter Kühnheit und Kraft des Denkens ein neues Weltbild geschaffen, in welchem die Begriffe von Raum und Zeit eine ganz andere Bedeutung haben als bei Newton, und in der zugleich das Wesen der Gravitation, der Schwerkraft, endlich ergründet erscheint. Um einen Begriff von der Art und Tragweite der umwälzenden Ideen Einsteins zu bekommen, stellen wir drei ganz einfache Fragen. 1. Was bedeutet es, wenn man sagt, zwei an verschiedenen Orten stattfindende Ereignisse seien gleichzeitig? Der Laie glaubt es ohne weiteres zu wissen, und auch der Physiker glaubte bis dahin, es bedürfe keiner Erläuterung und sei ohne Definition klar. Aber Einstein zeigte, daß dieser Glaube auf einem Vorurteil beruht: in der Tat ist der Begriff der Gleichzeitigkeit an verschiedenen Orten nicht etwas in demselben Sinne unmittelbar in der Erfahrung Aufweisbares wie Gleichzeitigkeit an demselben Orte. Er zeigte ferner, daß die Methoden, die uns zur Feststellung des zeitlichen Zusammenfallens oder Auseinanderfallens ferner Ereignisse zu Gebote stehen, zu verschiedenen Ergebnissen führen müssen je nach dem Bewegungszustand des Beobachters. Wenn z. B. ein Beobachter zwei Lichtblitze auf verschiedenen Weltkörpern wahrgenommen hat und (unter Berücksichtigung der Entfernungen und der Lichtgeschwindigkeit) schließt,

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daß sie tatsächlich zu gleicher Zeit stattfanden, so wird ein anderer, gegen den ersten bewegter Beobachter durch Anwendung desselben Schlußverfahrens zu dem Urteil geführt, daß dieselben Ereignisse nicht gleichzeitig waren. Wer hat nun recht? Eine Entscheidung ließe sich nur fällen, wenn es eine absolute Bewegung gäbe, so daß man von einem Beurteiler sagen könnte, er allein ruhe, während die übrigen sich bewegen. Aber eine Entscheidung ist unmöglich, denn die Erfahrung lehrt, daß es keine »absolute« Bewegung gibt, wenigstens zunächst keine geradlinig-gleichförmige; alle Experimente, die auf den Nachweis einer solchen Bewegung hinausliefen, sind mißlungen.62 Von mehreren gerad­liniggleichförmigen zueinander bewegten Beobachtern kann sich also jeder mit gleichem Recht als ruhend betrachten, keiner ist vor dem andern ausgezeichnet; jeder hat daher auch gleich recht mit seinem Urteil über die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse; dieser Begriff ist also ebenso nur relativ, wie derjenige der Bewegung. Weiterverfolgung dieser Gedanken führt zu dem Resultat, daß auch die Begriffe der Dauer eines Ereignisses und der Länge einer Strecke relativ sind.63 Wenn also zwei (geradlinig-gleichförmig) zueinander bewegte Beobachter einen und denselben Körper messen, so finden sie für seine Dimension in der Bewegungsrichtung verschiedene Werte, und jeder dieser Werte darf mit demselben Recht als die »wahre« Länge des Körpers bezeichnet werden. 2. Nachdem festgestellt ist, daß es keinen erfahrungsmäßigen Sinn hat, von absoluter geradlinig-gleichförmiger Bewegung zu sprechen, fragen wir: Gibt es absolute beschleunigte und Rotationsbewegungen? Die klassische Mechanik von Galilei und Newton antwortete hierauf unbedenklich mit Ja. Denn die Rotation eines Körpers z. B. kann man stets an den auftretenden Fliehkräften erkennen, und diese müßten sich, so meinte man, auch zeigen, wenn ein Körper ganz allein im Weltraum rotierte, also in absoluter Drehung sich befände. Ist dies letztere aber richtig? Einen Körper allein im Weltraum nehmen wir niemals wahr; wir kennen tatsächlich nur relative Drehungen, z. B. gegen die Erde oder höchstens

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gegen das System der Fixsterne, und wir wissen nicht von vornherein, ob Fliehkräfte auch an dem Körper auftreten würden, wenn die Fixsterne nicht da wären; wir können sie ja nicht wegnehmen. Es wäre also denkbar, daß das Erscheinen jener Zentrifugalkräfte eine Wirkung des Fixsternsystems wären. Welche Wirkungen aber gehen von den Fixsternen aus? Wir kennen (­außer ihrem Leuchten) nur die allgemeine Massenanziehung, die Schwere oder Gravitation. Gibt es in der Natur einen Hinweis darauf, daß die Gravitation wirklich am Auftreten der Fliehkräfte schuld ist? In der Tat, | sagt Einstein, besitzen wir sogar einen sehr deutlichen Hinweis: das ist die Tatsache, daß bei jedem Körper der für die Fliehkräfte und sonstigen Trägheitswirkungen maßgebende Faktor identisch ist mit dem für seine Schwere charakteristischen Faktor: das ist nämlich die Masse. Träge und schwere Masse sind eins. Dies gibt Einstein das Recht zu behaupten: auch Rotationen und andere beschleunigte Bewegungen sind ganz und gar relativ.64 Auf Grund dieses Satzes entwickelt er eine ganz neue, wundersame Mechanik; die klassische Mechanik ist nicht mehr streng richtig, sondern erscheint nur als ein in vielen Fällen mit großer Annäherung gültiger Spezialfall der allgemeinen Einsteinschen Dynamik. 3. Wie kann man die Gleichheit der Dimensionen zweier an verschiedenen Orten befindlicher Körper feststellen? z. B. die Länge zweier Stäbe? Offenbar z. B. so, daß man die Länge der Stäbe mit der ­eines Maßstabes vergleicht, den man zuerst an den einen, dann an den andern Körper anlegt. Dabei wird angenommen, daß der Maßstab seine Länge während des Transports nicht ändert. Wie aber kann man sich überzeugen, daß dies zutrifft? Wollte man es durch Ausmessen mit einem neuen Maßstab tun, so müßte dieselbe Frage in bezug auf diesen gestellt werden, usf. Optische Methoden der Messung unterliegen, wie man sich leicht klar macht, im Prinzip ganz ähnlichen Zweifeln. Man sieht, daß die Möglichkeit der Längenvergleichung auf gewissen Voraussetzungen über die Starrheit unserer Maßstäbe ruht, die nicht beweisbar und nicht schlecht-

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hin selbstverständlich sind; und da der Geometrie in allen ihren Anwendungen auf die Wirklichkeit nur solche Meßerfahrungen zugrunde liegen, so erkennt man, daß Physik und Geometrie unauflöslich miteinander verwoben sind, und man kann sich denken, daß physikalische Erfahrungen uns unter Umständen sogar dazu veranlassen könnten, die Regeln der üblichen (Euklidischen) Geometrie zu verlassen, die wir alle in der Schule gelernt haben (also z. B. den Satz aufzugeben, daß die Winkelsumme im Dreieck zwei Rechte beträgt), und an ihre Stelle nichteuklidische Maßbestimmungen zu setzen: eine Möglichkeit, die von den großen Mathematikern des vorigen Jahrhunderts bereits vorausgesehen wurde. Dadurch käme eine neue Art von Relativität, diejenige aller räumlichen Bestimmungen, in das Weltbild hinein. Einstein zeigte, daß dieser Fall wirklich eingetreten ist: seine Physik bedient sich nicht mehr der euklidischen Geometrie.65 – So ungefähr sehen die Grundgedanken aus, auf denen die Relativitätstheorie sich aufbaut. Manchem mögen sie auf den ersten Blick den Eindruck spitzfindiger theoretischer Klügeleien machen; aber es ist gerade ein größtes Verdienst Einsteins, daß er sie in ihrer gewaltigen realen Bedeutung für die Naturwissenschaft erfaßte und sie zu einem widerspruchslosen System der Physik zusammenschmolz, das auf ganz konkrete Fragen Antwort gibt und an der Erfahrung prüfbare Voraussagungen zu machen gestattet. So wies der Schöpfer der Theorie nach, daß sie mit der größten Leichtigkeit genaue Rechenschaft gibt von einer Unregelmäßigkeit der Bewegung des Planeten Merkur, welche den Astronomen bis dahin rätselhaft war.66 Er hat ferner eine Verschiebung der Spektrallinien vorausgesagt, die sich in den Spektren großer Sterne finden muß, und deren Vorhandensein durch neuere Beobachtungen tatsächlich festgestellt erscheint.67 Endlich hat er berechnet, daß Lichtstrahlen, die auf ­ihrem Wege an der Sonne vorbeistreichen, durch deren Gravitationswirkung aus ihrer gradlinigen Bahn etwas abgelenkt werden müssen. Dies müßte unbedingt zur Folge haben, daß Fixsterne, die von der Erde aus gesehen nahe dem Sonnenrande stehen, eine

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scheinbare kleine Ortsveränderung zeigen. Da solche Sterne unserm Auge und der photographischen Platte nur bei verfinsterter Sonne sichtbar werden, so mußte man eine totale Sonnenfinsternis abwarten, um diese Folgerung der Relativitätstheorie prüfen zu können. Die letzte totale Finsternis fand nun statt am 29. Mai 1919, und die Engländer haben zwei Expeditionen zu ihrer Beobachtung ausgerüstet, die keine andere Aufgabe hatten als die Feststellung, ob der »Einsteineffekt« wirklich vorhanden sei oder nicht. Die eine ging nach Principe an der Westküste von Afrika, die andere nach Sobral in Nordbrasilien, und sie brachten von dort eine Reihe von Aufnahmen der die Sonne scheinbar umgebenden Sterne mit. Als die mühsame Ausmessung der Platten beendet war, wurde das Resultat am 6. November in einer gemeinsamen Sitzung der Royal Society und der Royal Astronomical Society vorgelegt.68 Es lautet: es findet tatsächlich eine scheinbare Verschiebung der Sterne statt, und ihr Betrag ist genau von der von Einstein vorausberechneten Größe! Die folgende Tabelle, die einem Bericht der Zeitschrift »Engineering« über jene denkwürdige Sitzung entnommen ist, zeigt die vortreffliche Übereinstimmung zwischen Berechnung und Beobachtung.69 Die Verschiebung ist in Bogensekunden angegeben, und zwar ist nach | astronomischem Brauche ihre dem Himmelsäquator parallele Komponente als Änderung der »Rektaszension«, die dazu senkrechte Komponente entsprechend als »Deklination« bezeichnet. Nr. des Sterns

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Verschiebung in Rektaszension beob. −0,19 −0,29 −0,11 −0,20 −0,10 −0,08 +0,95

berechn. −0,22 −0,31 −0,10 −0,12 +0,04 +0,09 +0,85

Verschiebung in Deklination beob. +0,16 −0,46 +0,83 +1,00 +0,57 +0,35 −0,27

berechn. +0,02 −0,43 +0,74 +0,87 +0,40 +0,32 −0,09

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Die angesichts der Schwierigkeit der Beobachtungen ganz vortreffliche Übereinstimmung ist wohl der beste Beweis dafür, daß die gefundenen Verschiebungen wirklich dem Einsteineffekt zu verdanken sind, und nicht etwa irgendwelchen anderen Ursachen. Kein Zweifel mehr: die allgemeine Relativitätstheorie ist glänzend bestätigt; einer der größten Triumphe des menschlichen Geistes ist errungen. Mit Recht wird heute Albert Einstein, das jüngste Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften, in der ganzen Welt als ein neuer Newton gepriesen.70 Die durch sein Genie vollbrachte Umwandlung fundamentalster Begriffe (Raum, Zeit, Materie) hat in der Geschichte der Wissenschaften nicht ihresgleichen.71

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1.4  Einsteins Relativitätstheorie Wir denken uns zurückversetzt in die dämmernde Frühzeit der Wissenschaft, als der Mensch über den Bau des Alls nachzusinnen begann. Damals galt den meisten Völkern die Erde als eine feste Scheibe, deren flache nach oben gewandte Seite die Wohnstätte der Menschen bildete. Was hieß das: nach »oben« gewandt? Nun, das ließ sich nicht weiter angeben, denn »oben« galt eben als ein absoluter Begriff, die Richtung nach oben oder nach unten betrachtete man als eine besondere, im Raum schlechthin festliegende Richtung; und die Tatsache, dass alle schweren Gegenstände nach »unten« fallen, legte man sich so zurecht, dass man erklärte, »unten« sei der »natürliche« Ort der Dinge, nach dem sie strebten. Es ist uns heute schon schwer, uns in diese Anschauung hineinzudenken, und so vermögen wir kaum die ganze Wucht des Gedankens jenes kühnen Geistes zu empfinden, der als erster die Lehre von der Kugelgestalt der Erde aufstellte (es soll ein Philosoph der Schule des Pythagoras gewesen sein).72 Die Richtung von oben nach unten, vom Kopf zu den Füßen, war nun nicht mehr etwas Absolutes, sondern es war die Richtung nach dem Mittelpunkt der Erde, also eine andere für verschiedene Stellen ihrer Oberfläche; der Begriff der Vertikalen war etwas Relatives geworden, war nur in bezug auf die Erde definiert. | Aber noch einen weit kühneren Erkenntnisschritt auf dem Wege zur Relativierung wichtiger Naturbegriffe bedeutete es, als der Gedanke sich Bahn brach, daß unsere Erde nicht fest und unerschütterlich in der Mitte des Weltalls ruhe. Sie sollte sich nicht nur um ihre eigene Achse drehen (auch dieser Gedanke war schon den Pythagoräern geläufig), sondern sogar in ungeheurem Schwunge den fernen Sonnenball jährlich einmal umkreisen. Bekanntlich war es die Lebensarbeit des Kopernikus, die dieser (»heliozentrischen«) Anschauung zum Siege verhalf;73 weniger bekannt aber ist, daß schon achtzehn Jahrhunderte vor Kopernikus der große alexandrinische Astronom Aristarch von

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­ amos die heliozentrische Lehre von der Bewegung des Erdballs S mit aller Klarheit verkündet hat, ohne damals mit einer so kühnen Behauptung bei seinen Fachgenossen oder gar bei der großen Menge Anklang zu finden.74 Das war im dritten vorchristlichen Jahrhundert. Aha, sagt der Geschichtskundige: also zur Zeit der Ptolemäerherrschaft in Ägypten. Wann wird die Zeit kommen, da man nicht mehr in dieser Weise die grossen Geistestaten der Menschheit als Nebenerscheinungen in den Gang der politischen Ereignisse nachträglich einreiht, sondern sie als die Marksteine ansieht, an denen alle historische Betrachtung sich zu orientieren hat? Wenn Geschichte erst so gelernt wird, dann wird ein künftiger Historiker, den man nach der Zeit des grossen Weltkrieges fragt, vielleicht die Antwort geben: der grosse Krieg? ach ja, der fand in jener Epoche statt, als Einstein die Relativitätslehre vollendete! Diese Lehre ist in der Tat etwas Gewaltiges. Sie bedeutet für unsere physikalische Weltanschauung eine Umwälzung ohne­ gleichen, einen Erkenntnisfortschritt, für den alle, die überhaupt nach Weltanschauung streben, Verständnis suchen müssen. Und sie haben alle ein Anrecht darauf, schon jetzt, nicht erst nach 1.800 Jahren, einen Hauch des Geistes zu spüren, der heute befreiend durch die Gefilde des Naturerkennens weht und die vertrocknenden Reste überwundener Weltansichten reinigend hinwegbläst. Die alten kosmologischen Errungenschaften, von ­denen ich soeben sprach – die Erkenntnisse der Kugelgestalt und der Bewegung der Erde –, sind mit den | Theorien Einsteins nicht nur äußerlich vergleichbar wegen der Weitung des Blickes, die dem Menschen durch sie zuteil ward, sondern es besteht auch eine innere Verwandtschaft. Denn Einsteins Entdeckungen liegen in derselben Richtung wie jene: sie vollenden die Relativierung grundlegender Naturbegriffe, die durch jene ersten grossen Befreiungen vom räumlich Absoluten angebahnt war.

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1.  Die spezielle Relativitätstheorie Noch Kopernikus dachte sich die Sonne in Ruhe in des Universums Mitte verharrend. Aber längst wissen wir: sie bewegt sich samt ihrer ganzen Planetenfamilie mit einer Geschwindigkeit von fast 20 Kilometer in jeder Sekunde gegen die Fixsternwelt. Wenn sich diese aber nun auch bewegt? Dann wäre die wirkliche Geschwindigkeit der Sonne im Raum doch nicht 20 Kilometer? Hat die Frage nach der »wirklichen Geschwindigkeit im Raum« überhaupt einen Sinn? Offenbar nur dann, wenn es eine »absolute« Bewegung gibt, d. h. eine Bewegung, die man definieren kann, ohne auf irgendwelche Vergleichskörper Bezug zu nehmen. Dagegen nennen wir eine Bewegung, die nur in einer Lageänderung des Bewegten im Verhältnis zu anderen Körpern besteht, relativ.75 Mein Schreibtisch ist in Ruhe relativ zur Erde, aber in heftiger Bewegung relativ zur Sonne, da ja die Erde samt meinem Zimmer die Sonne mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 Kilometer pro Sekunde umkreist. Kann man Ruhe und Bewegung voneinander unterscheiden, ohne sich auf Vergleichskörper zu beziehen? Oder gibt es Bewegung und Ruhe nur in bezug auf Körper? Bereits alltägliche Erfahrungen scheinen zu lehren, dass es zum mindesten bei einer Klasse von Bewegungen unmöglich ist, einen absoluten Sinn für sie zu finden: das sind die »geradlinig-gleichförmigen«. Denn wenn irgendein Fahrzeug (Schiff, Eisenbahnzug, Ballon) sich durchaus gleichförmig über den Boden bewegt, d. h. in gerader Linie mit unveränderlicher Geschwindigkeit fährt, so vermögen die Insassen ihre Bewegung nur am Vorübergleiten der Umgebung (Erdoberfläche, Luft) zu konstatieren, nicht aber durch irgendwelche Beobachtungen | im Innern ihres Vehikels. In einem auf völlig geraden und glatten Schienen gleichförmig rollenden Eisenbahnwagen mit verhängten Fenstern wäre es gänzlich unmöglich zu entscheiden, ob er rollt oder stillsteht; alle mit beliebigen mechanischen Apparaten angestellten Versuche (Pendelschwingungen, freier Fall usw.) fallen im bewegten Wagen nicht

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um Haaresbreite anders aus als im ruhenden. Es gilt z. B. das Trägheitsgesetz (»ein Körper, auf den keine Kräfte wirken, bewegt sich geradlinig und gleichförmig, oder ruht«) in dem fahrenden Wagen genau so gut wie im »ruhenden« Zimmer. Und wenn wir dennoch in der Eisenbahn gar wohl spüren, ob der Zug gerade hält oder in Fahrt begriffen ist, so sind daran allein die praktisch nie fehlenden Erschütterungen oder Wendungen des Wagens schuld, d. h. die Störungen der Gleichförmigkeit oder der Geradlinigkeit seiner Bewegung. Eine schlechthin erschütterungsfreie Bewegung dagegen ist die der Erde um die Sonne; von ihr können wir daher unmittelbar gar nichts merken. Als die antiken Astronomen die Behauptung der Erdbewegung wagten, müssen sie also die Einsicht besessen haben, dass sich Ruhe und Bewegung zum mindesten nicht immer voneinander unterscheiden lassen. Freilich ist die Erdbewegung nicht genau geradlinig, aber der Radius ihrer Bahn ist so gross, dass die während einer kurzen Zeit von ihr beschriebene Bahnstrecke ohne merklichen Fehler als gerade betrachtet werden kann. Die Erfahrung lehrt also folgendes. Wenn ein Körper (z. B. Eisen­bahnwagen) sich relativ zu einem zweiten (z. B. Erde) geradlinig-gleichförmig (doch mit beliebiger Geschwindigkeit) bewegt, so spielen sich alle Naturvorgänge auf dem ersten ganz genau so ab wie auf dem zweiten; die Naturgesetze sind für beide vollkommen gleichlautend. Dies ist das – von Einstein so genannte – »Spezielle Relativitätsprinzip«. Die Gültigkeit dieses Prinzips für alle mechanischen Vorgänge war bereits den Begründern der klassischen Mechanik, Galilei und Newton, wohlbekannt. Sie wussten: wenn ihre Grundgesetze der Mechanik (z. B. das Trägheitsgesetz) in bezug auf einen bestimmten Körper galten, so galten sie auch in bezug auf jeden, der sich gegen den ersten gerad | linig-gleichförmig bewegt. Betrachten wir irgendeinen Körper, für den jene Gesetze gültig sind, als »ruhend«, so dürfen wir mit genau dem gleichen Rechte jeden anderen zum ersten geradlinig-gleichförmig bewegten Körper als ruhend auffassen und dem ersten die Bewegung zu-

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schreiben, denn es gibt schlechterdings keinen Grund, den einen Körper in dieser Hinsicht dem anderen vorzuziehen. Geradliniggleichförmige Bewegungen haben eben keine »inneren« Eigenschaften, woran man sie unterscheiden könnte, sondern bestehen einzig und allein in der Ortsveränderung gegenüber anderen Körpern: sie sind relativ. Während es also längst anerkannt war, dass Ruhe und geradlinig-gleichförmige Bewegung sich durch mechanische Experimente nicht unterscheiden liessen, durfte man eine Zeitlang glauben, dies müsste mit Hilfe optischer oder elektrischer Versuche möglich sein, so dass also für die Erscheinungen des Lichtes und des Elektrizität das Relativitätsprinzip nicht gelten würde. Zu diesem Glauben musste man z. B. durch folgende Überlegung kommen. Das Licht besteht bekanntlich in elektrischen Wellen von der gleichen Art wie die, welche in der drahtlosen Telegraphie benutzt werden (nur dass die letzteren eine viel grössere Wellenlänge haben). Als Träger dieser Wellen dachte man sich einen das Weltall überall erfüllenden Stoff, den »Äther«, der die Lichtwellen fortleite, so ähnlich wie die Luft der Ausbreitung der Schallwellen dient. Wenn ein Körper sich gegen den Äther bewegte, so müsste sich dies offenbar durch optische Beobachtungen prinzipiell nachweisen lassen, denn die Lichtwellen müssten sich in bezug auf ihn anders bewegen, als wenn er ruhte; eine solche Ruhe gegen den Äther dürfte man als »absolute« bezeichnen, und jede Bewegung relativ zu ihm müsste dann »absolute Bewegung« heissen. Es schien z. B. möglich zu sein, unsere oben aufgeworfene Frage nach der »wahren Bewegung der Sonne im Raume« zu beantworten – darunter wäre eben die wahre Bewegung im Äther zu verstehen. Wir betrachten zu diesem Zweck das Sonnensystem zu einer Zeit, wo der Planet Jupiter sich ungefähr in derselben Richtung von der Sonne befindet in der die Eigen | bewegung unseres Systems erfolgt. Dann flieht der Jupiter gleichsam vor den von der Sonne ausgehenden Lichtstrahlen her, sie werden längere Zeit gebrauchen, um ihn zu erreichen, als wenn das System im Äther ruhte; ihre Fortpflanzungsgeschwin-

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digkeit relativ zum Jupiter wird also verringert sein. Nun möge sich in derselben Entfernung von der Sonne, aber auf der entgegengesetzten Seite, zur selben Zeit einer der Planetoiden befinden, z. B. Hektor, so dass also die Bewegung unseres Planetensystems ungefähr in der Richtung Hektor-Sonne stattfindet. Hektor läuft dann den Lichtstrahlen der Sonne entgegen, sie legen mithin den Weg von ihr zu ihm in kürzerer Zeit zurück, ihre Geschwindigkeit relativ zum Hektor ist vergrössert. So hätte es sein müssen. In Wirklichkeit aber ist nichts davon zu bemerken, dass das Licht verschiedene Zeit gebrauchte, um von der Sonne zu verschiedenen Stellen der Jupiter-Bahn zu gelangen. Ihr Licht verhält sich genau so, als ob die Sonne im Äther ruhte, obgleich wir doch aus astronomischen Beobachtungen mit Sicherheit wissen, dass sie sich gegen die Fixsternwelt mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 Kilometer in jeder Sekunde bewegt. Gelingt es vielleicht auf andere Weise, Ruhe oder Bewegung gegen den Äther festzustellen? Wenn es einen solchen Stoff gibt, bewegt sich die Erde ganz bestimmt relativ zu ihm; legt sie doch bei ihrem Umlauf um die Sonne in jeder Sekunde 30 Kilometer zurück! Eine solche Geschwindigkeit, wenn sie auch klein ist gegen die des Lichts (300.000 Kilometer pro Sekunde) müsste durch die modernen Methoden der Physik mit aller Sicherheit und Genauigkeit konstatierbar sein, und man hat geistreiche optische und elektrische Versuche erdacht, mit deren Hilfe diese Konstatierung hätte möglich sein müssen. Aber diese oft wiederholten Versuche führten mit aller Bestimmtheit zu dem Resultat, dass die optischen und elektrischen Erscheinungen durch eine Bewegung »gegen den Äther« nicht beeinflusst werden. Das heisst: auch durch optische und elektrische Methoden ist der Zustand geradliniggleichförmiger Bewegung vom Zustand der Ruhe durchaus ununterscheidbar. Mit anderen Worten: | das Relativitätsprinzip gilt für alle physikalischen Vorgänge, nicht bloss für die Mechanik. Dieser Tatbestand ist einfach genug. Aber wie gewaltig sind die Konsequenzen, die Einstein aus ihm zu ziehen lehrte! Das Beobachtungsergebnis, dass das Licht sich relativ zu jedem Beobach-

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ter stets mit der gleichen Geschwindigkeit von 300.000 Kilometer in der Sekunde fortzupflanzen schien, ganz unabhängig von der Bewegung des Beobachters selbst, war mit den Grundvoraussetzungen der Physik unvereinbar. Man stelle sich vor: an einem Beobachter laufen die Lichtwellen mit der eben angegebenen Geschwindigkeit vorbei, ein zweiter Beobachter rast an dem ersten mit der Geschwindigkeit von 30 Kilometer pro Sekunde vorüber, dem Licht entgegen, und doch sollen dessen Wellen mit genau der gleichen Geschwindigkeit am zweiten vorbeiziehen wie am ersten, nicht 30 Kilometer schneller! Dies schien völlig undenkbar, es widersprach den Grundvorstellungen der Bewegungslehre und verhielt sich auch weder bei der Schallausbreitung noch bei irgendeiner anderen Bewegung so. Deshalb versuchte man früher, die Versuchsergebnisse durch physikalische Hilfsannahmen zu erklären: man glaubte, die Lichtausbreitung erfolge für den »bewegten« Beobachter in Wahrheit doch mit einer anderen Geschwindigkeit als für den »ruhenden«, nur entzöge sich der Unterschied der Feststellung, weil infolge eines eigen­tümlichen Naturspiels unsere physikalischen Apparate durch die Bewegung eine Änderung ihrer Dimensionen von solcher Grösse erlitten, dass der sonst zum beobachtende Effekt dadurch gerade wieder aufgehoben würde. Einstein aber betrachtete die Sache als der unvoreingenommene Philosoph, der er ist, und sagte sich: wenn kein Einfluss wahrzunehmen ist, so tun wir am besten, anzunehmen, dass er nicht existiert; ist eine »absolute« Bewegung, eine Bewegung gegen den Äther, nicht nachzuweisen, so gibt es eben dergleichen gar nicht, das Prinzip der Relativität aller geradlinig-gleichförmigen Bewegungen gilt nicht bloss scheinbar, sondern ist ein strenges Naturgesetz! Und jener Widerspruch mit der Galileischen Bewegungslehre? Der ist natürlich vorhanden; aber muss denn jene | Lehre richtig sein? Einstein zeigte, dass sie tatsächlich auf unhaltbaren Voraussetzungen ruht, nämlich auf der Voraussetzung, dass den Begriffen der Länge, der Zeitdauer und der Gleichzeitigkeit eine

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absolute, vom Bewegungszustande des Beobachters unabhängige Bedeutung zukomme. Diese Annahme erkannte er als ein blosses, Jahrtausende altes Vorurteil, das wir nur fallen zu lassen brauchen, um die störenden Widersprüche zum Verschwinden zu bringen. Wir kehren, um dies einzusehen, zu einer früheren Betrachtung zurück und denken uns, wir beobachteten unser Sonnensystem von einem fernen Stern aus und sähen, dass es sich mit grosser Geschwindigkeit nach links bewegt. Jupiter stehe links von der Sonne, Hektor in gleicher Entfernung rechts. Jetzt flamme auf der Sonne eine mächtige, nach beiden Seiten sichtbare Protuberanz auf. Die von dieser Erscheinung ausgehenden Lichtstrahlen werden, so müssen wir urteilen, den Jupiter später treffen als den Hektor, weil ja Jupiter wegen der Bewegung des Sonnensystems vor den Strahlen fortläuft, Hektor ihnen entgegeneilt. Wir werden sagen: auf dem Hektor sieht man die Protuberanz früher als auf dem Jupiter. Aber ein relativ zur Sonne ruhender Beobachter wird ganz anders urteilen. Für ihn breitet sich das Licht relativ zur Sonne nach allen Seiten gleich schnell aus; und da Jupiter und Hektor von ihr gleich weit entfernt sind, so muss er urteilen, dass ein Jupiter-Bewohner die Protuberanz genau zur gleichen Zeit aufleuchten sieht wie ein Hektor-Bewohner. Ein Betrachter auf der Sonne selbst erklärt also zwei Ereignisse – Sichtbarwerden der Protuberanz auf Jupiter und auf Hektor – für gleichzeitig, die für einen Beobachter auf einem an der Sonnenbewegung nicht teilnehmenden Sterne nicht gleichzeitig sind. Wer von beiden hat recht? Wenn man entscheiden könnte, wer eigentlich in Wahrheit ruht, ob der Stern oder das Sonnensystem, so könnte man einen der beiden Beobachter des Irrtums überführen; da aber wegen der Relativität der Bewegungen beide mit schlechthin gleichem Rechte sich als ruhend betrachten dürfen, so sind die Behauptungen beider eben auch gleich richtig, jeder hat von seinem Standpunkt aus recht. Zwei | Ereignisse an verschiedenen Orten, die für einen Beobachter gleichzeitig sind, finden für einen, der sich gegen den ersten bewegt, zu verschiedenen Zeiten statt. In

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diesem Satze liegt durchaus kein Widerspruch; er widerspricht nur der Meinung, dass Gleichzeitigkeit etwas Absolutes sei, aber diese Meinung war eben unbegründet. Auch ein Widerspruch mit unseren Wahrnehmungen liegt nicht vor; unmittelbar wahrnehmen können wir nur die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse, die praktisch am gleichen Ort stattfinden, aber bei räumlich getrennten Ereignissen kann über ihre Gleichzeitigkeit nur indirekt mit Hilfe von Signalmethoden entschieden werden, und wer sagt uns, dass die Anwendung dieser Methoden für verschieden bewegte Beobachter nicht einen verschiedenen zeitlichen Abstand der Ereignisse ergeben sollte? Aber weiter. Ein Mensch mit einem festen Stabe fahre mit grosser Geschwindigkeit in der Richtung des Stabes an mir vorüber und stelle mir die Aufgabe, dessen Länge zu messen. Ich werde das so machen, dass ich eine Messstange in dieselbe Richtung halte und in dem Augenblick, wo der Anfang des bewegten Stabes den Nullpunkt meines Metermaßes passiert, von einem Gehilfen ablesen lasse, bei welcher Zahl das Ende des Stabes sich befindet. Diese Zahl gibt dann die gesuchte Länge an. Wegen der Relativität der Gleichzeitigkeit wird aber der mit dem Stab bewegte Beobachter behaupten, dass mein Gehilfe und ich unsere Ablesungen nicht genau in demselben Moment ausgeführt hätten, und dass folglich unsere Längenbestimmung nicht richtig sei. In der Tat erhalten wir (auch wenn wir die Messung nach einer anderen als der beschriebenen Methode vornehmen) eine etwas geringere Länge für den bewegten Stab als jener, der den Stab ausmisst, während er mit ihm ruht. Dennoch ist unsere Messung genau so richtig wie seine eigene, denn keine der beiden Parteien kann ihren Standpunkt als den einzig zulässigen erweisen, beide dürfen ja mit dem gleichen Rechte behaupten, dass sie sich in Ruhe befinden. Von einer allein »wahren« Länge eines Stabes darf man nicht sprechen; sie ist eben für verschiedene Beobachter verschieden, und zwar um so kürzer, je schneller die Bewegung. Also auch Längen | sind etwas Relatives. Freilich sind die Unterschiede nur klein, solange die Geschwindigkei-

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ten gering sind im Vergleich zu der des Lichts; Einsteins Formeln geben darüber Aufschluss. Ein ausserhalb der Erde stationierter Beobachter zum Beispiel, an dem die Erde mit einer Geschwindigkeit von 30 Kilometer pro Sekunde vorbeisauste, würde ihren etwa 12.700 Kilometer betragenden Durchmesser nur für 6 Zentimeter kürzer erklären als wir, die wir ruhend auf ihr wohnen. Es handelt sich also um feinste Unterschiede, denen wir in Wirklichkeit nicht mit einer Messstange beikommen können, wie wir es eben der Anschaulichkeit halber vorausgesetzt hatten. Auch das Maß für die Zeitdauer (Sekunde, Minute) ist nach Einstein relativ. Dies macht man sich leicht klar, wenn man bedenkt, dass das Licht für jeden Beobachter die Strecke von 300.000 Kilometer in einer Sekunde zurücklegen soll. Da eine und dieselbe Strecke für verschiedene Beobachter verschieden lang ist, so folgt die Relativität der Zeitmaße: ein und derselbe Vorgang (z. B. der Umlauf des Zeigers einer bestimmten Uhr) hat für verschieden bewegte Beobachter verschiedene Dauer. Noch eine fremdartige, für die physikalische Weltanschauung höchst wichtige Konsequenz ergibt sich aus dem Relativitätsprinzip: der Glaube an die Existenz eines stofflichen, substantiellen Äthers muss aufgegeben werden. Von einem Stoffe darf man nur sprechen, wenn ihm ein bestimmter Zustand der Ruhe oder Bewegung zu einem Vergleichskörper zugeschrieben werden kann; es war aber gerade der Sinn des Relativitätsprinzips, dass sich für keinen Körper der Bewegungszustand eines Lichtäthers relativ zu ihm feststellen lässt. Die Vorstellung, dass die Lichtwellen einen stofflichen Träger haben, dass in einem Lichtstrahl die Zustandsänderung einer Substanz sich fortpflanzt, diese Vorstellung ist damit unhaltbar geworden. Der Gedanke einer stofflosen Lichtausbreitung stellt hohe Ansprüche an unser Abstraktionsvermögen, aber auch diesen Gedanken vollzieht das immer abstrakter werdende physikalische Denken schliesslich bereitwillig, denn er enthält keinen Widerspruch und liegt zudem | in einer Richtung, die von der wissenschaftlichen Philosophie auch in anderen Zusammenhängen schon eingeschlagen wird.

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2.  Die allgemeine Relativitätstheorie Das »spezielle« Relativitätsprinzip, von dem bisher allein die Rede war, heisst deshalb so, weil es nur die Spezialklasse der geradlinig-gleichförmigen Bewegungen für relativ erklärt. Vom philosophischen Standpunkt ist es aber ganz unverständlich, dass diese Art von Bewegungen in dieser Hinsicht ausgezeichnet sein sollte, denn die philosophischen Gründe für die Relativität scheinen auf Bewegungen von veränderlicher Geschwindigkeit oder Richtung genau ebenso gut anwendbar zu sein. Für Geschwindigkeits- und Richtungsänderungen schien nun aber die Erfahrung auf Schritt und Tritt zu lehren, dass ihnen tatsächlich ein absoluter Charakter zukomme, d. h. dass ihr Vorhandensein ohne jeden Bezug auf Vergleichskörper festzustellen sei. Wir hatten ja schon darauf aufmerksam gemacht, dass man auch in einem dicht verschlossenen Eisenbahnwagen jede Richtungs­ä nderung, Beschleunigung oder Verlangsamung der Bewegung gar deutlich empfindet. Jeder Stoss ist eine plötzliche Beschleunigung, beim Anfahren werden wir gegen die Rückwand des Wagens gedrückt, beim plötzlichen Bremsen gegen die Vorderwand geschleudert. Schon auf der Schule lernen wir, dass dies auf dem Trägheitsgesetz beruht: jeder Körper setzt einer Ver­änderung der Grösse oder Richtung seiner Bewegung einen Widerstand, den »Trägheitswiderstand«, entgegen, einen um so grösseren, je grösser seine »Masse« ist. Im Falle des Eisenbahnwagens und anderer irdischer Bewegungen könnte man versuchen, die Beschleunigungen als nur relativ zur Erde aufzufassen – aber auch die Drehung der Erde selbst lässt sich bekanntlich ohne Beobachtung ausserirdischer Körper leicht konstatieren, z. B. durch Pendelversuche; diese Drehung ist also doch wohl eine absolute Bewegung? Der grosse Newton glaubte es in der Tat, aber vor allen Ernst Mach hat energisch darauf hingewiesen, dass man so viel doch nicht behaupten dürfe, sondern nur von einer Drehung relativ zum Fixsternhimmel reden könne.76 | Jedoch erst Einstein verstand diesen Gedanken fruchtbar zu

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machen. Er fragte sich: haben wir irgendeinen Anhalt dafür, dass wirklich, wie es dieser Gedanke fordert, das Fixsternsystem schuld ist an den Trägheitswiderständen, die bei jeder Beschleunigung relativ zu jenem System auftreten? Was kennen wir denn für Wirkungen, die von den Fixsternen ausgehen? Abgesehen von ihrer Strahlung nur eine: das ist die allgemeine Massen­ anziehung, die nach Newton zwischen allen Körpern der Welt besteht. Sie bewirkt auch die Schwere der Körper, denn das Gewicht der irdischen Gegenstände beruht ja auf der »Anziehung«, welche die Erde auf sie ausübt. Kann diese allgemeine Anziehung, die Gravitation, irgend etwas mit dem Auftreten von Trägheitswiderständen zu tun haben? Ein Umstand von ganz fundamentaler Bedeutung weist darauf hin, dass wirklich der engste Zusammenhang zwischen diesen beiden Erscheinungsklassen besteht: nämlich der vor Einstein fast nie beachtete merkwürdige Umstand, dass für beide Wirkungen eine und dieselbe Grösse massgebend ist, und das ist die Masse. Dass der Trägheitswiderstand, den ein Körper einer bestimmten Beschleunigung entgegensetzt, seiner Masse proportional ist, erwähnten wir schon; genau das gleiche gilt aber auch von der Gravitationskraft, die er an einer bestimmten Stelle unter dem Einfluss der vorhandenen Himmelskörper erleidet, also z. B. von seiner Schwere an der Erdoberfläche. Wegen dieser Proportionalität wird sozusagen bei jedem Körper sein Trägheitswiderstand von seiner Schwere in gleichem Maße überwunden, so dass die Schwerebeschleunigung für jeden Körper dieselbe wird; in der Tat fallen bekanntlich alle Gegenstände gleich schnell (wenn störende Einflüsse, wie z. B. die Luftreibung, ausgeschaltet werden).77 Am anschaulichsten wird die Beziehung zwischen Trägheit und Gravitation wohl vor Augen geführt durch Einsteins berühmtes Liftbeispiel. Ein Physiker möge sich in einem allseitig geschlossenen Kasten irgendwo im Weltall befinden und beobachte, dass jeder losgelassene Körper alsbald auf den Boden des Kastens stürzt, und zwar ganz unabhängig von seiner Natur stets mit der gleichen Beschleunigung. Er | könnte hieraus schließen,

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daß sein Kasten mit eben jener Beschleunigung durch einen gigantischen Zug wie ein Lift nach »oben« gerissen würde, während die losgelassenen Gegenstände vermöge ihrer Trägheit zurückbleiben und folglich nach »unten« zu fallen scheinen. Dieser Schluss ist aber nicht zwingend; der Physiker könnte ebenso gut annehmen, dass ein Kasten auf irgendeinen Weltkörper ruhe und dass das Fallen der Körper auf die von diesem ausgeübte Anziehung zurückzuführen sei. Wir sehen also: die Erscheinung könnte auf zwei verschiedene Weisen ganz genau gleich gut erklärt werden, nämlich entweder als Trägheits- oder als Gravitationserscheinung. Der Mann im Kasten hat, solange ihm der Ausblick nach draussen verwehrt ist, schlechterdings kein Mittel, zwischen Trägheits- und Gravitationswirkung zu unterscheiden. Den Satz, dass es unter den angegebenen Umständen prinzipiell keine Möglichkeit der Entscheidung zwischen beiden Erklärungsarten gibt, bezeichnet Einstein als Äquivalenzprinzip.78 Dies Prinzip lehrt uns, dass unsere frühere Annahme, als könnten wir absolute Beschleunigung ohne Beobachtung von Vergleichskörpern mit Sicherheit konstatieren, doch nicht zutrifft; denn für das in einem abgeschlossenen Wagen beobachtete eigentümliche Verhalten der Körper brauchten nun nicht mehr notwendig Beschleunigungen des Wagens verantwortlich gemacht zu werden, sondern man könnte es prinzipiell auch durch Gravitationswirkungen ausserhalb befindlicher Massen erklären. Dadurch öffnet sich die Möglichkeit, vielleicht auch alle beschleunigten und krummlinigen Bewegungen nur als relativ zu grossen Massen (z. B. des Fixsternhimmels) aufzufassen. In den Naturgesetzen kommt möglicherweise der Begriff absoluter Bewegung in keiner Form vor, d. h. alle Naturgesetze sind vielleicht so beschaffen, dass sie – im Gegensatz zur Newtonschen Mechanik – erlauben, jeden beliebigen Körper willkürlich als »ruhend« zu betrachten, welches auch seine Bewegung relativ zu allen übrigen Körpern sein möge. Erst wenn diese Möglichkeit sich als wirklich erwiese, wäre der philosophischen Forderung der Relativität des Bewegungsbegriffes überhaupt Genüge ge-

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tan. Einstein | hat diesen Gedanken in zehnjährigem unermüdlichen Ringen verfolgt, bis es schliesslich im Jahre 1915 seinem Genie gelang, ein neues Grundgesetz der Mechanik aufzustellen, welches tatsächlich das »allgemeine Relativitätsprinzip« erfüllt. Dies Prinzip besagt: alle Bewegungen (auch ungleichförmige und krummlinige) sind relativ, haben Sinn und Dasein nur in Beziehung zu anderen Körpern. Damit ist die alte klassische Mechanik von Galilei und Newton, wie sie auf den Schulen gelehrt wird, als unzureichend erkannt; die Einsteinsche Mechanik tritt an ihre Stelle. Sie muss nach dem Gesagten die Erscheinungen der Trägheit und der Gravitation in eins umfassen, da ja beides gar nicht voneinander getrennt werden kann. Die Formulierung des Grundgesetzes dieser neuen Mechanik, obgleich an sich überraschend einfach, ist nicht wohl ohne Bezug auf mathematische Begriffe möglich und kann daher an dieser Stelle nicht gegeben werden.79 Es bedeutet besonders deshalb einen so ungeheuren Fortschritt, weil es eben die Erscheinungen der Gravitation mit einschliesst und damit eins der grössten physikalischen Rätsel löst, mit dem so viele vergangene Generationen sich vergeblich abgemüht hatten: das Rätsel der Schwerkraft. Freilich sieht die Lösung ganz anders aus, als man sich sie früher dachte: die gegenseitige Anziehung aller Massen erklärt sich nicht durch irgendwelche Strahlungen oder durch Stösse unsichtbarer Teilchen, wie man wohl gemeint hat, sondern die Erklärung ist viel abstrakterer Natur, sie hängt nämlich mit dem neuen Raumbegriff der Relativitätslehre zusammen; in den an einer bestimmten Stelle herrschenden Gravitationskräften drückt sich gleichsam die dortige Beschaffenheit des Raums selber aus.80 Was damit gemeint ist, wird nachher noch etwas deutlicher werden. Wenn früher niemand an der Richtigkeit der Newtonschen Mechanik zweifelte, so liegt das einfach daran, dass deren Formeln in der Tat mit so grosser Annäherung gültig sind, dass eine Abweichung von ihnen bei den in der Natur gewöhnlich vorkommenden Geschwindigkeiten nicht beobachtet werden konnte. Es folgt z. B. aus den Gleichungen Einsteins ohne weiteres, dass alle

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Körper sich innerhalb der gewöhn | lichen Beobachtungsgenauigkeit gerade so verhalten, als ob sie sich nach dem Newtonschen Gesetze anzögen. Nur ein Fall war bekannt, in dem dies Gesetz nicht ganz auszureichen schien: der Planet Merkur zeigte in seinem Lauf um die Sonne eine zwar sehr kleine, aber doch merkliche Abweichung von dem Verhalten, das jenes Gesetz ihm vorschrieb. Es war einer der ersten erstaunlichen Erfolge der allgemeinen Relativitätstheorie, dass Einstein mit ihrer Hilfe diese Abweichung mühelos und zahlenmässig ganz genau erklären konnte.81 Aber noch in viel weitergehendem Maße werden unsere Vorstellungen von dem gesetzlichen Zusammenhang der Natur­ erschei­nungen durch die neue Theorie verändert und erweitert. Wir denken uns wieder einen Physiker in einem abgeschlossenen Lift wie vorhin. Alle Gegenstände sollen, wenn losgelassen, alsbald mit gleicher Beschleunigung »nach unten fallen«. Ausserdem aber durchquere ein Lichtstrahl den Kasten von rechts nach links. Der Beobachter kann nun auf den Gedanken kommen, dass es mit Hilfe dieses Lichtstrahls eigentlich doch möglich sein müsste zu entscheiden, ob der Kasten sich nach oben bewegt, oder ob er unter dem Gravitationseinfluss eines unter seinen Füssen befindlichen Weltkörpers steht. Im ersteren Falle nämlich müsste der Kasten während der Zeit, die das Licht zum Durchlaufen der Kastenbreite gebraucht, sich ein wenig nach oben bewegt haben, der Lichtstrahl müsste auf seinem Wege von der rechten zur linken Seite des Käfigs ein wenig nach unten gebeugt erscheinen. Wenn nun das Äquivalenzprinzip und damit das allgemeine Relativitätsprinzip wirklich richtig sein soll, so muss die gleiche Erscheinung, die gleiche Ablenkung des Lichts auch dann eintreten, wenn der Kasten auf einem Weltkörper ruht. Denn wäre dies nicht der Fall, so liessen sich die beiden gedachten Fälle ja doch unterscheiden, und es gäbe ein Mittel, eine absolute Beschleunigung des Kastens zu konstatieren. Das Relativitätsprinzip fordert also, dass ein Weltkörper auf einen Lichtstrahl in seiner Nähe eine ablenkende Wirkung ausübt – eine

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für die Vor-Einsteinsche Wissenschaft gänzlich überraschende Forderung! Wegen der fabelhaften Geschwindigkeit des Lichts ist allerdings | seine Ablenkung so klein, dass sie sich auf der Erde mit irgendwelchen experimentellen Hilfsmitteln in keinem Falle konstatieren liesse. Aber ein Lichtstrahl, der an der ungeheuren Masse unserer Sonne vorbeiläuft, müsste durch ihre Gravita­tion­ swirkung – oder, wie der Physiker sagt, »in ihrem Gravitationsfelde« – eine durch feinste Beobachtungen wohl feststellbare Ablenkung erfahren. Diese Folgerung kann man an dem Licht von Fixsternen prüfen, die von der Erde aus gesehen in der Nähe der Sonne zu stehen scheinen, denn die Lichtstrahlen solcher Sterne gehen ja, bevor sie zur Erde gelangen, dicht an der Sonne vorbei. Werden sie wirklich abgelenkt, so muss der Stern aus seiner gewöhnlichen Lage ein wenig verschoben erscheinen. Nun sind in Sonnennähe stehende Sterne für gewöhnlich nicht zu beobachten, weil der Glanz der Sonne sie überstrahlt – aber bei ­einer Sonnenfinsternis werden sie dem menschlichen Auge und der photographischen Platte sichtbar, weil der Glanz der Sonne durch den vor sie tretenden Mond abgeschirmt wird. Bei der letzten totalen Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 wurden von zwei eigens zu diesem Zwecke ausgesandten englischen Expeditionen entsprechende Beobachtungen angestellt, und in der Tat: die im Herbst 1919 vollendete Ausmessung der photographischen Aufnahmen zeigte das Vorhandensein einer scheinbaren Verschiebung der Sternorte genau in dem von Einstein zahlenmässig vorhergesagten Betrage! Die Kunde von dieser unerhört glänzenden Bestätigung der Relativitätstheorie ging damals in alle Welt, und der Ruhm, den Einsteins Name in Fachkreisen längst genoss, verbreitete sich nun in der grossen Menge. Doch hiermit ist die durch Einsteins Theorie bewirkte Umwälzung unserer physikalischen Anschauungen nicht erschöpft; noch tiefer hat sie die Elemente aufgewühlt, aus denen das Weltbild der Physik sich aufbaut. Auch die Raumlehre, die Geometrie, die sonst als eine von der Naturlehre unabhängige Wissenschaft und als deren unerschütterliche Grundlage galt, auch sie bleibt

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von dem grossen Umschwung nicht unberührt. Die allgemeine Relativitätstheorie zeigt unwidersprechlich die von den grossen Mathematikern | des vorigen Jahrhunderts vorausgeahnte unauflösbare Verflochtenheit der Raumlehre mit der Physik, und ausserdem führt sie zu dem für die meisten so erstaunlichen Ergebnis, dass die gewöhnliche auf der Schule gelehrte Geometrie, die Euklidische, zur exaktesten Naturbeschreibung nicht passend ist und durch eine allgemeinere Raumlehre ersetzt werden muss. Dies hängt damit zusammen, dass die Geometrie schliess­ lich auf Streckenmessung mit Hilfe von Maßstäben beruht und dass die allgemeine Relativitätstheorie zu ganz eigentümlichen Konsequenzen in bezug auf alle Längenmessungen führt. Schon in der speziellen Theorie hing, wie wir sahen, die Länge eines Stabes von seiner Geschwindigkeit zum messenden Beobachter ab, aber eben nur von der Geschwindigkeit; die allgemeine Theorie geht hierüber durch eine weitergehende Relativierung aller Maßverhältnisse hinaus. Das spezielle Relativitätsprinzip bezog sich ja nur auf geradlinig-gleichförmige Bewegungen; wo Beschleunigungen oder Gravitationswirkungen auftreten, sind seine Konsequenzen zu modifizieren. Und zwar lehrt die allgemeine Theorie bei eingehender Durchführung, dass die Masse eines Körpers unter diesen Umständen auch von dem an seinem Orte herrschenden Gravitationsfelde abhänge, welches seinerseits wieder durch die Lage und Bewegung der übrigen Körper bestimmt wird. Der Leser kann sich denken, dass bei dieser Sachlage jeder Versuch einer Anwendung der gewöhnlichen Geometrie illusorisch wird, denn die Euklidische Messkunst setzt voraus, dass die Länge eines Maßstabes als eine von seinem Orte unabhängige Grösse betrachtet werden kann. Sobald dies nicht mehr der Fall ist, wird die Gleichheit zweier Strecken an verschiedenen Orten zu einem relativen Begriff, und die strenge Gültigkeit der vertrauten geometrischen Sätze hört auf; in der Einsteinschen Welt herrscht eine allgemeinere, nicht-Euklidische Raumlehre. Aber müssen wir denn die Längen von Strecken durch An­ legen von Massstäben miteinander vergleichen, stehen uns nicht

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optische Methoden zur Ausführung solcher Messungen zur Verfügung? In der Tat ist in der Natur das trefflichste Urbild einer geraden Linie nicht ein Lineal oder ein | gespannter Faden, sondern vielmehr der Lichtstrahl. Aber man denke an das besprochene Verhalten von Lichtstrahlen unter dem Einfluss von Gravitationswirkungen und überlege, dass in der Welt kein Punkt von solchen Einwirkungen frei ist. Dann erkennt man, dass auch den Lichtstrahlen nicht die Eigenschaften zukommen, welche die Geraden der Euklidischen Geometrie besitzen. Der Laie wird hier sagen: »Das ist kein Wunder, denn diese Lichtstrahlen sind eben keine geraden Linien mehr! Wenn ich nun aber an der bekannten Definition festhalte, dass die Gerade die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten ist, dann wird doch wohl meine altgewohnte Eukli­d ische Geometrie anwendbar bleiben?« Wir wollen es sehen! Die Einsteinsche Theorie ergibt folgendes. Wenn wir zwischen zwei Punkten eine Menge von Verbindungslinien ziehen und ihre Längen ausmessen, indem wir an jeder einen Maßstab so oft hintereinander abtragen, wie es geht, so stellt sich heraus, dass wir mit der geringsten Zahl von Abtragungen gerade auf derjenigen Linie auskommen, auf welcher der Lichtstrahl läuft: der Weg des Lichtes ist also auch in der allgemeinen Relativitätstheorie die kürzeste Verbindungslinie zweier Punkte. Alles Bemühen, der Euklidischen Geraden ihre Bedeutung für das Universum zu retten, bleibt vergeblich: es gibt in der Einsteinschen Welt keine »Geraden«, sondern nur »geradeste«, kürzeste Linien – und das sind die Lichtstrahlen im leeren Raum. Es ist in unserem Raume ähnlich wie auf einer Kugeloberfläche, auf der sich auch keine Geraden, wohl aber kürzeste, geradeste ­Linien (die größten Kreise) ziehen lassen. Dabei ist natürlich immer im Auge zu behalten, dass die Abweichungen von den Euklidischen Geraden so gering sind, dass sie nur durch die allerfeinsten astronomischen Messungen unter günstigsten Umständen gerade noch erkannt werden können. Und nun vielleicht das Wunderbarste der Einsteinschen Weltansicht: Wenn ich in unserem Raume von einem Punkte ausge-

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hend eine solche geradeste Linie immer weiter und weiter verfolge, so komme ich niemals »ins Unendliche«, sondern gelange schliesslich in die Gegend des Ausgangs | punktes zurück. Das heißt aber: der Raum ist endlich. Wohlverstanden: ich bin dabei nicht etwa auf einer Kreislinie herumgegangen, die Welt ist nicht ein endlicher in einem unendlichen Raume schwebender Kosmos, sondern das Universum hat schlechthin keine Grenzen, und der Raum hat erst recht keine. Dennoch, trotz seiner erhabenen Grenzenlosigkeit und so schwer der Gedanke zu fassen sein mag, ist er endlich. Es ist sogar möglich, seine Grösse zu schätzen. Der Astronom de Sitter gelangte unter Benutzung von Einsteins Formeln zu der Annahme, dass ein Wesen, das auf dem geradesten Weg und mit der Geschwindigkeit des Lichts un­ermüd­ lich durch den Raum reiste und reiste, nach ungefähr hundert Millionen Jahren wieder in der Gegend des Ausgangspunktes eintreffen würde. Damit nähert sich die exakteste Naturwissenschaft Dingen, von denen man bis vor kurzem noch glauben musste, dass sie immer nur ein Gegenstand metaphysischer Träume bleiben würden. Freilich hat sie hier die Grenzen dessen, was unserem anschaulichen Vorstellen zugänglich ist, längst überschritten; aber keine Philosophie kann daraus einen Einwand gegen die Richtigkeit ihrer Ergebnisse herleiten. Die Relativitätstheorie ruht fest auf dem ehernen Boden der Erfahrung und der Tatsachen; sie stellt die Wirklichkeit auf die voraussetzungsloseste Weise dar und mit Hilfe von Grundgedanken, die trotz ihrer verwickelten mathematischen Einkleidung doch im Prinzip die allereinfachsten sind. Mit ehrfürchtigem Staunen sehen wir den Forschergeist in alle Weiten des Universums dringen, sehen ihn der Natur seine grossen Fragen vorlegen und ihre Antwort im voraus erraten. Vielleicht werden spätere Generationen uns glücklich preisen, die wir diese Epoche der Wissenschaft mit erleben. Welch ein Weg vom ersten Aufdämmern des Gedankens raum-zeitlicher Relativität bis zu seiner Vollendung durch die kühnste Theorie, die Menschengeist noch ersann.

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1.5  Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? Bemerkungen zu Ernst Cassirers Buch »Zur Einstein’schen Relativitätstheorie« Ein unverwischbarer, unveräußerlicher Charakterzug der kritischen Philosophie ist ihre Verwurzelung in der exakten Wissenschaft. Wie Kant selbst nach wohlbegründeter (besonders von Cohen verfochtener82) Meinung mit seiner Erkenntniskritik das Ziel einer philosophischen Rechtfertigung der Newtonschen Naturprinzipien verfolgte, so streben die neukantischen Schulen danach, die Wahrheit der kritischen Grundgedanken dadurch zu beweisen, daß sie ihre Brauchbarkeit und Fruchtbarkeit auch für die Physik der neuen Zeit darzutun suchen. Es wurde dem Neukantianismus nicht schwer, mit der Entwicklung der Naturwissenschaft Schritt zu halten, als sie von der mechanischen zur energetischen und schließlich zur elektrodynamischen Welt­ansicht überging – ist aber seine Kraft und Elastizität auch groß genug, um den Sprung mitzumachen, durch den die Physik sich in unsern Tagen auf eine neue Bahn begab? Ich glaubte diese Frage verneinen zu müssen zu einer Zeit, als nur ganz wenige Versuche vorlagen, die Spezielle Relativitätstheorie dem kritizistischen Standpunkt zu assimilieren, und als die Allgemeine Theorie überhaupt noch nicht abgeschlossen war. Es schien mir, daß die zu einer philosophischen Aufklärung und Rechtfertigung jener Theorie nötigen Prinzipien viel eher aus der empiristischen als aus der Kantschen Erkenntnistheorie entnommen werden können8); und auch bei späteren Gelegenheiten fand ich keine Veranlassung, diesen Standpunkt auf | zugeben, zumal die bald darauf glücklich vollendete Allgemeine Theorie einem Gedanken zum Siege verhalf, der auf extrem empiristischem Boden (nämlich 8)  Die philosophische Bedeutung des Relativitätsprinzips«, in: Zeit-

schrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd.  159.

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im Positivismus Machs) erwachsen war. Aber bei der Bedeutung und Schwierigkeit der Frage ist es Pflicht, die Sachlage bei jedem ernsten Anlaß erneut zu prüfen. Einen solchen Anlaß stellt das Erscheinen des Buches von Ernst Cassirer1) dar, und so folge ich gern der Aufforderung der Schriftleitung der Kantstudien, dem Problem an der Hand dieses Buches eine neue Untersuchung zu widmen, die freilich aus äußeren Gründen nur in ganz kurzer Fassung gegeben werden kann. Cassirer hat sich in seiner Schrift den Nachweis zum Ziel gesetzt, daß die philosophischen Grundlagen der Relativitätstheorie nur im Bereiche des Kritizismus gefunden werden können, genauer in derjenigen Form der kritischen Ansicht, die er gern als logischen Idealismus bezeichnet. Er stellt sich die Aufgabe, durch erkenntnistheoretische Analyse zu entscheiden, »ob die Theorie in ihrem Ursprung und ihrer Entwicklung als Beleg und Zeugnis für den kritischen oder als Zeugnis für den sensualistischen Erfahrungsbegriff zu gelten hat« (S.  26). Angesichts dieser Formulierung müssen sich aber sogleich Bedenken erheben: Ist das Problem wirklich auf diese Alternative zurückführbar? gilt hier ein tertium non datur? Sicherlich gibt es einen Empirismus, der vom Sensualismus verschieden ist und sich auf ihn nicht reduzieren läßt – das ist historisch wie sachlich leicht ersichtlich. Wenn also gezeigt wird (und das ist wohl nicht schwer), daß die Relativitätstheorie aus rein sensualistischen Prämissen nicht zu verstehen ist, so wird hierdurch allein weder die Notwendigkeit noch auch die Zulässigkeit der kritizistischen Interpretation der Theorie bewiesen, es sei denn, man faßte den Begriff des logischen Idealismus so weit, daß jene Alternative eben erlaubt wird. Dann aber schwebt er in Gefahr, seine entschiedene Färbung und damit seinen philosophischen Wert zu verlieren, die heterogensten Meinungen würden sich in ihm vereinigen lassen. An einigen Stellen scheint Cassirer in der Tat zu 1)  Ernst Cassirer, Zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Erkenntnis-

theoretische Betrachtungen, Berlin: Bruno Cassirer 1921.

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so allgemeinen Formulierungen zu neigen, daß die Abgrenzung seines Kritizismus undeutlich zu werden droht. Wir müssen den Grenzlinien nachzugehen suchen.83 | Um eine feste Grundlage für die folgenden Betrachtungen herzustellen, muß ich mit wenigen Worten sagen, welche unentbehrlichen Merkmale ich mir mit dem Begriff des Kritizismus verknüpft denke. Eine solche Festlegung ist durchaus nötig für jede Diskussion über die Verträglichkeit der Relativitätstheorie mit der kritischen Erkenntnislehre, denn nur auf diese Weise wird das störende Hineinspielen der Fragen der Kant-Interpretation vermieden; die Diskussion bleibt solange unergiebig, als jeder sich des nicht ungewöhnlichen Arguments bedienen kann, der andere lege eben die Kantsche Meinung nicht richtig aus. Folgendes also sei vorausgeschickt. Alle exakte Wissenschaft, deren philosophische Rechtfertigung unzweifelhaft das ­erste Ziel der von Kant begründeten Erkenntnislehre bildet, beruht auf Beobachtungen und Messungen. Bloße Empfindungen und Wahrnehmungen sind aber noch nicht Beobachtungen und Messungen, sondern sie werden es erst dadurch, daß sie geordnet und interpretiert werden. Die Bildung der physikalischen Gegenstandsbegriffe setzt also fraglos bestimmte Prinzipien der Ordnung und Interpretation voraus. Das Wesentliche des kritischen Gedankens sehe ich nun in der Behauptung, daß jene konstitutiven Prinzipien synthetische Urteile a priori seien, wobei zum Begriff des Apriori das Merkmal der Apodiktizität (der allgemeinen, notwendigen, unumgänglichen Geltung) unabtrennbar gehört. – Ich bin zwar überzeugt, mit dieser Erklärung Kants eigene Meinung richtig zu treffen, aber selbst wenn weder er noch seine Anhänger dieser Art von Kritizismus je gehuldigt hätten, bliebe ja die sachliche Richtigkeit oder Falschheit der folgenden Aufstellungen davon ganz unberührt, und auf diese allein kommt es bei einer Untersuchung an, die sich auf das Systematische, nicht auf das Historische richtet. Die wichtigste Folgerung aus der eben entwickelten Ansicht ist, daß ein Denker, der die Unentbehrlichkeit konstitutiver Prin-

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zipien zur wissenschaftlichen Erfahrung überhaupt einsieht, deswegen noch nicht als Kritizist bezeichnet werden darf. Ein Empirist kann z. B. sehr wohl das Vorhandensein solcher Prinzipien anerkennen; er wird nur leugnen, daß sie synthetisch und a priori im oben bezeichneten Sinne sind. Cassirer erkennt, daß »Empirismus und Idealismus sich in bestimmten Voraussetzungen begegnen. Beide gestehen hier der Erfahrung die entscheidende Rolle zu – und beide lehren anderer | seits, daß jede exakte Messung allgemeine empirische Gesetze voraussetzt« (S.  94  f.). Aber indem er sich dann der dringenden Frage zuwendet, »wie wir zu jenen Gesetzen, auf denen die Möglichkeit aller empirischen Messung beruht, gelangen und welche Art der Geltung … wir ihnen zugestehen« (S.  95), stellt er dem Kritizismus nur die sensualistische Ansicht unter dem Namen des »strengen« Positivismus gegenüber. Mit vollem Recht verurteilt er den von Mach gelegentlich unternommenen Versuch, selbst analytisch-mathematische Gesetze gleich Dingen zu behandeln, »deren Eigenschaften man durch unmittelbare Wahrnehmung ablesen kann« (S.  95) – jedoch damit ist nicht der logische Idealismus bewiesen, sondern nur der Sensualismus widerlegt. Zwischen beiden bleibt die empiristische Ansicht stehen, nach welcher jene konstitutiven Prinzipien entweder Hypo­thesen oder Konventionen sind; im ersten Falle sind sie nicht a priori (denn es mangelt ihnen die Apodiktizität), im zweiten sind sie nicht synthetisch. Wie steht es mit dem Nachweis, daß die Grundsätze der Einsteinschen Physik nicht diesen Charakter tragen, sondern als synthetische Sätze a priori anzusprechen seien? Kant selbst rechnete, wie gar nicht zu bezweifeln ist, zu den gegenstandskonstituierenden synthetischen Prinzipien a priori die Axiome der euklidischen Geometrie und der Galileischen Kinematik. Und die Mehrzahl der Kantianer hat auch nach der mathematischen Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien an der euklidischen Naturauffassung als der einzig möglichen festgehalten, indem sie (sehr deutlich z. B. Riehl und Hönigswald) erklärten, der euklidischen Geometrie komme in der Tat die von

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Kant ihr zugeschriebene anschauliche Notwendigkeit zu, während die andern Geometrien nur begriffliche Denkbarkeit besäßen, die ja der Kantschen Lehre nicht widerstreitet. Nun ist die Spezielle Relativitätstheorie mit den Sätzen der Galileischen Kinematik, die Allgemeine außerdem noch mit den Sätzen Euklids unvereinbar. Wer die Einsteinsche Theorie annimmt, muß die Lehre Kants in ihrer ursprünglichen Form ablehnen; man muß, wie auch Cassirer mehrfach betont, einen Schritt über Kant hinaus tun. Aber darauf kommt es uns hier garnicht an. Der Kritizismus, wie er oben definiert wurde, könnte dessenungeachtet der neuen Theorie gegenüber sich behaupten und bewähren, ja noch größere Triumphe feiern; dazu wäre nur nötig, daß die letzten Grundlagen der Theorie sich eben als synthetische | Sätze von schlechthin notwendiger Geltung für alle Erfahrung enthüllten. Welches sind diese Sätze? Denn das ist wohl zu beachten: wer die Behauptung des Kritizismus aufstellt, der muß, sollen wir ihm Glauben schenken, die Prinzipien a priori auch wirklich angeben, die den festen Grund aller exakten Wissenschaft bilden müssen. Für die Transzendentalphilosophie sagt Cassirer mit Recht (S.  78), sind Raum und Zeit nicht Dinge, sondern »Erkenntnisquellen«. Es muß also eine Angabe der Erkenntnisse gefordert werden, deren Quelle z. B. der Raum ist. Der kritische Idealist muß sie mit derselben Bestimmtheit und Deutlichkeit bezeichnen, mit der Kant auf die zu seiner Zeit einzig bekannte und anerkannte Geometrie und »allgemeine Bewegungslehre« hinweisen konnte. Alle die, welche die Relativitätstheorie vom Kantschen Standpunkt aus beurteilt haben, wiesen darauf hin, daß es sich in ihr um die empirische (d. h. hier: durch physikalische Methoden gemessene Zeit) und um den empirischen Raum handelt, und sie stellen ihnen die Kantsche »reine Anschauung« von Raum und Zeit gegenüber als dasjenige, was jene empirischen Konstruktionen erst möglich macht und folglich von jedem Fortschritt der Physik, der immer nur das Empirische betreffen kann, schlechthin unberührt bleiben muß. Durch diese Wendung wird die Problemlage nicht geändert,

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sondern nur anders ausgedrückt, denn die reine Anschauung ist eben die Erkenntnisquelle jener Grundsätze a priori, deren man zur Konstruktion der empirischen Zeit und des empirischen Raums bedarf, für manche ist sie einfach ein zusammenfassender Terminus für den Inbegriff jener Grundsätze selbst; in jedem Falle kann die Existenz eines »reinen Raumes« und einer »reinen Zeit« überhaupt nur dadurch erwiesen werden, daß man das System der dazugehörigen synthetisch-apriorischen Grundsätze tatsächlich aufzeigt oder wenigstens eine eindeutige Anweisung gibt, wie es zu finden ist. Es kann nicht genug betont werden, daß ein Anhänger der kritischen Philosophie sich nur durch Vorweisung eines solchen Urteilssystems legitimieren kann. Jeder Versuch, Einstein mit Kant zu versöhnen, muß in der Relativitätslehre synthetisch-apriorische Prinzipien aufdecken; sonst ist er von vornherein als gescheitert zu betrachten, weil er nicht einmal zu der richtigen Problemstellung vorgedrungen ist. Cassirer sieht das Problem natürlich in seiner richtigen Bedeutung, und an zwei Orten seines Buches scheint er eine nähere | Bestimmung des Inhaltes der vom logischen Idealismus behaupteten reinen Anschauung zu geben. An der ersten Stelle (S.  84) erblickt er ihn in dem Begriff der Koinzidenz der »Weltpunkte«, auf welche die Allgemeine Relativitätstheorie bekanntlich alle Naturgesetze zurückführt. Aber ich glaube, daß gerade diese »Koinzidenz« sich garnicht als bloßer Inbegriff und Knotenpunkt apriorischer Sätze auffassen läßt, sondern zunächst durchaus Repräsentant eines psychologischen Erlebnisses des Zusammenfallens ist, so wie etwa das Wort »gelb« ein einfaches nicht mehr definierbares Farberlebnis bezeichnet. Nur so vermag sie die von der Theorie ihr zugewiesene Vermittlerrolle zwischen Realität und naturwissenschaftlich-begrifflicher Konstruktion zu spielen. Mit andern Worten: wir haben eine empirische Anschauung vor uns2). 2)  Dies ist auch der eigentliche Sinn meiner Ausführungen in Raum

und Zeit in der gegenwärtigen Physik, 3. Aufl. 1920, S.  83.

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Eine zweite Antwort auf die Frage, was denn an synthetischapriorischen Sätzen über den Raum jetzt noch übrig bleibe, gibt Cassirer S.  101, wo er sagt: »Denn das ›Apriori‹ des Raumes  … schließt … keine Behauptung über eine bestimmte einzelne Struktur des Raumes in sich, sondern geht nur auf jene Funktion der ›Räumlichkeit überhaupt‹, die sich schon in dem allgemeinen Begriff des Linienelements ds als solchen – ganz abgesehen von seiner näheren Bestimmung – ausdrückte.« Diese Formulierung, die aussagen will, daß es überhaupt so etwas wie ein Linienelement in der Naturbeschreibung geben müsse, kann jedoch kaum befriedigen. Denn welcher Axiomenkomplex ist es, der in jener Behauptung beschlossen sein soll? Die Axiome der Stetigkeit können es nicht sein, denn die schon von Riemann ins Auge gefaßte Möglichkeit diskontinuierlicher Raumbestimmungen ist durch die moderne Quantentheorie in greifbare Nähe gerückt worden. Und welche andern Axiome man auch wählen möge: es ist nicht einzusehen, warum gerade sie die allein notwendige Raumstruktur konstituieren sollen, da doch andere von nicht geringerer »Evidenz« dem Fortschritt der Physik zum Opfer fielen. Hier erscheint jede inhaltliche Behauptung, so allgemein sie auch sein möge, schon zu speziell, und es ist durchaus konsequent, wenn man auf die Frage, welches denn nun die letzten synthetischen Grundsätze a priori aller Naturwissenschaft sind, die Ant | wort erteilt (die ich einer freundlichen brieflichen Mitteilung Cassirers entnehme): »eigentlich nur der Gedanke der ›Einheit der Natur‹ d. h. der Gesetzlichkeit der Erfahrung überhaupt, oder vielleicht kürzer der ›Eindeutigkeit der Zuordnung‹«.84 Damit scheint mir aber die Gefahr unentfliehbar hereingebrochen zu sein, die ich oben als unvermeidliche Folge einer zu großen Umfangsweitung des kritischen Gedankens bezeichnete. Denn nun dürfte es nicht mehr möglich sein, jemals eine physikalische Theorie als Bestätigung der kritizistischen Philosophie anzusprechen: diese müßte vielmehr mit jeder Theorie, sofern sie nur die Bedingungen der Wissenschaftlichkeit erfüllt, in gleicher Weise und ohne die Möglichkeit einer Selektion vereinbar sein. Einheit-

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liche Naturgesetzlichkeit ist sicherlich die conditio sine qua non der Wissenschaft, weil, wie Cassirer selbst sagt (S.  45), »der allgemeine Gedanke der Invarianz und Eindeutigkeit … in irgend einer Form in jeder Theorie der Natur wiederkehren muß«. Auch für den Empiristen sind, wie Cassirer (S.  95) anerkennt, die Gesetze »das eigentlich Bleibende und Substantielle«, auch der Empirist glaubt an die Einheit der Natur, an die Gesetzlichkeit ­a ller Erfahrung, nur meint er, daß sich ihre Gültigkeit, ihre objektive Notwendigkeit durch keine transzendentale Deduktion oder sonstwie erweisen lasse. Hier kann sich der Kritizist auf keine physikalische Theorie berufen, denn jede beweist durch ihre Bewährung in der Erfahrung nur die tatsächliche, nicht die notwendige Geltung des Satzes von der Einheit der Natur. Wie ein roter Faden zieht sich durch Cassirers Buch der mit den glänzendsten Mitteln überlegener philosophisch-historischer Kultur geführte Nachweis, daß die Relativitätstheorie dem in der Entwicklung der exakten Wissenschaft von Platon bis heute immer richtungweisenden Ideal nicht etwa widerspricht, sondern im Gegenteil seine zur Zeit vollkommenste Erfüllung darstellt; daß die von ihr statuierte Relativität der Maßbestimmungen keineswegs einen Verzicht auf streng eindeutige objektive Gesetzmäßigkeit bedeutet, sondern im Gegenteil der Weg ist, zu allgemeinsten Gesetzen zu gelangen und letzte Invarianten aufzudecken. Ein neuerer Aufsatz Cassirers (im Dezemberheft der Neuen Rundschau85) ist im wesentlichen dem gleichen Nachweis gewidmet. So notwendig und verdienstlich es war, durch solche Ausführungen naheliegenden laienhaften Mißverständnissen der Einsteinschen Theorie entgegenzutreten und sie in den gebührenden Abstand | von jedem sophistischen »Relativismus« skeptischer Färbung zu rücken, so wird damit doch nur bestätigt, daß die Relativitätslehre, weil sie eben eine wissenschaftliche Theorie ist, natürlich eine Aufstellung, nicht eine Aufhebung allgemeinster, objektiv gültiger Gesetze bedeutet. Das Einsteinsche Weltbild läßt die Einheit der Natur vollkommener hervortreten als das Newtonsche, aber nicht, weil es dem

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kritischen Gedanken gemäßer wäre, sondern weil es, schon am physikalischen Erkenntnisbegriff gemessen und noch unabhängig von der letzten philosophischen Interpretation, eine höhere Erkenntnisstufe darstellt. Die Frage, ob dem von Cassirer so tief durchdachten logischen Idealismus der Nachweis der Richtigkeit der Behauptung gelungen sei, daß nur auf dem Boden der kritizistischen Erkenntnislehre die Relativitätstheorie sich philosophisch begründen und rechtfertigen lasse – diese Frage vermögen wir nach dem Vorangehenden gerade in bezug auf den entscheidenden Punkt nicht zu bejahen: die Lehre von den synthetischen Urteilen a priori als den konstruktiven Prinzipien der exakten Naturwissenschaft erfährt durch die neue Theorie keine unzweideutige Bestätigung. Cassirers Darlegungen scheinen mir keine überzeugende Anweisung zu geben, wie die Wunde geheilt werden kann, die der ursprünglichen Kantschen Ansicht durch den Umsturz der Euklidischen Physik geschlagen ist. Aber damit ist noch nicht gesagt, daß das Verhältnis zwischen Transzendentalphilosophie und Relativitätstheorie nun überhaupt als ein rein negatives erwiesen wäre; an andern Punkten könnten bedeutsame Berührungen beider Gedankenkreise stattfinden, wichtige Gemeinsamkeiten sich offenbaren. Es liegt überaus nahe, in der kritischen Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit eine enge natürliche Verwandtschaft mit den Gedanken der Relativitätstheorie zu suchen. Man hat in der Tat die Wesenlosigkeit, die den Raum der Einsteinschen Naturlehre vor dem starren Raum Newtons (und ebenso die Zeit) auszuzeichnen scheint, als eine willkommene Bestätigung der Kantschen Philosophie betrachtet. Auch Cassirer vertritt diese Auffassung. Im Anschluß an meine Bemerkung, daß nach der allgemeinen Relativitätstheorie nur einer unauflöslichen Einheit von Raum, Zeit und Stoff noch das Prädikat der Wirklichkeit zukomme (Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik S.  67), meint er, diese Einsicht gehöre »zu den Grundlehren des kritischen Idealismus selbst« (S.  93); und ferner: »die ideelle Tren-

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nung des reinen Raumes und der reinen | Zeit von den Dingen (genauer von den empirischen Erscheinungen), duldet nicht nur, sondern fordert geradezu ihre empirische ›Union‹« (S.  94). Dies letztere ist freilich richtig, denn Raum und Zeit sind als Formen der Anschauung von dem in ihnen geformten Stoff ebenso wenig trennbar, wie umgekehrt der Stoff ohne eine Form sein kann. Aber die von der Relativitätstheorie behauptete »Union«, die ich durch jene Bemerkung zu treffen suchte, ist eine viel innigere als die Einheit von Stoff und Form, über welche die Transzendentalphilosophie nirgends hinausgegangen ist. Wenn daher Cassirer fortfährt: »Diese Union hat die allgemeine Relativitätstheorie in einem neuen Sinne bewährt und erwiesen …«, so ist der Ton durchaus auf das Wort neu zu legen. Dieses Neue wird gänzlich verkannt von E. Sellien3), welcher sagt: »Für die tatsächliche Bestimmung von Raum und Zeit in der Erfahrung gehören Raum, Zeit und Körper zusammen. Dieser Satz ist keine Errungenschaft der Einsteinschen Theorie, wie Schlick mit so viel Emphase behauptet […], er ist längst bekannt, und widerlegt Kants Lehre von der reinen Zeit durchaus nicht, weil er sie gar nicht berührt.« Es ist jedoch ein schlechthin fundamentales Mißverständnis der Allgemeinen Relativitätstheorie, wenn man glaubt, meine oben erwähnte Bemerkung so auffassen zu dürfen, als solle in ihr nur negativ die Sonderexistenz von Zeit und Raum gegenüber der Materie (und umgekehrt) geleugnet werden – das wäre freilich eine längst bekannte Trivialität. Sondern die gegenseitige Abhängigkeit von Raum, Zeit und Materie geht in der Einsteinschen Theorie viel tiefer; nach ihr ist es z. B. unmöglich, von den Abmessungen einer Raumgestalt ohne Rücksicht auf die Art ihrer materiellen Erfüllung zu sprechen. Daß die Raumlehre in dieser Weise zum Zweige der Physik wird, verdient allerdings mit großer Emphase hervorgehoben zu werden. Nur Riemann hat 3)  Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie,

Kieler Dissertation, Berlin: Reuther & Reichard 1919, S.  37; auch als Ergänzungsheft 48 der »Kantstudien« erschienen.

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diesen Gedanken mit völliger Klarheit vorweggenommen; dem Kritizismus lag er nicht bloß fern4), | sondern er scheint ihm zu widersprechen, weil er es unmöglich macht, Raum und Zeit als bloße Formen in dem bisherigen Sinne aufzufassen, deren Gesetze von ihrem Inhalt unabhängig zu behandeln sind. Wenn Einstein von der Durchführung der allgemeinen Relativität bemerkt hat, sie nehme dem Raum und der Zeit »den letzten Rest physikalischer Gegenständlichkeit«86, so glaubt Cassirer, »daß die Theorie hierin nur dem Standpunkt des kritischen Idealismus die bestimmteste Anwendung und Durchführung innerhalb der empirischen Wissenschaft selbst verschafft« (S.  79). Legen wir aber – wie es Cassirer (S.  13) mit Recht als erste Aufgabe des Erkenntnistheoretikers fordert – den Sinn des Terminus »physikalische Gegenständlichkeit« restlos klar, so stoßen wir wieder auf das eben geschilderte Ergebnis, dem die Lehre von der Idealität von Zeit und Raum nur nach seiner negativen Seite hin gerecht zu werden vermag: es zeigt sich nämlich, daß mit der »Gegenständlichkeit« dem Raum und der Zeit zwar jede irgendwie beschaffene Unabhängigkeit von der Materie abgesprochen wird, daß aber der Rest, der dann vom physikalisch Räumlichen und Zeitlichen übrig bleibt, im Verein mit der Materie sich auch derselben Realität erfreut wie diese. Einstein selbst hat gelegentlich ausgesprochen, daß der physikalische Raum auch nach der Allgemei4)  Man hat zwar auch in diesem Punkte Kant zum Vorläufer Ein-

steins erklären wollen. Auf Grund einiger Bemerkungen in Kants erster Schrift »Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte« sagt Ilse Schneider (Das Raum-Zeitproblem bei Kant und Einstein, Berlin: Springer 1921, S.  70): »Kant weist also als erster auf den Zusammenhang von Geometrie und Physik, speziell Gravitation, hin.« Aber Kants Versuch, die Dreidimensionalität des Raumes mit der Formel des Newtonschen Gravitationsgesetzes in Beziehung zu bringen, bedeutet nichts weniger als eine Vorahnung der Vereinigung von Geometrie und Physik im erkenntnistheoretischen Sinne, hat vielmehr gar nichts damit zu tun. Mit ähnlichem Rechte könnte man hier auf die Cartesianische Identifizierung von Substanz und Ausdehnung hinweisen, die auch Cassirer erwähnt (S.  60), ohne daß er aber ihre wahre Bedeutung übertriebe.

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nen Relativitätstheorie Realität habe, nur keine selbständige.87 Das Räumliche und Zeitliche erhalten also einen Sinn, in dem sie nicht mehr bloß als »Formen« in der gewohnten Bedeutung angesehen werden dürfen, sondern sie gehören jetzt zu den physikalischen Bestimmungsstücken der Körper; die »Metrik« bedeutet nicht etwa bloß eine mathematische Messung des physikalisch Realen, sondern drückt selbst dessen Vorhandensein aus. Raum und Materie treten eben, wie Cassirer es durchaus treffend ausdrückt, »nicht mehr als verschiedene Klassen physikalischer Objektbegriffe auf« (S.  61). Wenn man also der Meinung ist, die Einsteinsche Physik weise »in dieser Hinsicht weniger Widersprüche zur kantischen transzendentalen Ästhetik auf, als irgendeine frühere Physik«5), so scheint mir darin eine Verkennung der | positiven Seite der Einsteinschen Raum- und Zeitlehre zu liegen. Es wäre auch verwunderlich, wenn die Kantsche Erkenntnistheorie in so deutlichem Widerspruch stehen sollte zur Newtonschen Naturlehre, deren philosophische Rechtfertigung eines ihrer vornehmsten Ziele war. – Mag aber auch die rechte Würdigung der allgemeinsten Relativität (Kovarianz gegenüber beliebigen Substitutionen in der Sprache der Theorie) von kritizistischen Prinzipien aus schlecht gelingen: vielleicht könnten sie doch insofern einen tragfähigen Unterbau Einsteinscher Lehren liefern, als sie wenigstens zu dem Grundsatz der Relativität aller Bewegungen (Kovarianz gegenüber einer bestimmten Gruppe von Substitutionen) in einem günstigen Verhältnis stehen. Natürlich ist von einem philosophischen System nicht zu verlangen, daß es diesen Grundsatz als Theorie durchführe, wohl aber kann er sich aus ihm als unentbehrliches Postulat ergeben. Ist auch dies noch zu viel gefordert, so darf man zum allermindesten erwarten, daß jener Grundsatz, nachdem er von anderer Seite einmal aufgestellt war, sofort als kongenial erkannt und von dem System mit größter Energie angeeignet werde. Tatsächlich wäre der Kritizismus hierzu aus sei5)  Ilse Schneider, l. c. S.  65.

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nen Prämissen heraus sehr wohl imstande gewesen; dennoch hat er in seinen historischen Erscheinungsformen von den eben aufgestellten Forderungen keine erfüllt. Es war vielmehr der Posi­ tivist Mach, der das allgemeine Relativitätsprinzip zuerst mit Nachdruck zu einem Postulat der Naturbeschreibung erhob. Er verlangte – und zwar wirklich aus philosophischen Gründen – eine solche Formulierung der Naturgesetze, daß z. B. die Rotation der Erde gegen die Fixsterne mit gleichem Recht als eine entgegengesetzte Drehung des Sternhimmels um die Erde aufgefaßt werden könnte.88 Um Kants Stellung zu diesem Gedanken kennen zu lernen – der ja zu seiner Zeit genau so möglich war – lese man die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften, wo er im I. Hauptstück in der Anmerkung zum Grundsatz I, und im IV. Hauptstück im Lehrsatz 2 und der Allgemeinen Anmerkung zur Phänomenologie das Problem bespricht. Er fühlt dort (wie Leibniz, Huyghens und andere) durchaus das Bedürfnis, die Relativität aller Bewegung aufrecht zu erhalten. Während aber Newton erkannte, daß dies mit seiner Mechanik unvereinbar sei und für sie folgerichtig (vermutlich nicht ganz leichten Herzens) die absolute Bewegung postulierte, sucht Kant dadurch nach einem Ausweg, da | er neben den Gegensatz der relativen und absoluten denjenigen der »wahren« und »scheinbaren« Bewegung setzte!6) Cassirer hat bereits in »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« (1910) die Frage der Relativität der Rotation behandelt (S.  230  ff.). Es ist höchst bemerkenswert, mit welchem Scharfsinn er schon damals die Konsequenzen der Machschen Auffassung überblickte. Er sagt nämlich (l. c. 246): »Die positivistischen Bedenken gegen den ›reinen‹ Raum und die ›reine‹ Zeit [der Mechanik] beweisen daher nichts, weil sie zu viel beweisen würden: sie müß6)  Ilse Schneider (l. c. S.  14) zitiert die entsprechende Kantstelle bei-

fällig, weil sie Kant als Gegner der absoluten Bewegung erscheinen läßt, aber sie vergißt, daß jene Unterscheidungen gerade vom Standpunkt der Relativitätstheorie eine Ungeheuerlichkeit darstellen.

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ten, konsequent zu Ende gedacht, auch jede Darstellung physisch gegebener Körper in einem geometrischen System, in welchem es feste Lagen und Entfernungen gibt, verwehren«. Hier und in den der zitierten Stelle vorhergehenden Entwicklungen werden also vom kritizistischen Gesichtspunkte aus im wesentlichen gerade die Konsequenzen verworfen, zu denen sich die Naturwissenschaft jetzt gezwungen sieht. Gewiß hat Cassirer Recht mit seiner Meinung, daß die Bestätigung der Machschen Relativitätsbehauptung für sich noch keinen zwingenden Beweis für die Notwendigkeit einer empiristischen Interpretation der Einsteinschen Theorie liefere (S.  97) – aber ein höchst bedeutsames Indizium bleibt sie doch. Und zwar, wie ich glaube, kein trügerisches. Denn das erkenntnistheoretische Motiv, das Mach und Einstein (sei es mit Recht oder Unrecht) zu dem Postulat der Relativität aller Bewegungen führte, war der Satz, daß Unterschiede des Wirklichen nur dort angenommen werden dürfen, wo Unterschiede im prinzipiell Erfahrbaren vorliegen. Diese fundamentale Regel ist öfters ausgesprochen worden, auch von Metaphysikern wie Leibniz, bei dem sie gleich in zwei Gestalten erscheint, nämlich als principium identitatis indiscernibilium und als principe de l’observabilité (in letzterer Form führt es auch Cassirer S.  37 an); aber von der Aufstellung bis zum konsequenten Festhalten und Durchführen der Regel ist noch ein großer Schritt. Wird der Grundsatz jedoch in seiner wahrhaft fundamentalen Bedeutung erkannt und gewürdigt, so läßt er sich, wie ich glaube, zum obersten Prinzip aller empiristischen Philosophie erheben, zur | letzten Richtschnur, die bei der Stellungnahme zu jeder Einzelfrage maßgebend sein muß, und deren unerbittliche Anwendung auf alle Spezialprobleme ein Verfahren von höchster Fruchtbarkeit darstellt. Ist diese Auffassung richtig, so wäre damit allerdings der Zusammenhang der Relativitätslehre mit der empiristischen Erkenntnistheorie als ein innerlicher, streng sachlicher, als nicht bloß äuße­rer und zufälliger erkannt. Im letzten Kapitel seines Buches betont Cassirer mit Nach-

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druck, daß der Raum und die Zeit der Relativitätstheorie eben Raum und Zeit der Physik sind, nicht der Wirklichkeit schlechthin, sodaß ihnen etwa der Raum und die Zeit der Psychologie als etwas gänzlich Heterogenes gegenüberstehen. Es ist in der Tat von größter Wichtigkeit, sich stets darüber klar zu sein, daß man von Raum und Zeit in völlig verschiedenen Bedeutungen reden kann – am wichtigsten gerade auch für den, dem es schließlich auf die Erkenntnis des Zusammenhanges dieser verschiedenen Bedeutungen ankommt. Wenn ich an andern Stellen7) den psychologischen Raum (und die Zeit) als das rein Anschauliche dem physikalischen als einer rein begrifflichen Konstruktion gegenüberstellte, so war ich mir wohl bewußt, daß die »Anschauung« bei Kant in einer ganz andern Weise abgegrenzt wird. In diesem Punkte bin ich von einer Reihe von Kritikern mißverstanden worden. Cassirer erklärt8) Kants reine Anschauung als eine bestimmte »Methode der Objektivierung«: das ist sie freilich auch, aber ihr Wesen erschöpft sich nicht darin. Gewiß wollte Kant alles Psychologische aus ihr entfernen – aber ich werde mich niemals überzeugen können, daß es ihm gelungen ist. Denn es kann eben nicht gelingen9) ohne die Anwendung der einzigen Methode, die das rein Begriffliche der Geometrie vom Psychologisch-Anschaulichen zu trennen ermöglicht: das ist die Methode der impliziten Definition, die erst in der modernen Mathematik ausgebildet wurde10). Ohne sie ist es nicht einmal möglich, die Idee eines reinen Begriffs zu fassen und in seiner Ablösung von allen psychologischen Momenten zu verstehen. Kants reiner Anschauungsraum enthält also notwendig solche Momente, sie geben dem Raumbegriff den Inhalt, ohne den er für Kant »leer« wäre. | Sein Raum ist ihm zwar identisch mit dem Raum Newtons (dies 7)  Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, 3. Auflage, Berlin:

Springer 1920, S.  81, Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin: Springer, S.  301. 8)  S.  123, 124, Anmerkung. 9)  Wie sich z. B. aus den Ausführungen Selliens (l. c. S.  40) erkennen läßt. 10)  Vgl. Allgemeine Erkenntnislehre, a. a. O., S.  30  ff.

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ist auch die Meinung Cassirers, die ich stets geteilt habe; Sellien11) jedoch, den Cassirer sonst zustimmend zitiert, scheint ihr zu widersprechen), aber der Newtonsche Raum ist auch bei ihm eben ein anschaulicher, noch nicht gereinigt von den Elementen, die wir noch als psychologisch bezeichnen müssen. So ist Kants reine Anschauung – wie es auch durchaus der verbreiteten Meinung von Raum und Zeit entspricht – ein Mittelding zwischen rein Begrifflichem und psychologisch Anschaulichem; und da ich es für eins der wichtigsten Ergebnisse der modernen Theorie der exakten Wissenschaft halte (in diesem Punkte hat sich Henri Poincaré besonders große philosophische Verdienste erworben), daß es solch eine Mischung, solch ein Mittelding eben nicht gibt, so mußte ich einerseits die Existenz einer reinen Anschauung im Sinne Kants leugnen (Allgem. Erkenntnislehre, S.  302) und durfte von einer Vermengung des physischen Raumbegriffs mit seinen sinnlichen Repräsentanten sprechen (Raum und Zeit, S.  83); andererseits mußte ich erklären, daß in der Lehre von den bloß subjektiven Anschauungsformen eben insofern ein richtiger Kern zu finden ist, als sie noch von psychologischen Momenten nicht ganz entblößt sind. Diese Ansichten vermag ich also nicht aufzugeben. Die Verfolgung des Bedeutungswandels der Termini Raum und Zeit durch die verschiedenen Gebiete des Geisteslebens gibt Cassirer Gelegenheit, seine Betrachtung der Relativitätslehre großzügig in umfassendere Zusammenhänge einzuordnen und außer dem Lichte der speziellen Erkenntniskritik auch die Strahlen der systematischen Philosophie auf sie zu richten. So schließt das Buch mit einem Umblick, dessen Weite der Höhe des eingenommenen Standpunktes entspricht. Wir scheiden mit dem Eindruck, daß dieser Standpunkt über die Region des eigentlichen Kritizismus doch schon hinausliegt, und daß es Cassirer nur hierdurch gelang, der Relativitätstheorie philosophisch in 11)  l. c. S.  16. Dort ist von der Zeit die Rede; vom Raum aber gelten die

Argumente in gleicher Weise.

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dem Maße gerecht zu werden, wie es in dem geistvollen und gedankenreichen Buche geschieht. Gern willfahre ich der Aufforderung der Leitung der Kantstudien, bei dieser Gelegenheit noch über zwei andere Bücher zur Einsteinschen Lehre kurz zu berichten, denn es handelt sich um | Schriften, von denen zu sprechen sich lohnt. Die erste, verfaßt von Max Born12), gibt eine glänzende, ausführliche Darstellung der Einsteinschen Lehre vom Standpunkt des Physikers aus. Sie füllt in überaus trefflicher Weise eine sehr fühlbare Lücke der Einstein-Literatur, denn während die bis dahin vorhandenen gemeinverständlichen Einführungen in die Theorie bei der Besprechung ihrer physikalischen Grundbegriffe sich auf das notwendigste beschränkten, erscheint die Theorie in dem Bornschen Buche zum ersten Mal nicht von ihrem natürlichen Hintergrunde abgelöst, sondern es wird gerade auf ihre Einordnung in das System der Physik großes Gewicht gelegt, klar treten die Zusammenhänge hervor, aus denen sie in Wirklichkeit erwachsen ist. Für den Nichtphysiker ist es von höchstem Werte, in diese Zusammenhänge eingeweiht zu werden, denn durch sie führt der naturgemäße Weg zum Verständnis. Born ebnet diesen Weg nicht nur durch Vermeidung aller höheren Mathematik, sondern selbst Logarithmen und trigonometrische Funktionen kommen nicht vor. Die Hauptsache aber ist: das Buch ist durch und durch das Werk eines philosophischen Kopfes. Das zeigt sich nicht etwa darin, daß Born den Gang seiner Darstellung durch philosophische Deutungen und Abschweifungen unterbräche, sondern in der Höhe der Gesichtspunkte, die den Aufbau bestimmen, und in der tiefen Besinnung, die aus der Behandlung des Gegenstandes überall hervorleuchtet. Es zeigt sich ferner vor allem in der kurzen philosophischen Einleitung, die geradezu klassisch anmutet 12)  Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre physikalischen Grund-

lagen. Gemeinverständlich dargestellt, mit 129 Abbildungen und einem Porträt, Berlin: Springer 1920.

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in der Wärme und der Prägnanz, mit der sie den Grundgedanken vorträgt: daß das Absolute nur im Umkreis des Subjektiven zu finden ist, und daß der denkende Geist in die Sphäre der objektiven Geltung nur vordringen kann, indem er das Absolute opfert, um Erkenntnis des Relativen dafür einzutauschen. Fürwahr eine fundamentale Einsicht, die nicht nur in der theoretischen Wissenschaft offenbar wird, sondern nach meiner Überzeugung sich auch in der praktischen Philosophie bewährt. Die zweite Schrift ist das Büchlein »Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori« von Hans Reichenbach (Berlin 1920).89 Es stellt zweifellos einen großen Fortschritt in der logischen Deutung der Einsteinschen Lehre dar. Reichenbach leuchtet durch eine | Art axiomatischer Methode in sehr scharfsinnigen und selbständigen Ausführungen in die logischen Grundlagen der Relativitätstheorie hinein und liefert dabei durch Aufdeckung gewisser versteckterer Prinzipien (er spricht z. B. von einem »Prinzip des approximierbaren Ideals«, einem »Prinzip der normalen Induktion« usw.) einen wertvollen Beitrag zur Logik der exakten Wissenschaft überhaupt. Er gelangt zu dem Resultat, daß Einsteins Theorie mit der ursprünglichen Kantschen Lehre nicht vereinbar sei, und er nimmt eine solche Umbildung des Aprioribegriffs vor, daß die Relativitätstheorie ihm nicht mehr widerspricht und, wie er meint, der wichtigste Grundgedanke der Kantschen Philosophie aufrecht erhalten bleibt. Diesen Grundgedanken glaubt er nämlich in der Einsicht zu finden, daß jede Erkenntnis nur durch die logische Voraussetzung gewisser Prinzipien möglich wird, die ihren Gegenstand überhaupt erst konstituieren. Solche Prinzipien nennt er a priori, läßt aber das Merkmal der Apodiktizität fallen; sie sind also nicht notwendig, und fortschreitende Erfahrung kann Anlaß zu ihrer Modifikation geben. »Apriori bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht: für alle Zeit, und nicht: unabhängig von der Erfahrung« (S.  100). Nach dem oben (S.  98) Gesagten scheint mir der Boden des Kritizismus damit vollständig verlassen zu sein; und Reichenbachs Prinzipien a priori würde ich als Konventionen im Sinne Poincarés bezeichnen. Die Termi-

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nologie des Verfassers kann ich also nicht gutheißen, aber sachlich stimme ich in den meisten wesentlichen Ergebnissen durchaus mit ihm überein. Selbst in den Fragen, in bezug auf welche er in der Schrift gegen mich Stellung nimmt, besteht in Wahrheit keine tiefgehende Verschiedenheit der Meinungen, wie eine briefliche Erläuterung beider Standpunkte nachträglich ergeben hat. Aber auch für den, der diesen Standpunkten fern steht, ist das Büchlein wertvoll, denn eine philosophische Leistung, die sich durch Originalität, Klarheit und Schärfe der Gedankenführung so auszeichnet wie die vorliegende, muß dem Leser auch dann Genuß und Vorteil bieten, wenn sie ihn zum Widerspruch anregt.

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1.6  Die Relativitätstheorie in der Philosophie Die Relativitätslehre ist in erster Linie eine physikalische Theorie. Wer aber deswegen den philosophischen Charakter und die philosophische Tragweite der Theorie leugnen will (wie man es gelegentlich getan), der verkennt, daß die physikalische und die philosophische Betrachtungsweise sich überhaupt nicht immer streng voneinander sondern lassen, daß vielmehr beide ineinander übergehen, sobald sie sich der Bearbeitung der höchsten, allgemeinsten Grundbegriffe der Physik zuwenden. Das tut aber die Relativitätstheorie, denn sie unterwirft die fundamentalen Begriffe des Raumes, der Zeit und der Substanz einer kritischen Zergliederung und dringt damit in die Philosophie ein; wie denn jede Wissenschaft unmerklich philosophisches Gebiet betritt, wenn sie die Fundamente untersucht, auf denen ihr eigenes Lehrgebäude ruht oder bis dahin geruht hat. Bekanntlich hat sich in der Einsteinschen Relativitätstheorie herausgestellt, daß die von der früheren Physik vorausgesetzten Grundbegriffe durchaus nicht die einzig möglichen Fundamente aller Naturwissenschaft darstellen, sondern durch andere, anders gebaute ersetzt werden müssen – zum mindesten ersetzt werden können. Dieses »können«, diese auf jeden Fall bestehende Möglichkeit, ist ein philosophisch sehr wichtiges Resultat, denn es zeigt uns: selbst wenn die Relativitätstheorie gar nicht richtig wäre, wenn also (was wohl nur ganz wenige von uns glauben) künftige experimentelle Erfahrungen ihr widersprechen sollten, selbst dann bliebe die Kritik der physikalischen Grundbegriffe, zu der sie Anlaß gab, voll berechtigt; sie hat unserm Blicke neue Möglichkeiten gezeigt, sie hat gewisse Vorurteile beseitigt, die nun nie wieder zurückkehren können, weil sie endgültig als Vorurteile erkannt sind, ganz unabhängig von den Schicksalen der Relativitätstheorie in der Physik. Mit andern Worten: die Theo-

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rie | hätte sogar dann ihre philosophische Bedeutung, wenn sie keine physikalische hätte. Ihrem philosophischen Gehalt ist es im Grunde zu danken, daß die Relativitätstheorie bei der Allgemeinheit der Gebildeten ein so übergroßes Interesse entfacht hat: man spürt eben deutlich, wie tief sie in die Denkgewohnheiten der Menschen umgestaltend eingreift; und der Mensch läßt sich gern erschüttern.90 Nicht wenige Philosophen haben versucht, diesen umgestaltenden Einfluß zu leugnen oder zu verkleinern, sie haben zur Relativitätslehre in sehr radikaler Weise Stellung genommen.91 Die einen nämlich glaubten Einsteins Ideen rundweg ablehnen zu müssen, weil sie ihrem »gesunden Menschenverstand« widersprachen, die andern meinten, jene Ideen aus alten längst bekannten Philosophemen so mühelos ableiten zu können, als ob sie etwas ganz Selbstverständliches wären, mithin gar keinen prinzipiellen philosophischen Erkenntnisfortschritt darstellten. Ich will nicht im einzelnen auf diese extremen Ansichten eingehen, überhaupt die von verschiedenen Denkern eingenommenen Positionen nicht einzeln besprechen, denn Sie werden mir gewiß Dank wissen, wenn ich mich genau an das Thema halte, das mir gestellt ist und welches lautet: »Die Relativitätstheorie in der Philosophie«, nicht aber »Die Relativitätstheorie bei den Philosophen«. Ein naturwissenschaftliches Lehrgebäude, wie die Einsteinsche Theorie eins darstellt, kann auf zwei unterscheidbaren (wenn auch schließlich nicht prinzipiell verschiedenen) Wegen in Beziehung zur Philosophie treten. Sie kann nämlich erstens in methodischer und zweitens in sachlicher Hinsicht philosophische Bedeutung gewinnen. Die methodische Bedeutung ist mehr äußerlicher Natur; sie beruht darauf, daß die Theorie von sich selbst aus zur Philosophie hindrängt und in ihr eine Grundlage und Ergänzung sucht. Sie verfolgt die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise bis an die äußerste Grenze, wo sie nicht weiter kommt, und erkennt, daß die letzte Entscheidung nur aus philosophischen Prinzipien gewonnen werden kann. Sie muß der Phi-

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losophie das letzte Wort erteilen und deckt damit den ur­a lten, stets vorhandenen, aber in neuerer Zeit oft verborgenen und vergessenen Zusammenhang zwischen Einzelwissenschaft und Philosophie auf. Wir werden sogleich sehen, wie dies durch die Relativitäts­lehre geschieht. Zweitens hat diese Theorie eine sachliche Bedeutung für die Philosophie; d. h. sie vermag unmittelbar Beiträge zur Lösung bestimmter, durch die Geschichte des menschlichen Denkens sich hindurchziehender philosophischer Probleme zu liefern. Während durch die methodischen Beziehungen nur das Tor zur Philosophie geöffnet wird, | dringen wir vermöge der sachlichen Beziehungen in das Innere, sehen uns hier ganz bestimmten Fragen gegenüber und werden zu ganz bestimmten Antworten geführt. Ich beleuchte zunächst kurz die methodischen Beziehungen, durch welche also die Einsteinsche Lehre Physik und Philosophie wieder in unmittelbare Nähe und gegenseitige Berührung gebracht hat. Richtet man den Blick zuerst auf die spezielle Relativitätstheorie, so kann man leicht und genau den Punkt angeben, an dem Einstein mit der philosophischen Betrachtung einsetzte, und welches philosophische Prinzip dabei ins Spiel trat. Es hatte sich herausgestellt, daß es auf keine Weise möglich war, eine absolute Bewegung der Erde, d. h. in der damaligen Ausdrucksweise: eine Bewegung gegen den Lichtäther, festzustellen, und H. A. Lorentz und Fitzgerald hatten eine rein physikalische Erklärung dafür gegeben durch ihre Hypothese, daß alle relativ zum Äther bewegten Körper sich in der Bewegungsrichtung um einen bestimmten Betrag kontrahieren.92 Einstein erkannte diese Hypothese als besondere physikalische Annahme nicht an, obwohl sie zweifellos von den Beobachtungsresultaten vollkommene Rechenschaft gab und das Erkenntnisbedürfnis der namhaftesten Physiker tatsächlich befriedigte; er verwarf die geschilderte Auffassung aus einem rein philosophischen Grunde, nämlich weil sie einem rein erkenntnistheoretischen Prinzip nicht Genüge leistete: dem

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Prinzip, daß als Erklärungsgrund in der Naturwissenschaft nur etwas wirklich Beobachtbares eingeführt werden dürfe. Jene Annahme behandelte die Bewegung eines Körpers relativ zum Äther als etwas Wirkliches, ohne daß man doch ein Mittel hätte, diese Bewegung jemals nachzuweisen. Einstein sagte: was sich nicht nachweisen läßt, darf nicht als existierend angenommen werden.93 Dies ist natürlich eine philosophische Forderung, nicht etwa ein Erfahrungssatz; Erfahrung kann ja nichts darüber lehren, ob etwas Nicht-Erfahrbares existiert. Und dieses philosophische Postulat hat ein so großes Gewicht für uns alle, die wir an Einsteins Theorie glauben, daß wir alle Konsequenzen, zu denen die darauf gebaute Lehre führt, willig in den Kauf nehmen, und mögen sie noch so paradox sein. Wir opfern dem erkenntnistheoretischen Postulat zuliebe ohne Bedenken die alten Vorurteile und Denkgewohnheiten, daß die Längenmessungen eines Körpers, die Zeitdauer eines Vorgangs, die Gleichzeitigkeit an verschiedenen Orten etwas Absolutes seien, – freilich erst, nachdem wir sie wirklich als Vorurteile erkannt | haben – aber wir opfern sie, um die Erkenntnisbefriedigung zu genießen, die uns die Erfüllung jenes philosophischen Satzes bereitet. Die spezielle Relativitätstheorie unterscheidet sich von der Lorentzschen Auffassung zuerst in der Tat nur durch die grandiose philosophische Interpretation; in ihren mathematischen Gleichungen, und mithin in ihrem prüfbaren Erfahrungsgehalt, stimmen beide gänzlich überein. So hat Einstein die Physik wieder philosophisch gemacht; oder vielmehr, es ist durch ihn deutlich geworden, daß die Physik philosophisch ist, daß auch der Physiker sich von philosophischen Gesichtspunkten leiten lassen muß. Und daß das Eindringen in den Geist der physikalischen Forschung, welches die philosophische Einstellung mit sich bringt, auch für die Physik selber wieder fruchtbar wird, zeigt ja die weitere Entwicklungsgeschichte der Relativitätstheorie. Denn nicht nur an ihrem Anfang steht die erkenntnistheoretische Forderung, das System der Physik müsse sich aufbauen las-

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sen ohne jede Einfügung von Größen, die prinzipiell nicht beobachtbar sind, sondern derselbe Satz zieht sich durch ihr ganzes Gebäude als Leitmotiv hindurch, um an den wesentlichsten Punkten bestimmend und entscheidend hervorzutreten. Ich will das an einem wichtigen Beispiel zeigen. Jenes fundamentale Prinzip, welches Einstein als das Äquivalenzprinzip bezeichnet94, wird zur Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie erst durch die philosophische Interpretation, die Einstein den Tatsachen angedeihen läßt. Die Tatsache des Äquivalenzprinzips ist die, daß sich in einem genügend kleinen Bereich Schwerewirkungen und Trägheitswirkungen schlechterdings nicht unterscheiden lassen. Nun, das war seit langem bekannt, wenigstens für alle mechanischen Vorgänge, und das berühmte »Liftbeispiel«95, durch welches Einstein jene Tatsache veranschaulicht, hätte ebensogut schon von Newton aufgestellt werden können. Man kannte also sehr wohl die Äquivalenz von Trägheit und Schwere und glaubte doch, daß sie voneinander völlig wesensverschieden wären. Einstein aber sagte: »Wenn beide Wirkungen tatsächlich in keiner Weise durch Beobachtung voneinander unterscheidbar sind, so sind sie eben identisch, es handelt sich um ein und dieselbe Naturerscheinung, nur mit zwei verschiedenen Namen bezeichnet«96; er stützt sich also wieder auf jenes erkenntnistheoretische Postulat, wonach Verschiedenheiten in der Wirklichkeit nur dort angenommen werden dürfen, wo Verschiedenheiten in der Beobachtung vorliegen. Und wenn wir endlich, Einzelheiten übergehend, den Blick auf den Gipfel des ganzen Baues der Relativitätslehre richten, so finden | wir, daß das gleiche philosophische Prinzip dort thront. Fragt man sich nämlich, was denn in der Physik eigentlich überhaupt letzten Endes beobachtbar sei, so findet man mit Einstein, daß alle exakte Wissenschaft nur auf Beobachtungen ruht, die Messungen sind, daß aber jede Messung auf nichts anderes hinausläuft als auf die Feststellung des Zusammenfallens zweier Punkte (z. B. einer Zeigerspitze mit einem Skalenpunkt oder den Enden eines Maßstabes mit bestimmten Punkten eines zu mes-

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senden Körpers). Wenn es also wahr ist, daß in den physikalischen Gesetzen nur Beobachtungsresultate auftreten dürfen, so müssen sie sich alle zurückführen lassen auf Gesetze über das Zusammentreffen von Punkten. Diese Punktkoinzidenzen sind die wahre objektive Realität, welche die Physik zu beschreiben hat; und alles, was sonst noch in ihren Gleichungen auftritt, ist im Grunde nur Mittel der Beschreibung, abhängig vom Standpunkt und Ausgangspunkt, und verfällt deshalb der vollständigen Relativierung. Damit ist die physikalische Relativität in ihrer allgemeinsten Fassung, wie sie in der Einsteinschen Theorie durchgeführt ist, durch jenen erkenntnistheoretischen Grund­ gedanken rein philosophisch begründet.97 Die angeführten Beispiele zeigen, daß die Wurzeln des Relativitätsgedankens sich überall in die Philosophie hinein erstrecken: diese neue Physik ruht unmittelbar auf dem philosophischen Mutterboden, auf den sich mittelbar alle Wissenschaft irgendwie stützen muß. Aber indem wir so die methodische Beziehung der Relativitätslehre zur Philosophie verfolgen, offenbaren sich uns zugleich sachliche Beziehungen, von denen sich die methodischen überhaupt nicht ganz streng sondern lassen. Wir gewahren nämlich nicht nur die innige Verflechtung der neuen Physik mit philosophischen Grundgedanken, sondern bemerken zugleich, daß es ganz bestimmte Grundgedanken sind, daß sie in die Richtung ­einer ganz bestimmten Philosophie hinweisen. Die in der Theorie so stark betonte Tendenz, nur das Erfahrbare, Beobachtbare gelten zu lassen, ist im Sinne jener Denkrichtung, die man als Empirismus, als Erfahrungsphilosophie zu bezeichnen pflegt. Ich meine in der Tat: die Forderung, in das System der Weltbeschreibung keine andern Größen aufzunehmen als erfahrbare, darf geradezu als der Grundgedanke der reinen Erfahrungsphilosophie angesehen werden. Womit nicht gesagt sein soll, daß dies Prinzip in den aus der Philosophiegeschichte bekannten empiristischen Systemen je in voller Reinheit festgehalten worden

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wäre. Und weil es der Relativitätstheorie geglückt ist zu zeigen, daß jene erkenntnistheoretische Forderung sich in der Physik wirklich erfüllen läßt und gerade durch | ihre Erfüllung erstaunlichste naturwissenschaftliche Erfolge erzielt wurden, so darf der Empirismus den Sieg der Relativitätslehre als einen eigenen Sieg in Anspruch nehmen, darf darin eine Bestätigung seiner eigenen Ideen, einen Beweis der Fruchtbarkeit seiner eigenen Ansätze erblicken. Auch die historische Betrachtung zeigt uns die Blutsverwandtschaft zwischen Relativitätslehre und Empirismus, denn Einstein ist unmittelbar durch Hume und Mach beeinflußt worden, jene hervorragenden Empiristen, deren Philosophie man gern und treffend mit dem Namen des Positivismus bezeichnet, weil sie die Aufgabe aller wissenschaftlichen Erkenntnis darin sieht, das positiv Gegebene in seinen Zusammenhängen zu beschreiben.98 Zu der Zeit, als Einstein die beschränkte Relativitätstheorie fand, war er gerade mit dem Studium Humes beschäftigt,99 und es ist bekannt, daß die Behauptung der allgemeinen Theorie, in der Physik müßten alle Bewegungen als rein relativ betrachtet werden, als Forderung schon von Mach mit dem größten Nachdruck aus erkenntnistheoretischen Gründen aufgestellt wurde.100 Ob Machs Gründe wirklich zwingend waren, soll hier nicht untersucht werden101 – daß wir ihnen in diesem Zusammenhang begegnen und das Postulat der Relativität beliebiger Bewegungen so deutlich aufgestellt finden, ist jedenfalls ein Anzeichen für die logische Zusammengehörigkeit relativistischer und empiristischer Gedankengänge. Freilich nur ein Anzeichen, denn historische Zusammenhänge können nie die Rolle von sachlichen Begründungen übernehmen. Es geht deshalb auch durchaus nicht an, die moderne Relativitätslehre einfach als eine Fortsetzung und natürliche Konsequenz philosophischer Relativitätsgedanken zu betrachten, wie wir sie mehr oder weniger deutlich schon seit frühen Zeiten finden, etwa in den Anschauungen des Sophisten Protagoras, dessen Relativismus zusammengefaßt ist in seinem berühmten

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Satze: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge«.102 Wenn ich im allgemeinen über Relativität in der Philosophie zu sprechen hätte, so müßte ich in der Tat bei Protagoras beginnen, aber ich soll ja von der Relativitätstheorie in der Philosophie reden, und das ist etwas ganz anderes, zum mindesten etwas viel Spezielleres. Der Satz des Protagoras bedeutet vielleicht, daß die Welt für jeden so ist, wie sie ihm erscheint, vielleicht auch, daß alle unsere Urteile und die Qualitäten aller unserer Wahrnehmungen rein subjektiv sind … dies mag sogar ganz richtig sein, aber die Relativitätstheorie hat mit alledem nichts zu tun. Der Mensch und seine Sinnesqualitäten kommen in Einsteins Formeln nicht vor. Man gelangt zu einer ganz falschen Auffassung der Lehre, wenn man in ihr nur eine Spezialisierung des vagen und übrigens falschen Satzes sehen möchte: | »Alles ist relativ«, oder wenn man glaubt (wie es geschehen ist), Einsteins allgemeines Relativitätsprinzip in der Formel aussprechen zu können: »Es gibt keine absoluten Qualitäten«. Über irgendwelche Sinnesqualitäten sagt die Theorie nichts, ja man darf die Qualitäten unserer Sinnesempfindungen mit vollem Recht – wenn das Wort nicht verpönt ist – als etwas Absolutes betrachten: die Wahrnehmungsinhalte blau, warm, sauer usw. sind als Erlebnisse eines Subjekts durchaus absolut in dem Sinne, daß keine Interpretation, keine begriffliche Bearbeitung an ihnen etwas ändern oder deuteln kann, sie sind als Wirkliches schlechthin vorhanden und gegeben. Die Relativitätstheorie dagegen hat lediglich physikalische Größen zum Gegenstande, d. h. Resultate von Messungen. Jedes Messungsergebnis ist eine Zahl, die von gewissen Voraussetzungen abhängt, unter denen die Messung stattfindet, und von gewissen Festsetzungen, die man treffen muß, um überhaupt zu einer Maßzahl zu gelangen; und die Relativierung, welche die neue Lehre vollzieht, besteht im Grunde nur darin, daß sie das Messungsergebnis als von mehr Voraussetzungen abhängig erweist, als man früher glaubte, nämlich vom Bewegungszustand des Beobachters usw. Die Theorie deckt also gewisse Abhängigkeiten auf, deren Art und Grad sie natürlich genau angibt und in

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strengen Gesetzen formuliert. Man begegnet in der popu­lären Meinung zuweilen noch dem unbegreiflichen Mißverständnis, als handele es sich in der Relativitätstheorie um eine Aufhebung der strengen Bestimmtheit, um eine Lockerung der Naturgesetze. Das Gegenteil ist natürlich der Fall. Eine wissenschaftliche Theorie kann immer nur die Aufstellung, niemals die Aufhebung von Gesetzen zum Ziele haben, und die Relativitätslehre ist eine wissenschaftliche Theorie. Wenn ein philosophischer Relativismus gelegentlich die Tendenz gehabt hat, strenge Gesetzlichkeit zu leugnen, so ist dies um so mehr Grund, den völlig entgegengesetzten Charakter der physikalischen Relativität zu betonen. Auch nach der Relativitätstheorie darf man getrost sagen, daß sich die physikalische Gesetzlichkeit der Welt als eine »absolute« darstellt. Absolut nicht in dem Sinne, daß sie nicht auf beliebig viele verschiedene Weisen formuliert werden könnte, wohl aber in dem Sinne, daß die Gesetze schlechthin eindeutig und sicher bestimmt sind, wenn einmal bestimmte Festsetzungen und Voraussetzungen getroffen sind, wie sie zu Beginn jeder Naturbeschreibung erforderlich sind. Ein Gesetz verdient eben diesen Namen nur dann, wenn es schlechthin gültig ist, jeder Unbestimmtheit und Willkür entzogen. Die Relativierung ist für die Theorie überhaupt nur Mittel zum Zweck. Alle Größen, die sich relativieren lassen, mußten relativiert werden, um gerade die ruhenden Pole in der Erscheinungen Flucht, die | sogenannten Invarianten, rein herauszustellen, also das, was unbekümmert um Betrachtungsweise und Standpunkt unverändert bleibt und schließlich das physikalische Weltbild in seiner Reinheit und in aller Vollständigkeit ausmacht. Es kommt also auch der Relativitätslehre – wie jeder wissenschaftlichen Theorie – allein auf die Aufstellung objektiver, allgemeingültiger Gesetze an, und dazu kann sie den Gedanken einer objektiven Wirklichkeit, in der alle Subjekte gemeinsam leben, und die alle Beobachter gemeinsam messen, nicht entbehren. Sie findet diese objektive Welt, über welche die Aussagen aller Beobachter übereinstimmen müssen, in dem System jener raum-

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zeitlichen Koinzidenzen, von denen ich schon gesprochen habe. Diese Koinzidenzen von Ereignissen, also Gleichzeitigkeiten an gleichen Orten, bilden das objektive Gerüst, mit Hilfe dessen es allein gelingt, einen durchgehenden allgemeinen Gesetzeszusammenhang der Natur herzustellen. Gäbe es nicht irgendwelche aller Subjektivität und Relativität entrückten Daten wie jene Koinzidenzen, so fehlte jeder Ansatzpunkt für eine wissenschaftliche Theorie; wäre z. B. Gleichzeitigkeit am gleichen Orte nicht etwas Absolutes, so ließe sich auch keine Gesetzmäßigkeit für die Relativität der Gleichzeitigkeit an verschiedenen Orten angeben. Dies übersieht der Positivismus in derjenigen extremsten Fassung, in der er jeden Gedanken einer absoluten Wirklichkeit mit dem Schlagwort »Alles ist relativ« erschlagen zu können glaubt. Er findet jedenfalls in der Relativitätstheorie keine Stütze. Es ist durchaus wichtig zu betonen, daß dieser übertriebene relativistische Positivismus tatsächlich zu Behauptungen geführt hat, die den Voraussetzungen der Relativitätstheorie, ja der Physik überhaupt widersprechen. Sie kennen das berühmte Uhrenbeispiel der speziellen Theorie: von zwei ganz gleichgehenden, zunächst nebeneinander ruhenden Uhren wird die eine fortbewegt und kehrt nach einer längeren Reise wieder zu der andern zurück. Die, welche die Rundreise gemacht hat, geht dann gegenüber der zu Hause gebliebenen nach. Dies Beispiel ist von einem sehr scharfsinnigen und hochzuschätzenden Verkünder des relativistischen Positivismus auf Grund seiner philosophischen Anschauung dahin mißverstanden worden, daß von den beiden Uhren, die ja zum Schluß beide nebeneinander ruhen, für den einen Beobachter die eine, für den andern die andere nachgehen ­müsse.103 Die zwei Beobachter sollen also, obgleich sie beide neben den Uhren in Ruhe sind, doch einen ganz verschiedenen Tatbestand feststellen, also an derselben Uhr verschiedene Zeigerstellungen ablesen. Die relativistische Philosophie mag dergleichen Möglichkeiten in Betracht ziehen müssen – prinzipiell brauchten die Erlebnisse verschiedener Beobachter ja niemals irgendwie überein | zustimmen – aber ich brauche nicht zu versi-

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chern, daß es der Einsteinschen Relativitätstheorie niemals eingefallen ist, eine solche Behauptung aufzustellen, und einen Relativismus dieser Art zu verteidigen. Jetzt erkennen wir deutlicher die Stellung der Relativitätstheorie: sie ordnet sich im allgemeinen vortrefflich den empiristischen und positivistischen Gedankenreihen ein, aber die innerhalb dieser Richtungen in der Geschichte der Philosophie entwickelten »relativistischen« Ideen sind keineswegs alle geeignet, die Einsteinsche Theorie verständlich zu machen und zu begründen, ja sie stehen zum Teil in Widerstreit mit ihr. Daraus folgt, daß die Relativitätslehre uns dazu dienen kann, das Berechtigte an jener Philosophie von dem Übereilten und Verkehrten zu sondern. Die Theorie gestattet keinen wilden, unkritischen Empirismus oder Positivismus, sondern nötigt diese philosophischen Richtungen zu einer prägnanten Formulierung ihrer Grundthesen, schließt sie in ganz bestimmte Grenzen ein und reinigt und klärt ihre Prinzipien. So trägt sie machtvoll dazu bei, die Philosophie aus dem Stadium vager Allgemeinheiten in das Stadium fest umschriebener genauer Formulierungen überzuführen: ein Prozeß, der für das Leben der Philosophie von so entscheidender Wichtigkeit ist, und der in der Gegenwart eben durch das Zusammenarbeiten mit der exakten Naturwissenschaft gute Fortschritte zu machen scheint. Innerhalb der von ihr selbst gezogenen Grenzen bestätigt nun die Relativitätstheorie in der Tat auch manche Einzelentdeckung empiristischer Philosophie auf neuartige Weise. Eine der größten Leistungen Humes war die Kritik des Substanzbegriffs; sie lief darauf hinaus, den Begriff der Substanz als eines verborgenen, unbekannten Trägers der Eigenschaften zu zertrümmern; Substanz sei nicht etwas Besonderes neben oder hinter den Eigen­ schaften, nicht ein Ding, an dem sie haften, sondern nur ein Name für einen Inbegriff von Eigenschaften. Nun, die Relativitätstheorie kam durch ihre Kritik der Äthervorstellung zu einem Ergebnis, das sich unmittelbar als eine Anwendung jenes philo-

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sophischen Gedankens auffassen läßt. Die Wirkungen von einem Körper zum andern durch das Vakuum werden nach der Theorie nicht durch einen stofflichen Äther übertragen, sondern das Vakuum ist von Zustandsgrößen erfüllt, z. B. von elektrischen und magnetischen Feldstärken, die nicht Zustände von irgend etwas, sondern selbständig für sich da sind und keines Trägers bedürfen. Ihr Wechsel, ihr Entstehen und Verschwinden stellt ein substratloses Geschehen dar, das dem Philosophen schon lange geläufig ist (z. B. aus der »Aktualitätstheorie« des Seelischen), und an das nun auch | der Physiker sich gewöhnt. Die ponderable Materie wird schließlich in gleicher Weise in Zustandsgrößen (Vektoren und Tensoren) aufgelöst, und so besteht die Welt der modernen Physik nicht aus Dingen, Substanzen, an denen irgend etwas geschieht, die sich verändern und bewegen, sondern die letzten Elemente, aus denen das Universum sich aufbaut, sind Geschehnisse, Ereignisse. Ein körperliches Ding, z. B. ein Goldatom, ist nichts anderes als ein Komplex von Geschehnissen, sein Dasein ist ein Prozeß, es besteht darin, daß gewisse Ereignisse sich abspielen. Während etwa Lotze das »Sein der Dinge« und das »Geschehen der Ereignisse« als zwei verschiedene Wirklichkeitsarten einander gegenüberstellt, dürfen wir heute sagen, daß der zweite dieser beiden Begriffe allein zur Beschreibung der Wirklichkeit völlig ausreicht, und daß der erste sich auf ihn zurückführen läßt. Aber diese wichtigen Ergebnisse sind der modernen Naturphilosophie vielleicht noch nicht völlig in Fleisch und Blut übergegangen; dagegen haben sich die leichter zugänglichen Sätze der relativistischen Raum- und Zeitlehre in ihrer erkenntnistheoretischen Bedeutung bereits in sehr erfreulichem Maße auswirken können. Ihre Wirkung war auch schon lange vorbereitet, wenigstens was die Raumlehre betrifft. Denn die Raumtheorie, welche die allgemeine Relativitätstheorie benutzt, wurde von Einstein bereits so gut wie vollendet vorgefunden; das war in erster Linie den Arbeiten von Gauss, Riemann und Helmholtz zu danken. Sie hatten schon mit der größten Deutlichkeit eingesehen, daß der physikalische Raum durchaus nicht genau die Eigenschaften zu

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haben braucht, die ihm von der üblichen Geometrie, die wir in der Schule lernen – der euklidischen Geometrie –, zugeschrieben werden. Sie hatten behauptet, daß die euklidischen Lehrsätze gar nicht notwendig von unserm Raum zu gelten brauchen, sondern daß ihre Geltung bloß als eine Erfahrungstatsache zu betrachten sei, so daß also künftige genauere Erfahrungen uns möglicherweise dahin führen könnten, ihm eine nicht-euklidische Konstitution zuzuschreiben. Diese Behauptungen stießen damals bei den Philosophen der Kantschen Richtung auf schärfsten Widerspruch. Sie gaben höchstens zu, daß nicht-euklidische Geometrien rein abstrakt-begrifflich denkbar seien, aber sie leugneten, daß sie jemals Bedeutung für die Wirklichkeit erlangen könnten, denn – so meinten sie mit Kant – die Grundsätze der euklidischen Geometrie seien ein Ausdruck der Beschaffenheit unseres eigenen Anschauungsvermögens und müßten deshalb mit unentrinnbarer Notwendigkeit von der ganzen wahrnehmbaren und vorstellbaren Welt gelten. Nun kommt die allgemeine Relativitätstheorie und sieht sich genötigt, zur Beschreibung eben dieser Welt die nicht-euklidische Geometrie zu benutzen. Damit ist durch Einstein Wirk | lichkeit geworden, was Riemann und Helmholtz als Möglichkeit behaupteten, die Kantische Position ist als unhaltbar erkannt, und die empiristische Philosophie hat einen ihrer glänzendsten Triumphe errungen. Denn nun entscheidet wirklich die Erfahrung darüber, ob die euklidische oder eine andere Geometrie an dieser oder jener Stelle der Natur gültig ist; und dies muß nicht nur jeder zugeben, der bereits an die Richtigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie glaubt, sondern auch jeder, der da glaubt, daß über die Richtigkeit oder Falschheit dieser Theorie letzten Endes allein die Erfahrung, das Experiment entscheiden kann. Trifft aber, wie ich überzeugt bin, die allgemeine Relativitätstheorie für die Wirklichkeit zu, dann erhalten alle jene wundersamen Eigenschaften nicht-euklidischer Räume, wie sie einem weiteren Kreise von Gebildeten etwa durch Helmholtz’ populäre Vorträge schon lange bekannt waren, nun ein neues, gleich-

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sam aktuelles Interesse, denn sie sind nicht mehr bloß theoretische Möglichkeiten, nicht bloß ein Tummelplatz mathematischer Phantasie, sondern sie bedeuten etwas für unser Universum, sie stellen Wirklichkeiten dar, die unser Weltbild von Grund auf umgestalten. Die Theorie führt durch meines Erachtens unausweichliche Schlüsse zu dem Ergebnis, daß der Raum (nicht etwa nur die Welt im Raum) endlich ist, obwohl er nirgends Grenzen hat. Das heißt, wenn wir in einer beliebigen Richtung im Universum immer weiter und weiter gehen, so kommen wir natürlich nirgends an irgendwelche Grenzen, wo der Raum aufhörte, aber wir kommen auch nicht ins Unendliche, sondern schließlich in die Nähe des Ausgangspunktes zurück. Der Gedanke, daß dies nicht bloß eine abstrakte Möglichkeit darstellt, sondern sich höchstwahrscheinlich wirklich so verhält, feuert die Philosophie aufs lebhafteste an, diese anfänglich so schwer vorstellbaren Dinge in ihr System einzuordnen und in Beziehung zu setzen zur psychologischen und erkenntnistheoretischen Betrachtung des Anschauens, Vorstellens und Denkens. Diese Bemühungen haben ein lockendes Arbeitsfeld erschlossen und, wie ich glaube, schon ansehnliche Früchte getragen, auf die ich aber hier nicht weiter eingehen kann. Die Ergebnisse scheinen mir auch hier wieder durchaus in der Richtung eines vertieften Empirismus zu liegen. Zu dem gleichen Resultat kommt man, wenn man die relativistische Zeitlehre der Kantischen gegenüberstellt, doch ist es hier nicht möglich und nicht nötig, dabei zu verweilen. Immerhin ist heute noch der Kantianismus ein ernster – und der einzige beachtenswerte – Gegner einer empiristischen Auslegung der Relativitätstheorie. Er hat nichts unversucht gelassen, um das Prinzip | seiner Philosophie den neuen Erkenntnissen gegenüber zu retten. Er hat sich zu diesem Zwecke auf einen höheren Standpunkt zurückgezogen, indem er die Kantschen Grundgedanken so verallgemeinerte, daß sie fähig erschienen, die neue Physik in sich aufzunehmen.104 Es stellt sich aber heraus, daß bei Verfolgung dieses Weges vom Kantianismus schließlich nur so-

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viel übrig bleibt, als mit einer verständigen und vertieften Erfahrungsphilosophie vereinbar und auch in ihr schon enthalten ist, so daß die letztere eben doch siegreich bleibt. Sie mögen mir hierin beistimmen oder nicht – jedenfalls sehen Sie, wie die Relativitätstheorie der Philosophie an vielen Punkten helfen kann, ihre uralten Probleme der Lösung näher zu führen: das Problem der Substanz, das Raum- und Zeitproblem, das Problem der Anschauung und manches andere, das ich heute nicht erwähnen konnte. Diese Fülle der sachlichen Anregungen und Konsequenzen, durch welche die Relativitätslehre die Philosophie bereichert, bildet sicher den Kern dessen, was ich hier auszuführen hatte; aber bei einer Gelegenheit wie der heutigen erscheint es ebenso wichtig, gerade die methodischen Beziehungen zwischen Relativitätstheorie und Philosophie auch in den Vordergrund zu rücken, denn die heutige Jubelfeier ist weniger dazu angetan, daß wir uns in wissenschaftliche Einzelprobleme vertiefen, als vielmehr an dem Bewußtsein der Einheit aller wissenschaftlichen Forschung begeistern, uns der Gemeinsamkeit ihrer Ziele versichern. Allen Wissenschaften aber, sofern sie echt sind, ist der philosophische Geist, das Streben nach Erkenntnis um ihrer selbst willen gemeinsam, die Philosophie bleibt ihr einigendes Band. Der Mann, auf dessen Anregung die erste Zusammenkunft der Naturforscher vor 100 Jahren zurückgeht, Lorenz Oken, war selbst in erster Linie Philosoph. Als dann freilich die Philosophie sich durch kühne Spekulationen zu weit von den Grundlagen besonnener Forschung entfernte, entstand ein tiefer Bruch zwischen ihr und der exakten Wissenschaft, der jahrzehntelang nicht geheilt wurde. Aber die Zeiten der Trennung sind vorüber, die Naturforschung ist wieder philosophisch geworden, und die Philosophie hat sich auf den Boden der exakten Wissenschaft zurückgefunden. Und das ist nicht in letzter Linie der Einsteinschen Theorie zu danken. Philosophie und exakte Wissenschaft, die sich in der Relativitätslehre die Hand reichen, lassen einander nun nie wieder los; und diese Theorie, von der es eine Zeitlang

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scheinen konnte, als ob sie wie ein Zankapfel wirke, bringt uns in Wahrheit wenigstens an einer Stelle dieser geistigen Regionen an das Ziel, das auf andern Gebieten des Lebens heute so fern erscheint: das Ziel der Gemeinschaft und der Versöhnung.

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1.7  Relativitätstheorie und Philosophie Das Verhältnis der Philosophen zur Naturwissenschaft hat sich seit Anfang des vorigen Jahrhunderts mehrfach gewandelt. Auf die Kantsche Lehre, die in ihrem erkenntnistheoretischen Teile im wesentlichen ein verständnisvoller Versuch war, die Grundvoraussetzungen der Galilei-Newtonschen Physik philosophisch zu rechtfertigen, folgten die Systeme des sogenannten »deutschen Idealismus«, die sich in kühner begrifflicher Konstruktion und Spekulation ohne nennenswerte Erfahrungsgrundlage ergingen. Sie erreichten ihren Höhepunkt in der Philosophie ­Hegels, der über die Tatsachen der Erfahrung mit souveräner Mißachtung hinwegsah und daher mit der Naturforschung auf dem Kriegsfuße stand. Hegel erklärte zum Beispiel, die heute jedem Schulkinde geläufige Einsicht Newtons, daß das weiße Licht aus farbigem Lichte zusammengesetzt ist, für eine »Barbarei« und ereiferte sich dabei über die »Ungeschicklichkeit, Unrichtigkeit und Fadheit, ja Unredlichkeit des Newtonschen Experimentierens, über die gleich schlechte Beschaffenheit des Schließens, Folgerns und Beweisens, über die Gedankenlosigkeit, über die Blindheit des Vorurteils, daß die Theorie auf etwas Mathematischem beruhe …«.105 Die gerechte Empörung über solche Anmaßung des Philosophen hatte zur Folge, daß nicht nur das Hegelsche System der Mißachtung anheimfiel, sondern jede Art philosophischer Spekulation von der Naturwissenschaft mit höchstem Mißtrauen betrachtet wurde. Es entstand eine tiefe Kluft zwischen beiden und das bloße Wort »Naturphilosophie« kam in Verruf. Nachdem dieser unerfreuliche Zustand gegenseitiger Feindschaft Jahrzehnte gedauert hatte, trat gegen Ende des Jahrhunderts wiederum eine Annäherung ein, den Philosophen wurde klar, daß der einzige Weg zu ihren Zielen durch eine gründliche Kenntnis der Methoden und Ergebnisse der Einzelwissenschaften hindurchführte, und die Naturforscher erkannten die Notwendigkeit einer philosophischen Begründung und

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Deutung ihrer eigenen Grundbegriffe. So hat sich in der Gegenwart wieder gegenseitiges Verstehen, gutes Einvernehmen und fruchtbare Zusammenarbeit herausgebildet. In diese Harmonie der philosophischen und der naturwissenschaftlich-mathematischen Forschung klingen solche Äußerungen wie der kürzlich an dieser Stelle von Professor Kraus in Prag veröffentlichte Artikel über die Relativitätstheorie als ein unschöner Mißton hinein106; deshalb liegt es mir am Herzen, auch von der Seite der Philosophie her den Ausführungen jenes Artikels entgegenzutreten, nachdem Professor Thirring sie bereits vor einer Woche von der Seite der Physik her richtiggestellt hat.107 Wir können in Kraus’ Artikel folgende Behauptungen unterscheiden: 1. Er habe nachgewiesen, daß die Relativitätstheorie philosophisch, physikalisch und mathematisch unhaltbar sei; 2. die Relativitätstheorie habe überhaupt keine philosophische Bedeutung; 3. die Naturphilosophie beginne sich von der Relativitäts­ theo­rie abzuwenden. Alle drei Behauptungen sind falsch. Ad 1. Mit seinen philosophischen Einwendungen gegen die Theorie spielt Kraus der Einsteinschen Physik gegenüber eine Rolle, die der oben geschilderten Stellung Hegels zur Newtonschen Physik nicht unähnlich ist. Es soll gern anerkannt werden, daß er sich in der Polemik nicht eines so unwürdigen Tones bedient, wie wir ihn bei Hegel fanden (wie denn überhaupt jeder Vergleich von Professor Kraus mit jenem Philosophen mir im übrigen fern liegt), aber sachlich verdient sein Urteil ebenso energische Zurückweisung. Alle Widersprüche, die Kraus innerhalb der Einsteinschen Theorie zu finden meint, sind in Wahrheit nur Widersprüche der Theorie gegen gewisse Voraussetzungen und Vorurteile, deren Entbehrlichkeit erkannt zu haben die große philosophische Tat Einsteins war, während Kraus an ihnen festhält. Sein Argument, durch das er in seinem Artikel »einen der Grundirrtümer« der Relativitätstheorie mit Hilfe des Beispiels

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vom Wagen und Automobil auf einer Landstraße aufzudecken glaubt, beruht auf einer Verkennung des wahren Sinnes des sogenannten »Additionstheorems der Geschwindigkeiten« von Einstein, auf einer mangelhaften Unterscheidung zwischen einer mathematischen Formel und ihrer physikalischen Anwendung. Kraus’ Einwände gegen die relativitätstheoretische Behandlung des Uhrenganges und Zeitablaufes setzen eben denjenigen Begriff der absoluten Zeit voraus, der von der Theorie gerade in Zweifel gezogen wird: seine Schlüsse leiden daher an dem Fehler, den der Logiker eine Petitio principii nennt. Ad 2. Mit der Einsicht in die logische Unanfechtbarkeit der Relativitätstheorie erschließt sich zugleich die Einsicht in ihre wahre philosophische Bedeutung, die Professor Kraus überhaupt leugnen zu müssen glaubt. Als der Schreiber dieser Zeilen im Auftrage der deutschen Naturforscherversammlung anläßlich der Feier ihres hundertjährigen Bestehens im Herbst 1922 in Leipzig über die Relativitätstheorie in der Philosophie zu berichten hatte, mußte er zuerst darauf hinweisen, daß die philosophische Bedeutung der Theorie selbst dann unvermindert bliebe, wenn sie physikalisch nicht bestätigt worden wäre.108 Denn ihre Kritik der Raum- und Zeitbegriffe bliebe voll zu Recht bestehen; sie hat gewisse Vorurteile beseitigt, die in der Wissenschaft der Zukunft nie wieder Raum finden können, weil sie eben als Vorurteile erkannt sind. In philosophischer Hinsicht stellt sich die Relativitätstheorie als das vorläufig letzte Glied einer groß | a rtigen Entwicklung dar, die beiläufig von David Hume über Ernst Mach und Henri Poincaré bis zu Einstein reicht und in der die Begriffe der Substanz, des Raumes und der Zeit immer mehr geklärt wurden – derjenige des Raumes besonders durch die Forschungen der großen Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts Gauß, Riemann, Helmholtz, deren philosophische Ideen in Einsteins Theorie eine wundervolle Anwendung und Bestätigung fanden. Als Gauß seine fundamentalen Einsichten in die nichteuklidische Raumlehre gewonnen hatte, behielt er sie zunächst für sich, weil er, wie er 1829 in einem Brief an Bessel schreibt,

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»das Geschrei der Böotier«109 fürchtete. Sollte er vorausgesehen haben, wie sich die Verteidiger »uralten philosophischen Lehrgutes« auch nach fast hundert Jahren noch darüber beklagen würden, daß die neue Lehre »Raum und Zeit verbiegt, verkrüppelt und verbeult«? Ad 3. Ist es wahr, daß die gegenwärtige Philosophie sich von der Relativitätstheorie als einer Irrlehre abzuwenden beginnt? Nun, mir ist kein Fall bekannt, daß ein Philosoph die Theorie mit vollem Verständnis durchdrungen und sie dann verworfen hätte. Herr Kollege Thirring hat an dieser Stelle mit Recht betont, daß sich unter den Gegnern Einsteins kein namhafter theoretischer Physiker und Mathematiker befinde: also gerade kein einziger von denen, die zum Verständnis der Theorie am besten qualifiziert erscheinen. Ganz ebenso finde ich unter denjenigen Philosophen, die bewiesen haben, daß sie die Theorie zur Gänze wirklich verstehen, keinen einzigen, der sich von ihr »abgewendet« hätte. Professor Kraus sucht den Leser zu überzeugen, indem er die Gegner Einsteins mit Namen aufzählt, aber leider hat der Laie keine Möglichkeit, sich über die Kompetenz der Aufgeführten in dem fraglichen Gebiet ein eigenes Urteil zu bilden. Der Verteidiger Einsteins kann nicht dieselbe Methode anwenden, seine Namensliste wäre gar zu umfangreich. Aber es bedarf dessen auch nicht, denn die neue Lehre siegt nicht durch äußere Verteidigung, sondern durch inneren Wert. Schon heute liegen die Dinge für den Kenner der Theorie so klar, daß er ihrem Verkenner nur zurufen kann: O si tacuisses!

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2.1  Rezension von Werner Bloch, Einführung in die Relativitätstheorie Von den leicht verständlichen Darstellungen der Relativitätstheorie ist das Büchlein von Bloch eine der besten. Inhaltlich sind seine Ausführungen bis in jede Einzelheit vollkommen korrekt, der Leser hat an der Schrift also einen absolut zuverlässigen Führer; formal zeichnet sie sich in Stil und Gedankenaufbau durch große Klarheit aus, sie ist daher auch ein angenehmer Führer, der die bequemsten Wege zum Ziel zu finden weiß. Bloch trifft durchaus den richtigen Grad und Ton der Popularität, er hat keine Scheu vor einfachen ma | t hematischen Formeln und umgeht leichte Rechnungen nicht, die aber jedem verständlich sein müssen, der die Prima einer höheren Lehranstalt besucht hat. Die systematische Darstellung des Büchleins beschränkt sich auf die »Spezielle« Relativitätstheorie, nur die letzten zehn Seiten handeln von der »Allgemeinen« Theorie und geben nur die charakteristischsten Züge davon wieder. Diese Selbstbeschränkung des Verfassers möchte man bedauern wegen der außerordentlichen physikalischen und philosophischen Wichtigkeit der Sache, zumal eine eingehendere Schilderung auch in gemeinverständlicher Form ganz wohl möglich ist, wie Einsteins eigene populäre Darstellung des Gegenstandes beweist und wie auch der Referent in seiner Schrift über Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik gezeigt zu haben hofft. Der Verfasser geht auf die philosophische Bedeutung der speziellen Theorie in einem kurzen Absatz besonders ein und weist dabei sehr richtig auf die doppelte Bedeutung des Wortes »Zeit« hin. Man dürfe den Zeitbegriff des Physikers und des Philosophen nicht miteinander verwechseln, da sie ganz verschiedene Dinge seien. Nur würde man hier, glaube ich, statt Philosoph wohl genauer Psychologe sagen; dem Philosophen fällt vielmehr die Aufgabe zu, den psychologischen und den physikalischen Zeitbegriff mit gleicher Vorurteilslosigkeit zu untersuchen und beide miteinander in Einklang zu bringen. Diese Auf-

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gabe scheint mir freilich durch den Satz des Verfassers: »Die Philosophie sucht … nach Merkmalen der Zeit a priori« (S.  84) nicht erschöpfend zum Ausdruck gebracht zu sein. Noch einmal sei das kleine Buch als eine wirklich leicht verständliche und nach Form und Inhalt vortreffliche Einführung in die Spezielle Relativitätstheorie empfohlen.

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2.2  Rezension von Hermann Weyl, Raum, Zeit, Materie Weyl hat recht, wenn er das Vorwort seines Buches mit den Worten beginnt: »Mit der Einsteinschen Relativitätstheorie hat das menschliche Denken über den Kosmos eine neue Stufe erklommen.« Die Theorie ist in der Tat von so großer philosophischer Tragweite, daß ein Erkenntnistheoretiker, und vollends ein Naturphilosoph, der ihren Sinn nicht restlos erfaßt hatte, als für seine Aufgabe ganz unzulänglich ausgerüstet anzusehen wäre. Deshalb muß jedes Mittel, das in die Tiefe jener großartigen Theorie hineinführt, den Fachgenossen mit aller Dringlichkeit empfohlen werden. Weyl’s Buch ist ein solches Mittel, und wer es zu lesen versteht, wird diesem Führer mit dem größten Genuß und Nutzen folgen. Der Verfasser steht durchaus über seiner Materie; sein Werk ist das erste zusammenfassende Lehrbuch über den Gegenstand. Es behandelt ihn in erster Linie vom Standpunkt des Mathematikers und bringt dadurch die formale Schönheit und die Systematik des Aufbaus der Theorie am besten zur Geltung. Aber auch in physikalischer Hinsicht überschaut der Leser überall die weitesten Horizonte. Uns aber ist das wesentlichste: die ganze Darstellung ist von echt philosophischem Geiste getragen. An den Anfang und ans Ende des Buches stellt der Autor sogar einige spezifisch philosophische Ausführungen; freilich möchte er mir in ihnen, wo er frei schwebend den exakt-wissenschaftlichen Boden verläßt, weniger glücklich erscheinen. In der Einleitung gibt er einige erkenntnistheoretische Erörterungen in lebendigem Stil und in Husserl’scher Terminologie, woraus aber nicht zu schließen ist, daß Husserl’s Philosophie in irgend einem besonders innigen Verhältnis zur Relativitätstheorie stände. Weyl kommt auch in der Folge nicht darauf zurück. – In den Schlußbemerkungen stellt er als ein wichtiges Resultat der Untersuchungen hin: »Die Physik […] handelt gar nicht von dem Materiellen, Inhaltlichen

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der Wirklichkeit, sondern, was sie erkennt, ist lediglich deren formale Verfassung«. Diesem Satze wird man insofern zustimmen können, als jede echte Erkenntnis es in bestimmtem Sinne nur mit Formalem zu tun hat, indem sie Beziehungen zwischen Wirklichkeitselementen aufdeckt, nicht aber Wirkliches unmittelbar kennen lehrt, wie das Erleben, die | Anschauung es tut. Man wird aber jenem Satze widersprechen müssen, wenn der Begriff des Formalen so ausgelegt wird, wie Weyl es gleich darauf zu tun scheint, indem er die Physik mit der formalen Logik vergleicht und meint, daß jene sich zum Reich der Wirklichkeit verhalte wie diese zum Reich der Wahrheit: »Ihre Gesetze werden ebensowenig in der Wirklichkeit jemals verletzt, wie es Wahrheiten gibt, die mit der Logik nicht im Einklang sind; aber über das inhaltlich-Wesenhafte dieser Wirklichkeit machen sie nichts aus …« Wie läßt sich das vereinen mit der Tatsache, daß die Physik nicht reine Mathematik, sondern eine empirische Wissenschaft ist, daß also jeder ihrer Sätze – und natürlich auch die Relativitätstheorie – durch die Erfahrung bestätigt werden muß und durch sie widerlegt werden kann? Ich möchte glauben, daß Weyl nicht das hat sagen wollen, was man aus diesem Schlusse seines Buches bei wörtlicher Interpretation herauslesen müßte, sondern daß ihm nur die Wahrheit vorschwebte, daß die Physik lediglich Relationen zum Gegenstande hat, nicht absolute Gegebenheiten wie das anschauliche Erlebnis. Das ist aber nicht ein Mangel der physikalischen Methode, sondern es gilt m. E. letzten Endes von jedem Erkennen, weil es so im Begriff und Wesen der Erkenntnis überhaupt liegt. Diese wenigen Bedenken bezüglich der Formulierung sind aber auch das Einzige, was ich gegen Weyl’s Darstellung zu er­ innern hätte: der wichtigste philosophische Gehalt steckt doch in seiner Behandlung des eigentlichen Themas, aus der uns die allgemeinsten Prinzipien der Mathematik und Physik klar und groß als erkenntnistheoretische Wahrheiten entgegentreten – denn allgemeinste Physik, wie überhaupt allgemeinste Wissenschaft, ist schon Erkenntnistheorie.

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Einzelne wohl gesicherte Ergebnisse der Philosophie der Mathematik finden bei Weyl eine überaus treffliche Darstellung. So vor allem die Wahrheit, daß die Geometrie in keiner Weise das anschauliche Wesen des Raumes zu erfassen und zu erschöpfen vermag. Der Raum der Geometrie ist eine begriffliche Konstruktion (ein dreidimensionales Größengebiet), die zur exakten Beschreibung unzählig vieler erdenkbarer Gebilde dienen kann – Weyl greift als solche u. a. heraus: »Lösungssysteme linearer Gleichungen«, »Gasgemische« usf., und der »anschauliche Raum« ist nur eins von diesen Beispielen, die Geometrie stellt nur eine ihnen allen gemeinsame Ordnung dar: »von dem, was den Raum der Anschauung zu dem macht, was er ist in seiner ganzen Besonderheit und was er nicht teilt mit … ›Gasgemischen‹ und ›Lösungssystemen linearer Gleichungen‹, enthält die Geometrie nichts« (S.  23). Da also der Raum der Geometrie schlechthin unanschaulich ist, so kann niemals irgend eine Geometrie, sei sie euklidisch oder nichteuklidisch, Anspruch auf absolut einzige Geltung für den Raum unserer Anschauung machen. Um der Sache willen sei die Bemerkung gestattet, daß eben hierdurch der öfters gehörte, auch von V. Henry in den Kantstudien (X XIII , S.  351  ff, Besprechung meiner Schrift über »Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik«) gegen die Relativität der Raumbestimmungen erhobene Einwand seine Erledigung findet. Nach diesem Einwand soll die Anschauung uns doch eine bestimmte Geometrie als die allein richtige aufzwingen müssen, obwohl die Erfahrung dies nicht tue. – Darüber muß man sich auf jeden Fall klar sein: wer an eine (durch die Anschauung zwangsläufig bestimmte) Geometrie glaubt, muß die Allgemeine Relativitätstheorie verwerfen, weil die letztere die Verwendung verschiedener geometrischer Maßbestimmungen in der Natur schlechthin fordert, und er muß die Konsequenzen tragen. Es geht nicht an, zu sagen, man stehe als Physiker auf dem Boden der Allgemeinen Relativitätstheorie, lehne aber als Philosoph oder als Mathematiker die geometrische Relativität des Raumes ab, denn sie ist integrierender Bestandteil der Einstein’schen

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Theorie, und die ist entweder wahr oder falsch. Das Erkennen ist nur eines. Jede echte Erkenntnis ist als solche allgemeingültig, aus welcher Einzelwissenschaft sie auch stamme, und wenn die Physik eine Wahrheit über Raum und Zeit findet, so gilt sie auch für den Geisteswissenschaftler. Verbindet letzterer mit den Worten Raum und Zeit (nicht mit den Begriffen, wie Henry a. a. O. S.  354 sagt110) einen andern | Sinn, etwa den des Anschaulichen, so kann das wohl Anlaß zu Mißverständnissen geben, aber sachlich nichts ändern. Weil die Geometrie im modernen Sinne über das anschaulich Räumliche überhaupt nichts aussagt, haben Psychologie und Geisteswissenschaften hier völlig freie Hand; deshalb kann aber auch die Anschauung (nicht bloß die Erfahrung) dem geometrischen Raum, welchen die Physik benutzt, keinerlei Gesetze aufzwingen. Ich hatte diesen Schluß im letzten Kapitel der oben erwähnten Schrift (S.  55 der ersten, S.  81 der dritten Auflage) gezogen111; Henry hat seine Kritik nur an die Ausführungen der ersten Kapitel angeschlossen. Wir wollen aus dieser Abschweifung die Lehre ziehen, den philosophischen Gehalt der relativitätstheoretischen Sätze nicht deshalb zu unterschätzen, weil sie den Einzelwissenschaften der Mathematik und Physik entstammen, sondern sie im Gegenteil recht zu studieren, damit ihre Weltanschauung bildende Kraft sich voll auswirken kann. Sie werden von Weyl in wahrhaft souveräner Weise vorgeführt und begründet. Seine Darstellung, wie schon der Titel seines Werks, läßt trefflich hervortreten, daß die moderne exakte Wissenschaft nicht bloß die Begriffe von Raum und Zeit gänzlich modifiziert, sondern auch, was weniger bekannt ist, nicht minder den Begriff der Materie. In Zukunft wird keine Naturphilosophie ihrer Aufgabe gerecht werden können, die nicht auch diese Seite der neuen Ergebnisse voll berücksichtigt und Rechenschaft zu geben sucht von jenen noch dunkelen Verhältnissen, die Weyl sehr schön auseinandersetzt in seinen Darlegungen über die Beziehung zwischen »Materie« und »Feld«, über den Gegensatz von »Substanzphysik« und »Feldphysik«. Um zu zeigen, mit welcher Kühnheit auch exaktes Denken sich in der

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Relativitätstheorie zu Höhen erhebt, die den mutigsten Metaphysiker schwindeln machen könnten, will ich noch einige Sätze aus dem letzten Kapitel zitieren (S.  220): » …  es kann also prinzipiell geschehen, daß ich jetzt Ereignisse miterlebe, die zum Teil erst eine Wirkung meiner künftigen Entschlüsse und Handlungen sind. Auch ist es nicht ausgeschlossen, daß … die Weltlinie meines Leibes, in die Nähe eines Weltpunktes zurückkehrt, den sie schon einmal passierte. Daraus würde dann ein radikaleres Doppelgängertum resultieren, als je ein E. T. A. Hoffmann ausgedacht hat.« Weyl’s Buch stellt hohe Anforderungen an den Leser. An mathematischen Kenntnissen setzt es zwar nicht viel voraus, nur das gewöhnliche Handwerkszeug der höheren Analysis, denn ein großer Vorzug des Werkes besteht gerade darin, daß die zur Beherrschung der Theorie nötigen komplizierteren mathematischen Hilfsmittel alle erst im Buche selbst abgeleitet werden; jedoch in hohem Maße wird vom Leser die Fähigkeit verlangt, mathematischen Gedankengängen abstraktester Natur zu folgen. Wer sie mitbringt, wird unter allen Umständen aus dem Buche sehr vieles lernen und hohen philosophischen Gewinn davontragen1).112

1)  Anmerkung bei der Korrektur. Seit dies Referat (vor mehr als zwei

Jahren) geschrieben wurde, hat Weyls Buch seine Anziehungskraft auf die Leser schon in drei neuen Auflagen bewährt.

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2.3  Rezension von Albert Einstein, Geometrie und Erfahrung Das Problem Geometrie und Erfahrung hat Einstein in der Preußischen Akademie der Wissenschaften am 27. Januar in einem Festvortrag behandelt, der jetzt bei J. Springer in erweiterter Fassung erschienen ist. Einstein macht sich in ihm eine These zu eigen, die wohl als ein Eckpfeiler der modernen Theorie exakt-wissenschaftlicher Erkenntnis angesehen werden muß, und die er in wundervoller Prägnanz so formuliert: »Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.«113 Nach der älteren Auffassung war die Geometrie die Wissenschaft vom Raume, dessen Eigenschaften uns durch Intuition gegeben seien: nach neuerer Auffassung sind zwei Bedeutungen des Wortes Geometrie zu unterscheiden. Erstens die Geometrie als Zweig der reinen Mathematik. Als solche stellt sie nur ein System von Lehrsätzen dar, die rein logisch aus gewissen Axiomen abgeleitet sind, wobei es nur auf diesen logischen Zusammenhang ankommt, ganz abgesehen davon, ob es irgendwelche Gegenstände oder anschaulich vorstellbare Gebilde gibt, von denen jene Axiome gelten. Zweitens die (von Einstein so genannte) »praktische Geometrie«, nämlich die Wissenschaft von den (durch Punktkoinzidenzen festzustellenden) Lagerungsmöglichkeiten der Körper. Als solche ist sie eine durch Erfahrung zu prüfende Naturwissenschaft. Sie entsteht aus der rein formalen logisch-mathematischen Geometrie durch Hinzufügung des Satzes, daß es Naturdinge gibt – die »starren« Körper –, welche sich den geometrischen Axiomen gemäß verhalten. – Man hat oft bemerkt, daß es keinen schlechthin zwingenden Grund gebe, irgendwelche Naturkörper mit ganz bestimmten Eigenschaften als »starre« auszuwählen; wir könnten ein beliebiges System der Geometrie zur Beschreibung der Wirklichkeit benutzen, wenn wir nur zugleich

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das System der Physik dazu passend einstellen; nur die Gesamtheit: Geometrie plus Physik wird durch die Erfahrung zwangsläufig bestimmt. Einstein erkennt die prinzipiell unwiderlegliche Richtigkeit dieser Ansicht an; aber wie schon Poincaré zugab, daß die Ökonomie der Wissenschaft uns eine ganz bestimmte Geometrie als die geeignetste ohne Schwanken wählen läßt (nur glaubte er noch, es sei die euklidische), so ist es nach Einstein beim heutigen Entwicklungsstadium der Physik unabweislich, empirische Naturkörper von bestimmten Eigenschaften als praktisch starre Maßstäbe bei der Ausmessung der Lagerungsmöglichkeiten zugrunde zu legen – solche nämlich, die der durch Erfahrung prüfbaren Bedingung genügen, daß zwei Maßstäbe stets und überall gleich lang sind, wenn sie einmal und irgendwo als gleich befunden wurden (eine Bedingung, die Weyl bekanntlich aufzugeben versucht hat). Unter dieser Voraussetzung sind nunmehr die Axiome der praktischen Geometrie reine Erfahrungssätze, durch Beobachtung zu ermitteln. Nach der allgemeinen Relativitätstheorie sind diese Axiome bekanntlich nichteuklidisch, und der Raum hat im ganzen angenähert sphärische Struktur. Einstein gibt eine höchst geistreiche Methode an, mit Hilfe deren es der Astronomie vielleicht in absehbarer Zeit möglich sein wird, diese Folgerung indirekt zu bestätigen. – Als letzten Abschnitt hat Einstein eine sehr hübsche Betrachtung angefügt, durch die er zeigt, daß der sphärische Raum nicht etwa unerfüllbare Ansprüche an unser Anschauungsvermögen stellt, wie oft geglaubt wird, sondern daß eine dreidimensionale, endliche und doch grenzenlose Welt sehr wohl anschaulich vorstellbar ist. Gerade diese Veranschaulichung ist so einfach und reizvoll, daß sie gewiß viel dazu beitragen wird, in vorurteilsfreien Gemütern die noch vielfach hem | menden philosophischen Bedenken gegen die neue Auffassung der Raumlehre zu zerstreuen.

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2.4  Rezension von Hugo Dingler, Physik und Hypothese Das Buch ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein richtiger und fundamentaler Gedanke durch Verzerrung und verkehrte Anwendung zu ganz absurden Folgerungen mißbraucht werden kann.114 Der richtige Gedanke, der den Anschauungen Dinglers zugrunde liegt, ist die besonders von Poincaré vertretene Lehre, daß gewisse Prinzipien der Wissenschaft auf Konventionen beruhen, bei deren Wahl der Gesichtspunkt der Einfachheit, der logischen Bequemlichkeit entscheidend ist. Der Verfasser glaubt hieraus schließen zu dürfen: Da die euklidische die einfachste der denkbaren Geometrien, der starre Körper das einfachste Naturgebilde und das Newtonsche Gravitationsgesetz das einfachste Naturgesetz ist, so sind diese drei als »Konstitutionshypothesen« der gesamten Physik zugrunde zu legen. Das heißt: Alle Natur­ erschei­nungen müssen erklärt werden als Bewegungen starrer Körper, die im euklidischen Raume allein nach dem Newtonschen Attraktionsgesetz vor sich gehen!! Und diese Erklärung, meint der Verfasser, muß stets durchführbar sein, denn wo sie etwa auf Schwierigkeiten stößt, haben wir stets die Möglichkeit, die Existenz verborgener Massen »ins Weite und ins Feine«115 anzunehmen, auf deren Anwesenheit alle Abweichungen zurückgeführt werden könnten. – Es wäre wohl ein vergebliches Bemühen, den Verfasser davon überzeugen zu wollen, wie sehr sein Verfahren (er nennt es »Exhaustionsmethode«) dem Geiste der wahren wissenschaftlichen Methode widerstreitet, die natürlich nicht diejenigen Grundannahmen als die »einfachsten« wählt, die sich auf den ersten Blick als solche zu empfehlen scheinen, sondern vielmehr diejenigen, welche bei ihrer Durchführung das einheitlichste physikalische Weltbild lie | fern. Es genüge daher, einige spezielle Ergebnisse der Dinglerschen Denkweise anzuführen, denn an ihren Früchten kann man die Brauchbarkeit einer Methode doch wohl am besten erkennen. Im letzten Abschnitt des

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Buches gibt er als Anwendung seiner Methode eine Kritik der Relativitätstheorie, die wahrhaft grotesk anmutet. Nur weniges sei herausgehoben. Nach Ansicht des Verfassers gelangt man zu der einzig »natürlichen« Definition der Gleichzeitigkeit an verschiedenen Orten mit Hilfe möglichst vollkommen gleicher Uhren, die synchron gestellt und dann an die betreffenden Orte transportiert und abgelesen werden. Und er behauptet (S.  162), »daß Herrn Einstein die natürliche Definition der Gleichzeitigkeit tatsächlich unbekannt war«(!!). Die auf Übermittlung von Lichtsignalen beruhende Einsteinsche Definition der Gleichzeitigkeit sucht Dingler durch den Vergleich mit Schallsignalen ad absurdum zu führen; er glaubt sich darüber hinwegsetzen zu dürfen, daß der Vergleich hinfällig gemacht wird durch das Scheitern aller Versuche, die Existenz und Bewegung eines Trägers der Lichtwellen (einen »Ätherwind«) nachzuweisen; denn, so meint er S.  163, wenn man wolle, könne man an der Bewegung des Mediums der Schallwellen ebensogut zweifeln, die Existenz eines Luftwindes brauche man nicht anzunehmen; »daß einem der Hut davon fliegt, das muß man anders erklären« (vielleicht wird unser Hut durch unsere über Dinglers Behauptungen sich sträubenden Haare herabgeworfen?). Vom Verständnis der Relativitätstheorie ist der Autor noch sehr weit entfernt; sonst hätte er z. B. nicht wiederholt behaupten können, daß in der speziellen Theorie die Annahme der Einsteinschen Definition der Gleichzeitigkeit mit der Einführung einer nichteuklidischen Geometrie gleichbedeutend sei, oder daß eine Messung der Gravitationspotentiale g μν infolge eines inneren Zirkels prinzipiell unmöglich sei, usw. usw. In einem besonderen Abschnitt »Warum Relativitätstheorien immer falsch sein müssen« sagt er: »Jede Relativitätstheorie entspricht dem Versuche, bei einem Thermometer auf die Wahl eines Nullpunktes und auf die Wahl einer Gradeinheit zu verzichten« (!!). Wir wünschen dem Verfasser, daß er sich noch einmal aus seiner Sackgasse herausarbeiten und für seinen früher gezeigten Scharfsinn ein ­geeignetes Betätigungsfeld finden möge; sein Buch aber können wir nur mit tiefem Bedauern aus der Hand legen.

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2.5  Rezension von Ernst Gehrcke, Physik und Erkenntnistheorie E. Gehrcke tritt hier als Erkenntnistheoretiker auf den Plan. Wer verfolgt hat, wie dieser geschickte Experimentalphysiker bei früheren Gelegenheiten gestrauchelt ist, wenn er sein eigenes Gebiet verlassend, sich in die Höhen der Theorie hinaufwagte, wird ihn nur mit großer Besorgnis seine Wanderung in philosophisches Gebiet antreten sehen. Man atmet etwas erleichtert auf, wenn man bemerkt, daß der Verfasser, der offenbar wirklich das Bedürfnis fühlt, sich über die Prinzipien seiner Wissenschaft klar zu werden, im größten Teil des Büchleins auf bequemen und gebahnten Wegen bleibt, auf denen er mit seinem nicht allzu schweren Gepäck ganz gut fortkommt. Er setzt z. B. ganz richtig auseinander, daß es keinen Sinn hat, bei physikalischen Größen eine schlechthin genaue Angabe ihrer Maßzahl zu fordern, daß z. B. die Oberfläche der Ostsee nicht auf 1 qcm genau definierbar, das Gewicht eines Menschen nicht auf 1 mg genau angebbar ist; er erklärt, daß sich niemand eine Entfernung von 3 Lichtjahren anschaulich vorstellen könne; daß es auf ökonomischen Prinzipien beruhe, wenn die Physik mit dem Begriff der Geschwindigkeit und nicht mit dem reziproken Werte der »Langsamkeit« arbeite; und auch sonst äußert der Verfasser über physikalische Grundbegriffe manches Klare und Richtige. An andern Stellen aber gleitet er aus und verliert vollkommen das Gleichgewicht. Ich führe nur zwei solche Stellen ohne Kommentar an. S.  103: »Allgemein ist also das Zeitelement dasjenige, was die Vektorgröße kennzeichnet und ist die Zeitgröße sozusagen der Urvektor der Physik. Wie der Zeitpunkt der Typus des Vektors, ist der Raumpunkt, der Massenpunkt der Typus des Skalars …« S.  95: »nach oben hin erscheint die Skala der physikalisch definierbaren Temperaturen begrenzt durch denjenigen Hitzegrad, bei dem die Moleküle des erhitzten Körpers sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Eine noch größere Temperatur als diese ist nach

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unseren heutigen Erfahrungen ebensowenig wahrscheinlich wie eine relative Geschwindigkeit zweier Massen, die größer ist als die doppelte Lichtgeschwindigkeit«. Und dies wird in einer Anmerkung so erläutert: »Wenn sich z. B. ein Elektron mit Licht­ geschwindigkeit (als β-Strahl) nach rechts und eines mit Lichtgeschwindigkeit nach links bewegt, so haben beide relativ zueinander die doppelte Lichtgeschwindigkeit.« Die Relativitätstheorie wird von Gehrcke bekanntlich als eine unglaubliche Verirrung des menschlichen Geistes betrachtet, die durch seine eigenen Aufsätze darüber längst erledigt sei. Er tut sie denn auch hier mit ganz wenigen Sätzen (S.  84 und 92) ab. Der Leser aber, hoff’ ich, wird an diese Theorie denken, wenn er auf S.  5 dieser fragwürdigen Schrift den Satz liest: »Der Forscher, der eine neue Wahrheit entdeckt, hat nicht nur die sachlichen Schwierigkeiten der Materie zu überwinden, er hat meist auch gegen das Übelwollen von Menschen und gegen die Trägheit der Gehirne anzukämpfen.«

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2.6  Rezension von Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori Das vorliegende Buch (dessen Besprechung sich aus zufälligen äußeren Gründen arg verspätet) ist die erste einer Reihe von Arbeiten, in denen der Verfasser sich mit hervorragendem Erfolge um die philosophische Auswertung der Relativitätstheorie bemüht. Seine Methode ist die der logischen Analyse: er deckt durch ungemein scharfsinnige Zergliederung die einzelnen Prinzipien und Behauptungen auf, die in der Relativitätstheorie enthalten sind oder in dem wissenschaftlichen Verfahren vorausgesetzt werden, das zur Aufstellung und Begründung der Theorie führt. Jedem physikalischen Lehrgebäude liegen irgendwelche Prinzipien zugrunde, die nicht aus der Erfahrung abgeleitet, sondern in einem bestimmten Sinne willkürlich sind. Reichenbach nennt sie mit dem Ausdruck Kants Grundsätze a priori, weil sie mit dessen »synthetischen Urteilen a priori« dies gemeinsam haben, daß sie logisch vor der Erfahrung sind, wissenschaftliche Erfahrung erst aufbauen helfen; er spricht ihnen aber mit Recht die Merkmale der strengen Notwendigkeit und gänzlichen Unabhängigkeit von der Erfahrung ab, die ihnen nach Kant wesentlich zukommen sollten. Es wäre daher vielleicht zweckmäßiger und historisch gerechter gewesen, sie nicht mit Kant als Sätze a priori, | sondern mit Poincaré als Konventionen zu bezeichnen, denn Poincaré hat vor allen den logischen Ort solcher Prinzipien mit tiefdringender Einsicht bestimmt. Aber es kommt natürlich im Grunde nicht auf die Benennung an, sondern nur auf die richtige Würdigung jener Grundsätze, ihrer erkenntnistheoretischen Tragweite und ihres Verhältnisses zueinander; und hier hat Reichenbach Bedeutendes und Bleibendes geleistet. Er erzielt eine Reihe sicherer und sehr bemerkenswerter Resultate, und nur an ganz wenigen Stellen erscheinen einige Formulierungen der Verbesserung und Präzisierung bedürftig. Die Logik der exakten Wissenschaft wird durch diese Schrift um ein gutes Stück vor-

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wärts gebracht, und ich stehe nicht an, zu erklären, daß wir hier nicht nur die selbständigste und ertragreichste Untersuchung vor uns haben, die bisher von philosophischer Seite der Relativitätstheorie gewidmet ist, sondern auch eine allgemein-naturphilosophische Leistung allerersten Ranges.

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2.7  Rezension von Hans Thirring, Die Idee der Relativitätstheorie Das treffliche Buch hat in der neuen Auflage einige Ergänzungen und Verbesserungen erfahren, unter denen besonders eine Einfügung über das angebliche Auftreten von Überlichtgeschwindigkeiten erwähnens- und begrüßenswert ist.116 Der besondere Charakter des Werkchens besteht nach wie vor darin, daß in ihm allein der Physiker spricht, jedoch nicht ohne die Absicht, zugleich Material und festen Ausgangspunkt für die philosophische Behandlung zu liefern. Dazu eignet sich das Büchlein in der Tat wie kaum ein anderes; es gibt auf 172 Seiten eine wirklich ausführliche Darstellung aller physikalischen Tatsachen und Erwägungen, auf denen die Relativitätstheorie aufgebaut ist, und zwar ohne jede Benutzung mathematischer Rechnungen. Meisterhaft ist die logische Durchdringung des Stoffes. Eine Tabelle am Schluß, welche die verschiedenen Erfahrungstatsachen, Behauptungen und Schlüsse der Relativitätstheorie in ihrer gegenseitigen logischen Abhängigkeit systematisch darstellt, ist ein hübscher Beitrag zur Axiomatik der Theorie; die axiomatische Behandlung aber ist die beste Vorbereitung der erkenntniskritischen Verarbeitung.

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2.8  Rezension von Josef Winternitz, Relativitätstheorie und Erkenntnislehre Eine sehr sorgfältige und verständige Arbeit, die besonders dadurch erfreut, daß der Autor den behandelten Stoff vollständig beherrscht, die ihren Hauptwert aber wohl durch die Ausführlichkeit erhält, mit welcher bei der philosophischen Diskussion der Relativitätstheorie die möglichen Fragen und Standpunkte berücksichtigt werden. Das Buch gibt in der gegenwärtigen Literatur den eingehendsten Überblick über die philosophischen Aspekte der Theorie und kann denen warm empfohlen werden, die einen solchen Überblick sich zu verschaffen wünschen. Die Gedankenführung ist scharf, die Darstellung sehr klar und kommt den Bedürfnissen vieler Leser noch dadurch entgegen, daß sie die Grundgedanken der Theorie nicht voraussetzt, sondern selbst entwickelt. Der eigene Standpunkt des Verfassers ist der eines gemäßigten oder modifizierten Kantianismus, doch gelangt er in der Begründung dieser Meinung über seine Vorgänger, besonders Cassirer, nicht hinaus. Auf die Frage, welches denn die unentbehrlichen synthetischen Prinzipien a priori seien, auf die sich jede Naturforschung stützen müsse, antwortet er: »Das Kausalgesetz, Zeitlichkeit und Räumlichkeit überhaupt, gewisse Stetigkeitsvoraussetzungen … und schließlich der Satz vom zureichenden Grunde«.117 Er fügt jedoch hinzu, die Aufzählung mache auf Vollständigkeit keinen Anspruch, und wahrscheinlich gehöre auch der Erhaltungssatz hierher. Ein Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Physik aber ruft gegen solche Behauptungen Bedenken wach, mit denen der Verfasser sich m. E. zu leicht abfindet. Der empiristischen Deutung der Relativitätslehre, wie der Referent sie vertreten hat, scheint mir der Verfasser nicht gerecht zu werden, wenn er meint, daß der Empirismus »seine Bestätigung nur darin finden kann, daß in der physikalischen Theorie alle bis dahin für gültig angesehenen Prinzipien aufgegeben werden …«118 Alles in allem: die Stärke des Buches liegt nicht darin,

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daß es Wesentliches, Originelles zur Lösung der Probleme beiträgt, sondern darin, daß es die gegenwärtige Lage der Probleme in anregender und sehr klarer, verläßlicher Weise zusammenfassend vorführt.

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2.9  Rezension von Hans Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre Die neuere Entwicklung der Raum-Zeit-Lehre, die mit den Untersuchungen der Mathematiker über die nicht-euklidische Geometrie einsetzte und in unserer Zeit durch die Annahme der allgemeinen Relativitätstheorie durch die Physiker zu einem gewissen Abschluß gekommen ist, hat zu einem System von Erkenntnissen geführt, das sich nunmehr als ein einheitliches Lehrgebäude darstellen läßt. Dieses Gebäude trägt einen wesentlich philosophischen Charakter, weil allgemeinste Begriffe der Physik in ihm zur Klärung gelangen, die von jeher das bevorzugte Hauptgebiet erkenntnistheoretischer Betrachtungen bildeten. Eine Reihe von Forschern – Mathematiker, Physiker und Philosophen – hat daran gearbeitet, dieses Lehrgebäude durch logische Analyse der Fundamente und des gegenseitigen Zusammenhanges zu vollenden; zu diesen gehört auch Reichenbach selbst, der Verfasser des vorliegenden Buches. Es stellt ein wirkliches Lehrbuch dar, in welchem man sämtliche Probleme der philosophisch-mathematischen Raum-Zeit-Lehre erörtert findet, deren Behandlung früher in den verschiedensten Einzelarbeiten zerstreut war. In der Vollständigkeit und Abgeschlossenheit, mit der alle diese Fragen untersucht und beantwortet werden, liegt das Hauptverdienst dieses vortrefflichen Buches. Niemand war besser befähigt es zu schreiben als Reichenbach, denn seine eigenen Arbeiten beschäftigten sich alle mit den Grundlagen, auf denen das ganze System ruht, und den letzten Verbindungen, die es zusammenhalten. Man kann sagen, daß im allgemeinen die vom Verfasser dargestellten Lehren in demselben Sinne als endgültige Erkenntnisse und gesicherter Besitz der Wissenschaft gelten dürfen, wie das bei irgendeinem mathematischen Lehrbuch der Fall ist, und nur in bezug auf einige Grenzfragen wäre dieses Urteil einzuschränken. Vermöge der restlosen Klarheit und der großen Ausführlichkeit, die das Buch auszeichnen, stellt es

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zugleich eine leicht lesbare Einführung dar und eine abschließende Darstellung der neuen Errungenschaften des Gebietes. Für den Studierenden, dem es nicht auf die historische Entwicklung der Gedanken ankommt, sondern der die Gedanken selbst kennenlernen und verstehen und würdigen möchte, ersetzt das Werk die Lektüre der berühmten Arbeiten von Helmholtz, Poincaré usw. Die eigenen Arbeiten des Verfassers haben ihn zu manchen sehr glücklichen Begriffsbildungen geführt, mit deren Hilfe eine sehr einfache Formulierung der wichtigen logischen Unterscheidungen erreicht wird, von denen das Verständnis und die Lösung der Raum-Zeit-Fragen abhängt. Dem Zweck des Buches entsprechend ist ein genaues Eingehen auf die Einzelheiten logischer Analysen und Beweise, wie sie Reichenbach etwa in seiner »Axiomatik der Raum-Zeit-Lehre« durchgeführt hat, hier vermieden worden, ohne daß dadurch die Exaktheit der Gedankengänge gelitten hätte. Es ist vielmehr die Strenge der Betrachtungen und ihre außerordentlich klare Gliederung ein besonderer Vorzug des Werkes. Es ist mit großer Freude an der Exaktheit geschrieben und wird sicherlich von den Naturforschern, und hoffentlich auch von den Philosophen, mit der gleichen Freude gelesen werden. Sympathisch und treffend sind die Ausführungen der Einleitung, in der Reichenbach das Wesen der naturphilosophischen Betrachtungen in ihrem Verhältnis zur Naturwissenschaft charakterisiert. Jedenfalls ist es ihm geglückt, die Aufgabe zu lösen, die er dem Buche selbst mit folgenden Worten gestellt hat: »Es will zugleich den Schatz an philosophischen Ergebnissen, der sich als Gemeingut der exakt-philosophischen Richtung herausgebildet hat und bereits so etwas wie eine gemeinsame Tradition bildet, zusammenfassend darstellen und doch auch darüber hinaus neue Wege gehen, zu denen eine unablässige Analyse der mathematischen Naturerkenntnis den Verfasser geführt hat.«119 Das ausgezeichnete Werk verdient einen großen Leserkreis, denn es kann viel zur Verbreitung wichtiger Einsichten und auch zur Aufklärung häufiger Mißverständnisse beitragen.

A N M E R K U N G E N DE S H E R AU S G E B E R S

1  Schlick spielt an dieser Stelle insbesondere auf die Bewegung der »wissenschaftliche Philosophie« an, die sich in enger Verbindung mit den revolutionären Umbrüchen in den Naturwissenschaften seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet und in kritischer Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants in die verschiedenen Strömungen des Neukantianismus, der Phänomenologie und des Posi­ tivismus aufgespalten hatte. Siehe dazu Alan Richardson, »Scientific Philosophy as a Topic for History of Science«, in: Isis 99 (2008), S.  88– 96 und Michael Friedman, »Scientific Philosophy from Helmholtz to Carnap and Quine«, in: Richard Creath (Hg.), Rudolf Carnap and the Legacy of Logical Empiricism, Dordrecht: Springer 2012, S.  1–11. 2  Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Dissertatio philosophica de orbitis planetarum (Philosophische Erörterung über die Planetenbahnen). Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Neuser, Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft 1986, S.  31  f. Gemeint ist die Entdeckung des Planeten Neptun durch Johann Gottfried Galle am 23. September 1846 aufgrund von Berechnungen durch Urbain Leverrier. 3  Siehe dazu Max Jammer, Der Begriff der Masse in der Physik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964. 4  Mit Blick auf die ersten Auffassung könnte sich Schlick auf Bernhard Riemann, »Fragmente philosophischen Inhalts«, in: Gesammelte Mathematische Werke und Wissenschaftlicher Nachlass. Herausgegeben unter Mitwirkung von R. Dedekind von H. Weber, Leipzig: Teubner 1876, S.  490 beziehen, mit Blick auf die zweite auf Paul Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Berlin  /  Leipzig: Teubner 1910, S.  399–404. 5  Der negative Ausgang des erstmals im Jahre 1881 am Astrophysikalischen Observatorium in Potsdam durchgeführten Interferenzversuchs von Albert Abraham Michelson, der mit größerer Präzision sechs Jahre später von Michelson und Edward Williams Morley in Cleveland wiederholt wurde, stellte die Annahme eines Äthers als ruhendes Trä-

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germedium der Lichtausbreitung in Frage. Vgl. Albert A. Michelson und Edward W. Morley, »On the Relative Motion oft he Earth and the Luminiferous Ether«, in: The American Journal of Science, Third ­Series, Vol. XXXIV , No. 203 (Nov. 1887), S.  333–345. Zur Rolle des Michelson-Morley-Experiments im Zusammenhang mit der Entstehung der speziellen Relativitätstheorie siehe John Stachel, »Einstein and Michelson. The Context of Discovery and the Context of Justification«, in: Astronomische Nachrichten 303:1 (1982), S.  47–53 und Abraham Pais, »Raffiniert ist der Herrgott …«. Albert Einstein. Eine wissenschaftliche Biographie, Braunschweig  /  Wiesbaden: Vieweg 1986, S.  106–115. 6  Das Experiment sollte den Einfluss des Ätherwindes auf das Dreh­ moment eines geladenen Plattenkondensators nachweisen. Es wurde in den Jahren 1901–1903 in Dublin und London durchgeführt. Vgl. Frederick Thomas Trouton und Henry R. Noble, »The mechanical forces acting on a charged electric condenser moving through space«, in: Philosophical Transactions of the Royal Society A 202 (1903), S.  165–181. 7  Siehe Walther Ritz, »Recherches critiques sur l’électrodynamique générale, in: Annales de Chimie et de Physique 13 (1908), S.  145–275. 8  Der von Hendrik Antoon Lorentz und George Francis FitzGerald bestimmte Effekt, die Verkürzung der Länge eines Körpers bei seiner Bewegung durch den Äther, folgte aus der »Molekularkrafthypothese«, mit der man eine entsprechende Wirkung des Äthers auf bewegte Körper annahm. Siehe Hendrik Antoon Lorentz, Versuch einer Theorie der electrischen und optischen Erscheinungen in bewegten Körpern, Leiden: Brill 1895. Die Theorie von Lorentz ist dargestellt in Elie G. Zahar, Einstein’s Revolution. A Study in Heuristic, La Salle, Ill.: Open Court 1989, S.  47–85. 9  Siehe Albert Einstein, »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«, in: Annalen der Physik 17 (1905), S.  891–921 (in: CPAE 2, Doc. 23). Zu den Hintergründen der Entstehung der speziellen Relativitätstheorie und Einsteins intellektuellem Werdegang siehe Don Howard und John Stachel (Hg.), Einstein: The Formative Years, 1879–1909, Boston: Birkhäuser 2000; Jürgen Renn, »Wie Einstein die Relativitätstheorie fand«, in: Frank Steiner (Hg.), Albert Einstein. Genie, Visionär und Legende, Berlin  /  Heidelberg: Springer 2005, S.  41–78 und John D. Norton, »Ein-

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stein’s Special Theory of Relativity and the Problems in the Electro­ dynamics of Moving Bodies That Led Him to It«, in: Michel Janssen und Christoph Lehner (Hg.), The Cambridge Companion to Einstein, Cambridge: Cambridge University Press 2014, S.  72–102. 10  Vgl. dazu Gustav Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie. Eine Auseinandersetzung mit dem Positivismus und dem erkenntnistheoretischen Idealismus, Leipzig: Wilhelm Engelmann 1909, S.  237– 252 und Johannes Quandt, »Das Problem des Zeitbewußtseins. A. Reproduktion zeitlicher Vorstellungen«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 8 (1906), S.  143–189. 11  Siehe dazu Yehuda Elkana, »The Myth of Simplicity«, in: Gerald Holton und Yehuda Elkana (Hg.), Albert Einstein. Historical and Cultural Perspectives. The Centennial Symposium in Jerusalem, Princeton: Prince­ton University Press 1982, S.  205–251. 12  Schlick könnte hier an einen Vertreter des Empiriokritizismus im Sinne von Richard Avenarius denken. Dieser hatte mit Blick auf das theoretische Denken der Seele ausgeführt: »[S]ie führt, mit Hülfe der Associationen, das Neue auf Altes, das Fremde auf Geläufiges, das Unbekannte auf Bekanntes, das Unbegriffene auf solches zurück, was bereits als Begriffenes unser geistiges Besitzthum bildet.« (Richard Avenarius, Philosophie als Denken der Welt gemäss dem Princip des kleinsten Kraftmasses. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung, Leipzig: Fues’s Verlag (R. Reisland) 1876, S.  10.) 13  Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Philosophie wird von Schlick in seinem Entwurf der Vorlesung zu Weltanschauungsfragen für das Wintersemester 1917/18 auf ganz ähnliche Weise bestimmt: »Wo ist die Philosophie hingekommen bei der Aufteilung der Welt unter die einzelnen Wissenschaften? […] Nur scheinbar […] wurde die Philosophie aus der Welt verdrängt durch die einzelnen Wissenschaften, die Besitz von allen Wissensgebieten ergriffen: in Wahrheit hat sie ihren ursprünglichen Platz beibehalten, nur hat sie sich gleichsam dort versteckt, sie wirkt nicht mehr an der Oberfläche ihres weiten Gebiets, sondern sie hat sich in das Innerste der Wissenschaften zurückgezogen, sich in die Kleider der Einzelforschung gehüllt, und entfaltet nun hier eine nicht geringere, sondern intensivere Wirksamkeit.« (Moritz

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Schlick, »Weltanschauungsfragen«, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  6, A.  9 a , Bl.  2.) 14  Schlick kreidete Hermann von Helmholtz hier noch eine klare Trennung zwischen Geometrie und Erfahrung an. Helmholtz hatte in diesem Zusammenhang angegeben, dass sich die Eigenschaften des euklidischen Raumes durch die Erfahrung anhand frei beweglicher »fester Raumgebilde« feststellen ließen und er sprach von der »gewöhnlichen Geometrie unseres thatsächlich bestehenden ebenen Raumes.« (Vgl. Hermann von Helmholtz, »Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome«, in: Vorträge und Reden, Zweiter Band, 5. Auflage, Braunschweig: Vieweg 1903, S.  7 und 18  f.) Später hat Schlick seine Auffassung zu Helmholtz korrigiert. Siehe den Beitrag 1.2, Abschnitt IV, S.  71  f. 15  Auch Einstein hebt in einem Brief an Study diesen Punkt hervor: »Ist der Begriff ›natürliche Geometrie‹ nicht ein bischen unnatürlich? Steckt hinter dem, was Sie ›Realität‹ des Raumes nennen, nicht doch ein Götze? […] Überhaupt scheint mir in der Darlegung der Beziehung der Geometrie zur Erfahrung die wenigst glückliche Seite Ihrer Ausführungen zu liegen. Damit hängt auch der Angriff auf Poincaré zusammen, der mir nicht gerechtfertigt erscheint.« (Albert Einstein an Eduard Study, 25. September 1918, in: CPAE 8/B, Doc. 624.) 16  Der »Körpers Alpha« entsprach der materiellen Verkörperung ­eines absoluten Bezugssystems. Siehe Carl Gottfried Neumann, »Über den Körper Alpha«, in: Berichte der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Mathematisch-Physische Klasse 62 (1910), S.  69–86 und Roberto DiSalle, »Carl Gottfried Neumann«, in: Mara Beller, Robert S. Cohen und Jürgen Renn (Hg.), Einstein in Context. A Special Issue of Science in Context, Cambridge: Cambridge University Press 1993, S.  345–353. 17  Hervorhebung von Schlick. 18  Siehe Henri Bergson, Zeit und Freiheit, Jena: Eugen Diederichs 1911. 19  Gemeint ist hier das sogenannte »Zwillings- oder Uhrenparadoxon«. 20  Einstein selbst hat mehrfach auf die Bedeutung des Positivismus für die Relativitätstheorie hingewiesen. Als wichtige Quellen verwies

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er auf die Werke David Humes und Ernst Machs. An Schlick schrieb er: »Sehr richtig sind auch Ihre Ausführungen darüber, dass der Positivismus die Rel[ativitäts]theorie nahe legt, ohne sie indessen zu fordern. Auch darin haben Sie richtig gesehen, dass diese Denkrichtung von grossem Einfluss auf meine Bestrebungen gewesen ist, und zwar E. Mach und noch viel mehr Hume, dessen Traktat über den Verstand ich kurz vor Auffindung der Relativitätstheorie mit Eifer und Bewunderung studierte. Es ist sehr gut möglich, dass ich ohne diese philosophischen Studien nicht auf die Lösung gekommen wäre.« (Albert Einstein an Moritz Schlick, 14. Dezember 1915, in: CPAE 8/A, Doc. 165.) Die enge methodische und sachliche Verbindung zwischen Relativitätstheorie und empiristischer Philosophie diskutiert Schlick in den Beiträgen 1.5, S.  125 f., 138 und 1.6, S.  145–150. 21  Schlick bezieht sich hier auf den Eimerversuch von Newton, der mit diesem Gedankenexperiment eine absolute Bewegung als Wirkung des absoluten Raumes nachweisen wollte. Siehe Isaac Newton, Mathematische Principien der Naturlehre. Mit Bemerkungen und Erläuterungen hrsg. von J. Ph. Wolfers, Berlin: Oppenheim 1872, S.  29  f. 22  Schlick übersetzt an dieser Stelle »den Relativitätsgedanken in die Sprache des Machschen Positivismus« (vgl. Hans Reichenbach, »Der gegenwärtige Stand der Relativitätsdiskussion. Eine kritische Untersuchung«, in: Logos X (1921/22), S.  330). 23  Albert Einstein, »Die Relativitätstheorie«, in: Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hrsg. von Paul Hinneberg, Dritter Teil: Mathematik, Naturwissenschaften, Medizin, Dritte Abteilung: Anorganische Naturwissenschaften, Erster Band: Physik, Leipzig und Berlin: Teubner 1915, S.  713. 24  Diese populäre Darstellung des »Äquivalenzprinzips« verwendete Einstein erstmals in dem von Schlick angeführten Vortrag auf der 85. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien am 23. September 1913. Vgl. Albert Einstein, »Zum gegenwärtigen Stande des Gravitationsproblems«, in: Physikalische Zeitschrift 14 (1913), S.  1249–1262, hier S.  1254  f. (in: CPAE 4, Doc. 17). Siehe dazu John Norton, »What was Einstein’s Principle of Equivalence«, in: Studies in History and Philosophy of Science 16 (1985), S.  203–246.

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25  Einstein schrieb im Zusammenhang mit der empirischen Überprüfbarkeit der allgemeinen Relativitätstheorie an Schlick: »Mit der empirischen Kontrollierbarkeit der Theorie steht es nicht ganz so traurig, wie Sie angeben. Die Theorie erklärt die von Leverrier aufgefundene Perihelbewegung des Merkur quantitativ. Der von der Theorie geforderte Einfluss des Gravitationspotentials auf die Farbe des emittierten Lichtes wurde durch die Astronomie bereits qualitativ bestätigt (Freundlich). Auch besteht gute Aussicht auf Prüfung des Resultates betr. die Krümmung der Lichtstrahlen durch das Schwerefeld.« (Albert Einstein an Moritz Schlick, 14. Dezember 1915, a. a . O.) 26  Tatsächlich wurde eine Expedition unter der Leitung von Erwin Freundlich im Sommer 1914 auf die Krim ausgesandt, um die von der allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagte Lichtablenkung bei einer Sonnenfinsternis zu überprüfen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges stoppte dieses Unternehmen. 27  Einstein hingegen hob die heuristische Stärke des später von ihm sogenannten »Mach’schen Prinzips« hervor, das die restlose Bestimmtheit des Gravitationsfeldes durch die im Universum vorhandenen Massen verlangte, folglich gäbe es nur noch relative Bewegungen. In diesem erkenntnistheoretischen Prinzip sah Einstein das einzige Argument für eine verallgemeinerte Relativitätstheorie. Ende 1913 schrieb er an Mach: »Es freut mich ausserordentlich, dass bei der Entwickelung der Theorie die Tiefe und Wichtigkeit Ihrer Untersuchungen über das Fundament der klassischen Mechanik offenkundig wird. […] Denn bis jetzt ist jenes erkenntnistheoretische Argument das Einzige, was ich zugunsten meiner neuen Theorie vorbringen kann. Für mich ist absurd, dem ›Raum‹ physikalische Eigenschaften zuzuschreiben. Die Gesamtheit der Massen erzeugen ein g-Feld (Gravitationsfeld), das seinerseits den Ablauf aller Vorgänge, auch die Ausbreitung der Lichtstrahlen und das Verhalten der Massstäbe und Uhren regiert.« (Albert Einstein an Ernst Mach, zweite Hälfte Dezember 1913, in: CPAE 5, Doc. 495.) 28  In diesem Zusammenhang heißt es in Einsteins Brief an Mach: »Das Geschehen wird zunächst auf vier ganz willkürliche raum-zeitliche Variable bezogen. Diese müssen dann, wenn den Erhaltungssätzen des Impulses und der Energie Genüge geleistet werden soll, derart

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spezialisiert werden, dass nur (ganz) lineare Substitutionen von einem berechtigten Bezugssystem zu einem andern führen. Das Bezugssystem ist der bestehenden Welt mit Hilfe des Energiesatzes sozusagen angemessen und verliert seine nebulose apriorische Existenz.« (Ebenda.) 29  Vgl. dazu auch Albert Einstein, »Die formale Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie«, in: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Wissenschaften XLI, Gesamtsitzung vom 19. November 1914, S.  1030–1085, hier S.  1066  f. (in: CPAE 6, Doc. 9). 30  Schlick bezieht sich hier auf das sogenannte »Lochargument«, das Einstein zunächst davon überzeugte, dass die Kovarianz der Feldgleichungen der Gravitation nur eingeschränkt gültig sei, für materiefreie Raumzeitregionen war sie vermeintlich nicht erfüllt. Vgl. dazu die Einleitung, S.  X IV –XVIII . Für eine Diskussion der verschiedenen Versionen des Locharguments siehe John D. Norton, »Einstein, the Hole Argument and the Reality of Space«, in: John Forge (Hg.), Measurement, Realism and Objectivity. Essays on Measurement in the Social and Physical Sciences, Dordrecht: Reidel 1987, S.  153–188. 31  Schlick verteidigt an dieser Stelle die erkenntnistheoretische Posi­ tion eines strukturellen Realismus. Demnach gäbe es langfristig betrachtet keine Erkenntnis über die Dinge selbst, gleichwohl erfassen wir durch die beständige mathematische Struktur physikalischer Theorien die Relationen zwischen ihnen. Siehe in diesem Zusammenhang Pierre Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, Leipzig: Barth 1908 und Henri Poincaré, Der Wert der Wissenschaft, Zweite Auflage, Leipzig  /  Berlin: Teubner 1910. 32  Hingegen spielte in den Gesprächen zwischen Schlick und Einstein offenbar auch die Konstitution der fundamentalen Begriffe von Raum und Zeit eine Rolle: »Es wird mich sehr freuen, wenn Sie mich wieder einmal aufsuchen. Dann können wir uns auch über die Frage der Konstitution des Raumes unterhalten.« (Albert Einstein an Moritz Schlick, 1. April 1917, in: CPAE 8/A, Doc. 320.) 33  Isaac Newton, Mathematische Principien der Naturlehre. Mit Bemerkungen und Erläuterungen hrsg. von J. Ph. Wolfers, a. a . O., S.  25. 34  Vgl. hierzu Samuel Clarke, Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz von 1715/16, Übersetzt und mit einer Einführung, Erläuterungen und

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einem Anhang herausgegeben von Ed Dellian, Hamburg: Felix Meiner 1990 und Volkmar Schüller (Hg.), Der Leibniz-Clarke Briefwechsel, Berlin: Akademie-Verlag 1991. Siehe auch Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais sur L’Entendement par l’Auteur du Systéme de l’Harmonie préétablie, in: Die philosophischen Schriften, Zweite Abtheilung, Fünfter Band, Hrsg. von C. I. Gerhardt, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1882, Livre II , Chapitre XXVII , § 1. 35  Siehe den Beitrag 1.1, Abschnitt II , S.  12 f. 36  Siehe Max von Laue, Das Relativitätsprinzip. Zweite, vermehrte Auflage, Braunschweig: Vieweg 1913 und den Beitrag 1.1, S.  8–10. 37  Siehe Albert Einstein, »Die Feldgleichungen der Gravitation«, Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften XLVIII , Sitzung der physikalisch-mathematischen Klasse vom 25. November 1915, S.  844–847 (in: CPAE 6, Doc. 25). 38  Vgl. Albert Einstein, »Die Grundlage der allgemeinen Relativitäts­ theorie«, in: Annalen der Physik 49 (1916), S.  769–822 (in: CPAE 6, Doc.  30). Die Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie, ihre Quellen, Kontexte und Deutungen sind dargestellt in Jürgen Renn (Hg.), The Genesis of General Relativity. Sources and Interpretations, 4 Bde., Dordrecht: Springer 2007. Siehe dazu auch Michel Janssen, »›No Success Like Failure …‹: Einstein’s Quest for General Relativity, 1907– 1920«, in: Michel Janssen und Christoph Lehner (Hg.), The Cambridge Companion to Einstein, a. a . O., S.  167–227. 39  Schlick hatte sich bereits in seiner Züricher Zeit 1907–1909 mit dem Raumproblem beschäftigt, siehe dazu Fynn Ole Engler, »Über das erkenntnistheoretische Raumproblem bei Moritz Schlick, Wilhelm Wundt und Albert Einstein«, in: Schlick-Studien 1 (2009), S.  107–145. 40  Erwin Freundlich, »Die Grundlagen der Einsteinschen Gravitationstheorie«, in: Die Naturwissenschaften 4 (1916), S.  363–372 und 386–392. 41  Gemeint sind hier Ausführungen David Humes: »Die Vorstellungen von Raum und Zeit sind daher keine besonderen oder für sich bestehende Vorstellungen, sondern nur Vorstellungen, die die Art und Ordnung, in welcher Gegenstände existieren, zum Inhalt haben, oder mit anderen Worten, es ist ebenso unmöglich, einen leeren Raum oder

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eine Ausdehnung ohne Materie vorzustellen, als eine Zeit, ohne daß eine Folge oder ein Wechsel in irgend welcher realen Existenz gegeben gewesen wäre.« (David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd.  1: Über den Verstand, Die Übers. von E. Köttgen überarb. und mit Anm. und einem Reg. vers. von Theodor Lipps, Hamburg: Leopold Voss, 2., durchges. Aufl. 1904, S.  57  f.) 42  Max Planck, »Neue Bahnen der physikalischen Erkenntnis« (1913), in: ders., Wege zur physikalischen Erkenntnis. Reden und Vorträge, Leipzig: Hirzel 1933, S.  44. 43  Schlick dürfte an dieser Stelle die Auseinandersetzung um die »axiomatische Geometrie« David Hilberts vor Augen haben: Im Unterschied zur herkömmlichen Auffassung setzte Hilbert keine Anschauung bzw. Kenntnis der durch die geometrischen Begriffe bezeichneten Objekte voraus. Einstein grenzte die »rein axiomatische Geo­me­ trie« von der »praktischen Geometrie« ab, die unter der Voraussetzung praktisch-starrer Körper von der Erfahrung abhing. Vgl. Albert Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Gemeinverständlich, Braunschweig: Vieweg 1916, § 1 (in: CPAE 6, Doc. 42); Albert Einstein, Geometrie und Erfahrung. Erweiterte Fassung des Festvortrages gehalten an der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 27. Januar 1921, Berlin: Springer 1921, S.  4–7 (in: CPAE 7, Doc. 52) und den Beitrag 2.3, S.  174  f. 44  Henri Poincaré, Science et méthode, Paris: Flammarion 1908, S.  97. 45  Bei Poincaré heißt es dazu: »Ich gebe zu, daß wir die intuitive Anschauung der Seiten des euklidischen Dreiecks haben, aber wir haben sie im gleichen Maße von dem nicht-euklidischen Dreieck. Warum soll ich das Recht haben, den ersten dieser Begriffe Gerade zu nennen und den zweiten nicht? Inwiefern würden diese paar Silben etwas Wesentliches an diesen intuitiven Gedanken ausmachen? Augenscheinlich wollen wir, wenn wir sagen, daß die euklidische Gerade eine wirkliche Gerade ist, die nicht-euklidische Gerade aber nicht, nur sagen, daß die erste Anschauung einen wichtigeren Gegenstand entspricht als die zweite.« (Henri Poincaré, Der Wert der Wissenschaft, Zweite Auflage, a. a . O., S.  44.) Dass die euklidische Geometrie wichtiger ist als die nicht-euklidische, führte Poincaré insbesondere auf ihre

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nützliche Angepasstheit an unsere gewohnte Erfahrungswelt zurück: »Eine Geometrie kann nicht richtiger sein wie eine andere; sie kann nur bequemer sein. Und die Euklidische Geometrie ist die bequemste und wird es immer bleiben: 1. weil sie die einfachste […] in sich [ist]« und »2. weil sie sich hinreichend gut den Eigenschaften der natürlichen, festen Körper anpasst, dieser Körper, welche uns durch unsere Glieder und unsere Augen zum Bewußtsein kommen und aus denen wir unsere Meßinstrumente herstellen.« (Henri Poincaré, Wissenschaft und Hypothese, Leipzig: Teubner 1904, S.  52.) 46  Henri Poincaré, Science et méthode, a. a . O., S.  102  f. 47  Hermann von Helmholtz, »Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome«, in: Vorträge und Reden, Zweiter Band, 5. Auflage, Braunschweig: Vieweg 1903, S.  29  f. Gemeinsam mit dem Physiker Paul Hertz hat Schlick im Jahre 1921 ausgewählte erkenntnistheoretische Schriften von Hermann von Helmholtz anlässlich seines 100. Geburtstages mit erläuternden Kommentaren herausgegeben. Siehe dazu Moritz Schlick, Rostock, Kiel, Wien. Aufsätze, Beiträge, Rezensionen 1919–1925, hrsg. und eingeleitet von Edwin Glassner und Heidi König-Porstner unter Mitarbeit von Karsten Böger, Wien / New York: Springer 2012, S.  251–417 und weiterführend Matthias Neuber, »Helmholtz’s Theory of Space and its Significance for Schlick«, in: British Journal for the History of Philosophy 20:1 (2012), S.  163–180. 48  Schlicks Kritik könnte sich auf die folgende Passage beziehen: »[S] o hätte man die Wahl zwischen zwei Schlußfolgerungen: wir könnten der euklidischen Geometrie entsagen oder die Gesetze der Optik abändern und zulassen, daß das Licht sich nicht genau in gerader Linie fortpflanzt. Es ist unnütz hinzuzufügen, daß jedermann diese letztere Lösung als die vorteilhaftere ansehen würde. Die Euklidische Geometrie hat also von neuen Erfahrungen nichts zu befürchten.« (Henri Poincaré, Wissenschaft und Hypothese, a. a . O., S.  74  f.) 49  In diesem Zusammenhang kritisiert Schlick auch die Auffassung von Hermann von Helmholtz, starre Maßstäbe als wirkliche Körper und diese als unabhängig von unseren Festsetzungen zu betrachten. Helmholtz schrieb: »Alle unsere geometrischen Messungen beruhen also auf der Voraussetzung, dass unsere von uns für fest gehaltenen

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Messwerkzeuge wirklich Körper von unveränderlicher Form sind, oder dass sie wenigstens keine anderen Arten von Formveränderung erleiden, als diejenigen, die wir an ihnen kennen, wie z. B. die von geänderter Temperatur, oder die kleinen Dehnungen, welche von der bei geänderter Stellung anders wirkenden Schwere herrühren.« (Hermann von Helmholtz, »Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome«, a. a . O., S.  23.) In seinen Erläuterungen zu dieser Stelle gab Schlick an: »In dem Wörtchen ›wirklich‹ steckt das wesentlichste philosophische Problem des ganzen Vortrages. Was für einen Sinn hat es, von einem Körper zu sagen, er sei wirklich starr? […] Was als ›wirklich‹ starr zu gelten hat, wird […] nicht durch eine logische Notwendigkeit des Denkens oder durch die Anschauung bestimmt, sondern durch eine Übereinkunft, eine Definition.« (Moritz Schlick, »Erläuterungen [zu: Hermann von Helmholtz, Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome / Die Tatsachen in der Wahrnehmung]«, in: Moritz Schlick, Rostock, Kiel, Wien. Aufsätze, Beiträge, Rezensionen 1919–1925, hrsg. und eingeleitet von Edwin Glassner und Heidi König-­ Porstner unter Mitarbeit von Karsten Böger, a. a . O., S.  285  f.) 50  In seiner ersten systematischen Abhandlung über die allgemeine Relativitätstheorie aus dem Jahre 1916 spricht Einstein von einem »erkenntnistheoretischen Mangel«, der »[d]er klassischen Mechanik und nicht minder der speziellen Relativitätstheorie [an]haftet […]« und »der vielleicht zum ersten Male von E. Mach klar hervorgehoben wurde.« Wie Mach argumentiert Einstein im Folgenden gegen Newtons absoluten Raum als einer »bloss fingierten Ursache«, er zieht die entfernten Massen und ihre Bewegungen heran, um das Auftreten von deformierenden Trägheitskräften an rotierenden flüssigen Körpern zu erklären, »denn das Kausalitätsgesetz hat nur dann den Sinn einer Aussage über die Erfahrungswelt, wenn als Ursachen und Wirkungen letzten Endes nur beobachtbare Tatsachen auftreten.« Mehr noch ergibt sich für ihn daraus aber eine erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Relativität aller Bewegungen: »Von allen denkbaren, relativ zueinander beliebig bewegten Räumen R1, R2 usw. darf a priori keiner als bevorzugt angesehen werden, wenn nicht der dargelegte erkenntnistheoretische Einwand wieder aufleben soll. Die Gesetze der Physik müssen so

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beschaffen sein, daß sie in bezug auf beliebig bewegte Bezugssysteme gelten. Wir gelangen also auf diesem Wege zu einer Erweiterung des Relativitätspostulates.« (Vgl. Albert Einstein, »Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie«, a. a . O., S.  771  f.) 51  Siehe zum Folgenden Albert Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Gemeinverständlich, a. a . O., § 20 und den Beitrag, 1.1, Abschnitt VII , S.  49  f. 52 Schlick verwendet hier das »Punktkoinzidenzargument«. Mit diesem Argument ließen sich die fatalen Konsequenzen des Loch­ arguments überwinden, das Einstein 1913 davon überzeugte, die Forderung der allgemeinen Kovarianz der Feldgleichungen der Gravitation fallen zu lassen. Siehe dazu den Beitrag 1.1, Abschnitt VII , S.  51 und die Einleitung, S.  X VI –XVIII . 53  Vgl. Hermann Minkowski, »Raum und Zeit«, in: Hendrik Antoon Lorentz, Albert Einstein und Hermann Minkowski, Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen, Leipzig  /  Berlin: Teubner 1913, S.  59  f. 54  Albert Einstein, »Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheo­ rie«, a. a . O., S.  776. 55  Siehe Bernhard Riemann, »Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grund liegen«, in: Gesammelte Mathematische Werke und Wissenschaftlicher Nachlass. Herausgegeben unter Mitwirkung von R. Dedekind von H. Weber, Leipzig: Teubner 1876, S.  254–269. 56  Siehe Albert Einstein, »Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig«, in: Annalen der Physik 18 (1905), S.  639–641 (in: CPAE 2, Doc. 24). 57  Näheres zur Geschichte des Tensorkalküls findet sich in Roberto Torretti, Philosophy of Geometry from Riemann to Poincaré, Dordrecht: Reidel 1984 und Karin Reich, Die Entwicklung des Tensorkalküls. Vom absoluten Differentialkalkül zur Relativitätstheorie, Boston: Birkhäuser 1994. 58  Vgl. Albert Einstein, »Erklärung der Perihelbewegung des Merkur aus der allgemeinen Relativitätstheorie«, in: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften XLVII , Gesamtsitzung vom 18. November 1915, S.  831–839 (in: CPAE 6, Doc. 24).

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59  Albert Einstein, »Die Grundlage der allgemeinen Relativitäts­theo­ rie«, a. a . O., S.  804. 60  Siehe ebenda, S.  810–815. 61  Vgl. Hermann Minkowski, »Raum und Zeit«, in: Hendrik Antoon Lorentz, Albert Einstein und Hermann Minkowski, Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen, a. a . O., S.  56. 62  Siehe den Beitrag 1.1, Abschnitt II , S.  11–13. 63  Schlick denkt hier an die Phänomene der Zeitdilatation und Längenkontraktion bei physikalischen Vorgängen im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie. Siehe Albert Einstein, »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«, a. a . O., § 4. 64  Die Gleichheit von träger und schwerer Masse ist eine Erfahrungstatsache der klassischen Mechanik, die mit hoher Präzision durch Experimente von Loránd von Eötvös Ende des 19. Jahrhunderts bestätigt wurde (siehe Roland Baron Eötvös, »Über die Anziehung der Erde auf verschiedene Substanzen«, in: Mathematische und Naturwissenschaftliche Berichte aus Ungarn 8 (1891), S.  65–68). Durch Einstein erlangte diese Tatsache ab 1907 prinzipielle Bedeutung auf seinem Weg zur allgemeinen Relativitätstheorie, in der Beschleunigungs- und Gravitationseffekte auf der Grundlage von materiellen Prozessen gleichwertig sein sollten. Siehe Albert Einstein, »Über das Relativitätsprinzip und die aus demselben gezogenen Folgerungen«, in: Jahrbuch der Relativität und Elektronik 4 (1907), S.  411–462, Abschnitt V: Relativitätsprinzip und Gravitation (in: CPAE 2, Doc. 47). 65  Deutlich bringt Schlick hier seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie angewandte Geometrie letztlich auf Erfahrungen von Messungen zurückzuführen sei. 66  Siehe den Beitrag 1.2, S.  97 und die Anmerkung 58. 67  Vgl. Albert Einstein, »Über den Einfluß der Schwerkraft auf die Ausbreitung des Lichtes«, in: Annalen der Physik 35 (1911), S.  898–908 (in: CPAE 3, Doc. 23) und dazu Erwin Freundlich, »Zur Prüfung der allgemeinen Relativitätstheorie«, in: Die Naturwissenschaften 7 (1919), S.  629–636. Siehe dazu John Earman und Clark Glymour, »The Gravitational Red Shift as a Test of General Relativity: History and Analysis«, in: Studies in History and Philosophy of Science 11 (1980), S.  175–214.

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68  Siehe Frank W. Dyson, Arthur S.  Eddington und Clinton J. Davidson, »A Determination of the Deflection of Light by the Sun’s Gravitational Field, from Obersevations made at the Total Eclipse of May 29, 1919«, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Series A, Vol. 220 (1920), S.  291–333. 69  Vgl. William H. Maw und B. Alfred Raworth, »The Deflection of Light by the Sun’s Gravitational Field«, in: Engineering 108 (1919), S.  648. 70  Tatsächlich begründete die Bestätigung der allgemeinen Relativitätstheorie anhand der Resultate der Sonnenfinsternisbeobachtung durch die beiden englischen Expeditionen Einsteins internationale Anerkennung und seinen öffentlichen Ruhm. Siehe Albrecht Fölsing, ­Albert Einstein. Eine Biographie, Frankfurt / M.: Suhrkamp 1995, S.  488  ff. 71  Die Schriftleitung der Elektronischen Umschau fügte dem Beitrag Schlicks den folgenden Hinweis an: »Leser, die sich über die Relativitätstheorie genauer unterrichten wollen, weisen wir auf das fesselnd und leicht verständlich geschriebene Buch hin: M. Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, II . Aufl., Berlin 1919, Preis M 5,20. Die Schriftleitung.« 72  Gemeint ist Pythagoras von Samos, der in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. die Auffassung von der Kugelgestalt der Erde vertrat. 73  Das Hauptwerk von Nikolais Kopernikus De revolutionibus orbium coelestium erschien 1543 in Nürnberg. Vgl. Heribert M. Nobis, Menso Folkerts, Stefan Kirschner und Andreas Kühne (Hg.), Nicolaus Copernicus Gesamtausgabe, Band III /3: De Revolutionibus. Die erste deutsche Übersetzung in der Grazer Handschrift. Kritische Edition. Bearbeitet von Andreas Kühne und Jürgen Hamel unter Mitarbeit von Uwe Lück, Berlin: Akademie-Verlag 2007. 74  Siehe Owen Gingerich, »Did Copernicus owe a debt to Aristarchus«, in: ders., The Eye of Heaven: Ptolemy, Copernicus, Kepler, New York: American Institute of Physics 1993, S.  185–192 und Jürgen Hamel, Nicolaus Copernikus. Leben, Werk und Wirkung, Heidelberg  /  Berlin  /  Oxford: Spektrum Akademischer Verlag 1994, S.  56–63. 75  Siehe den Beitrag 1.2, Abschnitt V, S.  75–82.

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76  Mit Blick auf den Eimerversuch von Newton lautet es bei Mach: »Dreht sich ein Körper relativ gegen den Fixsternhimmel, so treten Fliehkräfte auf, dreht er sich relativ gegen einen andern Körper, nicht aber gegen den Fixsternhimmel, so fehlen die Fliehkräfte. Ich habe nichts dagegen, dass man die erstere Rotation eine absolute nennt, wenn man nur nicht vergisst, dass dies nichts anderes heisst, als eine relative Drehung gegen den Fixsternhimmel. Können wir vielleicht das Wasserglas Newton’s festhalten, den Fixsternhimmel dagegen rotiren, und das Fehlen der Fliehkräfte nun nachweisen? Der Versuch ist nicht ausführbar, der Gedanke überhaupt sinnlos, da beide Fälle sinnlich voneinander nicht zu unterscheiden sind. Ich halte demnach beide Fälle für denselben Fall und die Newton’sche Unterscheidung für eine Illusion.« (Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt, Dritte verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig: Brockhaus 1897, S.  232  f.) 77  In der angeführten Erfahrungstatsache lag, wie Einstein in einem unveröffentlichten Überblicksartikel für die Zeitschrift Nature schrieb, »der Anreiz, der mit unwiderstehlicher Gewalt nach einer Verallgemeinerung des Relativitätsprinzipes tendierte.« Und weiter heißt es: »Die Erfahrungsthatsache vom gleichen Fallen aller Körper kann also im Geiste der Newton’schen Mechanik auch als Satz von der Gleichheit der trägen und schweren Masse aufgefasst werden, der vom Standpunkte der Newton’schen Mechanik aus durchaus keine Selbstverständlichkeit bedeutet.« (Albert Einstein, »Grundgedanken und M ­ ethoden der Relativitätstheorie, in ihrer Entwicklung dargestellt«, in: CPAE 7, Doc. 31, S.  266  f.) Siehe dazu den Beitrag 1.3, S.  102 und die Anmerkung 64. 78  Siehe den Beitrag 1.2, Abschnitt V, S.  80  f. 79  Siehe den Beitrag 1.2, Abschnitt VII , S.  92–99. 80  Im Unterschied zu seinen vorhergehenden Beiträgen zur Relativitätstheorie weist Schlick dem Raum an dieser Stelle eine gewisse Eigen­ ständigkeit in der Wechselwirkung mit den gravitierenden Massen zu. Siehe in diesem Zusammenhang auch Albert Einstein, Äther und Relativitätstheorie. Rede Gehalten am 5. Mai 1920 an der Reichs-Universität zu Leiden, Berlin: Springer 1920 (in: CPAE 7, Doc. 38). 81  Siehe den Beitrag 1.2, S.  97 und die Anmerkung 58.

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Anmerkungen

82  Siehe in diesem Zusammenhang Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Zweite neubearbeitete Auflage, Berlin: Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung 1885. 83  Siehe hierzu Matthias Neuber, Die Grenzen des Revisionismus. Schlick, Cassirer und das »Raumproblem«, Wien / New York: Springer 2012. 84  Siehe Ernst Cassirer an Moritz Schlick, 23. Oktober 1920, Noord-­ Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  94 / Cass / E-1. 85  Siehe Ernst Cassirer, »Philosophische Probleme der Relativitäts­ theo­rie«, Die neue Rundschau XXXI , Heft 7, Juli 1920, S.  1337–1357. 86  Vgl. Albert Einstein, »Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie«, a. a . O., S.  776. 87 Siehe in diesem Zusammenhang Albert Einstein, Äther und Relati­vitätstheorie. Rede Gehalten am 5. Mai 1920 an der Reichs-Universität zu Leiden, a. a . O. 88  Siehe den Beitrag 1.4, S.  116  f. und die Anmerkung 76. 89  Siehe den Beitrag 2.6, S.  180  f. 90  Siehe den Beitrag 1.1, Abschnitt III , S.  17  f. 91  Siehe den Beitrag 1.7, S.  160–163. 92  Siehe den Beitrag 1.1, Abschnitt III , S.  15  f. 93  Mit Blick auf die allgemeine Relativitätstheorie gab Einstein im Jahre 1920 an: »Wenn die Rotverschiebung der Spektrallinien durch das Gravitationspotential nicht existierte, wäre die allgemeine Relativitätstheorie unhaltbar.« (Albert Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Gemeinverständlich, 10. Auflage, Braunschweig: Vieweg 1920, S.  91, in: CPAE 6, Doc. 42.) Bereits 1905 lautete es in der speziellen Relativitätstheorie: »[D]ie mißlungenen Versuche, eine Bewegung der Erde relativ zum ›Lichtmedium‹ zu konstatieren, führen zu der Vermutung, daß dem Begriffe der absoluten Ruhe nicht nur in der Mechanik, sondern auch in der Elektrodynamik keine Eigenschaften der Erscheinungen entsprechen […].« (Albert Einstein, »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«, a. a . O., S.  891.) 94  Als Prinzipien der allgemeinen Relativitätstheorie gab Einstein im Jahre 1918 neben dem »Äquivalenzprinzip«, das »Relativitätsprinzip« und das »Mach’sche Prinzip« an. Siehe Albert Einstein, »Prinzipielles

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zur allgemeinen Relativitätstheorie«, in: Annalen der Physik 55 (1918), S.  241–244 (in: CPAE 7, Doc 4). 95  Siehe den Beitrag 1.1, Abschnitt VII , S.  49  f. 96  Schlick könnte sich hier auf folgende Passage Einsteins stützen: »Wir kennen kein derartiges Kriterium, aber wir wissen nicht, ob es kein Kriterium gibt. Immerhin aber spricht der exakte Versuch von Eötvös über die Gleichheit der trägen und der schweren Masse dafür, daß es kein solches Kriterium gibt. Man sieht, daß in diesem Zusammenhange der Eötvössche Versuch eine ähnliche Rolle spielt wie der Michelsonsche Versuch bei der Frage der physikalischen Nachweisbarkeit einer gleichförmigen Bewegung. Falls es […] wirklich prinzipiell nicht unterscheidbar ist, welche der beiden Auffassungen die zutreffende ist, kommt der Beschleunigung ebensowenig eine absolute physikalische Bedeutung zu wie der Geschwindigkeit. Dasselbe Bezugssystem ist mit gleichem Rechte als beschleunigt oder als nicht beschleunigt zu bezeichnen; je nach der gewählten Auffassung hat man dann aber ein Gravitationsfeld als vorhanden anzusetzen, welches zusammen mit dem eventuellen Beschleunigungszustand des Systems die Relativbewegung frei beweglicher Körper gegen das Bezugssystem bestimmt.« (Albert Einstein, »Zum gegenwärtigen Stande des Gravitationsproblems«, a. a . O., S.  1255.) 97  Bei Einstein lautet es: »Relativitätsprinzip: Die Naturgesetze sind nur Aussagen über zeiträumliche Koinzidenzen; sie finden deshalb ihren einzig natürlichen Ausdruck in allgemein kovarianten Gleichungen.« (Albert Einstein, »Prinzipielles zur allgemeinen Relativitätstheo­ rie«, a. a . O., S.  241.) 98  Siehe den Beitrag 1.1, S.  44 und die Anmerkung 20. 99  Schlick nimmt hier Bezug auf Einsteins Lektüre von Humes Traktat über die menschliche Natur (2. Aufl., Hamburg: Leopold Voss 1904) gemeinsam mit Conrad Habicht und Maurice Solovine in der »Akademie Olympia«; deren drei Mitglieder trafen sich erstmals um Ostern 1902 und in den folgenden Jahren regelmäßig zu natur- und wissenschaftsphilosophischen Diskussionsabenden. Siehe dazu John D. Norton, »How Hume and Mach Helped Einstein Find Special Relativity«, in: Mary Domski und Michael Dickson (Hg.), Discourse on a New Method:

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Anmerkungen

Reinvigorating the Marriage of History and Philosophy of Science, La Salle, Ill.: Open Court 2010, S.  359–386 und Fynn Ole Engler und Jürgen Renn, »Hume, Einstein und Schlick über die Objektivität der Wissenschaft«, in: Fynn Ole Engler und Mathias Iven (Hg.), Moritz Schlick. Die Rostocker Jahre und ihr Einfluss auf die Wiener Zeit, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013, S.  125–133. 100  Vgl. Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-­ kri­tisch dargestellt, a. a . O., S.  216–243. 101  Siehe den Beitrag 1.1, S.  50–52. 102  Vgl. Platon, Theaitetos 152 a 4–6. 103  Siehe dazu Joseph Petzoldt, Die Stellung der Relativitätstheorie in der geistigen Entwicklung der Menschheit, Dresden: Sibyllen-Verlag 1921, S.  100. 104  Siehe den Beitrag 2.6, S.  180  f. 105  Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), unter Mitarbeit von Udo Rameil herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas (Gesammelte Werke, Band 20), Hamburg: Meiner 1992, S.  320  f. 106  Siehe Oskar Kraus, »Der gegenwärtige Stand der Relativitäts­ theo­rie«, in: Neue Freie Presse, Nr.  21238, 25. Oktober 1923, S.  16/17 und Nr.  21240, 27. Oktober 1923, S.  15/16. 107  Vgl. Hans Thirring, »Zum gegenwärtigen Stand der Relativitäts­ theo­rie«, in: Neue Freie Presse, Nr.  21258, 15. November 1923, S.  19. 108  Siehe den Beitrag 1.6, S.  144  f. 109  Carl Friedrich Gauß an Friedrich Wilhelm Bessel, 27. Januar 1829, in: Briefwechsel zwischen Gauss und Bessel. Herausgegeben auf Veranlassung der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Leipzig: Engelmann 1880, S.  490. 110  Hier heißt es: »Der Geisteswissenschaftler vollends wird diese von der modernen Physik so propagierte Anschauung nicht teilen. Er tritt von ganz andern Voraussetzungen als der der Meßbarkeit an Raum und Zeit heran. Für ihn haben diese Grundbegriffe einen ganz andern Sinn als für die Physiker. Aber auch der Naturwissenschaftler sollte gegen die Argumente dieser Erkenntnistheorie mißtrauisch werden,

Anmerkungen

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g­ erade weil sie so einfach, so auf der Hand liegend sind. Gerade weil hier so plausible Analogieen zum physikalischen Denken gezogen werden, sollten die Physiker die Grenzen ihrer Wissenschaft scharf betonen und diese Analogieen verwerfen. Dann gerade hat die moderne Physik der Erkenntnistheorie methodisch viel neues Material zu bieten. Die Erkenntnistheorie wird die Revolution des physikalischen Denkens, nämlich die von Schlick so gut und klar skizzierte Einstein-Minkowskische-Relativitätstheorie, als eine physikalische Erkenntnis ebenso registrieren und methodisch ausbeuten, wie etwa die Gesetze der Lautverschiebung oder die nichteuklidischen Geometrien.« (Victor Henry, »Besprechung von: Moritz Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik«, in: Kant-Studien 23 (1919), S.  354.) 111  An dieser Stelle lautet es: »Man kann in dieser Einsicht den richtigen Kern der Kantschen Lehre von der ›Subjektivität der Zeit und des Raumes‹ erblicken, nach welcher bekanntlich beide nur ›Formen‹ unserer Anschauung sind und nicht den ›Dingen an sich‹ zugeschrieben werden dürfen. Bei Kant freilich kommt jene Wahrheit nur sehr undeutlich zum Ausdruck, denn er spricht immer nur von ›dem‹ Raume, ohne die anschaulichen Räume der verschiedenen Sinne von­einander und vom Raum der physischen Körper zu sondern; statt dessen stellt er nur dem Raum und der Zeit der Sinnesdinge die unerkennbare Ordnung der ›Dinge an sich‹ gegenüber. Im Gegensatz dazu finden wir nur Veranlassung, die anschaulichen psychologischen Räume und den unanschaulichen physikalischen voneinander zu scheiden. Da der letztere eben unanschaulich ist, so kann auch – entgegen der Meinung mancher Anhänger der Kantschen Philosophie – die Anschauung uns nichts darüber lehren, ob er etwa als Euklidisch zu bezeichnen ist oder nicht.« (Moritz Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Zur Einführung in das Verständnis der Relativitäts- und Gravitationstheorie, 3., vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin: Springer 1920, S.  80  f.) 112  Für eine ganz ähnliche Einschätzung vgl. Albert Einstein, »Besprechung von: Hermann Weyl, Raum, Zeit, Materie. Vorlesungen über allgemeine Relativitätstheorie«, in: Die Naturwissenschaften 6 (1918), S.  373 (in: CPAE 7, Doc. 10).

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Anmerkungen

113  Albert Einstein, Geometrie und Erfahrung. Erweiterte Fassung des Festvortrages gehalten an der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 27. Januar 1921, a. a . O., S.  3  f. 114 Gegenüber Einstein hatte sich Schlick ähnlich kritisch über Dinglers Buch Die Grundlagen der Physik – Synthetische Prinzipien der mathematischen Naturphilosophie (Berlin  /  Leipzig: de Gruyter 1919) geäußert: »H. Dingler in München hat ein Buch über die ›Grundlagen der Physik‹ geschrieben, in das ich mit einer gewissen Erschütterung hineingesehen habe. Ein früher vielversprechender Geist scheint hier (durch den Krieg?) völlig zerrüttet zu sein.« (Moritz Schlick an Albert Einstein, 22. April 1920, Noord-Hollands Archief, Nachlass Schlick, Inv.-Nr.  98 / Ein-30.) 115  Vgl. Hugo Dingler, Physik und Hypothese. Versuch einer induktiven Wissenschaftslehre nebst einer kritischen Analyse der Fundamente der Relativitätstheorie, Berlin  /  Leipzig: Vereinigung wissenschaftlicher Verleger 1921, S.  106  f. 116  Vgl. Hans Thirring, Die Idee der Relativitätstheorie, Zweite durchgesehene und verbesserte Auflage, Berlin: Springer 1922, Kap.  X VII . 117  Josef Winternitz, Relativitätstheorie und Erkenntnislehre. Eine Unter­suchung über die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Einsteinschen Theorie und die Bedeutung ihrer Ergebnisse für die allgemeinen Probleme des Naturerkennens, Leipzig  /  Berlin: Teubner 1923, S.  206. 118  Ebenda, S.  207. 119  Hans Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin: de Gruyter 1928, S.  6.

PE R S ON E N R E G I S T E R

Anschütz-Kaempfe, Hermann XXXVII Aristarch von Samos  106 Avenarius, Richard  189 Becher, Erich  XVIII , XXII Bergson, Henri  37 Berkeley, George  55 f. Berliner, Arnold  XVIII Bessel, Friedrich Wilhelm  162 Besso, Michele  XVII , XIX Bloch, Werner  XXXIII , 167 Bolton, Lyndon  XXXV Boltzmann, Ludwig  VII Born, Max  XXIV  f., XXXI  f., 141 Campbell, Normann  43 Carnap, Rudolf  XLI Cassirer, Ernst  XXXII , 34, 125 f., 128–140, 183 Clarke, Samuel  193 Cohen, Hermann  125 Cohn, Emil  7 Crommelin, Andrew  XXIV Descartes, René  IX , 68, 89, 135 Dessoir, Max  XLI Dingler, Hugo  XXXIV , 176 f., 206 Duhem, Pierre  XXI Eddington, Arthur Stanley  XXIV

Ehrenfest, Paul  XVII Einstein, Albert  VII  f., XII –­ XXXVIII , XLI –XLIII , 7 f., 16– 21, 26, 31, 35–37, 48 f., 51–53, 57 f., 60, 63, 73, 75, 78 f., 81, 84, 89, 95–98, 100, 102 f., 105, 107, 109, 112, 115–121, 123, 125, 129 f., 132–136, 138, 141  f., 144– 148, 151, 154 f., 161–163, 167, 169, 174, 177, 188, 190–193, 195, 197, 199–203, 205 f. Eötvös, Loránd von  199, 203 Erdmann, Benno  XXII Euklid  28 f., 69 f., 72 f., 83 f., 91  f., 94, 103, 122 f., 128 f., 156, 175, 196 Feigl, Herbert  XLI FitzGerald, George Francis  15, 58, 146, 188 Frank, Philipp  XLI Freundlich, Erwin  61, 78, 192 Galilei, Galileo  10, 78, 95, 101, 112, 119, 128 f., 160 Galle, Johann Gottfried  187 Gauß, Carl Friedrich  28, 68, 72, 89, 155, 162 Gehrcke, Ernst  XII , XXXIV , 6–8, 10, 18, 50, 178 Grossmann, Marcel  XXXIII

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Personenregister

Habicht, Conrad  203 Hahn, Hans  XLI Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 160 f. Heisenberg, Werner  XL Helm, Georg  54 Helmholtz, Hermann von  28, 71  f., 94, 155 f., 162, 186, 190, 196 Henry, Victor  171  f. Hertz, Paul  196 Hertzsprung, Ejnar  XXIV Hilbert, David  195 Hoffmann, E. T. A.  173 Hönigswald, Richard  39–41, 128 Hume, David  XXXI , 55 f., 150, 154, 162, 191, 194, 203 Husserl, Edmund  169 Huygens, Christiaan  137 Ignatowski, Wladimir Sergejewitsch  XII Kant, Immanuel  IX , XXVI , XXX –XXXII , 3 f., 20, 36, 38–43, 55 f., 75, 125, 127–130, 133–137, 139 f., 142, 156 f., 160, 180, 183, 187, 205 Katz, David  XXV Kopernikus, Nikolaus  27 f., 30 f., 70, 100, 106, 108, 200 Kraus, Oskar  XL , 161–163 Laue, Max von  XII , XXXVII , 7, 22, 24, 37 Leibniz, Gottfried Wilhelm  137 f.

Leverrier, Urbain  187, 192 Lobatschewski, Nikolai Iwanowitsch 84 Lorentz, Hendrik Antoon  XII , 8, 14–17, 20 f., 24, 26, 31, 37, 43, 50, 58, 79, 84, 146 f., 188 Lotze, Rudolf Hermann  155 Mach, Ernst  VII , XV , XVII , XX   f., XXVII , XLII   f., 43, 46–48, 50– 52, 75–77, 116, 126, 128, 137 f., 150, 191  f., 197, 201  f. Medicus, Fritz  XXXIII   f. Meyer, Edgar  XXXIII   f. Michelson, Albert Abraham  12 f., 58 f., 187, 203 Mill, John Stuart  XXXIV Minkowski, Hermann  8, 87, 99, 205 Morley, Edward Williams  187 Mosse, Rudolf  XXVIII Natorp, Paul  XII , 34 f., 38 f., 187 Neumann, Carl Gottfried  33 Neurath, Otto  XLI Newton, Isaac  XXVII   f., 3 f., 9 f., 20 f., 38, 40–42, 45–48, 57 f., 60, 65, 76–78, 81  f., 95, 97 f., 100 f., 105, 109, 116–120, 125, 132 f., 137, 140, 160 f., 176, 191, 201 Nietzsche, Friedrich  IX Noble, Henry R.  12 Oken, Lorenz  158 Ostwald, Wilhelm  54

Personenregister Pauli, Wolfgang (junior)  XL , XLII Pauli, Wolfgang (senior)  XLII Petzoldt, Joseph 37, 43, 50 Planck, Max  IX , XXII , XXIV , XXXVI   f., XXXIX   f., 54, 62 Platon  IX , 132 Poincaré, Henri  XXI , XXX , 28– 30, 63–66, 70, 72, 140, 142, 162, 175 f., 180, 186, 190, 195 Protagoras  150 f. Ptolemäus, Claudius  27, 70, 107 Pythagoras  106, 200 Rathenau, Walther  XXXVII Reichenbach, Hans  XXIX   f., XXXII , XXXIX   f., 142, 180, 185 f. Riehl, Alois  XXII , 128 Riemann, Bernhard  71  f., 84, 94, 134, 155 f., 162, 187 Ritz, Walther  14 Russell, Bertrand  XLI Schlick, August Hans (Bruder) VIII Schlick, Barbara Franziska ­Blanche (Tochter)  XI Schlick, Blanche Guy (geb. Hardy) (Frau)  X, XXII , XXVI Schlick, Ernst Moritz Paul (Bruder)  VIII Schlick, Friedrich Albert Moritz (Sohn)  XI

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Schlick, Friedrich Ernst (Groß­ vater)  VIII Schlick, Friedrich Julius Carl Albert Ludwig (Vater)  VIII , XIII Schlick, Wilhelmine Agnes Caro­ line (geb. Arndt) (Mutter) VIII Schneider, Ilse  135–137 Scholz, Heinrich  XXXVI Schopenhauer, Arthur  IX , 39 Schrödinger, Erwin  XLI Sellien, Ewald  134 Sitter, Willem de  15, 124 Solovine, Maurice  203 Stodola, Aurel  XIX Störring, Gustav  X Study, Eduard  30, 72, 190 Tardel, Gerda  XXIII Thirring, Hans  XL , 163, 182 Tolman, Richard C.  15 Trouton, Frederick Thomas  12 Waismann, Friedrich  XLI Warburg, Emil  IX Weber, Rudolf Heinrich  XXV Weyl, Hermann  XXXIII , 169– 173, 175 Wiechert, Emil  22 f. Winternitz, Josef  XL , 183 Wittgenstein, Ludwig  XLI Zangger, Heinrich  XIX , XXXIII