Text und Normativität im deutschen Mittelalter: XX. Anglo-German Colloquium 9783110280104, 9783110280043

This book investigates how German-language texts from the Middle Ages and the Early Modern Era helped to form collective

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German Pages 507 [508] Year 2012

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Text und Normativität im deutschen Mittelalter: XX. Anglo-German Colloquium
 9783110280104, 9783110280043

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Text und Normativität im deutschen Mittelalter

Text und Normativität im deutschen Mittelalter XX. Anglo-German Colloquium Herausgegeben von Elke Brüggen, Franz-Josef Holznagel, Sebastian Coxon und Almut Suerbaum unter Mitarbeit von Reinhold Katers

De Gruyter

ISBN 978-3-11-028004-3 e-ISBN 978-3-11-028010-4

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Josef Brüggen († 13. 9. 2007) zum Gedenken

Vorwort

Vom 5. bis 9. September 2007 fand im dbb forum siebengebirge in Königswinter (Thomasberg) bei Bonn das XX. Anglo-German Colloquium zum Thema ›Text und Normativität im deutschen Mittelalter‹ statt. Für die Veranstalter war es eine Ehre und eine Freude, als Gastgeber den Rahmen für das Jubiläum dieser Einrichtung schaffen zu dürfen, die in der zweiten Hälfte der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts von Peter F. Ganz (Oxford), Frederick Norman (London), Werner Schröder (Marburg) und Roy A. Wisbey (Cambridge) begründet wurde und sich seither zu einem zentralen Diskussionsforum der germanistischen Mediävistik entwickelt hat, dessen Ergebnisse regelmäßig durch vielbeachtete Tagungsbände dokumentiert werden. Wenn man nach den Gründen für die erstaunliche Langlebigkeit und Lebendigkeit der Veranstaltung fragt, wird man nicht zuletzt an die Diskussionsatmosphäre denken, die allgemein als besonderer Reiz empfunden wird. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie sich der produktiven Begegnung von deutscher und anglophoner Wissenschaftskultur und dem programmatischen Miteinander von jüngeren und erfahrenen Kolleginnen und Kollegen verdankt. Der anregende wissenschaftliche Austausch in Königswinter, auf den wir zurückblicken können, lässt die begründete Hoffnung zu, dass das Erfolgsmodell ›Anglo-German Colloquium‹ auch die dritte Dekade der Colloquien meistern wird. Die Durchführung der Tagung wurde großzügig unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und vom Land Mecklenburg-Vorpommern, von der Alexander von Humboldt-Stiftung und der British Academy, von den Universitäten Bonn und Rostock, von den Verlagen Walter de Gruyter und Erich Schmidt sowie von der Stadt Bonn. Unschätzbare Hilfe bei der Vorbereitung und der Organisation leisteten die Mitglieder der ›Turmgesellschaft‹ am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn, insbesondere Christine Bücken und Ann-Kathrin Deininger. Peter Kern (Bonn) bereicherte die Tagung mit seiner kompetenten Führung durch die Doppelkirche von Schwarzrheindorf; Ricarda Bauschke-Hartung (Düsseldorf) zog am letzten Tag ein erstes Fazit der Beiträge. Das Team des dbb forums siebengebirge erfreute die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit unangestrengt-professioneller Gastfreundschaft in wunderbaren Räumlichkeiten. Die sorgfältige redaktionelle Betreuung der Beiträge lag in den Händen von Reinhold Katers, das Register erstellte Annika Bostelmann. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank.

VIII

Vorwort

Danken möchten wir überdies dem Verlag für die Aufnahme des Bandes in sein Programm und den Mitarbeitern für die konstruktive Zusammenarbeit. ELKE BRÜGGEN, FRANZ-JOSEF HOLZNAGEL, SEBASTIAN COXON, A LMUT SUERBAUM

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Nikolaus Henkel (Hamburg) Wertevermittlung und Wissen in der Hand des Gelehrten. Sebastian Brant und sein Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Zur literarischen Vermittlung von Normativität in weltlichen und geistlichen Texten des deutschsprachigen Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Silvia Reuvekamp (Düsseldorf) des gît gewisse lêre / künec Artûs der guote. Zur Thematisierung und Funktionalisierung des Normativen in der Figurenpoetik des höfischen Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Bruno Quast (Münster) Daz ander paradîse. Mythos und Norm in den Artusromanen Hartmanns von Aue . . . . . . . .

65

Corinna Laude (Berlin) wîs lûter sam ein îs – oder: Schwierige Schönheit. Überlegungen zur Etablierung ästhetischer Normen in der höfischen Epik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Susanne Flecken-Büttner (Bonn) Exzeptionalität. Zu Narration, Deskription und Reflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

X

Inhalt

Bent Gebert (Freiburg/Br.) Poetik der Tugend. Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik . . . . . . . . 143 Hans-Joachim Ziegeler (Köln) Norm und Narration. Profilierung und Problematisierung des Feudalsystems in der Anfangssequenz des Lancelot-Prosaromans – eine Skizze . . . . . . . . . . . 169 Almut Schneider (Eichstätt-Ingolstadt) er liez ze himel tougen erhellen sîner stimme dôn. Sprachklang als poetische Fundierung normativen Sprechens . . . . . . . . . . . 199 Mark Chinca (Cambridge) Norm und Durchschnitt. Zum Münchner Eigengerichtsspiel von 1510 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

II.

Norm und Individualität / Strategien normativen Sprechens in der Literatur

Martin H. Jones (London) Normerfüllung oder Normverletzung? Zum Urteil des Königs Artus über Gramoflanz’ Brief an Itonje . . . . . . . . . 235 Nine Miedema (Saarbrücken) Gesprächsnormen. Höfische Kommunikation in didaktischen und erzählenden Texten des Hochmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Gerhard Wolf (Bayreuth) Paradoxe Normativität? Ambivalenzen des Normierungsprozesses in der didaktischen Literatur des 13. Jahrhunderts (Seifried Helbling, Der Jüngling, Der Magezoge) . . . . . 279 Bernd Bastert (Bochum) den wolt er lêren rehte tuon. Der Winsbecke zwischen Didaxe und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .303

Inhalt

XI

III. Norm und Antinorm / Literarische Transgressionen und die Konstruktion von Gegenwelten Elizabeth A. Andersen (Newcastle upon Tyne) Die Norm des Komischen im Pfaffen Amis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Monika Schausten (Köln) Poetik der Interferenz. Zum Problem einer Universalisierung höfischer Normen in Heinrich Wittenwilers Ring am Beispiel der Neidhart-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Karina Kellermann (Bonn) Vom Spiel mit den Normen zur Normierung. Die narrative Konstruktion von Gegenwelten in Zeitklage und politischer Polemik des Spätmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

IV. Modellierungen des Normativen Christoph Huber (Tübingen) Normproblematik im frühen Minnesang bis Heinrich von Morungen . . . . 371 Markus Stock (Toronto) Autorität und Intensität. Normierung und volles Wort bei Gottfried von Neifen und Rudolf von Ems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Annette Volfing (Oxford) Wunne in paradîse. Zur Definition von wîp in der Spruchdichtung und der meisterlichen Liedkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

V.

Normativität und Medialität: Die Verhandlung von Normen im Horizont von Retextualisierungs- und Rezeptionsvorgängen

Stefanie Schmitt (Kassel) Zwischen Heilsgeschichte und höfischer Literatur. Erzählen von der Kindheit Jesu beim Priester Wernher und bei Konrad von Fußesbrunnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

XII

Inhalt

Henrike Lähnemann (Newcastle upon Tyne) Also do du ok. Andachtsanweisungen in den Medinger Orationalien . . . . . . . . . . . . . . . . .437 Martina Backes (Fribourg) Erzählen und Belehren. Zur narrativen Umsetzung und graphischen Visualisierung von Normen in Jörg Wickrams Nachbarroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Jan Cölln (Rostock) Normativität unter den Bedingungen der Kontingenz. Humanistische Perspektiven auf Fortuna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

Verzeichnis abgekürzt zitierter Periodika, Nachschlagewerke, Editionen und Textreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .489 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

Einleitung

Das Thema der Tagung ›Text und Normativität im deutschen Mittelalter‹ wurde auf dem vorausgehenden Colloquium in Oxford 2005 festgelegt. Seine Ausarbeitung wurde von der Überlegung geleitet, dass sich prominente Fragestellungen der aktuellen Forschungsdiskussion in der germanistischen Mediävistik durch die vorgeschlagene Fokussierung systematisch erschließen und spannungsreich aufeinander beziehen lassen. Das Thema reagiert vor allem auf die Diskussion um eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung des Faches, in deren Verlauf die Prämissen, Fragestellungen, Methoden und Erkenntnisziele, die Chancen und Defizite der Kontextanalyse kritisch beleuchtet und das Problemgeflecht ›Text und Kultur‹ neu perspektiviert wurden;1 es situiert sich insbesondere in einem aktuellen Forschungsumfeld, das durch Begriffe wie ›Autorisierung‹, ›Geltung‹, ›Muster‹, ›Regelhaftigkeit‹, ›Wertevermittlung‹ und ›Wissen‹ gekennzeichnet ist.2 1

2

Vgl. bes. Peters, Ursula (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23). dies., Text und Kontext. Die Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie, in: Bürkle, Susanne / Deutsch, Lorenz / Reuvekamp-Felber, Timo (Hrsg.), Ursula Peters, Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft. Aufsätze 1973–2000, Tübingen, Basel 2004, S. 301–334. Vgl. z.B. Kellner, Beate / Lieb, Ludger / Strohschneider, Peter (Hrsg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt/M. u.a. 2001 (Mikrokosmos 64). Poag, James F. / Baldwin, Claire (Hrsg.), The construction of textual authority in German literature of the medieval and early modern periods, Chapel Hill, London 2001. Jussen, Bernhard (Hrsg.), Ordering medieval society. Perspectives on intellectual and practical modes of shaping social relations, Philadelphia 2001. Kellner, Beate / Strohschneider, Peter / Wenzel, Franziska (Hrsg.), Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190); hinzuweisen ist insbes. auf die Einleitung (B. Kellner) und die dort in Anm. 3 verzeichnete Literatur zum theoretischen Programm des Dresdner SFB 537 ›Institutionalität und Geschichtlichkeit‹. Harms, Wolfgang / Jaeger, C. Stephen / Wenzel, Horst (Hrsg.), Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters, Stuttgart 2003. Kellermann, Karina, Der Körper: Realpräsenz und symbolische Ordnung, in: Das Mittelalter, 8,1/2003, S. 3–8. Peters, Ursula, Digitus argumentalis. Autorbilder als Signatur von Lehr-Auctoritas in der mittelalterlichen Liedüberlieferung, in: Bickenbach, Matthias / Klappert, Annina / Pompe, Hedwig (Hrsg.), Manus loquens. Medium der Geste – Gesten der Medien, Köln 2003 (Mediologie 7), S. 31–65. Cölln, Jan, ›werdekeit‹. Zur literarischen Kon-

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Einleitung

Ziel der Tagung war es, die Möglichkeiten mittelalterlicher Texte (und ihrer ästhetischen, materiellen und medialen Konkretionen) zu beschreiben, durch die Thematisierung von Normen auf die Prägung kollektiver und individueller Identitäten einzuwirken. Dabei sollte es nicht allein um Akte der Setzung, der Vermittlung, der Explikation und der Sicherung von Normen gehen, sondern ebenso um Prozesse ihrer Infragestellung, Reflexion und Kritik, ihrer Transformation oder ihrer Destabilisierung, Auflösung und Neusetzung.3 Wir wollten uns der Aufgabe stellen, auf dem Wege einer theoretischen Diskussion und auf dem Wege einer Erprobung der Fragestellung an Fallbeispielen ein auf die Arbeit mit Texten des deutschen Mittelalters zugeschnittenes Konzept von ›Normativität‹ zu entwickeln. Dabei wurden Normen – in Anknüpfung an soziologische und/oder kulturphilosophische Theoriebildungen4 – als vergleichsweise schwache Formen der Handlungsreglementierung angesehen, die lediglich Grenzen des Zulässigen als Erwartungshaltungen an soziales Handeln festlegen. Die Missachtung einer solchen (implizit gegebenen oder explizit vereinbarten) Erwartungshaltung kann mit der Androhung von Sanktionen verbunden sein, ihre Befolgung hingegen mit der Aussicht auf Anerkennung und soziales Prestige. Implizite wie explizite Normen wurden dabei als historisch variable Konstrukte verstanden, die zwar einen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit erheben, die aber (ebenso wie die ihnen zugrunde liegenden Werte und Deutungsmuster) gesetzt und durchgesetzt werden müssen; außerdem kann ihre Verbindlichkeit mithilfe von konkurrierenden respektive konfligierenden Setzungen bestritten werden.5 Da auch im Mittelalter Erwartungshaltungen gegenüber sozialem Handeln kommunikativ erzeugt, gesichert und modifiziert werden und die deutschen Texte des 8. bis 16. Jahrhunderts (auf unterschiedlich deutliche Weise) Teil eben dieser Verständi-

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4

5

struktion ethischen Verhaltens und seiner Bewertung in Rudolfs von Ems ›Alexander‹, in: Mölk, Ulrich (Hrsg.), Herrschaft, Ideologie und Geschichtskonzeption in Alexanderdichtungen des Mittelalters, Göttingen 2002 (Göttinger SFB 529 ›Internationalität nationaler Literaturen‹, Serie A, Bd. 2), S. 332–357. Bei der Diskussion über ›Text und Normativität‹ wäre zu berücksichtigen, dass die Produktion, die Rezeption und die Distribution von Literatur einen eigenen Typus sozialen Handelns darstellt, der selbst wiederum (historisch variablen) Normen unterliegt; vgl. hierzu bes. Anz, Thomas, Vorschläge zur Grundlegung einer Soziologie literarischer Normen, in: IASL, 9/1984, S. 128–144. Allerdings haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Oxforder Colloquiums mit Rücksicht auf eine größtmögliche Kohärenz der Beiträge mehrheitlich dafür votiert, diesen Gesichtspunkt allenfalls am Rande zu thematisieren. Vgl. hierzu u.a. Popitz, Heinrich, Soziale Normen, in: Europäisches Archiv für Soziologie, 2/1961, S. 185–198. Luhmann, Niklas, Normen in soziologischer Perspektive, in: Soziale Welt, 20/1969, S. 28–48. Korthals-Beyerlein, Gabriele, Soziale Normen. Begriffliche Explikation und Grundlagen empirischer Erfassung, München 1979. Vgl. überdies die materialreiche und auch für die vorliegende Fragestellung aufschlussreiche Arbeit von Rolf, Thomas, Normalität. Ein philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts, München 1999. Vgl. hierzu die zusammenfassenden Ausführungen von Anz, Thomas, Norm, in: RLW, 2/2000, S. 720–723 (mit weiterführender Literatur).

Einleitung

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gungs- und Reflexionsprozesse sind, lassen sich die generellen Überlegungen zur Genese und zur Veränderung von Normativität auch an die ›klassischen‹ Gegenstände der germanistischen Mediävistik herantragen – dies in der programmatischen Absicht, dass davon beide Fragerichtungen profitieren: Die Normativitäts-Konzepte gewinnen in ihrer Anwendung auf die deutschsprachige Literatur des Mittelalters eine historische Tiefendimension, während umgekehrt in der von NormativitätsÜberlegungen geleiteten, konkreten Arbeit an den Texten Aspekte betont werden, die sonst weniger deutlich zutage treten. Der leitende Gesichtspunkt dieser Verbindung aus Textdeutung und dem Nachdenken über Normativität konkretisierte sich in der Frage, auf welche Weise die deutschsprachige Literatur des 8. bis 16. Jahrhunderts Teil eben jener Formierungsprozesse sei, welche die mittelalterlichen Vorstellungen von Norm und Normativität geprägt haben. Diese Frage schloss die Untersuchung von epochen-, textsorten-, gruppen- und genderspezifischen Modellierungen von Normen ebenso ein wie die Analyse von Spielräumen, die in der Literatur für die Thematisierung, die Konkretisierung und die Infragestellung von Erwartungen an das soziale Handeln eröffnet werden; ferner sollte in diesem Zusammenhang bedacht werden, welche Funktion die Materialität der literarischen Kommunikation in Handschriften und Frühdrucken sowie in intermedialen Ensembles bei der Formierung normativer Konstellationen besitzt. Schließlich war die Bedeutung, welche Normierungsprozesse für die Konstitution einer allgemeinen sozialen Ordnung haben, abzuwägen gegenüber Prozessen sozialer Differenzbildung in engeren Kommunikationsgemeinschaften. Auch in diesem Kontext war dezidiert nach der Bedeutung der Literatur zu fragen, da diese zum einen soziale Hierarchien (innerhalb wie außerhalb der eigenen Gruppe) mittels gradueller Abstufungen der Normerfüllung augenfällig macht, zum anderen aber das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv verhandelt (etwa über das Moment der vom Einzelnen realisierten, nicht mehr überbietbaren Steigerung der Normerfüllung sowie über die Konstruktion von außerordentlichen Erfahrungsräumen, in denen eben diese Normerfüllung und die Normen selbst zur Disposition stehen). In dieser Linie sollte die Themenstellung ›Text und Normativität im deutschen Mittelalter‹ mehrere Arbeitsfelder mit einer Vielzahl möglicher Zugänge und thematischer Zuspitzungen eröffnen. Mit den nachfolgenden Stichworten wurde ein ausgewählter internationaler Teilnehmerkreis eingeladen, passende Vortragsangebote zu unterbreiten. Mit ihnen sollten Anregungen gegeben, andere Akzentuierungen jedoch nicht ausgeschlossen werden; Überlegungen zur geistlichen wie zur weltlichen Literatur waren gleichermaßen willkommen, und es gab keine Präferenzen für bestimmte Zeiträume oder Texttypen.

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Einleitung NORMEN IN TEXTEN : ZUR LITERARISCHEN VERHANDLUNG VON NORMATIVITÄT UND DIFFERENZ Literatur und die Archive des Normativen: Übernahme, Selektion, Modifikation, Umcodierung, Negation von kanonisierten Beständen normativen Wissens (etwa in Recht, Religion und Herrschaft) – Figurationen der Normierung: Sozialisation, Erziehung und Belehrung in mittelalterlicher Literatur – Vermittlung von Normen, scheiternd und gelingend – Rationalität, Partizipation und Mimesis: Vermittlung und Übernahme von Normen im Spannungsfeld von rationaler Schulung und leiblich-sinnlicher Einübung – Umgangsformen: Der regulierte, disziplinierte und beherrschte Körper als Medium sozialer Interaktion – Die Anfälligkeit höfischer Sozialität: Wissen, Erziehung und ›self-fashioning‹ als Voraussetzungen für Manipulation, Täuschung und Verstellung – Gemeinschaftsstiftung und Differenzbildung: Der Stellenwert von Normen für das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv – Norm und Anti-Norm: Figurationen des Normbruchs und der Normverweigerung – Karnevaleske Strukturen: Die Imagination von literarischen Gegenwelten LITERATUR UND LEHRE : LITERARISCHE STRATEGIEN DER THEMATISIERUNG VON NORMEN IN MITTELALTERLICHER L ITERATUR Die literarische Ästhetik der Normvermittlung – Implizite und explizite Formen der Verhandlung von Normen – Erzählen und Belehren – Die Leistung des Kommentars in diskursiven wie narrativen Genera – Literarizität und Normativität im Zusammenspiel und im Widerspruch – Abstrakte Leitbegriffe von Normativität und ihre Formulierung, Explikation und Semantisierung in diskursiven wie narrativen weltlichen und geistlichen Texten – Die Terminologie der Sanktion und der Honorierung – Das Spektrum lehrhafter Textformen – Die Poetik lehrhafter Dichtung – Einkleidungsformen des Didaktischen (Sprecherrollen, persuasive Strategien, Applikation argumentativer Schemata etc.) – Strategien der Legitimierung und Authentifizierung didaktischer Rede – Normvermittlung als leerer Gestus – Negativdidaxe und Unsinnsdichtung MODELLIERUNGEN DES NORMATIVEN Epochenspezifische Modellierung von Normen in deutschsprachigen Texten des Mittelalters – Textsortenspezifische Modellierung von Normen in deutschsprachigen Texten des Mittelalters – Text, Norm und Geschlecht: Genderspezifische Modellierung von Normen in deutschsprachigen Texten des Mittelalters – Zur Perspektivierung von Normativität durch die Einbettung von Texten in Überlieferungsgemeinschaften und intermediale Ensembles (Text – Bild, Text – Musik) – Normativität, Medienwechsel und Medienwandel (inbes. Text – Bild, Handschrift – Druck) – Texte und Prätexte: Normativität im Horizont von Retextualisierungsvorgängen (u.a. bei kanonischen Texten und ihren Kommentierungen, Umdeutungen und Bearbeitungen)

Aus insgesamt 46 eingereichten Exposés haben die Veranstalter mit Blick auf die im Einladungsschreiben vorgegebene Schwerpunktbildung sowie die Qualität der Vorschläge 26 Referate ausgewählt, von denen dann 24 tatsächlich gehalten wurden. Für den vorliegenden Band, der in seiner Anordnung die Sektionsgliederung der Tagung aufnimmt, haben sich noch einmal geringfügige Verschiebungen ergeben, so dass jetzt insgesamt 23 Beiträge abgedruckt werden können. Diese seien im Folgenden kurz charakterisiert.

Einleitung

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Der Eröffnungsvortrag von NIKOLAUS HENKEL widmet sich der Wertevermittlung in dem umfangreichen Werk von Sebastian Brant. Anhand des Narrenschiffes und der Stultifera navis, der Freydanck-Ausgabe und der Vergil-Edition wird der Normhorizont des Basler Juristen und seiner ebenfalls gebildeten Rezipienten verdeutlicht, der auf der Kenntnis des Kirchenrechts, des Römischen Rechts, der Vulgata sowie der lateinischen und griechischen Klassiker beruht. Zugleich kann HENKEL eine ganze Bandbreite von Strategien der Normvermittlung und -diskussion in den teils lateinischen, teils deutschen, oftmals aber auch bilingualen Drucken nachzeichnen, die Brant verantwortet. Diese präsentieren sich als hochkomplexe semiotische Systeme, die nicht nur Texte und Bilder miteinander verbinden, sondern überdies ihre zentralen Aussagen durch das Zusammenspiel von Dichtung und Kommentar, von Text und Paratext differenzieren. Die Ausführungen HENKELs zum Inhalt und zur Anlage der Drucke werfen dabei die für die germanistische Mediävistik beunruhigende Frage auf, ob im 15. und 16. Jahrhundert die Literatur in der Volkssprache überhaupt der Ort ist, an dem ein originärer Diskurs über Normen und ihre Geltung geführt wurde. Das Beispiel Sebastian Brants jedenfalls zeigt nach HENKEL, dass die entscheidenden Diskursräume nur den Gelehrten offenstehen; diejenigen, die am lateinischsprachigen Bildungsfundus keinen Anteil hatten, werden nur auf eingeschränkte Weise an den Diskussionen beteiligt, indem ihnen lediglich die Wirkungsweise der Normen (und die Folgen von Normverstößen) ins Bewusstsein gehoben wird, nicht aber deren Begründung. Die erste und umfangreichste Sektion des Bandes ist der Frage nach der literarischen Verhandlung von Normativität in weltlichen und geistlichen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gewidmet. Eine Reihe von Beiträgen konzentriert sich auf den höfischen Versroman als einen für die Literatur bis etwa 1300 zentralen Texttyp und thematisiert die poetischen Techniken der literarischen Auseinandersetzung mit kulturell geprägten Verhaltensmustern und anderen Realisationsformen des Normativen. Den Auftakt bilden die Ausführungen von SILVIA R EUVEKAMP zur Thematisierung und Funktionalisierung des Normativen in der Figurenpoetik des höfischen Romans. Fasst man ›Normativität‹ als Anspruch, »der auf die Ausbildung von Verhaltensrepertoires zielt, Handlungsreglementierungen vorgibt oder Erwartungshaltungen an soziales Handeln formuliert« (S. 51), gilt es, wie REUVEKAMP im Rekurs auf Beispiele aus dem Erec, dem Parzival, der Nibelungenklage und dem Iwein aufzeigt, mit einem widersprüchlichen Befund umzugehen: Zwar rekurrieren die Autoren bei der Darstellung ihrer Figuren auf Werte, die in der Adelsgesellschaft der Zeit Verbindlichkeit beanspruchen konnten, doch entkoppeln sie diese Werte immer wieder von den ihnen zugeordneten akzeptierten Verhaltensmustern und verleihen den literarischen Figuren auf diese Weise Komplexität, Mehrdimensionalität und Singularität. – BRUNO QUAST bezieht die Frage nach dem Zusammenhang von Text und Norm auf die Artusromane Hartmanns von Aue und beleuchtet anhand der Baumgartenszene des Erec und der Brunnenaventiure des Iwein die Funktion von mythischen Sonderräumen für die Etablierung höfischer Normen. Er liest die beiden Passagen als kontrastiv-komple-

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Einleitung

mentär aufeinander bezogene Weisen narrativer Normsetzungen, bei denen zum einen die in die Gesellschaft hineinwirkende minne in einem schöpfungsmythischen Erzählgestus legitimiert, zum anderen die (am Artushof akzeptierte) deregulierte Gewaltpraxis der Aventiure mittels untergangsmythischer Erzählelemente delegitimiert und gleichzeitig der durch soziale Regeln modulierte Kampf ins Recht gesetzt werde. Zu beachten bleibt dabei, dass die mythischen Sonderräume immer schon durch Figurenrede vermittelt und somit mediatisiert sind – ein Anzeichen dafür, dass der Artusroman »auf mythische Vorstellungen zurück[greift], ohne selbst noch im eigentlichen Sinne mythisch zu sein« (S. 76). – Anhand der ›schwierigen Schönheit‹ der Figur der Camilla aus Veldekes Eneit untersucht CORINNA L AUDE die Normierung weiblicher Schönheit in der höfischen Epik und stellt dabei geläufige Überzeugungen zur Präsentation der »schönen Norm« (S. 80), zur Konvergenz von Körperschönheit und ethischer Vollkommenheit für die Anfänge volkssprachiger Literatur infrage, indem sie auf die Ambivalenz der weiß-glänzenden Schönheit der amazonenhaften Königin der Volsker aufmerksam macht und diese Schönheit als eine auch ›anrüchige‹ bestimmt, die sich als Hinweis auf Verblendung und substanzlosen (An-) Schein lesen lasse. – Gestützt auf eine genaue Lektüre jener Textpassagen, in denen Tristan und Isolde vorgestellt werden, arbeitet SUSANNE FLECKEN-BÜTTNER die einerseits als ein Entsprechungs- oder Überbietungsverhältnis zur höfischen Norm, andererseits als Normverstoß aufgefasste Exzeptionalität der Protagonisten von Gottfrieds Tristan heraus, welche die beiden bereits vor der zufälligen Einnahme des Minnetrankes aufeinander bezieht und zueinander hinführt. Diese Exzeptionalität eröffne Handlungsspielräume, gleichzeitig wohne ihr aber ein bedrohliches Potenzial inne. Diese Ambivalenz von Exzeptionalität zeigten auch, den Blick auf die Sprache als ihr Medium lenkend, die ›descriptiones‹ der Figuren. Dass die Darstellung des Exzeptionellen wie die Exzeptionalität dieser Darstellung sich wechselseitig bedingen, sucht FLECKEN-BÜTTNER anhand der reflektierenden Passagen des Textes zu plausibilisieren: Erzähler, Erzählung und Publikum werden in Entsprechung zum Prologprogramm durch die Außergewöhnlichkeit, die ihnen zugesprochen wird, miteinander verbunden. – Der Aufsatz von BENT GEBERT beschäftigt sich mit der Frage, welche Modelle geeignet sind, um Normativitätserzeugungen in der höfischen Epik zu beschreiben. Nachdem drei klassische Ansätze (das Disziplinierungs-, Vermittlungs- und Interferenzmodell) wegen ihrer methodischen Schwächen abgewiesen worden sind, wird der Versuch unternommen, auf der Grundlage von Bourdieu einen neuen Theorierahmen zu entwickeln, der die methodischen Schwächen älterer Modelle vermeidet und der überdies über das Habitus-Konzept als Schnittstelle zwischen einer historischen Semantik und einer Kulturanthropologie von Normativität dienen könnte. Aus dieser Perspektive betrachtet, arbeitet der Normendiskurs der höfischen Epik mit der Paradoxie von semantischen Koppelungen von Übung und Naturalisierung, Instruktion und organischer Entwicklung, Reflexivität und performativer Praxis; dies wird ausführlich anhand des Tugendbegriffes zuht und eines Dialogs aus dem Gregorius Hartmanns von Aue erläutert.

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Eine Diskussion von Normativitätskonzepten in anderen Textsorten leisten die Beiträge von ZIEGELER, SCHNEIDER und CHINCA. Als Scharnier fungieren H ANS-JOACHIM ZIEGELER s Ausführungen zu Norm und Narration im Prosa-Lancelot, einem Roman, in dem noch einmal die Thematik der arthurischen Herrschaft sowie der Illegitimität der Liebe entfaltet wird, nun aber angereichert durch den großen Erzählkomplex des Grals. ZIEGELER lenkt die Aufmerksamkeit auf den Anfang des sog. Lancelot propre, also die Erzählungen von Ban und Bohort, von Banin und von Phariens. Ausgehend von einer genauen Analyse der politischen Ausgangssituation verfolgt er die sich aus dieser Situation entwickelnden Handlungsstränge und fragt nach der Funktion der sog. Vorgeschichte, die sich nicht allein in dem Aufweis von Auswirkungen auf den Protagonisten beschränke. Er zeigt, dass hier in einer ganzen Reihe von Kasus die Rechtsfigur von Herrschaft und Vasallität sowie die verhaltensregulierenden Normen ›Ehre‹ und ›Treue‹ einer eingehenden Befragung unterzogen werden. Auf diese Weise tritt hervor, wie auch (oder gerade) in einem auf ›Entkoppelung‹ angelegten Erzählen in der initialen Sequenz ein für die gesamte ›historia‹ konstitutives Merkmal besetzt und als Material für die diskursive Selbstvergewisserung einer exklusiven sozialen Schicht dargeboten werden kann. – A LMUT SCHNEIDER stellt in ihrem Beitrag die Frage nach literarischen Strategien der Legitimierung und Authentifizierung legendarischen Erzählens. In ihrer Untersuchung der Legenden Konrads von Würzburg (Alexius, Pantaleon, Silvester) weist sie nach, dass die Autorisierung von Heiligkeit im Rekurs auf den musiktheoretischen Diskurs des Mittelalters besonders über den Klang der Sprache erfolgt, über eine ästhetische Kategorie mithin, die in den Begriff der süeze gefasst wird. Die Heiligkeit des Sprechers wird also bereits über die Schönheit der Stimme evident; überdies wird sie visuell vermittelt, durch einen Glanz, der den Heiligen den Engeln gleichen lässt und ihn so als Grenzgänger zwischen Immanenz und Transzendenz auszeichnet. Ansätze »einer möglichen Legitimierung des Erzählaktes selbst« (S. 214) macht SCHNEIDER im Prolog des Alexius aus, in der Vorstellung, dass die Dichtkunst es vermag, den ›splendor‹ des Heiligen zu spiegeln. – ›Norm‹ und ›Durchschnitt‹, ›Normativität‹ und ›Normalität‹ stehen im Zentrum der Ausführungen von M ARK CHINCA zum Münchner Eigengerichtsspiel von 1510, einer »Moralität, die dem allgemeinen Laienpublikum christliche Normen für die Vorbereitung auf den Tod beibringen will« (S. 218) und in Form des Drucks von Hans Schobser offenbar als ein Erbauungsbuch für die private Lektüre gedacht war. Der Text zeigt eine Verwandtschaft mit der zeitgenössischen ›Jedermann‹-Tradition, weicht andererseits aber in wesentlichen Punkten von ihr ab. Signifikant erscheint vor allem, dass »das Problem von Normativität und Normalität und ihrem Verhältnis zueinander bereits in der Struktur des Eigengerichtsspiels angelegt« ist (S. 223) und der Prozess der Vermittlung von Normen im Rahmendialog zwischen einem (wissenden) Theologen und einem (gelehrigen) Kaufmann textuell inszeniert wird. Scheinen diese Rollenentwürfe im Dienste einer effizienten Didaxe zu stehen, eröffnet eine Reihe dramatisierter Exempel, die um eine Vielzahl von als durchschnittlich und repräsentativ gekennzeichneten handelnden Personen kreisen, einen Raum, in dem

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die Gültigkeit von Normen sowie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Verwirklichung verhandelt werden können. Die Beiträge der zweiten Sektion lenken die Aufmerksamkeit auf das Spannungsfeld von Norm und Individualität in mündlicher wie schriftlicher Kommunikation und Interaktion. M ARTIN H. JONES analysiert den Minnebrief des Königs Gramoflanz aus dem XIV. Buch von Wolframs Parzival. Während bislang vor allem das in formaler wie inhaltlicher Hinsicht Musterhafte und damit Unspezifische dieses Briefes betont wurde, sucht JONES nach Reflexen seiner situativen Einbettung, genauer nach Bezügen zu Gramoflanz’ Vergangenheit und zur gegenwärtigen Lage der beiden Liebenden Gramoflanz und Itonje. Nach JONES ist es gerade die aus dem pragmatischen Kontext hergeleitete Besonderheit des Briefes, die für seine konfliktlösende Wirkung verantwortlich ist, und nicht die Entsprechung zu einer gegebenen Norm. – NINE MIEDEMA mustert in ihrem Beitrag didaktische und epische Texte des deutschen Hochmittelalters im Hinblick auf eine Thematisierung höfischer Gesprächsnormen. Die didaktische Literatur bezeugt für MIEDEMA die Entwicklung eines neuen Sprachbewusstseins und eines gehobenen Sprachcodes im 12. und 13. Jahrhundert, welche auf die Demonstration sozialer Distinktion ziele, der es aber auch um verbale Konfliktvermeidung und -lösung zu tun sei. Die einzelnen Regeln und Empfehlungen finden sich teilweise auch in den epischen Texten, etwa wenn von Figuren Erziehungslehren formuliert werden, die sich auf das Sprachverhalten beziehen. Des Weiteren verfüge die Epik mit dem Figurendialog und der Reflexion von Sprach- und Kommunikationsregeln durch die Figuren und den Erzähler über einprägsame Möglichkeiten, anschauliche Beispiele für adäquates und inadäquates sprachliches Verhalten zu geben und auf diesem Wege die aus den didaktischen Texten bekannten Vorgaben zu konkretisieren oder auch zu ergänzen. Der Verstoß gegen Sprachnormen bleibt indes nicht allein negativ bewerteten Gegenfiguren zugeordnet, sondern stellt auch eine Option für die Protagonisten dar, denen auf diese Weise ein Freiraum konzediert wird. Nach MIEDEMA ist dieser Freiraum der Exzeptionalität der betreffenden Figuren geschuldet; für die anderen aber (und damit auch für den Rezipienten) werde die Norm in der Überschreitung der Norm bestätigt. – GERHARD WOLF widmet sich in seinem Beitrag den Paradoxien, die jedem pädagogischen oder didaktischen Entwurf inhärent sind. Neben der Frage nach der Letztbegründung der zugrunde liegenden Normen geht es dabei vor allem um deren universalistischen Geltungsanspruch, der im Widerspruch steht zur Vielfalt menschlicher Lebensformen, Charaktere und Handlungsweisen. Anhand von kleineren didaktischen Texten vom Ende des 13. Jahrhunderts (Seifried Helbling, Konrads von Haslau Der Jüngling, Der Magezoge) geht WOLF der Frage nach, inwieweit sie sich bei ihrer Thematisierung und dem Versuch der Vermittlung von Normen an den von ihm konstatierten Paradoxien, zu denen auch solche der Literarisierung gehören, abarbeiten, wie sie mit ihnen umgehen, sie aufzulösen oder provokant hervorzuheben suchen – auf eine Weise, welche die unberechenbare Individualität von Erziehern und Zöglingen einschließt. – BERND BASTERT widmet sich dem Winsbecken, einer relativ breit und divergent überlieferten

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Vater-Sohn-Lehre, die in verschiedenen Handschriften mit einem – von der Forschung überwiegend als ›unecht‹ angesehenen – Strophenblock beschlossen wird, in dem der Sohn gegen die auf eine vorbildliche adlig-laikale Lebensführung gerichteten Ratschläge des Vaters mit der Mahnung zur Umkehr und zum gemeinsamen Eintritt in ein von ihm zu gründendes Spital opponiert. In dieser Spannung erblickt BASTERT das Potenzial des Textes, zur Diskussion über Normen anzuregen, und einen Schlüssel zum Verständnis seines Erfolges. Die Sektion zu ›Norm und Anti-Norm‹, zu literarischen Transgressionen und den Konstruktionen von Gegenwelten wird von ELIZABETH A. A NDERSEN eröffnet, die in ihrem Beitrag zum Pfaffen Amis von der allgemeinen Einsicht ausgeht, dass Komik stets mit der Abweichung von Normen einhergeht, und daraus ihr Vorhaben entwickelt, im Rückgriff auf die Überlegungen von Henri Bergson die evidenten und häufigen Normverstöße des Protagonisten auf ihr komisches Potenzial hin zu untersuchen. Zentral ist dabei, dass der Text bereits im Prolog eine Kommunikationsgemeinschaft zwischen Erzähler und Publikum begründe, die den Pfaffen Amis als einen »trickster« wahrnimmt, einen Anti-Helden, der bei seinen betrügerischen Aktionen durchaus spielerisch verfährt. Komisch sind dessen Handlungen u.a. dadurch, dass sie auf einer Wiederholungsstruktur beruhen. Dabei sind sie in Situationen eingelassen, in denen die intellektuelle Überlegenheit des Protagonisten und die moralischen und intellektuellen Defizite seiner Opfer einander gegenüberstehen. Außerdem drängt der Text ein potenzielles Mitleiden der Rezipienten mit den Geschädigten zurück, so dass er eine eigene Logik, die Normativität des Komischen, entwickelt. – MONIKA SCHAUSTEN verdeutlicht anhand der Neidhart-Episoden in Heinrich Wittenwilers Ring, wie in diesem zwischen drastischer Komik und Didaxe oszillierenden Text die Universalisierung höfischer Normen abgewiesen wird. Der Text präsentiere einen ›impliziten Autor‹, der die zentralen Aussagen des Rings in Anlehnung an die Tradition didaktischer Summen über die Dignität der Sprecherrolle abzusichern scheine, der dann jedoch seine Rezipienten durch widersprüchliche und verwirrende Leserlenkung irritiere und damit eine schlichte Paränese unterlaufe. Dieser Autor-Instanz werde im Rahmen der Turnierlehre die ebenfalls schillernde, auf verschiedene Facetten der Neidharttradition rekurrierende ›figura‹ des Bauernfeindes zur Seite gestellt, der vom Autor die ›auctoritas‹ der Normvermittlung übertragen bekomme, der aber durch seine Anweisungen zur Umsetzung von Normen nur Chaos stifte. Daran zeigt sich für SCHAUSTEN, dass es Wittenwiler nicht so sehr um die bloße Vermittlung höfischpragmatischer Verhaltensvorschriften geht; vielmehr diskutiere der Ring, wie und unter welchen Bedingungen ein solcher Vermittlungsprozess überhaupt erfolgreich sein könne. Am Beispiel von Neidharts Turnierlehre für die Dörper stelle der Text die Frage nach den Konsequenzen einer Übertragung höfischer Normen auf eine nichtaristokratische soziale Schicht – allerdings nur, um deutlich zu machen, dass jeder Schritt in diese Richtung zum Scheitern verurteilt sei. – K ARINA K ELLERMANN wendet sich dem Thema der indirekten Normvermittlung zu, die ihre Ziele ›ex negativo‹, durch sprachliche Mittel der Übertreibung oder Umkehrung zu erreichen sucht. Der

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Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist ein Corpus von drei Texten, die der spätmittelalterlichen Lügendichtung zugerechnet werden: Michel Beheims Lied gegen die Taboriten in der ›Hofweise‹, das anonym tradierte Ich söllt von hübscher abenteür / Sagen und Muskatbluts Lügenlied. Kellermann kann zeigen, dass alle drei Texte literarische Gegenwelten konstruieren, die vom Zuhörer entschlüsselt werden müssen, um die eigentliche Aussage des Textes, die Zeitklage oder die politische Polemik, zu erkennen. Dies gelingt immer dann problemlos, wenn auf bekannte historisch-politische Ereignisse und aktuelle Situationen verwiesen wird; der parodistische Charakter der Texte ist zudem überdeutlich, wenn die Autoren einen Verständnisrahmen schaffen, indem sie ihre Werke über Paratexte als Lügendichtungen charakterisieren. Ihren literarischen Reiz wie auch ihren didaktischen Nutzen beziehe diese Art von Literatur aus dem Kontrast zwischen der konstruierten Gegenwelt, in der die ideale Erfüllung oder gar Übererfüllung von Normen erprobt wird, mit der erfahrenen Welt, in der diese Normen beständig gebrochen oder missachtet werden. Die unter der Rubrik ›Modellierungen des Normativen‹ versammelten Beiträge wenden sich der mittelhochdeutschen Lyrik zu, dem Minnesang und der Sangspruchdichtung. CHRISTOPH HUBER geht es (im Anschluss an die Überlegungen von Hugo Kuhn) um die Markierung eines Standpunktes, der grundsätzlich v o r einer direkten Korrelierung von Normierungen innerhalb und außerhalb von Texten ansetzt. Er zeigt am Beispiel der frühen Lyrik (Meinloh von Sevelingen, Heinrich von Veldeke, Heinrich von Morungen, Reinmar), dass die Literatur einen Freiraum eröffnet, der über artistische Verfahren Wertezuschreibungen erlaubt, diese jedoch für die Gesellschaft zur Disposition stellt. Zugleich werden die Grundzüge einer Gattungsgeschichte deutlich, die über die Ausbildung von zwei differenten, aber komplementären Codes der Normkonstitution (Minnesang und Sangspruch) und über den Entwurf von subjektiven Weltstandpunkten in der Minnekanzone bis hin zu der Auseinandersetzung der dem Minnelied inhärenten Werte mit anderen, gegenläufigen Diskursen reicht und die überdies immer wieder durch die Konkurrenz zwischen divergierenden Minneauffassungen und ihren normativen Ansprüchen gekennzeichnet ist. Im schwierigen Feld von Diskursen und Subdiskursen entzünde sich so in der Lyrik des 12. Jahrhunderts eine Konkurrenz zwischen reflektierten und bewusst polyphon inszenierten Normen, die mit der Umbesetzung vorgängiger Normentwürfe sowie mit einer »ästhetischen Wertauffüllung« (Kuhn) einhergehe, die an der Plausibilisierung des normativ noch Ausgegrenzten arbeite. – M ARKUS STOCK wendet sich mit seiner Interpretation des Neifen-Liedes Nu siht man aber die heide val dem Zusammenspiel von Körperlichkeit und Sinndeutung im Minnesang zu. Er greift dabei auf die allgemeinen Überlegungen zur höfischen Performanzkunst zurück, spitzt diese indes auf die Frage zu, ob deren normsetzende Kraft nicht (auch) an Sprachklangeffekte rückgebunden wird. Die Analyse des ausgewählten Liedes arbeitet heraus, dass der normative Gehalt des Textes durch unterschiedliche und sich ergänzende Strategien der Autorisierung abgesichert wird, unter denen die anaphorische Verwendung des Schlüsselbegriffs einmüetic heraussticht. Dieser Begriff fasst die

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Programmatik einer auf Gegenseitigkeit gegründeten höfischen Liebe in einem einzigen Wort zusammen, das durch die häufige Wiederholung und durch das Auftreten in metrisch markanter Position klanglich herausgestellt wird. Die erwünschte Minnevorstellung wird also nicht reflexiv erschlossen, sondern durch die Wiederholung generalisiert und mit einer festen, stabilen Bedeutung versehen. Ein Seitenblick auf Rudolfs von Ems Der guote Gêrhart deutet auf eine Poetik der späthöfischen Literatur hin, die ihre Legitimität auf punktuell eingesetzten Sprachschmuck und digressives Ornament stützt. – A NNETTE VOLFING analysiert ausgewählte Texte der Sangspruchdichtung und der meisterlichen Liedkunst unter der Frage, welche Funktionen präskriptive Definitionen bei der Formulierung von Geschlechternormen haben und inwieweit Spruchdichter bei ihren Definitionsansätzen dazu neigen, implizite oder explizite Gegensätze zum Ausdruck wîp und eine dementsprechende Nomenklatur zu entwerfen. Dabei stellt sie fest, dass für Frauen in höherem Maße als für Männer übertrieben wertende und präskriptive Definitionen formuliert werden. Gleichwohl wird die Diskussion über das Thema wîp (und der Hinweis auf weibliche Unzulänglichkeiten) in allen von VOLFING analysierten Texten weniger als ein moralisches, sondern vor allem als ein linguistisches Problem behandelt: Es geht den Dichtern nicht in erster Linie um Paränese, sondern um Sprachkritik und -reflexion sowie um die Konstruktion diskursiver Macht. Die letzte Sektion ruft das Problemfeld von ›Normativität und Medialität‹ auf und beleuchtet die Verhandlung von Normen im Horizont von Retextualisierungs- und Rezeptionsvorgängen. STEFANIE SCHMITT widmet sich am Beispiel von Priester Wernhers Maria und der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen der Frage, auf welch unterschiedliche Weise in der Zeit um 1200 normative Texte wie die Bibel retextualisiert werden konnten. Ihre Analysen zur Verkündigungsszene (Lc 1, 28–38) zeigen, dass die Gestaltung der Texte abhängig ist von den Aufgaben, die ihnen zugeschrieben werden. Obwohl beide Texte Berührungen mit dem höfischen Erzählen zeigen, sind die Differenzen zwischen ihnen evident: So setzt Wernhers Maria bei der Vermittlung der religiösen Normen stärker auf den Modus der Darlegung, indem der Schwerpunkt des Textes auf der Erläuterung des heilsgeschichtlichen Sinns des erzählten Geschehens liegt, während sich Die Kindheit Jesu vorrangig auf die Schilderung der Figuren und die Analyse ihrer Motive konzentriert und sich damit in der Personencharakterisierung, der Raumgestaltung und der Szenenregie dem zeitgenössischen Roman annähert. – HENRIKE L ÄHNEMANN wendet sich dem Prozess der Normvermittlung im Medium der sog. Medinger Orationalien zu. Zwischen 1479 und der Reform Luthers von einer großen Gruppe von Schreiberinnen niedergeschrieben, verbinden sie Texte der lateinischen Liturgie mit teils lateinischer und teils niederdeutscher Hymnik (meist mit musikalischer Notation) und einem wiederkehrenden Bestand an Betrachtungen, Meditationen und Gebeten; die Rezeption der Texte und Melodien wird überdies durch beigefügte Illustrationen unterstützt. Innerhalb dieser intermedialen Ensembles dienen die Andachtsanweisungen dazu, die äußere wie die innere Form der Rezeption der Texte und der in ihnen kodifizierten

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Normen zu steuern. Inhaltlich lassen sie sich als Resultate eines Reformprozesses verstehen, der das ganze Klosterleben ab 1479 massiv veränderte. Des Weiteren entwickeln die Orationalien mit den expliziten Aufforderungen zum Nachvollzug einer biblischen Handlung und mit den Anweisungen zur inneren Umsetzung eines hörund sichtbaren liturgischen Geschehens zwei wichtige Modelle zur Verinnerlichung der im Medinger Reformprozess festgeschriebenen religiösen Normen. – In ihrer Analyse der beiden 1556 und 1557 in Straßburg erschienenen Ausgaben von Wickrams didaktisch ausgerichtetem Nachbarroman fragt M ARTINA BACKES nach den Strategien, mit denen eine erfolgreiche Vermittlung von Normen für das soziale Leben in der Stadt gewährleistet werden sollte. Sie macht dabei besonders auf das Layout aufmerksam, mit dessen Hilfe Kommentare in Form von gedruckten Randbemerkungen graphisch hervorgehoben werden. Mithilfe der ›mise en page‹ ist der Ich-Erzähler, so BACKES, auch optisch als kommentierende Instanz präsent. Im Zusammenspiel mit der Leseanleitung der Vorreden, der identifikationsfördernden Modellierung des Umfelds der Romanfiguren als städtisch-handwerkliches Milieu und dem Einsatz variierender Wiederholung von Handlungs- und Kommunikationssituationen hob diese Form des Seitenlayouts auf eine plakative Propagierung von Normen ab. – JAN CÖLLN untersucht zwei humanistische Texte, Enea Silvio Piccolominis Somnium Fortunae in der Übersetzung von Niklas von Wyle (1468) und Petrarcas De remediis utriusque fortunae in der Übersetzung von Peter Stahel und Georg Spalatin (1532), im Hinblick auf ihren Umgang mit dem Phänomen der Kontingenz menschlichen Seins. Ausgehend von einer Analyse der Bildfeldtradition der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellung der Glücksgöttin Fortuna arbeitet er den für beide Texte charakteristischen synkretistischen Rückgriff auf Bildelemente und literarische Metaphern der mittelalterlichen, von Kontingenz und dem Einfluss göttlicher Providenz gleichermaßen geprägten Fortuna-Darstellung sowie der frühneuzeitlich-humanistischen Idee von Kontingenz als der absoluten Abhängigkeit alles Irdischen vom Zufall heraus. CÖLLN sieht hier einen Raum für intellektuelle Strategien der Kompensation eröffnet, »die die Herausforderung der Kontingenz annehmen, ihr aber mit neuen Konzeptionen von Wertvorstellungen und Normsetzungen begegnen« (S. 472).

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Wertevermittlung und Wissen in der Hand des Gelehrten Sebastian Brant und sein Werk

Beginnen möchte ich mit einem Zitat. Im Jahr 2004 ist der Roman Am Hang von Markus Werner erschienen. Er besteht aus den Gesprächen zweier Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten: zum einen der Ich-Erzähler, ein Jurist, Scheidungsanwalt, Mitte dreißig, ungebunden, der eine Frau nach der anderen an sich und in sein Bett zieht, zum anderen ein wesentlich älterer Mann, Mitte sechzig, der sich als Lehrer für die Alten Sprachen vorstellt und der nach einer jahrzehntelangen treuen Ehe seine geliebte Gattin verloren hat. Man kommt auf die Moralvorstellungen der fünfziger und sechziger Jahre zu sprechen. Der Ich-Erzähler: »Ich möchte Sie an eine Zeit erinnern, fuhr ich fort, die ich, im Unterschied zu Ihnen, nur vom Hörensagen kenne, und zwar an die offenbar muffige Zeit der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Wie engmaschig war das Moralgeflecht damals, wie starr das System der Werte, wie vorwurfsvoll das Auge Gottes. Soziale Kontrolle und Repression allenthalben – und eine Pädagogik, die ohrfeigend nur das Beste wollte: die Austreibung des Selbstwertgefühls, das als Vorwitz und Frechheit galt, die Abrichtung der Menschen zwar nicht zu Versagern – die leisten ja nichts –, wohl aber zu Wesen, die sich vor dem Versagen fürchten und darum alles tun, was ihnen abverlangt wird. Ich frage Sie als Zeugen jener Zeit: Stimmt meine Einschätzung? – Sie könnte von mir sein, antwortete Loos. – Es war die reine Überforderungsgesellschaft, sagte ich, dann aber kam der frische Wind, die Gängelbänder wurden gekappt, die Haare länger, die Röcke kürzer, Atem, Gang und Rede freier. Die Relativierung der Moral entlastete das Individuum, gelockerte und erweiterte Wertvorstellungen ermöglichten neue Lebensformen, kurzum, der Deregulierungsprozeß im weltanschaulichen Bereich schaffte so viel Freiraum und Spielraum wie nie […].«1

Es geht in diesem Gespräch um den Wandel kollektiver Wertvorstellungen und daraus resultierender gesellschaftlicher Verhaltensweisen. Greifbar werden sie – deshalb die Frage des Jüngeren an den Älteren – in der je individuellen Erfahrung und Zeitzeugenschaft. Der hier zur Sprache gebrachte Wertewandel wird als Befreiung aus erstarrten Konventionen begriffen, ein Deutungsmuster, das den westlichen Gesellschaften seit der Aufklärung vertraut ist, allgemein als Fortschrittsbewegung verstanden wird und deshalb unbefragt positiv besetzt ist. 1

Werner, Markus, Am Hang. Roman, Frankfurt/M. 2004, S. 62f. Nachdruck 5. Aufl., Frankfurt/M. 2006 (Fischer-Taschenbuch 16467).

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Dieses vorgegebene Denk- und Deutungsmuster ist in Anschlag zu bringen, wenn es um das Verständnis von Werten und Normen in der Vormoderne geht, um das Verhältnis von Konstanz und Wandel und deren Bewertung. Normen, so können wir sagen, sind das Verbindungsglied zwischen gesellschaftlichem Wertekonsens und menschlichem Handeln. Normen haben appellativen, ja präskriptiven Charakter. Sie sind insofern Objektivierungen des rechtlich oder moralisch Erlaubten, des Ge- oder Verbotenen. Da Normen sich auf den allgemeinen Wertekonsens beziehen, müssen sie auch nicht begründet werden, sondern ergeben sich aus der allgemeinen Übereinstimmung, vor allem aus der Beobachtung des Verhaltens von Normproduzenten und Normadressaten. Normproduzenten und Normadressaten bewegen sich in der Regel im synchronen Erfahrungsraum. Die Erziehung des Kindes durch die Eltern bzw. die Familie, das nachgeahmte Vorbild anderer bilden das grundlegende kommunikative Muster der Normkonstituierung aus, in dem die Erwartungshaltung der Gesellschaft an den Einzelnen zum Ausdruck kommt. Daraus wird schon ersichtlich, dass die Stiftung und Propagierung von Normen in nichtpersonaler Vermittlung, etwa im Medium der Schrift, nachrangige Bedeutung hat. Sprache und sprachliche Hervorbringungen haben an der Konstituierung und Ausgestaltung von Normen also einen nur eingeschränkten Anteil, sie stehen immer in Konkurrenz zum unmittelbaren menschlichen Handeln, sei es als reine Tat, sei es als vorbildstiftendes Muster – oder beides zugleich. Gleichwohl ist die schriftgestützte Normenvermittlung, über personale wie zeitliche Distanzen hinweg, so etwas wie ein kulturhistorisches Universale. Für den heutigen Beobachter haben sprachliche Hervorbringungen indes, sofern sie erhalten geblieben sind, Zeugniswert insofern, als sie Normenkonzepte der Vergangenheit zu rekonstruieren helfen und es ermöglichen, sie nach ihrer historischen Bedingtheit, ihren Voraussetzungen, ihrer Relevanz für je zeittypisches menschliches Handeln zu befragen. Das ist unser Geschäft auf dieser Tagung. Der Zeitraum um 1500 hat für unser Thema schon seit längerem die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Historiker Peter Moraw und andere haben von einer »Verdichtung« gesprochen, die sich auf gesellschaftliche Strukturen und Organisationsformen ebenso wie auf Strategien der Normierung und Regulierung bezieht.2 Der Theologe und Kirchenhistoriker Berndt Hamm hat, weithin beachtet, eine »Normative Zentrierung« in dieser Zeit erkannt und, daraus folgend, »die Ausrichtung von Religion und Gesellschaft auf eine orientierende und maßgebende, regulierende und legitimierende Mitte hin« vertreten.3 Hamm sieht diese Zentrierung aus der fröm2

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So zunächst in dem Beitrag: Moraw, Peter, Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter (ca. 1350–1500), in: Jeserich, Kurt G. A. u.a. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 21–65. Hamm, Berndt, Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: Suntrup, Rudolf / Veenstra, Jan R. (Hrsg.), Norma-

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migkeitsgeschichtlichen Perspektive. Der Blick auf Sebastian Brant wird zeigen, dass die von Hamm entwickelten Perspektiven übertragbar sind. Vor diesem Hintergrund wenden wir uns Sebastian Brant zu. In einem ersten Abschnitt soll die intellektuelle und bildungsgeschichtliche Physiognomie Brants umrissen werden, sofern sie sich auf die unterschiedlichen Normendiskurse der Zeit um 1500 bezieht (I.). In einem zweiten wende ich mich Exempelfiguren zu, die im Narrenschiff und in der Stultifera navis als Repräsentanten normativer Vorstellungen und Denkmuster instrumentalisiert werden (II.). Der dritte Abschnitt bezieht sich – nur knapp – auf Brants Rückgriffe auf ältere Modelle volkssprachlicher Didaxe, speziell auf seine Ausgabe des Freydanck von 1508 (III.). Abschließend gehe ich auf einen Sonderfall ein, der die Normativität der Sprache und des moralischen Verhaltens gegenüber Texten zum Gegenstand hat: Es geht um die Priapus-Gedichte in der von Brant herausgegebenen Vergilausgabe von 1502 und Brants Stellungnahme zu solch ›unanständiger‹ Literatur (IV.). Gegenstand meines Beitrags sind also nicht einzelne Normen im Geflecht eines normativen Diskurses, sondern die bildungs- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen und Komponenten solch eines Diskurses.

I. Für die Frage nach aktuellen Normdiskursen in der Zeit um 1500 scheint Sebastian Brant ein besonders geeigneter Ansatzpunkt zu sein.4 Er gehört zur Schicht der auch literarisch tätigen Intellektuellen und stellt damit einen Typus dar, den wir bis ins 18. Jahrhundert vielfach, fast regelhaft, vorfinden und für den Professionalität in mehreren wissenschaftlichen Disziplinen selbstverständlich war. Im Vordergrund steht dabei Brants Tätigkeit als Jurist, die erst durch die Untersuchung von Joachim Knape hinreichend gewürdigt worden ist.5 Gegenüber vielen seiner Fachkollegen

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tive Zentrierung – Normative Centering, Frankfurt/M., Berlin 2002 (Medieval to early modern culture 2), S. 21–63; siehe zum Thema auch das weiterführende Vorwort der Herausgeber, ebd., S. 9–17. Hamms Beitrag stellt eine Überarbeitung seines bereits zuvor unter diesem Titel in der Zeitschrift für Historische Forschung, 26/1999, S. 163–202, erschienenen Aufsatzes dar; englisch auch in: Journal of Early Modern History, 3/1999, S. 307–354. Eine zusammenfassende Würdigung auf aktuellem Forschungsstand gibt Knape, Joachim, Brant (Titio), Sebastian, in: Worstbrock, Franz Josef (Hrsg.), Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin, New York 2008, Sp. 247–283. Vgl. zur Bibliographie der Quellen auch Knape, Joachim / Wilhelmi, Thomas, Zum Stand der Arbeiten am Sebastian Brant-Schriften-Zensus, in: ZfdA, 133/2004, S. 198–209. Knape, Joachim, Dichtung, Recht und Freiheit. Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants 1457–1521, Baden-Baden 1992 (Saecula spiritalia 23). Siehe zum Forschungsstand allgemein auch Sellert, Wolfgang, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in

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zeichnet Brant aus, dass er nicht nur die Disziplinen beider Rechte gelehrt und als Jurist praktisch vertreten, sondern auch die zentralen Rechtstexte in Editionen vorgelegt hat, die zum Teil weit über seine Zeit hinaus Gültigkeit behielten.6 Dazu gehören aus dem Bereich des Kirchenrechts vor allem das Decretum Gratiani und die Decretalen sowie die Margarita Decretalium, von der – nach zwei Basler Ausgaben – die Pariser Juristen im 16. Jahrhundert noch drei weitere Ausgaben fertigen ließen. Weiter gehören dazu der Liber Sextus und die Constitutiones Papst Clemens’ V. sowie die Akten der Konzilien von Konstanz und Basel. Den größten Erfolg als Jurist erzielte Brant mit einem juristischen Lehrbuch, das einen Überblick über das Römische Recht und das Kirchenrecht bot. Die Expositiones omnium titulorum legalium wurden zunächst 1490 auf Kosten von Brants damaligem Kollegen Andreas Helmut gedruckt, dann durch eine Einführung in das Rechtsstudium des Paduaner Juristen Johannes Baptista de Caccialupis ergänzt und so in mindestens 50 Ausgaben bis 1622 nachgedruckt.7 Brants juristische Publikationstätigkeit hatte nach seinem Wechsel nach Straßburg auch die Rechtspraxis der nichtakademischen Richter im Auge, für die er den Laienspiegel seines Freundes Ulrich Tengler (um 1447 – 1511) herausgab, der in deutscher Sprache alles Notwendige für die Ordnung des Gerichts- und Polizeiwesens zusammenfasste.8 Von diesem Werk sind 17 Ausgaben bis 1560 nachweisbar. In 15 Ausgaben von 1516 bis 1612 liegt schließlich der von Brant bearbeitete Richterlich Klagspiegel vor, der das römische Straf- und Prozessrecht »für den laienjuristischen Alltag« in der Volkssprache abhandelte.9

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Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit. Überblick, Diskussionsstand und Ergebnisse, in: Boockmann, Hartmut / Grenzmann, Ludger / Moeller, Bernd u.a. (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Teil I, Göttingen 1998 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Kl. 3. Folge 228), S. 115–166. Siehe weiterhin den knappen Abriss von Schumann, Eva, Beiträge studierter Juristen und anderer Rechtsexperten zur Rezeption des gelehrten Rechts, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2007, Berlin, New York 2008, S. 443–461. Zur gesellschaftlichen Rolle der Intellektuellen um 1500 vgl. weiterhin Rexroth, Frank, Expertenwissen. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter, Basel 2008 (Freiburger Mediävistische Vorträge 1). Zu Brants Editionstätigkeit auf diesem Gebiet siehe Halporn, Barbara, Sebastian Brant as an Editor of Juristic Texts, in: Gutenberg Jahrbuch, 59/1984, S. 36–51, die von »more than fourty books« spricht, an denen Brant beteiligt war (ebd., S. 36). Vgl. Knape, Dichtung, Recht und Freiheit [Anm. 5], S. 93–97 sowie 126f. Nachweis der Ausgaben: Wilhelmi, Thomas, Sebastian-Brant-Bibliographie, Bern u.a. 1990 (Arbeiten zur mittleren deutschen Literatur und Sprache 18,3), Nr. 95–148. Zu diesem Werk siehe Knape, Dichtung, Recht und Freiheit [Anm. 5], S. 128–130, sowie Schumann, Beiträge studierter Juristen [Anm. 5], S. 451 und 456f. Vgl. Knape, Dichtung, Recht und Freiheit [Anm. 5], S. 130–131, hier S. 132. Die Ausgaben weist Wilhelmi, Sebastian-Brant-Bibliographie [Anm. 7], Nr. 154–168, nach.

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Wenn es um die ideale Begründung von Normen und ihre praktische Umsetzung geht, dann ist der Jurist Brant ein wichtiger Zeuge für Beobachtungen im historischen Raum. Recht hat dabei einen über die Praxis der einzelnen Norm hinausgehenden metaphysischen Bezug. Sichtbar wird das etwa in der Einleitung des Decretum Gratiani: »Das Menschengeschlecht wird von zwei Kräften regiert, durch das Naturrecht und die Gesittung, iure et moribus. Naturrecht ist, was im Alten und Neuen Testament gefasst ist, das einem jeden Menschen aufträgt, dem Mitmenschen das zu tun, was er will, dass es ihm selbst geschieht. Wie denn auch Christus im Evangelium sagt: ›Alles was ihr wollt, dass es euch die Menschen tun, das tut auch ihnen. Denn das ist das Gesetz und die Propheten‹ [Mt 7,12].«10 Im Folgenden werden die Gesetze, Isidors von Sevilla Definition folgend, als einerseits göttlich, andererseits menschlich bezeichnet. Demnach sei menschlich gesetztes Recht unterschiedlich, weil verschiedenen Völkern Unterschiedliches geziemend erscheine.11 Brant lässt die Grundidee des Decretum Gratiani vom göttlichen Ursprung des Rechts in einen Holzschnitt fassen. In räumlich tiefer Staffelung, vergleichbar einem Schnitzaltar, wird ein Triptychon geboten (Abb. 1). Es zeigt im Mittelfeld links den Verfasser des Rechtsbuchs am Pult sitzend, ihm gegenüber Papst, Kardinäle und Bischöfe, die in Gestalt von Büchern vorgängige Rechtssatzungen weisen. In die Zwickel des Mittelfeldes, in das Gesprenge eingebunden, sind die vier Kirchenväter platziert und durch Beischriften bezeichnet. Im Rankenwerk der Außenflügel werden links die Lehrer des Alten Testaments – Mose, Job, David, Jesaja, Jeremia –, auf der gegenüberliegenden Seite die Evangelisten und der Apostel Paulus dargestellt.12 Recht, so die Botschaft des Bildes, steht also einerseits in der Lehrtradition der Kirche, ist andererseits aber an die Heilige Schrift zurückgebunden. Und so ist auch der Text des Decretum eine unter systematischen Gesichtspunkten zusammengestellte Sammlung, die sich weitgehend aus eben diesen beiden Quellbereichen speist.

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Humanum genus duobus regitur, naturali videlicet iure et moribus. Ius naturae est, quod in lege et euangelio continetur, quod quisque iubetur alii facere, quod sibi vult fieri. Unde Christus in euangelio: »Omnia quecumque uultis ut faciant uobis homines, et uos facite illis. Haec est enim lex et prophetae« (zit. nach: Corpus Iuris Canonici. Editio Lipsiensis. Post Aemilii Ludouici Richteri curas […] instruxit Aemilius Friedberg. Pars prior: Decretum Magistri Gratiani, Leipzig 1879 [Nachdruck Graz 1959], dist. 1, Sp. 1). Omnes leges aut diuinae sunt, aut humanae. Diuinae natura, humanae moribus constant, ideoque hae discrepant, quoniam aliae aliis placent. § 1. Fas lex diuina est: ius lex humana (Corpus Iuris Canonici [Anm. 10], dist.1 c. 1, Sp. 1). Abbildung bei Knape, Dichtung, Recht und Freiheit [Anm. 5], S. 100.

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Abb. 1: Titelholzschnitt zum Decretum Gratiani, hrsg. von Sebastian Brant, Basel: Johann Froben, 1493, f. aiv

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Abb. 2: Ulrich Tengler, Laienspiegel, hrsg. von Sebastian Brant, Basel: Michael Furter, 1499, f. 1v

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Ähnliches über den Ursprung des Rechts und Gott als Herrn des Rechts beobachten wir auch in anderen von Brant entworfenen Bildern aus der Straßburger Zeit, so in der Ausgabe von Ulrich Tenglers Laienspiegel. Der das Werk eröffnende Holzschnitt (Abb. 2) zeigt oben, auf einer Art Himmelsbalustrade, Christus, durch den Kreuznimbus kenntlich, und Maria. Dieser Teil der Darstellung ist offenbar, worauf mich Peter Schmidt (München), hinweist, vom Bildtyp der Assumptio geprägt. Die herabfliegende Taube des Heiligen Geistes steht über einer mit einer Gesichtszeichnung versehenen Sonne, die möglicherweise den ›Spiegel‹ darstellt.13 Eine in etwa verwandte Darstellung findet sich in Riederers Spiegel der wahren Rhetorik.14 Ein weiteres Beispiel von der ins Bild gefassten Rechtsidee: Der Holzschnitt zum Kapitel Von gemainen Satzungen zeigt eine Prozesssituation, bei der über dem im Zentrum sitzenden Richter Christus als Weltenrichter im Jüngsten Gericht erscheint.15 Immer wieder beobachten wir, wie Brant ganz bewusst die Normativität des Rechts zurückbindet an Gott als den Herrn allen Rechts, an die bindende Kraft der Heiligen Schrift und die Vermittlung durch die Vertreter der Kirche. Wo es in Brants Werk um die normativen Prinzipien menschlichen Handelns geht, verweisen sie im Letzten auf die Ordnung des in Gott gegründeten Naturrechts. Das gilt auch dort, wo dieses göttliche Naturrecht – scheinbar – konfligiert mit dem Apparat antik-heidnischer Exempla, die ihrerseits eine Normpräsenz ausbilden, an der sich menschliches Handeln orientieren und ausrichten soll. Brants Präsenz innerhalb der zeittypischen normativen Diskurse wird auch sichtbar in den nichtjuristischen Texten, für deren Herausgabe er gesorgt oder an denen er durch eigene Beigaben beteiligt war: Texte der Theologie, Historie, Frömmigkeitsliteratur oder der Didaxe von der Antike bis zu den humanistischen Neuerscheinungen sind es, an deren Bereitstellung für seine Zeitgenossen Brant tatkräftig mitgewirkt hat. Und wenn er in der Vorrede zum Narrenschiff klagt: All land syndt yetz voll heylger geschrifft Vnd was der selen heyl antrifft / Bibel / der heylgen vätter ler Vnd ander der glich buocher mer / Jn maß / das ich ser wunder hab Das nyemant bessert sich darab (Vorrede, V. 1–6),16 13

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Ich danke Peter Schmidt, München, für seine Vorschläge zur Deutung dieses ikonographischen Ensembles. Meine ursprüngliche Vermutung, es handele sich bei der Sonne um einen Verweis auf Christus als den ›Sol iustitiae‹, anknüpfend an den ambrosianischen Laudeshymnus inc. Iam Christe, sol iustitiae (Blume, Clemens / Dreves, Guido Maria [Hrsg.], Analecta hymnica medii aevi, 2, 43), ist damit hinfällig. Text: Knape, Joachim / Luppold, Stefanie (Hrsg.), Riederer, Friedrich, Spiegel der wahren Rhetorik (1493), Wiesbaden 2009 (Gratia 45). Eine Abbildung gibt Knape, Dichtung, Recht und Freiheit [Anm. 5], S. 189. Knape, Joachim (Hrsg.), Brant, Sebastian, Das Narrenschiff. Studienausgabe. Mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494, Stuttgart 2005, S. 107.

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so hat Brant doch erkannt, welche Bedeutung das (gedruckte) Buch im Gespräch über Normen und ihre praktische Anwendung in seiner Zeit gehabt hat. Brants intellektuelle Physiognomie, die den Horizont bildet für seine Teilhabe am und Wirkmöglichkeit im normativen Diskurs seiner Zeit, wäre unvollständig beschrieben, würde nicht auch seine umfassende Kennerschaft der antiken und mittelalterlichen lateinischen Literatur berücksichtigt. Gerade die antike Literatur hat, neben der Bibel, hinsichtlich des Verständnisses von Normen bis ins 19. Jahrhundert eine zentrale Position behauptet. Insgesamt gesehen geben Brants Position als Gelehrter und Intellektueller und seine bildungsgeschichtliche Situierung in der Kultur seiner Zeit aber ein spezifisches Problem auf. Es ist mit der Frage umschrieben, in welchem Maße die Volkssprache der Ort ist, an dem ein originärer Diskurs über Normen, ihre Begründung, Geltung und zeittypische Veränderung entwickelt werden kann, und wenn überhaupt, dann stellt sich die Frage, welche Repräsentativität einem Normendiskurs in der Volkssprache zuzumessen ist, ob er überhaupt aussagekräftig ist für Erkenntnisse über ›das Mittelalter‹; oder ob nicht vielmehr die Begründung und Gestaltung eines Diskurses über Normen ganz wesentlich eine Sache der intellektuellen Eliten, ihrer Äußerungsformen und ihrer Sprache ist, des Lateinischen, und die Volkssprache lediglich als Transmissionsinstrument in die illitterate Gesellschaft hinein zu verstehen wäre. Zu bedenken gibt ein einfacher Sachverhalt der materialen Überlieferung: um 1200 sind von dem, was schriftlich niedergelegt ist, nur knapp 5% in der Volkssprache abgefasst. Um 1500 beträgt der Anteil volkssprachiger, vor allem deutschsprachiger Drucke an der gesamten Inkunabelproduktion etwa 10%.17 Vor diesem Hintergrund des rein Faktischen und seiner bildungsgeschichtlichen Brisanz haben sich die folgenden Ausführungen zu behaupten.

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Hier lassen sich genauere Angaben machen, für deren Übermittlung ich Dr. Falk Eisermann, dem Leiter des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke an der Staatsbibliothek zu Berlin, SPK, herzlich danke. Von den schätzungsweise 28000 Inkunabeldrucken weist die Datenbank des Incunabula Short Title Catalogue (ISTC) unter der Abfrage »Language: German« ca. 3000 Titel aus. Die Universitätsstadt Köln hat mit 1531 zu 108 den niedrigsten Stand an volkssprachigen Drucken, Leipzig, gleichfalls Sitz einer Universität, aber 1210 zu 198, doch ist dabei zu berücksichtigen, dass dabei mindestens 77 Einblattdrucke (herzogliche Ausschreiben etc.) mitgezählt sind. Eine gewichtende Zählung unter Berücksichtigung von Umfängen und Formaten steht noch aus. Vergleichendes Zahlenmaterial findet sich auch in der Zürcher Habilitationsschrift von Günthart, Romy, Deutschsprachige Literatur im frühen Basler Buchdruck (ca. 1470–1510), Münster, New York 2007 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 11), bes. S. 55–65, zu Brants Narrenschiff vgl. S. 224–242.

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II. Die Kapitel des Narrenschiffs zeigen bekanntlich eine gemeinsame Grundstruktur. Nach dem Motto, dem Holzschnitt und der Subscriptio folgt im eigentlichen Kapiteltext zunächst eine Beschreibung des jeweiligen Narren bzw. narrenhaften Verhaltens und der daraus resultierenden Folgen. Sodann bietet Brant eine mehr oder weniger umfangreiche Reihe von Exempelfiguren, die die Folgen solchen Verhaltens zeigen oder aber – ›e contrario‹ – die positive Wirkung von vernunftgeleitetem, normgerechtem Verhalten demonstrieren.18 Die Exempelfiguren im Narrenschiff sind im Wesentlichen aus drei Feldern des Traditionswissens genommen: Sie können aus dem Alten Testament stammen wie Abel, Abraham, Absalon oder Adam oder aus der antiken Sage bzw. Mythologie wie Achill, Adonis, Agamemnon, Apoll oder auch aus der alten Geschichte wie Alexander der Große, der athenische Feldherr Aristides oder Aristoteles. In solchen Exempelfiguren bündelt sich ein normatives Wissen, das einerseits der unmittelbar gegenwärtigen Erfahrung entrückt ist, das andererseits aber gerade dadurch, dass es im Prozess geschichtlicher Entfernung seine unbestreitbare Relevanz bereits bewiesen hat, umso wirksamer und glaubwürdiger erscheint. Die gesellschaftliche wie individuelle Verbindlichkeit solcher Exempelfiguren beruht auf einer triangularen Denkfigur, deren Eckpunkte sich wie folgt beschreiben lassen: zum ersten eine kollektiv akzeptierte Normvorgabe; zum zweiten ein Name mit einer damit verknüpften ›Geschichte‹, die für Normerfüllung oder Normabweichung steht; und zum dritten ein – erkanntes oder doch offensichtliches – Handlungsdefizit in der unmittelbaren Gegenwart des Lesers. Aus dieser Denkfigur leitet sich der Erkenntnisprozess des jeweiligen Subjekts ab, der notwendig verknüpft ist mit einem Appell zum konkreten Handeln. Im Erkennen, das zum Handeln führt, liegt die Potenz des Exempels. Bei den von Brant im Narrenschiff verwandten Exempelfiguren fällt auf, dass sie zum großen Teil dem Leser, der nur deutschsprachige Texte kennt und der folglich nur in der Volkssprache akkulturiert ist, ganz und gar unbekannt sind: das trifft etwa auf den schon genannten Aristides zu, den Brant aus seiner Cicero-Lektüre oder aus dem Policraticus des John of Salisbury kannte, oder die römische Skandalkaiserin

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Ganz markant ist etwa die über Namen aufgerufene Exempelkette in cap. 13 Von buolschafft. Beispiele für unglückliche oder doch verunglückte Liebesbeziehungen sind hier oftmals nur in einem einzigen Vers angedeutet: Dido, Medea, Tereus, Pasiphae, Phaedra, Nessus, Trojas Fall, Scylla, Hyacinthus, Leander, Messalina, Mars, Procris, Sappho, die Sirenen, Circe, Polyphem (bei Brant nur als Cyclops bezeichnet), Leucothoe, Myrrha und Adonis, Biblis, Danae, die von ihrem Vater verführte Nyctimene, Echo, Thisbe, Atalanta, David und Bathseba, Samson und Dalila, Salomo, Amon, Joseph und Potiphars Weib, Bellerophon und Hippolytus, der am Turm hängengelassene Virgilius (Brant, Narrenschiff [Anm. 16], cap. 13, V. 38–74).

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Messalina des 1. Jahrhunderts n. Chr.19 oder den Numiderfürsten Jugurtha, über den Sallust berichtet.20 Auch das von Brant reichlich genutzte Reservoir von Exempla aus den Metamorphosen des Ovid ist im Rahmen einer an der Volkssprache orientierten Bildung nahezu unbekannt. Die deutsche Metamorphosen-Bearbeitung Albrechts von Halberstadt war dem von Brant angezielten Publikum mit Sicherheit nicht zugänglich, erst Wickram hat sie wiederentdeckt. Auch die Namen von Dido, Venus und Cupido im Narrenschiff 21 verweisen keineswegs auf einen wie immer gearteten Bezug zu Veldekes Eneasroman, sondern auf Zusammenhänge mit der originalen Vergilund Ovidlektüre und die einschlägige lateinische Kommentartradition. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass etwa markante Exempelfiguren der volkssprachigen Literatur wie Artus, Gawan, Parzival, Erec, Iwein, Tristan und Isolde im Narrenschiff ebenso wenig abgerufen werden wie Sifrit oder Hagen oder Dietrich von Bern oder der sonst viel zitierte Karl der Große. Kriemhilt erscheint einmal als Bezeichnung für eine leichtfertige, eitle Frau, doch ohne erkennbare Beziehung zum Nibelungenlied.22 Auch wird ein Nithart genannt, aber Brant meint damit in cap. 53 des Narrenschiffs den Typus des missgünstigen Neiders, nicht den Dichter des 13. Jahrhunderts, auch nicht den Neidhart des Schwankbuchs: lediglich den Holzschnitt zu diesem Kapitel gestaltet der junge Dürer nach dem Vorbild der Fassschwankdarstellung des Neidhart Fuchs.23 19

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Dem Mittelalter war sie aus der Lektüre der Satiren des Juvenal bekannt (sat. 6,115–132). Humanistische Leser kannten sie aus den von Poggio wiederentdeckten Annalen des Tacitus (ann. 11,26–38) oder aus den Kaiserviten des Sueton (Claudius 26,2). – Auch ein großer Teil der in cap. 13 des Narrenschiffs genannten Exempelfiguren (s.o., Anm. 18) sind dem, der nur volkssprachige Texte kennt, unbekannt. Das Gesamtwerk des Sallust besitzt seit der ersten Ausgabe Venedig: Wendelin von Speyer, 1470 (Copinger, Walter Arthur, Supplement to Hain’s Repertorium bibliographicum, London 1895–1902, 14197), eine reiche Drucküberlieferung; erste Ausgabe nördlich der Alpen: Basel: Martin Flach, um 1474 (Hain, Ludwig, Repertorium bibliographicum, Stuttgart 1826–1838, 14188); siehe auch Flodr, Miroslav, Incunabula classicorum. Wiegendrucke der griechischen und römischen Literatur, Amsterdam 1973, S. 268–274 (über 70 Ausgaben der Opera und einzelner Werke). Dido cap. 13,38 und 32,33; Amor/Cupido cap. 13,13–36; Venus cap. 13,1 und 61,15; Mars cap. 13,51 (mit einem Verweis auf die Überlistung durch Vulcanus); Paris cap. 26,48 und 33,66; Helena ebd. sowie cap. 26,47 und cap. 32,31. So im Narrenschiff, cap. 44, wo es um Leute geht, die Jagdhunde und Habichte in die Kirche bringen, über andere schwätzen und so die Andacht der Gläubigen stören; weibliches Pendant dazu ist Kriemhilt: Do luogt man wo frow kryemhild stand / Ob sie nit well har vmher gaffen / Vnd machen vß dem gouch eyn affen (cap. 44,12–14). In der Stultifera navis (cap. 44: Dehonestare ecclesias) taucht der Name Kriemhilts nicht mehr auf. Boueke, Dietrich, Materialien zur Neidhart-Überlieferung, München 1967 (MTU 16), S. 44–47; vgl. Bobertag, Felix (Hrsg.), Narrenbuch. Kalenberger, Peter Leu, Neithart Fuchs, Markolf, Bruder Rausch, Berlin u.a. 1884 (Deutsche National-Litteratur 11), S. 163 mit Wiedergabe des Holzschnitts. Siehe weiterhin Blaschitz, Gertrud (Hrsg.), Neidhartrezeption in Wort und Bild, Krems 2000; Beyschlag, Siegfried, Neidharte und Neidhartianer, in: VL2,

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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Reihe von Exempelfiguren, die Brant ganz offensichtlich einer Neuerscheinung entnommen hat, nämlich der lateinischen Übersetzung von Plutarchs Schrift Über die Erziehung.24 Dazu gehören etwa die im Narrenschiff erwähnten Namen bedeutender Griechen wie Apelles, Gorgias, Diogenes und Crates. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Brant sein Narrenschiff zwar in der Volkssprache schreibt, aber die Exempelfiguren, die ja den je normbezogenen Appell historisch-narrativ begründen sollen, meistenteils aus gelehrt-lateinischer Tradition bezieht. Wer außerhalb der traditionellen wie auch aktuellen lateinisch vermittelten Bildung stand, konnte diesen Exempelfiguren bei der Lektüre des Narrenschiffs überhaupt nichts an Normorientierung abgewinnen; sie blieben für ihn blind, sie waren ihm Namen ohne abrufbare ›Geschichte‹, ohne handlungsleitenden Erkenntniswert. Nun wissen wir, dass sich Texte stets auf unterschiedlichen Ebenen des Verständnisses lesen lassen. Und Brant selbst nutzt ja den alten Topos vom Bild als Ersatz der Schrift für die Nichtgebildeten,25 wenn er über sein Narrenschiff in der Vorrede sagt:

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6/1987, Sp. 871–893, hier Sp. 883–886. Der im Narrenschiff, cap. 53, genannte Nithart ist bei Brant der notorisch Neidische; so werden diese Bezeichnung auch die Zeitgenossen verstanden haben. Vergleichbare ›sprechende‹ Übernamen verwendet Brant im Narrenschiff mehrfach, z.B.: Wol truwen, »Trau wohl«, als Personifikation leichtsinniger Vertrauensseligkeit (cap. 69,24), oder Wonolff als Personifikation der Einbildung, Wahn (cap. 67,24); Füll den mag (cap. 85,27); Glypfyus, »Anstand« (cap. 72,7). Auch die Erwähnung eines Moringer (cap. 72,10) hat nichts mit dem Lied vom edlen Moringer zu tun, sondern bezieht sich, wie der Kontext zeigt, auf môr, »Sau« (darauf verweist Knape [Hrsg.], Das Narrenschiff. Studienausgabe [Anm. 16], S. 590). – Die Stultifera navis führt die grässliche Brut Nitharts an, die sich nicht ausrotten lässt (Nythardi semen […] atrox; siehe Hartl, Nina, Die ›Stultifera navis‹. Jakob Lochers Übertragung von Sebastian Brants ›Narrenschiff‹, 2 Bde., München, Berlin 2001 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 1), Bd. 1.2, S. 146f. Plutarchs Schrift über die Kindererziehung ist von Guarino da Verona ins Lateinische übersetzt worden und war in dieser Fassung seit der Erstausgabe Venedig 1471 noch in elf weiteren Drucken verfügbar, z.T. auch zusammen mit anderen älteren Erziehungstexten, die von den Humanisten hochgeachtet waren, so etwa die Schrift des griechischen Kirchenvaters Basilius d. Gr. (4. Jahrhundert n. Chr.), De libris antiquorum legendis, lateinisch von Leonardo Bruni, Erstdruck Florenz, nach 1486. Zu der eminenten Bedeutung dieser Schrift im 15. Jahrhundert siehe Schucan, Luzi, Das Nachleben von Basilius Magnus ›ad adolescentes‹. Ein Beitrag zur Geschichte des christlichen Humanismus, Genève 1973 (Travaux d’Humanisme et Renaissance 133). Siehe zu diesem Topos grundlegend Curschmann, Michael, ›Pictura litteratura laicorum‹? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse, in: Keller, Hagen u.a. (Hrsg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 211–229; jetzt wieder in: ders., Wort – Bild – Text. Studien zu Medialität des Literarischen in Hochmittelalter und früher Neuzeit, 2 Bde., Baden-Baden 2007, Bd. 1, S. 253–281. Siehe weiterhin: Cazelle, Celia M., Pictures, Books, and the Illitterate. Pope Gregory I’s Letters to Serenus of Marseille, in: Word and Image,

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Vil narren / doren kumen dryn Der bildniß jch hab har gemacht Wer yeman der die gschrifft veracht Oder villicht die nit künde lesen, der siecht jm molen wol syn wesen Vnd fyndet dar jnn / wer er ist, Wem er glich sy / was im gebrist. (Vorrede, V. 24–30)

Aber von dem idealen Leser, den Brant im Auge hatte, erwartete und verlangte er eine Kenntnis, die über das Deutungspotenzial, das hinter den Namen der Exempelfiguren steht, gewissermaßen ›auf Zuruf‹ verfügen konnte. Und so scheint es vom Deutungsanspruch des Narrenschiffs her gesehen nur folgerichtig, ja zwingend notwendig, dass dem Narrenschiff seine lateinische Version unmittelbar folgte. Diese, die Stultifera navis, erschien 1497, also drei Jahre nach dem Narrenschiff, aber gleichfalls am Fastnachtsabend, und leistete den Brückenschlag in die europäische Bildungswelt des gelehrten Lesers.26

III. Brant selbst hatte eine lateinische Version des Narrenschiffs geplant, dies aber wegen anderer Arbeiten seinem Schüler und Freund Jakob Locher übertragen. Die schiere Menge von Brants Publikationen zwischen 1494 und 1497 macht das durchaus plausibel. Die Differenzen zwischen dem Narrenschiff und der Stultifera navis liegen auf mehreren Ebenen, zunächst auf der des Layouts. Die deutsche Ausgabe bietet die bekannte Abfolge von Motto, Holzschnitt, Subscriptio und Text synoptisch auf zwei gegenüberliegenden Seiten, auf jeder Seite flankiert von zwei ungleich breiten Zierleisten. Diese dem gegenwärtigen Betrachter so einleuchtende synoptische Präsenz von Bild und Text hatte für Brant offenbar nur untergeordnete Bedeutung: Im Fortgang des Narrenschiffs, schon ab cap. 19, gibt Brant sie vielfach auf.

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6/1990, S. 138–153; Camille, Michael, Seeing and Reading. Some Visual Implications of Medieval Literacy and Illiteracy, in: Art History, 8/1985, S. 26–49. Die lange stagnierende Arbeit an der Stultifera navis hat neue Impulse durch zwei wichtige Dissertationen erhalten: Hartl, Die ›Stultifera navis‹ [Anm. 23]; mehr als die Hälfte der Kapitel und sämtliche Rahmentexte werden hier ediert, übersetzt und kommentiert. Hartl folgt der ersten Ausgabe der Stultifera navis, Basel: Kalendis Martiis [1. März] 1497 (GW 5054). Sinnvoller wäre aus den unten genannten Gründen gewesen, den Textabdruck auf die zweite Ausgabe, Basel: Kalendis Augusti [1. August] 1497 (GW 5061), zu stützen; erst sie bietet den vollen Umfang der Annotationen Brants. – Die zweite hier zu nennende Arbeit ist die von Rupp, Michael, Narrenschiff und ›Stultifera navis‹. Deutsche und lateinische Moralsatire von Sebastian Brant und Jakob Locher in Basel 1494–1498, München, Berlin 2002 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 3).

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Anders die Stultifera navis, welche die synoptische Kopräsenz von Bild und Kapiteltext von vornherein gar nicht anstrebt. Die offensichtlich unter Zeitdruck hergestellte erste Ausgabe, Fastnacht 1497 (GW 5054), zeigt auf den ersten Lagen noch ein Experimentieren mit dem Layout, das sich erst im Verlauf der Herstellung des Drucks in der gewünschten Form herausbildet. Insbesondere Brants Mitwirkung wird offenbar erst im Fortschreiten des Druckvorgangs dieser Ausgabe intensiver, was sich an der ansteigenden Frequenz der Marginalnotate erkennen lässt. Es ist erst die zweite Basler Ausgabe vom 1. August 1497 (GW 5061), die den angezielten Zustand erkennen lässt; auf sie beziehen sich deshalb die folgenden Ausführungen. Die Kapitel beginnen in den meisten Fällen auf der recto-Seite, danach, wegen des größeren Umfangs des Superbia-Kapitels, auch auf der verso-Seite. Die Seite wird eröffnet durch ein knapp gefasstes einzeiliges Motto, das den Gehalt des folgenden Kapitels bezeichnet. Es ist nur im Schriftgrad des folgenden Textes gesetzt, von dem die ersten vier Verse, die manchmal auch den Kapitelinhalt zusammenfassen, über, die folgenden vier unter dem Holzschnitt stehen. Die Fortsetzung des Textes findet sich auf der Rückseite des Blatts. Die Zierleisten, aus denen sich im Narrenschiff immerhin bisweilen noch ein Tröpflein Sinnstiftung (aufsteigender Narr, Eule) pressen ließ, fallen in der ersten Ausgabe der Stultifera navis (GW 5054) teilweise,27 in der zweiten Ausgabe (GW 5061) gänzlich weg. Textblock wie Holzschnitt rücken damit aus ihrer Zentrierung, die sie im Narrenschiff hatten, in der lateinischen Version an den inneren Blattrand (Abb. 3). Dadurch entsteht neben dem Holzschnitt, an den Außenkanten der Blätter, ein Freiraum über die gesamte Seitenhöhe, der jetzt neu gefüllt werden kann. Neben dem Holzschnitt wird das Motto, zum Teil in leicht abgewandelter Fassung, wiederholt, diesmal in Bergmanns Auszeichnungsschrift. Es folgt, neben dem Holzschnitt, eine Art Argumentum des jeweiligen Kapitels, in das in der Regel Autoritätenzitate integriert sind. Neben der an den Innenrand des Blattes gerückten Textkolumne ist jetzt Platz für eine eigene Spalte mit Notaten, die dem Text zugeordnet sind. Innerhalb der europäischen Buchgestaltung sind solche Marginalnotate spätestens seit der Karolingerzeit in der Handschriftenüberlieferung regelmäßig in Gebrauch, und zwar vornehmlich in Büchern, die dem Textstudium dienen. Auch im frühen Buchdruck ist dieses Funktionselement im Layout von Anfang an präsent und hält sich im Übrigen in Lehrbüchern bis in die Gegenwart.28 Einigen dieser Randbemerkungen wollen wir uns näher zuwenden.29 27 28

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Siehe Hartl, Die ›Stultifera navis‹ [Anm. 23], Bd. 1.1, S. 43. Siehe dazu Schibel, Wolfgang, Inhaltserschließende Paratexte in gelehrten Werken des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Wiegand, Hermann (Hrsg.), Strenae nataliciae. Neulateinische Studien, Wilhelm Kühlmann zum 60. Geburtstag, Heidelberg 2006, S. 177–192. Marginalien in vergleichbarer Funktion bieten etwa in der gegenwärtigen Buchproduktion die im Oldenbourg Verlag erscheinende Studienreihe Enzyklopädie deutscher Geschichte (z.B. Toch, Michael, Die Juden im mittelalterlichen Reich, 2. Aufl., München 2003) oder Jeßing, Benedikt / Köhnen, Ralph, Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Stuttgart 2007. – Das Gutenberg Jahrbuch bietet seit 2006 die Anmerkungen in einer eigenen Spalte neben dem Text. Die folgenden Angaben beziehen sich aus den oben genannten Gründen sämtlich auf die

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Abb. 3: Jacob Locher Philomusus, Stultifera navis, Basel: Johann Bergmann von Olpe, 1. August 1497, f. XIr

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In cap. 1 (Bl. XIr, s. Abb. 3) stellt sich – wie im Narrenschiff – der Büchernarr in der 1. Person vor: Inter pręcipuos pars est mihi reddita stultos / Prima […]. Mit gutem Grund sieht man in dieser Figur Brant selbst, der sich in seiner menschlichen Fehlbarkeit als Erster in die Schar der Narren, die der Selbsterkenntnis bedürftig sind, einreiht. Eine synoptische Darbietung des gesamten Kapitels auf gegenüberliegenden Seiten wie im Narrenschiff ist hier von Anfang an nicht beabsichtigt, wiewohl sie leicht zu gestalten gewesen wäre. Das Argumentum neben dem Holzschnitt lautet: »Die Nutzlosigkeit von Büchern. Denn wenn einer sämtliche Schriftsteller durchblättern wollte, so wird er zum einen von der schieren Menge der Bücher erdrückt, zum andern durch die Vielfalt der Autoren, die ganz Verschiedenes schreiben. Die Folge: er wird nicht leicht herausfinden, was wahr ist. Denn die Menge der Bücher lässt ihn hin und her schwanken. Und des Büchermachens ist kein Ende.«30 Der letzte Satz, unter Geisteswissenschaftlern immer gerne zitiert, entstammt dem Schluss des alttestamentlichen Ecclesiastes (Ecl 12,12).31 Und diese Quelle gibt die beigedruckte Marginalnotiz auch an. Der vorangehende Passus ist, wie die Marginalnotiz nachweist,32 dem griechischen Historiker Diodorus Siculus (1. Jahrhundert v. Chr.) entnommen, den Brant aus der aktuellen lateinischen Übersetzung des Poggio Bracciolini kannte.33 Diese Marginalien, die Lochers lateinischer Narrendichtung beigegeben sind, stammen von Brant selbst und begleiten in dichter Abfolge den lateinischen Text.34 Wir verfolgen sie an einigen weiteren Beispielen.

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zweite Basler Ausgabe der Stultifera navis (GW 5061). Benutzt ist das Exemplar Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin, SPK, 8°Inc 610. Inutilitas librorum. Quod si quis percurrere omnes scriptores cupiat: opprimetur tum librorum multitudine, tum diuersa scribentium uarietate: vt haud facile verum possit elicere. Distrahit enim librorum multitudo. Et faciendi libros non est finis (f. X r). »Und viel Studieren macht den Leib müde.« – His amplius fili mi ne requiras / faciendi plures libros nullus est finis / frequensque meditatio carnis afflictio est (Ecl 12,12). Die Marginalnotiz lautet: Diodorus Siculus.li.i. Ecclesi. xii (Bl. XIr). Von der griechischen Weltgeschichte des Diodorus, der Bibliotheca, sind nur Reste erhalten, und zwar die Bücher 1–5 mit der Urgeschichte der Orientalen und Hellenen sowie die Bücher 11–20 mit der griechischen Geschichte der Jahre 480–320. Brant benutzte mit Sicherheit die lateinische Übersetzung des Gianfrancesco Poggio Bracciolini, zuerst gedruckt Bologna 1472 (GW 8374), dann in drei weiteren Ausgaben Venedig 1476, 1481, 1496 (GW 8375–8377); siehe Flodr, Incunabula classicorum [Anm. 20], S. 136f. – Hartl hat die beiden von Brant annotierten Stellen in cap. 1 und cap. 85 identifiziert, aber – unzutreffend – wohl auf den griechischen Text zurückgeführt (Hartl, Die ›Stultifera navis‹ [Anm. 23], Bd. 1.1, S. 189 und 228) statt auf dessen lateinische Übersetzung: Nur diese war Brant überhaupt zugänglich. Siehe zu den Marginalnotizen sowie zu einigen markanten Beispielen Henkel, Nikolaus, Der Zeitgenosse als Narr. Literarische Personencharakteristik in Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ und Jakob Lochers ›Stultifera navis‹, in: Suntrup, Rudolf / Veenstra, Jan R., SelfFashioning – Personen(selbst)darstellung, Frankfurt/M. 2003 (Medieval to early modern culture 3), S. 53–78, hier S. 63–68.

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Ein vieldiskutiertes Problem gesellschaftlicher Normativität ist das Verhältnis des Menschen zu Geld und Besitz einerseits und die Bewertung von Armut andererseits. Brant greift es im Narrenschiff mehrfach auf. Die Stultifera navis bietet in cap. 83 (Bl. XCIr) neben dem Holzschnitt das Argumentum mit der Überschrift Paupertatis contemptus: »Verachtung der Armut. Armut gehört nicht zu den Übeln. Und [Armut als] Gabe der Götter ist noch nicht erkannt. Ist der Sinn eines Habgierigen einmal in den Fesseln der Begierde verstrickt, so sieht er immer nur Gold und Silber, und immer nur rechnet er seine Einkünfte zusammen, und lieber schaut er sein Gold an als die Sonne.«35 Darunter, neben der Textkolumne, stehen rechts mehrere Hinweise auf das Decretum Gratiani.36 Der erste verweist auf die Prima Pars des Decretum Gratiani, dist. 47, c. 8, beginnend mit den Worten Sicut hi, qui per insaniam […]. Dieser Abschnitt handelt vom Verhalten des Habgierigen und zitiert aus einer Predigt des Kirchenvaters Ambrosius über das Gleichnis vom reichen Kornbauern (Lc 12,16–21). Hier findet sich wörtlich die von Brant ausführlich zitierte Passage Mens avari […] quam solem.37 Dadurch erhält der Diskurs in der Stultifera navis über die Wertung von Besitz seine sowohl kirchenrechtlich wie neutestamentlich begründete und durch die Lehre der Kirche geprägte Dimension. Das zweite Zitat stammt aus der Secunda Pars des Decretum und betrifft den Einsatz von Geld zur Einwirkung auf die Rechtsprechung, ein Thema, das in cap. 83 der Stultifera navis direkt angesprochen ist. Der weitere Verlauf des langen, 94 Verse umfassenden Kapitels wird von zahlreichen Marginalien begleitet. Ich greife eine Passage heraus. Es geht um Beispiele, die zeigen, dass ein Mensch trotz Armut gleichwohl zu gesellschaftlicher oder geschichtlicher Anerkennung gelangen kann. Homer und Socrates werden als Beispiele für Menschen herangezogen, die ohne jeglichen Reichtum doch göttliche Weisheit besaßen und dafür geachtet wurden.38 Die Marginalnotiz verweist, durch ein Bibelvotum bekräftigend, auf eine thematisch entsprechende Aussage aus dem Ecclesiasticus (Sir 35

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Paupertatis contemptus. Paupertas non est de genere malorum. Et munera nondum intellecta deum. Mens auari semel vinculis cupiditatis astricta semper aurum, semper argentum videt, semper redditus computat, gracius intuetur aurum quam solem (Bl. XCIr). Die Wendung munera nondum / intellecta deum [= deorum] kennt Brant – direkt oder vermittelt – aus Lucan, De bello civili, 5,528f., wo es von der Armut heißt: o munera / nondum intellecta deum. Hartl, Die ›Stultifera navis‹ [Anm. 23], Bd. 1.2., S. 225, kennt diesen Zusammenhang nicht, verweist aber zutreffend auf Brants Verwendung dieser nicht markierten Sentenz im Narrenschiff, cap. 83, V. 45: Armuot die ist eyn gob von gott / Wie wol sie yetz ist der welt spot. Notiert ist am Rand: xlvii.di.sicut / priuilegia pan. / vi.in.l.si quis ad.C.de epis. / & cle.arch. xi / q.iii.pauper (Bl. XCIr); vgl. Hartl, Die ›Stultifera navis‹ [Anm. 23], Bd. 1.2., S. 225. Decretum Gratiani I, dist. 47 c.8 (Corpus Iuris Canonici [Anm. 10], Sp. 171). Et fuit insignis vates quoque pauper Homerus / Dum tonat heroo troica fata pede. / Socrates aetherea sophia succinctus & arte / Diuitiis uacuus / non sine laude fuit. Die Marginalnotate dazu machen zunächst auf die Namen aufmerksam und liefern dann den Zitatnachweis: Homerus / Socrates / Ecclesi.xi. (Bl. XCIIv).

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11). Nächstes Beispiel ist Rom, die Burg auf dem Tarpeiischen Felsen, worauf auch die Marginalnotiz Roma caput mundi verweist.39 Es ist einst von armen Hirten begründet worden (Pauperibus Roma est quondam pastoribus orta), dennoch hat es Weltruhm erlangt. Als argumentativer Bezugspunkt dient die Marginalnotiz Augustinus. In De civitate Dei ist in der Tat der Aufstieg Roms aus der Armut heraus beschrieben.40 Unter Brants Mitarbeit war Augustins Werk 1489 in Basel bei Johann Amerbach erschienen, gleichfalls ausgestattet mit erschließenden Marginalglossen.41 Dass Reichtum – so fährt der Text fort – und, ihm folgend, Verweichlichung stolze Reiche zerbrechen ließ, bietet als allgemeinste Aussage der Ecclesiastes in cap. 18. Carthago ist ein Beispiel dafür, dass stolze und mächtige Staaten, wenn sie durch Reichtum verweichlichen, untergehen wie ja auch Rom. Die in der Marginalnotiz benannten alttestamentlichen Proverbia handeln in cap. 22 von Reichtum und Armut, die beide von Gott gegeben sind. Krösus und sein sprichwörtlicher Reichtum, Gegenstand von Juvenals Satiren,42 sind Beispiel, wie der Tod trotz Reichtum ein trauriges Schicksal beschert, wobei tristia fata in Lochers Text eine durch die Klassiker Ovid und Lucan geprägte Formel ist.43 Auffällig ist hier, dass Brant neben dem Verweis auf den bereits im Mittelalter allbekannten Juvenal noch den griechischen Historiker Herodot anführt, und dies noch mit einem genauen Verweis auf dessen erstes Buch.44 Brant dürfte dieses Werk über die lateinische Übersetzung des Lorenzo Valla kennengelernt haben.45 In diesem Fall wie auch sonst mehrfach sehen wir, dass 39

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Einen frühen Beleg für Roma caput mundi bietet Lucan, De bello civili, 2,655. Die Wendung ist im Mittelalter zum geflügelten Wort geworden, u.a. in der weit verbreiteten Fassung Roma caput mundi regit orbis frena rotundi – »Rom als Haupt der Welt führt die Zügel des Erdkreises« (Walther, Hans, Proverbia sententiaeque latinitatis medii aevi, Teil 1–6, Göttingen 1963–1969, hier Nr. 26920–26923; weitere Varianten: ebd., Nr. 15620, 19576, 28296). De civitate Dei 5, 12, 18 u.ö. GW 2887; Wilhelmi, Sebastian-Brant-Bibliographie [Anm. 7], Nr. 39–41. Brants Geleitgedichte sind zugänglich in: Wilhelmi, Thomas (Hrsg.), Brant, Sebastian, Kleine Texte, 3 Bde., Stuttgart, Bad Cannstatt 1998 (Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur 3), Nr. 62 und 63. Zur historischen Einordnung vgl. auch Knape, Dichtung, Recht und Freiheit [Anm. 5], S. 51. Als Exempelfigur für das Widerspiel von Besitz und Fortuna eingesetzt von Juvenal, sat. 10,274 und 14,328. Siehe Schumann, Otto, Lateinisches Hexameter-Lexikon. Dichterisches Formelgut von Ennius bis zum Archipoeta, 5 Bde., München 1982 (Monumenta Germaniae Historica, Hilfsmittel 4), hier Bd. 5, S. 474f. Brant führt in den Marginalien zur Stultifera navis mehrfach Herodot an, zum Teil mit genauen Buchangaben, so in cap. 56: Xerxes de quo Iuuenalis & Herodotus li.v.; im gleichen Kapitel auch Cyrus und Cresus; cap. 59: Solon de quo Herodotus; cap. 85: Rhodopis de qua herodo.li.ii. Flodr, Incunabula classicorum [Anm. 20], S. 181f., weist nach dem Erstdruck Venedig 1474 (GW 12321) noch weitere Ausgaben nach: Rom 20.4.1475 (GW 12322), Venedig 1494 (GW 12323 und 12324) sowie Venedig 1498 (GW 12325).

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Brant in Basel Zugang zu aktuellen, in Italien erschienenen Druckausgaben der lateinischen Fassungen griechischer Texte hatte. Das Kapitel schließt mit der Aussage, dass der Arme zu ehren sei, weil kein Reicher ins Himmelreich komme. Hier verweisen die Marginalien auf die Proverbia Salomonis,46 den Ecclesiastes und insbesondere Jesu Gespräch mit dem reichen Jüngling, Mc 10,17–27, das der Text mit wörtlichen Allusionen aufnimmt.47 Brants Marginalnotate zur Stultifera navis sind ein reiches und noch wenig bearbeitetes Feld für eine Art bildungs- und kulturgeschichtlicher Archäologie. Zarncke hatte bei seiner Beschäftigung mit Brant diese Notate wohl bemerkt, sie als »Quellen«Nachweise aber für untauglich befunden, da sie, wie er verstimmt feststellt, »an den betreffenden stellen höchstens als parallelstellen angesehen werden können, und selbst als solche oft sehr fern liegen […]. zur auffindung der quellen waren diese der lateinischen ausgabe beigefügten citate daher mehr hinderlich als fördernd, die ganze arbeit des nachschlagens aber unerträglich langwierig, da Brant stets nur die capitel citiert, ohne angabe des verses, obenein hier vielfach druckfehler in den zahlen sich eingeschlichen haben.«48 Joseph Kärtner hatte immerhin in den Marginalnotaten den von Brant hergestellten Bezug zum Narrenschiff erkannt.49 Ich hatte mich an früherer Stelle knapp dazu geäußert mit der These, dass die Marginalien traditionelles Bildungsgut und bewährte Deutungsschemata aufrufen und erkennen lassen, »was sich im Kopf des damaligen Verfassers bzw. eines gebildeten Lesers der Zeit an bildungsgeschichtlichen Bezügen einstellte«.50 Die beiden neueren Arbeiten zur Stultifera navis von Nina Hartl und Michael Rupp gehen gleichfalls auf diese Notate ein. Nina Hartl verbindet die Marginalien mit einer humanistischen Bildungsattitüde; sie seien »dem lateinischen Werk ein unverzichtbarer Bestandteil und Kennzeichen seiner humanistischen instructio.« Sie fungierten »gleichsam als arriviertes Pendant zu den Zierleisten des ›Narrenschiff‹. […] Zusätzlich bestätigen sie [die Aussage des Textes] als testimonia von großer Beweiskraft.«51 Michael Rupp formuliert: »Sinnvoll erscheinen Zitate, Anspielungen und Marginalien erst, wenn man sie als ein System von

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Etwa cap. 12,12. facilius est camelum per foramen acus transire / quam divitem intrare in regnum Dei (Mc 10,25). Zarncke, Friedrich (Hrsg.), Brant, Sebastian, Narrenschiff, Leipzig 1854, S. 296. Kärtner, Joseph, Des Jakob Locher Philomusus ›Stultifera navis‹ und ihr Verhältnis zum ›Narrenschiff‹ des Sebastian Brant, Diss. Frankfurt/M. 1923, hier S. 30f. Henkel, Nikolaus, Zu Text und Melodie von Brants ›Rosarium‹. Überlieferungsform und Textgebrauch, in: Fink, Gonthier-Louis (Hrsg.), Sebastien Brant, son époque et ›la nef des fols‹, Actes du Colloque international du Strasbourg 10–11 Mars 1994, Strasbourg 1995, S. 173–187, hier S. 174; weitergeführt und anhand einiger Kapitel der Stultifera navis erläutert in meinem Beitrag Der Zeitgenosse als Narr [Anm. 34], hier S. 60–68 zu cap. 5,53 und 60. Hartl, Die ›Stultifera navis‹ [Anm. 23], Bd. 1.1, S. 101.

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Verweisen und Bezügen liest, mithin also die zugrundeliegenden Texte nicht als Quellen, sondern als Subtexte versteht.«52 In unserem Zusammenhang ergibt sich ein modifizierter Befund: Die Marginalnotate zum Text der Stultifera navis eröffnen Bezüge auf das Kirchenrecht wie auch auf das Römische Recht und auf den in der Literatur der Antike, in der Bibel und der Patristik aufgehobenen Fundus exemplarischen Handelns und auf bewährte Maximen und Dicta. In ihrer Vielschichtigkeit, Differenziertheit einerseits und ihrer Fülle andererseits eröffnen sie einen Blick auf die Horizonte normativer Diskurse um 1500, auf Diskurse freilich, an denen die volkssprachlich orientierte Kultur der Laien kaum, und wenn überhaupt, dann nur aufnehmend Anteil hatte. Das ist zu prüfen an einem markanten Beispiel, das Brant in seiner Hinwendung zur deutschsprachigen Laiendidaxe zeigt, dem Freidank.

IV. Die Autorität des Sprechens über Normen hat Brant als Vertreter der intellektuellen Elite der Zeit ganz natürlich aus seiner akademischen Bildung abgeleitet, d.h. vor allem aus seiner profunden Kenntnis der lateinischen Überlieferung in Bibel, Theologie, Philosophie, in den Klassikern sowie – prominent – in den beiden Rechten. Brant hat aber auch ein weiteres Feld normativ-präskriptiver Texte für seine Gegenwart und die Folgezeit erschlossen, das, durch die Autorität des Gelehrten aufgewertet, bewährte Traditionen des Mittelalters aufnimmt und in zweisprachiger lateinisch-deutscher Präsentation in kleinformatigen, schmalen Drucken bereitstellt. Es geht um die Disticha Catonis und deren Begleiter, den Facetus Cum nihil utilius, um den Facetus Moribus et vita und um den Phagifacetus (Thesmophagia) des Reinerus Alemannicus.53 Ziel der Belehrung ist, wie die Geleittexte zu erkennen geben, stets die juventus, die Jugend, und so ist es kein Wunder, dass Brant seinen Sohn Onofrius mehrfach als ersten Adressaten in den betreffenden Drucken nennt. Erschienen sind diese zweisprachigen Drucke zu Beginn der 1490er Jahre; sie nehmen in der Regel ältere Übersetzungen auf und werden als erschwingliche, kleine Heftchen mehrfach nachgedruckt.54 Einen Sonderfall stellt die Fabelkompilation 52 53

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Rupp, ›Narrenschiff‹ und ›Stultifera navis‹ [Anm. 26], S. 238. Der Cato und die beiden Facetus-Texte sind, freilich ohne den abschnittweise vorangestellten lateinischen Text, abgedruckt bei: Zarncke (Hrsg.), Narrenschiff [Anm. 48], S. 137– 147. Zum Phagifacetus ebd. S. 147–153; siehe auch die neue Ausgabe: Umbach, Silke, Sebastian Brants Tischzucht (Thesmophagia 1490), Edition und Wortindex, Wiesbaden 1995 (Gratia 27). Insbesondere die Disticha Catonis (18 Blätter in 4°; erstmals Basel: Johann Bergmann von Olpe 1498). Wilhelmi, Sebastian-Brant-Bibliographie [Anm. 7], Nr. 266–296, weist 31 Ausgaben nach. Der Facetus Cum nihil utilius, der bereits im Mittelalter als Supplementum

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Heinrich Steinhöwels dar, der Esopus, in deren gesamter Drucktradition der Name des Ulmer Arztes und Humanisten indes nicht aufscheint. Brant hatte Steinhöwels Text unmittelbar vor seinem Umzug nach Straßburg, also 1500/1501, einer gründlichen Revision unterzogen und umfangreiche (lateinische) Additiones beigesteuert, was dazu führte, dass die gesamte nun folgende lateinische und deutsche Drucktradition als einzige auktoriale Namensbezeichnung nur die Brants führte.55 Zusammen mit Steinhöwels Text sind Brants Additiones, übersetzt durch Johannes Adelphus Muling, in zahlreichen Ausgaben nachgedruckt worden.56 In dieser Zuwendung zu Texten in der Volkssprache muss man ein spezifisches Anliegen Brants sehen, das, vergleichbar dem Narrenschiff und den deutschen Texten seiner Flugblattpublikationen, auf eine Unterrichtung der nicht – oder doch nicht primär – lateinisch akkulturierten Laien ausgerichtet war. Hierher gehört auch die Ausgabe der Freidanksprüche, deren Text Brant nicht aus der Leipziger Druckausgabe von um 1490,57 sondern aus einer Handschrift bezog.58 Brant stellt dem Text eine kurtze liepliche vorred voran: 59

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Catonis galt (16 Blätter, 4°; Erstdruck Basel: Johann Bergmann von Olpe 1496), sowie der Facetus Moribus et vita sind bei Wilhelmi nicht als zwei verschiedene Texte erkannt worden; vgl. zu beiden Texten Henkel, Nikolaus, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Funktion und Verbreitung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, München 1988 (MTU 90), S. 245–249. Siehe hierzu Dicke, Gerd, Heinrich Steinhöwels ›Esopus‹ und seine Fortsetzer. Untersuchungen zu einem Bucherfolg der Frühdruckzeit, München 1994 (MTU 103), S. 128–192. Siehe ebd., S. 193–216. Wilhelmi, Sebastian-Brant-Bibliographie [Anm. 7], weist, wohl versehentlich, die Übersetzung des gesamten Esopus Johannes Adelphus Muling zu, der indes nur Brants Additamenta übersetzt hat. Gemeint ist die lateinisch-deutsche Ausgabe Proverbia eloquentis Freydanks innumeras in se vtilitates complectentia (Leipzig: Konrad Kachelofen, um 1493), GW 10323. Siehe zu dieser Ausgabe auch Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte [Anm. 54], S. 253– 256. Siehe hierzu die noch ungedruckte Dissertation von Leupold, Barbara, Die Freidankausgabe Sebastian Brants und ihre Folgedrucke. Untersuchungen zum Medienwechsel einer spätmittelalterlichen Spruchsammlung an der Schwelle zur Frühen Neuzeit, Diss. masch. Marburg 2007 (Druck in Vorbereitung; derzeit als online-Ressource der Deutschen Nationalbibliothek verfügbar: http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?idn=984649093; vgl. auch http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2007/0131/pdf/dbl.pdf). Ein Faksimile von Brants Freidank-Druck ist in den Beiheften der ZfdA erschienen: Leupold, Bararba (Hrsg.), Der Freidanck. Sebastian Brant. Straßburg, 1508, Stuttgart 2010 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Beihefte 8). Er liegt in Image-Digitalisaten vor im Programm der Digitalisierung der Drucke des VD 16 in der Bayerischen Staatsbibliothek München und ist über deren OPAC zugänglich. Zitiert nach: Wilhelmi (Hrsg.), Brant, Kleine Texte [Anm. 41], Bd. 1.2, Nr. 421.

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Nikolaus Henkel Ich bin genant der Frygedanck Mit eren treib ich manchen schwank So zuo gots forcht und tugent züht, wie man sünd, unere, laster flüht damit das unguot werde vertriben. (V. 1–5)

Und er fährt fort, er habe den Freydanck neben sein Narrenschiff gestellt, die Verse gebessert und den so erneuerten Text Uß vinster in das liecht gefiert (V. 11f.), bekanntlich ein topisches Argument in Humanistenkreisen. Doch das ist nicht Brants einziger Beitrag zur Publikation dieses alten Textes. Er hat auch die einzelnen Kapitel mit Holzschnitten ausstatten lassen, wenngleich von mäßiger Qualität und mehrfach aus zusammengesuchten älteren Stücken zusammengesetzt, und er hat den Text, wie in dieser Zeit vielfach üblich, durchgängig mit Marginalnotaten versehen. Wir greifen drei Beispiele heraus. Das erste stammt aus dem Kapitel von Gottes Allmacht: Got zweierley willen begat Die er vns offt nit wissen lat Dan er thüt alles das er will Vnd verhengt da gegen übels vil. Rüche got halbs das er vermag Die welt bestunde nit einen tag. (Bl. Bir, vgl. Freidank 3,21–24)

Daneben steht, mit der Autormarke Ouidius versehen, das folgende Zitat: Si quotiens peccant homines sua fulmina mittit Jupiter exiguo tempore nullus erit. (»Wenn Jupiter, sooft die Menschen sündigen, seine Blitze schickt, wird er in kurzer Zeit nichts, d.h. ohne Waffen sein.«)

Diese Marginalnotiz verweist hinsichtlich der von Freidank angesprochenen Allmacht Gottes auf eine vergleichbare antik-›heidnische‹ Position. Brant kennt und nennt Ovid als den Urheber, aber er zitiert ihn nicht nach der Ausgabe, sondern vielleicht aus dem Gedächtnis, jedenfalls in einer leicht entstellenden Variante, die sonst mehrfach belegt und damit zum Gemeinbesitz der Gebildeten des Mittelalters zu rechnen ist.60 Brant aber verweist das als Allgemeingut verbreitete Dictum durch seine Autorangabe wieder an seinen Urheber zurück, Ovid, aus dessen Tristien 2,33f. es stammt.61 Das zweite Beispiel: Freidanks Romsprüche. Ihre Kirchenkritik ist deutlich der antikurialen Polemik des 12. Jahrhunderts verpflichtet, die Freidank hier erstmals für

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Siehe Walther, Proverbia [Anm. 39], Nr. 29094 mit zahlreichen Nachweisen. Das Zitat lautet in seiner ursprünglichen Fassung Si, quotiens peccant homines, sua fulmina mittat / Iuppiter, exiguo tempore inermis erit (Owen, Sidney George [Hrsg.], P. Ovidi Nasonis Tristium libri quinque, Ibis, Ex Ponto […], Oxford 1978).

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die kirchenkritische Argumentation in der Volkssprache verfügbar machte.62 Als diese Sprüche zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Brants Freydanck-Ausgabe auftauchen (Bl. Bv v–Bviv), ist die Situation völlig gewandelt: Ein knappes Jahrhundert kirchlicher Reformen geht voraus, gleichwohl liegen die Missstände insbesondere im Weltklerus und der römischen Papstkirche offen zutage. Und Freidanks Romsprüche passen jetzt wie neu auf die Situation in Brants Gegenwart. Einer der um 1500 aktuellen Kritikpunkte ist der enorme Finanzbedarf, ja die Geldgier der Kurie. Brants Freydanck-Ausgabe formuliert über die Kirche und ihre Vertreter: 63 Sie ruchent wer die schöflin schirt So nur die woll inen würt. (Bl. Bv v, vgl. Freidank 153,11f.)

An den Rand hat Brant ein Ezechiel-Zitat mit Nachweis gesetzt: Ve pastoribus Israel qui pascunt semet ipsos. Ezech.34. »Wehe über die Hirten Israels, die sich selbst weiden« (Ez 34,8).64 Auch der Freidankvers Rom ist ein haupt der cristenheit ist mit einer Notiz am Rand hervorgehoben. Das Bild von den Hirten, die nur an sich selbst denken, wird auf der Ebene der Marginalnotate weitergeführt. Zu den romkritischen Freydanck-Versen Das gelt das sie da selben halten / Das muoß glück vnd sein muoter walten (Bl. Bv v, vgl. Freidank 148,10f.) wird eine weit verbreitete romfeindliche Sentenz ergänzt, die bereits das 12. Jahrhundert als gängige Münze kennt und die die Bildlichkeit von Hirte und Herde/Schaf aufnimmt: Curia romana non poscit ovem sine lana (»Die römische Kurie will kein Schaf ohne Wolle«).65 Und schließlich noch ein drittes Beispiel. Im Kapitel Von nutz der messen (Bl. Ciiv/ Ciiir) ist auch von der Allmacht Gottes die Rede, dessen Größe in einen Vergleich mit der Sonne gestellt wird: So ist der sonnen schein ouch wyt Ir lieht schein allen dingen geyt. Vnd hat sie doch dest minder nit Das alle die welt davon gesicht. (Bl. Ciiv, vgl. Freidank 14,2–5)

Dem sind zwei Notate beigegeben, zum einen eine Sentenz aus dem Ecclesiasticus Quid lucidius sole Ecci.17 (Sir 17,30a), zum anderen die Eingangssentenz aus dem Liber parabolarum des Alanus ab Insulis: A phebo phebe lumen capit. Alanus (»Von der 62

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Freidank 148,4–154,17; siehe zur lateinischen Kirchenkritik Schüppert, Helga, Kirchenkritik in der lateinischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1972 (Medium Aevum 23). Freidank 153,11f.; zum Motiv in der lateinischen Lyrik vgl. Schüppert, Kirchenkritik [Anm. 62], S. 153–159, mit zahlreichen Parallelen. Siehe zur Verwendung biblischer Bildformeln in der Kirchenkritik Schüppert, Kirchenkritik [Anm. 62], S. 140–184; zum Bild von Hirt und Herde hier S. 153–159. Siehe zum Zusammenhang und zur internationalen Verbreitung dieses Verses im europäischen Mittelalter Schüppert, Kirchenkritik [Anm. 62], S. 156f., mit zahlreichen Belegen, u.a. aus den Carmina Burana, z.B. CB 45, II.

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Sonne [phebo] nimmt der Mond [phebe] sein Licht«).66 Sie gelten nur dem Wort sol, weiten aber den Blick über das aktuelle Anliegen des Freidank-Zitats hinaus in die Welt der auf Bibel und Autoritäten gegründeten Bildung. Die Marginalnotate zum Freydanck beschränken sich, wie Barbara Leupold festgestellt hat, im Wesentlichen auf Verweise auf die Bibel, erheblich geringer seien die Stellenangaben zu den römischen Klassikern, hin und wieder tauche auch eine lateinische sprichwörtliche Wendung auf. Zu ergänzen wäre, dass das von Brant zitierte Spruchgut sich vielfach schon in mittelalterlichen Florilegien nachweisen lässt. Zu seinen Marginalnotaten äußert sich Brant eigens am Schluss der FreydanckAusgabe in seiner Additio ad fridank. Hätte er alle Verse glossieren wollen, hätte er sie leicht mit Zitaten aus der Literatur (poeten), dem Recht und der Bibel ausstatten können. Wer mehr suchen wolle, finde das alles im »Narrenschiff«, wo man Weise und Toren gleichermaßen treffe. Halt das o guter frundt darfür Wer das fürnämen gesyn in mir Das ich all rymen wolt glosieren, Mit concordantzen corrigieren, Ich wolt bald haben getzogen har Poeten. Recht, und bybel gar. Aber es ist hie mit genuog Wer mer will suchen, hat gut fuog: Er fyndt das yn dem narren schiff, Da ich weiße und thoren triff.67

Man würde meinen, Brant habe mit seiner Freydanck-Ausgabe einen sonst dem Vergessen anheimfallenden Text allgemeiner Lebenshilfe für den Laien bereitstellen wollen. Das trifft freilich nur bedingt zu, wie die Marginalnotate zeigen. Sie eröffnen normative Horizonte, die eindeutig auf die Verstehensbedingungen des in der lateinischen Kultur der Zeit Gebildeten bezogen waren. Ich möchte das auch auf die zahlreichen Bibelstellen-Belege beziehen, die dort, wo sie zitieren, den Wortlaut der Vulgata aufgreifen, aber nie übersetzen, also keineswegs auf den bibellesenden Schuhmacher ausgerichtet sind, wie ihn Hans Sachs wenig später in einem seiner Reformationsdialoge programmatisch vorführt.

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Text: Patrologia Latina 210, Sp. 581–594, hier Sp. 581. Die Sentenzensammlung Liber parabolarum ist als lehrhafter Schultext im Mittelalter ungemein weit, auch im Buchdruck, verbreitet gewesen und dürfte Brant aus seiner Schullektüre bekannt gewesen sein; siehe Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte [Anm. 54], S. 215–217. Auch abgedruckt bei Wilhelmi (Hrsg.), Brant, Kleine Texte [Anm. 41], Bd. 1.2., Nr. 422, S. 558, danach das Zitat.

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V. Unser letztes Beispiel gilt einem Fall, in dem sich moralische und sprachlich-philologische Normvorstellungen zu widersprechen scheinen. Im Jahr 1502 bringt Brant in Straßburg bei Johannes Grüninger eine große Ausgabe der Werke Vergils heraus.68 Den Autor und sein Werk dürfte Brant bereits in seiner Schulzeit studiert haben. Und so ist es keineswegs erstaunlich, dass er sein Narrenschiff mit der Reimpaarbearbeitung des Vir bonus beschließt, eines Gedichts aus der Appendix Vergiliana.69 Der in Brants Vergil-Ausgabe erkennbare Sammlungstyp ist in seinen Grundzügen bereits in der Handschriftentradition des Mittelalters angelegt.70 Er umfasst zunächst die drei Hauptwerke der Eclogae, Georgica und Aeneis. Im 15. Jahrhundert hängen die Drucke des Vergil-Œuvre – die Einzelausgaben übergehe ich hier – der Aeneis noch ein 13. Buch als Supplement an, in dem die Handlung gewissermaßen ›komplettiert‹ und die Hochzeit von Aeneas und Lavinia, die Gründung der Stadt Lavinium bis zur Apotheose des Aeneas erzählt wird. Ihr Verfasser ist der Humanist Maffeo Vegio (1407 – um 1458).71 Die Vergil-Werkausgaben der Frühdruckzeit werden weiterhin ergänzt durch die Gedichte der Appendix Vergiliana sowie weitere in der Überlieferungstradition dem Werk Vergils angelagerte poetische Texte, darunter auch eine Sammlung von Carmina Priapea, um die es im Folgenden gehen soll.72 68

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Schneider, Bernd, ›Virgilius pictus‹ – Sebastian Brants illustrierte Vergilausgabe von 1502 und ihre Nachwirkung. Ein Beitrag zur Vergilrezeption im deutschen Humanismus, in: Wolfenbütteler Beiträge, 6/1984, S. 202–262 (mit zahlreichen Abbildungen aus dieser Ausgabe). Eine Ausgabe sämtlicher Holzschnitte zur Aeneis bietet: Lemmer, Manfred (Hrsg.), Vergil, Aeneis, übersetzt von Johannes Götte. Mit 136 Holzschnitten der 1502 in Straßburg erschienenen Ausgabe, München 1979. Siehe jetzt auch Suerbaum, Werner, Handbuch der illustrierten Vergilausgaben 1502–1840. Geschichte, Typologie, Zyklen und kommentierter Katalog der Holzschnitte und Kupferstiche zur ›Aeneis‹ in alten Drucken, Hildesheim 2008. Lemmer, Manfred (Hrsg.), Brant, Sebastian, Das Narrenschiff, 4., erweiterte Aufl. Tübingen 2004, c. 112. Siehe auch Knape (Hrsg.), Brant, Das Narrenschiff [Anm. 16], S. 508–510. Zu weiteren Vergil-Reminiszenzen vgl. Zarncke (Hrsg.), Brant, Narrenschiff [Anm. 48], Register S. 483. Die Vergil-Überlieferung des Hochmittelalters ist dokumentiert von Munk Olsen, Birger, L’ étude des auteurs classiques latins aux XIe et XIIe siècles, Bd. 2, Paris 1985, S. 673–826. Die Inkunabeldrucke verzeichnen Davies, Martin / Goldfinch, John, Vergil. A Census of Printed Editions 1469–1500, London 1992 (Occasional Papers of the Bibliographical Society 7). Einige solcher Ausgaben sind näher beschrieben von Schneider, Bernd, Vergil. Handschriften und Drucke der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel 1982, S. 61–72. Der Text dieses XIII. Buchs ist ediert: Das Aeneissupplement des Maffeo Vegio, eingeleitet, nach den Handschriften hrsg., übersetzt und mit einem Index versehen von Bernd Schneider, Weinheim 1985. Zu den umfassenderen literaturgeschichtlichen Bezügen, in denen diese Fortsetzung steht, vgl. Schmidt, Paul Gerhardt, Supplemente lateinischer Prosa in der Neuzeit. Rekonstruktionen zu lateinischen Autoren von der Renaissance bis zur Aufklärung, Göttingen 1964 (Hypomnemata 5). So bietet die große Vergil-Ausgabe von Anton Koberger: Nürnberg 1492 (BMC II, 463;

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Gedichte, die Priapus, dem Gott der Gärten, der animalischen und vegetabilen Fruchtbarkeit und dem Beschützer vor Übel, insbesondere vor Dieben, gewidmet sind, gibt es in der griechischen und römischen Antike in größerer Zahl: Catull, Juvenal, vor allem Martial sind als Priapeendichter bekannt, und auch die Appendix Vergiliana überliefert drei kurze Texte dieser Art.73 Dazu kommt eine anonyme Sammlung von 80 kleinen, epigrammartigen Gedichten, die, als Corpus überliefert, wohl im 2./3. Jahrhundert entstanden sind. Dem Mittelalter war Priapus aus unterschiedlichen Quellen bekannt, zum einen aus dem Vergilkommentar des Servius,74 zum anderen aus dem sog. Mythographus Vaticanus II, einem mythologischen Handbuch, das relativ weit verbreitet war und noch in elf Handschriften erhalten ist.75 Die heute fassbare Überlieferungsgeschichte des Corpus Priapeorum beginnt erst im 14. Jahrhundert mit der frühesten und besten Handschrift, einem Autograph des Boccaccio (Cod. 33.31 der Biblioteca Laurenziana, Florenz).76 Brant entwirft für den Abdruck der Carmina Priapea einen detailreichen Holzschnitt, lässt jedoch nur die ersten beiden Gedichte abdrucken und begründet die Unterdrückung des Rests in einer ausführlichen Rechtfertigung, einer – so die Überschrift – Expurgatio Sebastiani Brant, cur Priapeiam imprimi prohibuerit (s. Abb. 6 im Anhang). Der nahezu blattbreite Holzschnitt zeigt den Garten des Priapus, in der Mitte auf einer Säule der Gott selbst, durch die über seinem Haupt stehende Beischrift PRIAPVS benannt, in der Rechten eine Sichel, mit der Linken seine Blöße züchtig mit einem übergroßen Zweige bedeckend. Zur Ausstattung des Gartens gehören Weinstöcke im Vordergrund, eine Quelle und Obstbäume. Unter dem Holzschnitt, nach der an die akademische Jugend gerichteten Überschrift Ad cunctos probe

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Copinger 6070) eine die ganze Ausgabe durchziehende Blattzählung und das komplette Corpus der Carmina Priapea auf Bl. 321ra–323vb (benutztes Exemplar: Zürich, ZentralBibliothek, G.II.47). Clausen, Wendell V. u.a. (Hrsg.), Appendix Vergiliana, Oxford 1966, S. 131–135. Thilo, Georgius (Hrsg.), Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii Bucolica et Georgica Commentarii, Leipzig 1887 (Nachdruck Hildesheim 1961), S. 328, zu Georgica 4,111. Kulcsár, Péter (Hrsg.), Mythographi Vaticani I et II, Turnhout 1987 (Corpus Christianorum Series Latina XCIc), hier Mythographus II, 49, S. 133f., wo von Priapus gesagt wird: propter virilis membri magnitudinem post in numerum deorum receptus meruit esse numen hortorum (ebd. c. 49, 3f.). Eine Reihe von Handschriften, z.T. mit Ovids Carmina amatoria zusammengestellt, bietet der Katalog von Bernd Schneider, Vergil [Anm. 71], S. 51–54. – Das gesamte Corpus der 80 Gedichte liegt in der folgenden Ausgabe vor: Cazzaniga, Ignazio (Hrsg.), Carmina ludicra Romanorum. Pervigilium Veneris – Priapea, Torino 1959. Für einen einzigen Verfasser dieser Gedichte und für die Spätdatierung der Sammlung ins 2./3. Jahrhundert n. Chr. plädiert Buchheit, Vinzenz, Studien zum Corpus Priapeorum, München 1962 (Zetemata 28). – Eine reichhaltige Sammlung priapeischer Gedichte und Inschriften, die auch die griechische Überlieferung einbezieht, bietet die Ausgabe: Carmina Priapea – Gedichte an den Gartengott, ausgewählt und erläutert von Bernhard Kytzler, übersetzt von Carl Fischer, Zürich, München 1978; das (lateinische) Corpus Priapeorum findet sich hier S. 104–155.

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indolis adolescentes […], steht der Beginn von Brants Ausführungen, die sich auf der folgenden Seite fortsetzen und deren Tendenz Brant abschließend in 11 eigenen Distichen bündelt.77 Brant überschreibt seine Stellungnahme zum Ausschluss der Priapea als Rechtfertigung, Expurgatio.78 Und er richtet sie nicht an den gebildeten Leser seiner Zeit, sondern – vorgeblich – an die moralisch unverdorbene (adulescentes probe indolis, 1) Jugend, die er in der Überschrift als adulescentes anredet, eingangs auch im Singular: candide puer, und die er poetisch als sancta iuventus, pueri, iuvenes bezeichnet (im abschließenden Gedicht V. 1, 6, 7). Brant gibt in dem folgenden Prosaabschnitt seiner Expurgatio die Gründe an, warum er den Druckern untersagt habe, die bereits begonnenen Carmina Priapea weiterzudrucken. Das sei geschehen – aus überaus kluger Absicht (consultissimo consilio), denn weder die Vertreter exemplarisch-standhafter Keuschheit, Hippolytus noch Bellerophon, noch Vergil selbst, käme er aus der Unterwelt herauf, würden so etwas lesen (2). – Wenn es um gutes Latein gehe, um eleganten Stil und rhetorische Formung, um nützlichen Wortschatz, so finde man Tausende geeigneter und wiederholter Lektüre würdiger Autoren, die diesen Ansprüchen mehr als genügen würden (4). – Überhaupt sei solch ein schmutziges Werk, wie die Carmina Priapea es sind, niemals aus der moralisch höchst integren Schmiede der Dichtkunst (officina) eines Vergil hervorgegangen (6). – Vergil sei nämlich nach dem Zeugnis seines spätantiken Kommentators Servius in Lebensführung, Sprache und Gesinnung so rechtschaffen, dass er der Keusche (virginalis) genannt werde (8).79 Sooft er in seinem Werk die eheliche Liebe erwähne, habe er das so schamvoll getan, dass selbst Jungfrauen, ohne zu erröten (sine erubescentia), dies lesen und hören könnten (9).

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Über den Holzschnitt, die Expurgatio und deren Verhältnis zueinander äußere ich mich in einem eigenen Beitrag ausführlicher; dort werden der Text von Expurgatio und folgendem Gedicht ebenfalls abgedruckt; siehe Henkel, Nikolaus, Die Carmina Priapea in Sebastian Brants Vergil-Ausgabe (1502). Strategien einer angeleiteten Kommunikation. Mit einem Anhang: Die Sammlung der Vergil-Epitaphien der Straßburger Ausgabe, in: Bergdolt, Klaus [u.a.] (Hrsg.), Sebastian Brant und die Kommunikationskultur um 1500, Wiesbaden 2010 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 26), S. 131–172 Den Text gebe ich im Anhang wieder; auf die dortige Paragraphen- bzw. Verszählung beziehen sich die Verweise. So von Servius in der Einleitung des Aeneis-Kommentars tradiert, wo er über Vergil sagt: adeo autem verecundissimus fuit, ut ex moribus cognomen accepit; nam dictus est Parthenias (Thilo, Georgius / Hagen, Hermannus (Hrsg.), Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii Carmina Commentarii, Bd. 1, Leipzig 1881 [Nachdruck Hildesheim 1961], S. 1,6f.). Offenbar der leichteren Verständlichkeit wegen gibt Brant, über Servius hinausgehend, das griechische Parthenias mit virginalis wieder.

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– Der Jugend dürfe man solche Texte nicht zumuten, sondern nur moralisch unbedingt integre; wenn möglich, so rät er, solle sie die christlichen Dichter lesen und hören (16). Soweit Brants Expurgatio, der noch ein Gedicht angehängt ist, das die Aussagen der Prosa bündelt und in dem Ausruf gipfelt: Besser wäre es, die Priapea zu verbrennen, als dass sie den Knaben gegeben oder öffentlich gelesen werden. »Verachtet den erschreckend unmoralischen Priapus!«, ruft Brant entrüstet den Knaben zu (V. 9f.), »Ein Verderber der Jugend ist er“ (V. 13–15). »Cato hätte ihn und sein Werk aus Rom vertrieben, Plato mit ewiger Verbannung belegt« (V. 17f.). Brants Argumente gegen den Abdruck der Carmina Priapea liegen auf mehreren Ebenen: zum einen ist es die sprachliche Korrektheit und Reinheit der Latinität, um die es ihm geht, zum anderen die moralische Integrität der Jugend – und nur sie ist angesprochen –, die durch die Lektüre der erotisch-obszönen Dichtungen gefährdet sei: Brant also als Sprachpurist und Moralist? Der Holzschnitt, den er dazu entworfen hat, scheint dem Rechnung zu tragen: ein Hortus conclusus, den der Gartengott von hoher Säule herab bewacht, seine entsprechende Körpergegend – wie Adam und Eva auf zeitgenössischen Darstellungen – schamhaft mit einem ausladenden Zweig bedeckend. Im Garten selbst herrscht einiges Leben: Ein altes Weib am Krückstock deutet auf den – bedeckten – Säulenheiligen, eine Gruppe junger Frauen unterhält sich, Knaben lesen Äpfel vom Boden auf, andere steigen weiter hinten links über den Zaun; alles friedlich, alles – an den Normen der Moral gemessen – unverdächtig. Dieser Eindruck trügt indes. Zwar lässt Brant die Gedichte bis auf die beiden moralisch nicht zu beanstandenden Prologtexte nicht abdrucken, doch hat schon Bernd Schneider erkannt, dass einzelne Elemente aus den Gedichten des Corpus Priapeorum, die Brant nicht abdruckt, im Holzschnitt sehr wohl zu finden sind.80 Man könnte direkt von einem picturalen Intertext sprechen. Der Bestand an solchen Anspielungen auf die hier unterdrückten Texte ist jedoch wesentlich umfangreicher, und es fragt sich, welche Strategie dahinter steckt und was Brant damit beabsichtigt haben könnte. Dieser Frage wollen wir uns nun zuwenden. Der Anstoß, die auf den ersten Blick unverdächtige Darstellung ländlichen Lebens, wie es der Holzschnitt zeigt, einer zweiten ›Lektüre‹ zu unterziehen, geht zweifellos von der Darstellung des Esels aus (Abb. 4). So ›normal‹ sie auch jedem sein mag, der mit dem Landleben vertraut ist, hier im Bild ist sie nicht recht motiviert. Schneider hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der geile Esel (salax asellus), zudem mit dem großen Glied (mutuniatus), als Beispiel unerschöpflicher Geilheit in den Carmina Priapea ganz markant ins Wort gebracht wird.81

80 81

Schneider, ›Virgilius pictus‹ [Anm. 68], S. 223f. In carm. 52, V. 9f.; siehe dazu Schneider, ›Virgilius pictus‹ [Anm. 68], S. 223.

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Abb. 4: Priapus-Holzschnitt (Detail) aus der Vergilausgabe, Straßburg: Johannes Grüninger, 1502, Anhang f. XIIIr

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Doch damit ist nur der Anfang einer Sequenz von Allusionen gesetzt, die sich auf andere erotisch-obszöne Details in den – von Brant ja nicht abgedruckten – Carmina Priapea beziehen. Schon der Zweig, mit dem der Gott sich bedeckt, verweist den Kenner auf eine pikante Stelle in den Carmina Priapea: Die Tochter des Alkinoos, die mädchenhafte Nausikaa, wundert sich, dass das Glied des Gottes kaum mit einem Zweig bedeckt werden kann: et Alcinoi mirata est filia membrum / frondenti ramo vix potuisse tegi (carm. 68, V. 25f.). Dass Priapus Wächter des Obstgartens (pomarium) ist, belegen die Texte des Corpus Priapeorum mehrfach.82 Und bäuerisch-ungebildet wie er in seiner Obszönität ist, kann er von sich sagen: »Bücher lese ich nicht, ich lese Äpfel (auf)« – libros non lego, poma lego (carm. 78, V. 2). Dieben, die, wie auf dem Holzschnitt hinten links zu sehen, heimlich in den Garten des Gottes eindringen, werden drastisch-obszöne Strafen angedroht.83 So unverdächtig die Äpfel suchenden Knaben im Holzschnitt sind, sie verweisen auf carm. 5, wo Priapus einem Knaben erlaubt, sich zu nehmen, was sein Garten biete, doch dafür fordert, dass auch der Knabe dem Gott gewähren müsse, was s e i n (des Knaben) »Garten« biete.84 Und Äpfel als Weihegaben, wie der Holzschnitt sie am Fuß der Statuensäule niedergelegt zeigt, sind mehrfach in den Gedichten erwähnt, so carm. 16, carm. 21 oder carm. 60. In der sich auf den Stock stützenden Alten (Abb. 4) steckt die in carm. 12 verspottete alte Hexe, die sich schwankenden Schritts dem Gott naht und ihn mit runzlicht erhobener Hand um sexuelle Erhörung anfleht.85 Die Gruppe Frauen (Matronen und Mädchen) im Vordergrund bezieht sich auf die keuschen Frauen (matronae castae) in carm. 8, denen der Gott rät wegzugehen, die aber viel lieber das anschauen würden, was es an ihm zu sehen gibt: nimirum sapiunt, videntque magnam / matronae quoque mentulam libenter. Und ein Mädchen innerhalb der Gruppe, das ungeniert auf die Statue des Gottes schaut, findet sich in carm. 10. »Warum lacht sie?«, so sagt die Statue, »mich hat nicht Praxiteles, nicht Phidias gemacht«, dennoch lacht sie, weil sie eben die eine Sache interessiert, das Gemächt des Gottes: adstans inguinibus columna nostris (carm. 10, V. 8). Ist man durch solche auf die Texte verweisenden Anspielungen, die Brant in den Holzschnitt planmäßig eingelagert hat, aufmerksam geworden, dann bekommt auch die sechs Zeilen hohe Zierinitiale C auf f. XIIv, mit der das dem Holzschnitt vorangehende erste priapeische Gedicht eingeleitet ist (Carminis incompti lusus lecture procaces), ihre eigene Bedeutung (Abb. 5): In die Rundung des C ist ein Dudelsackpfeifer 82 83 84

85

So etwa carm. 24, carm. 44, carm. 61, carm. 67, carm. 71 und carm. 72. Vgl. etwa carm. 35, carm. 51f., carm. 55f., carm. 77 u.ö. Quod meus hortus habet sumas inpune licebit, / si dederis nobis quod tuus hortus habet (carm. 5, V. 3f.). Siehe auch zu den verschiedenen obszönen Strafen für den Obstdiebstahl carm. 24, carm. 44 und carm. 59. Vgl. zur Knabenliebe auch carm. 5, carm. 22 und carm. 67. Auf die Knabenliebe im Tausch für die Äpfel bezieht sich auch carm. 38, V. 3f.: pedicare volo, tu vis decerpere poma. / quod peto, si dederis, quod petis accipies. Von der Alten heißt es: Infirmo solet huc gradu venire / rugosasque manus ad astra tollens, / ne desit sibi mentula, rogare (carm. 12, V. 5–7).

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Abb. 5: Initiale C zu Beginn des ersten Priapus-Gedichts aus der Vergilausgabe, Straßburg 1502, Anhang f. XIIv

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gestellt. Sein Instrument, lat. utriculus, Diminutiv von uterus, weist in die gleiche erotische Sphäre, die auch Gegenstand des Priapus-Holzschnitts ist. Brant kannte nachweislich den Ausspruch Gregors des Großen, nach dem das Bild die litteratura laicorum sei. In seiner Widmung der Basler Ausgabe der Revelationes des Pseudo-Methodius verweist er eigens darauf und betont, er sehe es als seine Aufgabe an, die Aussage des Textes durch die Illustrationen zu unterstützen, damit die Botschaft des Textes vielen zugänglich werde.86 Im Fall der Carmina Priapea der Straßburger Vergilausgabe läuft Brants Strategie geradezu entgegengesetzt: Das Bild ist dem unbedarften Beschauer völlig unverdächtig, es unterstreicht sogar die moralische Absicht Brants, alles Anstößige auszuschalten, und zielt damit in die gleiche Richtung, in die Brants abwehrende Stellungnahme und die beigegebenen Distichen weisen. Dem Kenner aber, der das Corpus Priapeorum – früher oder in einer anderen Ausgabe – gelesen hat, dient der Holzschnitt dazu, einzelne Aussagen der Gedichte ins Gedächtnis zurückzurufen. Dass der Holzschnitt den Text um eine weitere Deutungsebene ergänzen kann, ist bei Brant auch sonst zu beobachten. Brants Expurgatio und der Holzschnitt, wenn er von einem kundigen Betrachter entschlüsselt wird, zeigen auf eine überraschende Weise, wie Brant moralische, auf die lernende Jugend bezogene Normvorstellungen und die Erwartungen eines gelehrten Publikums in Einklang zu bringen suchte.

VI. Schluss Der Normenhorizont, vor dem sich Brant, seine berufliche Tätigkeit und sein Werk profilieren, scheint für seine Zeit bezeichnend und für die Schicht der Intellektuellen um 1500 exemplarisch zu sein. Er wird bestimmt zum einen aus dem geltenden kirchlichen Recht, das sich nicht nur als zwingendes Recht (ius cogens) verstehen lässt, sondern eine metaphysische Anbindung als von Gott gesetzt besitzt und sich deshalb auch aus der Heiligen Schrift und der Lehre der Kirche herleitet. Zu Brants Zeit steht daneben das Römische Recht mit einer teilweise übereinstimmenden, teilweise ergänzenden Praxis der Normsetzung. Normative Denkformen und Setzungen werden aber auch, unabhängig vom Kanonischen Recht, durch die Bibel, insbesondere durch das Alte Testament, seine exemplarischen Figuren und lehrhaften Bücher, vermittelt. Als dritter Bereich werden schließlich die Texte der römischen und – in lateinischen Übersetzungen – auch der griechischen Antike als Thesaurus für Exempla und Sentenzen wirksam. Dass dieser Normhorizont eine weiterreichende, bis ins 18. Jahrhundert sich erstreckende Konstanz aufweist, erscheint dem gegenwärtigen Betrachter, der an zum Teil massive Veränderungen verbindlicher Normen gewöhnt ist, unge-

86

Abdruck in: Wilhelmi (Hrsg.), Brant, Kleine Texte [Anm. 41], Nr. 199, 3–11.

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wöhnlich. Und so ist Brant vielfach als ›konservativ‹ oder ›noch mittelalterlich gebunden‹ eingestuft worden. Das Konzept von Narrenschiff und Stultifera navis beruht auf der Annahme solch einer Konstanz der Normen, vor deren Horizont sich die Abweichungen als menschliches Fehlverhalten darstellen. Es genügt, so Brants Konzeption, die Einsicht und Selbsterkenntnis des Individuums, um wieder zu einem normgerechten Handeln innerhalb der menschlichen Gemeinschaft zurückzufinden. In den Marginalien zur Stultifera navis finden sich die Bezugspunkte anerkannter Normen notiert. Die Marginalien repräsentieren so etwas wie Denk- und Diskursräume, in denen sich Intellektuelle der Zeit bewegen konnten und aus denen sie die Kategorien der Bewertung menschlichen Handelns bezogen. Der lediglich in der Volkssprache akkulturierte Laie hatte zu diesen Denkräumen keinen eigenen Zutritt; er bedurfte der Wegbereitung und Vermittlung. Brants literarische und publizistische Tätigkeit zielte darauf ab, wenigstens die Wirkungsweise der Normen und die Folgen von Normverstößen ins Bewusstsein derer zu heben, die am lateinischsprachigen Bildungsfundus keinen Anteil hatten. Und damit unterscheidet sich Brant ganz markant von den meisten Intellektuellen vor der Reformation.

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Abb. 6: Priapus-Holzschnitt und Beginn der Expurgatio aus der Vergilausgabe, hrsg. von Sebastian Brant, Straßburg: Johannes Grüninger, 1502, Anhang f. XIIIr

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Anhang Ich gebe im Folgenden aus dem Anhang der Vergilausgabe, Straßburg 1502, Brants bislang unbekannte Expurgatio mit dem sich daran anschließenden resümierenden Gedicht, in dem Brant seine Ablehnung der Carmina Priapeia nochmals vorbringt. Dabei werden abweichend von der Vorlage die Namen großgeschrieben, die Abbreviaturen aufgelöst und eine Interpunktion zum besseren Textverständnis eingeführt. Anmerkungen in eckigen Klammern stammen von mir. Zur Orientierung nummeriere ich die Expurgatio satz- bzw. kolonweise und gebe den Gedichten eine Verszählung bei. [XIIIr] Expurgatio Seb[astiani] B[rant], cur Priapeiam imprimi prohibuerit (1) Ad cunctos probę indolis adolescentes expurgatio Sebastiani Brant, cur priapeiam praesenti operi non inseruerit, ceptaque impressoribus illius carmina compleri prohibuerit. (2) Ne arbitreris neve existimes, candide puer, abs re nos versus reliquos spurcissimę priapeię resecasse, fecimus quidem id consultissimo consilio, quippe quos nec Hyppolitus nec Bellorophontes nec Maro quoque ipse, si ab inferis emergeret, esset lecturus. (3) Posset quidem forte, si tan[XIIIrb]tum honestatis quantum latinitatis haberet, inter haud abiectae elegantię fragmenta, quod diximus opusculum reputari. (4) Verum enimvero si sermonis elegantia, si verborum ornatus, si vocabulorum utilitas, si quęratur latinitas, reperiuntur mille alii auctores idonei et relectione digni, qui satisfacere huic rei satis superque poterunt. (5) Neque ea quęratur latinitas, per quam fędatur probitas, coinquinatur castitas, collidetur honestas. (6) Atque ut paulo audacius loquar. id inprimis constanter, certoque [XIIIva] cercius asserere non formido (tametsi Servij ad hoc minus astipuletur opinio) ne utiquam tam foedum opus ex castissima Virgilij officina, sed ex spurcidica alicuius patici Othonis, tetricaque prodijsse voragine. (7) Atque ut conijcere licet, ex turpissimi nebulonis Catulli proluvie erupisse crediderim. (8) Nam fieri non potest, ut is Maro, qui (eodem Servio attestante) alioquin, et vita et ore et animo tam probus fuerit, ut Neapoli Parthenias, hoc est virginalis, appellaretur vulgo, (9) quique quotiens cunctis in operibus suis de venere etiam coniugali mentio intercidit, tam verecunde tamen, tam pudice, tamque decenter rem edisserit, ut et virgines ipsas (modo absit improbus interpres) illud sine aliqua etiam erubescentia et legere et audire possint, (10) in tam perversum et reprobum sensum pervenerit, tantam ignominiam et labem in gloriam suam posuerit, ut abominabile istud, latrinisque et ganeonibus idoneum opus Priapeię edidisse, existimari possit, aut debeat. (11) Cuiusquidem sanctissimi Maronis gloria (auctore Macrobio) hęc est, ut nullius laudibus crescat, nullius vituperatione minuatur. (12) At dixerit mihi quispiam, unde hęc nova incessit religio? (13) Num veteres Priapeiam Virgilianis codicibus inesse vetuerunt? (14) Num Iuvenalis, Marcialis coquus, Catullus, Tibullus ac plerique alii poete ob id veniunt refutandi eliminandive, quia obscęna nonnunquam ponunt verba? (15) Quibus ego ingenue respondere possem, nisi longius (quam volebam) me digressurum vererer. (16) Neque tamen interea pueris

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quemquam horum tam pudendorum carminum auctorem, sed castissimos quosque, et si fieri potest, christianos poetas legendos audiendosque suademus. (17) Et ut est apud divum Augustinum nostrum in eo, quem ›De civitate Dei‹ pręscripsit librum, Virgilium propterea parvuli legant, ut videlicet poeta magnus, omniumque praeclarissimus et optimus, teneris ebibitus annis, non facile oblivione possit aboleri, secundum illud Horatii [epist. 1,2,69f.]: Quo semel est imbuta recens servabit odorem testa diu. (18) Ne igitur detestandus teterque ille et grave olens Priapeię fetor puerorum animis officiat, eorum cordibus imbibatur, mentibus inhęreat:

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Parcimus idcirco tibi enim, tibi sancta iuventus Et tenerae aetati moribus atque bonis, Unde priapeiam resecatam a codice nostro Faedam abolere iuvat, iussimus esse procul. Dignius hoc flammis et edaci opus igne cremandum, Quam pueris tradi, publicitusve legi. Expedit, o iuvenes, verba haec nescisse profecto, Quae nebulo ille procax spurcidico ore vomit. Incaestum, impurum, tetrum, horrendumque Priapum Spernite, deserite, linquite, projicite.87 Ille pudicitię contrarius, aemulus hostis, Moribus et castis ille inimicus atrox. Nil sanctum dignumve legi reperitis in illo, Nil quod non superis displiceatque bonis. Quis nisi corruptor iuvenum, ganeo aut halophanta Non dedignetur hoc legere improbum opus? Hoc Cato damnasset doctus,88 pepulisset ab urbe Hoc Plato perpetuo dignum opus exilio. Ipse ego me puerum memini legisse profanum, Atque heu peiorem redditum ab inde gemo. Parce igitur quisquis opere isto forte Priapum Quaeris, non placuit hunc posuisse. Vale.

Der Druck hat hier porrijcite, was keinen Sinn ergibt, aber in keinem der mir bekannten Exemplare korrigiert ist. Mein Vorschlag: horrendum Priapum […] projicite, »werft den schrecklichen Priapus hinaus / verbannt ihn«, kommt mit minimalem Emendationsaufwand aus. Werner Suerbaum, München, schlägt vor, das Komma vor doctus zu setzen, was doctus […] Plato ergeben würde.

I.

Zur literarischen Vermittlung von Normativität in weltlichen und geistlichen Texten des deutschsprachigen Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Silvia Reuvekamp (Düsseldorf)

des gît gewisse lêre / künec Artûs der guote Zur Thematisierung und Funktionalisierung des Normativen in der Figurenpoetik des höfischen Romans

Es scheint nahezuliegen, den höfischen Roman und sein Konstrukt einer auf den ersten Blick vermeintlich homogenen Hofgesellschaft, die sich über gemeinsame Wertvorstellungen und Verhaltensweisen konstituiert, mit der Kategorie des Normativen in Verbindung zu bringen. Schon viele der für das Verständnis der Texte maßgeblichen Prologe verdichten in ihren sentenziösen Eingangswendungen wertbezogene Begriffe wie güete, sælde, sælecheit, genâde, êre, vuoge und andere mehr. Obwohl eine Konkretisierung dieser Begriffe ausbleibt, suggeriert der appellative Gestus solcher Wendungen oft nicht nur einen Orientierungswert für das Verständnis der gezeichneten literarischen Welt, sondern darüber hinaus auch für die Lebenswelt der Rezipienten, zumal diese in einigen Romanen direkt oder indirekt aufgefordert werden, ihr Handeln an den postulierten Werten oder dem Verhalten der literarischen Figuren auszurichten. Versteht man Normativität im höfischen Roman in diesem Sinne als einen Anspruch, der auf die Ausbildung von Verhaltensrepertoires zielt, Handlungsreglementierungen vorgibt oder Erwartungshaltungen an soziales Handeln formuliert, dann ist eine solche Unternehmung zwangsläufig darauf angewiesen, das Verhältnis von literarischem Entwurf und gesellschaftlicher Realität zu konkretisieren. Gerade hier stoßen aber die unterschiedlichen, methodischen und theoretischen Zugängen verpflichteten Versuche der Forschung, den normativen Gehalt mittelalterlicher Literatur zu erfassen, an ihre Grenzen.1 Dies gilt insbesondere für solche funktions- und sozialgeschichtlich orientierte Analysen, die in einer der Realität adeliger Lebensführung gegenübergestellten idealisierten Erzählwelt den Versuch erkennen, ein neues Gesellschaftsideal zu vermitteln, dessen ethische Implikationen wie die daraus abgeleiteten Handlungsnormen unmittelbar auf das Publikum gewirkt oder doch zumindest mittelbar als Anspruch oder Utopie gesellschaftliche Relevanz und Verbindlich-

1

Darauf hat v.a. Ursula Peters in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Forschungsparadigmen aufmerksam gemacht. Vgl. insbesondere: Peters, Ursula, Text und Kontext. Die Mittelalter-Philologie zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturanthropologie, Wiesbaden 2000 (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 365), wieder in: Bürkle, Susanne / Deutsch, Lorenz / Reuvekamp-Felber, Timo (Hrsg.), Ursula Peters, Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft. Aufsätze 1973–2000, Tübingen, Basel 2004, S. 301–334.

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keit besessen hätten. Dies gilt aber ebenso für solche mentalitätsgeschichtlich oder historisch-anthropologisch ausgerichtete Untersuchungen, welche die in den Texten thematisierten Verhaltensdispositionen, Einstellungen und Handlungsnormen als gedachte Ordnungen in den Blick nehmen, die indirekt Aufschluss darüber geben sollen, wie Menschen Realität imaginiert, gewünscht oder bewältigt hätten. Immer wieder stellt sich das Problem, dass die sehr verschiedenen Formen der Thematisierung und Funktionalisierung von normativem Wissen in literarischen Texten nur auf einer sehr abstrakten Ebene mit Vorgängen oder Entwicklungen in der Realität in Verbindung zu bringen sind. So hat die Forschung zwar konstatiert, dass Themen wie z.B. Affektkontrolle, Gewaltverzicht oder aber auch der Dienstgedanke in Realität wie Literatur eine erhebliche Bedeutung zukommt, doch werden gerade solche Gegenstände in den Texten so heterogen modelliert, dass es im Einzelfall schwierig ist, eine Norm setzende oder gesellschaftliche Verbindlichkeit beanspruchende Absicht zu erkennen. Deswegen sollte es zunächst das primäre Ziel sein, die Thematisierung normativen Wissens im höfischen Roman in ihrer Differenzqualität zu stärker normativen Diskursen etwa aus dem Bereich des Rechts oder der Theologie zu erfassen, die anders als literarische Texte Verhaltensentwürfe konkret diskutieren oder Handlungsreglementierung unmittelbar formulieren. Erst genauere Aufschlüsse über die poetischen Techniken im Umgang mit diesem Wissen können dann den Weg für funktionsgeschichtliche Überlegungen ebnen. Besonders dringlich stellt sich die Aufgabe, den Status des Normativen im Hinblick auf eine Poetik des höfischen Romans genauer zu bestimmen, meines Erachtens für den Bereich der literarischen Figurendarstellung.2 In Abgrenzung zu modernen, psychologisch komplexen Figurenentwürfen werden die Figuren mittelalterlicher Erzählliteratur von der Forschung gemeinhin nicht als Vorstellungsbilder imaginärer 2

Während viele Aspekte der Poetik narrativer Texte des Mittelalters inzwischen als relativ gut erforscht gelten können (Erzählerfigurationen, Erzählführung, Handlungsstrukturen, Bauform und Gliederung von Texten, Zeit- und Raumdarstellung, poetologische Exkurse, intertextuelle Verknüpfungstechniken), hat sich die germanistische Mediävistik bisher vergleichsweise wenig mit der Technik der Figurendarstellung beschäftigt, der Frage also, wie literarische Figuren sprachlich generiert werden. So fehlt bis heute nicht nur eine Verständigung über die wesentlichen Beschreibungskriterien, die es ermöglichen, Besonderheiten mittelalterlicher Figurendarstellung zu explizieren, sondern es fehlt als Grundlage dafür eine Forschungsdiskussion, die eine solche Verständigung vorbereiten könnte. Entsprechend bleiben wertvolle Beobachtungen zum Thema bisher zumeist in Spezialdiskussionen zu einzelnen Figuren, Texten, methodischen Fragestellungen, interpretatorischen Problemen oder geistesgeschichtlichen Grundlagen stecken und werden zu selten für grundsätzliche Fragen zur Poetik der Texte geöffnet. Einen wichtigen Anstoß für eine methodische Neuorientierung und eine forschungskritische Bilanzierung bietet Huber, Christoph, Brüchige Figur. Zur Konstruktion der Partonopier-Gestalt bei Konrad von Würzburg, in: Meyer, Matthias / Schiewer, Hans-Jochen (Hrsg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 283–308.

Zur Thematisierung des Normativen in der Figurenpoetik des höfischen Romans

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Personen verstanden, sondern als Handlungsträger, welche die den Texten eingeschriebenen Normen und Werte verkörpern bzw. in Form von Konflikt oder Diskussion dynamisieren. So wichtig eine auf die Alterität mittelalterlicher Literatur insistierende Abgrenzung von modernen Darstellungsmodi im Bereich der Figurendarstellung auch ist, so problematisch erscheint vor dem Hintergrund der vorhin skizzierten methodischen Probleme eine reduzierte Betrachtung literarischer Figuren als Medien der Vermittlung oder Diskussion von Verhaltensentwürfen, die immer Gefahr läuft, z.B. in der Orientierung an binären Oppositionen wie Vorbildlichkeit und Defizienz, der spezifischen Komplexität mittelalterlicher Figurendarstellung nicht gerecht zu werden. Verdeutlichen mag dies die Forschungskontroverse um die Darstellung des Königs Artus in Hartmanns Iwein3 : In Anlehnung an die Aussagen des Prologs wurde hier die Figurenhandlung an Vorstellungen vorbildlicher Herrschaft gemessen und moralisch bzw. politisch bewertet mit dem Ziel, entweder das Verhalten des Königs zu rechtfertigen und ihn als Garant der höfischen Ordnung zu verstehen oder aber seine Defizite zu markieren und so seine Herrschaftsausübung zu problematisieren.4 Die Widersprüche, die die eine wie die andere Argumentationsrichtung hervorgebracht haben, zeigen, dass die leitende Frage falsch gestellt ist: Die scheinbar unangemessenen Widersprüche lassen sich nicht für eine moralische Wertung der Figuren instrumentalisieren, sondern müssen erst einmal als eine für den höfischen Roman konstitutive Form der Komplexitätserzeugung im Bereich der Figurenpoetik verstanden werden.

3 4

Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hrsg. von G[eorg] F[riedrich] Benecke und K[arl] Lachmann, neu bearb. von Ludwig Wolff, siebente Ausgabe, Berlin 1968. Vgl. Pütz, Horst Peter, Artus-Kritik in Hartmanns ›Iwein‹, in: GRM, N.F. 22/1972, S. 193– 197; Gürttler, Karin Renate, ›Künec Artûs der guote‹. Das Artusbild in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, Bonn 1976 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 52); Brandt, Wolfgang, Die Entführungsepisode in Hartmanns ›Iwein‹, in: ZfdPh, 99/1980, S. 321–354; Dicke, Gerd, ›Gouch Gandîn‹. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von ›Rotte und Harfe‹ im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, in: ZfdA, 127/1988, S. 121–148; Mentzel-Reuters, Arno, ›Vröude‹. Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin als Verteidigung des höfischen Lebensideals, Frankfurt/M. u.a. 1989 (Europäische Hochschulschriften, I, 1134); Schirok, Bernd, ›Artûs der meienbaere man‹. Zum Stellenwert der ›Artuskritik‹ im klassischen deutschen Artusroman, in: Schnell, Rüdiger (Hrsg.), ›Gotes und der werlde hulde‹. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag, Bern, Stuttgart 1989, S. 58–81; Grubmüller, Klaus, Der Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entführung, in: Haug, Walter / Wachinger, Burghart (Hrsg.), Positionen des Romans im späten Mittelalter, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), S. 1–20; Kugler, Hartmut, Fenster zum Hof. Zur Binnenerzählung von der Entführung der Königin in Hartmanns ›Iwein‹, in: Haferland, Harald / Mecklenburg, Michael (Hrsg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996, S. 115–124.

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In diesem Sinne möchte ich im Folgenden danach fragen, wie kulturell geprägte Verhaltensmuster oder -entwürfe Eingang in die Figurendarstellung des höfischen Romans finden, d.h. welche poetischen Techniken den literarischen Umgang mit normativem Wissen ausmachen und welcher Status dem Normativen damit im Bereich der Figurenpoetik zukommt. Ausgehen möchte ich dabei zunächst von Enites Totenklage und der Oringles-Episode, einer Handlungssequenz aus Hartmanns Erec, die neben einer Vielzahl literarischer Bezüge besonders dicht auf biblisch-religiöse Motive und theologisches Wissen rekurriert und sich scholastischer wie juristischer Argumentationsmuster bedient.5 Das Augenmerk der Szene liegt auf Enites Festhalten an ihrer bedingungslosen Liebe zu Erec auch über dessen Tod hinaus, dem daraus abgeleiteten Entschluss, sich selbst das Leben zu nehmen, sowie ihrer hartnäckigen Weigerung, den Tröstungsversuchen und der Werbung des Grafen Oringles nachzugeben. Für den hier anvisierten Zusammenhang ist entscheidend, dass sowohl Enite als auch Oringles auf biblisches Wissen zurückgreifen, beide dieses Wissen aber in ähnlich problematischer Weise für ihre Argumentation instrumentalisieren und in Handlung umsetzen. Enite pointiert ihre Vorstellung von der den Tod überdauernden Einheit von Mann und Frau, indem sie den ›duo-in-carne-una‹-Grundsatz aus dem Schöpfungsbericht zitiert: sô wis, herre got, gemant daz aller werlde ist erkant ein wort daz dû gesprochen hâst, und bite dich daz dûz stæte lâst, daz ein man und sîn wîp suln wesen ein lîp, und ensunder uns niht, wan mir anders geschiht von dir ein unrehter gewalt. (V. 5822–30) 6

Während dieser Gedanke in der Genesis vor allem die körperliche Einheit von Mann und Frau als Folge der Erschaffung der Frau aus der Seite des Mannes ins Bild setzt,7 5

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Vgl. grundlegend Knapp, Fritz Peter, Enites Totenklage und Selbstmordversuch in Hartmanns ›Erec‹. Eine quellenkritische Analyse, in: GRM, 26/1976, S. 83–90, außerdem: Küsters, Urban, Klagefiguren. Vom höfischen Umgang mit der Trauer, in: Kaiser, Gert (Hrsg.), An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters, München 1991 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 12), S. 9–75, hier S. 53–59. Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39). Gen 2,23–25: dixitque Adam hoc nunc os ex ossibus meis et caro de carne mea haec vocabitur virago quoniam de viro sumpta est. quam ob rem relinquet homo patrem suum et matrem et adherebit uxori suae et erunt duo in carne una. erant autem uterque nudi Adam scilicet et uxor

Zur Thematisierung des Normativen in der Figurenpoetik des höfischen Romans

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dient er Jesus im Disput mit jüdischen Gelehrten als Argument gegen die liberale Praxis der Ehescheidung im jüdischen Recht, das eine Entlassung der Ehefrau durch ihren Mann aus vielfältigen Gründen ermöglicht.8 Im Brief des Apostels Paulus an die Epheser wird der ehelichen Gemeinschaft darüber hinaus zusätzliche Dignität verliehen, indem die Vorstellung von der Einkörperlichkeit von Mann und Frau als Abbild der unmittelbaren Bindung des Menschen an Gott erklärt wird.9

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eius et non erubescebant (Übers.: »Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch. Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander«); Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, hrsg. von Robertus Weber, 4., verb. Aufl. von Roger Gryson, Stuttgart 1994; Übersetzung nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, Stuttgart 2006. Mt 19,3–9: et accesserunt ad eum Pharisaei temptantes eum et dicentes si licet homini dimittere uxorem suam quacumque ex causa. qui respondens ait eis non legistis quia qui fecit ab initio masculum et feminam fecit eos. et dixit propter hoc dimittet homo patrem et matrem et adherebit uxori suae et erunt duo in carne una. itaque iam non sunt duo sed una caro quod ergo Deus coniunxit homo non separet. dicunt illi quid ergo Moses mandavit dari libellum repundii et dimittere. ait illis quoniam Moses ad duritiam cordis vestri permisit vobis dimittere uxores vestras ab initio autem non sic fuit. Dico autem vobis quia quicumque dimiserit uxorem suam nisi ob fornicationem et aliam duxerit moechatur et qui dimissam duxerit moechatur (Übers.: »Da kamen Pharisäer zu ihm, die ihm eine Falle stellen wollten, und fragten: Darf man seine Frau aus jedem beliebigen Grund aus der Ehe entlassen? Er antwortete: Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat und dass er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. Da sagten sie zu ihm: Wozu hat dann Mose vorgeschrieben, dass man (der Frau) eine Scheidungsurkunde geben muss, wenn man sich trennen will? Er antwortete: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so. Ich sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch«); Biblia sacra iuxta vulgatam versionem [Anm. 7]. Eph 5,25–33: viri diligite uxores sicut et Christus dilexit ecclesiam et se ipsum tradidit pro ea. ut illam sanctificaret mundans lavacro aquae in verbo. ut exhiberet ipse sibi gloriosam ecclesiam non habentem maculam aut rugam aut aliquid eiusmodi sed ut sit sancta et inmaculata. ita et viri debent diligere uxores suas ut corpora sua qui suam uxorem diligit se ipsum diligit. nemo enim umquam carnem suam odio habuit sed nutrit et fovet eam sicut et Christus ecclesiam. quia membra sumus corporis eius de carne eius et de ossibus eius. propter hoc relinquet homo patrem et matrem suam et adherebit uxori suae et erunt duo in carne una. sacramentum hoc magnum est ego autem dico in Christo et in ecclesia. verumtamen et vos singuli unusquisque suam uxorem sicut se ipsum diligat uxor autem ut timeat virum (Übers.: »Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat, um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen. So will er die Kirche herrlich vor sich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten und andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos. Darum sind die Männer verpflichtet, ihre Frauen so zu lieben wie ihren eigenen

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Im Mittelalter hat der ›duo-in-carne-una‹-Gedanke in unterschiedlichen Vertextungen als Bibelzitat, Bibel- und Rechtssprichwort oder als Rechtsregel in Bibeldichtung, Rechtstexten, Chroniken und Predigten weite Verbreitung gefunden,10 wobei seine Verwendungsweisen im Wesentlichen dem Verständnisrahmen der beschriebenen biblischen Tradition verpflichtet sind: Insgesamt steht die Vorstellung von der Einkörperlichkeit von Mann und Frau für die Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe zu Lebzeiten der Ehepartner, vor allem für die Verpflichtung des Mannes, seine Frau zu lieben, für sie zu sorgen und sich nicht ohne triftige Gründe von ihr zu trennen.11 Die Mehrheit der christlichen Autoren (von der Spätantike bis ins späte Mittel-

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Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst. Keiner hat je seinen eigenen Leib gehasst, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche. Denn wir sind Glieder seines Leibes. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein. Dies ist ein tiefes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche. Was euch angeht, so liebe jeder von euch seine Frau wie sich selbst, die Frau aber ehre den Mann«); Biblia sacra iuxta vulgatam versionem [Anm. 7]. Die sprichwörtlichen Belege sind zusammengestellt im Thesaurus Proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, begründet von Samuel Singer, hrsg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin, New York 1995–2001, Bd. 7, s.v. LEIB 4. Mann und Frau (Freunde) sind ein Leib (und zwei Seelen). So erklärt z.B. in der Kaiserchronik Papst Silvester dem Juden Benjamin die Dauerhaftigkeit der Ehe als elementaren Bestandteil christlicher Glaubenslehre: Ûf stuont dô Benjamîn: / dise rede rehuob er an in: / ›Silvester, gevestenest dû êlîchen hîrat, / den Moyses geboten hât? / oder wil dû in zestôren? / daz wellen wir gerne hôren‹. / Dô sprach der hailige man: / ›er sol vil gewislîche bestân, / êlîch hîrât, / als in got geboten hât, / daz baide man unde wîp / sîn als ain lîp, / âne sunde kinden, / got vurhten unde minnen: / sô ist der hîrât stâtic, / êwic unde hailic‹ (Schröder, Edward [Hrsg.], Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, Hannover 1892, unveränderter Nachdruck München 2002 [Monumenta Germaniae Historica, Deutsche Chroniken 1,1], V. 9526–41). Im Guoten Gêrhart begründet der Protagonist über den Grundsatz der Einkörperlichkeit von Mann und Frau seine Entscheidung, die norwegische Königstochter Erêne an ihren Bräutigam Willehalm zurückzugeben und nicht, wie eigentlich geplant, mit seinem eigenen Sohn zu verheiraten: Mîn herre sprach an dem zil: / »vernim waz ich dir sagen wil, / Gêrhart, durch den willen mîn. / lâ ditz mit guotem willen sîn, / wan ez ist daz gotes gebot. / dô al der welde schepher got / geschuof nâch sînem werde / engel, himel und erde, / und von Lucifers hôchvart / der zehende kôr vervellet wart / von sîner ebenmâze nider, / dô wolte in got besetzen wider / mit menschlîchem künne. / in des paradîses wünne / wart Âdâm von im gesant. / dem nam got mit sîner hant / ein rippe und hiez ez sîn ein wîp. / er sprach: ›diu beidiu sîn ein lîp, / zwên geiste; ein leben ein lîp / sî dirre man und ouch ditz wîp, / und elliu diu mit rehter ê / hinnen für und immer mê / zesamne werden gesant / nâch reiner ê. den sî ditz bant / mit êlîcher stætekeit / âne wandel an geleit.‹ / dar nâch über manige zît / lêrten uns die lêrer sît, / des heiligen geistes rât / dar an alsus geschriben stât. / Ez spricht der vil wîse bote, / swaz gefüeget sî von gote, / daz scheide niht des menschen rât. / swaz gotes rât gefüeget hât, / daz ist in sînen hulden wol, / dâ von ez niemen scheiden sol« (Asher, John A. [Hrsg.], Rudolf von Ems, Der guote Gêrhart, Tübingen 19893 [ATB 56], V. 4327–62).

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alter) deutet die Vorstellung des Ein-Fleisch-Seins als Votum für eine auf der Willensübereinstimmung beider Partner beruhende Ehe und die damit einhergehende Aufwertung der Position der Frau.12 Eine Signifikanz für das Verhältnis der Ehepartner nach dem Tod kommt dem Grundsatz nur am Rande zu, dann nämlich, wenn die Verpflichtung des zurückgebliebenen Partners zur Sorge für das Seelenheil des Verstorbenen hervorgehoben oder dem Erbrecht der Ehefrau gegenüber den Ansprüchen der Familie Nachdruck verliehen wird. In keiner der mir bekannten Quellen wird der Grundsatz jedoch mit dem heiklen Thema der Wiederverheiratung von Witwen verbunden. Vor diesem Hintergrund gewinnt Enites Argumentation eine der Tradition gegenläufige Kontur: Zwar verwendet auch sie den von ihr zitierten Grundsatz wie eine Rechtsregel – auf die gehäufte Verwendung von Rechtstermini wie reht, unreht, gewalt oder zigen hat die Forschung verschiedentlich hingewiesen –,13 doch blendet sie alle traditionell gebräuchlichen theologischen wie rechtlichen Implikationen der herangezogenen Regel ab und interpretiert diese, ausgehend von deren Wortsinn, völlig neu: Wenn es Gottes Gebot bzw. Schöpfungsidee ist, dass Mann und Frau nur einen einzigen Körper und damit nur ein einziges Leben besitzen, dann verstößt ein Weiterleben nur eines Partners gegen die göttliche Ordnung und das Recht der Menschen. Enites Rückgriff auf normatives Wissen isoliert dieses Wissen gegenüber den eigentlich damit verbundenen Verhaltensnormen wie z.B. der gegenseitigen Fürsorgepflicht der Partner während der Ehe. An die Stelle solcher Entwürfe, die eigentlich über ein hohes Maß an Verbindlichkeit verfügen, treten dann Überlegungen, die weder mit Blick auf ein außerliterarisches Publikum noch, wie ein Vergleich mit der Rückführung der 80 Witwen an den Artushof zeigt, innerhalb der literarischen Welt als normativ, Norm setzend, vorbildlich oder idealisierend geltend gemacht werden können. Hier geht es also nicht darum, Position in einer Diskussion um die Wiederverheiratung von Witwen zu beziehen, sondern darum, Enites triuwe in ihrer Einzigartigkeit gegenüber realen wie literarisch vermittelten Verhaltensnormen zu profilieren. Analoges lässt sich für die Argumentation des Grafen Oringles beobachten. Auch er greift bei seinen Versuchen, Enite über Erecs Tod hinwegzutrösten, auf biblisch verbürgtes Wissen zurück, zieht daraus aber Konsequenzen für das eigene Handeln, die nicht den mit dem zitierten Wissen verbundenen Verhaltensnormen entsprechen. Hauptargument seines ersten Tröstungsversuchs ist, dass Enites Trauer zwar als Ausdruck ihrer triuwe zu loben ist, dass eine solche Trauer aber nur ihr eigenes Leben zerstöre und überdies Erec nicht ins Leben zurückbringen könne:

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Vgl. auch Angenendt, Arnold, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 2007, S. 166f. Küsters, Urban, Klagefiguren [Anm. 5], S. 54f.

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Silvia Reuvekamp ich muoz iu des von schulden jehen daz ir wîplîchen tuot, und dunket mich von herzen guot daz ir klaget iuwern man, wan dâ schînet iuwer triuwe an. doch habet irs nû genuoc getân, wan ez mac iuch niht vervân. diz ist der schœniste list der vür schaden wæne ich vrum ist, daz man sich getrœste enzît, wan langiu riuwe niht engît wan einen bekumberten lîp. dar an gedenket, schœnez wîp. und möhtet ir im daz leben mit weinenne wider geben, sô hulfen wir iu alle klagen und iuwer swære gelîche tragen: des enmac doch leider niht geschehen. (V. 6223–40)

Dieser Gedankengang ist in Inhalt wie Formulierung eng an die Empfehlungen zum Umgang mit Trauer im Buch Jesus Sirach angelehnt, das pragmatische Lehren für ein gottgefälliges Leben bietet. Über die Trauer heißt es dort, dass ein Toter eine kurze Zeit angemessen zu beklagen sei und die Zurückgebliebenen danach ihre Gedanken auf sich selbst richten sollen. Dauerhafte Traurigkeit nehme dem Menschen die Lebenskraft und entspreche nicht seiner Bestimmung. Spätestens nach ein bis zwei Tagen solle die Klage deswegen beendet werden, und der Gedanke an den Toten solle ruhen wie dieser selbst.14 Genau in diesem zeitlichen Aspekt weicht Oringles aber von 14

Sir 38,16–24: fili in mortuum produc lacrimas et quasi dira passus incipe plorare et secundum iudicium contine corpus illus et non despicias sepulturam illius. propter delaturam amare fer luctum illius uno die et consolare propter tristitiam. a tristitia enim festinat mors cooperiet virtutem et tristitia cordis flectet cervicem. in abductione permanet tristitia et substantia inopis secundum cor eius. non dederis in tristitia cor tuum sed repelle eam a te et memento novissimorum. noli oblivisci neque enim est conversio et huic nihil proderis et te ipsum pessimabis. memor esto iudicii mei sic enim erit et tuum mihi heri et tibi hodie. in requie mortui requiescere fac memoriam eius et consolare illum in exitu spiritus sui (Übers.: »Mein Sohn, um den Toten lass Tränen fließen, trauere und stimm das Klagelied an! Bestatte seinen Leib, wie es ihm zusteht, verbirg dich nicht bei seinem Hinscheiden! Sei betrübt, mein Sohn, und überlass dich heftiger Klage, halte die Trauer ein, wie es ihm gebührt, einen Tag oder zwei, der Nachrede wegen; dann tröste dich über den Kummer hinweg! Aus Kummer entsteht Unheil; denn ein trauriges Herz bricht die Kraft. Schlimmer als der Tod ist dauernder Kummer, ein leidvolles Leben ist ein Fluch für das Herz. Lenke deinen Sinn nicht mehr auf den Toten, lass von der Erinnerung an ihn ab und denk an die Zukunft! Denk nicht mehr an ihn; denn es gibt für ihn keine Hoffnung. Was kannst du ihm nützen? Dir aber schadest du. Denk daran, dass seine Bestimmung auch deine Bestimmung ist: Gestern er und heute du. Wie der Tote ruht, ruhe auch die Erinnerung an ihn, tröste dich, wenn sein Leben erloschen ist«); Biblia sacra iuxta vulgatam versionem [Anm. 7].

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den auch in theologischen Diskussionen des hohen und späten Mittelalters präsenten Normen der Trauermäßigung ab, wenn er Enite zwingen will, ihn schon vor Erecs Bestattung zu heiraten, ohne eine angemessene Trauerzeit einzuhalten. Außerdem will er mit seinem Ratschlag Enite nicht vor den Folgen dauerhaften Leids bewahren, sondern möchte sie möglichst schnell für sich gewinnen und handelt also zuletzt eigennützig.15 Damit zielt die Darstellung aber letztlich wieder darauf, Enite als außerordentliche Figur, d.h. hier ihre unbeschreibliche Schönheit wie deren Gefahrenpotenzial zu exponieren. Oringles wird zu Beginn nämlich als von Gott gesandter Retter in die Handlung eingeführt und verwandelt sich erst im Laufe der Episode unter dem Eindruck von Enites Äußerem in einen gewalttätigen Tyrannen: nû kam geriten ein man, der si es erwande, den got dar gesande. diz was ein edel herre, ein grâve: vil unverre sô stuont sîn wesen von dan. Oringles hiez der rîche man, von Lîmors geborn. den hâte got dar zuo erkorn, daz er si solde bewarn. [er kam von sînem hûs gevarn,] ir ze heile reit er durch den walt. (V. 6115–26)

Auch über einen intratextuellen Bezug wird die am Anfang des Zusammentreffens mit Enite bestehende Integrität des Grafen betont. Oringles’ Trost für die trauernde Enite wird vom Erzähler mit einer ähnlichen Formulierung positiv bewertet wie Erecs Rückführung der 80 Witwen in die höfische Gesellschaft: vrouwen Ênîten trôste er dô vlîzeclîche unde wol, sô man den vriunt nâch leide sol. (V. 6213–15) nû waz tuot dem manne baz wan der in nâch leide trœstet wol? des ist vriunt vriundes schol. (V. 9823–25)

Zwar werden in der Klage Enites mit der Vorstellung von der Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe wie in Oringles’ Trost mit dem Votum für eine schnelle Wiederverheiratung Positionen vertreten, die in Verbindung zu einer Diskussion verschiedener Ehevorstellungen gebracht werden können, doch werden diese Positionen von den Figuren so zugespitzt in Handlung umgesetzt, dass eine Verbindlichkeit für die 15

Vgl. Moos, Peter von, Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur über den Tod und zum Problem der christlichen Trauer, Testimonienband, München 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften 3), S. 111.

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außerliterarische Realität oder auch nur eine sozial relevante Normendiskussion von vornherein unterlaufen wird. In der sozialen Praxis sind Werte fest mit Normen verbunden, die als Verhaltensvorschriften kollektive Gültigkeit besitzen.16 Diese enge Verklammerung von Werten und Normen ist in der literarischen Welt des höfischen Romans aufgelöst. So verkörpern literarische Handlungsträger zwar bestimmte Werte wie triuwe, milte oder stæte, doch sind diese Werte nicht mit festgelegten Normen, also Verhaltensvorschriften verbunden und können daher ganz unterschiedlich in Handlung dynamisiert werden. Kulturell geprägte und anerkannte Verhaltensregulierungen werden dabei offensichtlich als Folie aufgerufen und markieren in ihrer häufigen Umspielung, Durchbrechung oder Durchstreichung den literarischen Freiraum. Damit bewegt sich die Thematisierung von Normen in den volkssprachigen Erzähltexten auf der gleichen Ebene wie die Integration anderer Elemente von Realität, die nach Wolfgang Iser ausgeschnitten und für einen qualitativ immer anders zu bestimmenden eigenzwecklichen Gebrauch bereitgestellt werden.17 Dieser Freiraum ist aber nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass ein Wert wie z.B. triuwe im höfischen Roman durch Handlungen repräsentiert werden kann, die wie Enites Selbstmordversuch aus der Sicht bekannter Ordnungsmuster als klare Normenverstöße gewertet werden müssten,18 sondern vor allem dadurch, dass auch innerhalb der literarischen Welt kein Repertoire möglicher Dynamisierungen eines bestimmten Werts aufgebaut wird, das dann für diese Welt als idealtypisch oder vorbildlich gelten würde. Als Illustration für eine solchermaßen offenere Gestaltung des Zusammenhangs von Wert und Verhaltensnorm, die konstitutiv für das Verhältnis von Figurenzeichnung und Normativität in volkssprachigen Erzähltexten des 12. und 13. Jahrhunderts ist, sollen im Weiteren Beispiele aus Wolframs Parzival und der Nibelungenklage dienen. In Wolframs Parzival19 werden mit Herzeloyde, Sigune und Orgeluse gleich drei Frauenfiguren wegen ihrer triuwe zum im ritterlichen Zweikampf getöteten Geliebten bzw. Ehemann ausgezeichnet; alle drei dokumentieren ihre triuwe in nicht immer unproblematischen, zumindest aber sehr unkonventionellen Verhaltensweisen: Herzeloyde verfällt in ihrem Schmerz um den Tod Gachmurets der Vorstellung, in ihrem 16

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Eine theoretische Differenzierung dieser soziologischen Grundeinsicht in den Zusammenhang von Normen und inneren Einstellungen resp. Wertvorstellungen nimmt vor: Pohlmann, Friedrich / Eßbach, Wolfgang (Hrsg.), Heinrich Popitz, Soziale Normen, Frankfurt/M. 2006 (stw 1794). Iser, Wolfgang, Akte des Fingierens oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?, in: Heinrich, Dieter / Iser, Wolfgang, Funktionen des Fiktiven, München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 121–151, hier S. 124–126. Zu Enites Abweichen von christlichen Normen der Trauerbewältigung vgl. auch Matejovski, Dirk, Selbstmord. Rezeptionstypen eines tabuisierten Motivs, in: Kaiser, Gert (Hrsg.), An den Grenzen höfischer Kultur [Anm. 5], S. 237–263, hier S. 257f. Wolfram von Eschenbach von Karl Lachmann, Berlin, Leipzig 19266 [Nachdruck 1964].

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Sohn den Toten wieder zu gebären, und entsprechend weist ihr Verhalten gegenüber dem Neugeborenen beinahe erotische Züge auf (109,1–114,4). Den heranwachsenden Parzival entzieht sie der ihm eigentlich zustehenden Sozialisierung, um sich vor dem Verlust eines weiteren geliebten Menschen zu schützen (116,28–129,4). Sigune weigert sich aus triuwe zu Schionatulander nicht nur, dessen Leiche bestatten zu lassen, sondern verharrt auch über die erste Trauer hinaus in einem Prozess der Selbstzerstörung, der letztlich zu ihrem eigenen Tod führt (138,9–141,24; 249,11–253,18; 435,13–440,19). Orgeluse verfolgt den Mörder ihres ersten Mannes Cidegast und instrumentalisiert Ritter, die sich in ihren Minnedienst stellen, im vollen Bewusstsein der Gefahren, denen diese in ihrem Dienst ausgesetzt sind (508,14–30. 612,21– 619,27). Unterschiedlicher könnten die Verhaltensweisen, die aus dem gleichen Wert in einer ganz ähnlichen Ausgangssituation resultieren, kaum sein. Allen diesen Verhaltensweisen gemeinsam ist jedoch, dass sie das Verständnis von triuwe so weit zuspitzen, dass nicht nur ein Norm setzender Anspruch von vornherein konterkariert wird, sondern auch innerliterarisch ein Konflikt mit anderen Werten entsteht: Vor allem im Falle von Herzeloyde und Orgeluse ist das Verständnis von triuwe insofern überzogen, als der Konzentration auf eine einzelne personale Bindung jeder gesellschaftliche Bezug fehlt. Gerade dieser Konflikt ist es aber, der die Konzeption der einzelnen Figuren grundlegend bestimmt und den die Figurendarstellung erzählerisch ausreizt. Besonders deutlich wird diese für die höfischen Erzählwelten konstitutive Form der Figurenpoetik, die Werte von den damit eigentlich verbundenen Verhaltensnormen entkoppelt und damit irrealisiert, in den sogenannten triuwe-Exkursen der Nibelungenklage. In diesen wird Kriemhilds Rache an ihren Verwandten ungeachtet des Leids, das daraus hervorgegangen ist, ausdrücklich gerechtfertigt: Da Kriemhild allein aus wahrer triuwe gehandelt habe, dürfe – so die Argumentation der Exkurse in allen Fassungen der Nibelungenklage – keine ihrer Handlungen verurteilt werden: daz enkom in niht ze guote, von den si den schaden nam, wand ez ir rechen gezam. Des ensol si niemen schelten. solt er des engelten, der triuwe kunde pflegen, der hete schiere sich bewegen, daz er mit rehten dingen möhte niht volbringen deheinen getriulîchen muot. triuwe diu ist dar zu guot: diu machet werden mannes lîp und êret ouch alsô schoeniu wîp, daz ir zuht noch ir muot nâch schanden nimmer niht getuot. Alsô vroun Kriemhilde geschach, der von schulden nie gesprach misselîche dehein man.

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Silvia Reuvekamp swer diz maere merken kan, der sagt unschuldic gar ir lîp, wan daz diz vil edel werde wîp taete nâch ir triuwe ir râche in grôzer riuwe. (V. 136–158).20 Des buoches meister sprach daz ê: »dem getriuwen tuot untriuwe wê«. sît si durch triuwe tôt gelac, in gotes hulden manegen tac sol si ze himele noch geleben. got hât uns allen daz gegeben: swes lîp mit triuwen ende nimt, daz der zem himelrîche zimt. diu wârheit uns daz kündet. (V. 569–577).

Die Forschung hat darauf hingewiesen, dass die Klage hier ein vereindeutigendes Konzept von triuwe anlegt, das die soziale Dimension dieses Wertes ausklammert und damit positivierend auf die ambivalente Darstellung Kriemhilds im Nibelungenlied reagiert.21 Mir scheint hier indes ein weiteres Mal – und diesmal auf der Reflexions- bzw. Kommentarebene – die seit dem Erec beobachtete Technik der Figurendarstellung, die zur Profilierung der Figuren Werte nicht mit Verhaltensnormen verbindet, erkennbar: an dieser Stelle mit dem Ziel, in der scheinbaren Positivierung der Intentionen Kriemhilds die Problematik ihrer Handlungen radikal aufscheinen zu lassen. Kriemhilds Verrat und Morde lassen sich nicht durch irgendeinen Wert, der ihnen zugrunde gelegt wird, rechtfertigen: Entsprechend geraten die triuwe-Exkurse mit der Drastik der Leid- und Klagedarstellungen des Textes sowie mit negativen Urteilen über Kriemhild in der Figurenrede in Konflikt. Diese literarische Technik, die einerseits die Exorbitanz der Handlungsträger herausstellt und zum anderen auf Widersprüche sowie Ambivalenzen in ihrer Konzeption aufmerksam macht, trägt durch das kontrastiv zur Norm gestaltete Verhalten ganz entscheidend zur Komplexitätssteigerung der Figurenzeichnung bei.22 20

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Bumke, Joachim (Hrsg.), Die ›Nibelungenklage‹. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, Berlin, New York 1999. Zitiert ist hier die Fassung *B. Alle anderen Fassungen weichen im Wortlaut mehr oder weniger ab, teilen aber die apologetische Tendenz mit dem hier zitierten *B-Text. Vgl. u.a. Müller, Jan-Dirk, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 168–170, sowie Henkel, Nikolaus, ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um 1200, in: Palmer, Nigel F. / Schiewer, Hans-Jochen (Hrsg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, Tübingen 1999, S. 73–98. Bezeichnend ist, dass die ∗C-Fassung der Klage, die den zweiten triuwe-Exkurs deutlich erweitert, ihre Rechtfertigung Kriemhilds auf dem ›duo-in-carne-una‹-Gedanken aufbaut und diesen damit in ganz ähnlicher Weise aus seinem eigentlichen Verwendungszusammenhang löst, wie es bereits für Hartmanns Erec gezeigt wurde: Sît si mit grôzem jâmer

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Die hier am literarisierten Umgang mit triuwe entwickelten Überlegungen zur Poetik der Figurendarstellung des höfischen Romans sollen im Folgenden mit Blick auf einen weiteren Wert in ihrer Gültigkeit überprüft werden. Der milte werden in literarischen wie historiographischen Quellen herrschaftslegitimierende, repräsentative und diplomatische Funktionen zugeschrieben; insbesondere für die Herrschaftsdarstellung im Artusroman gehört milte zu den konstituierenden Werten. Während in der sozialen Praxis jedoch die Gefahren, die übermäßiges Schenken mit sich bringen kann, durch ein ganzes Repertoire von Verhaltensnormen für den Schenkenden wie den Beschenkten kanalisiert werden, weisen die literarischen Modellierungen von milte solche Strategien der Absicherung systematisch ab. Beinahe modellhaft beobachten lässt sich das Aufrufen und Abblenden von Verhaltensnormen, die an die Herrschertugend milte gebunden sind, am Beispiel der Entführung der Königin in Hartmanns Iwein. Als der am Artushof unbekannte Meliakanz dort erscheint, um eine Gunst zu erbitten, gewährt Artus dies unter der Voraussetzung, dass das Ansinnen des Fremden angemessen sei, dass Meliakanz betelîchen gert, also geziemend bittet (V. 4544–46). Diese zunächst naheliegende Einschränkung führt aber zwischen Artus und Meliakanz zu einer Auseinandersetzung, bei der der fremde Ritter dem König vorwirft, dass solche Vorbehalte dem Ruhm seiner milte unangemessen seien und somit seinem Ansehen schadeten. Aus Furcht vor Schande kritisieren daraufhin auch die Artusritter ihren König und raten ihm, die Bitte uneingeschränkt zu erfüllen (V. 4569–78); die Folgen sind bekannt. Betrachtet man die Einschränkung, die Artus macht, nun genauer, stellt man fest, dass es sich um eine formelhafte Wendung handelt, die in literarischen wie chronikalischen Quellen häufig im Kontext der Inszenierung öffentlicher Kommunikation Verwendung findet. Der Spielraum, den die Einschränkung dabei demjenigen verschafft, der eine Bitte gewährt, ist äußerst eng umgrenzt: als unbetelîche und damit abweisbar gelten nur solche Forderungen, die elementaren Schaden für das Leben oder das Ansehen des Herrschers bedeuten, also in den Umkreis von List oder Betrug gehören.23 Vor diesem Hintergrund ist die Kritik der Artusritter am Verhalten ihres Königs kaum nachvollziehbar, entspricht dieses doch den mit dem Konzept milte verbundenen Verhaltensnormen wie den Regeln öffentlicher und institutioneller Kommunikation vollauf. Genau mit diesen Normen und Regeln konfligiert aber das Aventiureschema des Artusromans, das seine erzählerische Spannung aus der Begegnung mit dem Unbekannten und Unkalkulierbaren bezieht. Die Aporie, die sich

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ranc / und si grôz triuwe jâmers twanc, / die si truoc nâch ir lieben man, / als wir von ir vernomen hân, / daz si pflac grôzer riuwe / durch liebe und durch ir triuwe, / daz si zwô sêle und ein lîp / wâren, dô si was sîn wîp, / dâ von si von schulden zam / der râche, die si umbe in nam, / als uns vil dicke ist geseit (Bumke [Hrsg.], Die ›Nibelungenklage‹ [Anm. 20], *C, V. 573– 583). Dazu ausführlicher: Reuvekamp, Silvia, Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans, Berlin, New York 2007, S. 144–158.

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daraus ergibt, dass Artus sich Maßstäben unterwirft, die weit über das hinausgehen, was in anderen Texten und Gattungen als vorbildliches Herrscherverhalten verstanden wird, er seinen Hof aber gerade dadurch in einen Zustand der Hilflosigkeit und des Ehrverlusts führt, macht einen Kernpunkt der Figurenkonzeption volkssprachiger Erzählwelten aus. Der Thematisierung von Werten und Normen kommt in dem für die Rezeption fiktionaler Literatur zentralen Bereich der Figurendarstellung eine erhebliche Bedeutung zu. Doch leisten die Texte in diesem Zusammenhang weder eine handliche Vermittlung von wertbezogenem Handeln noch problematisieren, diskutieren und kritisieren sie unmittelbar Normen der laikalen Adelsgesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts. Die dargestellte Figurenhandlung wird nicht zur verbindlichen Norm und lädt nicht zur Nachfolge ein. Auf der Ebene des Normativen kommt den Texten kein grundsätzlicher Gebrauchswert zu, ist eine gesellschaftliche Funktionsbindung nicht auszumachen. Zwar bleiben die Figuren in ihrer Konzeption orientiert an den abstrakten Werten und damit verbundenen Begriffen einer christlichen Adelsgesellschaft wie triuwe, milte oder stæte und können mit Blick auf diesen allgemeinen Wertehorizont durchaus als ›vorbildlich‹ gelten, von den dazugehörigen, gesellschaftlich geforderten und akzeptierten normativen Verhaltensmustern weichen sie aber in der Regel ab. Diese Ausblendung ›realistischer‹ Verhaltensdispositionen geht einher mit der narrativen Ausreizung und Überzeichnung von Handlungswelten sowie Geschehnissen. Figuren werden in diesen fiktionalen Erzählwelten zu Trägern ganz unterschiedlicher, auf gleichen Werten basierender, außerordentlicher Verhaltensweisen, die sie immer wieder neu in Szene setzen. Dadurch gewinnen die Figuren Komplexität und Mehrdimensionalität, werden singulär, aber nicht individuell im Sinne einer gegen die gesellschaftlichen Normen und Werte gerichteten Identität. Ihre solcherart literarisch geschaffene Singularität steht didaktischen Instrumentalisierungen und möglichen exemplarischen Sinnbildungsverfahren entgegen und begründet in immer neuer Variation und abenteuerlicher Kombination normativer Elemente das, was eine Bildungselite in den Texten genussvoll zu finden trachtete: kunstvolle Unterhaltung, die das Außergewöhnliche spielerisch und mit ironischer Distanz vermittelt.

Bruno Quast (Münster)

Daz ander paradîse Mythos und Norm in den Artusromanen Hartmanns von Aue

Mythisches, wie immer man es auch fasst, spielt in der Literatur des Mittelalters auf allen Ebenen des Erzählens eine nicht zu unterschätzende Rolle. Stoffe, Motive, Erzählformen, Erzählschemata und Motivationstypen sind von der Forschung seit langem als mythisch identifiziert worden.1 Für einige Mediävisten fungiert Mythisches als vorliterarische Kontrastfolie, vor der ein neuer Typus sich schriftlich artikulierender höfischer Rationalität sich ausbildet. Andere werten höfisches Erzählen, vor allem den Artusmythos, als Neuen Mythos, der in seiner Antiheilsgeschichtlichkeit einen Gegenentwurf zu einer im Mittelalter dominanten christlichen Geschichtsauffassung darstelle. Ob alter Mythos, der aus dem Dunkel der Geschichte hereinragt in ein lichter werdendes Mittelalter, oder neuer Mythos, der seine Kraft aus einer Opposition zu geschichtstheologischen Konzepten bezieht: Fast immer sind es dichotomische Schemata, die die Mythizität des mittelalterlichen Erzählens zu fassen suchen: Mythos versus Geschichte, Mythos versus Dogmatik, Mythos versus Literatur, Mythisches versus Höfisches. Solche Dichotomisierungen der Forschung spiegeln durchaus auch Verhältnisse in der literarischen Kommunikation des Mittelalters, doch finden sich dort vielfach Komplexisierungen, die eine rein binäre Logik weit hinter sich lassen. Bezieht man die Frage nach dem Zusammenhang von Text und Norm auf die Artusromane Hartmanns, muss man feststellen, dass die erzählerische Etablierung von Normen im klassischen Artusroman wohl nicht zufällig an mythisch aufgeladene Sonderräume2 gebunden ist. Die Etablierung höfischer Normen geht, so gesehen, aus einer Auseinandersetzung mit Mythischem hervor. Zwei Vorüberlegungen scheinen mir an dieser Stelle von Bedeutung. Erstens: Wenn im Folgenden vom Mythischen die Rede ist, dann ist damit in erster Linie eine funktionale Kategorie gemeint. Eine

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Einen Überblick bieten Friedrich, Udo / Quast, Bruno, Mediävistische Mythosforschung, in: dies. (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. IX–XXXVII. Vgl. zum Konzept des Sonderraums Schulz, Armin, ›in dem wilden wald‹. Außerhöfische Sonderräume, Liminalität und mythisierendes Erzählen in den Tristan-Dichtungen: Eilhart – Béroul – Gottfried, in: DVjs, 77/2003, S. 515–547, hier S. 515–518; Störmer-Caysa, Uta, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007, S. 202f., spricht von »[a]bgegrenzte[n] Anderwelten«.

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Aussage darüber, was das Mythische sei, wird a priori nicht getroffen. Zweitens: Untersucht man das Verhältnis von Höfischem und Mythischem, scheint es methodisch geboten, die Ebenen des Erzählens auseinanderzuhalten; Wertungen des Mythischen gehen nämlich, wie wir sehen werden, auseinander, und zwar je nachdem, ob man das E r z ä h l t e oder das E r z ä h l e n , die G e s c h e h e n s e b e n e oder die Ve r w e n d u n g s p e z i f i s c h e r E r z ä h l m o d e l l e fokussiert. Was methodisch auseinandergehalten wird, gehört indes thematisch unabdingbar zusammen. Die Artusromane Hartmanns von Aue können als zwei Seiten einer Medaille, als komplementär aufeinander bezogen gelesen werden. Während im Erec oberste Werte, nämlich hier die gesellschaftlich wirksame minne, im Sonderraum Brandigan mythisch, näherhin schöpfungsmythisch legitimiert werden, greift im Iwein ein antimythischer, näherhin untergangsmythischer Erzählgestus. Im Brunnenreich der Laudine mit seinem verheerenden Unwetter wird eine bestimmte Gewaltpraxis des arthurischen Hofes delegitimiert und der regelgeleitete strît als Norm gesetzt. Mythisches und antimythisches Erzählen in Erec und Iwein sind in ihren narrativen Normsetzungen deutlich aufeinander bezogen.

I. Baumgarten, schöpfungsmythisch Um innerweltliche Erlösung darzustellen, die die Nähe zu heilsgeschichtlichen Modellen zwar sucht, um sie jedoch umso deutlicher abzuweisen, bedienen sich Chrétien de Troyes und in seiner Nachfolge Hartmann von Aue einer spezifischen Raumkonzeption.3 Der berühmte Schlusskampf im Erec4 zwischen dem Protagonisten des Romans und seinem Kontrahenten Mabonagrin, nachdem Erec die Stationen seines Aventiurewegs hinter sich gebracht hat, findet in einem Baumgarten, einer parkähnlichen Anlage, statt, die zur Burg Brandigan gehört. Allein mit diesem Kampf, sollte er für Erec siegreich verlaufen, kann die darnieder liegende Freude des Hofes wieder hergestellt werden. Daher heißt diese Aventiure auch joie de la court, Freude des Hofes. Achtzig Damen, deren Männer im Kampf mit Mabonagrin bereits ihr Leben gelassen haben, trauern in der Burg des Burgherrn und warten auf den

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Für die motivgeschichtliche Analyse sind nach wie vor grundlegend: Höhler, Gertrud, Der Kampf im Garten. Studien zur Brandigan-Episode in Hartmanns ›Erec‹, in: Euphorion, 68/1974, S. 371–419; Ó Riain-Raedel, Dagmar, Untersuchungen zur mythischen Struktur der mittelhochdeutschen Artusepen. Ulrich von Zatzikhoven, ›Lanzelet‹ – Hartmann von Aue, ›Erec‹ und ›Iwein‹, Berlin 1978 (Philologische Studien und Quellen 91), S. 248–263. Ich zitiere nach der Ausgabe: Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (ATB 39).

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ritterlichen Erlöser, der durch die Bezwingung Mabonagrins auch ihrer Trauer ein Ende bereiten wird. Wenn Erec den Baumgarten betritt, wird die Umfriedung des Parks näher beschrieben: hœret ir iht gerne sagen wâ mite der boumgarte beslozzen wære sô harte? ich weiz wol daz unmanec man den list ze disen zîten kan dâ mite diz was getân. man sach ein wolken drumbe gân dâ niemen durch mohte komen, wan als ir habet dâ vernomen. (V. 8745–53)

Es wird sodann eine paradiesische, zeitenthobene Welt präsentiert, zu der nur Einzelne, Erwählte Zutritt haben. Die Bäume des Baumgartens stehen in Blüte u n d tragen Früchte, die Jahreszeiten sind mithin aufgehoben; wir haben es mit einem Zugleich der Jahreszeiten zu tun. Im Garten darf man so viel Obst essen, wie man will. Solche Lizenz erinnert an das biblische Paradies, in dem indes die Früchte vom Baum der Erkenntnis nicht gegessen werden durften. Die Bewohner des Paradieses werden schließlich vertrieben, um zu verhindern, dass sie, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, auch noch Früchte vom Baum des Lebens essen und auf diese Weise ewiges Leben erlangen (Gen 3,22). Hier in diesem irdisch-jenseitigen Paradies, in dieser Anderwelt5 des Baumgartens, dürfen hingegen alle Früchte gegessen werden, die Restriktionen des biblischen Paradieses gelten nicht, der Baumgarten überbietet das ursprungsmythische Paradies der Bibel. Dies ist aber nur die eine Seite. Folgen wir der Erzählung weiter, begegnen wir einer baumgartenspezifischen Schattenseite. Wie das biblische Paradies ohne das Prinzip des Bösen, den Satan, nicht vorstellbar ist, so hat auch der paradiesische Baumgarten seine bedrohlichen Seiten: Den obst- und blütentragenden Bäumen des Parks stehen die köpfetragenden Eichenpfähle zur Seite. Damit hat die bedrohliche Seite des Paradieses ein Gesicht erhalten. Nach einem harten Kampf besiegt Erec schließlich Mabonagrin, dem der Erzähler konsequent den Namen vâlant, Teufel, beilegt (V. 9197). Das Gute kämpft gegen das Böse. Ein Mächtedualismus greift hier Platz, wo es im ritterlichen Kampf um den höchsten Wert der ritterlichen Gesellschaft geht, die Freude des Hofes. Der, der im

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Zu den Anderwelten im höfischen Roman allgemein: Patch, Howard Rollin, Some Elements in Medieval Descriptions of the Otherworld, in: PMLA, 33/1918, S. 601–643; Lecouteux, Claude, Zur anderen Welt, in: Lange, Wolf-Dieter (Hrsg.), Diesseits- und Jenseitsreisen im Mittelalter. Voyages dans l’ ici-bas et dans l’au-delà au moyen âge, Bonn u.a. 1992 (Studium Universale 14), S. 79–89; Glaser, Andrea, Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u.a. 2004 (Europäische Hochschulschriften I, 1888), S. 49–127.

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biblischen Paradies obsiegt hat, der vâlant, im Baumgarten unterliegt er. Mit dem Baumgarten haben wir ein zweites Paradies vor Augen, das unter Umständen als eine Kontrafaktur des biblischen Paradieses verstanden werden kann. Mit dem finalen Zweikampf zwischen den Kontrahenten ist die joie de la court, die Freude des Hofes, wiederhergestellt, Mabonagrin aus der isolierten Zwangsminnegemeinschaft mit seiner amîe, seiner Freundin, befreit und die Erzählung von Erec an ein Ende gekommen. Führen wir uns vor Augen, wie sich der paradiesische Park von seiner Umwelt absetzt: Weder Mauer noch Graben, weder Zaun noch Hecke noch Wasser, also das, was zu erwarten wäre, trennt diesen Park von seiner Umgebung. Es ist eine undurchdringliche Wolke, die bis auf einen verborgenen Eingang den Zutritt versperrt. Es ist die Grenze, die in auffälliger Weise das erzählerische Interesse auf sich zieht, die Grenze zwischen dem höfischen Gesellschaftsraum und dem Binnenraum der anderen Welt des Gartens, die in den höfischen Raum hineingezeichnet ist. Brandigan figuriert als Raum der Minne und als Raum des Kampfes. Insofern der Kampf zwischen Erec und Mabonagrin metaphorisch als Minnegeschehen inszeniert wird (V. 9106–17), liegt hier eine Verdichtung von Räumen vor (V. 9112: mit scheften si sich kusten). Durch die Einheit von Minne und Kampf wird der Garten zu einem imaginär besetzten gesellschaftlichen Gegenraum, denn die zentrale Problematik, die im Erec verhandelt wird, ist die Dissoziation von Minne und Kampf, die erst im Baumgarten ihr Ende findet. Der Baumgarten stellt einen Chronotopos dar, er verfügt über eine Eigenzeit, die Eigenzeit der aufgehobenen zyklischen Zeit. Eine Schwelle trennt den abgezirkelten Baumgarten vom höfischen Umfeld, eine Schwelle, die nur mittels eines Geheimwissens überschritten werden kann. Verdichtung von Räumen, Heterochronie und Eintrittsprivilegien wären mit Michel Foucault als konstitutive Eigenschaften des Heterotops6 Baumgarten namhaft zu machen. Die raumzeitliche Anderwelt Brandigans lässt sich jedoch präziser fassen, nämlich als eine Raumgestalt mythischer Couleur. Das mythische Denken entwirft nach Ernst Cassirer7 eine Raumform, in der die gesamte mythische Lebensform abgelesen werden kann. Das mythische Grundgefühl des Heiligen habe seine erste Objektivierung darin gefunden, dass es sich nach außen wandte, dass es sich in der Anschauung räumlicher Verhältnisse darstellte. Heiligung habe damit begonnen, dass aus dem Ganzen des Raumes ein bestimmtes Gebiet herausgelöst, von anderen Gebieten unterschieden und gewissermaßen religiös umfriedet und umhegt worden sei. Heiligung bedeutet somit eine initiale Überführung von topographischer Ungeschiedenheit in Differenz.8 6 7 8

Foucault, Michel, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt/M. 2005, S. 9–22. Zum Garten als ältestem Beispiel einer Heterotopie vgl. ebd., S. 14f. Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1964. Ebd., S. 123.

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An keiner anderen Stelle des Erec-Romans wird Raum derart konkret greifbar wie bei der Beschreibung des Baumgartens: Hier heißt es, dass ein ebener Weg den Garten umgibt. Dadurch, dass er nur an einer Stelle passierbar ist, wird implizit eine deutliche Scheidelinie zwischen dem paradiesischen Park und seiner nichtparadiesischen Umgebung gezogen. Im durch die Zauberwolke geschützten Raum des Baumgartens herrscht eine mythische Zeit, das Zugleich von Frühjahr und Herbst. Dieses Zugleich ist nach Cassirer begründet in einer Ungeschiedenheit, in der dem mythischen Denken eignenden »Konkreszenz oder Koinzidenz der Relationsglieder«. 9 Im mythischen Denken fällt alles zusammen, Koinzidenz ist die mythische Denkfigur schlechthin. Im Baumgarten verschmelzen Raum und Zeit. Die Kämpfer im Baumgarten, Erec und Mabonagrin, repräsentieren einen mythischen Mächtedualismus, das Gute in Gestalt des Heilsbringers, das Böse in der Gestalt des vâlant, des Teufels. Wo innerweltliche Erlösung, die Wiedererringung höfischer Freude, höfischer Idealität also, narrativ zur Darstellung gebracht werden soll, bedient sich der laikale Artusroman klassischer Provenienz einer topographischen Konstruktion; er entwirft einen höfischen Gesellschaftsraum, in den ein Heterotop, ein Gegenraum, präziser: ein mythischer Gegenraum eingezeichnet ist. Die Wiederherstellung höfischer Idealität ist unlösbar an diesen anderen, mythischen Raum gebunden.

II. Brunnenreich, untergangsmythisch Werfen wir nun einen Blick auf Hartmanns Iwein. Das Geschehen nimmt ausgehend von der Erzählung Kalogrenants über die Brunnenaventiure seinen Gang. Was hat es mit dieser Brunnenaventiure und ihrem merkwürdigen Mechanismus auf sich? Kalogrenant erzählt während eines Festes, dass ein Wilder Mann ihn auf die Brunnenaventiure aufmerksam gemacht habe. Der Wilde Mann: 10 565

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›Noch hœre waz sîn reht sî. dât [sic!] stât ein capelle bî: diu ist schœne und aber cleine. kalt und vil reine ist der selbe brunne: in rüeret regen noch sunne, nochn trüebent in die winde. des schirmet im ein linde, daz nie man schœner gesach: diu ist sîn schate und sîn dach.

Ebd., S. 82. Zu den motivgeschichtlichen Hintergründen des Wilden Mannes vgl. Loomis, Roger Sherman, Celtic Myth and Arthurian Romance, Chicago 1997, S. 105–109.

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si ist breit hôch und alsô dic daz regen noch der sunnen blic niemer dar durch enkumt: irn schadet der winter noch envrumt an ir schœne niht ein hâr, sine stê geloubet durch daz jâr. und ob dem brunne stât ein harte zierlîcher stein, undersatzt mit vieren marmelînen tieren: der ist gelöchert vaste. ez hanget von einem aste von golde ein becke her abe: jane wæn ich niht daz iemen habe dehein bezzer golt danne ez sî. diu keten dâ ez hanget bî, diu ist ûz silber geslagen. wil dû danne niht verzagen, sone tuo dem becke niht mê, giuz ûf den stein der dâ stê dâ mite des brunnen ein teil: deiswâr, sô hâstû guot heil, gescheidestû mit êren dan‹. (V. 565–597)11

Kalogrenant findet genau das vor, was ihm der Waldmensch versprochen hat (V. 604–620). Er folgt den Anweisungen des Wilden Mannes und gießt mit dem Becken Brunnenwasser auf den Stein. Es entsteht ein furchtbares Unwetter, die Tiere fliehen den Wald, was nicht fliehen kann, bleibt tot und verbrannt zurück (V. 638–669). Doch das Unwetter hört bald auf, der Schrecken vergeht. 680

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die vogele kâmen widere: ez wart von ir gevidere diu linde anderstunt bedaht: sî huoben aber ir süezen braht und sungen verre baz dan ê. mirn wart dâ vor nie sô wê, desn wær nû allez vergezzen. alsus het ich besezzen daz ander paradîse. die selben vreude ich prîse vür alle die ich ie gesach. jâ wând ich vreude ân ungemach unangestlîchen iemer hân: seht, dô trouc mich mîn wân. (V. 679–692)

Ich zitiere nach der Ausgabe: Hartmann von Aue, Iwein, 4., überarb. Aufl., Text der siebenten Ausgabe von G[eorg] F[riedrich] Benecke, K[arl] Lachmann und L[udwig] Wolff, Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer, Berlin, New York 2001.

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Der Herr des Brunnens, der zur Verteidigung seines Quellenreiches ausrückt, wirft Kalogrenant vor, als Rechtsbrecher agiert zu haben. Er habe nicht Fehde angesagt (V. 712–722). Askalon ist Kalogrenant überlegen, er besiegt den Eindringling, ohne ihm Respekt zu zollen. Darin besteht für Kalogrenant die Kränkung (V. 750f.). Um Kalogrenants Schande zu rächen, bricht Iwein auf. Auch Artus hat Interesse an der Brunnenaventiure bekundet; um ihm zuvorzukommen, macht Iwein sich heimlich davon. Als Iwein sich dem Brunnen nähert, wird das Geschehen nur mehr summarisch geschildert. Iwein passiert genau das, was zuvor Kalogrenant widerfahren war (V. 989–1001). Was ist das für ein Ort, wie ist die Brunnenwelt beschaffen? Wenn vom ander paradîse die Rede ist, fühlt man sich wohl zu Recht an den Baumgarten zu Brandigan erinnert. Die Freundin Mabonagrins bezeichnet an einer Stelle den Baumgarten als ander paradîse (V. 9542). Weder in Chrétiens Erec et Enide noch im Yvain findet sich übrigens die Paradiesanalogie. Hier liegt eine bedeutsame Überbietung Hartmanns vor. Als der Wilde Mann Kalogrenant die Örtlichkeit des Brunnens beschreibt, heißt es, der Winter könne den stets grünen Blättern der Linde nichts anhaben, aber auch nichts nützen. Hier wird, wenn man genauer hinschaut, nicht ein Zugleich der Jahreszeiten behauptet – es ist vom Winter die Rede, der metonymisch für zyklische Zeit steht –, sondern ein N e b e n i n a n d e r von Jahreszeitenwechsel u n d zyklischer Enthobenheit in Gestalt der immergrünen Linde. Selbst das intakte Quellenreich kennt also keine Ungeschiedenheit der Zeit, wie man sie in Brandigan vorfindet. Was Kalogrenant nach überstandenem Unwetter als zweites Paradies anmutet – daz ander paradîse – das sieht für den Herrn des Waldes ganz anders aus: Ihm bietet sich ein Bild der Verwüstung und Verheerung. Beides lässt sich nicht vereinbaren, es gibt so etwas wie ein Nebeneinander sich ausschließender Raumwahrnehmungen. Das quellenreichspezifische Nebeneinander der Zeitkonstruktionen spiegelt sich im Nebeneinander der Raumwahrnehmung. Die Raumwahrnehmung unterliegt, erzähltheoretisch gesprochen, einer Fokalisierung, sie ergibt sich in und aus der jeweiligen Figurenperspektive. Was in Brandigan in der Erzählerrede an objektiviertem Raum begegnet, zerfällt im Brunnenreich in heterogene Perspektiven. Und noch die Einzelperspektive kann sich ändern. So erweist sich für Kalogrenant mit der Herausforderung durch den Herrn des Quellenreichs die Vorstellung vom ander paradîse als Trug. Die Brunnenwelt zeigt ihr wahres Gesicht, sie ist zuallererst ein politischer Raum, ein Rechtsraum, dessen Störung geahndet wird. Was die Exklusivität des Brunnenreichs betrifft, so ist der Brunnen prinzipiell zugänglich; Kalogrenant, Iwein und später Keye, der Iwein als neuen Brunnenherrn herausfordern wird, sie alle sind imstande, das Brunnenreich zu betreten. Es fehlt eine Grenze, vergleichbar der Zauberwolke, die den Baumgarten in Brandigan umgibt. Der Raum des Brunnenreichs ist amorph. Die amorphe Raumgestalt des Brunnenreichs, das N e b e n e i n a n d e r der Zeiten und das N e b e n e i n a n d e r der Raumwahrnehmung – Paradies und Verwüstung – markieren bei aller Vergleichbarkeit von Baumgarten und Quellenreich eine veränderte Raumkonzeption im Iwein. Liegt der

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Brandigan-Erzählung daran, einen Raum zu konstruieren, zielt die Schilderung des Brunnenreichs auf eine Fraktalisierung von Raum. Der Iwein Hartmanns ist sichtlich interessiert, eine Anderwelt aufzubauen, um in einer Gegenbewegung diesen Raum zu destruieren. Man kann durch einen Vergleich mit Chrétien das Bemühen aufdekken, einen anderen Raum mit einer anderen Zeit zu installieren. Hartmann ersetzt nämlich eine immergrüne Fichte bei Chrétien (V. 413–415: Bien sai de l’arbre (c’est la fins) / Que ce estoit li plus biaus pins, / Qui onques sor terre creüst. Übers.: »Was den Baum anlangt, kurz und gut, so bin ich sicher, dass es die schönste Fichte war, die je auf Erden wuchs.«)12 durch eine immergrüne Linde, die dem Brunnen Schatten spendet. Erst die immergrüne Linde unterstreicht das Wunderbare der Landschaft, vermag doch der Winter einer Fichte in der Tat nichts anzuhaben. Mit dem – man könnte sagen – mythenkritisch gezeichneten Herrschaftsbereich des Quellenreichs, einer Wunderwelt, der von Anfang an Risse eingezeichnet sind, das Nebeneinander der Zeiten und das Nebeneinander der Raumwahrnehmung, liegt kein Heterotop vor, kein anderer Raum innerhalb der höfisch-arthurischen Gesellschaft, sondern ein selbständiger Gesellschaftsraum, der sich gegen die Artusgesellschaft profiliert. Im Erec Hartmanns betritt der arthurische Held einen mythischen Raum, der dem höfischen Gesellschaftsraum eingelagert ist, im Iwein entpuppt sich der aus dem höfischen Gesellschaftsraum ausgelagerte vermeintlich mythische Raum als politischer Herrschaftsraum. Höfische Idealität gelangt im Erec im Heterotop des Baumgartens – und nur dort – zu ihrer Vollkommenheit. Der finale Erlösungskampf ist unlösbar an die Anderwelt, den anderen Raum des Parks gebunden. Die Idealität der höfischen Welt kann nur durch eine Transgression in den mythischen Raum hergestellt werden. Es reicht nicht aus, dass der arthurische Protagonist die außerhöfische Wildnis durchläuft, er muss darüber hinaus den der höfischen Gesellschaft eingeschriebenen mythischen Gegenraum des Baumgartens betreten, einen dritten Raum sozusagen, um allein dort den finalen Erlösungskampf bestreiten zu können. Das Beschreiten des dritten Raumes, des mythischen Raums im Erec, korreliert mit einem ganz auf die arthurischen Binnennormen, Minne und Kampf, gerichteten Blick des Romans. Zwar wird man den Baumgarten wieder verlassen, aber nur mittels des im Gegenraum ausgetragenen Kampfes stellt sich für Erec sowohl das Ideal gesellschaftlicher êre als auch die Freude des Hofes wieder her. Ohne Zweifel trifft zu, dass in der Gestalt des abgeriegelten Baumgartens das Mythische geradezu buchstäblich arretiert ist, aber, dies ist die andere Seite, die Burggesellschaft in Brandigan ist ebenso buchstäblich in den Bann der Gegenwelt des Gartens geschlagen. Die soziale Logik des Gegenraums beherrscht das Leben der Burggesellschaft, sie sorgt für die Lähmung Brandigans. Mythischer Gegenraum und höfische Gesellschaft sind untrennbar aufeinander verwiesen. Dass das Mythische zum Höfischen gehört, demonstriert die topographische Konstruktion der Einlagerung des mythischen Gegenraums in den 12

Chrestien de Troyes, Yvain, übersetzt und eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff, München 1983 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2).

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höfischen Raum. Mythischer Raum und die dem höfischen Ideal zuwiderlaufende Minneexklusivität, die Nichtöffentlichkeit der Minne, gehen im Brandigan-Baumgarten eine Symbiose ein. Hartmann identifiziert im Erec den mythischen Raum mit Antigesellschaftlichkeit. Bei Chrétien stellt, als Erec den Garten betritt, die joie, die er im Garten durch das Singen der Vögel vorfindet, diejenige Freude vor, die Erec zu erreichen anstrebt. Erec aloit, lance sor fautre, par mi le vergier chevauchant, qui molt se delitoit el chant des oisiax qui leanz chantoient, qui la Joie li presantoient, la chose a coi il plus baoit. (V. 5718–23)13 (Übers.: »Erec ritt mit eingelegter Lanze durch den Garten und freute sich sehr am Schlagen der Vögel, die dort drinnen sangen und die ihm die Joie vorstellten, also das, wonach er am meisten verlangte.«)

Hartmann erwähnt diesen Gedanken der impliziten Ineinssetzung von der Freude des Gartens und höfischer Freude mit keinem Wort, denn höfische Freude, so könnte man diese Auslassung lesen, ist mit mythischer Freude inkompatibel. Höfische Freude, die Erec wiederherstellen möchte, ist an Vergesellschaftung gebunden. Das Ideal höfischer Vergesellschaftung, d i e Quelle höfischer Freude schlechthin, verbietet es geradezu – und Hartmann scheint dieser Logik zu folgen –, mythische und höfische Freude in eins zu setzen. Die höfische Freude stellt sich ein durch einen Akt der kämpferischen Ermächtigung im mythischen Raum, sie tritt an die Stelle der mythischen Freude. In Hartmanns Iwein wird komplementär zur Mythisierung der antigesellschaftlichen Existenzform des Minnepaars im Erec das Mythische von vornherein zurückgedrängt. Hier steht die an den gegengesellschaftlichen Raum des Quellenreichs unlösbar gebundene Destruktion der mythischen Welt letztlich im Dienst einer vom arthurischen Helden zu übernehmenden politisch-sozialen Verantwortung. Es gilt nunmehr mit Blick auf einen außerarthurischen Herrschaftsbereich, soziale und politische Kompetenz an den Tag zu legen. Die Destruktion der mythischen Welt im Iwein – das paradiesische Quellenreich erweist sich für Kalogrenant als Illusionsraum – mündet in eine Politisierung des gegengesellschaftlichen Quellenreichs. Iwein, der in die Fußstapfen Kalogrenants tritt und die Brunnenaventiure bestreitet, wird als zukünftiger Herrscher des Quellenreichs dessen Verteidigung zu besorgen haben. Das Ziel der Handlung im Iwein ist die Übernahme politischer Verantwortung im Quellenreich.

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Gier, Albert (Hrsg.), Chrétien de Troyes, Erec et Enide, Erec und Enide, Altfranzösisch/ Deutsch, Stuttgart 2000 (RUB 8360).

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III. Legitimierende und delegitimierende Mythe Ich habe bis hierher zu zeigen versucht, dass Hartmanns Artusromane in eine ›Auseinandersetzung‹ des Höfischen mit dem Mythischen eintreten. Beide Romane zielen einerseits auf eine Depotenzierung des Mythischen. Im Erec erfolgt diese Depotenzierung auf dem Weg einer kämpferisch erwirkten Re-Sozialisierung des im Baumgarten gefangen gesetzten Minnepaares. Man muss hier auf der anderen Seite aber im Auge behalten, dass bei aller Depotenzierung des Mythischen höfische Idealität allein im mythischen Sonderraum realisiert werden kann. Im Iwein begegnet die Depotenzierung in Form einer Politisierung des Helden. Aber auch hier ist die Begegnung mit der mythischen Laudinewelt der entscheidende Schritt zur Abkehr von einer anarchischen Gewaltpraxis. Auf der Handlungsebene tritt eine Ambivalenz des Mythischen auf diese Weise grundlegend zutage. Die Frage der Relationierung von Höfischem und Mythischem sei in einer letzten Überlegung e r z ä h l t h e o r e t i s c h perspektiviert. Damit komme ich auf die eingangs vorgeschlagene Differenzierung zwischen der Ebene des erzählten Geschehens und der der Implementierung spezifischer Erzählmodelle zurück. André Jolles14 unterscheidet zwei Typen von Mythen. Er trennt Mythen, die bauen, von Mythen, die vernichten. Erzählungen, die ein (primordiales) Schöpfungs- oder Gründungsgeschehen zur Darstellung bringen, nennt er Mythen. Erzählungen, die ein primordiales Vernichtungsgeschehen zur Darstellung bringen, kategorisiert er als Antimythen. Mythen im Sinne von André Jolles dienen der Etablierung und Legitimierung von Ordnung, Antimythen dagegen delegitimieren Zustände, die so nicht sein sollen. Zur Exemplifizierung von Mythe und Antimythe sei hier ein Blick auf die jüdisch-christliche Kultur geworfen. Wie Ursprungserzählungen anderer Kulturen, so kennen auch die biblischen Ursprungserzählungen der jüdisch-christlichen Kultur die bauende und die vernichtende Mythe. So ist die biblische Schöpfungsgeschichte eine Mythe, die baut, indem erzählt wird, wie aus dem uranfänglichen Chaos eine Ordnung entsteht, die biblische Sintflutgeschichte dagegen ist eine Antimythe, die komplementär auf die Mythe der Schöpfungsgeschichte bezogen ist. Sie indiziert und behebt die Störungen der einmal etablierten Ordnung. Im Fall der Sintflutgeschichte wird die Abweichung von einer vorgegebenen normativen Ordnung mit Sanktionen geahndet. Die biblische Sintflutgeschichte ist ein Widerruf der Erschaffung des Menschen, ein Widerruf, der notwendig wird, weil der mit der Schöpfung etablierten Norm zuwidergehandelt wird. Schöpfungs- und Sintflutgeschichte gehören untrennbar zusammen, weil sie aus unterschiedlicher Perspektive den Aufbau einer unumstrittenen normativen Ordnung betreiben.15 Man kann Schöpfungs- oder Gründungsgeschich14 15

Jolles, André, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1999, S. 91–125, bes. S. 124f. Vgl. Löning, Karl / Zenger, Erich, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, S. 163.

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ten als l e g i t i m i e r e n d e M y t h e n , Sintflutgeschichten als d e l e g i t i m i e r e n d e M y t h e n bezeichnen. Legitimierende wie delegitimierende Mythen stehen im Dienst der Etablierung einer unumstrittenen Norm. Präziser ausgedrückt: Die Funktion legitimierender und delegitimierender Mythen besteht darin, den Bestand und die Konstitution einer Gesellschaft »durch Rückführung auf einen obersten Wert zu sichern, der allgegenwärtig und unumstritten, kurz: heilig ist.«16 Man kann nun die Brandigan-Episode in topographischer wie handlungstypologischer Hinsicht als schöpfungsmythisch imprägniertes Geschehen deuten, dem an der Etablierung einer Ordnung liegt. Die Freude des in Trauer erstarrten Hofes wird wieder hergestellt, und zwar dadurch, dass die höfische Ordnung in ihr Recht gesetzt wird. Der oberste Wert, der im Erec zur Debatte steht, ist hier eine sich gesellschaftlich artikulierende Minne. In der Brunnenepisode des Iwein begegnen dagegen untergangsmythische, also antimythische Erzählelemente. Die Sonne verfinstert sich am helllichten Tag, ein Unwetter zieht auf, das die Menschen das Fürchten lehrt, ja, wie es im Text heißt, in die schiere Verzweiflung treibt. Diese untergangsmythischen Erzählelemente stehen im Dienst der Delegitimierung eines auf deregulierter Gewalt basierenden AventiurePrinzips. Mit dem Vorwurf, die Fehde sei nicht angesagt worden, setzt der wütend herbeireitende Askalon ein; damit stellt er dem Artushof das Zeugnis einer anarchischen Gewaltpraxis aus. Iwein verfolgt Askalon âne zuht (V. 1056: her Îwein jaget in âne zuht), heißt es später im Roman, auch dies ein Beispiel für deregulierte Gewaltpraxis. Die untergangsmythischen Erzählelemente stellen die Störung einer als ideal vorausgesetzten höfischen Ordnung aus. Der oberste Wert, der im Iwein zur Debatte steht, ist hier die regulierte Gewalt, ist die âventiure als regelgeleiteter strît. Im Fall des Erec ist es die sich gesellschaftlich immunisierende und insofern absolut setzende Minne, die im Gestus mythisierenden Erzählens, genauer: s c h ö p f u n g s m y t h i s c h e n Erzählens sozialer Logik unterworfen wird; im Fall des Iwein wird im Gestus antimythischen Erzählens, genauer: u n t e r g a n g s m y t h i s c h e n Erzählens ein sich absolut setzendes Gewaltprinzip sozialer Funktionalisierung zugeführt. Um Legitimierung und Delegitimierung von Normen und Ordnungen vor Augen zu führen, bedient sich der klassische Artusroman mythischer Erzählformen. In ihm dominiert die an eine besondere Raumzeit gebundene Fundierung oberster Werte einer Kultur. Gesellschaftlich wirksame Minne und regelgeleiteter strît sind, darauf wird man sich wahrscheinlich einigen können, wichtige, wenn nicht sogar die zentralen Werte des höfischen Romans Hartmannscher Prägung; im Erec wird die gesellschaftlich integrierte Minne, im Iwein der sozialen Regeln unterliegende strît mythisch bzw. antimythisch fundiert.

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Frank, Manfred, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1982, S. 82. Vgl. hierzu Assmann, Aleida / Assmann, Jan, Mythos, in: HrwG, 4/1998, S. 179–200, hier S. 185f.

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Bruno Quast

Der höfische Roman Hartmannscher Provenienz, Erec und Iwein, als fundierende Mythe in Gestalt von Mythe im Erec und Antimythe im Iwein, die intertextuell, handlungstypologisch und nicht zuletzt Normen setzend aufeinander bezogen sind, weist im Vergleich zu Ursprungs- und Kulturmythen, wie sie in vielen Kulturen einen zentralen Platz einnehmen, eine Besonderheit auf. Fundierende Mythen, die in den Theorien über die Entstehung des kulturellen Gedächtnisses von Gesellschaften inzwischen einen nicht mehr wegzudenkenden Topos darstellen, führen bestehende Verhältnisse in der Regel auf einen urzeitlichen ›ordo‹ zurück. Der Anthropologe Bronislaw Malinowski hat dies in seinen ethnologischen Studien als einer der ersten eindrücklich nachgewiesen.17 Mythen erzählen exemplarisch von normativen A n f ä n g e n gesellschaftlicher Institutionen. Der höfische Roman denkt dagegen vergleichsweise weniger in der Kategorie der Zeit. Die Urzeit spielt hier auf den ersten Blick nur eine untergeordnete, etwa im Iwein in den Prolog abgedrängte Rolle. An die Stelle der Zeit, so könnte man zugespitzt formulieren, tritt im höfischen Roman eine Raumzeit. Den Artusroman beherrscht ein raumzeitlich imprägnierter mythischer Gestus im Gegensatz zur Konkretisierung des Uranfänglichen in klassischen fundierenden Mythen. Der höfische Roman will von seinen Sonderräumen her gelesen werden, die obersten Werte der höfischen Gesellschaft werden in magisch-mythischen Sonderräumen fundiert. Hartmanns Erec mündet geradezu in einen mythischen Sonderraum, der Iwein nimmt gewissermaßen seinen Ausgang in einer mythisch-magischen Anderwelt. Schaut man genauer hin, muss man gewärtigen, dass im Erec wie im Iwein zunächst von den mythischen Sonderräumen e r z ä h l t wird, bevor diese Räume betreten werden. Erec erfährt u.a. vom Herrn der Burg Brandigan von der sonderbaren âventiure, die sich mit dem Baumgarten verbindet, im Iwein erzählt Kalogrenant der arthurischen Gesellschaft von seinem Abenteuer im Brunnenreich, bevor Iwein aufbricht, sich eben dieser âventiure erneut zu stellen. Die Abenteuer in den mythischen Sonderräumen sind immer schon erzählerisch vermittelt, und diese Mediatisierung, diese sekundäre Vermittlung in der Figurenrede, kennzeichnet auch das Verhältnis der höfischen Literatur zur fundierenden Mythe. Der Artusroman greift nämlich auf mythische Vorstellungen zurück, ohne selbst noch im eigentlichen Sinne mythisch zu sein. Er funktionalisiert die fundierende Mythe, implementiert sie in ein ansonsten weitgehend mythenfreies heteronomes Geschehen.18 Von mythischer Totalität kann in den Artusromanen keine Rede mehr sein. Die Helden betreten die mythischen Sonderräume, sie können sie aber auch wieder verlassen. Aber auf der anderen Seite gilt es festzuhalten: So wenig der klassische Artusroman noch mythisch ist, so sehr bedarf er offenbar nach wie vor der 17 18

Malinowski, Bronislaw, Der Mythos in der Psychologie der Primitiven, in: ders., Magie, Wissenschaft und Religion. Und andere Schriften, Frankfurt/M. 1973, S. 77–129. Zur Mythizität mittelalterlicher Literatur zuletzt Müller, Jan-Dirk, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 26–28.

Mythos und Norm in den Artusromanen Hartmanns von Aue

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Geste einer mythischen Fundierung oberster Werte. Mythe wie Antimythe in raumzeitlicher Gestalt sind im höfischen Artusroman Hartmannscher Prägung literarisch funktionalisiert, ohne dass sie allerdings offenbar bereits der Beliebigkeit eines literarischen Spiels preisgegeben wären. Dem Verhältnis von Mythischem und Höfischem kommt man mit einer binären Logik, wie ich sie eingangs geschildert habe, offenbar nicht bei. Fragt man nach dem Verhältnis von Mythos und Norm im höfischen Roman, muss man die Ebene der Handlung von der des Erzählens trennen. Auf der Ebene des erzählten Geschehens zeigt sich eine Ambivalenz des Mythischen. Fragt man nach den verwendeten Erzählmodellen, weicht die Ambivalenz des Mythischen einem affirmativen Gestus mythisierenden Erzählens, der der Fundierung oberster höfischer Werte zuspielt. Doch bei aller Divergenz von Handlungs- und Erzählebene mit Blick auf die Wertung des Mythischen stehen beide im Dienst der Etablierung oberster Werte.

Corinna Laude (Berlin)

wîs lûter sam ein îs – oder: Schwierige Schönheit Überlegungen zur Etablierung ästhetischer Normen in der höfischen Epik

I. Schönheit als Norm »Frauen sind dagegen in aller Regel schön.« Diese Aussage, die hier aus einer Studie von Ingrid Kasten über die seltenen Ausnahmen von dieser Regel zitiert ist, findet man so oder ähnlich in fast allen Arbeiten über das Frauenbild in der höfischen Literatur des Mittelalters.1 Weiter liest man – wiederum exemplarisch – bei Kasten: »Sie [die Frauen] sind schön, weil das normbildende höfische Frauenideal dies verlangt und weil es der Rolle der Umworbenen und Liebespartnerin entspricht, welche die Frauen in den Dichtungen der Zeit zumeist innehaben.« Demgemäß sind die beiden hässlichen Ausnahmen, derer sich Ingrid Kasten annimmt, die Sibille im Eneasroman Heinrichs von Veldeke und Cundrie aus Wolframs Parzival, nicht nur hässlich, sondern auch Jungfrauen, die überdies durch ihre mehr oder minder deutlich ausgewiesene Gelehrsamkeit gegen das »normbildende höfische Frauenideal« verstoßen und die – so die Ausgangsthese Ingrid Kastens – durch die literarische Strategie des Hässlichma1

Nach 2008 erschienene Sekundärliteratur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Kasten, Ingrid, Häßliche Frauenfiguren in der Literatur des Mittelalters, in: Lundt, Bea (Hrsg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1991, S. 255–276, Zit. S. 256, dort auch das folgende Zitat. Vgl. außerdem Kellermann, Karina, Entstellt, verstümmelt, gezeichnet – wenn höfische Körper aus der Form geraten, in: Denneler, Iris (Hrsg.), Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität, Frankfurt/M. u.a. 1999, S. 39–58; Brandt, Wolfgang, Die Beschreibung häßlicher Menschen in höfischen Romanen. Zur narrativen Integrierung eines Topos, in: GRM, N.F. 35/1985, S. 257–278; Dallapiazza, Michael, Häßlichkeit und Individualität. Ansätze zur Überwindung der Idealität des Schönen in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹, in: DVjs, 59/1985, S. 400–421; Knapp, Fritz Peter, Die hässliche Gralsbotin und die Victorinische Ästhetik, in: Sprachkunst, 3/1972, S. 1–10. Zur Körperschönheit im Minnesang s. bereits die Textsammlung von Krohn, Rüdiger (Hrsg.), Puella bella. Die Beschreibung der schönen Frau in der Minnelyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, 2., verbesserte u. vermehrte Aufl. Stuttgart 1993 (Helfant-Texte 6); zuletzt Haupt, Barbara, Schönheitspreis, in: Bein, Thomas (Hrsg.), Walther verstehen – Walther vermitteln. Neue Lektüren und didaktische Überlegungen, Frankfurt/M. u.a. 2004 (Walther-Studien 2), S. 209–231; dies., Der schöne Körper in der höfischen Epik, in: Ridder, Klaus / Langner, Otto (Hrsg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18. bis 20. März 1999), Berlin 2002 (Körper – Zeichen – Kultur 11), S. 47–73.

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Corinna Laude

chens zunächst gerade aus der höfischen Sphäre innerhalb der ›histoire‹ ausgegrenzt werden.2 Ihre Darstellung, die Techniken und Funktionen der Beschreibung hässlicher Figuren im höfischen Roman haben die Forschung häufiger interessiert als die dichterische Präsentation der schönen Norm.3 Deren Elemente sind – meist dem Topos ›a capite ad calcem‹ folgend – bekanntlich auch rasch aufgezählt und funktional relativ einfach bestimmbar als Signale jener Konvergenz von ›pulchritudo‹ und ›bonitas‹, die der höfischen Ästhetik als normative Vorstellung nach Ausweis der Forschung zugrunde lag.4 Dieses Konzept von Körperschönheit im engen Konnex mit ethischer Vollkommenheit, das sich neben dem christlichen Gegenentwurf einer ›formosa deformitas‹ behauptete,5 speist sich einerseits aus der antiken Kalokagathia-Tradition.6 Anderer2

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Vgl. Kasten, Häßliche Frauenfiguren [Anm. 1], S. 257, 262 u. 272f. (dort betont Kasten, dass vor allem die Präsentation von Wolframs Cundrie letztlich mit dieser Ausgrenzungsstrategie breche). Vgl. die in Anm. 1 genannte Literatur. Vgl. dazu Cramer, Thomas, ›Pulchritudo et bonitas.‹ Faste, pouvoir et éthique dans la littérature allemande vers l’an 1200, in: Buschinger, Danielle (Hrsg.), Cours princières et châteaux. Pouvoir et culture du IXe au XIIIe siècle en France du Nord, en Angleterre et en Allemagne. Actes du Colloque de Soissons (28–30 Septembre 1987), Greifswald 1993 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 6, Serie 3,9 = Wodan 21), S. 81–94; Haupt, Der schöne Körper [Anm. 1]; außerdem: Knapp, Die hässliche Gralsbotin [Anm. 1]; Dallapiazza, Häßlichkeit und Individualität [Anm. 1], S. 400 u. 408–411; Kellermann, Entstellt [Anm. 1], S. 41–44. Die beiden Letztgenannten sind allerdings am Gegenteil der höfischen Norm interessiert. – Wenig hilfreich ist die pauschalisierende, kaum Neues bietende und zwischen Dichtung und ›Wahrheit‹ unzureichend scheidende (vgl. S. 76, wo die Fernliebe als an mittelalterlichen Höfen »nichts Ungewöhnliches« dargestellt wird) Studie von Bussmann, Sarah, ›An wîbe lobe stêt wol daz man si heize schœne.‹ Der Topoi [sic! Vgl. auch ebd., S. 75] der schönen Frau in der mittelhochdeutschen Dichtung, in: Entwürfe, 9/2003, S. 73–80. – Zur topischen Norm bzw. den rhetorischen Regeln der Personenbeschreibung s. auch bereits Faral, Edmont, Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge, Paris 1962, S. 80, sowie Krohn, Rüdiger, Körperschönheit in der Minnelyrik, in: ders. (Hrsg.), Puella bella [Anm. 1], S. 112–152, hier S. 117–121 u. 135– 138; zu Schönheitskonzepten und ihren Beschreibungsregeln in der lateinischen Dichtung des Frühmittelalters, deren Praxis die mittellateinischen Poetiken ebenso beeinflusst zu haben scheinen wie die antike Rhetorik, s. Cizek, Alexandru, Das Bild von der idealen Schönheit in der lateinischen Dichtung des Frühmittelalters, in: Mittellateinisches Jahrbuch, 26/1991, S. 5–35. Vgl. dazu grundlegend Michel, Paul, ›Formosa deformitas‹. Bewältigungsformen des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur, Bonn 1976 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 57); Jauss, Hans Robert, Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur, in: ders. (Hrsg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968 (Poetik und Hermeneutik 3), S. 143– 168. Vgl. dazu in mediävistischer Perspektive Kellermann, Entstellt [Anm. 1], S. 43f., mit weiterführender Literatur.

Überlegungen zur Etablierung ästhetischer Normen in der höfischen Epik

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seits fließen hier vermutlich christlich-theologische Vorstellungen ein, die das Schöne überhaupt nur im Zusammenhang mit dem Guten konzeptualisieren und sich (nicht zuletzt wegen des auch ästhetischen Skandalons der ›passio‹ Christi) mit der materiell gebundenen Schönheit der irdischen Erscheinungen prinzipiell eher schwertun.7 So lautet bekanntlich der Forschungsbefund – und angesichts dessen erstaunt es nicht, dass die Ausnahmen größere Aufmerksamkeit gefunden haben als die wohl immer auch ein wenig langweilig erscheinende Norm selbst. Denn Devianz, soziale oder auch ästhetische Abweichung, hier das Hässliche als Darstellungsinhalt der mittelalterlichen Literatur, verspricht zumindest Ansätze einer Individualisierung zu bieten,8 wie sie sich im vormodernen Zeitalter der Inklusionsidentität9 generell nur selten finden lassen. Hinzu kommt, dass vornehmlich anhand der hässlichen Figuren auch offengelegt werden konnte, dass und wie die Dichter um 1200 mit der Vorstellung einer »schematische[n] Gleichung von [ ] Häßlich und Böse« gerade brachen:10 Vielfach analysierte ›exempla‹ dafür, dass diese Identifizierung des Hässlichen mit dem Bösen in der höfischen Literatur um 1200 infrage gestellt worden ist, sind nun just die Sibille in Heinrichs von Veldeke Eneasroman und Wolframs Cundrie, die – entgegen den Vorlagen11 – zwar »furchterregend häßlich« sind, die »aber alles andere als bösartig« erscheinen.12 Im Folgenden jedoch wird es nicht um die Hässlichen gehen. Hier soll es gehen um die Schönheit – die der Körper und die der Dinge –, welche, so die ›communis opinio‹, die volkssprachige Dichtung um 1200 massiv als eine höfische Existenznorm zu etab-

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Vgl. Cramer, ›Pulchritudo et bonitas‹ [Anm. 4]; Bruyne, Edgar de, L’esthétique du Moyen Âge, Louvain 1947 (Essais Philosophique 3), S. 109–113. Vgl. Dallapiazza, Häßlichkeit und Individualität [Anm. 1]; Jauss, Die klassische und die christliche Rechtfertigung [Anm. 5], vor allem S. 168. Vgl. einführend zu den verschiedenen historischen Identitätskonzepten Müller, Jan-Dirk, Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs, in: Hausmann, Albrecht (Hrsg.), Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), S. 47–64, hier S. 49–51; Bulang, Tobias, Tristan lacht. Betrugsszenario und Akte des Fingierens in ›Tristan als Mönch‹, in: Laude, Corinna / Schindler-Horst, Ellen (Hrsg.), List, Lüge, Täuschung, Bielefeld 2005 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52), S. 362–378, hier insbesondere S. 364. Dallapiazza, Häßlichkeit und Individualität [Anm. 1], S. 400; vgl. auch Brandt, Die Beschreibung häßlicher Menschen [Anm. 1], S. 268; Kasten, Häßliche Frauenfiguren [Anm. 1], pass. Zur Sibille Veldekes dezidiert Kasten, Häßliche Frauenfiguren [Anm. 1], S. 258: »Bemerkenswert ist, daß der deutsche Autor der erste ist, welcher die Sibille ausdrücklich als häßlich darstellt.« Zu Cundrie ebd., S. 268–272; vgl. auch Brandt, Die Beschreibung häßlicher Menschen [Anm. 1], S. 268f. (zur Sibille), S. 263–265 u. 271–275 (zu Cundrie); Dallapiazza, Häßlichkeit und Individualität [Anm. 1], pass. So Brandt, Die Beschreibung häßlicher Menschen [Anm. 1], S. 268, über die Sibille.

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lieren sich bemühe, wovon die vielfältigen ›descriptiones‹ schöner Figuren und, häufiger noch, schöner, luxuriöser, exquisiter Dinge in den Texten zeugten.13 Dass jedoch auch sie keineswegs unproblematisch sind, dass Schönheit in der profanen Dichtung durchaus nicht immer eine positive kulturelle Norm darstellt – oder in soziologischer Terminologie eine ›Idealnorm‹, von der auch dann eine unbedingte Affirmationsaufforderung ausgeht, wenn sie faktisch nicht realisiert ist14 –, dieser ambivalente Befund wird im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Dabei soll es freilich nicht um jene Schönheit gehen, die in der höfischen Literatur »mitunter [und übrigens bemerkenswert selten – C.L.] als trügerisch« gezeichnet wird, wie z.B. meist die Schönheit Helenas15 oder die der Frau Welt, die ohnehin ja nur eine ›einseitige‹ ist.16 In beiden Fällen fehlt die ethische Komponente vollkommen, ist eine Anbindung an das Kalokagathia-Ideal nicht möglich und eine negative Wertung der schönen Figur entsprechend einfach. Es gibt indes Texte, die es ihren Rezipienten nicht so leicht machen und die insofern jene aus christlicher Sicht heikle Größe der Aisthesis – die der Augenlust zuträg-

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Vgl. z.B. Kartschoke, Dieter, Elfenbein und Nachtigall. Über die Schönheit der Literatur im Mittelalter, in: Brittnacher, Hans Richard / Stoermer, Fabian (Hrsg.), Der schöne Schein der Kunst und seine Schatten, Bielefeld 2000, S. 41–56; Haupt, Der schöne Körper [Anm. 1], pass.; Schnell, Rüdiger, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, in: Frühmittelalterliche Studien, 39/2005, S. 1–100, insbesondere S. 48–70, der bereits für die frühmittelalterliche höfische Kultur veranschlagt, dass das »ästhetische Moment […] eine gewichtige Rolle erlangt hat« (ebd., S. 51). Vgl. zu diesem Normbegriff Ruhe, Doris, Einführende Überlegungen, in: dies. / Spieß, Karl-Heinz (Hrsg.), Prozesse der Normbildung und Normveränderung im mittelalterlichen Europa, Stuttgart 2000, S. 1–4, hier S. 2; s. auch Hofmann, Hasso / Schrader, Wolfgang H., Norm, in: HWPh, 6/1984, Sp. 906–920, hier Sp. 918, zu Georg Simmels »grundlegender und richtungsweisender Differenzierung: ›N. hat die zweifache Bedeutung: einmal dessen, was allgemein, generisch geschieht, dann dessen, was geschehen soll, wenngleich es vielleicht nicht geschieht‹ «, folglich zur Trennung von »Seins-Aspekt der Normalität und […] Sollens-Aspekt der Vorschrift oder Forderung«. Vgl. Kasten, Häßliche Frauenfiguren [Anm. 1], S. 262, Zit. ebd. Eine positiv gewertete Schönheit Helenas begegnet in Gottfrieds von Straßburg Tristan: Sie ist Maßstab für die sie noch übertreffende Schönheit Isoldes (vgl. Marold, Karl [Hrsg.], Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. 1, Text, unveränderter 5. Abdruck nach dem 3. mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen Apparat besorgt und mit einem erweiterten Nachwort versehen von Werner Schröder, Berlin, New York 2004, V. 8263– 76); s. dazu Kern, Manfred, Isolde, Helena und die Sirenen: Gottfried von Straßburg als Mythograph, in: Oxford German Studies, 29/2000, S. 1–30, insbesondere S. 6–11 u. 29f. Vgl. dazu zuletzt und mit weiterführenden Literaturangaben Bein, Thomas, ›Frau Welt‹, Konrad von Würzburg und der Guter. Zum literarhistoriographischen Umgang mit weniger bekannten Autoren, in: Nagy, Márta / Jónácsik, László (Hrsg.), ›swer sînen vriunt behaltet, daz ist lobelîch‹. Festschrift für András Vizkelety zum 70. Geburtstag, Budapest 2001 (Abrogans 1 = Budapester Beiträge zur Germanistik 37), S. 105–115, hier S. 108–113.

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liche, dem Seelenheil aber unter Umständen abträgliche Schönheit – zu fassen versuchen, indem sie gerade ihre Ambiguität betonen. Mit dem Mehrdeutigen jedoch verträgt sich der Geltungsanspruch einer Norm nun bekanntlich schlecht.

II. Schönheit als problematische Kategorie: Veldekes Eneasroman Beginnen möchte ich meine Überlegungen mit der schönsten Figur des deutschsprachigen Eneasromans, 17 der schönsten jedenfalls, wenn man die Summe der auf die Schilderung ihrer Schönheit verwendeten Verse zum Maßstab macht. Heinrich von Veldeke präsentiert mit der Beschreibung der bereits erwähnten Sibille nämlich nicht nur die erste ›descriptio‹ einer hässlichen Frau in der deutschen Literatur überhaupt,18 sondern auch die erste den rhetorischen Regeln folgende Beschreibung eines schönen ›Ritters‹. Der junge, strahlend schöne Ritter ist allerdings kein Mann, sondern Camilla, die amazonenähnliche Königin der Volsker, die freilich auftritt, als sie ein ritter solde sîn (V. 147,7).19 Der Eneasroman führt dieses maget (V. 145,36) seinem Publikum in zwei Anläufen vor: Camilla wird zunächst vorgestellt als eine der vornehmsten Verbündeten des Eneasfeindes Turnus, die der Erzähler unter den vielen im Heer gesondert erwähnt (V. 142,36–39). Die Erzählinstanz nennt die junge Herrscherin in dieser Reihe zuletzt und widmet ihr, nachdem als einziger der Alliierten und fast direkt vor der Einführung

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Ich zitiere den Text nach der Ausgabe: Heinrich von Veldeke, Eneasroman, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1989 (RUB 8303 [10]); die folgenden Zitate werden direkt im Fließtext nachgewiesen. Vgl. Kasten, Häßliche Frauenfiguren [Anm. 1], S. 265. Zu dieser nicht nur in ›gender‹-Hinsicht ambivalenten Figur s. Müller, Maria E., Jungfräulichkeit in Versepen des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1995 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 17), S. 230–244; Schulze, Ursula, ›Sie ne tet niht als ein wîb.‹ Intertextuelle Variationen der amazonenhaften Camilla, in: Fiebig, Annegret / Schiewer, Hans-Jochen (Hrsg.), Deutsche Literatur und Sprache von 1050 – 1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 235–260; Brinker-von der Heyde, Claudia, ›Ez ist ein rehtez wîphere.‹ Amazonen in mittelalterlicher Dichtung, in: PBB, 119/1997, S. 399–424, hier S. 411–418; Haupt, Der schöne Körper [Anm. 1], S. 47–56; Hamm, Joachim, Camillas Grabmal. Zur Poetik der ›dilatatio materiae‹ im deutschen Eneasroman, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 45/2004, S. 29–56; nicht zugänglich war mir leider Westphal, Sarah, Camilla: The Amazon Body in Medieval German Literature, in: Exemplaria, 8/1996, S. 231–258; zur Camilla des Roman d’Énéas (vor allem im Vergleich mit Vergil) ist immer noch instruktiv die Studie von Auerbach, Erich, Camilla oder über die Wiedergeburt des Erhabenen, in: ders., Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, S. 135–176.

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Camillas nur Messapus und seine Wunderpferde eine größere ›digressio‹ erhalten haben (V. 144,19–145,12), mit fast 100 Versen die längste Partie (V. 145,36–148,14). Auf die Beschreibung ihres Pferdes und seiner Ausstattung entfallen direkt im Anschluss noch einmal 49 Verse (V. 148,15–149,23). Ein weiteres Mal wird Camilla den Rezipienten in immerhin noch 40 Versen vor Augen gestellt als Kämpferin gegen die Trojaner: Nunmehr ist es dem Kontext entsprechend ihre kunstvoll verzierte Rüstung, die detailgenau beschrieben wird (V. 236,20–237,19). Die gedoppelte Präsentation der Figur lässt aufhorchen – zumal den beiden relevanteren Frauengestalten des Eneasromans, Dido und Lavinia, der Erzähler weitaus weniger deskriptive Aufmerksamkeit schenkt: Der Königin von Karthago wird nur eine ›descriptio pulchritudinis‹ zuteil – und zwar eine, welche der »dichtungstheoretischen Toposnorm«,20 die in der spätantik-frühmittelalterlichen Poetik vermutlich seit dem 5. Jahrhundert durch Sidonius Apollinaris und sein Porträt Theoderichs etabliert war,21 nicht entspricht, da sie sich in erster Linie Didos raffinierten Gewändern widmet, und die gerade einmal 69 Verse in Anspruch nimmt (59,19–61,7). Lavinia, die spätere Ehefrau des Helden, erhält signifikanterweise gar keine ›descriptio‹.22 Mit ihr verfährt die Erzählinstanz wie beim höfischen Figurenarsenal gemeinhin üblich, denn ihr wird schlicht ›zugeschrieben‹, sch$ne zu sein, ohne dass diese Schönheit rhetorisch expliziert werden müsste: Sie betritt die Bühne als ein junkfrowen lussam (V. 260,16), und kurz darauf redet ihre Mutter sie mit scône Lâvîne an (V. 260,21). Camilla indes wird ausführlich beschrieben. Eingeführt wird sie allgemein als ein maget wol getâne (V. 145,40), verwizzen unde reine (V. 146,1), das allerdings auch über erotische Qualitäten verfügt, die summarisch festgehalten werden: Sie ist eine der schônisten juncfrouwen / die ieman mohte beschouwen / an allem ir lîbe. / sie was zeinem wîbe / wol gewassen genûch (V. 146,3–7). Dann fokussiert die Erzählinstanz Camillas äußerliche Erscheinung (vgl. V. 146,10–19); regelgerecht 23 werden erwähnt: das weißblonde Haar; die glatte Stirn; braune, schmale Augenbrauen; schöne, wohlgeformte Augen; Nase, Mund, Kinn als allesamt lieblich; sodann ein heller, reiner Teint rehte als milich unde blût, / wol gemischet rôt unde wîz (V. 146,24f.); schöne Arme und Hände (V.

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Brandt, Die Beschreibung häßlicher Menschen [Anm. 1], S. 258. Vgl. dazu Faral, Les arts poétiques [Anm. 4], S. 80f. Sidonius liefert auch das Gegenbeispiel einer »description of monsterous appearance« in Gestalt der ›descriptio‹ Gnathos, die überdies als eine »collection of unpleasant traits of character« angelegt ist; s. dazu Salmon, Paul, The Wild Man in ›Iwein‹ and Medieval Descriptive Technique, in: MLR, 56/1961, S. 520– 528, hier S. 525f., Zit. S. 525. Das Ausbleiben einer ›descriptio‹ erklärt jüngst Masse, Marie-Sophie, Verhüllung und Enthüllung. Zu Rede und ›descriptio‹ im ›Eneasroman‹, in: Euphorion, 100/2006, S. 267–289, hier S. 287, damit, dass Lavinias »wahres Wesen mit den Augen erkennbar ist und die evidentia der descriptio nicht benötigt: Im Gegensatz zur libyschen Herrscherin hat die italische Königstochter nichts zu verheimlichen, weder versteckte Absichten noch geheime Schwächen.« Vgl. o. die in Anm. 4 genannte Literatur.

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146,29) und schließlich wieder summarisch die ganze schlanke und doch weibliche (wîblîch genûch, V. 146,33) Gestalt, deren Gewandung dann in den folgenden Versen ihrerseits detailliert geschildert wird (vgl. V. 146,34–147,13). Neben den märchenhaften Farben ihres rot-weißen Teints,24 die dreimal genannt werden (V. 146,24, 25, 28), betont die Erzählinstanz zweimal die Natürlichkeit von Camillas Erscheinung, die ohne Schminke (âne blank und ân vernîz, V. 146,26) auskommt bzw. von natûre (V. 146,28) ist.25 Ebenfalls zweimal wird auch die Wirkung ihres Anblicks auf Männer beschrieben: Camillas Augen sind offenbar so überirdisch schön, dass sie den Männern wie eine gotinne vorkommt (V. 145,15–17, zit. 17), und die Jungfrau, eisern darauf bedacht, ihre Virginität zu bewahren (vgl. V. 148,4–14), erweckt pikanterweise in jedem Mann die Lust, sie zu sehen und mehr noch: im Arm zu halten (V. 146,21f.). Von solchen Effek24

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›Rot wie Blut und weiß wie Schnee‹ oder auch ›rot wie Feuer und weiß wie Eis‹ – so lauten die ›Märchen‹-Formeln, die in der mittelalterlichen Literatur als Farben von Lilie und Rose auch Maria bzw. der Dame des Minnesangs zugeschrieben werden; vgl. dazu schon Krohn, Körperschönheit [Anm. 4], S. 120. Veldekes ungewöhnlicher Vergleich von Camillas Teint mit Milch und Blut (V. 146,24) könnte einmal mehr seine Gelehrsamkeit belegen, denn hier scheint er auf die lateinische Tradition zurückzugehen; s. dazu Pastré, Jean-Marc, Pour une esthétique du portrait: les couleurs du visage dans la littérature médiévale allemande, in: Les couleurs au Moyen Âge, Centre Universitaire d’Etudes et de Recherches Médiévales, Aix-enProvence 1988 (Sénéfiance 24), S. 285–300, hier S. 294f. Entsprechend ist es auch ein »Topos der mittelalterlichen Panegyrik, die von der Natur einer Frau geschenkte Schönheit gegenüber jeder künstlich imitierten hervorzuheben«, so betont bereits Knapp, Die hässliche Gralsbotin [Anm. 1], S. 8, Anm. 28. Ob damit eine Differenzierung von Natur- und Kunstschönem ›avant la lettre‹ und insofern unter verkehrtem Vorzeichen, als dann dem Kunstschönen hier nichts Positives eignete, vorliegt, wäre genauer zu verfolgen; bemerkenswert erscheint mir, dass die unterschiedliche Bewertung beider Formen von (Frauen-)Schönheit immer wieder relativiert wird, indem in den mittelalterlichen Texten dem Naturschönen durch das Kunstschöne häufig ›aufgeholfen‹ wird, so auch im Falle Camillas, deren Kleidung ihre Schönheit noch betont (dazu oben im Folgenden mehr). Zur Differenzierung von Natur- und Kunstschönem, die für die vormoderne Ästhetik negiert und erst seit Kant veranschlagt wird, vgl. Müller, Jan-Dirk, ›Gebrauchszusammenhang‹ und ästhetische Dimension mittelalterlicher Texte. Nebst Überlegungen zu Walthers ›Lindenlied‹ (L 39.11), in: Braun, Manuel / Young, Christopher, Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 281–305, hier S. 297 mit Anm. 47; Braun, Manuel, Kristallworte, Würfelworte. Probleme und Perspektiven eines Projekts ›Ästhetik mittelalterlicher Literatur‹, in: ebd., S. 1–40, hier S. 11f. – Demgegenüber weist Thomas Cramer darauf hin, dass bereits Dürer im Rückgriff auf die theologische Unterscheidung von ›pulchritudo‹ und ›pulchra‹ – von Gottes absoluter Schönheit und den an ihr nur partiell teilhabenden irdischen ›Schönheiten‹ – zwischen »der Schönheit (oder Häßlichkeit) des dargestellten Gegenstandes und der Schönheit (der Vollkommenheit) der Darstellung selbst« und somit letztlich zwischen Natur- und Kunstschönem unterscheide; vgl. Cramer, Thomas / Klemm, Christian (Hrsg.), Renaissance und Barock, Frankfurt/M. 1995 (Bibliothek der Kunstliteratur 1), S. 673.

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ten erfährt man in Veldekes französischer Vorlage, dem anonymen Roman d’Énéas,26 nichts, dafür betont der Roman bei der Einführung Camillas stärker die Herrschaftsmacht und Klugheit dieser Figur (vgl. V. 3963–67) und ergänzt die eigentliche ›descriptio pulchritudinis‹27 durch einen Unsagbarkeitstopos (V. 4001–06). Eine weitere signifikante Abweichung Veldekes sei noch angeführt: Während in der altfranzösischen Stofffassung Camilla ein enganliegendes Gewand im besonders kostbaren dunklen Purpurton trägt (V. 4012),28 handelt es sich bei Heinrich um ein Kleid, daz was cleine / unde wîz alsam ein swane (V. 146,40f.).29 Weiß, die Farbe, die neben dem Rot schon ihren Teint bestimmte, wird auch eine prominente Rolle spielen bei der zweiten Camilla zugedachten ›descriptio‹: Hier wie auch in der französischen Vorlage ist ihre Rüstung wîz lûter sam ein îs (V. 236,31; ähnlich der Roman d’Énéas, der von einem schneeweißen Kettenhemd spricht, V. 6926). Und funkelnd, gleißend wie Eis nimmt sich auch der Edelsteinschmuck aus, der – 26

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Ich zitiere den Text nach der Ausgabe: Le Roman d’Eneas, übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9); die folgenden Zitate bzw. Belegstellen werden direkt im Fließtext nachgewiesen. Zum Vergleich: Im Roman d’Énéas entfallen zunächst 88 Verse auf die erste Präsentation Camillas (3959–4046), 38 Verse auf die Darstellung ihres Pferdes und seiner Ausstattung (V. 4047–84) sowie 22 Verse auf Camillas Durchzug durch Laurentum und ihr Zeltlager (V. 4085–4106); sodann widmet der anonyme Erzähler ihr für die zweite Präsentation (direkt vor dem Ausbruch der Kampfhandlungen) 22 Verse (V. 6913–34). Sie enthält kleine Regelbrüche: Rücken und Haare stehen nicht an ihrer » ›Systemstelle‹ « (Brandt, Die Beschreibung häßlicher Menschen [Anm. 1], S. 278, Endnote 20; vgl. auch ebd., S. 265). Zu den verschiedenen Qualitäten der Purpurfärbung vgl. Steigerwald, G[erhard], Purpur, in: LMa, 7/2002, Sp. 330f., hier Sp. 330. Der altfranzösische Roman d’Énéas [Anm. 26] integriert in die Kleiderbeschreibung zwei ›fabulöse‹ Geschichten: erstens über die Herstellerinnen des Gewandes, drei Zauberschwestern (V. 4015–20); zweitens über die Verbrämung des überaus kostbaren Mantels, die fu de gorges d’uns oisels / ki suelent pondre el fonz de mer. / Sor l’onde sieent al cover, / cent teises covent en parfont; / de si chalde nature sont, / que se desus lor oés seeient, / de lor chalor toz les ardreient; / bien fu orlez de ces oisels, / des i qu’a terre li mantels (V. 4036–44; Übers.: »stammte von den Kehlen gewisser Vögel, / die ihre Eier auf den Meeresgrund zu legen pflegen. / Beim Brüten sitzen sie auf der Welle, / sie brüten hundert Klafter in die Tiefe; / sie sind von so heißer Natur, / daß sie alle ihre Eier mit ihrer Hitze verbrennen würden, / wenn sie darauf säßen; / schön war der Mantel bis zur Erde / mit diesen Vögeln verbrämt«). Solche, z.T. dem keltischen Sagenkreis, z.T. den ›mirabilia‹ zugehörigen, exotisch-prachtvollen Elemente der Ausstattung Camillas hat Heinrich von Veldeke an dieser Stelle eliminiert, so dass seine Darstellung Camillas ›realistischer‹ wirkt. Später, im Kontext der langen ›descriptio‹ ihrer kostbaren Grabanlage, spart Veldeke mit ähnlichen Wunderdingen allerdings nicht mehr, vgl. dazu Verf., Quelle als Konstrukt. Literatur- und kunsttheoretische Aspekte einiger Quellenberufungen im ›Eneasroman‹ und im ›Erec‹, in: Rathmann, Thomas / Wegmann, Nikolaus (Hrsg.), ›Quelle‹. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, Berlin 2004 (Beihefte zur ZfdPh 12), S. 209–240, hier S. 233–238.

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anders als in der Vorlage (dort ist der Helm nur luisanz et clers, V. 6927) – ihren wie Glas glänzenden, allerdings bräunlichen Helm ziert (V. 236,35–37) und der, wiederum transluzent, den Buckel ihres ebenfalls weißen, nämlich elfenbeinernen Schildes schmückt, so dass diu sunne dorch schein (V. 236,38–237,4, zit. V. 237,4). wîz lûter sam ein îs – ein weißer Glanz, ein eisartiges Gleißen also prägt ihre Erscheinung. Diese mehrfach hervorgehobene Eigenschaft von Camillas Schönheit erinnert nun zunächst an zweierlei: erstens eminent an den Begriff der claritas und damit an einen Terminus, der in der Forschung als ein zentrales Element mittelalterlich-klerikaler Vorstellungen von Schönheit veranschlagt wird; 30 zweitens an mediävale dichtungstheoretische Bestimmungen der Schönheit literarischer Figuren. Zu beiden Aspekten sei mir im Folgenden ein kleiner Exkurs gestattet. a) Vorstellungen von Schönheit in der mittelalterlichen Theologie und Poetik Mittelalterliche Theorien des Schönen sind – spätestens seit den einschlägigen Publikationen Umberto Ecos – einem relativ breiten Publikum nahegebracht worden.31 Gestützt haben sich diese Untersuchungen u.a. immer wieder gern auf einige Äußerungen von Thomas von Aquin,32 so beispielsweise auf seine drei Bestimmungen der Schönheit, die zusammenkommen müssten, soll etwas schön genannt werden: erstens integritas sive perfectio (Unversehrtheit oder Vollkommenheit), zweitens proportio sive consonantia (Proportion oder Harmonie) und drittens schließlich eben jene claritas.33 30

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Vgl. Eco, Umberto, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München 1995, S. 67–72 u. vor allem 137–139; ders. (Hrsg.), Die Geschichte der Schönheit, München 2006, S. 98–109; Assunto, Rosario, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Neuausgabe, Köln 1982, S. 62–64 u. 98–111. Auch Hamm, Camillas Grabmal [Anm. 19], S. 40, betont den »funkelnde[n] Glanz von Helm, Rüstung und Beinschienen [Camillas], ein[en] Lichteindruck also, der in höfischen Beschreibungen für besondere Schönheit und Kostbarkeit steht«. Neben den Schriften Ecos und Assuntos [Anm. 30] sind außerdem zu nennen: Bruyne, Edgar de, Études d’esthétique médiévale, 3 Bde., Brügge 1946; Perpeet, Wilhelm, Ästhetik im Mittelalter, Freiburg, Wien, München 1977; Schweizer, Hans Rudolf (Hrsg.), Władysław Tatarkiewicz, Geschichte der Ästhetik, Bd. 2, Ästhetik des Mittelalters, Basel, Stuttgart 1980; Pochat, Götz, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986. Diesen Befund erhebt – mit kritischem Impetus – Speer, Andreas, Vom Verstehen mittelalterlicher Kunst, in: Binding, Günter / Speer, Andreas (Hrsg.), Mittelalterliches Kunsterleben nach Quellen des 11. bis 13. Jahrhunderts, 2., unveränderte Aufl., Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 13–52, hier S. 15: »In beinahe allen Studien zu Fragen einer mittelalterlichen Ästhetik wird Thomas von Aquin eine Schlüsselrolle zugewiesen.« Summa theol. I 39, 8; diese Bestimmung greife eine zuvor schon weit verbreitete Vorstellung von Schönheit auf, für die die Metaphysik des Lichts zentral sei und seine Ästhetik bedinge, vgl. Assunto, Theorie des Schönen [Anm. 30], S. 230; kritisch Speer, Andreas, Thomas Aquinas und die Frage einer mittelalterlichen Ästhetik, in: Wort und Antwort, 1/1999, S. 4–8, hier S. 5 (als Internet-Publikation abgerufen am 14.08.2007 unter: http://www.wort-undantwort.de/pdf/artikel/Speer.pdf.); ders., Thomas von Aquin und die Kunst. Eine herme-

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Im Kontext der Rede über mittelalterliche ästhetische Theorien ist dem Aquinaten prinzipiell immer wieder eine zentrale Bedeutung zugewiesen worden, nicht zuletzt, weil seinen Überlegungen konzediert wurde, eine kohärente Theorie darzustellen, die überdies als ein »konstitutive[r] Bestandteil seines philosophischen Systems« eingeschätzt worden ist.34 Demgegenüber haben Jan A. Aertsen und vor allem Andreas Speer in mehreren Untersuchungen mit wünschenswerter Deutlichkeit herausgearbeitet, dass diese vielfach vertretene Auffassung von einer klerikalen ›Theorie des Schönen‹ im Mittelalter methodisch auf so tönernen Füßen steht, dass sie bislang nicht als plausibel gelten kann.35 Andreas Speers Haupteinwand zielt auf ein grundsätzliches Problem: Ihm zufolge »erweisen sich die meisten Versuche über eine mittelalterliche Ästhetik als hermeneutisch blind, indem sie das neuzeitliche ästhetische Paradigma ohne die gebotene Unterscheidung auf ein Jahrtausend anwenden, das sich entgegen manchen Vorurteilen durch eine Vielfalt unterschiedlicher Denkansätze und Denkformen auszeichnet.«36 Konsequenzen dieser anachronistischen Projektion bestünden u.a. darin, dass zum System erhoben worden sei, was gar keinen systematischen Charakter beanspruche: So erfolgten auch die Äußerungen zum Schönen, die sich z.B. bei Thomas von Aquin

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neutische Anfrage zur mittelalterlichen Ästhetik, in: AKG, 72/1990, S. 323–345, hier S. 328– 331. – Differenziert zu präthomistischen klerikalen Konzepten des Schönen Haug, Walter, Transzendenz und Utopie. Vorüberlegungen zu einer Literaturästhetik des Mittelalters, in: Brummack, Jürgen (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, Tübingen 1981, S. 1–22, wieder in: Haug, Walter, Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989 (Studienausgabe 1990), S. 513–528, vor allem S. 516–521; jüngst auch Huber, Christoph, Merkmale des Schönen und volkssprachliche Literarästhetik. Zu Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg, in: Braun/Young (Hrsg.), Das fremde Schöne [Anm. 25], S. 111–141, hier S. 111–117, zur Definition der Schönheit als Farbe bzw. Licht ebd., S. 116. Vgl. kritisch dazu Speer, Vom Verstehen [Anm. 32], S. 16, dort auch das Zitat. Vgl. Speer, Andreas, Thomas von Aquin und die Kunst [Anm. 33]; ders., Vom Verstehen [Anm. 32]; ders., Kunst und Schönheit. Kritische Überlegungen zur mittelalterlichen Ästhetik, in: Craemer-Ruegenberg, Ingrid / Speer, Andreas (Hrsg.), Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter, 2. Halbbd., Berlin, New York 1994 (Miscellanea Mediaevalia 22/2), S. 945–966; ders., Jenseits von Kunst und Schönheit? Auf der Suche nach dem Gegenstand einer philosophischen Ästhetik, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 20/1995, S. 181– 197, hier S. 189–195; ders., Thomas Aquinas und die Frage [Anm. 33]. Vgl. dazu auch Aertsen, Jan A., Beauty in the Middle Ages: A Forgotten Transcendental?, in: Medieval Philosophy & Theology, 1/1991, S. 68–97; zuletzt mit neuem Ansatz Schlie, Heike, Ein ›Kunststück‹ Jan van Eycks in der Nachfolge der mittelalterlichen Artefakt- und Kunsttheorie, in: Laude, Corinna / Heß, Gilbert (Hrsg.), Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit, Berlin 2008, S. 243–286, hier insbesondere S. 244–263. Speer, Jenseits von Kunst [Anm. 35], S. 190; vgl. ders., Thomas von Aquin und die Kunst [Anm. 33], S. 339–343; ders., Kunst und Schönheit [Anm. 35], S. 948.

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finden, de facto eher » ›beiläufig‹ «37 und in Kontexten ohne speziell ästhetische Bedeutung (wie etwa im Zusammenhang mit der allgemeinen Gotteslehre). Speer bilanziert aus diesen Befunden prinzipiell: »Die Fragestellung einer mittelalterlichen Ästhetik und Kunsttheorie muß […] neu überdacht […] werden«.38 Obwohl diese fundamentale Kritik bereits in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts formuliert wurde, stellt das geforderte Projekt im Wesentlichen immer noch ein Desiderat dar. Folglich muss eine etwaige mittelalterliche Theorie des Schönen klerikaler Provenienz – schon gar eine des Aquinaten, die lange nach der Entstehungszeit meiner Referenztexte anzusetzen wäre – bei meinen literarhistorischen Überlegungen weitgehend ausgeklammert werden: Ich gehe vom (wie sich gleich zeigen wird, nicht nur i.e.S. ›literarischen‹) Textbefund aus, um einer Antwort auf die Frage nach dem Status des Ästhetischen als einer etwaigen Idealnorm adliger Existenz näher zu kommen.39 Zu den hier relevanten Texten zählen nun neben den mittelhochdeutschen Dichtungen und ihren Schönheitsbeschreibungen auch die mittellateinischen Poetiken des 12. und 13. Jahrhunderts, welche ihrerseits Normen der ›descriptio‹ versammeln.40 Insbesondere die erste der hochmittelalterlichen poetologischen Schriften, die Ars versificatoria von Matthäus von Vendôme, behandelt die ›descriptio‹ von Personen, Handlungen und Szenen – abweichend von der antiken Rhetorik41 – als die wesentliche Aufgabe

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Speer, Thomas von Aquin und die Kunst [Anm. 33], S. 325; er zitiert hier Willehad Paul Eckert. Speer, Thomas von Aquin und die Kunst [Anm. 33], S. 341; ders., Vom Verstehen [Anm. 32], S. 37: »In diesem Sinne gilt es, ein dem mittelalterlichen Verständnis adäquates ästhetisches Paradigma erst zu gewinnen«; vgl. auch Schlie, Ein ›Kunststück‹ Jan van Eycks [Anm. 35], S. 249f. Vgl. zu der methodischen »Schwierigkeit des Anschlusses ästhetischer Praxis an die Höhenflüge theologischer Spekulation« zuletzt Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 33], S. 117f. (Zit. S. 118), der freilich bei der Analyse seiner beiden Primärtexte, Hartmanns Erec und Gottfrieds Tristan, dann mitunter recht unbekümmert, wie mir scheint, von einer ›Spiegelung‹ der »abstrahierenden Schönheitstheorie« auf einer Metaebene der Texte (ebd., S. 123, vgl. auch S. 121, jeweils zu Hartmanns Erec) ausgeht (zu Gottfried vgl. ebd., S. 132–141; neben einer an den antiken, klerikalen und poetologischen Traditionen geschulten Schönheitskonzeption des Tristanromans konzediert Huber Gottfrieds Vorstellungen vom Schönen freilich auch eine »ambivalente, mehr oder minder deutlich negative Besetzung der schönen Form« [ebd., S. 135]; vgl. dazu mit ähnlichem Befund auch bereits den bei Huber nicht aufgeführten Aufsatz von Kern, Isolde, Helena und die Sirenen [Anm. 15]). Vgl. dazu Faral, Les arts poétiques [Anm. 4], S. 75–81. Ausführlich zuletzt zur mittelalterlichen ›descriptio‹ und ihren antiken und mittelalterlichen rhetorischen Traditionen Henkel, Nikolaus, ›Fortschritt‹ in der Poetik des höfischen Romans. Das Verfahren der Descriptio im ›Roman d’Eneas‹ und in Heinrichs von Veldeke ›Eneasroman‹, in: Bumke, Joachim / Peters, Ursula (Hrsg.), Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. ZfdPh, 124/2005, Sonderheft, S. 96–116, hier S. 98–103, mit weiterführender Literatur. In der Antike spielt die ›descriptio‹ zwar durchaus auch eine Rolle in den rhetorischen

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des Dichters,42 und sie hat damit Schule gemacht. Matthäus’ aus heutiger, an den voraufklärerischen Regelpoetiken geschulter Sicht etwas unsystematisch erscheinende Ars versificatoria beginnt mit einem liber primus, der sich nach Ausführungen zu Techniken des Dichtungsanfanges programmatisch und ausführlich mit den verschiedenen Spielarten der ›descriptio‹ beschäftigt.43 Die Deskription des dichterischen Figurenarsenals steht dabei zunächst im Vordergrund, die Beschreibung von Handlungen und ihren Umständen schließt sich an. Die spezielle ›descriptio‹ figürlicher Schönheit möchte Matthäus in Anlehnung an die antike Rhetorik dem weiblichen Dichtungspersonal vorbehalten wissen, sie dient hier insbesondere der Lobpreisung der Figur: Amplius, in femineo sexu approbatio forme debet ampliari, in masculino vero parcius.44 Matthäus bietet zwar mehrere exemplarische ›descriptiones‹ auf, um zu veranschaulichen, wie ein solcher Schönheitspreis ausgeführt werden sollte,45 doch verzichtet er leider fast vollständig darauf, abstrakt zu bestimmen, was das Schöne denn überhaupt sei: Er nennt allein eine elegante und passende Proportion der Teile oder Glieder des Ganzen und – in meinem Fragekontext nicht uninteressant – die lieblichen »Farben«: Est autem forma elegans et ydonea menbrorum coaptatio cum suavitate coloris.46

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Schriften, doch nimmt sie keinen so prominenten Platz ein wie bei Matthäus. Die ›loci classici‹ sind zusammengestellt bei Faral, Les arts poétiques [Anm. 4], S. 75. Vgl. Faral, Les arts poétiques [Anm. 4], der herausstellt, dass insbesondere Matthäus von Vendôme der rhetorischen Personenbeschreibung viel Platz in seiner Poetik einräumt und sie – wohl erstmalig in der Geschichte von Rhetorik und Poetik – zur wesentlichen Aufgabe der Poesie erklärt (ebd., S. 75f.). Vgl. Munari, Franco (Hrsg.), Mathei Vindocinensis, Opera, vol. III, Ars versificatoria, Rom 1988 (storia e letteratura 171), I, 73: Et quia in peritia describendi versificatorie facultatis precipuum constat exercitium (Übers.: »Und da die Ausübung der Dichtkunst insbesondere in der Fähigkeit, etwas beschreiben zu können, gründet«). Vgl. auch die Einführung zur englischsprachigen Übersetzung: Matthew of Vendôme, The Art of Versification, translated with an introduction by Aubrey E. Galyon, Iowa State University Press 1980, S. 3–22, hier S. 5–9; Krohn, Körperschönheit [Anm. 4], S. 118f.; Hamm, Camillas Grabmal [Anm. 19], S. 29. Die dem ersten folgenden drei weiteren libri behandeln die Eleganz der Worte (II), die Wahl der Figuren und Tropen (III) und schließlich vor allem die Diskussion von in der Praxis zu vermeidenden Fehlern wie z.B. der Redundanz oder dem Gebrauch unangemessener Worte (IV); die vier Bücher lassen sich also behelfsweise dem klassischen rhetorischen Schema wie folgt zuordnen: Das erste Buch entspricht der ›inventio‹, II. und III. entsprechen der ›elocutio‹ und IV. in manchen Teilen der ›dispositio‹. (Vgl. auch Galyon, Einführung [Anm. 42], S. 4f.) Mathei Vindocinensis, Ars versificatoria [Anm. 42], I, 67 (Übers.: »Überdies, um eine Frau zu preisen, sollte man ihre physische Schönheit stark betonen, im Falle eines Mannes ist das zu vermeiden«). Nur die Beschreibung der Schönheit eines Jünglings lässt er als Ausnahme zu; vgl. ebd., I, 68. Vgl. ebd., I, 55–57. Ebd., I, 68 (Übers.: »[Schönheit] aber ist die elegante und harmonische Proportion der einzelnen Teile, begleitet vom Liebreiz der Farbe«). Hierin folgt Matthäus fast wörtlich einer an Cicero geschulten Einschätzung des Schönen durch Augustinus; vgl. Huber,

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Die für Matthäus’ Ars versificatoria und die anderen mittelalterlichen Poetiken zentrale rhetorische Technik der ›amplificatio‹, deren Hauptinstrument die ›descriptio‹ darstellt, hat in letzter Zeit aus zwei Gründen das besondere Interesse der Forschung auf sich gezogen: Erstens, so die einflussreiche These von Franz Josef Worstbrock, eröffne sich dem Textproduzenten durch die ›dilatatio materiae‹ oder ›amplificatio‹ ein poetischer Spielraum, der die grundsätzliche Stoffgebundenheit des mittelalterlichen Dichters transgrediere und sein ›artificium‹, sein Kunstvermögen, und das sich darauf gründende Selbstverständnis historisch adäquat greifbar werden lasse.47 Zweitens, so

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Merkmale des Schönen [Anm. 33], S. 114f., zu Matthäus’ Bestimmung der Schönheit ebd., S. 118f. Mit cum suavitate coloris kann übrigens auch der Liebreiz der ›colores rhetorici‹ gemeint sein, mithin eine Qualität der Beschreibung und nicht eine ihres Gegenstandes. Vgl. Worstbrock, Franz Josef, Dilatatio materiae. Zur Poetik des ›Erec‹ Hartmanns von Aue, in: Frühmittelalterliche Studien, 19/1985, S. 1–30; ders., Wiedererzählen und Übersetzen, in: Haug, Walter (Hrsg.), Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142; vgl. außerdem die Worstbrocks Überlegungen aufgreifenden Beiträge in dem Band: Bumke/Peters (Hrsg.), Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur [Anm. 40]. Zuletzt mit neuem, wie Worstbrock die Poetiken ins Zentrum stellenden Ansatz Schmitz, Silvia, Die Poetik der Adaptation. Literarische ›inventio‹ im ›Eneas‹ Heinrichs von Veldeke, Tübingen 2007 (Hermaea, N.F. 113), die die in den mittellateinischen poetologischen Schriften formulierten Anweisungen zur Stoffadaptation untersucht und am Beispiel von Veldekes Eneasroman ihre prägende Kraft für die Gestaltung der ›materia‹ bzw. generell für die Genese mittelalterlicher dichterischer Texte nachweist; vgl. ebd., vor allem S. 219–292, zu Matthäus von Vendôme insbesondere S. 221–238; zu Camilla und ihren ›descriptiones‹ findet sich bei Schmitz nichts. Radikal kritisiert werden Worstbrocks Überlegungen jüngst von Schmid, Elisabeth, Erfinden und Wiedererzählen, in: Schlesier, Renate / Trînca, Beatrice (Hrsg.), Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft, Hildesheim 2008 (Spolia Berolinensia 29), S. 41–55. – Worstbrocks These von der prinzipiellen Stoffabhängigkeit des mittelalterlichen Dichters als eines ausschließlichen Wiedererzählers von bereits umlaufenden narrativen ›materiae‹ (eine These, die ihrerseits die Forschungsdiskussion fast schon normativ prägt) lässt Aussagen der mittelalterlichen Poetiken in den Hintergrund treten, denen zufolge durchaus auch Novitäten dichterisch gefasst werden konnten; vgl. z.B. Mathei Vindocinensis, Ars versificatoria [Anm. 42], IV, 3: Amplius, materia de qua aliquis agere proponet aut erit illibata aut ab aliquo poeta primitus executa (Übers.: »Außerdem gilt: Die materia [den Terminus mit ›Stoff‹ wiederzugeben, täuschte m.E. eine begriffliche Schärfe nur vor; ungeklärt bliebe letztlich weiterhin, was darunter konkret zu verstehen ist bzw. wie sich der ›Stoff‹ und seine formale Fassung, materia und artificium, voneinander abgrenzen lassen; deshalb belasse ich ihn hier im mittellateinischen Original; vgl. dazu auch Schmitz, Poetik der Adaptation, S. 262], über die jemand zu schreiben beabsichtigt, wird entweder unberührt oder zuvor durch einen anderen Dichter bereits behandelt worden sein«). Auch relativiert eine Ausführung wie die folgende die Worstbrocksche These von der in den mittelalterlichen Poetiken gutgeheißenen Praxis der Abweichung von den vorgängigen Stofffassungen im Freiraum der ›amplificatio‹: Antiquis siquidem incumbebat materiam protelare quibusdam diverticulis et collateralibus sententiis, ut materie penuria poetico figmento plenius exuberans in artificiosum luxuriaret incrementum, hoc autem modernis non licet (Mathei Vindocinensis, Ars versificatoria [Anm. 42], IV, 5; Übers.: »Es war bei

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die nicht minder wirkmächtigen Überlegungen Horst Wenzels und seiner Schülerinnen und Schüler, zeugten die ausgefeilten Beschreibungspraktiken der höfischen Literatur von speziellen Visualisierungsstrategien, die den illiteraten adligen Rezipienten der Texte einen kinästhetischen ›Schauraum‹ aufgeschlossen hätten, der nicht zuletzt die Memorierbarkeit des Gehörten befördert habe.48 Die Grundannahmen der beiden hier lediglich holzschnittartig skizzierten Forschungsansätze werden durch Veldekes Beschreibung der amazonenhaften Königin Camilla ein weiteres Mal bestätigt: Von den Veränderungen, die er anlässlich der ›descriptio‹ gegenüber seiner altfranzösischen Vorlage vornimmt, war bereits die Rede. Und das von ihm z.T. neu eingeführte, verschiedentlich betonte weiß-eisige Gleißen von Camillas gesamter Erscheinung – sowohl in pazifiziertem Zustand beim Einritt in Laurentum als auch (und hier in Anlehnung an den Roman d’Énéas) in gerüstetem Zustand während des Kampfes –, ihr weißes Leuchten, mit dem sie sich durch den Text und wohl auch durch den Kopf des Rezipienten bewegt, dürfte diese Figur, die doch nur eine Nebenrolle spielt, zu einer der prägnantesten Gestalten des Eneasromans machen, die hohen Erinnerungswert besitzt. b) Die schwierige Schönheit Camillas Jenes weiße Leuchten und Glitzern der jungen Volskerkönigin erscheint mir allerdings über den visuellen Eindruck hinaus noch in mehrfacher Hinsicht signifikant: 49 Es ist

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den antiken Autoren üblich, ihre materia durch Abschweifungen und durch anderes, mit dem Thema nur lose verknüpftes, Material auszuweiten, so dass ihre nackte materia, durch dichterische Erfindungen anwachsend, in artifizieller Steigerung zur Üppigkeit gelangte. Dies aber ist den modernen Autoren nicht erlaubt«); vgl. dazu aber Schmitz, Poetik der Adaptation, S. 290, die davon ausgeht, dass Matthäus sich an dieser Stelle »nicht gegen das Verfahren der dilatatio an sich« wende. S. grundlegend Wenzel, Horst, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, insbesondere S. 338–413; einführend ders., Visualität. Zur Vorgeschichte der kinästhetischen Wahrnehmung, in: ZfGerm, N.F. IX/1999, S. 549–556; Wandhoff, Haiko, ›velden und visieren, blüemen und florieren‹. Zur Poetik der Sichtbarkeit in den höfischen Epen des Mittelalters, in: ebd., S. 586–597; Wenzel, Horst / Lechtermann, Christina, Repräsentation und Kinästhetik. Teilhabe am Text oder die Verlebendigung der Worte, in: Paragrana, 10/2001, S. 191–213; Müller, Jan-Dirk, Visualität, Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik, in: ZfdPh, 122/2003, S. 118–132; Wandhoff, Haiko, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2003; Lechtermann, Christina, Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 191); eine Art Zwischenbilanz zu diesem Forschungsfeld bieten die Beiträge in: Starkey, Kathryn / Wenzel, Horst (Hrsg.), Visual Culture and the German Middle Ages, New York 2005. Insbesondere Hamm, Camillas Grabmal [Anm. 19], hat darauf hingewiesen, dass die Camilla-Partien insgesamt durch jenen spezifischen Licht- und Farbeindruck zusammengehalten werden, der bereits ihre erste Präsentation im Eneasroman prägt.

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nicht nur ein wesentliches Element von Camillas exorbitanter Schönheit, sondern es ist auch Signum ihrer Jungfräulichkeit (1); es ist Ausdruck ihres ästhetischen Gespürs, das sich u.a. in der Wahl ihrer luxuriösen Kleidung, ihrer prächtigen Rüstung und ihres wundervollen Reitpferdes50 dokumentiert (2); und es ist schließlich auch eine Vorausdeutung auf ihren Tod und dessen selbstverschuldete Umstände (3). Alle drei Aspekte lassen Camilla trotz ihrer der höfischen Norm zunächst scheinbar entsprechenden Schönheit zu einer nicht nur in klerikaler, sondern auch in laikaler Perspektive problematischen Figur werden. Und diese Anrüchigkeit der Figur wird nun – so meine These – gerade in ihrer Schönheit und in ihrem Sinn für Schönheit anschaulich. Hierin unterscheidet sie sich massiv von einer anderen literarischen Gestalt, für deren Schönheit ebenfalls eine »Lichthaftigkeit« als zentrale Qualität ausgemacht worden ist: von Parzival, dem Wolfram freilich gerade keine den poetologischen Regeln folgende ›descriptio‹ widmet (und insofern letztlich doch die – auch bei Matthäus von Vendôme begegnende – Norm erfüllt, derzufolge männliche Schönheit nicht in einer ausführlichen Beschreibung zu explizieren sei).51 Ad 1: Camillas Jungfräulichkeit Verschiedentlich wurde in der Forschung bereits herausgearbeitet, dass die mittelalterliche Camilla – gemessen an der Darstellung Vergils – ihre Aura verliert:52 Sie hat im 50

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Camillas Reitpferd – später wird kurz noch ihr Streitross erwähnt (V. 237,8) – ist ein Vorgänger des berühmten Wunderpferdes von Enite aus dem Erec Hartmanns von Aue: Es ist fast ebenso bunt, und auch Sattel- und Zaumzeug bestehen aus den kostbarsten Materialien (vgl. V. 148,15–149,23), für deren Schilderung allerdings sehr viel weniger Verse aufgewendet werden als im Erec. Im Vergleich zu Enites Pferd nimmt sich das Camillas nicht ganz so ›fantastisch‹ aus. Vgl. zu Enites Pferd Verf., Quelle als Konstrukt [Anm. 29], S. 217– 233, mit weiterführender Literatur; danach sind erschienen: Wolf, Gerhard, ›bildes rehte brechen‹. Überlegungen zu Wahrnehmung und Beschreibung in Hartmanns ›Erec‹, in: Klotz, Peter u.a. (Hrsg.), Beschreibend wahrnehmen – wahrnehmend beschreiben. Sprachliche und ästhetische Aspekte kognitiver Prozesse, Freiburg/Br. 2005, S. 167–187; Bürkle, Susanne, ›Kunst‹-Reflexion aus dem Geiste der ›descriptio‹. Enites Pferd und der Diskurs artistischer ›meisterschaft‹, in: Braun/Young (Hrsg.), Das fremde Schöne [Anm. 25], S. 143–170; Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 33], S. 120–126. Vgl. zu der in Parzival greifbaren Schönheitskonzeption Wolframs von Eschenbach bereits grundlegend Hahn, Ingrid, Parzivals Schönheit. Zum Problem des Erkennens und Verkennens im ›Parzival‹, in: Fromm, Hans / Harms, Wolfgang / Ruberg, Uwe (Hrsg.), Verbum et signum, Friedrich Ohly zum 60. Geburtstag überreicht, 10. Januar 1974, Bd. 2, Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung, Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter, München 1975, S. 203–232, Zit. 205; sie entfaltet dort (S. 210–217) auch den klerikalen Traditionszusammenhang, in dem sie Wolframs Schönheitsvorstellung gründen sieht. Vgl. zum Folgenden Müller, Jungfräulichkeit [Anm. 19]; Müller geht allerdings von Camillas unproblematischer, nämlich »vollkommene[r] Verkörperung weiblicher Schönheit« aus (Zit. ebd., S. 241).

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12. Jahrhundert keine mythische Herkunftsgeschichte mehr, und sie wird – vor allem bei Veldeke – sexualisiert,53 was wiederum gerade ihre Jungfräulichkeit herabsetzt. Diese wird ohnehin im Verbund mit der ›fortitudo‹ einer ›bellatrix‹ – Camilla wird dezidiert eingeführt als eine Frau, die ne tet niht alse ein wîb, / si gebârde als ein jungelink / unde schûf selbe ir dink, / als sie ein ritter solde sîn (V. 147,4–7), sie ne wolde sich niht kêren / niewan an ritterschaft (V. 147,24f.) – der mittelalterlichen Kriegergesellschaft und dem mittelalterlichen Klerus gleichermaßen suspekt erschienen sein. Maria E. Müller resümiert diese mediävalen Akzentverschiebungen folgendermaßen: »der Kultwert der Figur [wird] durch ihren Ausstellungswert ersetzt.«54 Und ›ausgestellt‹, nämlich zweimal als Objekt einer den aktuellen Poetikvorschriften gemäßen ›descriptio‹, wird Camilla, wie gezeigt, ja tatsächlich. Auf diesen Zusammenhang zwischen ihrer ›schwierigen‹ Schönheit (deren Problematik der ihres den mittelalterlichen ›gender‹-Vorstellungen nicht konformen Verhaltens zu entsprechen scheint) und der rhetorischen Kunstfertigkeit, mit der gerade diese Gestalt gezeichnet ist, wird zurückzukommen sein. Ad 2: Camillas Kunstsinn Das ästhetische Gespür der jungen Herrscherin manifestiert sich zunächst in der ihre exorbitante Schönheit offenbar noch unterstreichenden Wahl ihrer Kleidung55 – einer Gewandung, die Veldeke (wie oben bereits angemerkt) offenbar bewusst im Gegensatz zur altfranzösischen Vorlage56 als eine weiße ausgestaltet. Während Camillas Kleid im Roman d’Énéas demgegenüber von dunkler Farbe ist (V. 4012), nennt der 53 54

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Man denke etwa an die Wirkung ihrer Erscheinung auf jeden Mann: in geluste […], / daz si an sînem arme lâge (V. 146,21f.). Müller, Jungfräulichkeit [Anm. 19], S. 231; vgl. demgegenüber Brinker-von der Heyde, ›Ez ist ein rehtez wîphere.‹ [Anm. 19], S. 417, die Camillas Grabmal als Reliquienbehälter deutet. Dieser evoziere die Herrscherin als Allegorie, »in der Camilla die christlich verdienstvolle virgo militans repräsentiert«, deren toter Körper gerade »einen neuen, veränderten ›Kultwert‹ erhält, der sich problemlos in das christliche Weltbild einfügt.« Das scheint mir eine zu positive Deutung der Figur zu sein – zumal bereits ihr luxuriöses Grabmal per se durchaus einige Ambivalenzen aufweist. Vgl. dazu Hamm, Camillas Grabmal [Anm. 19], S. 41f., der die Edelsteinfenster der Grabcella als »Sinnbild für die ganz im Irdischen verhaftete Lust an Kostbarkeit, Luxus und Reichtum« liest und sie als Erinnerung daran deutet, »daß diese zum Begehren gesteigerte Lust [Camilla] letztlich den Tod brachte« (ebd., S. 42). Als »Typus des vermessenen Heidenfürsten« und somit ebenfalls als eindeutige Negativ-Figur wird Camilla aufgefasst von Wandhoff, Ekphrasis [Anm. 48], S. 99–102, Zit. S. 102. Vgl. Hamm, Camillas Grabmal [Anm. 19], S. 40f., der ebenfalls betont, dass Veldeke bei der Darstellung von Camillas Kleidung einen Lichteindruck evoziert. Auch bei Vergil ist nur die Rede davon, »wie eine fürstliche Purpurtracht ihre leuchtenden Schultern umhüllt« (ut regius ostro / velet honos levis umeros), zit. nach: Vergil, Aeneis, Lateinisch-Deutsch, in Zusammenarbeit mit Maria Götte hrsg. und übersetzt von Johannes Götte, mit einem Nachwort von Bernhard Kytzler, 6., vollständig durchgesehene und verbesserte Aufl., Darmstadt 1983, VII, 814f., dort auch die Übers., S. 317.

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anonyme Roman ihre Rüstung jedoch – ähnlich wie Veldeke – blans come neis (V. 6926): wîz lûter sam ein îs (V. 236,31). Weiße Rüstungen begegnen in der höfischen Epik nicht allzu häufig,57 doch dafür mitunter an signifikanten Stellen: Parzival trägt lieht wîz îsernharnasch in jener äußerst prekären Situation, in der er – von Cundrie verflucht – Abschied vom Artushof nimmt,58 und Tristan rüstet sich in einer ebenfalls sehr heiklen Lage, nämlich als er sich auf den Kampf mit Morold vorbereitet, mit zwô hosen und eine[m] halsperc, / die wâren lieht unde wîz.59 In diesen Partien sind es die Protagonisten selbst, die weiße Rüstungen tragen, und sie befinden sich beide in einem gleichsam liminalen Zustand insofern,60 als ihnen ihre bislang gewohnte Identität entweder bereits abgesprochen worden ist oder sie dem Risiko ausgesetzt sind, selbige zu verlieren, sie den Hof verlassen müssen, Imponderabilien bzw. konkreten Gefahren entgegensehen und ihr Schicksal ungewiss ist. Wenngleich sich eine Deutung der ›Farbe‹ Weiß als Indikator gerade für diesen ungesicherten Status wohl 57

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Die explizit eis- bzw. schneefarbige Rüstung Camillas stellt eine noch größere Seltenheit dar (s.u. die Nachweise in den Anm. 58 und 59): Üblicherweise ist nur davon die Rede, dass eine Rüstung wîz sei – damit kann auch ihr metallisches Glänzen gemeint sein, vgl. Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 3, Sp. 957; BMZ, Bd. 4, S. 780, beide konsultiert in der Internetversion am 03.01.2008 unter http://germazope.uni-trier.de/Projects/ MWV/wbb. Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin, New York 1998, V. 333,4. Für diesen Hinweis danke ich herzlich Thomas Cramer. – Zu Parzivals roter, Ithers Leichnam entwendeter Rüstung s. jüngst Schausten, Monika, Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹, in: PBB, 130/2008, S. 459–482, hier S. 474–482, die betont, dass die in der Ither-Episode mehrdeutig inszenierte Farbe Rot »einen entscheidenden Beitrag zur narrativen Konkretisierung von Wolframs Poetik des Gemischten« leiste (ebd., S. 481). Gottfried, Tristan [Anm. 15], V. 6546f.; vgl. dazu Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 33], S. 131f. Drei weitere Fundstellen – in der Rede vom Glauben des armen Hartmann (V. 2433), im Nibelungenlied (V. 188,2: Siegfried schlägt dem König von Dänemark, der eine wîze brünne trägt, drei blutende Wunden, woraufhin sich der König seinem überlegenen Gegner unterwirft) und in Karl und Elegast (V. 287f.: Elegast trägt eine bronnige grau also ein ys; für diesen Hinweis sei Bernd Bastert herzlich gedankt) –, die Texten entstammen, welche anderen Stofftraditionen angehören (am deutlichsten die Rede vom Glauben als religiöser Gebrauchstext), und deren weiße Rüstungen nicht in ähnlich prekären Kontexten wie im Eneasroman, im Parzival oder im Tristan zu finden sind, seien hier nur vermerkt. Über Ulrichs von Liechtenstein Auftritte in weißer Rüstung in seinem Frauendienst wäre gesondert nachzudenken. Vgl. zu liminalen Strukturen im höfischen Roman ausführlicher Quast, Bruno, Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns ›Iwein‹, in: Kellner, Beate / Lieb, Ludger / Strohschneider, Peter (Hrsg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt/M. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 111–128; Schulz, Armin, ›in dem wilden wald‹. Außerhöfische Sonderräume, Liminalität und mythisierendes Erzählen in den Tristan-Dichtungen: Eilhart – Béroul – Gottfried, in: DVjs, 77/2003, S. 515–547.

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verbietet,61 so vielleicht aber nicht eine Interpretation, die die Qualität des Glänzens, Strahlens und Scheinens, des Spiegelns und Gleißens solch metall- oder eben eisweißer Rüstungen ins Kalkül zöge: 62 Und wieder wäre damit eventuell eine Ambivalenz angesprochen: Der hier mitzudenkende schîn der reflektierenden Rüstung könnte einerseits die kognitive Kategorie der Sicht- und Erkennbarkeit bzw. der Erkenntnis – z.B. des ›splendor‹ – der jeweiligen Figur implizieren, andererseits aber könnte auch der Aspekt der (Vor-)Täuschung, des bloßen, substanzlosen Anscheines, und der dadurch erfolgenden Verblendung zu veranschlagen sein.63 Der Frage, welche dieser Bedeutungen eventuell auf Parzival bzw. Tristan zuträfe, kann hier nicht näher nachgegangen werden, doch sei darauf hingewiesen, dass im Parzival wie auch im Tristan mit der Doppeldeutigkeit eines solchen Glänzens und Leuchtens an anderer Stelle durchaus gespielt – ja mehr noch: diese Ambivalenz genutzt wird, um zu veranschaulichen, dass mitunter eine ästhetische Qualität Erkenntnis be- oder gar verhindern kann. So hält Parzival bekanntlich bei seiner ersten Begegnung mit Rittern diese aufgrund ihrer strahlenden Rüstungen für Gott, denn, so erklärt der Erzähler das Missverständnis: ern hete sô liehtes niht erkant.64 Auch die Gralsprozession zeichnet sich durch eine spezifische ›Lichtregie‹ aus, die ein gewisses Täuschungspotenzial birgt: Dem Gral werden sechs kostbare, gläserne Leuchter vorangetragen, und vielleicht durch sie bedingt strahlt das Gesicht seiner Hüterin Repanse de Schoye, von dem es heißt, dass es gap den schîn, / si wânden alle ez wolde tagen (V. 235,16f.). Im Tristan zeichnet sich die Minnegrotte dadurch aus, dass durch ihre drei kleinen Fenster lachet in der süeze schîn, / diu sælige gleste / […] / und erliuhtet die fossiure.65 – Besonders auf dem Kristallbett dürfte dieser (Sonnen-)Schein prachtvolle Lichteffekte 61

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Eine entsprechende Auslegung der aus moderner Sicht ›nichtfarbigen‹ Farbe Weiß wäre kaum statthaft, da die mittelalterliche Farbsymbolik – ohnehin stark kontextabhängig und vieldeutig (vgl. Suntrup, R[udolf], Farbensymbolik, in: LMa, 4/1989, Sp. 289f., hier Sp. 290: »Pauschale Aussagen zu den Farbendeutungen […] müssen ohne Hinweis auf Bedeutungsträger, Proprietäten und Kontext beliebig erscheinen«) – eine solche physikalische Einschätzung dieser Farbe vermutlich nicht kannte. Vgl. zur modernen Hochschätzung der (Nicht-)Farbe Weiß sowie zu mittelalterlichen Bewertungen von Farben allgemein jüngst Schausten, Vom Fall in die Farbe [Anm. 58], S. 463–471, mit weiterführender Literatur. Vgl. zu dieser Qualität von wîz o. Anm. 57. Zu diesen und weiteren Bedeutungen des Substantivs schîn s. Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 747, konsultiert in der Internetversion am 03.01.2008 unter http://germazope.uni-trier.de/Projects/MWV/wbb. – In diesem Zusammenhang erscheint mir auch die Betonung signifikant, mit der auf Camillas ›natürliches‹, nämlich ungeschminktes, Äußeres hingewiesen wird (vgl. V. 146,26–28 sowie o. die Anm. 22 u. 25). Wolfram, Parzival [Anm. 58], V. 120,24–122,1, zit. V. 122,1. Gott war dem kleinen Parzival von seiner Mutter als ein ›Lichtwesen‹ beschrieben worden (vgl. ebd., V. 191,18f. sowie 122,21–24). Gottfried, Tristan [Anm. 15], V. 17070–73, vgl. auch V. 17137–39: diu sunne bernde vensterlîn, / diu habent mir in daz herze mîn / ir gleste dicke gesant.

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erzeugt haben, und genau auf diesem Bett liegend vermögen nun Tristan und Isolde König Marke, als er durch eines der Fensterchen blickt, zu täuschen, indem sie gegen ihre Gewohnheit durch ein Schwert getrennt dort ruhen.66 Markes Zweifel an ihrer Ehebruch-Schuld wird überdies in dieser Situation am Ende seines Räsonnierens förmlich ›überstrahlt‹ vom (falschen) Wort nein: daz wort, daz lûhte und schein / dem künege in sîn herze (vgl. V. 17501–60, zit. V. 17547–49). Muss für Parzival und Tristan hier auch offenbleiben, welche Signalwirkung von ihren weiß-strahlenden Rüstungen letztlich ausgeht, so wird man im Falle Camillas auf Vermutungen über die Bedeutung ihrer weiß-eisig leuchtenden Erscheinung getrost verzichten können. Denn diese lichtgleißende Figur ist auch eine ›gleißnerische‹ in gleich mehrfacher Hinsicht: 67 erstens insofern sie zwar als wunderschöne Frau erscheint, sich aber wie ein Mann bzw. Ritter verhält; zweitens insofern ihre Jungfräulichkeit nicht dem religiösen Ethos einer Braut Christi folgt, sondern sich einer Art persönlichen Stolzes und somit einer Form der ›superbia‹ verdankt; 68 und drittens insofern sie zwar Ritterlichkeit zu leben intendiert, de facto jedoch – wie gleich deutlich werden wird – im Kampfgeschehen ritterliches Verhalten vermissen lässt. Die ambivalenten Aspekte des schînens treten in wohl noch gravierenderer Weise in der von Camilla selbst beauftragten Anlage und Ausstattung des eigenen Grabmales hervor, gleichzeitig aber dokumentiert dieses Bauwerk noch beeindruckender als die

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Vgl. zur Minnegrotte als einer »Szenerie eindeutig destruktiver Schönheit«, deren »schöne Zeichen trügen«, auch Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 33], S. 137f. Dies unterschiede die schöne Camilla dezidiert vom schönen Parzival, wenn in dessen »aus dem Innern hervorbrechenden Strahlen« sich eine geistliche Vorstellung »als Konkretisierung eines Schönheitsbegriffs« manifestiert, »der das Phänomen der Täuschung ausschließt«, so Hahn, Parzivals Schönheit [Anm. 51], S. 216; ähnlich auch Cessari, Michela Fabrizia, Der Erwählte, das Licht und der Teufel. Eine literarhistorisch-philosophische Studie zur Lichtmetaphorik in Wolframs ›Parzival‹, Heidelberg 2000 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 32), und jüngst Schausten, Vom Fall in die Farbe [Anm. 58], S. 461, 471f. u. 481. – Hier stellen sich zwei Fragen: erstens die nach etwaigen gender-Aspekten exorbitanter Schönheit in der mittelalterlichen Literatur, die im Falle von Frauengestalten vielleicht prinzipiell problematischer konzeptualisiert wurde (man denke auch an Enites die Artusritter zum unhöfischen Gaffen verführende Schönheit im Erec: Scholz, Manfred Günter [Hrsg.], Hartmann von Aue, Erec, übersetzt von Susanne Held, Frankfurt/M. 2004 [Bibliothek des Mittelalters 5], V. 1736–43); zweitens müsste vielleicht auch grundsätzlich angesichts der in Wolframs Parzival nachweislichen Täuschungsaspekte von strahlend-schönen Lichterscheinungen neuerlich über Parzivals ›leuchtende‹ Schönheit nachgedacht werden. Vgl. V. 148,10–14: Nachdem die Erzählinstanz davon berichtet hat, dass Camilla streng darauf achtet, nachts keinen Mann auch nur in ihrer Nähe zu haben, während sie tagsüber mit Rittern völlig unproblematischen Umgang pflegt, heißt es hier zur Erklärung der nächtlichen Gewohnheit: diu frouwe tetez umbe daz, / dorch andern neheinen rûm, / si wolde ir magettûm / bringen an ir ende / sunder missewende. Offenbar ist ihr magettûm ein Selbstzweck.

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Wahl ihrer Kleidung auch erneut den Kunstverstand der Figur (V. 251,21–256,10).69 Der Auftrag und die Auswahl dessen, der ihn ausführen soll, zeugen darüber hinaus von einer gewissen Bildung Camillas, die die Fähigkeiten ihres Baumeisters letztlich einschätzen können muss. Dieser, Gêometras, verfügt denn auch über die größte Kunstfertigkeit – nicht nur als Architekt, sondern auch als Innenausstatter: Er zeichnet (zusammen mit einem Griechen) beispielsweise für den raffinierten Automaten verantwortlich, der das ewige Licht in der Grabkammer spendet (V. 254,27–255,34). Neben dieser inneren Lichtanlage erstrahlt das Grab ebenso durch die lichtdurchfluteten Edelsteinfenster. – Auch hier also dominiert der Lichteindruck eines Glänzens und Gleißens, der bereits bei den beiden ›descriptiones‹ von Camilla selbst vorherrschend gewesen ist.70 Die Eigenschaften der Jungfräulichkeit und der zumindest indirekt angedeuteten Gelehrsamkeit teilt nun die schöne Camilla signifikanterweise gerade mit den beiden hässlichsten Frauenfiguren der höfischen Dichtung, die eingangs bereits angesprochen worden sind: mit Veldekes Sibille und mit Wolframs Cundrie.71 Offenbar ist also Ingrid Kastens These zu ergänzen, derzufolge »sich mit dem literarischen Verfahren des Häßlichmachens Strategien der Ausgrenzung […] von Verhaltensweisen [verbinden], die den gesellschaftlich akzeptierten Weiblichkeitsmustern der damaligen Zeit zuwiderliefen«.72 – Zu ergänzen wäre diese Überlegung um den vielleicht selteneren, jedenfalls aber vorhandenen Fall einer Ausgrenzungsstrategie durch das literarische Verfahren gerade der ›descriptio pulchritudinis‹. Ad 3: Camillas Tod Ein drittes und letztes Mal wird im Kontext der Geschichte Camillas, die Veldekes Erzählinstanz präsentiert, das Glänzen und Leuchten eines schönen Objektes für sie entscheidend sein: Sie stirbt bekanntlich aufgrund der Gier nach einem solchen Objekt.73 Verlockt durch die Schönheit, genauer: verführt (um nicht zu sagen: geoder ver-›blendet‹) durch das Glänzen und Funkeln eines edelsteinbesetzten Helmes, bringt sie dessen Träger um (V. 243,35–244,19). Während des fragwürdigen rêroubes verliert sie dann das Kampfgeschehen aus den Augen, so dass ein dezidiert als Feigling ausgewiesener Trojaner sie hinterrücks – und noch dazu mit dem unhöfischen gêr, dem Jagdspeer – erstechen kann (V. 244,20–31).74 Verschiedentlich wurden Camillas letztlich selbstverschuldeter, unritterlicher Tod und ihr schwindelerregend 69 70 71 72 73 74

Vgl. dazu und zum Folgenden Verf., Quelle als Konstrukt [Anm. 29], S. 233–240; Hamm, Camillas Grabmal [Anm. 19]; Wandhoff, Ekphrasis [Anm. 48], S. 99–105. Vgl. Hamm, Camillas Grabmal [Anm. 19], S. 41. Vgl. dazu Kasten, Häßliche Frauenfiguren [Anm. 1], S. 257 u. 263–273. Ebd., S. 257. Vgl. Hamm, Camillas Grabmal [Anm. 19], S. 41f. Zur Wertung dieser Szene als Sinnbild für Camillas ›luxuria‹ und ›superbia‹ s. ebd.; Wandhoff, Ekphrasis [Anm. 48], S. 99–102. Müller, Jungfräulichkeit [Anm. 19], S. 240f., hinge-

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himmelwärts strebender Grabturm als Indizien ihrer Hybris und die Figur insgesamt als Negativgestalt gedeutet, die als »Gegenmodell« zum ›miles perfectus‹ konzipiert sei, der in Gestalt von Pallas an Eneas’ Seite kämpft und ebenfalls den Tod findet.75 Zweierlei jedoch scheint mir bei einer solchen Einschätzung der jungen Herrscherin nicht genügend berücksichtigt zu sein: Erstens gerät einer solchen Deutung just ihre Schönheit aus dem Blick, die sie mit vollkommen positiven Figuren wie Lavinia teilt und die anlässlich der Präsentation Camillas zum Gegenstand spezieller rhetorischer Bemühungen wird. Doch wie schon im Falle der hässlichen, aber als freundliche Helferfigur in Erscheinung tretenden Sibille spielt Veldeke auch bei Camilla mit dem gängigen Schema – hier der Zuweisung des Schönen zum Guten, dort des Hässlichen zum ethisch Verwerflichen: Dieses Schema wird auch durch die problematische Schönheit Camillas letztlich »zwar nicht aufgehoben, aber doch in signifikanter Weise in Frage gestellt«76 – kurzum: die positive Norm wird ambiguisiert. Dies geschieht nun – das sei betont – zu einer Zeit, für die vermutlich weder in literarhistorischer noch in zivilisationsgeschichtlicher Perspektive davon ausgegangen werden kann, dass ein solches, die später dann sogenannte Ästhetik77 betreffendes, Phänomen als kulturelle Norm hinreichend etabliert gewesen wäre. Ein zweiter Einwand gegen die These einer planen Negativzeichnung Camillas bezieht sich auf die Funktion, die gerade diese Figur für den Ausweis des ›artificium‹, der poetischen Fähigkeiten des Dichters, hat. Denn just Camilla und ihre Schönheit bieten Veldeke den Anlass, seine nach dem zeitgenössischen Urteil des Matthäus von Vendôme wesentlichste Kompetenz als Dichter auszustellen: sein deskriptives Vermögen bei der verlebendigenden Schilderung vornehmlich von Personen,78 eine Fähigkeit,

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gen spricht auch die unehrenhafte Art und Weise an, in der Camilla durch den hinterlistigfeigen Trojaner schließlich zu Tode gebracht wird und die auch der Erzähler kritisiert. Vgl. Hamm, Camillas Grabmal [Anm. 19], S. 44–48, Zit. S. 46; Wandhoff, Ekphrasis [Anm. 48], S. 89–105, sowie o. Anm. 54. Vgl. Kasten, Häßliche Frauenfiguren [Anm. 1], S. 267f., Zit. S. 267, die von einer »eigentümlichen Ambivalenz« des Hässlichen im Falle der Sibille spricht (ebd., S. 268). Zu Möglichkeiten (und Grenzen) einer Anwendung des Begriffs auch auf die mittelalterliche Dichtung s. jüngst Braun, Kristallworte, Würfelworte [Anm. 25]. Zur Priorität der ›descriptio‹ s.o. Anm. 42; generell zu ihrer verlebendigenden Wirkung vgl. Wandhoff, Ekphrasis [Anm. 48]; Scheuer, Hans Jürgen, ›wîsheit‹. Grabungen in einem Wortfeld zwischen Poesie und Wissen, in: Dicke, Gerd / Eikelmann, Manfred / Hasebrink, Burkhard (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 83–106, zum Grabmal der Camilla ebd., S. 97f.; ders., Cerebrale Räume. Internalisierte Topographie in Literatur und Kartographie des 12./13. Jahrhunderts (Hereford-Karte, ›Straßburger Alexander‹), in: Böhme, Hartmut (Hrsg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart, Weimar 2005 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 27), S. 12–36, insbesondere S. 14; Henkel, ›Fortschritt‹ [Anm. 40], S. 108, schreibt: »Dass die Descriptio Merkmal der artifiziellen Ausgestaltung ist und

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die Veldeke bei keiner anderen Figur (abgesehen vom Negativfall der Sibille) auch nur ansatzweise in vergleichbarem Ausmaß unter Beweis stellt. Hinsichtlich der laudativen Funktion, die die Ars versificatoria einer Schönheitsbeschreibung zuweist,79 findet sich bei Veldeke freilich wenig. Gegen eine derartige preisende Erzählintention spricht, dass er sein kunstreiches ›artificium‹, hier konkret die epideiktische Rede, nun gerade anhand Camillas, dieser als gebildete jungfräuliche Kriegerin ohnehin transgressiven Figur, demonstriert, die außerdem noch eine Feindin des Protagonisten ist. c) Die schwierige Schönheit der ›descriptio‹ Die schöne Camilla Veldekes sperrt sich, so ist zu bilanzieren, der eindeutigen ethischen Bewertung. Diese Gestalt, anhand derer der Autor vorführt, was es bedeutet, über die höfische Norm der Schönheit im doppelten Sinne zu verfügen: sie als Person selbst zu besitzen und sie sich als Dingschönheit verfügbar machen zu können – diese Gestalt ist durch ihre Schönheit und ihren Schönheitssinn als grundsätzlich ambivalente Figur gezeichnet. Doch die Ambiguität, die sie mit der ihr doppelt zugeschriebenen Haupteigenschaft, der Schönheit, teilt, begründet nicht nur die Faszinationskraft der Figur. Vielmehr liegt mit ihr auch ein weiteres Indiz dafür vor, auf welch hohem Niveau der Selbstreflexion sich die volkssprachige Literatur bereits hier, in ihren Anfängen, bewegt: Denn wenn es stimmt, dass die Aufbietung großen rhetorischen Schmucks einer mittelalterlichen Dichtung zum Ausweis der eigenen Schönheit als Sprachartefakt dient,80 dann irritieren Veldekes virtuose ›descriptiones‹ der Figur Camillas in doppelter Hinsicht: Wird doch in diesen Partien rhetorischer ›ornatus‹ gerade dort aufgeboten, wo Schönheit in all ihrer Ambivalenz Inhalt der Rede ist. Signifikant und Signifikat, Form

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damit wesentlich den Kunstcharakter des Romans bestimmt, ist unstrittig.« Vgl. aber auch u. Anm. 80. Vgl. o. Anm. 44. Vgl. Kartschoke, Elfenbein und Nachtigall [Anm. 13], S. 48; Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 33], S. 123. Dass ›descriptiones‹ ihrerseits als ›schön‹ eingeschätzt wurden und somit nicht nur als ein ›artes‹-gemäßes, handwerkliches, sondern als ein literar-›ästhetisches‹ Qualitätskriterium galten, kann freilich nur implizit aus den Textbefunden selbst abgeleitet werden. Die historischen Spielarten des modernen Adjektivs ›schön‹ sind in den mittelalterlichen, vulgärsprachigen Texten generell selten, wenn es darum geht, die Qualität von Dichtung zu erfassen (relativ häufig begegnen sie in dieser Funktion noch in der Frühzeit, z.B. in Otfrieds von Weißenburg Evangelienbuch; s. dazu Kartschoke, Elfenbein und Nachtigall [Anm. 13], S. 41–47; Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 33], S. 111–113). Im Literaturexkurs des Tristan allerdings, in dem ohnehin verschiedentlich von der Schönheit der Dichtung die Rede ist (vgl. Gottfried, Tristan [Anm. 15], V. 4691, 4783f. u. 4839), findet sich zumindest im Kontext der Thematisierung von ›descriptiones‹ einmalig das Adjektiv schône: Anlässlich von Tristans nun gerade explizit nicht beschriebener Ausstattung zur Schwertleite heißt es: ich enweiz, waz ich dâ von gesage, / daz iu gelîche und iu behage / und schône an disem mære stê (ebd., V. 4595–97).

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und Inhalt bilden sich hier gleichsam gegenseitig ab – und hinterlassen doch (auch in rezeptionsästhetischer Perspektive) keineswegs den Eindruck der ›Klarheit‹, sondern unterstreichen in ihrer Analogie die grundsätzliche Ambiguität ihres jeweiligen Objektes: der sprachlichen und der gegenständlichen, hier der figürlichen, Schönheit, mithin die Ambiguität einer Größe, die nicht nur mehrdeutig ist, sondern ambivalent im dilemmatischen Sinne einer Verknüpfung gegensätzlicher Wertungen. Eine solche Kritik der höfischen Norm ›Schönheit‹ – einer Idealnorm, die zu diesem Zeitpunkt und noch lange danach prekär ist und die in ihrem Autonomiepotenzial81 doch gerade auch die Produzenten volkssprachiger Literatur affiziert haben mag – erschiene in ihrer subtilen Dialektik weitaus raffinierter als alle planen Verteufelungen des Schönen, wie sie mitunter in klerikalen Schriften des 12. und 13. Jahrhunderts begegnen. Eine kleine literarhistorische Pointe sei zum Schluss noch kurz angesprochen. Zeigte sich im Eneasroman Veldekes, dem man (vielleicht abgesehen vom Umgang mit dem antiken Götterapparat82) kaum ein speziell klerikales inhaltliches Interesse nachweisen kann, ein bemerkenswert kritischer Umgang mit der Schönheit als ästhetischer Idealnorm höfischer Kultur, so lässt sich in einer etwas älteren Dichtung, der ein christlicherer Impetus eigen ist, eine deutlich positivere Einschätzung von Schönheit finden, ohne dass sie indes ihre Komplexität einbüßte. Dies sei abschließend in wenigen, hoffentlich nicht allzu impressionistisch anmutenden Strichen skizziert.

III. Schönheit als Selbstverständlichkeit: Der Straßburger Alexander – oder: Statt eines Ausblicks ein Rückblick Im Straßburger Alexander 83 wird gegen Ende der Reise des Protagonisten eine Frauenfigur namens Candacis eingeführt, die in ihrer exorbitanten Schönheit Camilla in nichts nachsteht. Alexander begegnet ihr, jener Herrscherin am Ende der Welt, bevor

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Gemeint ist an dieser Stelle nicht das elaborierte Autonomiekonzept des deutschen Idealismus, sondern schlicht die Tatsache, dass offensichtlich auch im Mittelalter Schönheit punktuell (als ›pulchra‹, vgl. o. Anm. 25) als selbstgesetzliche Kategorie wahrgenommen werden konnte, die sich heteronomen Funktionserwartungen nicht dienstbar machen musste. Einführend zum Autonomiebegriff Vollhardt, Friedrich, Autonomie, in: RLW2 , 1/2007, S. 173–176. Vgl. dazu zuletzt Kottmann, Carsten, Gott und die Götter. Antike Tradition und mittelalterliche Gegenwart im ›Eneasroman‹ Heinrichs von Veldeke, in: Studia Neophilologica, 73/2001, S. 71–85. Ich zitiere den Text nach der Ausgabe: Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und den lateinischen Quellen hrsg. u. erklärt v. Karl Kinzel, Halle/S. 1884 (Germanistische Handbibliothek 6); die folgenden Zitate werden direkt im Fließtext nachgewiesen.

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er auf die Amazonen trifft und schließlich mit seiner Welteroberungsfahrt an den Pforten zum Paradies scheitert.84 Candacis teilt mit Camilla nicht nur die außergewöhnliche Schönheit, sondern auch die Herrscherinnenmacht und den Kunstverstand. Im Gegensatz zur jungfräulichen Volskerkönigin ist Candacis allerdings zweifache Mutter und initiiert auch ihre Liebesnacht mit Alexander. Er selbst ist es, welcher sie uns vorstellt in jenem über seine Abenteuer berichtenden Brief, den er an seine Mutter und seinen Lehrer Aristoteles schreibt. Candacis was ein kuninginne / und lebete mit sinne (V. 5523f.), so heißt es dort zunächst von dieser Figur, zu der Alexander über ein Bildnis seines Gottes Amon Kontakt aufnimmt, das er ihr sendet (vgl. V. 5529–33). Sie revanchiert sich mit einer überbordenden Anzahl von dinglichen und lebendigen Gegengaben, die z.T. bereits ihr ästhetisches Gespür verraten. Signifikanterweise befindet sich darunter auch ein Maler, der Alexander porträtiert (vgl. V. 5590–95) – artifizielle Objekte der Aisthesis bestimmen die Candacis-Episode also von Beginn an.85 Aufgrund einer narrativ nicht näher motivierten List bereist Alexander schließlich – inkognito, indem er sich als sein eigener Gefolgsmann ausgibt – Candacis’ Land, als einer ihrer Söhne, dessen Frau entführt worden ist, in Alexanders Lager um Beistand bittet. Seine erste Begegnung mit Candacis schildert Alexander zusammen mit einer kurzen ›descriptio‹ ihrer Erscheinung. Nach der Erwähnung einer außergewöhnlich gut gearbeiteten Goldkrone, die sie auf dem Kopf trägt, erfährt man: si selbe was harte lussam, / von rehten prîse wol getân: / si ne was ze kurz noh ze lanc (V. 5851–53). Mehr außer diesen recht lapidar erscheinenden Worten lässt er sein Publikum über das Äußere der Candacis nicht wissen. Doch ver-

84 85

Vgl. zur Candacis-Episode zuletzt Scheuer, Cerebrale Räume [Anm. 78], S. 20–31. Die Kunst-Thematik, die in dieser Episode besonders greifbar wird und die einiges über mittelalterliche (literar-)ästhetische Konzepte verrät, ist nicht nur für den Straßburger Alexander bedeutsam, sondern auch für andere Versionen des Stoffes; vgl. Verf., ›in al der wirde, als er in vant, / mâlet in wol des meisters hant. / ez geschach gar heimelîche‹. Kunstdiskurse deutschsprachiger Alexanderromane, in: Bürkle, Susanne / Peters, Ursula (Hrsg.), Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur, ZfdPh, 128/2009, Sonderheft, S. 163–186. Hier sei darauf hingewiesen, dass ebenfalls von Beginn an die aisthetische Dimension der Candacis-Episode eine Atmosphäre der Gefahr, Bedrohung und Angst auslöst (und insofern vielleicht ihrerseits als ambivalent zu gelten hat), denn direkt im Anschluss an die Erwähnung des in Candacis’ Auftrag handelnden Malers bietet der Ich-Erzähler Alexander die folgende Vorausdeutung: niht nist sô listic, sô daz wîb / unde ouh ir kint. / des quam ih in grôz angist sint (Lamprechts Alexander [Anm. 83], V. 5596–98). Candacis wird über Alexanders, von ihm selbst sorgfältig verborgene, Identität durch dieses Porträt von Anfang an ›im Bilde‹ sein und ihm dadurch im Akt der Offenbarung ihres Wissens tatsächlich grôz angist machen – nicht allein die Identitätsaufdeckung durch ein Bild, sondern auch ihre Gewaltsamkeit verdiente eine genauere Betrachtung.

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schiedentlich betont er prinzipiell ihre Klugheit86 und ihre Schönheit87, ohne freilich auf Details einzugehen. Geradezu detailverliebt jedoch nehmen sich seine vielen Beschreibungen der schönen Hofbediensteten, kostbaren Dinge und luxuriös ausgestatteten Räume aus, mit denen sich Candacis zu umgeben weiß. Mehr noch: Gerade in diesem Kunstsinn offenbart sich für Alexanders Wahrnehmung ihre Klugheit. So heißt es z.B. über einen Wandbehang mit wunderlîchen bilide (V. 5960) höfischen Lebens, der von Alexander ausführlich beschrieben worden ist: der umbehanc was hêrlîch. ime ne wart nie nehein gelîch. den meisterde Candacis. wande si was listich unde wîs, di rîche kuninginne mit iren tiefen sinne. (V. 5967–72)

Diese »Herrin der Bilder«, wie Markus Stock Candacis genannt hat,88 ist auch verantwortlich für Entwurf und Ausführung komplexer Automaten (vgl. V. 5997–6029), kunstvoll beweglicher Kemenaten (vgl. V. 6100–15) sowie diverser anderer figurlicher Zierelemente ihres Palastes. Und sie weiß aufgrund ihrer Klugheit und ihrer Macht über die Bilder offenbar von Beginn an um die wahre Identität ihres Besuchers, denn schließlich konfrontiert sie Alexander mit jenem von ihr beauftragten Porträt, nennt seinen richtigen Namen und hält dem bloßgestellten und wütenden Protagonisten vor: nû hât dih bedwungen âne fehten ein wîb. waz hilfit dir nû manic strît, den du lange hâs getân. (V. 6172–75)

Candacis schließt hieran eine Lektion über die diemuot an, die der antike Welteroberer aus mittelalterlicher Sicht so dringend benötigt: 89 Wer das Glück herausfordere, so Candacis zu Alexander, werde erleben, wie es sich zornig gegen ihn wende: und wirfit den rîchen der nider alsô schiere sô den armen. des mûz ih dih warnen. (V. 6182–84) 86 87 88 89

Vgl. z.B. Lamprechts Alexander [Anm. 83],V. 5860; 5926–30; 6114f.; 6308–11; 6360; 6395f. Die Attribute lauten zumeist mit (grôzem) sinne, wîse, listic. Vgl. z.B. Lamprechts Alexander [Anm. 83],V. 6061 u. 6070–78; meist heißt es, dass Candacis lussam sei. Stock, Markus, Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ›Straßburger Alexander‹, im ›Herzog Ernst B‹ und im ›König Rother‹, Tübingen 2002 (MTU 123), S. 122. Zu Alexanders hôhmût vgl. Lamprechts Alexander [Anm. 83], V. 6613–21 (zit. V. 6614); zu seiner tumpheit ebd., V. 6631–39, 6667–70 (zit. V. 6669), 6703. Eine zweite Belehrung über die Demut wird Alexander erteilt von dem Alten vor der Paradiesespforte, vgl. ebd., V. 6871–6946, hier vor allem V. 6905–24.

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Der schönen Herrscherin am Ende der Welt, der klugen Gebieterin über eine extrem kunstreich ausgestattete Festung, umgeben von einer erlesen gekleideten ›familia‹ – ausgerechnet ihr kommt hier die Rolle der christlichen Mahnerin zu, die Fügsamkeit und Respekt gegenüber der sælde (vgl. V. 6179), dem jedem zugedachten Heil, einfordert. Ihre außerordentliche Schönheit – und ihr Sinn für Schönheit – erscheint an keiner Stelle anrüchig, wird nirgends ambiguisiert wie die der Camilla im Eneasroman. Candacis’ Schönheit ist ganz selbstverständliches Attribut der Figur – neben ihrer Klugheit und neben ihren ethischen Qualitäten. Mit anderen Worten: Der stärker auf christlichreligiöse Inhalte hin orientierte frühere Text verrät ein unproblematischeres Verhältnis zur ästhetischen Norm höfischer Existenz als der spätere Text, für den literarhistorisch gemeinhin ein größerer Grad der Emanzipation von klerikal-christlichen Erzählnormen konstatiert wird.90 Allein die Tatsache, dass diese Schönheit der Candacis und ihres Hofes uns durch Alexander selbst, nicht durch die in der höfischen Literatur üblicherweise begegnende extradiegetische Erzählinstanz, beschrieben und gepriesen wird, könnte vielleicht eine Distanz markieren. Doch wäre damit eine andere Norm höfischen Erzählens – bzw. ihre Durchbrechung – angesprochen, die ihrerseits eine eigene Studie verdiente.

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Vgl. zu entsprechenden literaturgeschichtlichen Entwicklungsmodellen bereits Cramer, Thomas, Der deutsche höfische Roman und seine Vorläufer, in: See, Klaus von / Krauss, Henning (Hrsg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 7, Europäisches Hochmittelalter, Wiesbaden 1981, S. 323–356. Veldekes Eneasroman gilt allgemein als »wichtige[r] Beitrag zur Herausbildung einer nicht-klerikalen Literaturtradition, einer Literarästhetik in der Volkssprache und einer neuen Gattung epischen Erzählens, des Roman courtois«, so Henkel, Nikolaus, Vergils ›Aeneis‹ und die mittelalterlichen Eneas-Romane, in: Leonardi, Claudio / Olson, Birger M. (Hrsg.), The Classical Tradition in the Middle Ages and the Renaissance. Proceedings of the First European Science Foundation Workshop on the Reception of Classical Texts, Florence, Certosa del Galluzzo, 26–27 June 1992, Spoleto 1995, S. 123–141, Zit. S. 141. Solche (evolutiven, wenn auch vielleicht nicht teleologischen) Modelle von Literaturgeschichte werden u.a. auch durch die unterschiedliche Behandlung der Schönheitsthematik in den vorgestellten Dichtungen relativiert.

Susanne Flecken-Büttner (Bonn)

Exzeptionalität Zu Narration, Deskription und Reflexion im Tristan Gottfrieds von Straßburg

Besser sein, anders sein und einzig sein – was das in der Welt, was das in der Kunst bedeutet, diese Fragen bewegen den Tristan Gottfrieds von Straßburg. Die Fragen sind alt, und sie stellen sich neu für die volkssprachige Dichtung der Zeit. Nicht nur in den Artusromanen erscheint die genealogisch begründete Aristokratie der sich formierenden höfischen Gesellschaft von einem agonalen Prinzip bestimmt, das als veredelnd, aber auch konfliktträchtig wahrgenommen wurde; dabei korreliert die interne Hierarchisierung mit der Behauptung der Gesellschaft nach außen: Ethos und Qualitäten entscheiden zusammen mit dem Glück auch darüber, wer die Gemeinschaft am besten schützen und repräsentieren kann. Derartige Positionierungsansprüche werden in der höfischen Dichtung des hohen Mittelalters mit der Liebe als zentralem Thema um den Wunsch nach unbedingter Geltung ergänzt, Vortrefflichkeit wird den Liebenden zu Einzigartigkeit; die Freude und das Leid, die eine solch ausschließliche Bindung bereiten, sind in Lyrik und Epik Gegenstand von Klage und Preis. Sowohl Landesherrschaft und Ritterschaft als auch Liebe verwirklichen sich dabei in der Begegnung mit dem Anderen, in dessen Akzeptanz, Anverwandlung oder Abwehr. Bei Gottfried ist nicht allein bemerkenswert, wie er in der Darstellung der Hauptfiguren und ihrer Geschichte Exzeptionalität ausgestaltet und problematisiert, sondern auch, wie die Stilisierung der komponierten Welt mit literarischen Autorisierungsverfahren interferiert. Indem der Text seine eigene Exzeptionalität behauptet, entspricht er Vorgaben der Poetik, die zur Überbietung des Gebotenen anleiten, und setzt er das erkennbare Bestreben der ihn umgebenden Dichtung fort, sich sowohl im Prozess der Retextualisierung als auch im intertextuellen Bezug auf Werke außerhalb der Stofftradition von Vorgängigem wie Zeitgenössischem abzusetzen; indem er sich dabei an das Publikum als maßgebliche Instanz wendet, steht er in der Tradition der Rhetorik, die um die Gunst der Adressaten wirbt. Die Besonderheiten der poetischen Thematisierung von Exzeptionalität bei Gottfried möchte ich im Folgenden in der Partie des Textes untersuchen, die mit Tristans Geburt beginnt und der Trennung der Liebenden endet. Eine Paraphrase soll zunächst vergegenwärtigen, wie Protagonist und Protagonistin ausgezeichnet werden und wie sich Wahrnehmung und Valenz ihrer Qualitäten aus den Perspektiven der komponierten Welt darstellen. Nach diesem ersten Durchgang, der der narrativen Dynamik folgt, sollen in einem zweiten die Deskriptionen aufgesucht und als Nahaufnahmen des Exzeptionellen betrachtet werden. Insofern beschreibende Passagen ihre Mediali-

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Susanne Flecken-Büttner

tät exponieren, führen sie dann in die autoreferenziellen Reflexionen des Textes hinein. Es wird sich zeigen, dass der Tristan es den Rezipientinnen und Rezipienten nicht nur durch narrative und deskriptive Verfahren ermöglicht, Exzeptionalität in ihrer Ambivalenz nachzuvollziehen, sondern ihnen in seiner Artifizialität zugleich eine affirmative Sicht auf das Exzeptionelle eröffnet. Die Voraussetzung hierfür wird durch Analogien geschaffen, die auch den Text selbst als exzeptionell stilisieren. So begegnen u.a. im Literaturexkurs und im Prolog die beiden Relationierungsfiguren, die auch die Hauptakteure in ihrer Welt verorten: Exzeptionalität bedeutet, Gruppierungen anzugehören, denen Dignität zukommt, und innerhalb dieser Gruppierungen eine herausgehobene Position und die entsprechende Anerkennung zu erlangen, und sie entsteht in Spannung dazu in der Gemeinschaft mit dem ebenbürtigen Anderen auf der Grundlage unmittelbaren Einverständnisses. Zum vorliegenden Band möchte dieser Aufsatz insofern einen Beitrag leisten, als sich Exzeptionalität in der Auseinandersetzung mit der Norm als Durchschnitt und Regel bestimmt. Fragen nach dem Verhältnis des Textes zur Norm haben aus naheliegenden Gründen die Tristan-Forschung von Beginn an beschäftigt. Frühere Polarisierungen reflektierend, nehmen neuere Arbeiten die Dekonstruktion der Opposition von Norm und Transgression im paradigmatischen Erzählen in den Blick, so Rainer Warning in seinem Aufsatz Die narrative Lust an der List, oder die Konstitution von Individualitätspositionen unter den Bedingungen einer »Ästhetik der Negation« und einer »Ästhetik der Negativität«, so Annette Gerok-Reiter in ihren Studien zur Individualität im Tristan-Kapitel »Das Spiel mit der Norm«.1 Wenn ich hier noch einmal ansetze, wird es darum gehen, inwieweit im Tristan Exzeptionalität aus Normentsprechung bzw. Normüberbietung resultiert und inwieweit aus Normverstoß. Dabei wird Superiorität auf ihr stabilisierendes und labilisierendes Potenzial untersucht, Alterität sowie Singularität auf Subversivität und Integrierbarkeit.

1

Warning, Rainer, Die narrative Lust an der List: Norm und Transgression im ›Tristan‹, in: Neumann, Gerhart / Warning, Rainer (Hrsg.), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg/Br. 2003 (Rombach-Wissenschaft: Litterae 98), S. 175–212. Gerok-Reiter, Annette, Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik, Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 51), S. 148–196 (Kap. III: »Das Spiel mit der Norm: Tristan«), mit differenzierter Forschungsdiskussion. Für A. Gerok-Reiter lässt der Tristan durch den »prekäre[n] Balanceakt zwischen den Kategorien ›Mustergültigkeit‹, ›Vorbildlichkeit‹ und ›Außerordentlichkeit‹, ›Andersartigkeit‹ « »wesentliche Aufschlüsse für eine historische Semantik mittelalterlicher Individualität erhoffen« (S. 152).

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I.1. Die folgende Lektüre nimmt zunächst die vergleichsweise weitgehenden Angebote des Textes an, die Protagonisten und andere Gestalten als ›psychologisch‹ kohärente Figuren zu verstehen und das erzählte Geschehen Gesetzen lebensweltanaloger Wahrscheinlichkeit unterzuordnen.2 Sie stellt sich auf den Erzählgestus vergegenwärtigender Erinnerung ein, indem sie Art und Intensität der Teilnahme der variablen Fokalisierung und anderen erzählerischen Modulationen anzupassen versucht. Was hierbei ausgeblendet wird, Zeichen der Künstlichkeit wie Überdeterminationen, Motivationsironisierungen oder Dominanzen der extradiegetischen Instanz, soll spätestens in Teil II in die Betrachtung einbezogen werden. Setzen wir also dort ein, wo der Protagonist das erste Mal die Szene betritt. Das Kaufmannsschiff aus Norwegen wird Tristan zur ersten Bühne, auf der er die Vorzüge edler Anlagen und höfischer Bildung zur Schau stellt. Der höfsche hovebære (V. 2287; vgl. V. 2262, 2273, 2288, 2296)3 lässt es nicht bei dem Gebrauch der Fremdsprache und dem Schachspiel bewenden, sondern begleitet die Partie durch gewandtes Parlieren, eingestreutes Fachvokabular und brillanten Gesang. Er legt es auf Wirkung an, und er erzielt sie. Die Kaufleute sind mehr und mehr fasziniert von diesem jungen Adligen: nun geduhte si nie jungelinc / so sælecliche sin getan / noch also schœne site han (V. 2240–42; vgl. V. 2276–78, 2284–86), besonders staunen sie über seine Sprachkenntnisse, deren Wert sich den Handeltreibenden unmittelbar erschließen muss: si nam des wunder, daz ein kint / so manege sprache kunde (V. 2282f.).4

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Zu dabei aufgegriffenen Fragen der Identitätskonstitution vgl. u.a. Sosna, Anette, Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200: ›Erec‹, ›Iwein‹, ›Parzival‹, ›Tristan‹, Stuttgart 2003. – Wahrscheinlichkeit findet sich im Text markant im sogenannten Schwalbenhaarexkurs als ästhetischer Anspruch formuliert; an ihm lässt sich die Erzählung in vielen Teilen zu ihrem Vorteil messen, wenn man sie mit anderen Stoffversionen vergleicht. Siehe zu diesem Komplex Chinca, Mark, History, Fiction, Verisimilitude. Studies in the Poetics of Gottfried’s ›Tristan‹, London 1993 (Texts and Dissertations 35) (Bithell Series of Dissertations 18). Den Text zitiere ich nach der Ausgabe von Ranke, Friedrich (Hrsg.), Gottfried von Straßburg, ›Tristan und Isold‹, Text, Nachdruck der unveränderten Ausgabe 1978, Hildesheim 2001. Die Ausgabe von 1958 ist Grundlage der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (lemmatisiert, aber nicht disambiguiert): Springeth, Margarete / Schmidt, Klaus M. (Projektleitung), MHDBDB / Middle-High German Conceptual Database an der Universität Salzburg unterstützt von der Universität Wien, http://mhdbdb.sbg.ac.at:8000/ (Stand: 18.05.2008). Zur handschriftlichen Überlieferung des Tristan, der Geschichte seiner Edition und den daraus resultierenden Schwierigkeiten der Gottfried-Philologie vgl. Tomas Tomaseks Kapitel »Von den ›Tristan‹-Handschriften zu den Editionen« in seinem Band Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007 (RUB 17665), S. 45–66, und die dort aufgeführte Literatur (S. 321, 327–329). Zur Kennzeichnung Tristans und seiner Wirkung finden sich immer wieder hyperbolische Überbietungsfiguren, vgl. Gerok-Reiter, Individualität [Anm. 1], S. 154, bes. Anm. 36, zu

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Freilich wirkt Tristans Auftreten in seiner Virtuosität auch forciert, gerade angesichts der soziokulturellen Differenz zwischen dem höfischen Jüngling und seinem Publikum, und es erweist sich in dieser Situation als gefährlich.5 Denn den Kaufleuten kommt der Gedanke, grozen vrumen und ere durch den talentierten Knaben gewinnen zu können (V. 2303), und heimlich legen sie ab. Dass die Entführung gelingen kann, ist dabei auch durch die Sonderstellung Tristans schon innerhalb seiner (vorgeblichen) Familie bedingt, hatte er ja allein mit seinem Lehrer auf dem Schiff bleiben dürfen, während sich der Marschall mit seinen anderen Söhnen samt Gefolge zurück an den Hof begeben hatte (V. 2250–59). Zugleich setzt die Entführung in negativ gesteigerter Form einen Umgang fort, der bereits in Parmenien zu beobachten war: Die Bevorzugung Tristans hatte es seinen Geschwistern ermöglicht, ihn für ihre Zwecke einzusetzen, indem sie mit Erfolg den Vater gebeten hatten, sie doch um des Bruders willen Falken kaufen zu lassen (V. 2168–90). Den Entführern wird die Abfahrt zunächst noch durch Tristans Versunkenheit ins Spiel erleichtert, regelrecht verdaht lässt ihn und Kurvenal der Wetteifer sein (V. 2314). So realisiert Tristan erst nach dem Sieg, schon in einiger Entfernung vom Landeplatz, was geschehen ist – nun gesahet ir nie muoterbarn / so rehte leidegen als in (V. 2322f.). Den Kaufleuten bringt ihre Tat jedoch ebenfalls kein Glück, ihr Versuch, sich des Begehrten gewaltsam zu bemächtigen, schlägt fehl: Ein schrecklicher Sturm zwingt sie zur Reue, so dass sie Tristan schließlich an der Küste von Cornwall aussetzen. Allein in der wilde, den Einbruch der Dunkelheit erwartend, ist Tristan von vorhte erfüllt. Zwar weint er und zeigt damit ein für Kinder typisches Verhalten (V. 2485f.), doch weiß er sich zu helfen und wird ein lützel vro (V. 2665), als er schließlich an eine Straße gelangt und in zwei sich nähernden Männern wallære erkennt. In der Tat sehen ihn die Pilger zwar wie die Kaufleute vlizecliche an (V. 2676; vgl. V. 2229, 2235), doch wird an ihnen kein böses Ansinnen erkennbar. Dass sie ihren Blick besonders auch auf der wertvollen Kleidung ruhen lassen, verdeutlicht zum einen deren Auffälligkeit und zeigt zum anderen, dass Tristans Anziehung gerade auch darin besteht, das jeweils Andere zu vertreten: Statt wie Tristan wertvolle Seide tragen die Pilger einfaches Leinen, statt orientalischer Borten zieren ihre Kleidung Muscheln und vremeder zeichen genuoc (V. 2635), statt in üppigem Stoff, der hochgezogen werden muss, bewegen sie sich in engen Hosen, die eine Handbreit über den Knöcheln

5

den Attributen sælic und süeze und »Zusicherungen einer gnadenreichen Auszeichnung« ebd., S. 154f., Anm. 37. Darüber hinaus werden in diesem Zusammenhang immer wieder das Wort wunder oder verwandte Bildungen verwendet (siehe die folgenden Ausführungen). W. Haug konstatiert hier »eine Art jugendliche[n] Leichtsinn«, »in der besonderen Kombination von Frühreife und Unreife«: Haug, Walter, ›Aventiure‹ in Gottfrieds von Strassburg ›Tristan‹, in: Backes, Herbert (Hrsg.), Festschrift für Hans Eggers zum 65. Geburtstag, Tübingen 1972 (PBB 94, Sonderheft), S. 88–125 [wieder in: Haug, Walter, Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 557–582], S. 102.

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enden. Gefragt, woher er komme, erklärt Tristan den Pilgern, eine nahe Jagdgesellschaft verloren zu haben. Die Bemerkung des Erzählers, er erweise sich so als vil wol bedaht / und sinnesam von sinen tagen (V. 2692f.), könnte sich darauf beziehen, dass Tristan es auf diese Weise vermeidet, sich als landfremd und damit schutzlos zu erkennen zu geben; sicher streicht sie eine Fähigkeit Tristans heraus, die sich als charakteristisch erweisen wird: das Vermögen, sich durch situationsadäquate, erfundene Geschichten Handlungsspielräume zu eröffnen. Dass sich bald eine passende Gelegenheit einstellt, wieder Anschluss an eine Hofgesellschaft zu finden, profiliert den Protagonisten als Figur, der Erstaunliches gelingt. Die Jäger von Tintajol bilden das dritte Publikum Tristans in dieser Episodenreihe. Sie stellen nun ein Umfeld dar, das ihm als höfisches vertraut, fern der Heimat jedoch fremd ist und das ihn entsprechend wahrnehmen muss.6 In diesem Rahmen beginnt Tristan eine Inszenierung, die so souverän ist, dass sie fast schon distanzieren könnte. Er lässt sich bitten, den Jägern bast, furkie, curie und die Präsentation des Wildes vorzuführen, ja sie sogar dazu anzuleiten, und führt mit dieser überlegenen Kulturtechnik zugleich die adäquate Begrifflichkeit ein. Es zeichnet die Jäger, allen voran ihren Meister aus, wie bereitwillig sie sich von dem fremden Jüngling belehren lassen: der meister sach den jungen gast / vil guotliche lachend an, / wan er was selbe ein höfscher man / und erkante al die vuoge wol, / die guot man erkennen sol (V. 2830–34). Die Faszination, die von Tristans Anmut und seinem mit bewusster Bescheidenheit demonstrierten Können ausgeht, wird noch gesteigert, als er sich ihnen vil sinnecliche und gar nicht wie ein Kind (V. 3092–96) schon auf dem Weg zum Hof als Kaufmannssohn präsentiert, den es in die weite Welt gezogen habe, ist doch ungünstigen Umständen abgerungene Perfektion von besonderem Reiz. Die Wahrnehmung der Jäger verdeutlicht pointiert ihr Kommentar zu seinem Namen, den sie schließlich in Erfahrung bringen: »du wærest zware baz genant / juvente bele et la riant, / diu schœne jugent, diu lachende« (V. 3139–41). In dieser Formulierung ist durchaus getroffen, was Tristan als Person auszeichnet; indirekt wird jedoch gerade hier auch wieder die Überschattung seiner Existenz, im Attribut ellende präsent gehalten (V. 2483, 2843, 2862, 2921, 3254, 3742, 3923), ins Bewusstsein gehoben, steht doch seit der Taufszene Tristans Name für die triure, die sein Leben von jeher bestimmt (V. 1983– 2022.). Tristan sorgt dafür, dass der Einzug in die Burg seine Person – fast über Gebühr – zur Geltung bringt: Sich und den Jägermeister schmückt er mit Lindenkränzen; er reitet, freilich mit ausdrücklicher Zustimmung der Begleiter, mit dem Meister auf einer Höhe und übernimmt auch musikalisch die Leitung des Zuges. Der Steigerung 6

Vgl. zu soziologisch und philosophisch fundierten Modellen des Fremderlebens und den Bildern des Fremden in Wolframs Parzival und Gottfrieds Tristan Dietl, Cora, Isold und Feirefîz. Fremde Spiegelbilder der Helden, in: Vollmann-Profe, Gisela u.a. (Hrsg.), Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, Tübingen 2007, S. 167–177.

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der Inszenierung entspricht die der Wirkung: daz vremede jageliet erschreckt die Hofgesellschaft vil innecliche sere (V. 3223–29) und lässt sie staunend zusammenströmen.7 Tristan, von der natiure zum König hingezogen (V. 3245), begrüßt ihn mit einem Hornspiel, dem nun niemand mehr zu folgen vermag. Nach einer formvollendeten Begrüßung erhält Marke vom Jägermeister wohlwollende Auskunft über den Fremden. Daraufhin schickt er die Jäger in die Quartiere, lässt Tristan aber zu sich rufen. In seiner ganzen Schönheit tritt dieser vor den König, nur ein kurzer Wortwechsel noch und der Hof jubiliert, und der König nimmt ihn, getragen von der Stimmung ringsum, als Jägermeister in seinen Dienst. Damit gelangt Tristan an die Position desjenigen, der ihn noch am Hof eingeführt hatte, inzwischen aber im Hintergrund des Textes verschwunden ist. Tristan wird zum allseits freundlich aufgenommenen ständigen Begleiter Markes, dessen Herz sich auch von ihm angezogen fühlt. Eine weitere Demonstration seiner Jagdkünste festigt Tristans Stellung am Hofe. Bei König und Gesinde erfreut er sich großer Beliebtheit, und er selbst geht auf in der Gemeinschaft mit ihnen: die sælde hæte im got gegeben, / er kunde und wolte in allen leben (V. 3495f.); als Mitglied des Hofes entspricht er ganz den Erwartungen: er lebete, swie man wolte / und als diu jugent solte (V. 3501f.). Die nächste Szene zeigt, dass in dieser austarierten Situation sich weiter zu öffnen für Tristan, die Angehörigen des Hofes und den König ein Wagnis einzugehen heißt. Als eines Abends ein Meister aus Wales die Harfe spielt, kann Tristan seine Aufwallung nicht verbergen; die Worte, die seine Kenntnisse offenbaren, spielen ihm selbst das Instrument in die Hand, und auch der Harfner hat mit seiner Ermunterung seine Schuldigkeit getan. Die folgende Passage steigert alle Darstellungen, die das Wunderkind und seine Wirkung bisher erfahren haben – erneut mit hyperbolischen Überbietungsfiguren (V. 3549f., 3637–39). Tristan zieht alle durch die Schönheit seiner Hände und seiner Musik auf eine Weise in seinen Bann, dass es fast bedrohlich wird: Er lässt Melodien erklingen, daz maneger da stuont unde saz, / der sin selbes namen vergaz: / da begunden herze und oren / tumben unde toren / und uz ir rehte wanken; / da wurden gedanken / in maneger wise vür braht (V. 3591–97). Man ist erklärtermaßen stolz, dass er zum Hof gehört (V. 3640–45), und als sich noch zeigt, wie viele Sprachen er beherrscht, kommt insgeheim bei vielen der Wunsch auf, zu sein wie er (V. 3704–14). Für den König bietet Tristan, wie er offen erklärt, alles das, was er begehrt, und so sucht er eine fast schon intime Nähe zu dem Jüngling und trägt ihm

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Vgl. zu dieser Partie und überhaupt zum Staunen, auch zur Verbindung von Bewunderung und Furcht Jaeger, C. Stephen, Wunder und Staunen bei Wolfram und Gottfried, in: Baisch, Martin u.a. (Hrsg.), Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, Königstein/Ts. 2005, S. 122–139. vremede ist im Text so stark mit Tristan assoziiert, dass Alois Wolf das Unterkapitel zur Einführung des Protagonisten mit »Tristan der vremede« überschreibt (Gottfried von Straßburg und die Mythe von Tristan und Isolde, Darmstadt 1989, Kap. D.II.3.a).

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an, seine Gesellschaft mit dem entlohnen zu wollen, was er als König gewähren könne (V. 3721–41). sus was der ellende do, heißt es abschließend, da ze hove ein trut gesinde. / ezn gesach nie man von kinde / die sælde, die man an im sach (V. 3742–45). Die Integration auch des schon verstörend Außergewöhnlichen, das den eigenen Mangel empfinden lässt, ist noch einmal gelungen, auch in der Hoffnung, den Mangel so zu kompensieren. In diesen ersten Episoden der Tristan-Handlung zeigt der Protagonist Eigenschaften und Fähigkeiten, die den Normen der höfischen Gesellschaft in Vollendung entsprechen8 und auch außerhalb der Höfe Anklang finden. Freilich haben sie sich sowohl für Tristan selbst als auch für diejenigen, die in Kontakt mit ihm stehen oder treten, als ambivalent erwiesen. Seine Exzeptionalität hat Tristan höchster Gefahr ausgesetzt und ihn gerettet, sie hat ihn dem höfischen Umfeld entrissen, in dem ihm alles offenstand, und ihm eine hohe Stellung an dem Hof eingebracht, der für den Vater als Inbegriff höfischer Kultur Ziel einer Bildungsreise gewesen war;9 das auf seine Person gerichtete Begehren, das der Faszination inhärent ist, hat den gewaltsamen Übergriff ebenso ermöglicht wie die Integration in die wechselseitigen Bindungen und die Rangordnung des Marke-Hofes. Wie in Parmenien wird ihm dort die besondere Gunst der höchsten Autorität zuteil, befördert er aber auch eine Hierarchisierung, die von anderen distanziert. Seine überlegene Kultiviertheit wertet die Gemeinschaft auf, der er angehört, und vermag ihre Mitglieder zu veredeln, sie lässt aber auch jeden anderen defizient erscheinen. Tristan ist einerseits ganz eins mit sich, dem, was er tut, und denen, die ihn umgeben. Auf der anderen Seite ist an ihm ein Auseinanderfallen von Innen und Außen zu erkennen, das ihn jeder Gemeinschaft entfremdet und in Spannung zu den Normen der höfischen Gesellschaft bringt. Die erfundenen Geschichten sind hierfür nur besonders deutliche Anzeichen. So kann Tristan für Walter Haug ein ›Spieler‹ nicht nur deshalb genannt werden, weil er »die Formen höfischer Selbstdarstellung mit einer spielerischen Virtuosität« handhabt, sondern auch, weil er über die Möglichkeit verfügt, »diese Formen zu veräußerlichen, d.h. etwas, das seinen Sinn darin findet, daß es Ausdruck einer spezifischen Lebenshaltung ist, als Artistik davon abzulösen

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Vgl. Gerok-Reiter, Individualität [Anm. 1], S. 155f. Auf das Verhältnis der Erzählung von Tristan (und Isolde) zu der von Riwalin (und Blanscheflur) gehe ich in diesem Beitrag nicht näher ein, obwohl es in diesem Zusammenhang von großem Interesse ist: Zum einen ermöglicht die Anlage Riwalins und Blanscheflurs als den Protagonisten ähnliche und von ihnen verschiedene Figuren die Wahrnehmung von Exzeptionalität im paradigmatisch-syntagmatischen Vergleich; zum anderen begründen Riwalin und Blanscheflur als Tristans Eltern seine Exzeptionalität genealogisch. Vgl. dazu Kap. II meiner Dissertation Wiederholung und Variation als poetisches Prinzip. Exemplarität, Identität und Exzeptionalität in Gottfrieds ›Tristan‹. Berlin, New York 2011 (mit weiterführenden Literaturhinweisen).

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und für bestimmte Zwecke einzusetzen«.10 Dieser Spannung zwischen Hingabe und Distanz entspricht, dass Tristan zwar Bindungen tief empfindet, sich aber auch ganz neu zu orientieren vermag: Der Verlust der Heimat und das Mitleid mit der Familie, die er in Sorge weiß, sind nach der Entführung zunächst ausführlich als Bewusstseinsinhalt Tristans gestaltet (V. 2582–2619), dann jedoch tritt die Heimat als Teil seines inneren Erlebens –vorläufig – zurück. Tristan ist eine Figur, die dank ihrer Fähigkeiten Situationen zu kontrollieren vermag und der sich so zugleich gerade die Grenzen menschlicher Selbstbestimmung zeigen, in negativen wie in positiven Ereignissen. Der Kontrolle schlechthin entzogen ist, wenngleich er ja die Kausalität nicht außer Kraft setzt, der Zufall – er bringt die Norweger nach Parmenien, lässt Tristan aber auch der Jagdgesellschaft begegnen.11 Mehrfach wird eine transzendente Macht aufgerufen: In der Schilderung des Seesturms erscheint Gott als ausgleichende Instanz, in der Not als Helfer; doch kann Tristan in der Argumentation seines Gebets in der Wildnis auch darauf hinweisen, dass er ja die Entführung zugelassen habe (V. 2496f.). Die Aufdeckung von Tristans wahrer Herkunft nach der Ankunft Ruals in Cornwall schafft für ihn und sein Umfeld vollkommen neue Voraussetzungen. Tristan wird damit konfrontiert, nicht leiblicher Sohn des ehrenwerten und geliebten Rual, sondern Waise mit belasteter Vorgeschichte, nicht länger gesinde mit Sonderstatus, sondern gefordertes Mitglied zweier Herrscherfamilien zu sein. Am Hof ist der Begünstigte kein Kaufmannssohn aus der Fremde mehr, sondern engster Verwandter des Königs. Marke intensiviert sogleich die Bindung, die zwischen ihm und Tristan besteht, und eröffnet ihm bald die Position des Thronfolgers: Bewegt von den neuen Nachrichten, erklärt er sich zum erbevater (V. 4301) seines Neffen und ermöglicht ihm eine prunkvolle Schwertleite; Tristans Aufbruch in sein Vaterland veranlasst ihn, dem Schwestersohn, den er nicht entbehren kann, das folgenschwere Angebot zu machen, guot und lant mit ihm zu teilen, ihn als Erben einzusetzen und um seinetwillen auf eine Eheschließung zu verzichten. Man kann es bezeichnend finden, dass der Hof an der Einleitung der Schwertleite noch beteiligt war – auf Ruals Bitte hin hatten die Herren sie befürwortet und Markes Großzügigkeit in einem opportunen Herrscherpreis zugestimmt –, dass er in der Abschiedsszene aber mit keinem Wort erwähnt wird. Tristan wird die Positionen, die sich aus seiner Herkunft und Markes Angebot ergeben, durch seine exzeptionellen Leistungen behaupten, indem er seine und der Länder Interessen in Rede und Kampf im Innern und nach außen durchzusetzen den

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Haug, ›Aventiure‹ [Anm. 5], S. 107. Vgl. zur Frage der »Adaequatio von ›innen‹ und ›außen‹« in der Wunderkindpartie darüber hinaus Gerok-Reiter, Individualität [Anm. 1], S. 154–159. Mehrfach markiert das Wort aventiure im Tristan bedeutsame Zufälle, so auch die Ankunft des Handelsschiffes in Parmenien (V. 2150); vgl. zu diesen Stellen und grundsätzlich zu Fragen der Motivation Haug, ›Aventiure‹ [Anm. 5].

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Mut und die Kraft hat. Auch dieser Aufstieg wird jedoch mit Verstellung und der Lösung aus Bindungen einhergehen und zudem mit der Demonstration verbaler und physischer Skrupellosigkeit.12 Wie für seine Umgebung hat dieser Aufstieg auch für Tristan dunkle Seiten – ganz in Entsprechung zu der Strophe, die anlässlich des zweiten Initiationsritus wie ein Motto über seine Existenz gesetzt wird: Truoc ieman lebender stæte leit / bi stæteclicher sælekeit, / so truoc Tristan ie stæte leit / bi stæteclicher sælekeit (V. 5069–72). Die zitierte Strophe bezieht sich zunächst auf Tristans Trauer um seinen Vater und damit auf den heimlichen Hass gegen Morgan. Halb herausfordernd und halb herausgefordert, besiegt Tristan in einem Überraschungsangriff den Gegner, dem der Vater unterlegen war, und ordnet die Verhältnisse in seinem Sinne. Sein Verhältnis zu mage unde man in Parmenien ist von tiefer Zuneigung und Respekt geprägt, doch nimmt Tristan Markes Angebot zur Steigerung seiner ere an, auch um den Preis, die Seinen erneut im Schmerz zurückzulassen und sich selbst zu teilen alse ein ei (V. 5688). Im Reich des Bruders seiner Mutter bietet sich dem nun lantlose[n] (V. 5868) gleich nach seiner Rückkehr die Möglichkeit, sich durch die Befreiung des Landes von den Tributen an Irland als würdiger Thronfolger zu erweisen: Seine geschliffene Rede vor dem Hof, in der er den Feind verurteilt und die edelen lantgenoze beschämt (V. 6035), stellt Ethos und Geschick unter Beweis, sein Vorgehen gegen den gefürchteten Gegner – auch er will Tristan noch für sich gewinnen – zeigt ihn als überlegenen, freilich auch schonungslosen Kämpfer. Jedoch ist diese Herausforderung nach dem Sieg gegen Morold noch nicht ausgestanden: Eine Verletzung, die ihm der Ire mit vergifteter Waffe beigebracht hat, zwingt ihn zu dem kühnen Unternehmen, im Land des Getöteten Heilung zu suchen. Auch im weiteren Handlungsverlauf werden es noch mehrfach in den Körper eindringende Substanzen sein, die Tristan, dem ja sonst Verfügungsgewalt über andere Körper eignet, in Todesnähe bringen, und werden es Frauen sein, die ihn zu retten vermögen. Dank seines Identitätswechsels und vor allem der Wirkung seines Musizierens gelingt das Ungeheuerliche: Die Schwester Morolds heilt den Feind und hält ihn als Lehrer der eigenen Tochter in ihrem Umfeld. So reüssiert er als Spielmann Tantris auch am irischen Hof, der ihn jedoch ebenfalls wieder ziehen lassen muss. Die Rückkehr nach Cornwall löst beim König und bei der Bevölkerung große Freude aus. Seine Erzählung von den Ereignissen in Irland erzeugt allgemeine Heiterkeit und großes Erstaunen, der formvollendete Lobpreis auf die

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Vgl. Kellermann, Karina, ›und vunden vür ir herren da einen zestucketen man‹. Körper, Kampf und Kunstwerk im ›Tristan‹, in: Huber, Christoph / Millet, Victor (Hrsg.), Der ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000, Tübingen 2002, S. 131–152; sie zeigt »[d]ie Welt des Kampfes« als »eine Welt der Demontage und Gewalt, eine Welt in Stücken«, die »als solche in Kontrast zur Welt der höfischen Repräsentation und der Welt der Tristan-und-Isolde-Liebe [steht], die beide auf je eigene Weise um Harmonie und Ganzheit ringen« (S. 131).

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Königstochter erquickt denen, die die Worte richtig aufnehmen, das Herz. Für Tristan beginnt eine neue Zeit: er was ein niuborner man (V. 8313). Doch in unerbittlicher Dialektik entsteht nun mitten aus dem Hof heraus Gefahr: künec unde hof die waren do / ze sinem willen gereit, / biz sich diu veige unmüezekeit, / der verwazene nit, / der selten iemer gelit, / under in begunde üeben (V. 8316–21). Gruppen- und Einzelinteressen drängen die Geltung der Gemeinschaft zurück, der Erfolg Tristans wird nicht mehr als Verdienst um das Land, sondern als Bedrohung interner Positionen wahrgenommen. Im Erstaunlichen sucht man so nicht das Bewundernswerte, sondern das Beunruhigende, wenn Tristan als zouberære bezeichnet (V. 8331; vgl. V. 8336) und über seinen siegreichen Kampf gegen Morold und seine Listen in Irland gesagt wird: »merket wunder, hœret her: / der paratiere, wie kan er / gesehendiu ougen blenden / und allez daz verenden, / daz er zendene hat!« (V. 8345–49). Die Herren beginnen mit übler Nachrede, raten dann Marke zur Heirat und können, als dieser entschieden ablehnt, ihre Missgunst Tristan gegenüber nicht mehr verhehlen. Tristans Angst vor einem heimtückischen Mord kann auch Markes Rede nicht beseitigen, die, mit Sentenzen durchsetzt, dazu auffordert, den Neid als Kehrseite des Ansehens hinzunehmen.13 Tristan sorgt schließlich dafür, dass er als Brautwerber nach Irland reist – allerdings nicht, ohne die Intriganten zu Begleitern der Mission zu machen, deren Erfolg nun ganz von ihm abhängt. Auch dieses Unternehmen gelingt dank der besonderen Möglichkeiten des Helden, der nun auch zum Drachentöter wird, und dank günstiger Umstände. Schließlich kann er mit der Braut nach Cornwall zurückkehren. Bevor ich jedoch diese Überfahrt genauer betrachte, wende ich den Blick noch einmal zurück auf die Frau, die sich mit ihm auf dem Schiff befindet. Die Struktur der Erzählung ist an Tristans Lebensgeschichte orientiert; doch hat der Text, wie schon der Prolog programmatisch erklärt, zwei Hauptfiguren: ein man ein wip, ein wip ein man, / Tristan Isolt, Isolt Tristan (V. 129f.). Die Protagonistin wird bei Gottfried als Figur bemerkenswert ähnlich konstituiert wie der Protagonist; in der Zuweisung von Qualitäten und der Darstellung der Erfahrungen kann man bei aller Variation bis in Details hinein Entsprechungen bemerken. Einiges sei im Folgenden angedeutet. Die erste Irlandepisode, in der die Hauptfiguren das erste Mal zusammentreffen, führt Isolde gleichfalls als wahrhaft exzeptionelle Repräsentantin höfischer Kultur 13

Vgl. Tomasek, Tomas, Überlegungen zu den Sentenzen in Gotfrids ›Tristan‹, in: Lindemann, Dorothee / Volkmann, Berndt / Wegera, Klaus-Peter (Hrsg.), ›bickelwort‹ und ›wildiu maere‹. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag, Göppingen 1995 (GAG 618), S. 199–224, hier S. 202f. u. 216. – Zur Tradition der zunächst geistlich bestimmten Hofkritik vgl. Bumke, Joachim, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 19978, S. 583–594 (Kap. VI), bes. S. 593f. – Die psychosoziale Genese der Intrige und ihre Phasen hat Rainer Gruenter in einem pathetisch-geschliffenen Aufsatz verfolgt: Der Favorit. Das Motiv der höfischen Intrige in Gotfrids ›Tristan und Isold‹, in: Adam, Wolfgang (Hrsg.), Rainer Gruenter, Tristan-Studien, Heidelberg 1993 (Beihefte zum Euphorion 27), S. 141–158, zuerst in: Euphorion, 58/1964, S. 113–128.

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vor.14 Die Königstochter, deren Erziehung durch Tristans Unterricht vervollkommnet wurde, fasziniert bei Hof ebenfalls durch ihre Schönheit, besonders die ihrer Hände, und durch ihre Musik, auch sie geht in ihrer Vorführung auf, auch sie erfreut den Hof und verstört ihn zugleich, indem sie die Herzen ins Wanken bringt und so manchen Gedanken aufkommen lässt (V. 8027–31). Die Kunde von ihrer Schönheit wird ebenfalls vor den Hof von Cornwall getragen; dabei demonstriert Tristans Beschreibung ihrer Außergewöhnlichkeit auch wieder seine Exzeptionalität, hier in der hohen Kunst des Frauenpreises. Indirekt haben die Rezipienten vor Isoldes erstem Auftritt zudem erfahren, dass auch sie durch ihre Herkunft Fremdes in sich trägt – der Rückblick anlässlich der Ankunft Morolds hatte ihren Vater Gurmun Gemuotheit als Königssohn aus Afrika vorgestellt (V. 5878–6006);15 wie Tristan in Cornwall so ist Isolde in Irland durch die Mutter und deren Bruder verwurzelt. Die zweite Irlandepisode zeigt Isolde in Bedrängnis. Wie Tristan seine sind ihr ihre besonderen Qualitäten gefährlich geworden: Der Truchsess begehrt sie zur Frau, ein lächerlicher Mann, der sie aber mit allen Mitteln zu gewinnen sucht. Doch wiederum dank ihrer Vorzüglichkeit kann dies verhindert werden – durch den anderen, den überlegenen Brautwerber. Wie Tristan ihre, so nimmt auch sie seine Außergewöhnlichkeit wahr, wie er so wird auch sie an entsprechender Stelle als exzeptionelle Figur gestaltet: Beschäftigt mit der Diskrepanz zwischen der Erscheinung des Retters und seinem (vorgeblichen) Stand, erkennt sie dessen wahre Identität beim Betrachten des schartigen Schwertes und beim Sinnieren über seinen Namen – eine Erkenntnis, die ihr den nächsten Schmerz zufügt. Er führt – auch darin ist sie Tristan vergleichbar – zu dem Entschluss, den Tod des Verwandten, obwohl ohne Heimtücke verursacht, zu rächen. Zureden und weibliche Selbstbeherrschung retten Tristan gerade noch das Leben. Schließlich erscheinen beide am Tag der Entscheidung vor der Öffentlichkeit des Hofes, in aufreizender und blendender Schönheit. Der paarweise Einzug zuerst der beiden Isolden, dann Brangänes und Tristans in den Palas wird von Tristan, der die Ausstattung zur Verfügung stellt, und der irischen Königin, die die Einzugsordnung vorgibt, präzise inszeniert. Auch dank dieser Demonstration kann der Anspruch des Truchsessen abgewehrt werden und hat die Unternehmung Erfolg: Die irische Königstochter wird dem verfeindeten, aber überlegenen König, die Schönste dem Ranghöchsten versprochen und seinem Werber übergeben, dessen Taten und Erscheinung den Auftraggeber aufwerten,16 ohne dass sie freilich darin aufgingen.

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Der Kennzeichnung von Isoldes Außergewöhnlichkeit dienen rhetorische Mittel und Ausdrücke, wie sie auch auf Tristan bezogen werden, etwa hyperbolische Überbietungsfiguren oder das Wort wunder und verwandte Bildungen. Dietl, Isold und Feirefîz [Anm. 6], S. 173f., geht genauer auf diese Genealogie ein und vergleicht Gurmun mit Gahmuret aus Wolframs Parzival. Vgl. zur Frage nach der Zuordnung der Ehepartner und besonders auch dazu, wie sie in der Gerichtsszene verhandelt wird, Gerok-Reiter, Individualität [Anm. 1], S. 165–172.

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Auf der Überfahrt befinden sich beide, Tristan und Isolde, in schwieriger Lage. Isoldes Schmerz wird im Text thematisiert, u.a. in einem Gespräch mit Tristan: Nicht nur quält sie weiterhin, dass er ihren Onkel getötet hat, sie wirft ihm auch vor, sie den Ihren abgelistet zu haben, und klagt, sie wisse nicht, wohin er sie führe, wofür sie verkauft worden sei und was nun aus ihr werden solle. Durch das Erleben, das sie hier zum Ausdruck bringt, ist sie zugleich von Tristan getrennt und mit ihm verbunden: Ihn hat wie sie die Trauer länger und stärker als andere auch mit Hassgefühlen gequält, auch er wurde instrumentalisiert, der Heimat entrissen und übers Meer ins Ungewisse gezwungen. Es ist bezeichnend, dass Tristan ihr zum Trost die hohe Position vor Augen hält, die sie in der Fremde erwarte, und damit auch auf die Grundlage seiner Entscheidung für Cornwall und gegen Parmenien verweist. So setzt sich die Parallelisierung der Figuren und ihrer Geschichten in dieser Textpassage fort. Tristans problematische Lage kommt in der Überfahrtepisode nicht eigens zur Sprache, sie geht jedoch aus der Konstellation hervor, die sich für ihn ergeben hat: Die Barone haben auch in Irland ihre Missgunst nicht aufgegeben (V. 9662–98); ihre Intrige hat tatsächlich dazu geführt, dass der König heiraten und damit Tristans Position als Thronfolger gefährden wird. Beide Hauptfiguren sind in Situationen gelangt, in denen sie die schmerzhaften Auswirkungen ihrer Exzeptionalität nur noch mühsam kontrollieren können: Tristan hat der Neid der Barone in Ereignisse verwickelt, in denen er zwar noch Handlungsmöglichkeiten erlangen, seine Belange aber letztlich nicht mehr durchsetzen konnte. Isolde konnte die Folgen des auf sie gerichteten Interesses im einen Fall abwehren, war aber gezwungen, sie im nächsten zu akzeptieren. Objekt von Intrigen oder Heiratspolitik zu werden, muss in diesem soziokulturellen Kontext hingenommen und ausgehalten werden. Beide erwarten so Einschränkungen: Tristans Stellung wird, zumal unter einer Königin, die ihn ablehnen muss, nicht mehr die alte sein, und Isolde wird sich in die Rolle der Ehefrau zu fügen haben. Versuche von außen, den entstehenden Schaden von Tristan und Isolde abzuwenden, sind schon missglückt – so Markes Agieren in der Auseinandersetzung mit den Höflingen – oder werden missglücken – so der Versuch der irischen Königin, durch ein Elixier die dem »Allianzdispositiv« entsprechende Ehe17 zwischen der geliebten Tochter und dem sozial-rechtlich adäquaten Partner auch als personale Minnebindung zu begründen. In dieser Situation, in der Tristan und Isolde eine Integration um einen hohen Preis bevorsteht, geschieht nun mit der Aufnahme des Minnetranks etwas, das die Figuren neu freisetzt, indem es sie in eine andere Dimension vordringen lässt. Gerade sie, deren Verhältnis Feindschaft, Täuschung, Konkurrenz und Instrumentalisierung belasten, treten in eine Gemeinschaft ein, die rein und ganz Einheit und Offenheit ist: 17

Vgl. Warning, Die narrative Lust an der List [Anm. 1], S. 189, auch Anm. 27, mit Bezug auf M. Foucaults Gegenüberstellung von »dispositif d’alliance« und »dispositif de sexualité« (Foucault, Michel, Histoire de la sexualité I. La volonté de savoir, Paris 1976).

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si wurden ein und einvalt, die zwei und zwivalt waren e; si zwei enwaren do nieme widerwertic under in: Isote haz der was do hin. diu süenærinne Minne diu hæte ir beider sinne von hazze gereinet, mit liebe also vereinet, daz ietweder dem anderm was durchluter alse ein spiegelglas. (V. 11716–26)

Es verschwinden nicht nur Hass und Falschheit, ihr Verhältnis wird auch frei sein von Neid und Instrumentalisierungsbestrebungen.18 Denn diese Impulse, die Tristan und Isolde in ihrer Außergewöhnlichkeit ausgelöst haben, setzen ein Gefälle voraus, das zwischen den Liebenden eben nicht besteht, die im anderen dem wenn auch Fremden, so doch Ebenbürtigen begegnen, demjenigen, der nicht mehr verglichen, sondern in seiner Einzigartigkeit erkannt und erfahren wird. Ähnliche, freilich weniger intensiv gestaltete Situationen, in denen ein nicht zu erwartendes Erkennen eine tiefe innere Bindung bedeutet, haben zuvor Tristans Verhältnis zu Marke (V. 3240– 45) und zu Rual (V. 3936–41) gekennzeichnet, zu den beiden Figuren, die seine Identität bisher bestimmt haben. Allerdings ist der Beginn der Liebe weniger als Erlösung denn als Zwangserfahrung gestaltet. Das Gebannte kehrt wieder, zumal unter den Bedingungen, unter denen die Liebe beginnt: das Begehrtwerden als unstillbare Sehnsucht des anderen, die Bedrohung in Form der Gefährdung, die die Abhängigkeit von dem einen Menschen in seiner singulären Bedeutung verursacht. Auf diese Weise setzen sich Grundzüge der Handlung bei der Entstehung der Liebe in dialektischer Dynamik fort. Die Gemeinschaft, deren Entstehung der Minnetrank bewirkt, wird durch das wechselseitige Geständnis und den Kuss besiegelt – vremede under in diu was do hin (V. 12037). Spätestens mit diesem »Liebesvertrag« bildet sich, um Formulierungen Peter von Matts aufzunehmen, »eine eigene Ordnung, eine neue Ordnung«, die eingelassen ist in die bestehende allgemeine Ordnung.19 Wenn nun eine solche Ordnung allein schon deshalb, weil sie aus dem Bestehenden aussondert, immer eine subversive Tendenz besitzt und es in dem Moment des Entstehens nie die Gewähr gibt, dass die neue Ordnung mit der bestehenden harmonisiert werden kann, so gibt es für diese Liebenden die Gewissheit, dass es zu einem dauernden inneren und äußeren Konflikt kommen wird. Zwar trägt die neue Ordnung ideale Züge: In ihrer Gleichzeitigkeit, 18 19

Die Irritationen im Schlussmonolog zeigen, wie nahe Tristan hier dem Selbstverlust kommt. Vgl. Matt, Peter von, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 20046, S. 127– 157 u. S. 61, mit Verweis auf Luhmann, Niklas, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982.

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Gegenseitigkeit, Aufrichtigkeit und Intensität stellt diese Liebe zwischen Ebenbürtigen eine beispiellose Glückserfahrung dar und übertrifft die Erwartungen nicht nur der höfischen Kultur. Jedoch ist aufgrund des Verhältnisses, in dem Königsneffe und Königsbraut zueinander stehen, eine veredelnde Wirkung gerade nicht zu erwarten. Dabei bedeutet nicht nur eine verbotene Liebe immer auch Selbstaufgabe und Kontrollverlust und stellt vormals identitätsstiftende Bindungen infrage. Für die Figuren in dieser Konstellation hat es überdies eine wahrlich existenzbedrohende Dimension, wenn ere, triuwe und scham in inneren Kämpfen entmachtet werden (V. 11741–72, 11820–40) und ere und triuwe doch eingesetzt bleiben (V. 12507–26). In Cornwall angekommen, wird es Tristan und Isolde darum gehen, in der Öffentlichkeit innerhalb der einen, heimlich innerhalb der anderen Ordnung zu leben. Dabei erfordert die Aufrechterhaltung dieser Trennung den Einsatz all dessen, was ihnen zu Gebote steht: Klugheit und Musikalität wie Gewalt und Verstellung müssen sie aufbieten, um sich zu schützen – vor der Entdeckung durch den König, vor dem Verrat durch die Helferin, vor dem Übergriff eines Fremden. Die größte Gefahr erwächst wieder aus dem Hof. Weniger Rechtsempfinden als persönliche Enttäuschung bildet den Auslöser für neue Intrigen, wieder ist der nit treibende Kraft (vgl. V. 13637). Der Truchsess Marjodo fühlt sich doppelt herabgesetzt: durch die Heimlichkeiten des teuren Gefährten und durch dessen Bevorzugung seitens der Herrin, zu der er sich selbst hingezogen fühlt; ihm gelingt es, Melots Unterstützung zu gewinnen und Marke zu verunsichern. Was die beiden Liebenden gefährdet, ihre Exzeptionalität, schützt sie aber zugleich: Aus Furcht vor Tristan wagt es der Truchsess nicht, offen gegen ihn vorzugehen, und die Versuche, die Wahrheit über Tristan und Isolde herauszufinden, scheitern nicht nur an der überlegenen List der beiden Liebenden und ihrer Vertrauten, sondern auch an Isoldes Schönheit – sie ist für Marke so begehrenswert, dass er nur zu gern das wænen nicht in wizzen überführt. Die Normüberbietung gewährt Tristan und Isolde so den Freiraum, den Normbruch durchzuhalten. Ihre besonderen Qualitäten ermöglichen den Liebenden nicht nur die Abwehr von Schaden, sondern auch die Ausgestaltung ihrer Zweisamkeit – so, wenn Tristan Isolde mit Petitcreiu ein schillerndes Geschenk erobert –20 und kommen dabei zu neuer Geltung. Das Exil in der Minnegrotte und der sie umgebenden Landschaft verwirklicht die eigene Ordnung der Liebenden als höfische Festgemeinschaft, die in ihrer Harmonie und Zweckenthobenheit alle Artusfeste (vgl. V. 16859–65)21 und auch 20

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Die Petitcreiu-Partie lässt sich auch als Thematisierung von Exzeptionalität lesen; die Außergewöhnlichkeit des Hündchens wird gleichfalls über Herkunft, Erscheinung und (ambivalente) Wirkung bestimmt. Nicht nur solch deutliche Bezugnahmen auf andere Dichtungen ermöglichen im Tristan die Formulierung von Exzeptionalität auch in intertextuellen Relationen. Vgl. etwa das komplexe Verhältnis zum Werk Hartmanns von Aue: Goller, Detlef, ›wan bî mînen tagen und ê / hât man sô rehte wol geseit‹. Intertextuelle Verweise zu den Werken Hartmanns von Aue im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, Frankfurt/M. u.a. 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 7). Im vorliegenden Zusammenhang böte es sich u.a. an, den Tristan und den Erec

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Markes hochgezit überstrahlt, welche der Begegnung von Tristans Eltern den Rahmen gegeben hatte – der Kontrast zum Hof, wie er spätestens seit Tristans erster Rückkehr aus Irland erscheint, könnte größer nicht sein: Die Natur bildet die freundlichste Gesellschaft, die Liebenden tun nichts als das, da si daz herze zuo getruoc (V. 17241), das Musizieren ist Ausdruck umfassenden Einklangs. Der Beginn der Minnegrottenepisode, Markes Befehl, den Hof zu verlassen, hatte gezeigt, dass die bestehende Ordnung auf die Konfrontation mit der neuen wenn nicht mit Zerstörung, so doch mit Aussonderung reagiert. Die Liebenden ihrerseits geben für die neue Ordnung ihre Position in der bestehenden nicht auf: Von Beginn an betreiben sie ihre Versöhnung mit dem Hof, und in ihrem wunschleben, so heißt es, hätten sie zwar umbe ein bezzer leben nicht eine bone gegeben, aber doch eine umbe ir ere (V. 16875–77). Als es durch das Vordringen der Jagdgesellschaft zu einem neuen Kontakt zwischen Hof und Liebenden kommt, setzen sie daher ihre Strategie fort, die Existenz der neuen Ordnung zu verbergen. Isoldes noch gesteigerte Schönheit und Tristans Schwertlist bewegen Marke dazu, mit rat und mage eine Aufhebung der Verbannung zu erwägen. Da die Ratgeber des Königs sich opportunistisch daran ausrichten, als ime daz herze stuont (V. 17674), können die Liebenden bald durch got und durch ir ere das Angebot zur Rückkehr freudig annehmen (V. 17698). Am Hof setzen sie ihr Doppelleben fort, bis Isolde, die, bedrängt durch die huote, mehr und mehr die Beherrschung verliert, ein riskantes Zusammenkommen arrangiert und Marke es durch Zufall entdeckt. Nun ist die Trennung unausweichlich, und Tristans heikle Suche nach trost ze siner triure beginnt (V. 18417).22 Folgt man Gottfrieds Vorlage, Thomas’ altfranzösischem Roman, ist das Tristan-Fragment um ein Ende zu ergänzen, das das Sterben der Eltern gesteigert hätte, ein Ende, so die Vorausdeutung in der Taufpartie, daz alles todes übergenoz / und aller triure ein galle was (V. 2016f.). Es gelingt nicht, die neue Ordnung mit der bestehenden in Einklang zu bringen: Diese begegnet jener mit Versuchen der Umdeutung, Aussonderung oder Zerstörung, jene dieser mit Abschottung und Verstellung; der betrügerische Aufbruch in einen anderen Bereich ist eine weitere, ebenfalls labile Möglichkeit, die in der Geschichte

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(unter Berücksichtigung der Stoffgeschichte) zueinander in Beziehung zu setzen und thematische Akzentuierung sowie narrative Verfahren miteinander zu vergleichen: Man denke daran, wie Hartmanns Text Protagonist und Protagonistin in Entsprechung zueinander exzeptionell und ihre Schönheit und seinen Kampfesmut ambivalent erscheinen lässt, wie Intimität und Öffentlichkeit in ein spannungsvolles Verhältnis gesetzt werden; bei der Betrachtung der Minnegrottenepisode legen es bereits die Ähnlichkeiten in der Raumgestaltung nahe, sie gegen die Joie-de-la-Curt-Episode zu halten. Auch eine genaue Betrachtung der Textpartie, die von Tristan und Isolde nach der Trennung erzählt, wäre für die hier behandelte Fragestellung interessant. In den Blick zu nehmen wäre u.a., wie Tristan in weiteren Kontexten seine Exzeptionalität behauptet, wie seine außergewöhnlichen intellektuellen und musischen Fähigkeiten ihn in neuer Weise gefährden, wie die singuläre Bedeutung Isoldes und damit die Integrität Tristans bedroht werden.

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von Riwalin und Blanscheflur bereits vorgeführt worden war und vor der Ankunft Tristans und Isoldes in Cornwall sowie bei ihrem Aufbruch vom Hof aufgeschienen ist (V. 12516–18, 16651–53). Der Konflikt treibt in seiner destruktiven Dynamik auf beiden Seiten Problematisches hervor: Die Darstellung zeigt die Liebenden am Hof in ihrer ganzen Verstellungskunst und Skrupellosigkeit, aber noch stärker richtet sie den Blick darauf, wie König und Hof ihrerseits betrügerisch agieren und wie Marke, auch aufgrund seiner emotionalen Bindungen, der Erkenntnis der Wahrheit und ihren Folgen ausweicht. In den paraphrasierten Episoden wird so deutlich, was auch die weitere Handlung bestätigen könnte, dass nämlich trotz fast übergroßer Anstrengungen die Integration dieser exzeptionellen Figuren in die höfische Gesellschaft letztlich nicht gelingt. Zugleich zeigt der Text die Liebenden als Gestalten, die auch fern des Hofes und noch im intimsten Bereich zutiefst höfisch sind und ihre Außerordentlichkeit hier ganz neu zur Geltung bringen. Von den Versuchungen, die ihre Exzeptionalität für sie selbst und für andere darstellt, könnte sie die Liebe befreien, wäre nicht auch sie Teil der Welt. Auch die Erzählung der Minnehandlung verfolgt die Frage nach den Grenzen menschlicher Verfügungsgewalt. Eine Verkettung von Umständen und Ereignissen verursacht die Einnahme des Minnetranks, der höchstes Glück und größte Gefährdung bedeutet; die Ambivalenz des Zufalls offenbart sich weiterhin darin, dass er ebenso gut die Entdeckung des Zufluchtsortes wie die des Liebesverhältnisses am Hof bedingt.23 Gott zeigt sich weiterhin als Helfer in der Not, und die Liebenden erscheinen als Figuren, die mit seiner Unterstützung rechnen können. Exzeptionalität wird im Tristan somit in der Darstellung von Konstellationen, von Wahrnehmung und Interaktion narrativ vorgeführt. Dabei ist der Text so angelegt, dass sich für die Rezipierenden verschiedene Perspektiven ergeben:24 Man begleitet die exzeptionellen Figuren, steht mit ihnen in den immer neuen Situationen, nimmt Anteil an ihrem Glück und ihrem Leid; dann wieder sieht man sie innerhalb der erzählten Welt von außen, aus der Perspektive der anderen Figuren, ist mit diesen angezogen, verwirrt und verletzt. Mal mehr, mal weniger deutlich ist die Stimme eines Erzählers zu vernehmen, der die Rezipienten an seinem Wissen beteiligt und ihnen seine Haltung mitteilt, der mit der ihm eigenen Autorität Außergewöhnlichkeit behaupten und bewerten kann. Darüber hinaus lässt sich ein Standpunkt in Relation

23

24

Franz Josef Worstbrock lenkt den Blick besonders auf die Darstellung komplexer Zufälle und ihre kompositorische Funktion: Der Zufall und das Ziel. Über die Handlungsstruktur in Gottfrieds ›Tristan‹, in: Haug, Walter / Wachinger, Burghart (Hrsg.), Fortuna, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 34–51. Vgl. zur Fokalisierung in Gottfrieds Tristan die eingehende Analyse in der Studie von Hübner, Gert, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ›Eneas‹, im ›Iwein‹ und im ›Tristan‹, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44), S. 312–397 (Kap. VII.4).

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zu einer Autorinstanz einnehmen25 und sind weitere Beobachterpositionen unterschiedlicher Art und verschiedener Ordnungen möglich.

I.2. In die Erzählung sind immer wieder beschreibende Partien eingelassen, in denen sich die Aufmerksamkeit für längere Zeit auf besondere Aspekte von Figuren oder Gegenständen richtet; oft bieten auch diese Partien verschiedene Perspektiven an. Viele Deskriptionen fokussieren die beiden Hauptfiguren. Einige von ihnen möchte ich im Folgenden Revue passieren lassen, um zu sehen, wie sie in der ihnen eigenen Art Erscheinungsformen der Exzeptionalität gestalten.26

25 26

Sowohl ›Erzähler‹ als auch ›Autor‹ verstehe ich als heuristische Abstraktionen, die die Vorstellung von Intentionalität implizieren. Zu den Deskriptionen im Tristan vgl. jetzt Huber, Christoph, Merkmale des Schönen und volkssprachliche Literarästhetik. Zu Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg, in: Braun, Manuel / Young, Christopher (Hrsg.), Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 111–141, bes. S. 131–141, wo er sich den Passagen zuwendet, »die Gottfrieds ästhetische Praxis in actu demonstrieren und dabei die Schönheitsmerkmale mitreflektieren« (S. 131). Die rhetorisch-poetische Fundierung gerade auch der Deskriptionen im Tristan hat u.a. Stanisław Sawicki herausgearbeitet: Gottfried von Straßburg und die Poetik des Mittelalters, Berlin 1932 (Germanische Studien 124), Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1967, bes. S. 71–87. Die Verweise auf Matthaeus von Vendôme haben dabei eine besondere Relevanz, weil man davon ausgehen kann, dass Gottfried dessen Ars versificatoria gekannt hat (Ausgabe: Faral, Edmond (Hrsg.), Les Arts Poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge, Paris 1958 [Bibliothèque de l’École des Hautes Études 238]). Daneben wurde besonders das Gedankengut der französischen Kathedralschulen als Kontext geltend gemacht: Jaeger, C. Stephen, Medieval Humanism in Gottfried von Strassburg’s ›Tristan und Isolde‹, Heidelberg 1977 (Germanische Bibliothek), S. 105–115 u. 116–125 (Kap. VI: »Isolde’s Entrance: Stone in Motion«, Kap. VII: »The Arming of Tristan: Aesthetic Theory on Horseback«); Huber, Christoph, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklære, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl, Zürich, München 1988 (MTU 89), siehe im Namen- und Sachregister descriptio (S. 470); er weist u.a. darauf hin, dass »auch die technisch orientierten Poetiken des 12. Jahrhunderts mit chartrensischen Konzepten durchsetzt sind« (S. 86). Vgl. als weitere neuere Beiträge Jackson, Timothy R., Typus und Poetik. Studien zur Bedeutungsvermittlung in der Literatur des deutschen Mittelalters, Heidelberg 2003 (Beihefte zum Euphorion 45), bes. S. 161–220 (Kap. 3: »Zwei Frauenideale – zwei Schönheitsideale: zu ›Tristan und Isold‹ 10885–11020 und ›Engelhard‹ 2955–3102«); Masse, Marie-Sophie, Von der Neugeburt einer abgenutzten Praxis: die ›descriptio‹ in Gottfrieds ›Tristan‹, in: GRM, N.F. 55/2005, S. 133–156; siehe auch die zu Beginn von Teil II dieses Beitrags aufgeführten Titel.

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Zu den ›descriptiones‹ hat man auch die Darstellung der Kindheit und Jugend des Protagonisten gezählt. Der Forderung einer ›descriptio tempestiva‹ entsprechend,27 wird die Figur hier so angelegt, wie sie dann die Handlung zeigt. Die Beschreibung exponiert den Protagonisten als Wunderkind, sie ergänzt im Rekurs auf die Erziehung die genetische Begründung seiner Exzeptionalität, die in der Elternerzählung zuvor entwickelt wurde. Der treue Rual, der sich nach dem Tod von Herr und Herrin ihres neugeborenen Sohnes angenommen hat, lässt der Waise eine Ausbildung zuteil werden, daz ime, so der Erzähler, diu werlt ze lone / der gotes genaden wünschen sol (V. 2040f.). In seiner frühen Kindheit wird Tristan liebevoll von seiner Ziehmutter umsorgt, bis er sich in Rede und Verhalten verständig zeigt. Siebenjährig vertraut Rual ihn dann einem wisen man an (V. 2061): Mit ihm schickt er ihn durch vremede sprache in vremediu lant (V. 2063), er wird an das Literaturstudium und Saitenspiel herangeführt, übt sich in ritterlicher Pferde-, Waffen- und Körperbeherrschung, lernt Jagen und Pirschen und wird mit den Formen höfischer Lebensart vertraut gemacht. Nach weiteren sieben Jahren leitet man ihn an, in der Heimat liute unde lant zu erkunden (V. 2135), des landes site kennenzulernen (V. 2137). Tristan durchläuft ein Bildungsprogramm, wie es innerhalb dieses kulturellen Kontextes umfassender kaum sein konnte.28 Die Bemühungen fallen auf fruchtbaren Boden: Tristan erwirbt Kenntnisse, Fähigkeiten, Umgangsformen und eine Haltung, die ihm schließlich allgemeine Beliebtheit und Anerkennung einbringen. Wenn der Umgang mit Schild, Lanze und Pferd reht und nach ritterlichem site erfolgt (V. 2111) und damit die Normentsprechung betont wird, nimmt sich das schon schwach aus gegenüber einer Hervorhebung der musikalischen Fortschritte durch das Wort wunder (V. 2099), gegenüber hyperbolischen Überbietungsfiguren, die Tristans Bücherstudium (V. 2085–92), seine Fähigkeiten im Jagen und Pirschen (V. 2118–20), seine körperlichen Vorzüge (V. 2123–25) und schließlich seine tugentliche Lebensführung (V. 2138–43) hervorheben, oder gegenüber einer Kennzeichnung von muot und site als uz erkorn (V. 2126f.). Doch wird die glanzvolle Ausbildung überschattet: Es ist der buoche lere, die vriheit in getwanc, vröude und wunne in sorgen wendet, die früh die Blüte mit Reif überzieht und verdorren lässt (V. 2064–86). Das Außergewöhnliche liegt dabei noch nicht in dem Schaden an sich – dies verdeutlicht die Bemerkung, dass ein solcher Schaden manch jungen Menschen trifft –, sondern in der Intensität, mit der sich Tristan – dennoch – gerade diesem Feld widmet, und in dem Erfolg, den er hier erzielt. Der Hinweis auf die Kehrseite des Glücks, das die Vervollkommnung bedeutet, schließt später, nun übergreifend, die Darstellung der zweiten Erziehungsphase ab: nu was aber diu sælde undersniten / mit werndem schaden, als ich ez las, / wan er leider arbeitsælic was (V. 2128–30). Das markante Kompositum arbeitsælic hat C. Stephen Jaeger mit philosophischen und medizinischen Melancho27 28

Vgl. Sawicki, Gottfried von Straßburg und die Poetik des Mittelalters [Anm. 26], S. 77ff. Es enthält alle Bereiche, die Joachim Bumke in seinem Buch über Höfische Kultur im hohen Mittelalter unter der Überschrift »Adlige Erziehung« zusammenführt ([Anm. 13], S. 433–438).

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liekonzepten in Verbindung gebracht, in denen Schwermut als Voraussetzung oder Begleitphänomen der geistigen Begabung bzw. als Gefahr für den Begabten gesehen wird; daher kann er die zitierte Stelle eine Diagnosis, aber auch Prognosis nennen.29 Ihre Aussagekraft auch für die Zukunft Tristans wird dadurch stärker, dass der dauerhafte Verlust der Unbeschwertheit auch schon impliziert ist, wenn die Konzentration auf das Literaturstudium als sin erstiu kere / uz siner vriheite und der buoche lere und ir getwanc als siner sorgen anevanc bezeichnet wird (V. 2068f., 2085f.). Die raffende Überschau beobachtet Tristan aus einiger Distanz, nimmt jedoch Anteil an der ambivalenten Bedeutung, die dieser Prozess für den Zögling erhält. Mit einem summarischen Hinweis auf die Wirkung der dargestellten Qualitäten endet die Beschreibung – entfalten wird sie dann die mit der Ankunft der Norweger einsetzende Narration. In den Episoden, die nach dieser Einführung von der Gefährdung und dem Aufstieg Tristans erzählen, beschreiben verschiedene Partien die diversen Aspekte seiner Außergewöhnlichkeit. Tristans Verlassenheit an der Küste von Cornwall bildet den Hintergrund für eine effektvolle ›descriptio‹ seiner erlesenen Kleidung (V. 2534–52).30 Mitten in der Wildnis sieht man ihn in Gewänder gehüllt, die als Inbegriff von Kultiviertheit gelten können. Mit dem kunstvollen Schnitt und der intensiven Farbigkeit sind die traditionellen Schönheitsmerkmale Proportion und Farbe hervorgehoben,31 u.a. wieder durch hyperbolische Überbietungsfiguren (V. 2542–46, 2548–52). Bezogen auf das wertvolle Material, kehrt im Adjektiv wunderlich auch das Wortfeld wunder wieder (V. 2536); es verweist hier auf die staunenswerte Pracht und zugleich auf Fremdheit und Exotik, wenn es über den pfelle heißt: er was von Sarrazinen / mit cleinen bortelinen / in vremedeclichem prise / nach heidenischer wise / wol underworht und underbriten (V. 2537–41). Der irisierende Eindruck, der so von der Kleidung entsteht, wird sich sowohl den Pilgern als auch den Jägern mitteilen (V. 2747–50, 2858). Es handelt sich um Kleidung, an deren Handhabung sich die höfischen Umgangsformen erweisen müssen: Das wird vorgeführt, wenn Tristan sie zunächst in der Wildnis, später vor den Jägern so drapiert, dass er sie zugleich schont und Bewegungsspielraum gewinnt (V. 2557–62, 2842–49). Nicht nur durch die Situierung in der Natur, auch im Kontrast zur Einfachheit der später beschriebenen Pilgergewänder erscheint die Gewandung dabei fast allzu üppig. 29

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Jaeger, C. Stephen, Melancholie und Studium. Zum Begriff ›Arbeitsælikeit‹, seinen Vorläufern und seinem Weiterleben in Medizin und Literatur, in: Haug, Walter / Wachinger, Burghart (Hrsg.), Literatur, Artes und Philosophie, Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 7), S. 117– 140, bes. S. 127 u. 132. Zur Kleidung in der höfischen Dichtung, zu kulturhistorischen Kontexten sowie literarischer Gestaltung und Funktion vgl. Brüggen, Elke, Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1989 (Beihefte zum Euphorion 23), und Kraß, Andreas, Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen, Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 50). Vgl. Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 26], S. 114ff.

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In der Inszenierung der ›ars venandi‹, in der »zu einem Musikdrama transformierte[n] Jagdprozession«32 und in der Gesangs- und Instrumentalvorführung sind die Vorgänge und deren Wirkung in einer Weise geschildert, dass die Rezipienten Teil des faszinierten und gebannten Publikums werden, welches sie zugleich beobachten. Diese Beschreibungen lassen Tristans Aufstieg am cornischen Hof nur allzu verständlich erscheinen, nicht anders die Schilderung seiner Erscheinung, zu der Tristans erste Begrüßung durch Marke den Anlass bietet. Die ›descriptio a corpore‹, nach rhetorischem Muster ›de capite ad pedes‹ gestaltet und um die Hervorhebung von gewande, gebærde und site ergänzt, erklärt den Preis des Hofes – »Tristan, Tristan li Parmenois / cum est beas et cum curtois!« (V. 3363f.) – und erklärt auch die Anrede vriunt, die Marke bei seinem Anblick wählt (V. 3351f.); dass die Beschreibung die Minne ins Spiel bringt und Tristans Mund hierauf rehte rosenrot genannt wird (V. 3333f.), intensiviert diese Begegnung zwischen dem König und dem zukünftigen Favoriten, deren Verhältnis auch im Weiteren durch die Verwendung erotischer Formulierungen als besonders nah gekennzeichnet wird. Auch in der Deskription erscheint Isolde als Tristans weibliches Pendant: Ihre ebenfalls genealogisch begründete Exzeptionalität kommt auch in der Beschreibung ihrer Erziehung zum Ausdruck, auch bei ihr zeigt sie sich daraufhin in der Wirkung, die wie bei Tristan von Erhebung in Entgrenzung übergeht. Am irischen Hof trägt das, was sie Augen, Ohren und Herzen zu bieten vermag, zum hochgestimmten Beisammensein der Gesellschaft bei, und swaz ir aller vröude was, / daz was ir banekie (V. 8056f.). Spätestens in der ihrem Gesang geltenden ›conduplicatio‹ wol unde wol und alze wol zeichnet sich dann deutlicher ab, wie die junge Frau ihre Umgebung in den Bann zieht (V. 8075). Die Unwiderstehlichkeit der Wirkung, die von ihrem Musizieren und ihrer Schönheit ausgeht, wird in einen Vergleich gefasst, der ihr eine Aura unheimlicher Faszination verleiht: Wem mag ich si gelichen / die schœnen, sælderichen / wan den Syrenen eine, / die mit dem agesteine / die kiele ziehent ze sich? (V. 8085–89). Für Peter K. Stein erreicht »der betörende, sinnverwirrende Effekt« der Musik hier seinen auch gestalterischen Höhepunkt.33 Dazu tragen die nautischen Bilder bei, die Isoldes Anziehungskraft auf herzen und gedanken und die Haltlosigkeit des muotes zum Ausdruck bringen. Die nächste große Beschreibung Isoldes findet sich in der Gerichtsszene am irischen Hof; sie ist Teil einer effektvoll arrangierten Szene, in der ihre und Tristans Erscheinung in zwei aufwändigen Deskriptionen variierend parallelisiert werden. Isoldes und Tristans Gang, ihre Haltung, ihre Gestalt, ihre Kleidung, ihr Haupt, ihr Schmuck wer-

32 33

Vgl. Jaeger, Wunder und Staunen [Anm. 7], S. 127. Vgl. überhaupt zur Musik die Studie Peter K. Steins, Die Musik in Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹ – ihre Bedeutung im epischen Gefüge, in: Bennewitz, Ingrid (Hrsg.), Peter K. Stein, Tristan-Studien, Stuttgart, Leipzig 2001, S. 323–398, zuerst in: Stein, Peter K. u.a. (Hrsg.), Sprache – Text – Geschichte. Beiträge zur Mediävistik und germanistischen Sprachwissenschaft aus dem Kreis der Mitarbeiter 1964–79 des Instituts für Germanistik an der Universität Salzburg, Göppingen 1980 (GAG 304), S. 569–694.

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den idealisierend und irritierend zugleich geschildert.34 So wird für beide die ›adaequatio‹ von Außen und Innen betont (V. 10949–56, 11098–11101); in der Isolde-Partie ist nach Christoph Huber die Kleiderbeschreibung »geradezu penetrant modellhaft nach dem maßästhetischen Ideal gestaltet« und die des Körpers »ganz auf das lichtästhetische Modell« konzentriert. Zugleich geht in beiden ›descriptiones‹ von bestimmten Bildfeldern eine aufreizende Wirkung aus: Isolde erscheint als vederspil der Minne (V. 10896f.; vgl. V. 10951–53, auch V. 3333), von gevedere[n] schachblicke[n] ist die Rede (V. 10957), außer dem Falken dienen noch sperwære und papegan als Vergleich (V. 10992–99); der cyclat, aus dem Tristans Kleidung besteht, brennt durch das darübergelegte Perlennetz hindurch alse ein glüejender kol (V. 11118f.), und sein schapelekin brennt alsam ein kerze (V. 11132f.). Die Beschreibung gestaltet beider Auftreten als Zusammenwirken von souveräner Beherrschung und ungebändigten Elementen. Bei Isolde, die vil manegen man / sin selbes da beroubete (V. 10960f.), sind es vor allem die Blicke (auch V. 10996–11005),35 bei Tristan, dessen Aufzug unter den Zuschauenden manec gerune und manic zale hervorruft (V. 11195), ist es die Pracht seiner Ausstattung, die nicht nur das Lichthafte ins Bedrohliche steigert, sondern von der explizit gesagt wird, dass sie das Maß nicht einhält (V. 11103, 11107). Am Raffinement des Aufzuges hat die Exotik Anteil, die beiden u.a. durch die exquisiten Materialien ihrer Ausstattung und Isolde auch im Papageienvergleich zugeschrieben wird (V. 11104). Die Deskriptionen Tristans und Isoldes sind so aufeinander ausgerichtet, dass sie die des Paares vorbereiten. Deren Kontext bilden zwei Entdeckungen. Mit dem Jäger, mit Marke und mit dem Erzähler sehen wir von oben auf Isolde, die, gemeinsam mit Tristan und durch das blanke Schwert von ihm getrennt, auf dem kristallenen Bett der Minnegrotte liegt und in ihrer überirdischen Schönheit und ungeheuren Sinnlichkeit erschrecktes Staunen und Begehren auslöst. Schließlich bleibt es Marke nicht erspart und es wird uns vergönnt, die Liebenden wieder in paradiesischer Situation, wieder schlafend zu erblicken, nun im Baumgarten in vollendeter körperlicher Einheit, nachdem Tristan wie Adam […] daz obez, daz ime sin Eve bot, genommen hat (V. 18162f.). Die betrachteten Deskriptionen fokussieren in der ihnen eigenen ästhetischen Intensität Qualitäten der Figuren, die ihnen umfassende Vorzüglichkeit, vor allem aber visuelle und auditive Schönheit verleihen. Das so entstehende Bild verfeinern Schattierungen von Melancholie und irisierende Facetten von Exotik und Erotik. Auf diese Weise lassen die Deskriptionen Anteil nehmen an Hingabe und Schwermut sowie an Erhebung und Verstörung. Gegenüber der Präsenz innerhalb der erzählten Welt wahren sie jedoch literarische Distanz, ja sie lenken in ihrer Artifizialität die Aufmerksamkeit geradezu auf das Medium der Darstellung, auf die Sprache, die in ihrer Bildlichkeit und ihrem Klang dem Dargestellten respondiert. 34 35

Vgl. Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 26], S. 136f.; Gerok-Reiter, Individualität [Anm. 1], S. 165–172; zu Isoldes Beschreibung Dietl, Isold und Feirefîz [Anm. 6], S. 175f. Hier nun wird allerdings auch das Schweifen der Blicke dem rechten Maß angepasst.

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II. Der Anspruch, Exzeptionalität darzustellen, führt im Tristan in die Reflexion über die Exzeptionalität der Darstellung. Es überrascht nicht, dass eine Beschreibung eine entsprechende Explikation veranlasst. Die Nähe der ›descriptio‹ zur »epideiktischen Rede, die mehr sich selbst zur Schau stellen, als eine Sache vertreten will«, ihre Zugehörigkeit zu einer reichen rhetorischen und dichterischen Tradition und ihr Amplifikationspotenzial in der ›dilatatio materiae‹ bedingen, dass gerade beschreibende Partien metapoetische Reflexionen zeitigen und zur Akzentuierung der eigenen Position innerhalb der literarischen Tradition und innerhalb des Adaptationsprozesses herausfordern.36 Dass es eine Kleidungsbeschreibung ist, die einen solchen Übergang auslöst, liegt ebenfalls nicht fern, eröffnen doch zum einen Deskriptionen von Ausstattungsgegenständen traditionell einen Zugang zur Sinndimension der Texte und ermöglichte doch zum anderen gerade die Textilmetaphorik »schon der lateinischen Antike katachrestische Sageweisen für das sprachliche ›Gewebe‹, den textus«.37 Damit ist allerdings nur die Ausgangsbasis angedeutet; die gemeinte autoreferenzielle Reflexion springt von hier aus – wie von jeher bemerkt wurde – in neue künstlerische Dimensionen. In die Schwertleitenepisode ist eine ›descriptio‹ eingefügt, welche zunächst die Ausrüstung der dreißig Gefährten fokussiert, die mit Tristan in die Ritterschaft aufgenommen werden sollen. Die Frage, wie man nach den gesellen nun den werden houbetman so beschreiben könne, daz man ez gerne verneme / und an dem mære wol gezeme (V. 4595f.), bildet den Ausgangspunkt für eine längere ›digressio‹.38 Der Erzähler gibt sich ratlos: Man habe in seinen Tagen und zuvor von werltlicher zierheit, / von richem geræte schon so rehte wol gesprochen, dass er, selbst wenn er zwölffach mit sinne begabt und mit zwölf zungen versehen wäre, das Sprechen von richeite nicht so anzufangen wüsste, dass man nicht schon besser davon gesprochen hätte (V. 4600–

36

37 38

Argumente dafür, »warum die descriptio, wie sie seit dem 12. Jh. zuerst im französischen antikisierenden Roman aus der antiken Epik […] adaptiert worden war, eine Tendenz zur Intertextualität und Poetologie aufweist«, entwickelt Glauch, Sonja, Inszenierungen der Unsagbarkeit. Rhetorik und Reflexion im höfischen Roman, in: ZfdA, 132/2003, S. 148–176, Zitate S. 162. Zum Zusammenhang von poetologischer Reflexion und ›descriptio‹ im Allgemeinen und Hartmanns Pferdebeschreibung im Erec im Besonderen vgl. Bürkle, Susanne, ›Kunst‹-Reflexion aus dem Geiste der ›descriptio‹. Enites Pferd und der Diskurs artistischer ›meisterschaft‹, in: Braun/Young (Hrsg.), Das fremde Schöne [Anm. 26], S. 143–170; vgl. auch Christoph Hubers Beitrag Merkmale des Schönen zu diesem Band [Anm. 26]. Glauch, Inszenierungen der Unsagbarkeit [Anm. 36], S. 167. Vgl. zur Poetologie der Kleidung Kraß, Geschriebene Kleider [Anm. 30]. Wichtige Positionen in der umfangreichen Diskussion zum Literaturexkurs markieren Huber, Christoph, Gottfried von Straßburg: ›Tristan‹, 2., verb. Aufl., Berlin 2001 (Klassiker-Lektüren 3), S. 61–65 (Kap. 5.2), und Tomasek, Gottfried von Straßburg [Anm. 3], S. 140–152.

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15). Die Sorge, nichts Gutes, wenn nicht Besseres zu präsentieren, hemmt den Erzähler ebenso wie die, nichts Neues zu bieten: ritterlichiu zierheit sei so manege wis beschriben / und […] mit rede also zetriben, dass er nicht herzerfreuend darüber reden könne (V. 4616–20). Nach diesem Bekenntnis wird die Tradition, an der sich der Erzähler misst, in einer Dichterschau vor Augen geführt. Sie versammelt die Schöpfer deutschsprachiger Epik und Lyrik, zeitgenössische wie bereits verstorbene, und bewertet sie ausgesprochen kunstvoll in Hinsicht darauf, wie wort und sin in Relation zueinander Gestaltung finden, wie Erbauung und Gefallen bewirkt werden, wie das Thema der Liebe zur Entfaltung gelangt. Schließlich besinnt sich der Sprecher auf das Ausgangsproblem und sieht sich vor der Herausforderung, den an andere gestellten Ansprüchen selbst genügen zu müssen. Als Ausweg aus der Situation, die sich aus der vermeintlichen Unfähigkeit ergibt, wird nun eine Invokation in Aussicht genommen, die, entsprechende Zuschreibungen in der Dichterschau überbietend, antike und christliche Vorstellungen von Begabungsinstanzen vereint. Die hypothetische Wirkung der Begabung wird so dargestellt, dass sie eine Erhebung in den Rang des ›poeta laureatus‹ begründen würde: Kennzeichnungen, die zuvor dem Lob dienten, werden gesteigert, diejenigen, die abwertend eingesetzt waren, umgewendet und diejenigen, die einen möglichen Nachfolger Hartmanns von Aue als Träger von schapel und lorzwi auszeichnen sollten, intensiviert. Doch mündet diese Vorstellung in die Bekräftigung des Sprechers, dass er auch eine solche Begabung nicht darauf verwenden würde, dar an sich also manic man / versuochet und verpirset hat (V. 4926f.). Daraufhin lehnt er ausdrücklich das Eingreifen antik-mythologischen Personals ab – nicht ohne es dabei kunstvoll ans Werk gehen zu lassen – und wählt damit eine andere Möglichkeit als Heinrich von Veldeke, der, wie in der Dichterschau verdeutlicht worden war, als »Gründerfigur deutscher Dichtung«39 spæhe anregen konnte, dessen Kunst aber inzwischen mannigfach zeleitet sei (V. 4738–50). Die Zustimmung des Publikums einholend, versichert der Gottfriedsche Erzähler, dass Vulkan und Cassander einen Ritter nicht besser ausstatten könnten als muot, guot, bescheidenheit und höfsche[r] sin. So empfiehlt er Tristan nun diesen vier richeite[n] an, die sich auch schon dessen geselleschaft angenommen hatten (V. 4961–85). Tristan erhält nicht nur dieselben Ausstatter, sondern ausdrücklich auch die gleiche Ausrüstung wie die anderen Anwärter. Und nun wird er doch von seinen Begleitern abgehoben (V. 4986–5006): Nur die von Menschenhand genähte Kleidung stimme überein, nicht ebengelich, / ebenziere und ebenrich sei er an der an gebornen wat, / diu von des herzen kamere gat, / die si da heizent edelen muot; der muotriche, so heißt es weiter, der eregire Tristan / truoc sunderlichiu cleider an / von gebare und von gelaze / gezieret uz der maze. / er hætes alle an 39

Kellner, Beate, Eigengeschichte und literarischer Kanon. Zu einigen Formen der Selbstbeschreibung in der volkssprachlich-deutschen Literatur des Mittelalters, in: dies. / Lieb, Ludger (Hrsg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt/M. u.a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 153–182, hier S. 179.

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schœnen siten / unde an tugenden übersniten. Ausgezeichnet ist Tristan durch Qualitäten, die seinem Innern entstammen und seine Erscheinung verschönern. In dieser Passage werden sowohl die Figur wie auch der Erzähler als exzeptionell stilisiert, und zwar in gewissem Sinne analog.40 Beide erhalten eine Position durch die Zugehörigkeit zu einer Dignität verleihenden Gruppe – hier die Gemeinschaft der Ritter, dort der Kreis der deutschsprachigen Autoren – und indem sie den Vorrang innerhalb dieser Gruppe behaupten.41 Beide werden eigens durch besondere Qualitäten autorisiert. Dabei verweist zwar der poetische Ausdrucksgestus auf Transzendenz, doch wird keine transzendente Instanz als Begabungsgarant vereinnahmt. Die Exzeptionalität des Erzählers und die der Figur bedingen einander: Der Erzähler profiliert sich durch die Darstellung des Exzeptionellen, und das Dargestellte erhält durch den exzeptionellen Erzähler seine besondere Kontur.42 Eine gestufte Allegorie mit InnenAußen-Hierarchie ist die Art der Beschreibung, die nach dem Durchgang durch die literarästhetische Reflexion gewählt wird, welche der Suche nach dem Nützlichen, Angenehmen und Angemessenen, nach dem Eigenen als dem Guten und Neuen diente. Wie Annette Gerok-Reiter dargelegt hat, kennzeichnet diese Passage Tristan zunächst wie die anderen Anwärter durch die »rhetorische Engführung von bildlicher und abstrakter, äußerer und innerer Ebene«, um dann in der »Negation des idealen Adaequatio-Modells« »einen formalen Freiraum der Differenz« zu eröffnen.43 Dementsprechend stellt Gottfried, so Christoph Huber, »den Zuschnitt von Tristans inneren Qualitäten als etwas uz der maze dar, als eine Qualität, in der jede maßästhetische Bestimmung des Schönen ausdrücklich außer Kraft gesetzt wird«.44 Die autoreferenzielle Reflexion verdeutlicht, »dass Tristans Außerordentlichkeit nur dort beschreibbar wird, wo in einer Art aporetischem Sprung auch das beste Dichtungsvermögen als unzureichend zurückgewiesen wird«.45 40 41 42

43 44 45

Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider [Anm. 30], S. 372f. Vgl. zur Legitimierung volkssprachigen Erzählens u.a. im Literaturexkurs Kellner, Eigengeschichte und literarischer Kanon [Anm. 39], bes. S. 174–181. Vgl. Nigel F. Palmers Ausführungen zum Literaturexkurs in seinem Beitrag über Literary criticism in Middle High German literature, in: Minnis, Alastair / Johnson, Ian (Hrsg.), The Cambridge History of Literary Criticism, Bd. 2, The Middle Ages, Cambridge u.a. 2005, S. 533–548, bes. S. 534–545: »He moves from the making of clothes for literary characters to the making of literature, from a claim for Tristan’s excellence […] to a claim for his own literary excellence, which in turn reflects back on the subject-matter of his story« (S. 536). Und weiter: »If Gottfried claims to surpass the literary models he admires, then he does so implicitly on the basis of the analogy between Tristan’s ultimate superiority over his companions and the superiority of his own literary demonstration of Tristan’s excellence over the descriptions of writers such as Hartmann and Veldeke. That superiority, according to Gottfried’s literary theory, is not simply a matter of greater skill, but also of ›standing higher‹ and coming later in the literary tradition« (S. 537). Gerok-Reiter, Individualität [Anm. 1], S. 160 u. 164. Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 26], S. 130. Gerok-Reiter, Individualität [Anm. 1], S. 164.

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Der Ton der Partie stellt sie als artifizielles Spiel aus. Sie ist in einer Weise formuliert, die bewusst hält, dass die Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem gesetzt und auch der Verweis auf eine transzendente Instanz literarischer Gestus ist. Eine solche Haltung entspricht der des Protagonisten, der um die Verfügbarkeit der Worte, Gesten und Haltungen weiß – so zeigt ihn gerade auch die zur Schwertleite führende Szene, in der der zutiefst erschütterte Tristan sich gleichsam in die virtuose Demonstration ritterlicher Gesinnung rettet.46 Aber es bleibt die Schönheit der Figur und ihrer Darstellung, eine Schönheit, hinter der eine poetisierte Schöpfungsinstanz steht. An die Deskription Tristans in der Schwertleitenepisode knüpfen die Beschreibungen an, die Tristan als Ritter vor und in seinem ersten Kampf für Cornwall zeigen – schon die auffällige Vierzahl verbindet die drei Stellen.47 Bei der Schilderung der Vorbereitung ist wieder die Art der Deskription Thema, bereits bei der Behandlung des Gegners, die ausdrücklich kurz gehalten wird, um Herzens- und Sinneswahrnehmung weder abzustumpfen noch zu belasten; hier genügt das schon Bekannte zur Kennzeichnung: diu zal von ime ist manicvalt, / daz er an muote, an grœze, an craft / ze vollekomener ritterschaft / daz lob in allen richen truoc. / hie si des lobes von ime genuoc (V. 6510–14). Dagegen bietet Tristans Vorbereitung auf den Kampf – wie bei der Schwertleite legt Marke ihm Rüstungsteile an – den Anlass, ihn immer neu zu preisen. Höhepunkt ist die ›descriptio‹ des vollständig ausgerüsteten Ritters. Dabei wird die Darstellung der Exzeptionalität an dieser Stelle ebenfalls als besondere künstlerische Leistung markiert – der Preis mündet in die Beschreibung des Pferdes und seines Reiters und damit in eine Passage, die an die große literarästhetisch aufgeladene Deskription in Hartmanns Erec denken lässt, auf die ja auch bereits der Literaturexkurs in der Schwertleitenepisode bezogen war.48 Wieder wird Tristan so dargestellt, 46

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Fromm, Hans, Tristans Schwertleite, in: DVjs, 41/1967, S. 333–350, hat gezeigt, wie Gottfried hier »die Mehrschichtigkeit des Sprechens und des Gesprochenen« hörbar macht (S. 336). vier richeite statten Tristan und seine Begleiter für die Schwertleite aus, bei Tristans Ausrüstung zum Kampf werden vier Rüstungsteile hervorgehoben, in der Entscheidungssituation verfügt Morold über vier manne craft und stehen für Tristan vier Kräfte ein. Vgl. Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis [Anm. 26], S. 92–95, der sich hier mit C. St. Jaegers Verknüpfung der Begriffstetraden mit der Vier als Symbolzahl für irdische Vollkommenheit auseinandersetzt, »wie sie sich in der Ethik der Kardinaltugenden und dem damit gekoppelten Bild vom homo quadratus darbietet« (S. 92 zu Jaeger, Medieval Humanism [Anm. 26], S. 52f.). Zur ›digressio‹ über Enites Pferd vgl. den ausführlichen Kommentar folgender Ausgabe: Scholz, Manfred Günter (Hrsg.), Hartmann von Aue, Erec, übers. v. Susanne Held, Frankfurt/M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5), hier S. 898–930; vgl. weiterhin Bürkle, ›Kunst‹-Reflexion aus dem Geiste der ›descriptio‹ [Anm. 36], und Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 26], bes. S. 120–126, und die dort nachgewiesene Literatur. Der Literaturexkurs und die Beschreibung vor dem Moroldkampf sind durch Ähnlichkeiten in Motivik, Funktion und Wortlaut auf die Erec-Verse 7264–7766 bezogen.

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dass das Innere das Äußere übertrifft; während allerdings in der Schwertleitenpartie die Kleidung von inneren Qualitäten abgeleitet und von ihr dann noch einmal ein Inneres als Herzenskleidung abgehoben wurde, führt die Beschreibung hier von der äußeren Ausstattung über den darunterliegenden Körper ins Innere des Protagonisten. Die vier werc, die seine Rüstung glänzen lassen, helm unde halsperc, / schilt unde hosen (V. 6625–27), werden noch überstrahlt von dem inwendigen niuwe[n] wunder (V. 6635): swie so der uzer wære, der inner bildære der was baz betihtet, bemeistert unde berihtet ze ritters figiure dan diu uzere faitiure. daz werc daz was dar inne an geschepfede unde an sinne vil lobelichen uf geleit. des wercmannes wisheit hi, wie wol diu dar an schein! sin brust, sin arme und siniu bein diu waren herlich unde rich, wol gestalt und edelich. (V. 6643–56)

Von der Erscheinung des Protagonisten – sie verbindet sich mit der des Pferdes zu einer vollkommenen Einheit – wird seine innere Haltung erneut abgesetzt: dar zuo swie wol gebære gebærdehalp er wære, so was doch innerthalp der muot so reine gartet und so guot, daz edeler muot und reiner art under helme nie bedecket wart. (V. 6715–20).

Die Stilisierung des Protagonisten als Artefakt, die ja bereits in der Beschreibung nach dem Literaturexkurs zu beobachten war, findet hier ihre Fortsetzung. Dabei ist der Ausdruck wercman so offen, dass Christoph Huber fragt, ob »dieser Künstler der Held selbst« sei oder ob sich dahinter »eine Schöpfungsinstanz wie die Minne« verberge,49 und Marie-Sophie Masse mit ihm »einen Demiurg im platonischen Sinne, einen schöpfenden Gott« bezeichnet sieht.50 So erlaubt es der Ausdruck wercman, etwa die Verben betihten, bemeistern und berihten als Formulierungen zu lesen, die die Schöpfung in der erzählten Welt auf die Erschaffung der erzählten Welt hin öffnen. In der folgenden Darstellung des Kampfgeschehens wird ein weiteres Mal hervorgehoben, dass die Exzeptionalität der Darstellung und die Exzeptionalität des Darge-

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Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 26], S. 132. Masse, Von der Neugeburt einer abgenutzten Praxis [Anm. 26], S. 154.

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stellten wechselseitig aufeinander bezogen sind. Wieder ist eine in ihrer Artifizialität ausgestellte Beschreibung eingefügt, wieder wird die Neuheit des Präsentierten betont, wieder ist die Form der Allegorie gewählt, wieder legt der Erzähler als Autor dem Publikum Verborgenes offen. Der Erzähler will – mit dieser Bemerkung unterbricht er die Schilderung des Kampfes – dem nicht folgen, was er al die werlde jehen höre und in dem mære geschrieben stehe, dass es sich hier nämlich um einen einwic handele; stattdessen will er als erster prüeve[n], dass auf der Insel ein offener strit / von zwein ganzen rotten stattgefunden habe (V. 6866–73). Dabei geht er zwar für Morold von Bekanntem aus, davon nämlich, dass der Ire vier manne craft besaß, ergänzt diese Kennzeichnung jedoch, Tristan auszeichnend, um vier Kräfte auf der Gegenseite, nämlich got, reht, deren dienestman Tristan und willege[n] muot (V. 6877–88). Die allegorisch-deutende Darstellung wird gegen die mimetische gesetzt und als eigentlich wahre gegen sie ausgespielt. In diesen deskriptiven Partien innerhalb der Schwertleiten- und der Moroldepisode, in denen die Erzählerstimme als solche ins Bewusstsein gehoben wird und sich der Erzähler als Autor an sein Publikum wendet, erscheint der Protagonist in seiner Exzeptionalität eher affirmierend vollkommen als in seiner Ambivalenz auch labilisierend wie in den oben behandelten Beschreibungen, die stärker darauf ausgerichtet sind, Tristans außergewöhnliche Qualitäten in ihrer Wirkung innerhalb der erzählten Welt vorzuführen. Die Kunst verwirklicht eine Durchsicht ins Innere, die Tristan in seiner Singularität schauen lässt.51 Damit gelingt ihr das, was in der Welt des Tristan der Liebe möglich wäre. Wie Ingrid Hahn in ihrem Beitrag zur Theorie der Personerkenntnis ausführt, entspricht es einer verbreiteten Auffassung, dass es vor allem die Liebenden vermögen, die Erkenntnisschranke zwischen den Menschen zu durchbrechen und die Verborgenheit des menschlichen Wesens aufzuheben – eine Verborgenheit, die nur für Gott nicht besteht, der das Herz des Menschen kennt.52

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Diese Gegenüberstellung knüpft an Unterscheidungen an, die Christoph Huber formuliert hat: In der Untersuchung der Weisefort-Deskriptionen differenziert er zwischen »der vertikal signifikativen Richtung« und der »Horizontale[n]« (Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis [Anm. 26], S. 90); in einer vergleichenden Analyse verschiedener Beschreibungen im Tristan unterscheidet er »affirmierende[], den Betrachter ›aufbauende[]‹ Manifestationen des Schönen« und »ambivalente, mehr oder weniger deutlich negative Besetzungen der schönen Form« (Merkmale des Schönen [Anm. 26], S. 135). Siehe in diesem Zusammenhang auch die Kennzeichnung zweier Traditionen, die die hochmittelalterlichen Deskriptionen bestimmt haben (Jaeger, Medieval Humanism [Anm. 26], S. 106): »There are two influences on the description of human beings in the High Middle Ages: the Latin rhetorical tradition and neo-platonic allegory. Or perhaps it would be more accurate to say that the one determines the description of human, the other of divine or spiritual beings.« Hahn, Ingrid, Zur Theorie der Personerkenntnis in der deutschen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts, in: PBB, 99/1977, S. 395–444, hier S. 443 u. S. 420ff.

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Für Gottfrieds Tristan-Dichtung ist zu fragen, inwieweit für die erzählte Welt in diese Position die Autorinstanz eingesetzt wird. Auch die weibliche Hauptfigur wird in einer prominenten Beschreibung weniger aufreizend als in sich ruhend präsentiert, allerdings von einer variierten Sprecherposition aus. Der Isoldenpreis, der dem gerade von der ersten Irlandfahrt zurückgekehrten Tristan in den Mund gelegt wird, enthält eine groß angelegte laudative Figur, die an die Schilderung der Ausrüstung Tristans vor dem Moroldkampf erinnert: Wurde dieser dort als daz niuwe wunder bezeichnet, so überstrahlt Isolde hier als diu niuwe sunne auch die Sonne von Mykene (V. 8280). Anders als in der Beschreibung ihres Auftretens am Hof von Dublin erscheint sie in dieser Schilderung nicht gefährdend: Ihr Anblick läutere herze unde muot und ihre Schönheit ziere alle Frauen. Ihre Wirkung wird in den beiden Partien u.a. durch die Art akzentuiert, in der Isolde zu ambivalenten Frauengestalten des antiken Mythos in Beziehung gesetzt wird: Indem Isolde mit den Sirenen verglichen wurde, die ja für die große und nicht nur bedrohliche Macht der Erotik und der Kunst stehen, wurde sie als Verführerin stilisiert; indem sie als Überbietung Helenas erscheint, die ja als wunderschöne Frau, aber auch als Grund für Ehebruch und Zerstörung galt, wird ihre veredelnde Wirkung hervorgehoben. Wie die drei zuletzt besprochenen Deskriptionen verwendet auch diese wieder christlich geprägte Ausdrucksformen, auch sie ist wieder in ihrem Kunstcharakter betont, diesmal dadurch, dass der Text Tristan seine literarische Bildung und Kreativität vorführen lässt. Der Preis von Isoldes Exzeptionalität erweist auch Tristans, erweist freilich so auch die des Autors. Eine Verbindung zwischen Figurenerscheinung und Sprachschaffen entsteht zudem dadurch, dass hier u.a. im Vergleich mit dem reinen arabischen Gold der Literaturexkurs wieder anklingt (V. 8261f., 8290– 92; vgl. V. 4889–95). Bevor ich zur nächsten großen Textpassage komme, die sich in die hier eröffnete Reihe stellen lässt, der Minnegrottenallegorie und -allegorese sowie den daran anschließenden Kommentaren, gehe ich zum Eingang des Werkes zurück, denn die Minnegrottenpartie ist nun dem Paar gewidmet, und auf die Liebe und ihre Darstellung stimmt ja initiativ der Prolog ein.53 Auch die Kommentierung des Kampfes zwischen Tristan und Morold hätte bereits einen guten Anlass geboten, den Beginn des Tristan näher anzusehen, sind doch die Kontexte, die die Exzeptionalität des Erzählens hier bestimmen, wie im Prolog die Stoffgeschichte und die Welt.

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Kaum ein Beitrag zu Gottfrieds Tristan nimmt nicht Bezug auf den Prolog und die Minnegrottenpartie. Wie beim Literaturexkurs verweise ich auch hier wieder auf die Forschungsüberblicke von Christoph Huber und Tomas Tomasek: Huber, Gottfried von Straßburg [Anm. 38], S. 37–46 (Kap. 3: »Der Prolog«) und S. 98–111 (Kap. 8: »Entrückung in die Minnegrotte«); Tomasek, Gottfried von Straßburg [Anm. 3], S. 125–140 (zum Prolog) und S. 155–160 (zum Grottenallegorese-Exkurs).

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Konsensfähige Aussagen zur angemessenen Bewertung des Guten als Bedingung für seine Geltung in der Welt eröffnen das Werk:54 Gedæhte mans ze guote niht, / von dem der werlde guot geschiht, / so wærez allez alse niht, / swaz guotes in der werlde geschiht (V. 1–4). Gutes verdiene Anerkennung; durch velschen werde sie ihm aber oft vorenthalten, dabei solle man sich an rechten Bedürfnissen und echtem Wohlgefallen orientieren. Tiur unde wert sei dem Sprecher, wer guot und übel unterscheiden und ihn selbst und jeden anderen nach sinem werde beurteilen könne. In der sechsten Strophe konzentriert der Sprecher diese Betrachtung darauf, dass künstlerische Qualität von Anerkennung lebe: Ere unde lop diu schepfent list, / da list ze lobe geschaffen ist: / swa er mit lobe geblüemet ist, / da blüejet aller slahte list (V. 21–24). Jedoch sind die Verhältnisse auch hier nicht, wie sie sein sollten: nit sticht als Gefahr für kunst unde sin hervor. Auch der folgende Tugendappell wirbt weiter um Bereitschaft zur Hochschätzung des Gebotenen, dessen Hochwertigkeit schon in diesen ersten Versen demonstriert wird. Im Literaturexkurs stellt der Sprecher sich und sein Werk in den Kontext deutschsprachiger höfischer Dichtung, in der exordialen Reflexion zunächst in den der literarischen Öffentlichkeit. Nach dem Durchgang durch die Handlung erhellt, dass hier Punkte berührt sind, die in der narrativen Darstellung der Exzeptionalität von Bedeutung sein werden, so Verleumdung und nit als Gefahr für das eigentlich Lobenswerte. Die Frage nach der Geltung des Guten in der Welt lässt so bereits hier eine Analogisierung zwischen dem als Autor stilisierten Erzähler und der Hauptfigur zu. Weitere Analogien legen die nun einsetzenden Reimpaarverse nahe. Sie beginnen damit, dass aus der Welt – in der dem Hochstehenden Anerkennung gerade nicht garantiert ist – wie später in der Geschichte eine Gemeinschaft ausgesondert wird, deren Qualitäten neue Geltungsmöglichkeiten eröffnen. Der stichische Prolog setzt mit einem Bekenntnis des Erzählers ein, in dem er aus der werlde diejenigen heraushebt, an die er sich eigentlich wendet: Ich han mir eine unmüezekeit / der werlt ze liebe vür geleit / und edelen herzen zeiner hage, / den herzen, den ich herze trage, / der werlde, in die min herze siht (V. 45–49). Was die Adressaten von der Allgemeinheit unterscheidet, ist ihre Bereitschaft und ihr Vermögen, Leid und Glück als existenzielle Spannung auszuhalten: ein ander werlt die meine ich, / diu samet in eime herzen treit / ir süeze sur, ir liebez leit, / ir herzeliep, ir senede not, / ir liebez leben, ir leiden tot, / ir lieben tot, ir leidez leben (V. 58–63). In Formulierungen, die an ein Liebesverhältnis denken lassen, stiftet der Erzähler zwischen sich und einem idealen Publikum eine exklusive Gemeinschaft, deren besondere Haltung, wie die folgenden Verse weiter ausführen, sich in der Auffassung sowohl der Literatur als auch der Liebe zeigt. Aus dieser Reflexion heraus wird nun der Gegenstand der Erzählung als das ganz und gar Passende eingeführt: 54

Zum Argumentationsgang des Prologs vgl. Haug, Walter, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2., überarb. und erw. Aufl., Darmstadt 1992, S. 197–227 (Kap. XI: »Ethik und Ästhetik in Gottfrieds von Straßburg Literaturtheorie«), bes. S. 200–219.

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Susanne Flecken-Büttner der edele senedære der minnet senediu mære. von diu swer seneder mære ger, dern var niht verrer danne her; ich wil in wol bemæren von edelen senedæren, die reiner sene wol taten schin: ein senedær unde ein senedærin, ein man ein wip, ein wip ein man, Tristan Isolt, Isolt Tristan. (V. 121–130)

Die beiden Gemeinschaften, die durch das mære gestiftete zwischen Autor-Erzähler und Publikum und die in der sene begründete zwischen Tristan und Isolde, werden affirmativ über das mære in sene vereint. Kongruenz in der Erfahrung gilt der höfischen Dichtung der Zeit als entscheidende Erkenntnisvoraussetzung,55 sie wird wie für die Liebenden innerhalb der erzählten Welt hier für die künstlerische Kommunikation in neuer Weise literarästhetisch zur Geltung gebracht. Nachdem so eine Einordnung in die Welt als Aussonderung aus ihr erfolgt ist, nimmt der Erzähler eine weitere Kontextualisierung vor, indem er die Notwendigkeit einer neuen Ausformung des bekannten Stoffes begründet, der sich mit dem gerade eingeführten Namen des Protagonisten verbindet.56 Die Absetzung von den vielen anderen Versionen erfolgt in Berufung auf das eine, durch erzählerische Meisterschaft und fundierte historische Kenntnisse ausgezeichnete Werk des Thomas von Britannien. Diese Version habe er mit Erfolg gesucht, nun lege er vor, waz aber min lesen do wære / von disem senemære (V. 167f.). Der Erzähler positioniert den Text, indem er (in der erforderlichen Gemessenheit) die vielen Stoffbearbeitungen abwertet und die produktive Aufnahme des einen geschätzten Werks ankündigt. Ähnlich wie im Literaturexkurs bemisst sich der eigene Wert dabei zum einen nach Zugehörigkeit, zum anderen nach Absetzung; ähnlich wie dort kann man auch hier eine Analogie zur Hauptfigur herstellen, hier, indem man die Partie als genealogische Autorisierung versteht, also Stofftradition und Familie, Vorlage und Vater parallelisiert. Das Besondere der eigenen Version liegt für den Erzähler in der veredelnden Wirkung des Erzählten. Das von ihm Vorgelegte aufzunehmen sei für die edelen herzen innecliche guot (V. 173), denn: liebe ist ein also sælic dinc, / ein also sæleclich gerinc, / daz

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Vgl. Hahn, Zur Theorie der Personerkenntnis [Anm. 52], S. 443: »Wollte man trotz aller Verschiedenheit der Bedingungen nach einem gemeinsamen Nenner für das Erkennen in höfischer Dichtung suchen, so läge er am ehesten in jener allgemeinen Relation, die den Seins- und Erfahrungsstand des Erkennenden zu dem des Erkannten oder Verkannten in Beziehung setzt. Nach Art kommunizierender Röhren ist Erkennen möglich zwischen Menschen, deren innere Erfahrung auf dem gleichen Stand ist, als Liebende oder Leidende, Reifende und sich selbst Erfahrende.« Vgl. zu Legitimierungsverfahren im Prolog Kellner, Eigengeschichte und literarischer Kanon [Anm. 39], S. 164–174.

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nieman ane ir lere / noch tugende hat noch ere (V. 187–190). minne/liebe und ere, die, wie mit dem Stoff vertraute Rezipienten vorwegnehmen können, in der Handlung in Konflikt geraten werden, sind hier harmonisiert, indem die ere von der minne/liebe her bestimmt wird. In der hochartifiziellen Minnegrottenpartie wird die im Prolog auch im Akrostichon begründete Verbindung zwischen Erzähler, Publikum und Figuren in besonderer Weise akzentuiert. In zwei Passagen stilisiert sich der Erzähler als Liebender, indem er die Schilderungen dadurch beglaubigt, dass er einen Zusammenhang zwischen literarischer Darstellung und eigener Erfahrung herstellt. Ein Speisewunder habe er selbst erlebt: ich treib ouch eteswenne / alsus getane lebesite (V. 16920f.); die Beschaffenheit der Grotte kenne er aus eigener Anschauung: ich han die fossiure erkant / sit minen eilif jaren ie / und enkam ze Curnewale nie (V. 17136–38). Bei diesem Kommentar handelt es sich freilich um das Bekenntnis eines Liebenden, der die ideale Minne nur als Vorstellung kennt. Angeregt ist es durch eine weitere große Allegorie, die Beschreibung des Grottenraumes, die in der Allegorese zum Preis idealer Minne wird, einer Minne, die die ere zur Geltung bringt – sie durchstrahlt als sælige gleste den Raum von außen durch die drei Fenster der güete, der diemüete und der zuht. In dieser Allegorese werden auch die Rezipienten als Liebende angesprochen, die in die Höhe blicken und die Idealität vorerst nur zu schauen und anzustreben vermögen (V. 16939–62). Die Partie stilisiert nicht nur Erzähler und Publikum als Liebende, sondern sie präsentiert auch die Liebenden im Umgang mit Liebesgeschichten und als Künstler. Regelmäßig suchen sie zur Mittagszeit unter der Linde den Austausch von Liebesgeschichten: da sazen si zein ander an / die getriuwen senedære / und triben ir senemære / von den, die vor ir jaren / von sene verdorben waren (V. 17182–86). Indem sie sie betruren, entsprechen sie dem Ideal edeler herzen, das im Prolog entworfen wurde: wir lesen ir leben, wir lesen ir tot / und ist uns daz süeze alse brot (V. 235f.). Diese Beschäftigung mit den Liebesgeschichten führt sie immer wieder in den Innenraum der Grotte, wo sie das Musizieren in vollkommener Harmonie alles vergessen lässt, in einem Kunstvollzug, der zugleich Liebesvereinigung ist. Wo es in der Erzählung um Fragen der Hierarchisierung ging, verhandelte auch der Autor-Erzähler seinen Rang. Wo die Liebe dargestellt ist, wird (wie schon im Prolog) deutlich, dass noch anderes angestrebt ist als Wertschätzung, die sich aus taxierenden Urteilen herleitet, nämlich eine Gemeinschaft aus innerer Verbundenheit heraus. Dabei wird nicht zu einer simplen identifikatorischen Haltung gegenüber den illegitim Liebenden aufgefordert, sondern dazu, sich ihrer vergegenwärtigend zu erinnern.57 Die in Teil II behandelten Deskriptionen – sie sind in Handlungsphasen eingebettet, die keine Verstellung der Protagonisten erfordern – sind von einer Stilisierung 57

Vgl. Haug, Walter, Lesen oder Lieben? Erzählen in der Erzählung, vom ›Erec‹ bis zum ›Titurel‹, in: PBB, 116/1994, S. 302–323, bes. S. 320f.

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dominiert, die den Text auch sonst durchdringt. Zwar werden die Figuren und wird ihre Liebe in ihrer Ambivalenz vorgeführt und werden dabei auch irritierende Seiten gezeigt. Doch erfolgt die Darstellung mit einem Blick auf die Figuren und ihre Liebe in ihrer Inkommensurabilität aus einer gleichsam liebenden Perspektive heraus. Diese ist in narrativen Strategien wie etwa bestimmten Fokalisierungsverfahren erkennbar, die Tristan und Isolde durchgängig die Sympathie erhalten.58 Aus dieser Perspektive heraus ist auch eine Lösung des in der erzählten Welt unlösbaren Konfl ikts zwischen neuem und bestehendem System denkbar, kann der Text insinuieren, dass das bestehende System vom neuen her verändert werden kann. Einen entsprechenden Prozess literarischer Umkodierung hat Annette Gerok-Reiter u.a. aufgrund von Wortfeldanalysen zum Begriffspaar minne und ere aufgezeigt.59 Die tradierte Korrelation von minne und ere werde in diesem Prozess beibehalten, aber provozierend umgewertet: »minne steht nicht mehr im Konnotationsfeld der ere, gleichsam als deren Sekundärfunktion, sondern setzt nun umgekehrt die Maßstäbe, denen die ere der werlde folgen sollte«.60 Die so entstehende Konzeption lasse ein ›doppeltes Wertesystem‹ hinter sich: »Denn das neue Liebesethos entwertet die Feudalminneethik kompromisslos zu seinen Gunsten, nicht jedoch indem ›Innennormen‹ das Primat gegenüber kruden ›Außennormen‹ behaupten oder in diesem Sinn favorisiert würden, sondern indem die gesellschaftliche Norm an dem Individualminneethos einen veränderten Anhaltspunkt gewinnt, der ihrer bisherigen Orientierung an der Feudalminneethik den Rang gerade in Bezug auf ethische Qualitäten abläuft.«61 Der Text zeigt auf diese Weise die Figuren nicht nur in den Zwängen der Welt, sondern hebt sie auch aus ihnen heraus. Von dem Standpunkt aus, von dem aus die Inkommensurabilität der Figuren erblickt und dargestellt wird, überschaut man auch das Geschehen als Ganzes. So kann schon von Beginn an das Geschehen auf das Ende hin transparent sein und durch die Komposition, die immer schon auf das Zukünftige hin ordnet, der Eindruck von Finalität entstehen. Der erlesenen Gemeinschaft edeler herzen wird so eine Sinndimension eröffnet, die nur in der Kunst begründet ist. Immer wieder legt die Art der Darstellung es nahe, das Dargestellte als artifiziell wahrzunehmen – das gilt auch für diejenigen Deskriptionen, bei denen ich hervorgehoben habe, dass sie die Wirkung der Figuren in der erzählten Welt veranschaulichen,62 und das 58

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Vgl. Kern, Peter, Sympathielenkung im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, in: Buschinger, Danielle (Hrsg.), Sammlung – Deutung – Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. Mélanges de littérature médiévale et de linguistique allemande offerts à Wolfgang Spiewok à l’occasion de son soixantième anniversaire par ses collègues et amis, Amiens 1988, S. 205–217. Gerok-Reiter, Annette, Umcodierung. Zum Verhältnis von minne und ere in Gottfrieds ›Tristan‹, in: ZfdPh, 121/2002, S. 365–389. Ebd., S. 386f. Ebd., S. 387. In diesem Sinne sind in der Beschreibung von Isoldes Einzug am Gerichtstag die Verse aufgefallen, in denen sie als lebende[z] bilde der Minne bezeichnet wird. So ist es stimmig,

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gilt auch für die Narration. Besonders der erzählerische Umgang mit Gott stellt die Erzählung wiederholt in ihrer Künstlichkeit aus. Von Gott eigentlich durchdrungen wirkt die erzählte Welt des Tristan nirgends, doch kann man bestimmte Teile so verstehen, als sollten sie geradezu darauf verweisen, wie Gott in Welt und Literatur funktionalisiert wird. »Von Fall zu Fall«, so Walter Haug über die Partie, die Tristan zu Marke führt, »darf Gott […] kurzfristig helfend eingreifen, der Gesamtzusammenhang und dessen Sinn liegen jenseits seines Horizontes. Dabei läßt der Dichter die Mechanik von Gebet und Erhörung oft so verblüffend prompt funktionieren, daß sie wohl letztlich von ihm nicht ganz ernstgenommen worden sein kann.«63 Die Gottesurteilsepisode lässt sich dieser Partie an die Seite stellen, der vieldiskutierte Erzählerkommentar legt eine solche Auffassung nahe. Ebenso scheint der Zufall als artifiziell vorgeführt – so überaus prompt, wie sich für Tristan genau eine solche Gelegenheit einstellt, wieder Anschluss an eine Hofgesellschaft zu finden, wie sie zu Tristans eben erfundener Geschichte passt. An dieser Stelle würde damit auch nahegelegt, diese Geschichte eben nicht nur aus Tristans Situation heraus zu verstehen, was ja ohnehin Schwierigkeiten bereitet. Sie gehört wie die anderen Geschichten Tristans oder etwa die Bastszene zu den Passagen, die die Hauptfiguren in ihrer Exzeptionalität in einer Weise gestalten, dass sie überdeterminiert erscheinen. Die Protagonisten werden so zu Figuren, an denen erkennbar die Möglichkeiten der Kunst durchgespielt werden.64

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dass unter anderen Timothy R. Jackson in dieser Partie Züge herausgearbeitet hat, die sie in gewissem Sinne den allegorisierenden Darstellungen Tristans an die Seite stellen – Huber, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis [Anm. 26], S. 89f. u. 94, parallelisiert Isoldes Auftritt auf dem Hoftag von Weisefort mit Tristans Bewaffnung vor dem Moroldkampf – (Typus und Poetik [Anm. 26], S. 186 u. S. 181, Bezug auf Jackson, William T. H., The anatomy of love. The ›Tristan‹ of Gottfried von Strassburg, New York, London 1971, S. 84): »An Isolde hat man den Eindruck eines in sich ruhenden, in sich selbst beschlossenen Wesens, das aus einer integrierenden Kraft schöpft. Die Einheit von Körper und Gewand […] stammt wohl daher, daß das Äußere unsere Aufmerksamkeit ständig auf das Innere richtet […].« In seiner Lektüre erscheint dementsprechend das weiter oben hervorgehobene erotische Moment als »irgendwie abgesondert, implizit«; seiner Ansicht nach ist es »weniger in der eigentlichen Schilderung der Isolde zu finden, als durch die Reaktionen der ritterlichen Zuschauer vermittelt. Das ›glorious sensual appeal‹ […] ist mehr für diese da als für uns […]«. Haug, ›Aventiure‹ [Anm. 5], S. 104. Vgl. zur komplexen Figurenkonstitution Wenzel, Horst, Negation und Doppelung. Poetische Experimentalformen von Individualgeschichte im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, in: Cramer, Thomas (Hrsg.), Wege in die Neuzeit, München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 8), S. 229–251, sowie die Fragen, die Markus Greulich in folgendem Beitrag aufwirft: ›Waz hân wir zuo gesinde?‹ Vom Erscheinen Tristans in Gottfrieds von Straßburg Roman, in: Andersen, Peter Hvilshøj / Buschinger, Danielle (Hrsg.), Héros épique et héros romanesque au Moyen Âge. Actes du Colloque d’Amiens, Mars 2004, Amiens 2004 (Médiévales 32), S. 12–21. – Zu den überdeterminierten Passagen gehört auch die Petitcreiu-Episode, die wieder ein Tier als metapoetisches Wesen stilisiert.

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In Gottfrieds Tristan ist nicht nur reflektiert, dass sich die Welt in der Kunst in eigener Weise darstellt, sondern auch, dass die Kunst ihrerseits im Zusammenhang der Welt zu sehen ist. Das Werk bestimmt sich so zwar in der Gemeinschaft mit den Rezipierenden und bildet mit ihnen ein eigenes System aus, es definiert sich aber auch in anderen, vorgängigen Kontexten. Wie Tristan in die Gesellschaft, in genealogische Zusammenhänge und in die Ritterschaft eingeordnet wurde, so thematisieren die autoreferenziellen Passagen das Werk im Zusammenhang der literarischen Öffentlichkeit, der Stofftradition und der deutschen Dichtung. Die Position des Textes muss sich wie die Tristans aus der Zugehörigkeit zu einer Dignität garantierenden Gruppierung ergeben und durch die Vorrangstellung innerhalb dieser Gruppierung. Wenn nun der Text die Möglichkeit aufscheinen lässt, dass die Gesellschaft durch die Liebe, das vorgängige durch das neue System gewandelt werden kann, so setzt er ein entsprechendes kodeerweiterndes Potenzial auch für sich selbst voraus – hier wie da müsste das Besondere auch in seinen nicht vom Allgemeinen her erfassbaren Zügen angenommen werden.65 Der Text führt in Narration und Deskription die Exzeptionalität in ihrer Ambivalenz vor, zeigt ihr stärkendes und ihr destruktives Potenzial sowohl für die Exzeptionellen selbst wie für ihre Umgebung, zeigt, wie Exzeptionalität Glück und Leid bedeutet. Dabei wird eine negative Dynamik entwickelt, die am Ende keinen Trost bietet. An ihr hat auch und gerade die durch einen Zufall entstehende Liebe teil, die sich jedem Maß entzieht. Dabei lässt der Text die Rezipientinnen und Rezipienten mit der Umgebung in der erzählten Welt angezogen sein von den exzeptionellen Figuren und vor ihnen zurückschrecken, und er lässt sie teilhaben an Tristans und Isoldes Einsamkeit und Hingabe, an ihrer Selbstgewissheit und ihrer Angst, an ihrer Liebe wie an deren Abwehr. Doch der Text versetzt nicht nur mit den Figuren in die Offenheit der Situationen, sondern enthebt auch der Zeitlichkeit, indem er das Geschehen von Beginn an überschauen lässt.66 Er zeigt die Figuren nicht nur in den Komplikationen, die sich

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Eine zeichen- und informationstheoretisch orientierte Untersuchung solcher Prozesse bietet für künstlerische Systeme Lotman, Jurij M., Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, 4., unveränderte Aufl., München 1993 (UTB 103), zuerst: Struktura chudožestvennogo teksta, Moskau 1970, bes. S. 92–121 (Kap. 4: »Text und System«). Vgl. Schausten, Monika, Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1999 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 24), S. 136–184 (Kap. 3.2: »Das Erzählen vom Liebesverrat in der Tristanversion Gottfrieds«) und die Akzentuierung auf S. 185: »Die narrative Konstruktion der Liebesverratsgeschichte in Gottfrieds Tristan ist […] geprägt von einer subtilen Vernetzung unterschiedlicher Ebenen des Erzählens im Text. Diese Vernetzung entsteht durch ein raffiniert inszeniertes literarisches Spiel, in dem besonders die reflektierende Ebene der Erzählung, die Ebene der Erzählerfigur mit präfigurierenden Erzählelementen ausgestattet und damit eine Erwartungshaltung der Hörer/Leser im Text selbst situiert wird. […] Auch der Ebene der erzähl-

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aus Begehren und Aggression, aus Rangstreben und Selbstbehauptung ergeben, sondern öffnet den Blick auch in ein Personeninneres, das in seiner Vollkommenheit in sich ruht. Er führt nicht nur die Unvereinbarkeit von minne und ere vor, sondern kodiert auch die ere von der minne her um. In ihm entsteht die Minne nicht nur zufällig, sondern, indem die Figuren in ihrer Exzeptionalität aufeinander zugeordnet werden, auch zwangsläufig.67 Es gibt nicht nur den antizipierten bitteren Tod, sondern auch das im Erinnerungsvollzug immer erneuerte Leben. Diese Versöhnung entsteht in der künstlerischen Kommunikation der exklusiven Gemeinschaft edeler herzen, die in ihrer Exzeptionalität den Hauptfiguren verbunden sind. Die Versöhnung vermittelt sich freilich nicht als metaphysischer Trost in die erzählte Welt hinein, Gott wie auch die Minne erscheinen als poetisierte Instanzen.68 So liegt in der künstlerischen Durchformung des Tristan, wie man in Anlehnung an Clemens Lugowski sagen könnte, ein mythisches Analogon vor,69 freilich eines, das die Zerrüt-

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ten Figuren sind präfigurierende Erzählmomente zugeordnet […].« In ihren Augen werden die erzeugten Erwartungen jedoch im Verlauf der Erzählung nur zum Teil erfüllt und kommt es überdies »zu deutlichen Divergenzen zwischen Aussagen der reflektierenden und erzählenden Ebene des Textes«. Zur Poetik des Textes vgl. weiterhin die auch im vorliegenden Zusammenhang sehr interessanten Beobachtungen in Kap. 3.3: »Die Funktionalisierung konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Hinblick auf die Poetologie des Gottfriedschen Tristan« (S. 185–200, Zitat S. 200): »Es läßt sich […] beobachten, daß Gottfrieds Konzeption der Tristandichtung […] durch die Integration von nähesprachlichen und distanzsprachlichen Elementen bestimmt ist. Gottfried durchbricht die Visualisierung höfischer Feste, Körper und Aufzüge durch distanzschaffende Erzählerkommentare ebenso wie er umgekehrt aufwendige Exkurse durch nähesprachliche akustische Klangbilder einem ausschließlich intellektuellen Nachvollzug entzieht. Beide Strategien dienen letztlich der Vermittlung einer Liebeskonzeption, an deren Idealität der Text, trotz der auch in ihm geschilderten Betrugsmanöver Tristans und Isoldes, kaum einen Zweifel aufkommen läßt.« Vgl. beispielsweise Andreas Kraß’ Untersuchung der Weisefort-Partie (Geschriebene Kleider [Anm. 30], S. 185–192); er arbeitet drei Verfahren heraus, die »die künftige Unio Tristans und Isoldes« ästhetisch vorbereiten: »poetische Verflechtung [der Schönheitsbeschreibungen] (Parallelismus, Chiasmus, Rahmung, Ringschluß)«, »materielle Entsprechung [des Beschriebenen] (Farbe, Form, Material)« und bildliche Antizipation des Entbrennens in wechselseitiger Liebe (S. 190). Vgl. zur Frage nach dem Status der Minne bei Gottfried Ganz, Peter F., Minnetrank und Minne. Zu ›Tristan‹, Z. 11 707f., in: Werner, Otmar / Naumann, Bernd (Hrsg.), Formen mittelalterlicher Literatur. Siegfried Beyschlag zu seinem 65. Geburtstag von Kollegen, Freunden und Schülern, Göppingen 1970 (GAG 25), S. 63–75, und zum größeren Kontext Schnell, Rüdiger, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern, München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), bes. S. 349–505 (Teil III: »Die Personifikation ›Liebe‹ als Liebesursache«). Lugowski, Clemens, Die Form der Individualität im Roman, mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt/M. 1976 (stw 151), zuerst: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung, Berlin 1932 (Neue Forschung. Arbeiten zur Geistesgeschichte der germanischen und romanischen

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tung in sich trägt, eines, das seine Artifizialität in besonderer Weise bewusst hält und reflektiert. Dabei ist der Text auf Schönheit als poetische Wahrheit, auf Exzeptionalität als Singularität hin ausgerichtet: »Es scheint«, so Christoph Huber, »als ob die Tendenz, unter die sich überlagernden schönen Hüllen nach innen vorzudringen, von der repräsentativen Kleidung zum Körper, zur Gesinnung und darüber hinaus zu einer nicht mehr fassbaren Andersartigkeit, eine innere Unendlichkeit mit einer transzendenzanalogen Grenze anbahnen würde. Eine derartige Fluchtlinie in der Verweiskraft des Schönen öffnet sich in der Tristanminne, die auch in der Grottenutopie als Innendimension erkennbar ist.«70 Der Text stellt insofern eine Herausforderung dar, als Exzeptionalität unter den Bedingungen der Kontingenz und absolut gesetzte Exzeptionalität einander nicht aufheben. Indem der Tristan die wechselseitige Abhängigkeit von Darstellung und Dargestelltem thematisiert, reflektiert er auch die eigene Rezeption in dieser Spannung.

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Völker 14), Nachdruck Hildesheim, New York 1970; siehe etwa seine Ausführungen am Ende von Unterkapitel 2.I. zu einem Roman Jörg Wickrams (S. 83): »Die Analyse des mythischen Analogons im ›Galmy‹ ist abgeschlossen. Sie ergab ein in sehr großen Zügen angedeutetes Weltbild, das sich als Gehaltskorrelat zu einer sehr allgemeinen Formschicht des Romans findet und mit dem vom Autor in seinem Werk unmittelbar gemeinten ›individuellen‹ Gehalt direkt nichts mehr zu tun hat. Wir haben es in der Tat mit einer Art formalem Mythos zu tun. Eine Auffassung, der die Welt in eminentem Maße Ganzheit ist, lebt in überindividuellen Formbezirken ein anonymes Dasein. In der selbstverständlichen Hinnahme der Formgebärden, die jenem Weltbild entsprechen, finden sich Dichter, Dichtungen und der Kreis der Rezipierenden, schafft sich eine Gemeinsamkeit. Die Entfaltung dieses formalen Mythos bildet den ersten Schritt in der Untersuchung des Problems der Einzelmenschlichkeit.« Im folgenden Unterkapitel beschreibt Lugowski »[d]ie Zerrüttung des mythischen Analogons im ›Galmy‹ «. Zum Potenzial und zur Problematik der von Cl. Lugowski formulierten Ansätze vgl. Martinez, Matias (Hrsg.), Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn u.a. 1996, besonders für die Mediävistik Haustein, Jens, Kausalität als Autorität in mittelhochdeutscher Erzählliteratur. Oder: Clemens Lugowski als mediävistische Autorität?, in: Fohrmann, Jürgen / Kasten, Ingrid / Neuland, Eva (Hrsg.), Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997, Bd. 2, Bielefeld 1999, S. 553–572; Müller, Jan-Dirk, Der Prosaroman – eine Verfallsgeschichte? Zu Clemens Lugowskis Analyse des ›Formalen Mythos‹ (mit einem Vorspruch), in: Haug, Walter (Hrsg.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 143–163; Schausten, Monika, ›Herrschaft braucht Herkunft‹: Biographie, Ätiologie und Allegorie in Johanns von Würzburg ›Wilhelm von Österreich‹, in: Friedrich, Udo / Quast, Bruno (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 155–175, und Gerok-Reiter, Annette, Erec, Enite und Lugowski, C. Zum ›formalen Mythos‹ im frühen arthurischen Roman. Ein Versuch, in: Vollmann-Profe (Hrsg.), Impulse und Resonanzen [Anm. 6], S. 131–150. Huber, Merkmale des Schönen [Anm. 26], S. 141.

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Die Auseinandersetzung mit dem Tristan führt immer wieder in Formulierungen, die den Text selbst prägen, Formulierungen eines Zugleich-aber-Auch.71 Wie Susanne Köbele in ihren Ausführungen zu Mythos und Metapher bei Gottfried gezeigt hat, kann man das Besondere des Werkes so in verschiedener Hinsicht als Verschmelzung oder Amalgamierung beschreiben,72 vielleicht auch als Spiralbewegung. Im vorliegenden Zusammenhang könnte man sagen, dass sowohl für das Erzählte wie das Erzählen, sowohl in der Liebe wie der Kunst gilt, dass das Exzeptionelle so ausgesetzt wie unantastbar erscheint, dass ihm Faszination wie Scheu gemäß ist. Der Text zeigt, wie prekär es innerhalb einer Ordnung ist, dem Inbegriff der eigenen Ideale und Sehnsüchte zu begegnen; die Möglichkeit, eine solche Begegnung auszuhalten, erkennt er der Liebe und der Kunst zu, sie lässt er darin ihre Erfüllung finden. Ob die daraus entstehende Energie destruiert oder transformiert, das kann er ihrer Macht nicht unterstellen.

71

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Vgl. etwa Haug, Walter, Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹. Sexueller Sündenfall oder erotische Utopie, in: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 600–611, zuerst in: Schöne, Albrecht (Hrsg.), Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985, Bd. 1, Tübingen 1986, S. 41–52. Köbele, Susanne, Mythos und Metapher. Die Kunst der Anspielung in Gottfrieds ›Tristan‹, in: Friedrich/Quast (Hrsg.), Präsenz des Mythos [Anm. 69], S. 219–246, bes. S. 236, Anm. 50: » ›Verschmelzung‹/›Amalgamierung‹ ziehe ich der Metapher von Text-›Schichten‹ oder Text-›Dimensionen‹ deswegen vor, weil mit der Verschmelzung etwas irreduzibel Neues entsteht, nichts nacheinander Abtragbares (›Schichten‹), nichts zueinander Orthogonales (›Dimensionen‹).«

Bent Gebert (Freiburg/Br.)

Poetik der Tugend Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik∗

wan ir sult wizzen sicherlîchen daz beidiu zuht und hüfscheit koment von der gewonheit. (Thomasin von Zerklære, Der Welsche Gast, V. 656–658) ez bedarf vil wol gewonheit, swer guot ritter wesen sol. (Hartmann von Aue, Gregorius, V. 1564f.)

I. Vorbemerkung: Normativität und Poetik Zu den Grundanliegen der Kulturwissenschaft zählt die Frage, wie sich in verschiedenen Kulturen gesellschaftliche Wertvorstellungen erzeugen und individuell vermitteln. Traditionell gilt ein besonderes Augenmerk mediävistischer Literaturwissenschaft dabei dem Wortfeld von Tugendbegriffen, die als Kristallisationskerne der Erzeugung von Normativität gelten und als Leitvokabeln der Reflexion imaginärer Ordnung diskutiert werden. Wenn die höfische Kultur des Mittelalters in ihren literarischen Selbstentwürfen den Adel als dominanten Träger moralischer Vollkommenheit inszeniert, so verdankt sich die Überlegenheit der als Ritter inszenierten Helden jedoch weniger der krisenhaften oder perfekten Repräsentation idealer Konzepte. Vielmehr stehen auf der Ebene der konkreten textualen Handlungsentwürfe fortgesetzte Praktiken der Macht- und Gewaltausübung im Vordergrund, die sich im Aventiureroman zum Erzählmuster verketten. Gewalt und Begehren brechen dabei nicht nur aufseiten der Herausforderer hervor, an denen sich ritterliche Vorbildlichkeit bewährt – sie sind zugleich auch das symbolische Medium, in dem diese Vorbildlichkeit hergestellt wird. So führt etwa Hartmanns Erec den Grafen Oringles von Lîmors zunächst als respektvollen Retter ein, der Enites Selbstmord abwendet:



Die folgenden Überlegungen basieren auf einer Pilotstudie zum Begriff der zuht im höfischen Roman, die ich im Rahmen des Projekts ›Poetik der Tugend‹ erstellt habe. Mein herzlicher Dank gilt daher Burkhard Hasebrink (Freiburg/Br.) als Initiator des Projekts für Anregungen und kritische Diskussion der Ausführungen.

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den hâte got dar zuo erkorn / daz er si solde bewarn (V. 6123f.).1 Wie der Erzähler anerkennend herausstreicht, weiß Oringles Enite in durchaus vorbildlicher Weise zu trösten (vgl. V. 6213–15) – bis sich schließlich sein Begehren Bahn bricht: sîn zorn in verleite / […] daz er si mit der hant sluoc / alsô daz diu guote / harte sêre bluote (V. 6518–23). Erec, von der Totenbahre wie aus tiefem Traum erweckt, beantwortet diese Gewalt des Begehrens seinerseits mit der Gewalt des begehrten Beschützers, wenn er mit einem Schwertstreich den Burgherrn und dessen engste Gefolgsleute niederstreckt: er hâte zornes genuoc. / des êrsten rûsches er sluoc / den wirt selbe dritten (V. 6620–22). Szenen wie die Oringles-Episode in Hartmanns Erec lassen somit das Tugendkonzept als reflexiven Kern von moralischer Vollkommenheit im höfischen Roman prekär werden, bestätigen sie doch ihre Akteure durch Gewalthandeln, das sich oft genug implizit geleitet statt reflexiv instruiert erweist: Erec agiert förmlich im Rausch. Welche Möglichkeiten bieten sich, um solche Erzähllogiken impliziter Normativität zu beschreiben? Und wie spielen Konzeptbildung und Praxis von Tugenden auf der Ebene ihrer literarischen Darstellung, insbesondere im höfischen Roman, zusammen? So erhellend es grundsätzlich sein mag, den höfischen Tugenddiskurs im Kontext christlicher Anthropologie2 zu verorten oder Adaptationslinien nachzuzeichnen, die ethische Leitvorstellungen der Antike mit der höfischen Kultur des Mittelalters verbinden,3 so verengend wäre es jedoch, die konkreten erzählerischen Simulationen moralischen Handelns ausklammern zu wollen: literarische Handlungsspiele lassen sich nicht auf die Vermittlung ethischer Lehrbegriffe reduzieren. Aus dem Blick gerieten die performativen Akte des Einübens, Wiederholens und Verstetigens, die ebenso wie Momente des Exzesses und der Entgrenzung von Gewalt die Aventiurereihen höfischer Romane profilieren. Hier möchten die folgenden Überlegungen ansetzen. Wenn zu den Bedingungen von Normativität im höfischen Roman gehört, dass die zugehörigen Selektionen narrativer Optionen nicht immer reflexiv verhandelt werden, so ist nach einem geeigneten Modell zu fragen, das solche impliziten Selektionen und performativen Dimensionen erfassen kann. Es wäre somit nach den konkreten Vollzugsformen literarischer Texte zu fragen, die an der Erzeugung von Normativität beteiligt sind. Welche Funktion kommt in diesem Zusammenhang den Semantiken der Übung und Erzählstrukturen der Wiederholung zu? Analysen im Wortfeld der Tugend im höfischen Roman

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2 3

Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von Leitzmann, Albert / Wolff, Ludwig / Gärtner, Kurt (Hrsg.), Hartmann von Aue, Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, Tübingen 20067 (ATB 39). Vgl. Bumke, Joachim, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 200210 (dtv 30170), insbes. S. 416–419. Diese Forschungsperspektive hatte sich ausgehend von der Diskussion um das von Gustav Ehrismann postulierte ›ritterliche Tugendsystem‹ etabliert. Die älteren Beiträge dieser Debatte dokumentiert der von Günter Eifler herausgegebene Sammelband Ritterliches Tugendsystem, Darmstadt 1970 (Wege der Forschung 56).

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belegen, dass selbst vermeintlich reflexive Tugendbegriffe z.T. unlöslich mit solchen performativen Strukturen und ihren semantischen Komplexen verflochten sind. Wie ich im Folgenden an exemplarischen Belegen des Begriffs zuht in der höfischen Epik nachzeichnen möchte, kann die Leitdifferenz von Reflexivität und Handlungsvollzug, die das forschungsgeschichtlich dominante Paradigma zum höfischen Tugenddiskurs formiert, solche Handlungsspiele nicht immer zureichend erfassen. Zur anthropologischen Leistung solcher literarischen Handlungsspiele gehört, dass sie Normativität erzeugen können, ohne dazu mit reflexiven Kategorien operieren zu müssen. Pierre Bourdieus Konzept der Habitualisierung bietet theoretische Optionen, die sich für solche Dimensionen des Tugenddiskurses in der höfischen Epik fruchtbar machen lassen. Bourdieu entwirft ein Beschreibungsmodell für soziale Praxis, das quer zu den Disjunktionen ›Reflexivität versus Handeln‹ oder ›Konstitution versus Subversion von Normativität‹ verläuft, die in der gegenwärtigen Diskussion zum Status von Tugenden in höfischer Literatur methodische Aporien aufwerfen. Das Habituskonzept könnte also eine aussichtsreiche Alternative bieten, um Phänomene literarischer Geltungssetzung im höfischen Roman zu beschreiben, die Normen nicht als ›besprochenen Sinn‹ konstituieren: durch Wiederholungshandeln oder durch liminale Handlungsspiele der Gewalt, die gerade in der Überschreitung expliziter Verhaltensregeln auf paradoxe Weise Normen zu etablieren scheinen.4

II. Modelle der Erzeugung von Normativität Erzeugung und Repräsentation von Normen werden mithilfe unterschiedlicher Terminologien beschrieben. Man spricht u.a. von ›Verinnerlichung‹, ›Vermittlung‹, ›Einschreibung‹ oder der ›Interferenz‹ sozialer und psychischer Systeme. Damit sind zugleich unterschiedliche Beschreibungsmodelle aufgerufen, die sich zu drei Typen bündeln ließen: Man könnte von (1.) ›Disziplinierungsmodellen‹, (2.) ›Vermittlungsmodellen‹ und (3.) ›Interferenzmodellen‹ von Normativität sprechen, und jeder dieser Ansätze eröffnet Zugänge zu sozialen Funktionen mittelalterlicher Literatur. Das Beispiel des Tugendbegriffs zuht kann jedoch exemplarisch markieren, dass jedem dieser Modelle spezifische Phänomene der literarischen Konstruktion des Tugenddiskurses entgehen. Die Semantik von zuht verweist auf konstitutive blinde Flecke dieser Ansätze, die zugleich Ansatzpunkte für eine Modellskizze zur impliziten Poetik der

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Die folgende Skizze beschränkt sich auf Beispiele der mittelhochdeutschen Epik. Über ihren Rahmen hinaus wäre jedoch zu erwägen, inwiefern sich auch im lyrischen Sprachgebrauch solche Phänomene der performativen Erzeugung von Normativität aufweisen lassen. Die zentrale Bedeutung von Wiederholung und Sprachklang für die Herausbildung von Normativität zeichnet z.B. Markus Stock in den Liedern Gottfrieds von Neifen nach [in diesem Band].

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Tugend darstellen könnten, wie sie sich im Ausgang von Bourdieus Überlegungen zum Habitus ausarbeiten lässt. (1.) Seit den Studien von Norbert Elias hat man Tugendbegriffe als Leitvokabeln eines Internalisierungsprozesses der Zivilisierung lesen gelernt. Normenbildung vollziehe sich demnach als Arbeit sozialinduzierter ›Verinnerlichung‹. Die zunehmende Distanzierung körperlicher Bedürfnisse, die Disziplinierung von Affekten und das Eindämmen von Gewalt transformieren Elias zufolge Fremd- in Selbstzwänge, die in historisch variierenden, gruppenspezifischen »Veränderungen des psychischen Habitus«5 sedimentierten.6 Jedoch wird Elias’ Konzept der fortschreitenden Interiorisierung durch seine eigenen individualpsychologischen Prämissen limitiert: die »Fortschreibung der Psychoanalyse in Richtung einer Kulturtheorie«7 vormoderner Gesellschaften, die Elias betreibt, bindet Normativität vor allem an Äußerungsakte mit explizitem Gebots- oder Verbotscharakter, weshalb literarische Belege für den Zivilisationsprozess hauptsächlich aus ›didaktischen Genres‹ gewonnen werden. Als unbefriedigend für literaturwissenschaftliche Anschlüsse hat sich nicht nur erwiesen, dass Elias über Beispiele der Spruchdichtung sowie der Tisch- und Hofzuchten hinaus kaum komplexere Formen höfischer Literatur in den Blick nimmt. Ein noch größeres Desiderat wirft die schwierige Frage auf, wie sich Elias’ Leitvorstellung didaktischer Textsorten analytisch präzisieren ließe. Denn offensichtlich ist der Tugenddiskurs der höfischen Literatur keineswegs auf Texte mit ausdrücklichem Anweisungscharakter beschränkt.8 5

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Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt/M. 1997 (stw 158–159), hier Bd. 1, S. 84. Für eine kritische Bestandsaufnahme der Elias-Rezeption in der mediävistischen Germanistik vgl. Heinzle, Joachim, Usurpation des Fremden? Die Theorie vom Zivilisationsprozess als literarhistorisches Modell, in: Peters, Ursula (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. DFG-Symposium 2000, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 198–214. Zum Fluchtpunkt dieser Tendenz vgl. zusammenfassend Elias, Prozeß der Zivilisation [Anm. 5], Bd. 2, S. 336: »Der Alltag wird freier von Wendungen, die schockartig hereinbrechen. Die Gewalttat ist kaserniert; und aus ihren Speichern, aus den Kasernen, bricht sie nur noch im äußersten Falle, in Kriegszeiten und in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs, unmittelbar in das Leben des Einzelnen ein.« Elias’ Projekt gilt vor allem der soziologischen Aufarbeitung des Faschismus und seiner psychohistorischen Grundlagen; es versucht Gewalt theoretisch zu bewältigen, indem diese historisch und soziofunktional ausgegrenzt und in die Randbereiche der »Kasernen« verschoben wird. Für die folgenden Überlegungen wäre jedoch festzuhalten, dass Gewalt in symbolischen Medien nicht historisch verbannt, sondern aufgehoben wird: entsprechend steht sie für Prozesse der Strukturbildung weiterhin zur Verfügung. Blomert, Reinhard, Abwehr und Integration. Wandlungen im Verhältnis von Soziologen zur Psychoanalyse, in: Korte, Hermann (Hrsg.), Gesellschaftliche Prozesse und individuelle Praxis. Bochumer Vorlesungen zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, Frankfurt/M. 1990 (stw 894), S. 15–41, hier S. 40. Vgl. Lähnemann, Henrike / Linden, Sandra (Hrsg.), Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2009.

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Dass das Elias’sche Konzept der Verinnerlichung im Horizont des höfischen Romans als überaus prekär zu beurteilen ist, erweist sich beispielsweise im Hinblick auf die konkrete Verwendung höfischer Tugendbegriffe in Hartmanns Iwein. Leitende Bedeutung für das Gesamtverständnis des Romans wurde lange Zeit Iweins Verfolgung Askalons zugesprochen: Wenn Iwein zu Beginn der Erzählung dem verwundet Fliehenden âne zuht (V. 1056)9 nachjage, sei damit ein ethisches Defizit markiert, das symbolstrukturell erst in der späteren Schonung des fliehenden Grafen Aliers aufgehoben werde. Iwein, der den Grafen nun auf sicherheit (V. 3777) gefangen nimmt, demonstriere darin ein ethisch anspruchsvolleres Niveau der Selbstdisziplin.10 Will man diesen Szenenkontrast mit Elias als Lehrstück von Pazifizierung und ›Verhöflichung‹ beschreiben, so sperrt sich einer solchen Lektüre jedoch die unmittelbar anschließende Betrachtung der trauernden Laudine. Iweins Gedanken greifen den vermeintlichen Programmbegriff der zuht hier in überraschendem Bedeutungswechsel wieder auf: ichn weiz waz sî zewâre an ir goltvarwem hâre und an ir selber richet, daz sî den lîp zebrichet. dâ ist sî selbe unschuldec an: ouwê jâ sluoc ich den man. disiu zuht unt dirre gerich gienge billîcher über mich. (V. 1671–78)

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Textwiedergabe nach der Ausgabe: Benecke, G[eorg] F[riedrich] / Lachmann, K[arl] / Wolff, L[udwig] (Hrsg.), Hartmann von Aue, Iwein. Text der siebenten Ausgabe. Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer, 4., überarb. Aufl., Berlin, New York 2001. Peter Wapnewski wertete Iweins Attacke gegen Askalon entsprechend als »elementaren Verstoß gegen die triuwe und erbermde«, die der Roman als Leittugenden exponiere; Wapnewski, Peter, Hartmann von Aue, Stuttgart 19694 (Sammlung Metzler 17), S. 69f. Mit ähnlicher Akzentuierung Cramer, Thomas, ›saelde‹ und ›êre‹ in Hartmanns ›Iwein‹, in: Euphorion, 60/1966, S. 30–47. Zur weiteren Debatte vgl. Salmon, Paul, ›Âne zuht‹. Hartmann von Aue’s Criticism of Iwein, in: MLR, 69/1974, S. 556–561, sowie Voss, Rudolf, ›sunder zuchte‹. Ulrich Füetrers Rezeption des ›Iwein‹-Verses 1056, in: ZfdA, 118/1989, S. 122–131. In der jüngeren Forschung liest Hartmut Bleumer Iweins zuht-Versäumnis als Verstoß gegen das »Ideal ritterlicher Werte« – Im Feld der ›âventiure‹. Zum begrifflichen Wert der Feldmetapher am Beispiel einer poetischen Leitvokabel, in: Dicke, Gerd / Eikelmann, Manfred / Hasebrink, Burkhard (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 347–367, hier S. 358. Grundsätzlich skeptisch dagegen Mertens, Volker, Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998 (RUB 17609), S. 83; vgl. auch ders., Kommentar, in: ders. (Hrsg.), Hartmann von Aue, Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein, Frankfurt/M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6), S. 94: »âne zuht ist in seiner Bedeutung unklar. Ist zuht hier der ethische Begriff?«

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Anstatt zuht als ideale Leitvokabel zu bestätigen, die disziplinierten Gewaltverzicht zugunsten von »feine[r] Sitte und höfische[r] Lebensart«11 propagierte, präsentiert Hartmann somit ein schillerndes Nebeneinander konkreter (zuht als Gewalt der Körper) und mentaler (zuht als direktive Kontrolle) Bedeutungsmöglichkeiten, die das Verbalabstraktum zu idg. *deuk (»zerren«, »ziehen«) in mittelhochdeutscher Epik um 1200 besitzt und die noch in Glossaren des Spätmittelalters nachweisbar sind.12 Im Spezialfall von zuht bleibt Gewalt somit der Semantik eines Tugendbegriffs geradezu etymologisch eingeschrieben, und diese semantischen Möglichkeiten werden in Handlungsspielen der mittelhochdeutschen Epik aktualisiert. Sichtet man die nominalen Wortbelege von zuht in der höfischen Epik, so kann man feststellen, dass sich ihre Semantik dem Tugendkonzept idealer Perfektion kaum restlos fügt. Eher werden mit dem Begriff zuht Bedeutungsspielräume von Praxis und Reflexion eröffnet, die sich weder ausschließlich auf körperliche Gewalt noch auf mentale Disziplin allein reduzieren lassen, sondern vielfältige Übergänge aufweisen. Wenn der Tugenddiskurs mit der höfischen Literatur das Spannungsfeld »zwischen Körper und Schrift« teilt, so wäre danach zu fragen, inwiefern auch Tugendbegriffe wie zuht »an ein gemeinschaftliches Tun, eine soziale Praxis, einen habitualisierenden Vollzug gekoppelt« bleiben.13 Nicht Alternativen z u r Gewalt, sondern Alternativen d e r Gewalt spielt höfische Literatur mittels des Begriffs zuht durch. Entsprechend können dichte Beschreibungen der Poetik von Normativität weder stabile Verwendungsarten aufweisen, die sich als Idealkonzepte fi xieren ließen, noch lassen sich diese einer psycho-

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Pfeifer, Wolfgang (Hrsg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 3, Berlin 1989, S. 2044f., s.v. ›Zucht‹, der diese Semantik für zuht als »Kernbegriff der mittelalterlichhöfischen Ethik« (S. 2045) ansetzt; vgl. auch Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Seebold, 24. durchges. u. erw. Aufl., Berlin, New York 2002, Sp. 1017, s.v. ›Zucht‹, wo eine »frühe Bedeutungsübertragung von dem konkreten ›ziehen‹ zu dem abstrakten ›erziehen‹ « postuliert wird. Dieser Einschätzung folgen auch jüngere Darstellungen zur Semantik des höfischen Wortschatzes, vgl. etwa Wolf, Beat, Vademecum medievale. Glossar zur höfischen Literatur des deutschsprachigen Mittelalters, Bern u.a. 2002, S. 150f.: Synonyme für zuht seien »Höflichkeit, Anstand, gutes Benehmen und feine Sitte«. Vgl. etwa Siegfrieds Hortkampf im Nibelungenlied (497,3f.): er zogte’n ungefuoge, daz er vil lûte schrê. / zuht des jungen heldes diu tet Albrîche wê. Zitiert nach: Boor, Helmut de (Hrsg.), Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, Wiesbaden 199622 (Deutsche Klassiker des Mittelalters). Das semantische Spannungsfeld zwischen körperlicher und mentaler Bedeutung dokumentiert auch das lateinisch-deutsche Handwörterbuch Vocabularius Ex quo für das Wortfeld ›disciplina‹. Als Synonyme für ›disciplinare‹ werden aufgeführt: zuchtigen uel zuht leren sowie docere, uerberare, admonere, castigare. Vgl. Grubmüller, Klaus u.a. (Hrsg.), Vocabularius Ex quo. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe, 6 Bde., Tübingen 1988–2001 (Texte und Textgeschichte 22–27), hier Bd. 3, S. 794f. / D 399 und D 400. Kiening, Christian, Vorspiel: Zwischen Körper und Schrift, in: ders., Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt/M. 2003, S. 7–35, hier S. 13.

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historischen Linearitätsannahme zunehmender Aggressionsreduktion und Verinnerlichung unterwerfen. Vielmehr zeigen sich Spielräume semantischer Verschiebungen zwischen körperlichen und epistemischen Bedeutungsaspekten, wie sie Hartmann exemplarisch im Gewalthandeln des Iwein auserzählt. (2.) Wenn der höfische Normendiskurs einen Tugendbegriff wie zuht im semantischen Spannungsfeld zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit, zwischen Körperoberflächen und mentaler Kontrolle narrativ entfaltet, welche Arten des Lernens korrespondieren dieser Form von Normativität? Und welche Beschreibungsmodelle können der Reproduktion solcher Normativität gerecht werden? Ein Überblick über die jüngere Diskussion dieses Fragenkomplexes macht deutlich, dass auch Konzepte der ›Vermittlung‹ von Normen oder die Rede von systemischer ›Interpenetration‹ angesichts der komplexen Handlungsspiele mittelalterlicher Epik methodische Schwierigkeiten aufwerfen. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Forschungen haben den hohen Stellenwert von körpergebundener Partizipation und Nachahmung für mittelalterliche Normvermittlung herausgestellt.14 Wie beispielsweise Horst Wenzel am Bildprogramm zum Welschen Gast aufgezeigt hat, ist höfische Literatur eingelassen in eine Lernkultur der Einübung: »Man lernt nicht primär durch Instruktionen, sondern durch Beobachtung und Einübung, Teilhabe und Nachahmung«.15 Dennoch bleibt ein solches Konzept der ›Vermittlung‹ rückgebunden an die triadische Unterscheidung von abstraktem Vermittlungsinhalt, konkretem Präsentationsmedium und Adressaten der Vermittlung. Text- und Bildsequenzen wird entsprechend die Funktion zugeschrieben, »unanschauliche Tugenden und Lasterbegriffe« durch »Personalisierung abstrakter Tugendbegriffe« zu vermitteln.16 Dies provoziert ebenfalls die Frage nach dem Realitätsstatus abstrakter Tugendkonzepte. Dass Lernprozesse von Normativität jedoch keineswegs bei abstrakten Tugendkonzepten und deren Vermittlung ansetzen müssen, sondern diese umgekehrt von konkreten Körperzuständen und affektiven Dispositionen hervorgebracht werden können, belegen einschlägige Lernszenen der mittelhochdeutschen Literatur. So gründet etwa die Heldenkarriere des jungen Achill im Trojanerkrieg Konrads von 14

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Vgl. z.B. Wenzel, Horst, Partizipation und Mimesis. Die Lesbarkeit der Körper am Hof und in der höfischen Literatur, in: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988 (stw 925), S. 178–202; Bumke, Joachim, Höfischer Körper – höfische Kultur, in: Heinzle, Joachim (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt/M. 1994, S. 67–102. Wenzel, Horst, Repräsentation und Wahrnehmung. Zur Inszenierung höfisch-ritterlicher Imagination im ›Welschen Gast‹ des Thomasin von Zerclaere, in: Althoff, Gerd / Witthöft, Christiane (Hrsg.), Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 3), S. 303–325, hier S. 323. Ebd., S. 323 u. S. 309.

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Würzburg in einem Bildungsprozess, der sich konkreter Dispositionen des Schülers verdankt. Der Erzähler wendet die Rückschau auf Achills Ausbildungsphase zur pädagogischen Grundfrage: Kommt das größere Verdienst den natürlichen Anlagen des Schülers (Achills tugent) oder aber den Ausbildungsmethoden des Lehrers (Schǔrons meisterschefte) zu? Dessen Lehrplan bietet immerhin ein abwechslungsreiches und anspruchsvolles Programm, das u.a. den Kampf mit Greifen, Schachspiel und das Erdulden von Steinschlag in Wildbächen vorsieht (V. 6148–85).17 Die Frage wird ebenso klar wie provokant beantwortet: Entscheidend sind Achills Voraussetzungen. Sie allein steuern, welche Inhalte erworben und welche Exerzitien fruchten können – den êren undertân sei schließlich nur derjenige, der hierfür prädisponiert sei: Swaz adellichen arten wil, zuo dem bedarf man niht ze vil rîlicher meisterschefte. von sîner tugent krefte kan ez wol selbe zuo genemen. ez üebet, swaz im sol gezemen und ist den êren undertân. dâ von darf iuch niht wunder hân, daz der juncherre Achille beid offen unde stille gap sô liehtebernden schîn, daz er vor den gesellen sîn liez edel sich beschouwen. (V. 6405–17)

Wie für den Erfolg eines Steinmetzen weniger die Bildhauertechnik als vielmehr die Beschaffenheit des Materials ausschlaggebend sei – so fährt der Erzähler fort –, so könne auch der größte Erziehungseifer niemals ganzer tugende list vermitteln, wenn nicht der Zögling die richtigen Anlagen schon in sich trage: swie vil ein meister villet unedel kint mit lêre, doch kan ûz im kein êre gewahsen ûf der erden. ez mac wol bezzer werden, denne ez vor gewesen ist, daz aber ganzer tugende list enphâhe sînes herzen rinc, daz ist ein ungehoeret dinc und wart vil selten ie vernomen. […] sîn art senft unde reine

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Hier und im Folgenden zitiert nach: Keller, Adelbert von (Hrsg.), Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten K. Frommanns und F. Roths zum ersten Mal herausgegeben, Stuttgart 1858 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 44).

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geschuof an im daz wunder, daz er sich ûz besunder vür sînes meisters lêre schiet; wan der juncherre baz geriet, dann er gelêret würde. (V. 6428–47)

Schlechte Zeit für lêre? Tugenden wie die Orientierung an êre werden jedenfalls nicht einfachhin vermittelt – sie entwachsen förmlich den Dispositionen ihrer Träger. Doch geht es nicht um die bloße Entfaltung von Anlagen (art). Vielmehr werden Semantiken von Normativität greifbar, die im Rückgriff auf organologische Metaphern (gewahsen) Voraussetzungen und Effekte von Normvermittlung miteinander kurzschließen, welche Vermittlungsmodelle von Normativität zumeist kategorial trennen: Achill lernt, was bereits vorgängig zu ihm gehört. Konrads Erzähler geht noch einen Schritt weiter. Er stülpt die Semantik von Achills Tugend geradezu um, wenn er zunächst im Überblick über den Ausbildungsgang des Heros eine lange Sequenz von Übungen vorausschickt (V. 6020–6330), bevor er schließlich die edele Vorprägung Achills in gleichsam naturale Semantik überführt. »Höfische Disposition wird naturalisiert, wird zur adeligen Arteigenschaft« gewendet,18 wie Udo Friedrich resümiert hat. Sowohl Einübung als auch Naturalisierung sind somit wesentliche Größen der Erziehungspoetik in Konrads Trojanerkrieg – und die methodische Schwierigkeit besteht darin, dass sich ihre Semantiken schwerlich reduzieren, sequenzialisieren oder überhaupt aufeinander abbilden lassen. In den Selbstbeschreibungen höfischer Kultur lassen sich vielfältige Spuren eines solchen Diskurses über vorgängige Prägung und Dispositionen als Bedingung der Möglichkeit von Normativität aufweisen. So empfiehlt etwa Thomasins Welscher Gast, junge Menschen in furchtsame Haltung zu versetzen, um einen besonders lernbereiten muot zu erzeugen;19 auf der anderen Seite warnt Thomasin mit dem abschreckenden Beispiel von Personen, deren schlechte Neigung dazu führte, dass sie trotz bester Angebote nur schlechte Dinge lernten.20 Auch der Welsche Gast verweist somit

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Friedrich, Udo, Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg ›Trojanerkrieg‹, in: Müller, Jan-Dirk / Müller-Luckner, Elisabeth (Hrsg.), Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), S. 99–120, hier S. 115. Rückert, Heinrich (Hrsg.), Thomasin von Zerklære, Der Wälsche Gast. Mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann, Berlin, New York 1965 (Deutsche Neudrucke. Texte des Mittelalters), V. 591–595: daz kint mit vorhten lernen sol / swaz er dernâch wil sprechen wol. / diu vorhte diu ist dâ vür guot / daz si dem kinde bereit den muot / ze hœren unde ze verstên. Ebd., V. 795–799: swelich wîp und swelich man / an rehten dingen niht ahten kan, / der nimt von übel und von guot / bœsiu bilde, wan ir muot / der ist zem bœsten ie bereit.

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auf Dispositionen und die normbildende Kraft von gewonheit 21, die noch v o r dem Lernen selegieren, was und wie man lernt. Hinter den Lernszenen der höfischen Literatur wird somit ein Bereich vorgängiger Prägung erkennbar, der geradezu paradox anmutet. Tugenden wie zuht, Ehrorientierung oder Tapferkeit fungieren weniger als Leitkonzepte für die Bildungsgänge Achills oder der höfischen kint Thomasins – sie erscheinen eher als Aktualisierungseffekte von Dispositionen, welche das Erlernen von Normen zugleich e r m ö g l i c h e n (Semantiken der Ausbildung, Einübung und Verstetigung) und a u s s c h l i e ß e n (es wird nicht eigentlich Neues erworben, sondern es werden nur Strukturanlagen ›entfaltet‹). Tugenden sind erworben und waren doch immer schon vorhanden – so könnte man diese Paradoxie auf den Punkt bringen. Dieses Spannungsfeld von ›natura‹ und ›nutritia‹ gilt es in seinen konkreten narrativen Gestaltungen in der höfischen Epik eingehend in den Blick zu nehmen.22 Beschreibungsansätze zur Normativität in mittelalterlichen Texten, die sich maßgeblich an begrifflichen Kontinuitäten zwischen römischer Adelsethik und ritterlich-höfischer Kultur orientieren oder Tugendbegriffe hypostasieren, stehen hingegen in der methodischen Gefahr, höfische Literatur als narrative Umkleidungen von Bildungsprogrammen aufzufassen und dabei die vielfältigen Konfliktlinien, einschließlich ihrer paradoxen Verkoppelungen von Disposition und Instruktion, verschwinden zu lassen. Im weiteren Rahmen mittelalterlicher Kultur lassen sich vielfältige Anschlussstellen identifizieren, die in verwandter Weise Optionalität und Strukturalität – Vorgaben, die eigenen Selektionen entzogen sind – miteinander koppeln oder doch zumindest engführen. Analog lassen sie sich in theologischen Unterscheidungen von menschlicher Handlungsentscheidung und göttlicher Gnade in geistlicher Literatur wiederfinden, in philosophischen Diskussionen über das Verhältnis von Kontingenz und Providenz ebenso wie im Bereich mittelalterlicher Poetologie, die in Programmen des erniuwen Möglichkeiten erzählerischer Innovation mit der Konstanz von ›materiae‹ zusammenbindet.23 Tugendbegriffe lediglich als Fluchtpunkte von Vorbildlichkeit anzupeilen hieße also möglicherweise, die Verflechtungen des Normati-

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Ebd., V. 653–658: Swer ze hove wil wol gebârn, / der sol sich deheime bewarn / daz er nien tuo unhüfschlîchen, / wan ir sult wizzen sicherlîchen / daz beidiu zuht und hüfscheit / koment von der gewonheit. Vgl. hierzu die Analysen Jan-Dirk Müllers: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 59–65 [Kap. »Herkommen« / »art und nutritia«]. Vgl. hierzu grundsätzlich Hasebrink, Burkhard, Die Ambivalenz des Erneuerns. Zur Aktualisierung des Tradierten im mittelalterlichen Erzählen, in: Peters, Ursula / Warning, Rainer (Hrsg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, München 2009, S. 205–217; im Hinblick auf den Antikenroman vgl. auch Kellner, Beate, daz alte buoch von Troye […] daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ›wiederholen‹ und ›erneuern‹ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg, in: Dicke / Eikelmann / Hasebrink (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes [Anm. 10], S. 231–262.

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vitätsdiskurses mit solchen wiederkehrenden Mustern von Option und Struktur in mittelalterlicher Kultur zu verdecken. (3.) Dies gilt tendenziell auch für systemtheoretisch orientierte Versuche, den höfischen Tugenddiskurs als ›Interpenetrationsbeziehung‹ zwischen psychischen und sozialen Systemen zu rekonstruieren. Eine methodische Herausforderung besteht darin, die für systemtheoretische Theoriedesigns grundlegende Unterscheidung von System und Umwelt so anzupassen, dass auch komplexe Erzählphänomene der höfischen Literatur detailscharf beschrieben werden können – dies ist prinzipiell möglich. Problematisch bleibt indes, dass Normen innerhalb der (soziologischen) Theorie sozialer Systeme in der Regel als Kommunikationsmedien beschrieben werden, deren Leistung vor allem darin besteht, Unsicherheiten, Störungen und Kontingenz von Umwelt zu kanalisieren und »abzuwehren«.24 Dem steht aufseiten der höfischen Epik allerdings entgegen, dass ihre Texte vielfältige Handlungsspiele entfalten, die gerade das Unterlaufen, die Mimikry und offene Paradoxierungen von Normhandeln vorführen. Für diese Möglichkeiten stehen wiederum Tugendbegriffe zur erzählerischen Verfügung, und dies quer zur Gattungsdifferenzierung. Wenn Parzivals Schwierigkeit, die Gralsfrage zu stellen, auf Gurnemanz’ zuht-Übungen25 zurückgeführt wird oder 24

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Vgl. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1987 (stw 666), S. 286–346 u. 436–443. Ein Modell, Hof als soziales System zu beschreiben, »dessen Aufgabe es ist, als […] Institution dauerhaft Orientierungs- und / oder Verhaltenssicherheit« gegenüber der Komplexität der Umwelt aufrechtzuerhalten, hat Jan Hirschbiegel vorgelegt: Hof als soziales System. Der Beitrag der Systemtheorie nach Niklas Luhmann für eine Theorie des Hofes, in: Butz, Reinhardt / Hirschbiegel, Jan / Willoweit, Dietmar (Hrsg.), Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen, Köln 2004 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit 22), S. 43–54, hier S. 47. Zu einem systemtheoretisch spannungsvollen Befund zur Geltungserzeugung in Gerichtsritualen spätmittelalterlicher Stadtkultur gelangt Arlinghaus, FranzJosef, Mittelalterliche Rituale in systemtheoretischer Perspektive. Übergangsriten als basale Kommunikationsform in einer stratifikatorisch-segmentären Gesellschaft, in: Becker, Frank (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien, Frankfurt/M. 2004, S. 108–156. Arlinghaus arbeitet anhand von Kleidungscodes, ritualisierten Sprechakten, Gesten und Gegenständen in städtischen Gerichtsprozessen (Köln, Leipzig) deren schwankende Mischposition zwischen juristischer Normstabilisierung und bloß temporärer Funktionszuweisung ihrer Träger heraus (S. 135–146). Die Übergänge und Brüche dieser »zeitlich befristeten Kommunikationsräume« juristischer Normen im Stadtkontext (S. 143) belegen also gerade die Abbildungsschwierigkeiten eines systemtheoretischen Normenkonzepts, das auf Stabilisierung zielt. Zuht stattet Parzivals Weg von Anfang an semantisch aus: got was an einer süezen zuht, / do’r Parzivâlen worhte (148,26f.) – im Zeichen von zuht sucht Herzeloyde ihren Sohn von einer Ritterkarriere abzubringen: Op dich ein grâ wîse man / zuht wil lêrn als er wol kan, / dem soltu gerne volgen (127,21–23). Ironischerweise löst Parzival dieses Gebot in der Gurnemanzschen Ritterschule ein, wo ihm die beschworene zuht geradezu auf den Leib geschrieben wird: Dannen schiet sus Parzivâl, / ritters site und ritters mâl / sîn lîp mit zühten

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König Rothers täuschender Brautwerbungsauftritt in Konstantinopel unter der Maske Dietrichs als eine Erscheinung der zuht charakterisiert wird,26 so ließe sich in diesen Fällen geradezu von gezielter Erhöhung von Unsicherheit sprechen, die höfische Literatur im Spiegel von Tugendbegriffen ausstellt.27 Die Poetik von Tugendbegriffen e n t f a l t e t Kontingenz von Normhandeln also eher, anstatt sie zu reduzieren. Damit sind einzelne Irritationsmomente des höfischen Tugenddiskurses natürlich nur sehr grob umrissen: Phänomene der latenten Arbeit und impliziten Praxis, der Bedingungszirkularität und Subversivität, die mittels Tugendbegriffen bezeichnet werden. Doch wird schon an wenigen Beispielen deutlich, dass die Debatte um geeignete Beschreibungsmodelle von Normativität in der höfischen Literatur des Mittelalters neu aufzurollen ist. Insbesondere die brachliegende Diskussion zu den von Gustav Ehrismann postulierten idealen »Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems«28 ist neu aufzunehmen. Denn wenn auch im Allgemeinen Abstand genommen wurde

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fuorte (179,13–15). Zuht prägt schließlich und besonders eindrücklich die Gralsprozession (vgl. 234,1; 235,4; 236,7; 238,5) – und paradoxerweise ist es gerade Parzivals inkorporierte zuht, die seine Mitleidsfrage unterdrückt: durch zuht in vrâgens doch verdrôz (239,10). Die Paradoxie von Prägung und Reflexivität ist von Wolfram somit sowohl auf der Ebene von Handlungsspielen ausgearbeitet als auch mit einem Tugendbegriff markiert. Textnachweise nach der Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Text und Übersetzung. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ›Parzival‹-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin, New York 20032. Vgl. zur Paradoxie des Gralsrituals aus hermeneutischer Perspektive Bleumer, Im Feld der ›âventiure‹ [Anm. 10], insbes. S. 359–365. Das »Verstehensproblem« Parzivals (S. 359) in der Koordination von impliziter Bedeutung und Reflexivität ließe sich – so möchte ich im Folgenden argumentieren – mit Bourdieus Konzept des Habitus auf den Begriff bringen: Parzival wird mit der Aufgabe konfrontiert, einen Habitus sowohl zu aktualisieren als auch zu thematisieren. Zur mehrfachen Rühmung Dietrichs als gezogenlich und mit zuhtin vgl. u.a. V. 916, 1096 und 2221. Versangaben nach: Bennewitz, Ingrid / Knoll, Beatrix / Weichselbaumer, Ruth (Hrsg.), König Rother, Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein, Stuttgart 2000 (RUB 18047). Dies lässt sich mit der Beobachtung Christian Kienings verbinden, dass höfische Kultur sowohl in der literarischen Darstellung aufgeschobener Gewalt durch Listhandeln als auch im Distanzgewinn gegenüber Erzählmustern mit erhöhter Komplexität experimentiert; vgl. ders., Arbeit am Muster, in: ders., Zwischen Körper und Schrift [Anm. 13], S. 130–156. Ehrismann, Gustav, Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems, in: ZfdA, 56/1919, S. 137–216, Wiederabdruck in: Wapnewski, Peter (Hrsg.), Gustav Ehrismann, Kleine Schriften, München 1969. Zur Debatte um Ehrismanns Beitrag vgl. Eifler (Hrsg.), Ritterliches Tugendsystem [Anm. 3].

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von der »gewaltsame[n] Systemkonstruktion«29 einer »höfischen Morallehre«30, so belegen die Forschungen besonders von Stephen Jaeger die ungebrochene Aktualität des begriffs- und konzeptgeschichtlichen Normenparadigmas.31 Eine fruchtbare Alternative könnte demgegenüber in der Verbindung von Kulturanthropologie und historischer Semantik bestehen. Sie könnte einen methodischen Blick auf jene literarischen Vollzugsformen entwickeln, in denen Tugenden auf spannungsvolle Weise zwischen Normkonstitution und Normsubversion pendeln.32 An den konkreten Verwendungen von Tugendbegriffen wie zuht lässt sich in der höfischen Epik studieren, dass Tugenden in narrative Handlungsspiele eingebettet sind, die sich mit Pierre Bourdieus Konzept des Habitus als »Körper gewordene[m] Spiel«33 beschreiben lassen. Als Vollzugsformen von Habitualisierung zielen diese Narrative nicht in erster Linie auf Entwicklung eines Bewusstseins, sondern aktualisieren praktische und reflexive Dispositionen durch Wiederholung.

III. Bourdieus Habituskonzept Bourdieu entwickelte den Begriff des Habitus in Auseinandersetzung mit Ernst Panofskys Studie Gothic Architecture and Scholasticism (1952), die er ins Französische

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Wentzlaff-Eggebert, Friedrich-Wilhelm, Ritterliche Lebenslehre und antike Ethik, in: DVjs, 23/1949, S. 252–273, hier S. 253. So überschreibt Ehrismann seinen Exkurs zur Normativität höfischer Literatur, in: Die Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, Bd. 2, Die Mittelhochdeutsche Literatur II. Blütezeit. Erste Hälfte, München 1927, S. 19–24; Wiederabdruck in: Eifler (Hrsg.), Ritterliches Tugendsystem [Anm. 3], S. 85–92. Vgl. Jaeger, C. Stephen, Beauty of Manners and Discipline (›schoene site‹, ›zuht‹). An Imperial Tradition of Courtliness in the German Romance, in: Bircher, Martin (Hrsg.), Barocker LustSpiegel. Studien zur Literatur des Barock, Amsterdam 1984 (Chloe 3), S. 27–45; ders., The origins of courtliness. Civilizing trends and the formation of courtly ideals 939 – 1210, Philadelphia 1985 (The middle ages). Dt. Übersetzung: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter, übers. v. Sabine Hellwig-Wagnitz, Berlin 2001 (Philologische Studien und Quellen 167). Zu diesem Phänomen bestehen Ansätze mit Modellcharakter, an die anzuknüpfen wäre: vgl. z.B. Müller, Jan-Dirk, Die ›hovezuht‹ und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ›Halber Birne‹, in: JOWG, 3/1984–85, S. 281–311; Neudeck, Otto, Das Spiel mit den Spielregeln. Zur literarischen Emanzipation von Formen körperhaftritualisierter Kommunikation im Mittelalter, in: Euphorion, 95/2001, S. 287–303; Dietl, Cora, ›Violentia‹ und ›potestas‹. Ein fuchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ›Reinhart Fuchs‹, in: Lähnemann / Linden (Hrsg.), Dichtung und Didaxe [Anm. 8], S. 41–54. Bourdieu, Pierre, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/M. 1998 (Edition Suhrkamp N.F. 985), S. 145.

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übersetzte.34 Seine Begriffsarbeit zum Habitus setzt so gesehen eine Konzeptbildung fort, die in die mittelalterliche Theologie und Philosophie selbst zurückreicht, wo sie eine zentrale Rolle bei der Definition der ›virtus‹ als ›habitus‹ spielt.35 Dante kennzeichnet in seiner Sprachtheorie die quasi-natürliche Anverwandlung einer Zweitsprache als ›habitus‹ (De vulgari eloquentia I,1). Und die spätmittelalterliche Lexikographie greift auf das Konzept der Habitualisierung zurück, um auch Tugendbegriffe wie zuht als habitus zu beschreiben, quem magister generat discipulum eum informando; Habitualisierung zielt hier auf die Verflechtung körperlicher und mentaler Dispositionen durch körperliche und mentale Instruktion – durch docere, uerberare, admonere, castigare.36 Das Konzept des Habitus ist also schon im Mittelalter selbst prominent, auch wenn es bislang allenfalls ansatzweise auf den höfischen Roman bezogen worden ist.37 34

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Bourdieus Ausführungen zum Habitus durchziehen eine Reihe von Untersuchungen. Vgl. ders., Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 139–203; Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1987 (stw 658), S. 97–205; Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992 (Schriften zu Politik & Kultur 1), S. 31–81; Reflexive Anthropologie, Frankfurt/M. 1996, S. 30–34 u. 147–212. Eine besonders konzise Darstellung findet sich in Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 1992 (stw 1066), S. 97–147. Dazu zusammenfassend: Fröhlich, Gerhard, Kapital, Habitus, Feld, Symbol. Grundbegriffe der Kulturtheorie bei Pierre Bourdieu, in: Mörth, Ingo (Hrsg.), Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu, Frankfurt/M., New York 1994, S. 31–55, sowie ausführlich Krais, Beate / Gebauer, Gunter, Habitus, Bielefeld 2002 (Einsichten. Themen der Soziologie). Thomas von Aquin etwa bezeichnet mit dem Begriff habitus dauerhafte Anlagen, die zwischen Potenz und Handlung vermitteln: habitus quodammodo est medium inter potentiam puram et purum actum (S. Th. I, 87, 2c). Thomas differenziert dabei das aristotelische Tugendkonzept der héxis weiter aus und stellt neben natürliche, durch Einübung gefestigte Habitusformen wie den habitus corporis, habitus activus oder habitus cognitivus einen durch göttliche Gnade verliehenen Habitus. Vgl. zusammenfassend Schütz, Ludwig (Hrsg.), Thomas-Lexikon, Faksimile-Neudruck der 2. Aufl. Paderborn 1895, Stuttgart 1983, s.v. habitus, S. 350–355. Vgl. Grubmüller (Hrsg.), Vocabularius Ex quo [Anm. 12], Bd. 3, S. 794f. Vgl. Wolf, Gerhard, Verborgene Kalküle. Pierre Bourdieus ›Reflexive Anthropologie‹, Erecs und Iweins Habitus und die ›Conditio humana‹ des Interpreten, in: Peters (Hrsg.), Text und Kultur [Anm. 5], S. 215–244; Schmitz, Silvia, Das Ornamentale bei Suchenwirt und seinen Zeitgenossen. Zu strukturellen Zusammenhängen zwischen Herrschaftsrepräsentation und poetischen Verfahren, in: Ragotzky, Hedda / Wenzel, Horst (Hrsg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, S. 279–302. Zum Interpretationspotenzial von Bourdieus Habituskonzept für religiöse Texte vgl. Hasebrink, Burkhard, ›sich erbilden‹. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den ›Rede der underscheidunge‹ Meister Eckharts, in: Speer, Andreas / Wegener, Lydia (Hrsg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin, New York 2005 (Miscellanea mediaevalia 32), S. 122–136; Beckwith, Sarah, Christ’s Body. Identity, Culture and Society in Late Medieval Writing, New York 1993, insbes. S. 104–111; Breen, Katharine Helen, Habitus and the discipline of reading in late medie-

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Für Bourdieu bezeichnet der Habitus ein vorreflexives System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen zu praktischem Handeln, die ein kohärentes System von Handlungsschemata ausbilden, das implizit abrufbar ist.38 Zugleich fungiert der Habitus – und darin liegt die methodische Innovation Bourdieus sowohl gegenüber dem intentionalistischen Paradigma wie gegenüber strukturalistischen Ansätzen – auch als Erzeugungs- und Selektionsprinzip für Wahrnehmen, Denken und für das Vorstellen von Handlungsmöglichkeit in Gestalt evaluierter kognitiver Schemata. Habitus, so könnte man sagen, ist eine Form, die sowohl E f f e k t als auch kreative E r z e u g u n g s g r u n d l a g e von Praktiken und kognitiven Akten ist – beides wird durch Wiederholung zusammengeschlossen und vertieft. Bourdieus Schlüsselkonzept bei der Genese des Habitus ist die Inkorporierung, die Einverleibung kollektiver soziohistorischer Handlungsspiele zu individualen Dispositionen, die erworben werden, »ohne im Bewußtsein thematisiert oder erklärt werden zu müssen«.39 Ein einfaches Beispiel solcher dispositionell einverleibten Körperpraktiken und kognitiven Prozesse sieht Bourdieu im performativen Lernen von Sportarten: Wer eine Sportart beherrscht, vollzieht spezifische Spielzüge und wählt unter Handlungsoptionen im Akt des Vollzugs, ohne dass alle Voraussetzungen und Vorentscheidungen thematisiert werden müssten, die das Spiel ermöglichen. Wer Fußball spielen kann, folgt mit »praktischem Sinn« der immanenten Logik des Spiels.40 Doch erschließt die Spielmetapher nicht das gesamte theoretische Potenzial des Habitusmodells. Denn während erlernte Sportarten in den meisten Fällen weder Zuschauer noch Sportler darüber hinwegtäuschen, dass sie sich Lernprozessen und permanentem Training verdanken (Ausnahmesportler machen dies freilich vergessen), wird ein Habitus für seinen Träger unsichtbar – er wird gleichsam zu seiner zweiten Natur. Die Leistung von Lernen durch Habitualisierung besteht gerade darin, dass der Aufwand bewusster kognitiver Prozessierung weitgehend reduziert wird: Handlungen und Reflexionen, die habitual organisiert sind, können g e s c h e h e n . In mimetischer Teilnahme erzeugt das Subjekt eines Habitus den Schleier einer »illusio«41, die vorgängige Begründungen und Voraussetzungen von Handlungsspielen zugleich absorbiert und abblendet. Der Habitus lässt somit »als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte«42 seine Erzeugungsstrukturen unsichtbar werden: sie können nun als bloße Aktualisierungseffekte eines

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val England, Diss. Berkeley 2003. Für die Möglichkeit zur Einsicht in Teile der Studie vor ihrer Drucklegung bin ich Katharine Breen (Evanston) zu besonderem Dank verpflichtet. Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn [Anm. 34], insbes. S. 98–101 u. 397, sowie ders., Mechanismen der Macht [Anm. 34], S. 100f. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis [Anm. 34], S. 190. Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn [Anm. 34], S. 126. Ebd., S. 123. Ebd., S. 105.

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›natürlich‹ Vorhandenen erscheinen, wie sie die Beispiele höfischer Lernszenen demonstrierten. Dies vollzieht sich in permanenten Akten der Wiederholung und Erneuerung, in denen durch symbolische Gewalt die Möglichkeitsspielräume von Praxis und Reflexion konstituiert, abgegrenzt und gegen Überschreitung isoliert werden.43 Handlungsoptionen und Reflexionen, die dem so gebildeten spezifischen Spielraum von Handeln und Denken begründend vorausliegen oder diesen überschreiten, werden unterdrückt oder aber – wenn sie dispositionelle Grundstrukturen nicht gefährden – in einen modifizierten Habitus integriert. Bourdieus Habitusbegriff eröffnet für Untersuchungen zum Verhältnis von mittelalterlicher Literatur und Normativität eine Reihe methodischer Vorteile, von denen ich drei Aspekte besonders herausgreifen möchte: Normativität als Einübung in Möglichkeitsspielräume. Dass Normen selbst durch Darstellung von Verletzungen und Überschreitungen konstituiert werden können, stellt vor allem ›Vermittlungsmodelle‹ vor die schwierige Aufgabe zu beschreiben, auf welche Weise diese Akte auf positive Konzepte von Normen rückbezogen sind: Abweichung von Normativität hätte stets die Markierung von Normativität logisch vorauszusetzen. Nicht immer jedoch stellt höfische Literatur Normen in positiver Form heraus oder bildet explizite Kontrastpaare von Norm und Normabweichung, wie sie für die Anweisungspoetik von ›Tugendlehren‹ charakteristisch sein mögen. Das Konzept des Habitus ist dagegen ein Modell für Lernprozesse, die ohne explizite vorgängige Orientierung Möglichkeitsspielräume etablieren, deren Grenzen praktisch ausgelotet und restrukturiert werden können. Auch die Überschreitung von Normativität kann demnach als normkonstitutiv verstanden werden, insofern auch sie Schemata von Handlungsmöglichkeiten und Wertzuordnung aktualisiert und evaluiert, ohne dass dazu Normen als ›besprochener Sinn‹ aufgerufen oder explizit ›korrigiert‹ werden müssten. Normatives Handeln, das scheinbar konzeptuelle Referenz vermissen lässt, ist somit in der Perspektive von Habitualisierung nicht länger als Theorieproblem einzustufen. Emergenz der Gewaltpraxis von Tugenden. Bourdieus Konzept der Habitusformung kann plausibel die Spuren latenter Gewalt und fortgesetzter Arbeit aufnehmen, die auf irritierende Weise hinter den Vollkommenheitsvokabeln der höfischen Literatur zum Vorschein kommen. So verbergen beispielsweise Enites Eltern in Hartmanns Erec ihre verarmte Stellung mit zühten (V. 419) – aus Furcht vor sozialer Ächtung suchen sie situationsklug und doch mühevoll das Profil standesgemäßen Lebensstiles zu wahren: und swâ si der habe misten, ir nôt si bedahten mit zühten swie si mahten, daz mans iht würde gewar.

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Zum Aspekt der Gewalt als Motor und Sicherung von Habitualisierung vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn [Anm. 34], S. 228–235.

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daz ouch ir ie alsô gar diu armuot oberhant gewan, daz weste lützel ieman. dem wirte was diu arbeit die er von grôzer armuot leit dâ wider süeze als ein mete dâ engegen und im diu schame tete. (V. 417–427)

Fast könnte man darin eine Mikroanalyse der Lebensstile um 1200 sehen – einschließlich jener untergründigen arbeit, welche die feinen Unterschiede von Habitusformen hervorbringt und trägt. Im Licht von Habituskonstruktionen ist auch die Gewaltpraxis ritterlicher Zweikämpfe neu zu untersuchen, in denen der höfische Roman die Vorbildlichkeit seiner Akteure herausstellt. Insbesondere Freundschaftsund Verwandtenkämpfe wie etwa Erecs wiederholte Konfrontation mit Guivreiz oder Parzivals Kampf mit Feirefiz zielen nicht auf die Überwindung oder gar Ausschaltung von Gegnern, sondern werden auf den Erweis von Vorbildlichkeit im Kontext von Freundschaft und Genealogie hin erzählt. Symbolische Gewalt und komplexe soziale Beziehungsformen stellen sich in ihnen wechselseitig auf Dauer: Den Habitus des Zweikämpfers erzeugt somit nicht die erfolgreiche Überwindung des Gegners, sondern der Vollzug des Kampfs und seiner Spielregeln. Nichts wäre also gefährlicher, als den Widerstand des Gegenübers zur eigenen Distinktion zu verlieren – dies scheint mir die spannungsvolle Logik des ritterlichen Habitus zu sein, den die höfische Epik im beliebten Motiv vom ›Kampf mit dem Freund‹ auserzählt.44 Auch der Narrations- und Bildtypus von Tugendkämpfen der ›Psychomachie‹ belegt eine vielfältige Gewalt der Tugend, die sich an das Konzept der Habitualisierung von Normativität überzeugend anschließen ließe.45 Bereits in seinen Studien der kabylischen Gesellschaft weist Bourdieu auf besondere »Strukturübungen« der Kabylen wie rituelle Zweikämpfe und Spiele hin, »die häufig nach der Logik von Wette, Herausforderung oder Kampf strukturiert sind«.46 Lässt sich Aventiure als zentrales Strukturphänomen mittelalterlichen Erzählens vom Kampf mit der Serialität solcher »Strukturübungen« vergleichen? Der praktische Sinn von Aventiure wäre dann vielleicht weniger in einer wie immer gearteten Entwicklung zu suchen als umgekehrt bei

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Zum Motiv des Freundschaftskampfes vgl. die grundlegende Studie von Harms, Wolfgang, Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300, München 1963 (Medium aevum 1). Burkhard Hasebrink rekonstruiert Erecs Freundschaftskämpfe mit Guivreiz als Vollzugsmedium eines solchen Habitus, der Distinktion und Gleichrangigkeit miteinander verbindet: Erecs Wunde. Zur Performativität der Freundschaft im höfischen Roman, in: Oxford German Studies, 38/2009, S. 1–11. Vgl. dazu Friedrich, Udo, Die ›symbolische Ordnung‹ des Zweikampfs im Mittelalter, in: Braun, Manuel / Herberichs, Cornelia (Hrsg.), Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, München 2005, S. 123–159. Hier zitiert nach Bourdieu, Sozialer Sinn [Anm. 34], S. 138.

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Effekten der Wiederholung, die sowohl Handlungsschemata einüben als auch spezifische Spielräume von Reflexivität freisetzen. Die ›illusio‹ des Habitus – eine Naturalisierung zweiter Ordnung. Die Paradoxie von Habitusformen besteht auf der Ebene ihrer Praxis darin, dass sie Effekte und Voraussetzungen ihrer Erzeugung miteinander kurzschließen. Dadurch können sie als »strukturierende Strukturen […] fungieren, d. h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen«,47 die zunächst Resultate vorausliegender Handlungsspiele sind. Der Habitus erscheint so für seine Akteure nicht in seiner geschichtlichen und sozialen Kontingenz, sondern als zweite Natur. Die Erziehung Achills im Trojanerkrieg oder auch die genealogische Vererbung der milte Arofels an seine Nichte Gyburg in Wolframs Willehalm48 führen solche Naturalisierungen beispielhaft vor Augen: Erziehungsakte und Normentransfer sind hier in Semantiken des Natürlichen und Organischen eingelassen. Selbst wo die höfische Epik den beliebten Erzählkern der ›vorbildlichen Entwicklung trotz vorübergehender Ent-artung‹49 ausgestaltet, steht nicht blanke Determination durch adelige Anlagen im Vordergrund, sondern stets auch die Umdeutung von Kultur in Natur. So schildert etwa der Wilhelm von Wenden Ulrichs von Etzenbach, wie die adeligen Söhne Wilhelms nach der abrupten Konversion ihres Vaters von Kaufleuten als armer liute kinder (V. 5059)50 aufgezogen werden – um sich dennoch unbeirrt nâch ir art (V. 5056) zur vorzüglichen Tugend der zuht zu entwickeln: dise zwêne süezen knaben swie man sie hielt in smæhe, ir gebære wârn doch wæhe und zühteclîchen wol behuot. die lêre in gap ir reiner muot, ir geburt sich sô bewîste. (V. 5064–69)

Nicht die ethischen Anlagen allein verbürgen also die vorbildliche Entwicklung der Adelskinder. Vielmehr übt ihre adelige Potenz, ihr reiner muot, die Funktion einer mentalen Meisterin aus, die lêre erteilt: Eine Semantik des Lehrens und Lernens verschränkt sich so mit Metaphern natürlicher art und geburt. Dies ändert sich, als die Knaben nach einiger Zeit an den Hof des Königs Honestus geführt werden. Der

47 48

49 50

Ebd., S. 98. Vgl. Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Text der Ausgabe von Werner Schröder. Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke, 3., durchges. Aufl., Berlin 2003, V. 78,16–22: under al dem Terramer her / was ninder bezzer riter da / denne Arofel von Persia. / Gyburge milte was geslaht / von im: er hetez dar zuo braht, / daz ninder dehein so miltiu hant / bi sinen ziten was bekant. Zur Vererbungssemantik dieser Passage vgl. auch Müller, Höfische Kompromisse [Anm. 22], S. 53. Vgl. Müller, Höfische Kompromisse [Anm. 22], S. 54–56. Zitiert nach der Ausgabe: Rosenfeld, Hans-Friedrich (Hrsg.), Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden, Berlin 1967 (DTM 49).

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Herrscher sieht nun in den herausragenden Umgangsformen der Kinder ausschließlich das Ergebnis natürlicher Anlagen: daz sie wârn einer reinen fruht, / daz merkte er. im geviel ir zuht (V. 5335f.). Die letzten Spuren eines Erziehungsprozesses sind erzählerisch gelöscht. Im Wortfeld der Tugenden mittelhochdeutscher Epik lassen sich somit semantische Umbesetzungen beobachten, die den Habitualisierungscharakter von Vorbildlichkeit anzeigen und zugleich verbergen: sie verschieben im Wilhelm von Wenden die Deutungsfelder von ›natura‹ über ›nutritia‹ zu einer ›natura‹ zweiter Ordnung. Bourdieus Habituskonzept kann Detailuntersuchungen zu solchen semantischen Umbesetzungen instruieren. Als theoretischer Begriff ließe sich ›Habitualisierung‹ damit zu einer methodischen Schnittstelle zwischen historischer Semantik und Kulturanthropologie von Normativität entwickeln.

IV. Dimensionen des Habitus in höfischer Epik Aus den zentralen Gegenstandskomplexen der höfischen Literatur, an denen dieses Modell zu erproben wäre, möchte ich das Phänomen des Aventiureerzählens näher beleuchten.51 Mit Bourdieus Überlegungen zum Habitus lassen sich Semantiken und Strukturen iterierenden Aventiureerzählens zusammenführen. Ich möchte dies zunächst am Beispiel eines speziellen Moments von Aventiure erläutern: der Semantik und Struktur ihrer Initiation. Ein einschlägiges Beispiel solcher Auftaktsituationen bietet Hartmanns Erec gleich zu Beginn seiner ersten Aventiureserie nach dem verligen. Erec und Enite rüsten sich zum gemeinsamen Ausritt: nû riten si beide âne holz niuwan heide, unz daz si der tac verlie. dô diu naht ane gie, schône schein der mâne. nâch âventiure wâne reit der guote kneht Êrec. nû wîste si der wec in einen kreftigen walt:

51

Zum Forschungsstand zu Aventiure vgl. die Beiträge in Dicke / Eikelmann / Hasebrink (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes [Anm. 10], dort auch mit Hinweisen zur älteren Forschung: Lebsanft, Franz, Die Bedeutung von altfranzösisch ›aventure‹. Ein Beitrag zu Theorie und Methodologie der mediävistischen Wort- und Begriffsgeschichte, S. 311–339; Mertens, Volker, Frau ›Âventiure‹ klopft an die Tür, S. 339–347; Bleumer, Im Feld der ›âventiure‹ [Anm. 10], S. 347–369; Schnyder, Mireille, Sieben Thesen zum Begriff der ›âventiure‹, S. 369–377; Strohschneider, Peter, ›âventiure‹-Erzählen und ›âventiure‹-Handeln. Eine Modellskizze, S. 377–385.

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Bent Gebert den hâten mit gewalt drîe roubære. (V. 3106–16)

Mit dieser Passage leitet der Erzähler vom höfischen Raum in den Aventiureraum des Romans über. Charakteristisch für die Perspektive des Aventiureritters Erec ist, dass seine Intentionalität des Suchens (Erec reitet nâch âventiure wâne) plötzlich auf eine Strukturinstanz hin umschlägt, welche dem Akteur die Handlungsentscheidung der Wahl abnimmt: Der Weg selbst weist Erec und Enite zu ihrer ersten Station. Dieser Umschlag eines Suchens in die Fügung eines ›Zukommenden‹ ist für die Aventiure geradezu zentrales Programm – ein Programm jedoch, dessen etymologische Basis, das vulgärlateinische Partizip der Zukunft *adventura, sich erst in der höfischen Literatur des 12. Jahrhunderts zu jener Erzählparadoxie entfaltet, die der Habitusbegriff erhellen könnte. Während die ältesten Wortbelege des altfranzösischen Lehnworts im Alexiuslied und den Chansons de geste vor allem das von subjektivem Wollen unbeeinflussbare Walten eines jenseitigen Schicksals und Geschicks in den Vordergrund stellen, wird mit Chrétiens Erec et Enide erstmals eine deutliche kollokationale Unterscheidung der Ausdrücke ›aler querre aventure‹ und ›trover aventure‹ greifbar.52 Um es zu pointieren: Höfische Ritter können nun zugleich Aventiure suchen und auf Aventiure stoßen. Doch werden damit nicht einfach komplementäre Möglichkeiten nebeneinander gestellt. Chrétiens Erzähler paradoxiert die Semantik von Aventiure, indem sich die Intentionalität des Ritters auf etwas richtet, das jenseits des Verfügungsbereichs subjektiver Absicht angesiedelt ist. Bourdieus Konzept des Habitus bietet ein plausibles Modell, um sowohl die paradoxe Semantisierung dieser Auftaktsituationen von Aventiure als auch ihr serielles Erzählen aufzunehmen. Auch für Habitusformen gilt, dass sie auf Bewusstseinsebene ihrer Akteure Optionen für Intentionalität und Reflexion freisetzen, dies jedoch nur innerhalb vorselegierter Spielräume, die durch Wiederholung zu quasi-objektiven, ›naturalisierten‹ Strukturen verstetigt werden. In den Auftaktsituationen höfischer Aventiuren laufen Intentionalität und nicht-intentionale Strukturbildung in paradoxen Konstellationen zusammen, und diese Konvergenz bestimmt auch den Fortgang der kämpferischen Bewährung: Erscheint die Aventiureherausforderung aus Figurenperspektive zunächst kontingent, so erweisen sich ihre Umstände schließlich doch immer als ›passend‹ zum Profil des Ritters und seiner Ausstattung. Die habituale Vortrefflichkeit des Aventiureritters besteht dementsprechend darin, »alles richtig zu machen, ohne alles zu wissen«.53 Zu den Eigenschaften höfischen Erzählens könnte gehören, genau dieses Oszillieren von Habitualisierung thematisch herauszustellen und zu vollziehen.

52 53

Vgl. Lebsanft, Die Bedeutung von altfranzösisch ›aventure‹ [Anm. 51]. Störmer-Caysa, Uta, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007 (de Gruyter Studienbuch), S. 164–170 [zur Kontingenz von Aventiure], hier S. 168.

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In dieser Perspektive lässt sich zudem berücksichtigen, dass höfische Texte anhebende Aventiurefahrten häufig und selbst in initialen Erzählsituationen als Wiederholung vorangegangener Aventiuren inszenieren. So werden Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein durch die Erzählung des Ritters Calogrenanz/Kalogrenant vom Zauberbrunnen zur ersten Suche nach Aventiure stimuliert – der ersten Aventiure geht immer schon Aventiure voraus. Ähnlich wird auch in der ›Reise‹-Fassung der Brandanlegende das Aventiureerzählen als zyklisches Anschließen von Wiederholungshandeln generiert. Brandan wird auferlegt, den verbrannten Codex über die Monstrositäten und Wunder Gottes wiederherzustellen, indem er die repräsentierten Stationen und Begebenheiten auf einer mehrjährigen Seereise selbst nachvollzieht. Die Brandanlegende verkettet damit Wiederherstellung, Wiederholung und Erneuerung des verbrannten Codex zur Erzählstruktur. ›Habitualisierung‹ kann die Frage auch nach solcher Rekursivität von Handlungsmotivationen auf makrostruktureller Ebene des Erzählens methodisch leiten, bei denen die Initiation von Handlung als Erneuerung entworfen ist.54 Die Perspektive von Habitualisierung ermöglicht, im Phänomen der Aventiure weniger eine »Probe und Nachweis ganz individueller Tüchtigkeit« und ein erzählerisches »Mittel zu innerer Vervollkommnung […] zum Selbstverständnis und zur Selbstverwirklichung des Individuums«55 sehen zu müssen als vielmehr ein Erzählen im Modus von Wiederholung und Variation, das auf einer mittleren Ebene zwischen Intentionalität und subjektübergreifender Strukturierung Figuren profiliert. Es kennzeichnet diese Ebene der Habitualisierung, dass sie einerseits Handlungssteuerung und Reflexion auf Figurenebene ermöglicht, andererseits aber deren Spielräume naturalisiert und verstetigt (der Weg führt Erec und Enite; die Winde treiben das Segelschiff des Gregorius).56 Die eigentümliche Gelassenheit des Aventiureritters demonstriert diese Paradoxie von Habitualisierung als Haltung: zugleich selbst zu agieren und sich doch nur in eine implizite Logik einzulassen.

54

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56

›Wiederholung‹ und ›Erneuerung‹ bilden in der Brandanlegende also nicht nur einen epistemischen Umbruch zwischen Buch- und Erfahrungswissen ab, wie ihn Strohschneider, Peter, Der Abt, die Schrift und die Welt. Buchwissen, Erfahrungswissen und Erzählstrukturen in der Brandan-Legende, in: Scientia Poetica, 1/1997, S. 1–34, beschrieben hat. In ›Erneuerung als Wiederholung‹ ist auch die Grundstruktur von Habitualisierung eingezeichnet, die den zweifelnden Abt Brandan schließlich bändigt. Strasser, Ingrid, Das Ende der Aventiure. Erzählen und Erzählstruktur im ›Garel‹ des Pleier, in: Schulze-Belli, Paola / Dallapiazza, Michael (Hrsg.), Liebe und Aventiure im Artusroman des Mittelalters. Beiträge der Triester Tagung 1988, Göppingen 1990 (GAG 532), S. 133– 150, hier S. 143. Vgl. Paul, Hermann (Hrsg.), Hartmann von Aue, Gregorius, neu bearb. v. Burghart Wachinger, 15., durchges. und erw. Aufl., Tübingen 2004 (ATB 2), V. 1831–41: er gebôt den marnæren / daz si den winden wæren / nâch ir willen undertân / und daz schef liezen gân / swar ez die winde lêrten / und anders niene kêrten. / ein starker wint dô wæte: / der beleip in stæte / und wurden in vil kurzen tagen / von einem sturmweter geslagen / ûf sîner muoter lant.

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Bent Gebert

Doch auch wo höfische Epik im engeren Sinne Normen zur Diskussion stellt und dies mit dem Thema Aventiure verflicht, begegnen Szenarien der Habitualisierung. Ein besonders raffiniertes Beispiel liefert die zentrale Entscheidungsszene in Hartmanns Gregorius. Sie entspinnt sich als Dialog zwischen Gregorius und dem Abt des Inselklosters, der Habitualisierung sowohl thematisch verhandelt als auch implizit vollzieht. Ausgangspunkt des Gesprächs über verschiedene leben bildet ein Desaster der Identität – die Scheltrede der Fischersfrau stürzt Gregorius in grundsätzliche Zweifel: ich enbin niht der ich wânde sîn (V. 1403). Sogleich eilt er zum Abt als seinem Ratgeber und geistlichen Vater, der die Beschämung und zornigen Fluchtgedanken seines Musterschülers sofort zu leiten sucht. Der Abt ruft ihn zur besonnenen Wahl der besten Lebensform auf: got hât vil wol ze dir getân: er hât von sînen minnen an lîbe und an sinnen dir vil vrîe wal gegeben, daz dû nû selbe dîn leben maht schephen unde kêren ze schanden oder ze êren. nû muostû disen selben strît in disen jâren, ze dirre zît under disen beiden nâch dîner kür scheiden. (V. 1436–46)

Anders als in der altfranzösischen Vie du pape saint Grégoire geht es bei Hartmann um eine Grundsatzentscheidung über unterschiedliche Laufbahnen.57 Alles wirft der Abt in die Waagschale, physische Ausstattung (an lîbe) wie mentale Dispositionen (an sinnen). Dabei geht es um eine scheinbar autonome Entscheidung: Gregorius sei vil vrîe wal gegeben, nun sein Leben aus eigener Entscheidung zu Ehre oder Schande zu wenden. Doch so geschickt der Abt Gott als Letztgaranten dieser Wahlsituation ins Spiel rückt, so wenig folgt Gregorius der Empfehlung zum monastischen Habitus. Die Szene ist nicht zuletzt als Diskurs über normative Orientierung lesbar, in der Habitualisierung argumentativ zur Disposition gestellt wird: Wiederholt mahnt der Abt zur Orientierung an tugent und êre und warnt vor laster und spot (V. 1452f.; vgl. auch V. 1442), wiederholt erinnert er Gregorius an seine habituelle Prägung als Jungkleriker: dû bist der phafheit gewon: / nû enziuch dich niht dâ von – wer fünfzehn Jahre

57

Die Vie stellt der Empfehlung zum Klosterleben unvermittelt Grégoires Präferenz für den Ritterstand zur Seite – weder wird so eine Wahlsituation herausgestellt, noch werden Lebensformen verhandelt; vgl. La vie du pape Saint Grégoire ou La légende du bon pécheur. Text nach der Ausgabe von Hendrik Bastiaan Sol. Mit Übers. und Vorw. v. Ingrid Kasten, München 1991 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 29), V. 1111–36.

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lang im Kloster erzogen worden sei, müsse sein Leben lang gebâren nâch den phaffen (V. 1463f.; vgl. auch V. 1549–57). Gregorius’ Einwände sind plausibel und überraschend zugleich. Nicht nur die Furcht vor sozialer Ächtung als ellender kneht (V. 1408; 1398) treibe ihn fort (vgl. V. 1426; 1490); ebenso peinige ihn das bloß negative Identitätsbewusstsein: ich weiz nû daz ich niene bin / disses vischæres kint (V. 1494f.). Eine ganz andere Abstammung hält er für möglich – was, wenn er tatsächlich von adeliger Geburt wäre? Damit wäre neben der materiellen Ausstattung die entscheidende Voraussetzung zur Ritterkarriere erfüllt, die Gregorius ersehnt (V. 1503). Diese Wendung ist durchaus erstaunlich, wie sich sowohl im Hinblick auf die Informationslage zeigt, in der sich Gregorius befindet, als auch auf alternative Wahlmöglichkeiten, die Gregorius offenstünden. Gregorius sind die Zeichen seiner Adelsbürtigkeit zunächst verborgen. Erst nachdem er seinen Entschluss zur Ritterschaft argumentativ durchgesetzt hat, eröffnet ihm der Abt seine mütterliche Mitgift; erst nach der Streitsequenz erfährt der Zögling somit, er sei tatsächlich von hôher geburt, von rîcher habe, / der er ê niht enweste (V. 1754f.). Ohne also von seinem adeligen Herkommen zu wissen, bekennt sich Gregorius zum Rittertum seiner imaginären Aventiuren, die er während der Schulstunden ritt (vgl. V. 1566–1620). Was aber macht die ritterliche Lebensform für Gregorius zu einer so vorzüglichen, naheliegenden Option? Man wird finale und erzählstrukturale Handlungsmotivationen in dieser Episode nicht unterschätzen dürfen; so verlangt schon das Erzählschema von ›exile and return‹, dass Gregorius die Rolle des ritterlichen Befreiers einnimmt, um das Land seiner Mutter retten zu können.58 Doch scheint mir entscheidend, dass die gesamte Dialogszene nicht restlos in strukturorientiertem Erzählen aufgeht: sie führt eine komplexe Diskussion um Wahlmöglichkeiten und Habitualisierung vor, bei der sich reflexive und performative Dimensionen des Habitus verschränken. So argumentieren sowohl der Abt als auch Gregorius wiederholt reflexiv mit Habitusformen, wenn sie einander gegenseitig auf die große gewonheit (V. 1564) und Übung aufmerksam machen, die Gregorius während seiner Klosterjahre erworben habe. Entsprechend sieht ihn der Abt in seinen Verhaltensformen auf einen monastischen Habitus der schuole geprägt: swer ze schuole belîbe unz er dâ vertrîbe ungeriten zwelf jâr, der müeze iemer vür wâr gebâren nâch den phaffen.

58

Vgl. hierzu ausführlich Strohschneider, Peter, Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ›Gregorius‹, in: Huber, Christoph / Wachinger, Burghart / Ziegeler, Hans-Joachim (Hrsg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 105–133.

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Bent Gebert dû bist vil wol geschaffen ze einem gotes kinde und ze kôrgesinde: diu kutte gestuont nie manne baz. (V. 1549–57)

Verstetigende Übung, quasi-naturale Disposition, ein stimmiges äußeres Erscheinungsbild – so ließen sich stichwortartig die Aspekte von Gregorius’ Habitualisierung umreißen, wie sie der Abt herausstreicht. Gregorius’ Replik schmiegt sich dieser Habituslogik konsequent ein, indem sie diese mehrfach überbietet und virtualisiert: Äußerlich zum Klosterleben gezwungen, habe er sich doch mental von Kindesbeinen an in imaginären Turnierkämpfen geübt und einen ebenso natürlichen, freilich virtuellen Habitus des Rittertums erworben (V. 1566–1620).59 Geradezu als Vorzugsoption stilisiert Gregorius sein inneres Rittertum, indem er Mühe und Aufwand allein der Klostererziehung zuschreibt – im Geiste turniere er dagegen âne des lîbes arbeit (V. 1610). Und auch das äußerliche ›Passen‹ des Habitus, das der Abt herausgestrichen hatte, kontert Gregorius mit einem ästhetischen Akzent: mit fliegenden Beinen sehe er sich so schön, als ob er wære gemâlet dar (V. 1607). Andererseits verfolgt der Dialog eine implizite, performative Logik zweiwertiger Unterscheidung, die das Gespräch über Habitusformen ihrerseits habitual präformiert. Vom Adelsgeschlecht zum Findelkind und Adoptivsohn einer Fischersfamilie und weiter zum Oblaten des Inselklosters durchläuft Gregorius vor der betrachteten Entscheidungsszene ein breites Sozialspektrum möglicher Lebensformen der mittelalterlichen Gesellschaft. Dennoch stellt der Dialog nicht alle dieser Optionen zur Debatte: alternative Möglichkeiten werden zugunsten der Leitopposition ritterschaft (V. 1514) versus phaffen bilde (V. 1517) abgeblendet. Die Argumentationspassage durchzieht eine Serie normativer Unterscheidungen, die diese Oppositionslogik in ihrer zweiwertigen Struktur vertiefen, werden sie doch vom Abt ausdrücklich mit der Unterscheidung der leben des Ritters und des Klerikers analogisiert. Ze schanden oder ze êren (V. 1442), griffel oder sper (V. 1590): die Sprache des Habitus reduziert die Kontingenz einer Wahl zum notwendigen Entweder-oder. Nicht so sehr die Diskussion über Wertfragen rivalisierender Habitusformen begründet also die performative Dimension von Habitualisierung in der gesamten Episode, sondern das erzählerische Arrangement von Optionen, die bereits vorselegiert sind. Die Logik eines solchen ›Habitus des Erzählens‹ produziert somit die zweiwertige Unterscheidung implizit vor, die dann als ›erzählter Habitus‹ der Konkurrenz prozessiert wird. Es entsteht das Erzählparadox einer Wahl, bei der Gregorius eigentlich keine Wahl hat – so natürlich scheint seine Bahn vorgezeichnet. 59

Der Erzähler authentifiziert diesen Anspruch zusätzlich, indem er prestigeträchtige flämische Ortsbezeichnungen und französische Lehnformen in Gregorius’ Rede einstreut: Henegouwe, Brâbant, Haspengouwe (V. 1575f.); ze orse (V. 1577, 1594, 1598, 1601); puneiz (V. 1614); gejustierte (V. 1617).

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Es geht somit nicht nur um die Abgrenzungen, die der Abt zwischen Rittertum und Klerikerstand gezogen wissen will, Gregorius hingegen im Bild des gotes riter (V. 1534) hybridisieren möchte. Es geht um die implizite Logik eines Habitus, der Reflexivität gestattet, indem er Optionen als freie Grundsatzentscheidungen (vrîe wal) zur Diskussion stellt, dafür aber evaluierte Schemata verfügbar macht, welche nur b e s t i m m t e Unterscheidungen gestatten und nur b e s t i m m t e Optionen elaborieren – im Falle von Hartmanns Gregorius entlang der Differenz von ritterlichem und klerikalem Leben. Habituales Erzählen gelingt, wenn die Unterscheidung zwischen Rittertum und klerikaler Lebensform zur Leitunterscheidung vertieft wird, die begründungs- und alternativlos wirkt. So betrachtet kennzeichnet Habitualisierung besonders jene Erzählformen, die ihre ›abgewiesenen Alternativen‹ am konsequentesten löschen. Mit dem Konzept des Habitus stellt Bourdieus Soziologie ein Analysemodell zur Verfügung, das Reflexivität und Strukturlogik unlöslich miteinander verknüpft. Es lässt deutlich werden, dass Habitualisierung in Hartmanns Gregorius sowohl auf der Ebene des ›discours‹ als auch auf der Ebene der ›histoire‹ wirksam wird. Man darf darin ein Phänomen sehen, das den Aventiuresituationen des Artusromans durchaus strukturanalog ist – fast ließe sich daher bei der Dialogszene zwischen Gregorius und dem Abt von einer diskursiven Aventiure sprechen. In beiden Fällen werden Akte der freien Wahl inszeniert, über die sich Klosterschüler wie Ritter gegenüber Widerstand durchsetzen und gegenüber normativen Erwartungen behaupten. Gerade dabei aber aktualisieren sie die Logik von Habitusformen, die sie noch im scheinbaren Transgress bestätigen.

V. Plädoyer für eine Poetik normativer Habitualisierung Welche Beobachtungen zur Poetik von Normativität lassen sich aus diesen Überlegungen gewinnen? Erwerb und Vermittlung von Tugenden werden in der höfischen Literatur häufig in Prozessen narrativ entfaltet, die Habitualisierungsketten bilden. Ausgehend von Bourdieu lässt sich eine Perspektive schärfen, in der paradoxe semantische Koppelungen von Übung und Naturalisierung, von Instruktion und organischer Entwicklung, von Reflexivität und performativer Praxis sichtbar werden, mit denen der Normendiskurs der höfischen Epik operiert. Die höfische Epik präsentiert entsprechend die ›Durchbrechung‹ oder ›Subversion‹ von Tugenden nicht stets als deren Anderes, sondern lässt mit unkontrollierten Energien die Voraussetzungen von Akten der Habitualisierung hervorbrechen: Gewalt und Begehren scheinen darin als permanente Motoren höfischer Kultur auf. Auf welchen Positionen der literarischen Kommunikation ist Habitualisierung damit bei mittelalterlichen Texten anzusetzen? Habitualisierung kann sich als Konzept bewähren, das sich auf ›discours‹- wie auf ›histoire‹-Ebene von Texten ansetzen

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Bent Gebert

lässt. Literarische Imagination führt habitusspezifische Arbeit beispielsweise in Form von Aventiure symbolisch vor – Habitus bezeichnet damit eine Dimension der erzählten Welt.60 Zum anderen stehen ihre narrativen Selektionen im Austausch mit Produktions- und Rezeptionskontexten, die ihre Spielräume präformieren, ablehnen, modifizieren oder bestätigen – Habitus bezeichnet somit auch eine Dimension der Welt des Erzählens.61 ›Habitualisierung‹ zielt also nicht nur auf Figuren der Wiederholung; ›Habitus‹ erschöpft sich nicht in Übung. Es geht zugleich um Abblendungsdynamiken, die Handlungsrepertoires ermöglichen und in Geltung setzen, gerade indem sie Begründungsdiskurse unsichtbar halten. Damit könnte man schließlich auch die traditionelle Erwartung an den ›Leitwortstatus‹ von Tugendbegriffen revidieren: Wenn literarische Habitualisierung von Normativität darauf zielt, vorausliegende Komplexität von Handlungsspielen ›vergessen zu machen‹, dann könnte es umgekehrt zur Funktion von Tugendbegriffen in der höfischen Literatur gehören, die entstehende Kontingenz begrifflich zu kondensieren. Tugendbegriffe fungieren bisweilen als raffinierte Löschfunktionen. Sie wären nicht als eigentliche Marken oder ›ideale‹ Reflexionen des Tugenddiskurses zu begreifen, sondern umgekehrt als kommunikative Effekte von Normativität, die komplexe Handlungsspiele scheinbar auf den Begriff bringen und dadurch abblenden. Dies würde neues Licht auch auf die eigentümlich instabilen, schwankenden Semantiken von Tugendbegriffen werfen, wie sie an zuht zu beobachten sind. Ihre Unruhe hält Spuren einer geheimen Komplexität kultureller Normbildung fest, die eine Poetik der Tugend zu erforschen hätte.

60 61

Vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn [Anm. 34], S. 228–235. Vgl. auch Breen, Habitus and the discipline of reading [Anm. 37].

Hans-Joachim Ziegeler (Köln)

Norm und Narration Profilierung und Problematisierung des Feudalsystems in der Anfangssequenz des Lancelot-Prosaromans – eine Skizze Hans-Hugo Steinhoff zum Gedenken

Es gibt wohl nicht oft einen Romananfang, der merkwürdiger ist als der des ProsaLancelot,1 um genau zu sein: den Anfang des sog. Lancelot propre, d.h. jener Version des Lancelot-Zyklus, der die später hinzugefügten Teile L’Estoire del Saint Graal und L’Estoire de Merlin fehlen. In diesen, dem Lancelot propre vorangestellten Teilen, die auch dem deutschen Prosa-Lancelot fehlen, wird von der Vorgeschichte des Grals und von den Anfängen des Artusreiches und der Tafelrunde erzählt. Der französische und folglich auch der deutsche Lancelot propre hingegen beginnen nicht mit einer Ursprungs- und Entstehungsgeschichte großer und geheimnisvoller Mächte, sondern mit einer Katastrophe an den Rändern, in den »Marken« der Arturischen Herrschaft, in der marcken von Galla und von der Mynnren Brytanien.2 Erzählt wird zunächst von der Usurpation der Herrschaftsbereiche Bonewig und Gaune durch einen König

1

2

Der deutsche Prosa-Lancelot wird jeweils zuerst zitiert nach der Ausgabe von Kluge, Reinhold (Hrsg.), Lancelot. Nach der Heidelberger Pergamenthandschrift Pal. Germ. 147, Bd. I, Berlin 1948 (DTM 42), Bd. II, Berlin 1963 (DTM 47), Bd. III, Berlin 1974 (DTM 63), als »Kluge I, II oder III« mit Seiten- und Zeilenzahl. Der darauf folgende Nachweis bezieht sich auf: Steinhoff, Hans-Hugo (Hrsg.), Lancelot und Ginover I. Prosalancelot I, Frankfurt/M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 14); ders. (Hrsg.), Lancelot und Ginover II. Prosalancelot II, Frankfurt/M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 15); ders. (Hrsg.), Lancelot und der Gral I. Prosalancelot III, Frankfurt/M. 2003 (Bibliothek des Mittelalters 16); ders. (Hrsg.), Lancelot und der Gral II. Prosalancelot IV, Frankfurt/M. 2003 (Bibliothek des Mittelalters 17); ders. (Hrsg.), Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus. Prosalancelot V, Frankfurt/M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 18), als »Steinhoff I, II, III, IV, V« mit Seiten- und Zeilenzahl. Der französische Lancelot wird für den hier relevanten Teil zitiert nach: Micha, Alexandre (Hrsg.), Lancelot. Roman en prose du XIIIe siècle. Du début du roman jusqu’ à la capture de Lancelot par la Dame de Malohaut, Tome VII, Genève 1980 (Textes Littéraires Français 288), bzw. nach: ders. (Hrsg.), Lancelot. Roman en prose du XIIIe siècle. De la guerre de Galehot contre Arthur au deuxième voyage en Sorelois, Tome VIII, Genève 1982 (Textes Littéraires Français 307), zitiert als »Micha VII, VIII« mit Kapitel-, Abschnitt- und Zeilenangabe; die englische Übersetzung des Bandes entstammt: LancelotGrail. The Old French Arthurian Vulgate and Post-Vulgate in Translation, Norris J. Lacy, General Editor, Vol. II, Lancelot, Part I–III, translated by Samuel N. Rosenberg (I, III) and Carleton W. Carroll (II), New York, London 1993, zitiert als »Rosenberg« bzw. »Carroll« mit Seitenzahl und Spaltenangabe (»a« oder »b«) sowie Zeilenzahl. Kluge I, 1, 1; Steinhoff I, 10, 2; Micha VII, 1a, 1, 1.

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Hans Joachim Ziegeler

namens Claudas und vom Tod der Brüder Ban und Bohort, die Könige dieser beiden Reiche und Vasallen des Königs Artus sind. Mit dem Tod des Königs Ban, der Lancelots Vater ist, werden in diesem Anfang, ähnlich wie im Perceval/Parzival, die Voraussetzungen geklärt für die spezifische Situation des zentralen Helden des Romans und dessen Prädisposition als ›fahrender Ritter‹: Verlust des Erbes, Verlust des Vaters und der Mutter, Verlust demnach auch einer seiner Herkunft angemessenen Erziehung, die aber hier, anders als im Perceval/ Parzival, ersetzt wird durch ein königgleiches Aufwachsen in einem unsichtbaren Feenreich, im See der Fee Ninienne, schließlich Auszug von dort, um am Artushof Ritter zu werden, jedoch namenlos oder mit wechselnder, unsicherer Benennung. Ähnlich wie in Chrétiens Perceval oder Wolframs Parzival sind dies die Bedingungen, auch die Mängel, die den Weg des einzig auf seine Fähigkeiten angewiesenen und insofern einzigartigen Ritters motivieren und die Substitution des Mangels im Erwerb einer Dame und einer Herrschaft vorgeben. Anders als in jenen beiden Romanen, in denen der Status der ererbten, wenn auch verlorenen Herrschaft im feudalen System keiner weiteren Klärung bedarf, jedenfalls für das Verhältnis Percevals/Parzivals zu König Artus irrelevant ist, ist hier im Prosa-Lancelot jedoch die Stabilität von Macht und Herrschaft der beiden Könige Ban und Bohort und damit auch die Position der Erben beider Könige abhängig von der Stabilität der Herrschaft ihres lehensrechtlichen Oberherrn im Königreich Logres, von König Artus. Artus aber hat am Anfang der erzählten Zeit des Romans diese Herrschaft gerade angetreten, und sie wird bekämpft, da der Antritt des Erbes, die Übernahme der vom Vater Uterpandragon erst etablierten Herrschaft, offenbar keineswegs allseits akzeptiert ist. Der Verlust der Herrschaft der Könige Ban und Bohort und damit der Verlust der üblicherweise ererbten und angestammten Herrschaft ihrer Söhne – Lancelot im Königreich Bonewig bzw. Bohort und Lionel im Königreich Gaune – ist hier im Prosa-Lancelot, so verdeutlicht es der Roman mehrfach, primär verursacht durch eine vergleichbar kritische Situation im Königreich Logres nach dem Tod Uterpandragons, durch die Schwäche der Arturischen Herrschaft, die in den Großen Brytanien bekämpft wird und alle militärischen Kräfte bindet.3 3

Vgl. Da der konig Aramunt was dot und Uterpandragon, und da der konig Artus hatt das lant alles in synen handen, da hub sich das urlag groß in Brytanien an manger statt, und da urlaget manig hoh man; und was da der konig Artus begunde gewaltig konig zu werden. Nochda enhatt er die koniginne Gynovier nicht lang gehabt, und er hatt viel zu thun an maniger statt (Kluge I, 2, 10–15; Steinhoff I, 12, 19–25; Micha VII, 1a, 4, 5–11), als Eingeständnis des Königs formuliert: Kluge I, 49, 18–31; Steinhoff I, 144, 6–24. Die kritische Situation von Artus’ Herrschaft zu Beginn ihrer Existenz und zugleich am Anfang der Ehe mit Ginover wird auch später immer einmal wieder aufgerufen, z.B. in der Episode der Königinnen Furt; die Furt durch den Humber trägt diesen Namen, weil Ginover sie zufällig entdeckt hatte, auf der Flucht vor sieben Königen, die Artus, der nur weitere fünf adlige Gefährten bei sich hatte, bedrängten – das geschach in den ersten zweyn jarn da sie der kónig Artus genomen hett (Kluge I, 152, 25f.; Steinhoff I, 418, 21f.).

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Die Verlust-Situation des Romanhelden ist also nicht allein mit der Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit der Mutter Lancelots und in der Schwäche des junge[n] knebelin kleyn4 begründet, sondern vor allem in der Schwäche von Artus’ Herrschaft, wie sie sich auch in der Verdopplung von Lancelots Schicksal, an dem seiner beiden jüngeren Vetter Bohort und Lionel, zeigt. Auch sie verlieren ihr Erbe durch den Tod ihres Vaters, des Königs Bohort, des Bruders von König Ban, auch sie werden wie Lancelot von der »Frau vom See«, Ninienne, gerettet und wachsen ebenfalls in deren Feenreich auf. Beider Schicksal wird im Roman zuletzt auf die problematische Situation des obersten Lehensherrn aller, Artus’, zurückgeführt. Die Wiederholung eines analog angelegten Falles, die parallele Konstruktion des Ergehens sowohl von Lancelot als auch von Bohort und Lionel, und die je identische Begründung für beides legen eine systematische Schwäche des feudalen Systems bloß, wie es als gedankliches Konstrukt dem Roman zugrunde liegt, oder, wie es Lisa Jefferson formuliert, »it is an examination in depth of the inherent and irresolvable problems of this system«:5 Als besonders heikel gilt die nach zwei Seiten hin abhängige Rechtsstellung des sog. ›Zwischenherrn‹, welcher selbst Vasallen hat, aber zugleich Vasall eines anderen Herrn ist. Die Weitergabe bzw. das Erben und Antreten von Herrschaft in der Generationenfolge kann – unabhängig von der Rechtmäßigkeit dieses Vorgangs – nur gelingen, wenn die jeweiligen Lehensoberherren und/oder die jeweiligen Vasallen gegenüber dem ›Zwischenherrn‹ oder dessen Erben ihre truwe-Verpflichtungen wahren und die Herrschaft des ›Zwischenherrn‹ behaupten können gegenüber einem anderen Herrn, der diese Herrschaft nicht akzeptiert und der diese trúw, zu Recht oder zu Unrecht, nicht wahrt, der, je nach Perspektive, ein gerechter Herrscher oder ein verreter ist. In diesem Roman ist das eben jener, den Königen Ban und Bohort benachbarte, König Claudas, von dem es heißt: Der Claudas was ein konig und was vil gut riechter [»Richter, Herrscher«] und vil wise und was ein verreter und was man [»Lehensmann, Vasall«] des koniges von Gaune, das man nu heißet Franckrich.6 Es kommt dem Roman in der Tat darauf an, die Konkurrenz von Erbfolge und, beim Erbfall, freiwillig und neu eingegangener Über- und Unterordnung von herr und man mit den entsprechenden wechselseitigen Verpflichtungen als Ursache der Instabilität der Arturischen Herrschaft zu Beginn ihrer Existenz vorzuführen.7 Dies 4 5

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7

Kluge I, 1, 6; Steinhoff I, 10, 9; Micha VII, 1a, 1, 8. Jefferson, Lisa, Oaths, Vows and Promises in the first Part of the French Prose Lancelot Romance, Bern u.a. 1993 (European University Studies. Series XIII: French Language and Literature 181), S. 100. Kluge I, 1, 13–15; Steinhoff I, 10, 18–20 (danach zitiert); der altfranzösische Text hat statt riechter an der entsprechenden Stelle chevaliers, »Ritter« (Micha VII, 1a, 2, 4); zum Problem vgl. Steinhoff II, S. 793 z. St. Die Handbücher widmen der Wiederverleihung oder der Vererblichkeit von Lehen für die Nachkommen von Vasallen mehr Aufmerksamkeit als der Anerkennung der Herrschaft von Nachkommen eines verstorbenen Herrn durch die Vasallen des Verstorbenen; es scheint dies, folgt man Marc Bloch, auch eher ein Problem in den »so häufig gestörten

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zeigt sich daran, dass in den ersten beiden, in Kluges Edition 140 Seiten umfassenden Büchern des Romans, Die schmerzenreiche Königin und Lancelots Kindheit, weniger von Lancelot selbst, sondern weit mehr von den Folgen erzählt wird, die sich für die Vasallen der beiden Könige Ban und Bohort ergeben, nachdem Claudas sich ihrer Herrschaft bemächtigt hat. Der Technik des Entrelacement entsprechend, präsentieren die ersten Lancelot betreffenden Sequenzen den Helden als ein wahrhaft unbeschriebenes Blatt, der im Weiteren durch dauernde Mimikry, durch Verleugnen von Identität und Herkunft, die Erinnerung des Rezipienten an ebendiese Herkunft sporadisch wach hält. Das geschieht einmal in vagen Hoffnungen dreier Vasallen von Lancelots Onkel Bohort, es könne sich bei dem bewunderten und dem König Ban ähnlichen Knaben im See um den für tot gehaltenen Lancelot handeln.8 Lancelot selbst erfährt zuerst, ebenfalls in Form einer Vermutung, wegen seiner Ähnlichkeit mit Ban und wegen seiner gleich doppelt bewiesenen Freigebigkeit gegenüber Recht suchenden und der milte bedürftigen Adligen von einem man seines Vaters etwas über seine Herkunft; da er von dieser Herkunft zuvor jedoch nichts weiß, demonstriert der Roman nicht nur die Ähnlichkeit, sondern auch die Freigebigkeit als eine ihm angeborene, zumal er diese wahrhaft königliche Eigenschaft gegen seinen, offensichtlich nicht adligen, meister erst durchzusetzen hat.9 Eingelassen ist dieser gleichfalls als Vermutung geäußerte Rückverweis freilich in die Anreden der Frau vom See als königes kint, königes sun, die sie jedoch gerade in diesem Zusammenhang als metaphorische Rede ausgibt.10 Präzise in

8 9 10

Beziehungen der großen oder mittleren Barone zu den Königen oder Territorialfürsten, ihren Herren« (S. 287), zu sein. Gerade die Angehörigen dieses höchsten Adels sind jedoch die Protagonisten des Prosa-Lancelot und anderer Artusromane; in ihren Treubrüchen oder im Halten der trúw um jeden Preis lassen sich kasuistisch die Probleme der Vasallität in den Mittelpunkt stellen, die jedoch gerade das Lehen, das beneficium, als Sollbruchstelle der Vasallitätshierarchie vielfach ausklammert; nicht zuletzt dürfte die im Zusammenhang ganz unmotivierte Bemerkung über den »römischen König«, der nicht durch Erbfolge, sondern durch Wahl zum König werde (und danach folglich das homagium, die hommage oder die manschaft seiner Vasallen einen anderen Stellenwert erhalte), ein Reflex solcher Überlegungen sein: Und zu den zyten was Gaule [Frankreich] underthan zu Rome und gab dar dienst. Da enwart nymand konig, er enwúrd darzu erkorne (Kluge I, 1, 21f.; Steinhoff I, 10, 28–30; Micha VII, 1a, 2, 15–17). Zum Problem siehe Bloch, Marc, La Société féodale, Paris 1968, S. 271–281, das Zitat S. 333, in deutscher Übersetzung ders., Die Feudalgesellschaft, Frankfurt/M. u.a. 1982, S. 232–241, das Zitat S. 287; Ganshof, François Louis, Was ist das Lehnswesen?, 4. revidierte deutsche Aufl., Darmstadt 1975, S. 130f., 144–162 et passim; Mitteis, Heinrich, Lehnrecht und Staatsgewalt, Darmstadt 1974, S. 542ff., 638ff. Kluge I, 92, 20ff. (Leonces); I, 95, 36 – 96, 12 (Leonces, Lambegus); I, 111, 25–32 (Phariens, Lambegus); Steinhoff I, 258, 19ff.; 266, 29 – 268, 24; 310, 9–19. Kluge I, 38, 20 – 40, 25; Steinhoff I, 114, 3 – 120, 3; Micha VII, 9a, 13, 1 – 9a, 18, 18. Z.B. Kluge I, 40, 31f.; 41, 25 – 42, 9; Steinhoff I, 120, 11; 122, 15 – 124, 8; Micha VII, 9a, 19, 9 und 9a, 21, 11 – 9a, 22, 18.

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Zusammenhang gebracht werden Name und Herkunft für Lancelot erstmals beim Aufdecken des Sargs in der Dolorose Garde: In dißem grab sol Lancelot ligen von dem Lacke, des kóniges Banes son von Bonewig und Alenen synes wibes.11 Auch für die Welt außerhalb der engeren Umgebung Lancelots und der Lehensleute seines Vaters oder seines Onkels Bohort, d.h. in erster Linie für den Artushof, wird eine Verbindung Lancelots zu Ban oder dessen Gemahlin Alene, die inzwischen in ein Kloster gegangen ist, wiederum in großen Abständen eröffnet, gestuft nach Ungewissheiten, Vermutungen oder sicherer Enthüllung. Als erster verkündet ein Konverse, ehemals Adragarys der Brun geheißen, das Schicksal Alenes und Bans am Artushof und berichtet, dass Alene ein das schönst kint genommen worden sei.12 Später erinnert Banin, Bans Gefolgsmann und letzter Verteidiger Trebes, der Hauptstadt von Bans Land Bonewig, Artus an Bans Schicksal, glaubt aber, dass das Kind dot sy.13 Endlich erfährt Gawan Lancelots Namen von einer Botin der Fee Ninienne und verkündet Lancelots Namen und Herkunft am Artushof, was man da allererst vernimmt, wie es ausdrücklich heißt,14 und wenig später darf Ginover das Gleiche Galahot, dem größten Gegner von König Artus und engsten Freund von Lancelot, verkünden, was aber für Galahot nur noch in der Bestätigung des erhofften königlichen Rangs vom Sieger der außerordentlichen Aventiuren von Bedeutung ist.15 Es gibt demnach im weiteren Erzählen des Lancelot-Romans offenbar nicht allzu viele Rückgriffe auf dessen Vorgeschichte, also die Bücher Die schmerzenreiche Königin und Lancelots Kindheit; die Vorgeschichte scheint seltsam separiert vom eigentlich für wichtig gehaltenen erzählten Geschehen, der Lancelot-Ginover-Liebe, der GralsQueste sowie dem Tod des Königs Artus und dem Ende seiner Herrschaft. Vielmehr zeigt sich selbst für die Hauptfigur des Romans, deren Identität gegenüber den anderen zentralen Figuren nur sukzessive und diskontinuierlich entfaltet wird, dass von den zu Beginn ausgebreiteten Informationen einzig Lancelots königliche Herkunft in den unterschiedlichen Adressierungen von Belang ist, dass aber vom Verlust des Erbes, vom Tod der Eltern als Bedingungen des Handelns der zentralen Figur, von Rache und Rückeroberung also, bis zum sog. Krieg in Flandern am Ende des Lancelot propre keine Rede ist. Und die Vertreibung des Claudas aus den von ihm eroberten Ländern ist nicht strategisches Ziel von König Artus oder auf eine Initiative Lancelots, Lionels oder Bohorts zurückzuführen, sondern Produkt eines Zufalls, eines Wunsches von Ginover, sich für eine Beleidigung durch Claudas gerächt zu sehen. Ja, nicht einmal Lancelots königliche Herkunft aus der Ban-/Bohort-Sippe ist so wich-

11 12 13 14 15

Kluge I, 165, 34–36; Steinhoff I, 454, 4f.; Micha VII, 24a, 32, 10f. (ohne den Zusatz und Alenen synes wibes). Kluge I, 48, 35; 49, 6–17; Steinhoff I, 142, 14; 142, 27 – 144, 5; Micha VII, 10a, 20, 16 (Adragains li Bruns); 10a, 22, 1–17. Kluge I, 117, 4; Steinhoff I, 324, 5; Micha VII, 20a, 12, 9. Kluge I, 219, 19–21; Steinhoff I, 594, 26–31; Micha VII, 42a, 2, 13–17. Kluge I, 297, 16–23; Steinhoff I, 802, 16–25; Micha VIII, 52a, 116, 4–13.

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tig, dass sie nicht später sogar ins Zwielicht geraten könnte, wenn in der Rede des toten Vorfahren Symeu auf dem Friedhof zu Gorre die Degradierung Lancelots gegenüber dem größeren, zukünftigen Helden Galaad auch mit der Herkunft, mit einem bis dahin unbekannten Vergehen von Lancelots Vater Ban, begründet wird.16 Aus der Vorgeschichte erhält vor allem Artus’ Versagen gegenüber seinem königlichen Vasallen Ban in der mehrfachen Anklage durch den Konversen, durch Banin und endlich durch einen wisen man17 in der entsprechenden Staffelung der Informationen und Artus’ Reaktionen darauf einiges an Gewicht. Vor allem die letzte Anklage in der für Artus überaus kritischen Phase der zweiten Schlacht gegen Galahot und dessen doppelt so starkes Heer bewertet das Versagen gegenüber Ban als die den Herrscher am meisten belastende der großen sunden, noch mehr als die uneheliche Geburt und die Vernachlässigung der von Gott gegebenen Herrschaftspflichten gegenüber den Schutzbedürftigen: Der gut man fragt yn ob er der großen sunden icht bichtig were worden die er hett von des konigs Bannes wegen von Bonewig, der in sym dinst dot blieb, ›und sin wip ist úmmer sitt enterbet gewesen und vertrieben‹, sprach der gut man; ›von irm kinde, das sie verlose, enwil ich nu nit vil sprechen, wann die ein súnd ist vil großer dann die ander‹, sprach er.18

Dies wiegt insofern noch mehr, als Artus in seiner zuvor öffentlich abgelegten Generalbeichte gerade diese Sünde gar vergeßen hat, obwohl sie doch, wie er weiß, fast groß, »sehr groß«, ist.19 Auch hier also wird deutlich getrennt zwischen dem möglichen Engagement für das kint Lancelot und der Verletzung des Schutz-Gebots vonseiten des Herrn, vonseiten des Königs Artus, für das Lehen Bonewig und für dessen Herren, den konig Ban, der in Artus’ dinst dot blieb. Erreicht wird die Konzentration auf den dienst-rechtlichen Aspekt von Artus’ Versagen durch das Motiv, dass Bans Erbe für tot gehalten 16

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Kluge I, 617, 4–9; Steinhoff II, 360, 27 – 362, 1: Diße abentur und alle die starcken abenture die der gut ritter enden sol die hettestu alle zu ende bracht, wann ein sunde, die din vatter der konig Ban det mit einer jungfrauwen sither das er din mutter gekaufft het, das gab dir das groß ungluck das du hast. Din rechter nam ist Lancelot nit, du wurt in dem tauff Galaad genant; wann din vatter nante dich selb also, wann sin vatter denselben namen het. Entspricht Micha III, 37, 40; dazu der Kommentar bei Steinhoff II, S. 1015f. Kluge I, 241, 32; Steinhoff I, 654, 11; zum entsprechenden uns preudons der Vorlage (Micha VIII, 49a, 17, 15); vgl. den Kommentar bei Steinhoff II, S. 902. – Zum Krieg in Flandern und dessen Vorgeschichte vgl. Kluge II, 547, 13 – 561, 14; 676, 15 – 695, 6; 704, 12 – 782, 12; Steinhoff IV, 176, 25 – 202, 19; 420, 6 – 456, 18; 476, 2 – 626, 17. Kluge I, 243, 27–32; Steinhoff I, 658, 31–37; in dessen Übersetzung: »Der weise Mann fragte ihn, ob er auch die schwere Sünde gebeichtet habe, die er König Bans von Bonewig wegen begangen habe, der in seinem Dienst gestorben sei, ›und seine Frau ist seither um ihr Land gebracht und vertrieben‹, sagte der weise Mann; ›von ihrem Kind, das sie verloren hat, will ich gar nicht weiter reden, denn die eine Sünde wiegt viel schwerer als die andere‹.« Entspricht Micha VIII, 49a, 21, 4–9. Kluge I, 243, 33; Steinhoff I, 660, 1f.; Micha VIII, 49a, 21, 10–13.

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wird, das seinerseits im Aufwachsen Lancelots im Verborgenen, im See der Ninienne, begründet ist. Da Lancelot zunächst für tot gilt, kann also Artus nichts für den Erben Bans tun, hat auch die trúw der Vasallen Bans gegenüber dessen Erben Lancelot keinen konkreten Anhalt außer einer gewissen Ähnlichkeit, ist in nichts anderem als eben der trúw und einer vagen Hoffnung begründet. Dieses Motiv hatte auch schon die Anagnorisis-Szenen, das Wiedererkennen Bans im nicht erkannten Lancelot durch den ritter und durch die drei Vasallen Bohorts, durch Leonces, Lambegus und Phariens, bestimmt, die aus ganz anderen Gründen mit Lancelot konfrontiert werden und demnach um so glaubwürdigere Zeugen seiner Ähnlichkeit und seines königlichen Rangs sind. Es gibt demnach durchaus vermittelnde, weil einander bedingende Verbindungsglieder zwischen Vorgeschichte und ›eigentlicher Erzählung‹,20 aber das Interesse der Vorgeschichte ist deutlich auf ein anderes gewichtiges Thema des ›historischen Romans‹ gerichtet als die Geschichte der Lancelot-Figur, auf die Kontinuität und Diskontinuität von Herrschaft und Vasallität. Für die Vorgeschichte aber, den Anfang des Romans, bedeutet das, dass trotz oder besser: wegen dieser genau kalkulierten, mittelbar und unmittelbar, aber diskontinuierlich und wie nebenbei angelegten Verknüpfungen mit den zentralen Partien des Romans die breit ausgefaltete und in immer neuen Varianten durchgespielte Geschichte der Gefolgsleute von König Ban und von König Bohort, insbesondere von des letzteren Vasallen, des Ritters Phariens, den Stempel des Überflüssigen zu tragen scheint, wie dies Lisa Jefferson noch einmal gegenüber den etwas anders akzentuierten Voten von Elspeth Kennedy oder Alexandre Micha vertreten hat. Für Elspeth Kennedy »a kind of cohesion is given to the romance from the beginning by the setting of the Lancelot story within a network of feudal relations«, insbesondere aber diene die Vorgeschichte dazu, »to bring out a series of parallels and contrasts between Claudas, who actively dispossesses a king, imprisons his children, and as a result runs into trouble with his vassals, and Arthur, attacked by unruly vassals, who is reproached not so much for what he has done, but for what he has not done to protect his faithful vassals […].«21 Auch Alexandre Micha sieht die Beziehungen von Vorgeschichte und ›eigentlichem Roman‹ eher auf thematischer Ebene; ähnlich einer Ouvertüre mache die »épisode de Pharien-Claudas« verständlich und bereite vor »les principaux thèmes qui seront développés au cours de la partition«, nämlich die »rapports entre vassal et suzerain«.22 20

21 22

Lisa Jeffersons Auffassung, dass »the narrative motivation for his [i.e. Lancelots] abstraction« einzig darin bestünde, dass »Lancelot has been removed from a world which could not guarantee his survival«, wird man entsprechend ergänzen müssen: Jefferson, Oaths [Anm. 5], S. 46. Kennedy, Elspeth, Lancelot and the Grail. A Study of the Prose ›Lancelot‹, Oxford 1986, S. 84f. Micha, Alexandre, Une composition dramatique: L’ épisode de Pharien-Claudas, in: ders., Essais sur le cycle du Lancelot-Graal, Genève 1987 (Publications Romanes et Françaises 179), S. 143–151, hier S. 143 und 147.

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»These explanations«, hält jedoch Lisa Jefferson beiden entgegen, »do not constitute a fully satisfactory reason for the extended development of this section of the narrative.« Statt dessen bietet sie eine andere Begründung für die Vorgeschichte an, die sie nun freilich noch mehr von der weiteren Erzählung abkoppelt: Hier, in der »opening section«, spiele »original new material« eine viel größere Rolle als »traditional material«; die Komposition dieser Materialien aber sei zentriert »around the problems of the feudal bond system and constitutes a fictionalised examination of these. The story may be set in the world of an imaginary Arthurian past, but the social problems discussed are those that were troubling early thirteenth-century France.«23 In ihrer aufschlussreichen, nach der Funktion von oaths, vows and promises für den Gang der Erzählung fragenden und diese kommentierenden Studie führt sie zahlreiche Parallelen aus zeitgenössischen Rechtstexten zum erzählten Geschehen an und kann so zeigen, dass »here, in these opening pages of the prose Lancelot, we see the theoretical problems of the law books brought to life. The medieval jurists have been concerned to […] lay down ground rules on the basis of which individual cases may be judged in accordance with social norms. The writer of this fictional text displays a deep familiarity with the legal points at issue, but his concern is to map out the areas of moral conflict and of social and individual psychological difficulty […].«24 Dieses Ergebnis hat nun freilich für den Zusammenhang des ersten Teils des Prosa-Lancelot mit dem ›Rest‹ nicht ganz unerhebliche Folgen. Nachdem Lisa Jefferson eher nebenbei bemerkt hat, dass »no one today is likely to argue that the Claudas-Pharien section is an extraneous accretion to the plot: yet no-one has yet been able to provide a fully satisfactory explanation for its structural rôle in the text that accounts as a whole for all the various elements of this episode«,25 bleibt für die »structural rôle« am Ende noch weniger als bei Micha und Kennedy: »The chief character, Lancelot, has been largely absent from these pages, but one of the results of the above effect is to permit interpretation of the excursus as a displaced hypothetical examination of what might have happened to the hero, had the Lady of the Lake not rescued him so opportunely. […] These early scenes prepare us to expect and accept his later rôle as the one man who can find a way, in Arthur’s world, to resolve otherwise insuperable difficulties by acting in ways that are outside the norm.«26 Etwas bündiger zusammengefasst könnte das Ergebnis also auch lauten: als juristische Analyse der Gegenwart des 13. Jahrhunderts mit Lösungsangeboten für »human problems«27 geglückt, erzählstrukturell aber nicht gelungen, viel Aufwand für ein minimales Ergebnis, für das man sich verschie-

23 24 25 26 27

Jefferson, Oaths [Anm. 5], S. 43f. mit Anm. 5. Ebd., S. 99. Ebd., S. 46 Anm. 12. Ebd., S. 97f. Ebd., S. 100.

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dene andere Möglichkeiten ausdenken kann und auf das in späteren Versionen des Romans gern und leicht verzichtet werden konnte.28 Hier wird man noch einmal nachfragen dürfen. Wie also wird in diesem Anfangsteil erzählt, welche Probleme und Handlungsnormen werden dabei entwickelt, welche Rolle kommt diesem Anfang des ›historischen Romans‹ für dessen Komposition zu, und gibt es nicht doch weitere Fäden, die die Vorgeschichte in das feste Gewebe (»firm texture«) des Romans integrieren?29 Der Roman, zumal der Anfang und die ersten Sätze der deutschen Version, erleichtert die Analyse nicht. Die Einleitung, vom ersten Satz In der marcken von Galla und von der Mynnren Brytanien bis etwa Sie [die Burg Trebe] was so starck das sie nymant kund gewinnen ane verhungern oder verretterye,30 bietet eine Vorgeschichte der Vorgeschichte, die die Voraussetzungen für die Situation der Erzählgegenwart sehr komplex und verdichtet und mit Rückgriffen auf verschiedene zeitliche Schritte bis zur Erzählgegenwart ›historisch‹ erklärt. Sie wird in ihren angenommenen territorialen Voraussetzungen und in ihrer zeitlichen Abfolge durchsichtiger, wenn sie in verschiedene zeitliche Schritte aufgefächert wird.31 Erster, anfänglicher Zustand: In den Grenzmarken zwischen der Mynnren Brytanien und Galla – zwischen der Bretagne im Westen und Gallien/Frankreich im Osten32 – liegen drei Königreiche: Bonewig, Gaune und Berri. Über diese Reiche herrschen die Könige Ban, Bohort und Claudas; alle drei sind – oder sollten sein – Lehensleute von Aramunt, dem König der im Westen gelegenen Bretagne.33

28 29 30 31

32 33

Ebd., S. 43 und 101. Kennedy, Lancelot and the Grail [Anm. 21], S. 79. Kluge I, 1, 1 – 2, 26; Steinhoff I, 10, 2 – 14, 5; entspricht Micha VII, 1a, 1–5; Rosenberg 3a, 1 – 3b, 28. Ich orientiere mich am deutschen Text, gleiche aber wie Steinhoff »nach Q« (= Micha) aus (vgl. Steinhoff II, S. 791, Kommentar zu 10,6); auch Elspeth Kennedy, Lancelot and the Grail [Anm. 21], S. 80f., erläutert die komplexe Vorgeschichte in ihrer ›historischen‹ Abfolge. Von »Westen« und »Osten« ist im Text keine Rede; beides ist hier der Verdeutlichung halber hinzugefügt. Kluge I, 1, 1–4; Steinhoff I, 10, 2 – 10, 6: In der marcken […] Bohort von Gaules; Kluge I, 1, 10–13; Steinhoff I, 10, 14–18: der konig Ban hett ein nachgebur […] Der Claudas was ein konig; Kluge I, 1, 16–19; Steinhoff I, 10, 22–26: von Aramůnde, der da was herre von Wenigen Brytanien […] und solt under im haben das rych von Bohorges; Kluge I, 2, 18–20; Steinhoff I, 12, 29–31: wann er [Claudas] man was gewesen des koniges Aramundes, durch den er syn lant hett verlorn als lang. Dies entspricht Micha VII, 1a, 1–5. Dass Claudas Herr der Stadt Bohorges und von dem Land umher, nämlich von Berrone oder jetzt dem »Verwüsteten Land«, ist resp. war und dass Berrone/Berri den beiden anderen Marken Bonewig und Gaune gleichgestellt ist, ist nur durch Kombination der verschiedenen Angaben, die über die Einleitung verstreut sind, zu klären; eindeutig gesichert wird es Kluge I, 28, 9f.; Steinhoff I, 84, 8f. (das lant und das rych das man da heißet das Wúst Lant Berri und Bohorges); vgl. Micha VII, 8a, 6, 7–10.

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Zweiter Zustand: Claudas akzeptiert die Lehensherrschaft Aramunts nicht, will ihm keinen dienst leisten und ist stattdessen man des Königs von Gallien/Frankreich, das seinerseits lehensabhängig ist von dem – gewählten – König von Rom. Wie es zu diesem Herrenwechsel gekommen ist, lässt der Text offen.34 Dritter Zustand: Aramunt, der König der Bretagne, überzieht daraufhin Claudas mit Krieg, doch dieser erhält den ihm zustehenden Schutz seines Herrn, des Königs von Gallien/Frankreich (in drei französischen Handschriften und danach im deutschen Text noch den der Romer gewalt), und der Krieg zieht sich hin. Um ihn zu verkürzen, begibt sich Aramunt in den dienst von Uterpandragon, des Königs von Britannien, der Großen Brytanien, damit dieser ihm helfe, den Krieg zu beenden. Das geschieht.35 Vierter Zustand: Aramunt und Uterpandragon vertreiben Claudas aus seinem Land und verwüsten dies, mit Ausnahme von Bohorges, wo Uterpandragon geboren wurde. Berri heißt nun Wúst Land.36 34

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Kluge I, 1, 13–15; Steinhoff I, 10, 18–20: Der Claudas was ein konig […] und was man des koniges von Gaune [sinnvoll ist einzig »Galle«, so auch Steinhoffs Übersetzung für I, 11, 18f. nach Micha VII, 1a, 2, 5: et estoit hom le roi de Gaule], das man nu heißet Franckrich. Kluge I, 1, 19–22; Steinhoff I, 10, 26–30: und [Aramunt] solt under im haben das rych von Bohorges, wann Claudas engunde es im nicht noch enwolt im dheynen dienst geben, wann er haßset den konig von Gaune […] er enwúrd darzu erkorne. Im deutschen Text scheint Claudas’ Herrenwechsel mit dessen Hass auf Bohort, den König von Gaune, begründet, welcher sich mit Claudas in gleicher Abhängigkeit von Aramunt befindet; möglicherweise ist dies ein Missverständnis der afranz. Vorlage, die an der betreffenden Stelle lediglich angibt, dass Claudas den König von Galle zum Herrn gemacht hat (ains avoit fait signour del roi de Gaule, Micha VII, 1a, 2, 14f.; Rosenberg 1a, 24f. übersetzt: »[…] acknowledging the king of Gaul as his overlord instead«); zum Problem Steinhoff II, S. 794, Kommentar zu 10, 28. Kluge I, 1, 23 – 2, 2; Steinhoff I, 10, 31 – 12, 9: Da Aramunt sah das im Claudas wiedersaget syner herschafft mit der Romer gewalt […] die zwuschen im und Uterpandragone waren; Micha VII, 1a, 3, 1–10: Quant Aramons vit que Claudas li renoioit sa signourie [Hss. KOZ: + par force des Romains] […] qui venoit entre lui et Uterpandragon. Die Handschrift Paris, BN, fr. 768, die bei Micha die Sigle K erhalten hat, hat Elspeth Kennedy als Leithandschrift ihrer Edition der sog. »non-cyclic« Version des französischen Prosa-Lancelot gewählt (Sigle Ao; Kennedy, Elspeth [Hrsg.], Lancelot do Lac. The non-cyclic Old French Prose Romance, 2 Bde., Oxford 1980, hier Bd. 2, S. 5 und 45f.); die Hs. Paris, BN, fr. 751 (Micha Sigle O) ist jene Hs., von der Thordis Hennings nachgewiesen hat, dass sie der deutschen Übersetzung am nächsten steht: Hennings, Thordis, Altfranzösischer und mittelhochdeutscher ›Prosa-Lancelot‹. Übersetzungs- und quellenkritische Studien, Heidelberg 2001, vgl. die Zusammenfassung S. 422–438. Kluge I, 1, 10–13; Steinhoff I, 10, 14–18: der konig Ban hett ein nachgebur, des lant an syn lant stieß an die syten zu Berrone wert, das da was geheißen das Wúst Lant; und syn nachgebur was geheißen Claudas, und der was herre von Bohorges und von dem land allumb. Kluge I, 1, 15–17; Steinhoff I, 10, 20–24: Das lant von Claudas rych was geheißen Wúste, wann es allein gewústet was von Uterpandragone und von Aramůnde, der da was herre von Wenigen Brytanien, das da hieß Hocri zu zunamen. Kluge I, 2, 2–7; Steinhoff I, 12, 9–15: Da ließen sie

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Wir haben demnach zwei Parteiungen. Auf der einen Seite: Uterpandragon, König der Großen Brytanien, ist Lehensherr von Aramunt, König der Mynren Brytanien, und Oberlehensherr von Ban von Bonewig und Bohort von Gaune. – Auf der anderen Seite: Der König von Rom ist Herr des Königs von Gallien/Frankreich und Oberlehensherr von Claudas, der allerdings früher Aramunt zu Diensten verpflichtet war und nun gerade ›Claudas ohne Land‹ ist. Fünfter Zustand und damit fast Erzählgegenwart: Uterpandragon und Aramunt sterben; das Königreich von Logers, mit der Großen Brytanien identifiziert, kommt in die Hand von Artus (ein wenig unklar bleibt die rechtliche Stellung der Bretagne); mit dem Herrschaftswechsel brechen die – üblichen – Aufstände gegen den neuen König von Britannien (und der Bretagne?) aus. Artus, gerade mit Gynover verheiratet, muss an vielen Plätzen Krieg führen.37 Diese Situation nützt Claudas. Er erobert sein eigenes Land, Berri oder das Wúst Land, zurück und hat dies erobert, als Aramunt stirbt. Claudas führt nun weiter Krieg gegen Ban von Bonewig, unterstützt von den Truppen Galliens unter Anführung eines Konsuls aus Rom mit Namen Pontes Antonies. Sie erobern Bonewig bis auf die Hauptstadt Trebe und eine vorgelagerte Burg. In den Kämpfen um diese Burg tötet Ban den Pontes Antonies und, wie er glaubt, auch Claudas, doch dieser überlebt. Die Burg aber fällt, Ban kann nur mit wenigen Überlebenden Trebe halten. Seine mehrfache Bitte um Hilfe an Artus kann dieser nicht erfüllen; auch von Bans Bruder Bohort von Gaune ist keine Hilfe zu erwarten, denn Bohort liegt im Sterben.38 Bei einer Begegnung zwischen Ban und Claudas erheben beide schwere Vorwürfe gegeneinander: Claudas klagt Ban an, weil Ban den Pontes Antonies erschlagen habe; Ban beschuldigt Claudas, dass dieser sein Land Bonewig zu unrecht, ohne Rechts-

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beyde zuhauff lauffen uff Claudas […] wann er da geboren wart und gezogen. Entspricht Micha VII, 1a, 1, 13 – 1a, 2, 10 und 1a, 3, 10–17. Kluge I, 2, 8–15; Steinhoff I, 12, 16–25. Im deutschen Text heißt es zur Bretagne: da fur er [Uterpandragon] zu Großen Brytanien wert uff das konigrich von Logers; wann da fúrwert was es das Minre Brytanien, dies entspricht dem französischen et des lors en avant fu la Menours Bertaigne desous le roiaume de Logres (Micha VII, 1a, 4, 3–5), »und seitdem war die Bretagne dem Königreich Logres untertan«. Beide Texte scheinen anzunehmen, dass die Bretagne / Mynre Brytanien dem Königreich von Logers, also der Herrschaft von Uterpandragon und dann Artus, inkorporiert worden ist, ohne eigenen Herrn also. Dem entspricht ungefähr, mit diversen textlichen Unsicherheiten, die Bemerkung von Artus im Krieg von Flandern (Kluge II, 768, 15–17; Steinhoff IV, 600, 6–8): wann konig Pharaon [i.e. Aramunt] der zur zytt was da konig Ban von Bonewig konig Uterpandragon das lant hielt, der myn vatter was. Mit das lant ist an dieser Stelle allerdings das konigrich von Gaulen (Kluge II, 768, 20; Steinhoff IV, 600, 11) gemeint. Steinhoff (IV, 601, 6–8) übersetzt die Stelle: »König Aramunt, der zu der Zeit lebte, da König Ban von Bonewig König war, hat das Land für meinen Vater, König Uterpandragon, gehalten.« Vgl. Micha VI, 105, 7, 3–5. Kluge I, 2, 16 – 3, 21f.; Steinhoff I, 12, 26 – 16, 10: Da erhub Claudas sin urlage […] Und der konig Bohort syn bruder, der im viel geholffen het, der lag dotsiech […]; entspricht Micha VII, 1a, 5, 1 – 1a, 8, 6.

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grund, ohne Anlass also, besetzt halte, sans raison heißt es im französischen ProsaLancelot.39 Dem hält Claudas entgegen: Das geschehe nicht aus Feindschaft gegenüber ihm, Ban, sondern wegen konig Artus, den ir [Ban] zu herren habt, denn Artus’ Vater Uterpandragon habe ihn enterbet,40 was eine ziemlich genaue Übertragung des afranz. car ses peres Uterpandragons me deserita41 zu sein scheint; Samuel N. Rosenberg übersetzt dies mit »dispossess«, »berauben«, und auch Steinhoff schlägt für das absolut, ohne Genitivobjekt gebrauchte enterben »um sein Land bringen« vor.42 Wie auch immer man die genaue Nuance von enterben in diesem Zusammenhang nun fassen mag, es bleibt die merkwürdige Argumentation des Claudas, dass Ban nicht ihm, sondern dem Pontes Antonies, der zuvor als herr des Claudas und der Seinen bezeichnet worden war,43 etwas angetan habe und dass Claudas sich nicht an ihm, Ban, räche, sondern weil ihn Uterpandragon, der Vater von dessen Herrn König Artus, enterbet habe. Weiter macht Claudas nun dem Ban das Angebot, ihm Trebe zu übergeben; er werde ihm die Stadt umgehend zurückgeben, wenn Ban zusage, des Claudas man resp. hom zu werden und alles [sein] lant von Claudas zu lehen zu nehmen. Das lehnt Ban ab – er würde damit seinen Eid brechen, den er Artus geleistet habe, des man ich bin zu dienst, wie er sagt, was dem französischen qui hom je sui liges entspricht.44 Claudas lässt daraufhin Ban eine übliche Frist von 40 Tagen Zeit, damit er König Artus zu Hilfe holen könne. Wenn dieser nicht, wozu er verpflichtet ist, helfen will oder kann, erneuert Claudas sein Angebot, dass Ban dann sein Land, d.h. das von Artus empfangene Lehen, nun von ihm zu Lehen empfangen könne.45

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Kluge I, 3, 31–34; Steinhoff I, 16, 21–25; Micha VII, 1a, 10, 4. Kluge I, 3, 36f.; Steinhoff I, 16, 28f. Micha VII, 1a, 10, 7. Rosenberg 4a, 39; Steinhoff I, 17, 30f. Ich halte »um sein Erbe bringen« für angemessener; auch Elspeth Kennedy (Hrsg.), Lancelot do Lac [Anm. 35], hier Bd. 2, S. 425, gibt für das afranz. Lemma deseriter/desheriter außer »dispossess« auch »disinherit« an. Kluge I, 3, 4f.; Steinhoff I, 14, 20; Rosenberg übersetzt das an dieser Stelle entsprechende afranz. lor signor (Micha VII, 1a, 6, 17) allerdings sehr speziell mit »the army’s leader« (Rosenberg 3b, 43); dafür kein Hinweis bei Kennedy (Hrsg.), Lancelot do Lac [Anm. 35], Bd. 2, S. 489 s.v. seignor. Kluge I, 3, 37 – 4, 4; Steinhoff I, 16, 30–35; Micha VII, 1a, 10, 7–13. In einer strengeren Auffassung von liges ließe sich auch übersetzen: »dem ich einzig, und frei von Pflichten gegenüber allen sonstigen Herren, zu dienst verpflichtet bin«; zu liges, homo ligius etc. vgl. Bloch, Feudalgesellschaft [Anm. 7], S. 262–267; Ganshof, Lehnswesen [Anm. 7], S. 109f.; Mitteis, Lehnrecht [Anm. 7], S. 557–562. Hans-Hugo Steinhoff hat mehrfach deutlich auf dieses Lehenrechtsprinzip hingewiesen, z.B. Steinhoff II, S. 797, Kommentar zu 16, 34. Kluge I, 4, 4–10; Steinhoff I, 16, 35 – 18, 7; Micha VII, 1a, 10, 13–20. – Ban will über dieses Angebot beraten lassen und verspricht Antwort auf den nächsten Tag; weder im deutschen noch im französischen Prosa-Lancelot ist jedoch davon die Rede, dass er, falls Artus ihm nicht zu Hilfe komme, verspricht »to become the vassal of Claudas« (Kennedy, Lancelot and the Grail [Anm. 21], S. 81).

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Heimlich jedoch setzt Claudas den Truchsessen von Ban unter enormen Druck: Ban sei ein unglúckig mensch, habe keine Fortune; da Artus ihm nicht helfen werde, habe folglich Ban auch dem Truchsessen nichts mehr zu bieten. Sollte der Truchsess in diesem Krieg mit gewalt gefangen genommen werden, dann sei ihm wie jedem anderen, und wie von Claudas off den heiligen geschworen, lebenslanges Gefängnis oder der Tod gewiss; sollte er sich jedoch entschließen, sich auf Claudas’ Seite zu schlagen, sei ihm die – lehensabhängige – Herrschaft über Bonewig versprochen.46 Und so verspricht der Truchsess dem Claudas, ihm zur Herrschaft zu verhelfen, mit der salvatorischen Klausel one zu verraten synen herren noch zu verkauffen.47 Ban macht sich nun selbst, wie vom Truchsessen vorgeschlagen, mit Alene und Lancelot auf den Weg zu Artus, der Truchsess öffnet Claudas die Tore von Trebe, die Burg kann trotz der Gegenwehr des Ritters Banin, dessen Pate Ban ist, eingenommen werden. Trebe gerät in Brand; das sieht Ban von fern und stirbt darüber. Die Fee Ninienne, die Frau vom See, raubt Lancelot; Alene geht in ein Kloster. Zwei Dinge sind bemerkenswert: Die Auseinandersetzung zwischen Claudas und Ban wird in einen großen Zusammenhang, die Auseinandersetzung zweier lehensabhängiger Gruppen, gestellt – Briten unter Artus einerseits, Rom, der König von Frankreich und Claudas andererseits. Die lehensrechtliche Problematik wird durch den Herrenwechsel von Claudas beleuchtet. Gründe dafür werden im altfranzösischen Text nicht, im deutschen, wohl missverstanden, aber plausibel, mit dem haß des Claudas auf den konig von Gaune angegeben. Die Ursache der Auseinandersetzung, die Ursache von haß oder Herrenwechsel, ist rechtlich nicht mehr zu klären; der Text lässt sie bewusst offen, schiebt allerdings die Verantwortung auf den man, auf Claudas, der den Anspruch Aramunts auf Lehensherrschaft über Berri und Bohorges nicht anerkennt und als ein verreter bzw. als traïtres markiert wird.48 Das Angebot des Claudas, Ban möge das Land Bonewig von ihm zu Lehen nehmen und des Claudas man werden, lehnt dieser hingegen, selbst in aussichtsloser Position, ab. Mit dem Truchsessen Bans, freilich einer topischen Verräterfigur, wird auf etwas niederer Ebene des feudalen Systems eine dritte Figur präsentiert, für die ein Herrenwechsel zur Disposition steht. Der Truchsess nimmt das Angebot des Claudas jedoch an, und damit ist ein weiterer verreter eingeführt.49 Zwar macht der Text unbedingt plausibel, warum der Truchsess nach langem Zögern (so viel hatten sie zuhauff gerett)50 endlich den Pressionen des Claudas nachgibt; dass dies aber Verrat, und zwar am rechten Herrn ist, macht der Text ebenso unmissverständlich deutlich, indem dem Truchses-

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Kluge I, 4, 11–22; Steinhoff I, 18, 8–23; Micha VII, 1a, 11, 1–16. Kluge I, 4, 24; Steinhoff I, 18, 25f.; Micha VII, 1a, 11, 18f. (sans le cors son signour traïr ne vendre). Kluge I, 1, 14; Steinhoff I, 10, 19; Micha VII, 1a, 2, 5. Kluge I, 7, 22 und 26 sowie 8, 35; Steinhoff I, 26, 25 und 31 sowie 30, 18; Micha VII, 2a, 2, 1 und 6 sowie 2a, 6, 1. Kluge I, 4, 23; Steinhoff I, 18, 24; Micha VII, 1a, 11, 17f.

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sen der Ritter Banin entgegengestellt wird, der in der gleichen, für Ban aussichtslosen Situation, obwohl er zunächst Verdacht schöpft und später Claudas’ Leute schon eingedrungen sind, die Stadt zu halten versucht und an den Normen rechten Verhaltens auch in diesem speziellen Kasus gegenüber dem verreter festhält: ›[…] Ir hant verraten uwern rechten herren, der uch von nicht zu eim großen herren hatt gemacht! Ir hant im genomen alle die hoffnunge da mit er sin lant solt behalten, wann denselben lon múßent ir enpfahen als Judas enpfing, der unsern herren verriet allkußende, der komen was off ertrich yn zu behalten und alle súnder. Warumb wart ir an im nicht verliben? Ir hant wol Judas werck gethan!‹51

Dass der Truchsess ein verreter ist, wofür ihn auch Claudas verachtet, wird am Ende demonstrativ in einem Kampf vor Claudas festgehalten, in dem Banin den Truchsessen erschlägt und durch diesen Sieg seine Anklage bestätigt, bei dem Truchsessen handele es sich um einen falschen verreter, der meyneydig ist wiedder gott und wiedder synen rechten herren.52 Wie weiter zu zeigen ist, ist des Claudas Angriff auf Ban einerseits Rache für das, was ihm Uterpandragon angetan hat, und andererseits einer der vielen, im weiteren Verlauf des Romans erzählten Versuche anderer Herrscher, die Herrschaft von König Artus zu destabilisieren oder aufzuheben. Die Vielzahl dieser Angriffe setzt Artus gegenüber Ban, dem er seine Hilfe nicht bieten kann, dennoch ins Unrecht. Erzählperspektivisch ungewöhnlich ist, dass nicht vom Zentrum, von Artus oder dessen Hof, sondern vom Rand her, von Claudas und den von ihm Abhängigen, erzählt wird. Zur Diskussion steht die Arturische Herrschaft, deren Genese wird erzählt. Die Ursache ihrer gegenwärtigen Instabilität ist der Herrschaftswechsel von Uterpandragon zu Artus; der über mehrere Stufen vermittelte Anlass für den gegenwärtigen Krieg waren ebenfalls Herrschaftswechsel, die aber in der Vergangenheit, in der Generation vor Artus, stattgefunden haben, in ihren Auswirkungen jedoch bis in die erzählte Gegenwart hineinreichen: der als »Verrat« bezeichnete, in seiner faktischen Begründung jedoch nicht geklärte Wechsel des Claudas von der Herrschaft des Aramunt zu der des Königs von Galla, die Instrumentalisierung Uterpandragons durch Aramunt, der sich – um dessen Beistand zu erzwingen53 – in die Herrschaft Uterpandragons begibt und damit die Herrschaft über die Mynren Brytanien als Lehen vom 51

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Kluge I, 8, 29–34; Steinhoff I, 30, 11–17; Micha VII, 2a, 5, 12–18. Bemerkenswert ist der Vorwurf der nicht-adligen oder wenigstens nicht-hochadligen Herkunft und das Judaskuss-Motiv, das in diesem Zusammenhang öfter herangezogen zu werden scheint (vgl. Bloch, Feudalgesellschaft [Anm. 7], S. 281, 283, 288) und umso wirkungsvoller ist, als der Kuss von herr und man Bestandteil des Investitur-Rituals zu sein pflegte; vgl. Ganshof, Lehnswesen [Anm. 7], S. 80f. Kluge I, 10, 30f.; Steinhoff I, 36, 1f.; Micha VII, 2a, 12, 3f. Es ist offenbar gegenüber dem primären Gedanken der Vasallität, dass der man dem herren zu dienst, d.h. vor allem zum dienst mit der Waffe, verpflichtet ist, vermehrt dazu gekommen, »daß der Herr gehalten ist, dem Ruf seines Vasallen Folge zu leisten, falls dieser

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Herrscher der Großen Brytanien erhält, endlich die Vertreibung von Claudas aus der Herrschaft über Berri und die Verwüstung dieses Landes, die dann beim Herrschaftswechsel von Uterpandragon zu Artus zum Angriff des Claudas auf Ban und Bohort führt und damit auch zum Verrat des Truchsessen und zur demonstrativen trúw des Ritters Banin. Systematisch entfaltet wird also in den wenigen, wohlkalkulierten Sätzen zu Beginn des Romans das feudale System von Herrschaft und dienst mit seinen Koordinaten aus Zwang und Freiwilligkeit, dessen Labilität sich besonders bei Herrschaftswechsel zeigt, im Ablauf der Zeit, in der Geschichte; dadurch wird auch der Zufall etabliert, im Geschehen und im Erzählen von Geschichte. Geschichte aber wird erzählt als eine Abfolge von Kasus, die – unter je spezifischen Bedingungen – insbesondere das Problem der Weitergabe von Herrschaft vor allem für die Vasallität, unabhängig von deren Rang in der Adelshierarchie, verhandeln. Ableiten lassen sich aus diesen Kasus verschiedene Regeln: Sich in die Herrschaft eines anderen zu begeben, ist fraglos möglich und unbezweifelt legitim, wenn ein Freier sich freiwillig unter die Herrschaft eines anderen begibt, d.h. nicht ohne Zustimmung eine Herrschaft mit älteren Ansprüchen dafür aufgibt. Das Beispiel: König Aramunt, dessen Vorgehen auch dadurch sanktioniert wird, dass der nunmehr zu Beistand verpflichtete König Uterpandragon den militärischen Erfolg sichert. Eine weitere Regel lautet: Der Vasall ist dem Herrn und dessen (männlichen) Erben stets zu Hilfe und dienst verpflichtet; wer den Herrn verlässt und einen anderen Herrn wählt, begeht – wenn es dafür keine triftigen Gründe gibt – untruwe und ist ein verreter. Beispiele bieten König Claudas und der Truchsess Bans. Eine dritte, der letzten komplementäre Regel besagt: Der Vasall, der seinem Herrn und dessen Erben auch unter schwierigen, wenn nicht aussichtslosen Bedingungen die Herrschaft zu erhalten sucht, wahrt die trúw; Beispiele bieten die Könige Bohort und, ausdrücklich, Ban gegenüber Artus und der Ritter Banin gegenüber König Ban. Schließlich gibt es eine vierte Regel: Ebenso wie der man dem herren ist auch der Herr dem Vasallen zu rat und helfe und damit zu trúw verpflichtet. An diese Regel halten sich Uterpandragon gegenüber Aramunt und der König von Gaule sowie Graf Pontes Antonies und damit Rom gegenüber Claudas; nicht an diese Regel hält sich – König Artus gegenüber Ban und Bohort. Dies sind sehr ›einfache‹ Regeln; es sind die gleichen Regeln, wie sie aus Berichten, Urkunden und dem einschlägigen Rechtsschrifttum für Vasallen und Herren zu abstrahieren sind; auch Marc Bloch hat sie, in etwas anderem Zusammenhang, »einfache Regeln« genannt.54 Es handelt sich um Leitlinien für die Orientierung, sie werden den bislang vorgestellten, einfach gelagerten Fällen, wie sie in ihrer Struktur, ihrer Genese, ihrer Entfaltung und ihrer Verknüpfung im Prosa-Lancelot erzählt werden, annähernd gerecht; nur bedingt können sie dies jedoch leisten für alle möglichen

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ungerechterweise angegriffen wird und daß er ihn gegen seine Feinde verteidigen muß«; vgl. Ganshof, Lehnswesen [Anm. 7], S. 98f., siehe auch ebda., S. 163f. Bloch, Feudalgesellschaft [Anm. 7], S. 260.

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weiteren, komplexer angelegten Fälle. Die Erprobung der Konstellation ›Herr und Vasall‹ jedoch etabliert und bestätigt Herrschaft als eine selbstverständliche, nur in ihren jeweiligen Bedingungen zu diskutierende Größe, insofern als eine faktische Norm, die einer ideologischen Ableitung oder Begründung nicht bedarf. In ihrer auf verschiedene Kasus aufgefächerten Präsentation ist sie als eine von Personen unabhängige Größe zu abstrahieren, sie ist zu transferieren, möglichst nach den Regeln der Erbfolge. Als handlungsleitende Norm wird trúw in rat, helfe und dienst konkretisiert oder in ihrer Negation als untruwe demonstriert. Êre schließlich hat der, der die trúw wahrt; wird dies bezweifelt, kann und sollte sie im Zweikampf erprobt und unter Beweis gestellt werden. In dieses Tableau ordnet sich nun die Geschichte des Ritters Phariens ein, der ähnlich wie zuvor der Ritter Banin gegenüber König Ban in einem, wenn auch ungleich komplizierteren, dienst- und Treue-Verhältnis zu König Bohort von Gaune steht. Zentral für diesen Teil der Vorgeschichte ist wiederum die Frage nach dem rechten Herrn, wie sie der Ritter Banin schon beantwortet hatte, und zwar unter den besonderen Bedingungen, dass der rechtmäßige Herr gestorben, das Schicksal seiner männlichen Erben aber ungewiss ist und in diesem rechtlichen Freiraum sich neue Herrschaft etabliert hat, angesichts dieser Ungewissheit das Verhalten der Vasallen sich also nur nach bestimmten Normen richten kann, die im Erzählen erst ausgehandelt werden. Es ist wichtig, dass die relativ einfach konstruierte Geschichte Banins und dessen Verhältnis zu Ban im Roman vor der Geschichte des Phariens und dessen Verhältnis zu Bohort und dessen Söhnen erzählt wird. Denn die ungleich komplizierter konstruierte Reihe von Kasus, aus der die Geschichte des Phariens besteht, bringt vor dem Hintergrund der Banin-Geschichte mit ihrer ganz und gar vergleichbaren BasisKonstellation ein dynamisches, in einem spezifischen Sinn spannungssteigerndes Moment ins Spiel. Hinzu kommt, dass mit der demonstrativ erweiterten Schilderung der Zustände auf ein zweites, nicht mehr unter Arturischer Herrschaft befindliches Territorium die Labilität und Schwäche von Artus’ Herrschaft als eine allgemeine erkannt wird, die nicht nur auf das Herkunftsland des zentralen Helden des Romans beschränkt ist. Des Phariens Geschichte versieht das Verhältnis des Vasallen zum Herrn mit mehreren Momenten, z.T. gleichfalls normativ aufgeladenen Werten, die in Konkurrenz zu den oben formulierten Regeln wahrer Herrschaft und wahren dienstes stehen können. Basiskonflikt für die gesamte Szenenfolge ist für den Vasallen Phariens die Konkurrenz zweier Herren, denen Phariens zu dienst verpflichtet ist: Bohort bzw. dessen Nachkommen auf der einen, Claudas, in dessen dienst sich Phariens begeben hat, auf der anderen Seite.55 Ins Spiel kommt ferner das Verhältnis zu Blutsverwandten, dann 55

Die immer wieder auftauchenden Formulierungen, Bohort sei der frühere und Claudas der gegenwärtige Herr des Phariens, sind zumindest missverständlich. Vgl. etwa Kennedy, Lancelot and the Grail [Anm. 21], S. 84: »the dilemma of Pharien, divided between loyalty

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auch zu genôzen, d.h. zu jenen, die mit dem Vasallen im Rang gleich sind oder in gleicher Abhängigkeit zu einem Herrn stehen. In dichter Folge kommt es zu Güterabwägungen, beispielsweise ob und unter welchen Bedingungen die Pflicht zur Dankbarkeit Rechte eines Herrn – und welches Herrn? – außer Kraft setzt, oder wie weit die Rechte eines Herrn tangiert sind, wenn dieser selbst sich etwas zuschulden hat kommen lassen, oder wie es mit der êre vereinbar ist, das eigene Leben für Leben und Wohlergehen anderer zu opfern, auch wenn diese dies gar nicht in Betracht ziehen oder Misstrauen angebracht ist, ob die entsprechende Vereinbarung mit dem ›falschen‹ und als verreter bekannten Herrn auch eingehalten wird. Die Reihe solcher Konkurrenzen oder Abwägungen lässt sich fast unbegrenzt fortsetzen; alle diese Kasus könnten mit ihren kontinuierlich komplizierter gehandhabten Voraussetzungen und Bedingungen den immer wieder zitierten Satz aus Matth. 6,24 bzw. Lc 16,13, dass niemand zwei Herren dienen könne (Nemo potest duobus dominis servire), im Erzählen als richtig und wahr beweisen. Stattdessen wird aber in der Konfrontation von Phariens und Claudas in der Figur des Vasallen Phariens demonstriert, dass auch unter den erschwerten Bedingungen und den Anfechtungen, welchen Phariens ausgesetzt ist, ein Prinzip durchaus gewahrt werden kann, das in den feudalrechtlichen Überlegungen des 12. Jahrhunderts in Frankreich entwickelt worden ist, das Prinzip der sog. Ligesse. Der Begriff homo ligius, im Deutschen entspricht ihm der ledichman, meint zunächst einen Vasallen, der »ledig jeder anderen Bindung« ist, d.h. der seinem einzigen Herrn, wie es in Urkunden des 10. Jahrhunderts heißt, contra omnes homines oder gar contra omnem creaturam qui potest vivere aut mori die Treue zu wahren hat.56 Dem entspricht auf der Seite des Herrn der dominus ligius, dessen Gerichtsbarkeit der Vasall strenger als einer oder mehreren anderen unterworfen ist; »unter mehreren Ladungen hat die des dominus ligius stets den Vorrang«.57 Da das Instrument nicht dazu geführt hat, das Eingehen mehrfacher vasallitischer Bindungen zu vermeiden, dient es in solchen Fällen dazu, Prioritäten zu regeln; es besagt, dass bei Doppel- oder Mehrfachvasallität ein Treuvorbehalt gilt, wie dies auch in Urkunden entsprechend festgehalten wird, zugunsten der früher eingegangenen

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to his present lord, Claudas, and his duty towards the children of his former lord, Ban«; oder: »Phariens, ehemals Gefolgsmann des Königs Bohort von Gaune, dann des Königs Claudas« (Kluge, Reinhold [Hrsg.], Lancelot, IV. Namen- und Figurenregister, bearbeitet von Hans-Hugo Steinhoff und Klaudia Wegge, Berlin 1997 [DTM 80], S. 97). Es ist wichtig, demgegenüber festzuhalten, dass der Roman deutlich Wert darauf legt, Phariens als eine Figur zu entwerfen, die seit dem Tag, da Phariens in den Dienst von Claudas getreten ist, zwei Herren gleichzeitig dienst leistet; dieser Zustand endet erst mit dem Tag, an dem Phariens dem Claudas die manschafft aufgibt; vgl. Kluge I, 99, 15; Steinhoff I, 276, 24f.; Micha VII, 17a, 7, 5f. Ganshof, Lehnswesen [Anm. 7], S. 109f.; Mitteis, Lehnrecht [Anm. 7], S. 562. Mitteis, Lehnrecht [Anm. 7], S. 565.

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Vasallität oder zugunsten des ranghöheren Herrn.58 Dieses sog. System der Ligesse lässt natürlich faktisch immer noch Spielraum für Interpretationen und Entscheidungen, wie etwa an den diversen Konstellationen und Parteiungen um die Schlacht von Bouvines zu sehen ist,59 aber hier in diesem Roman, dieser Geschichtsdichtung, können in extremen Zuspitzungen die Konkurrenzen mit anderen Rechtsprinzipien und Bindungen durchgespielt und kann die Wirksamkeit des Prinzips eines homagium ligium demonstriert werden. Auch diese Rechtsprinzipien und –bindungen mit ihren Konkurrenzen lassen sich ansatzweise als Regeln oder auch als Fragen nach den Voraussetzungen und Bedingungen des Agierens der beteiligten Figuren formulieren, so wie sie im Erzählen entfaltet werden. Die Figuren der Inszenierung in und um Gaune, Hauptstadt des gleichnamigen Königreiches von König Bohort, jetzt von König Claudas erobert, sind: – Bohort, König von Gaune, seine Gemahlin Evaine und beider Kinder Lionel und Bohort; – Claudas, König von Berrone/Berry bzw. des Wüsten Landes, Eroberer von Bonewig und Gaune, und sein Sohn Dorin; ein Knappe des Claudas; – die Frau vom See mit Namen Ninienne und ihre Vertraute Saraide; – Phariens, Vasall des Königs Bohort und des Königs Claudas, die Frau des Phariens und Lambegus, Ritter und Neffe des Phariens. Weniger wichtig, wenn auch in bezeichnenden Rollen, sind neben einigen anonymen auch namentlich genannte Figuren, die bestimmte Gruppen, Gefolgsleute des Claudas und des Königs Bohort, vertreten: – Leonces von Paerne, Ritter, Verwandter König Bohorts; Graiers von Aranirs, Ritter in Gaune und Gefolgsmann König Bohorts; – der Herr von Saint Cyr, Gefolgsmann des Königs Claudas; der Herr von Dun, ein Ritter des Königs Claudas. Wie kommt es nun, dass der vorbildliche Phariens, anders als es die oben formulierten Regeln erwarten lassen könnten, ein man zweier herren ist? Er hat nicht ganz aus freien Stücken so gehandelt. Die Begründung dafür wird in einem Zusammenhang geliefert, der sich dem Geschichtskonzept des Romans verdankt, nämlich im Rahmen einer Begegnung von Phariens und Evaine, König Bohorts Gemahlin, die vom Zufall, von abenture,60 herbeigeführt scheint. Die Zufälligkeit dieser Begegnung – zur selben Zeit am selben Ort61 – wird in zwei Erzählsequenzen inszeniert, die verdeutli58 59 60 61

Bloch, Feudalgesellschaft [Anm. 7], S. 262–267; Ganshof, Lehnswesen [Anm. 7], S. 107– 111; Mitteis, Lehnrecht [Anm. 7], S. 556–590. Vgl. Duby, Georges, Der Sonntag von Bouvines. 27. Juli 1214, Berlin 1988, hier bes. S. 24–59. Kluge I, 17, 12; Steinhoff I, 52, 28; Micha VII, 4a, 3, 2 hat stattdessen voirs (»wahrhaftig«, »tatsächlich«). Des selben tags, als die koniginn fur von Můntlahyr, geschah das der konig Claudas eyn eber jagt in dem wald da die frauw durch reyt, und der vertriben ritter was mit im (Kluge I, 17, 20–22; Steinhoff I, 54, 2–5; Micha VII, 4a, 4, 1–5).

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chen, dass Weg und Ziel beider ganz unterschiedlichen Absichten unterliegen, ja, dass Phariens’ Weg nicht einmal von ihm selbst bestimmt ist. Er ist mit einer Gesellschaft des Königs Claudas auf der Jagd und hat sich, während die anderen einem Eber folgen, von der Gesellschaft getrennt, ohne dass dafür ein Grund angegeben würde. Evaine hingegen ist nach dem Tod ihres Gemahls, des Königs Bohort, der aus Kummer über den Tod seines Bruders gestorben ist, mit ihren beiden Kindern Lionel und Bohort auf der Flucht aus der Burg Montlahir, der letzten Burg in Gaune, die der Belagerung durch Claudas noch standhält. Sie will sich und ihre Kinder in dem Kloster in Sicherheit bringen, in dem ihre Schwester Alene inzwischen den Schleier genommen hat. Auffällig ist neben einer erneut inszenierten Bedingungskette62 aus Ursache und Folge, mit der das ›Zufalls‹-Treffen der beiden arrangiert ist, die, auch in einzelnen Momenten, exakte Parallelführung von bedrängter Situation, Flucht und Hoffnung auf Rettung der beiden Schwestern, hier die Flucht der Evaine mit der geringen Hoffnung, Zuflucht und Sicherheit für sich und die Kinder zu erhalten. Die Hoffnung wird hier wie dort, zunächst, enttäuscht; Evaine muß von Phariens das Schlimmste befürchten, dem sie gerade zu entkommen suchte. Dazu produziert die forcierte Konsequenz der jeweiligen Abläufe einen ›Zufall‹, dessen providentielle Rückversicherung für das Schicksal der beiden Kinder Lionel und Bohort sich erst im Nachhinein herausstellt. Tatsächlich erfüllen sich weder die zunächst gehegten Hoffnungen noch die danach gefürchteten Folgen der Evaine, als sie zufällig und ausgerechnet dem Phariens begegnet. Dass das Schicksal ihrer Kinder aber einen ihrer Herkunft und ihrem königlichen Stand angemessenen Verlauf nehmen wird, was sie zu diesem Zeitpunkt nicht wissen kann und erst am Ende ihres Lebens im Traum erfährt,63 ist gerade dem ›Zufall‹ dieser Begegnung und, vor allem, dem strikten Verständnis von trúw des Vasallen Phariens zu verdanken, der auch in einer dilemmatischen, von Zweifeln angefochtenen Situation nicht zum verreter wird. So ist die Kette der Kasus, die das Verhältnis von Herrschaft und Vasallität als eines der entscheidenden Themen des Romans diskutiert, mit dem Zufall verknüpft. Zufall als »Abwesenheit von Sinn«64 legt am Ende ein Verständnis von Geschichte offen, wie es den gesamten Roman bis hin zu Artus’ Traum vom Rad der Fortuna entscheidend prägt.65

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Auch Elspeth Kennedy (Lancelot and the Grail [Anm. 21], S. 80) spricht von »chain of events«. Kluge I, 113, 1–31; Steinhoff I, 312, 32 – 314, 29; Micha VII, 19a, 5, 1 – 19a, 6, 18. Müller, Klaus-Detlef, Der Zufall im Roman. Anmerkungen zur erzähltechnischen Bedeutung der Kontingenz, in: GRM, 59/1978, S. 265–290, hier S. 266. Kluge III, 724, 16 – 725, 17; Steinhoff V, 954, 15 – 956, 2. Nachdem Artus sich zunächst gegen Gawans Rat geweigert hat, Lancelot als den Einzigen zu rufen, der in der Schlacht gegen Artus’ inzestuös gezeugten Sohn Mordret helfen könnte, wird er in der Nacht danach und vor der letzten Schlacht im Traum vom höchsten Sitz auf dem Rad der For-

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In diesem Zusammenhang wird nun für Evaines Erschrecken, als sie des Phariens ansichtig wird, die Begründung geliefert mit einem Rückgriff auf die Vorgeschichte dieser Begegnung, mit dem erklärt wird, warum Phariens Vasall zweier Herren ist; und es ist wichtig, sich die Begründung genau anzusehen, da dies vor Fehlurteilen bewahren kann66 – sowohl über die Beweggründe von Phariens’ Handeln, wie sie hier erzählt werden, als auch über dessen narrative Implikationen. Festzuhalten bleibt zunächst, dass nicht Phariens etwa freiwillig den Herrn gewechselt hat; vielmehr hat König Bohort, der das strengst gericht uber syn lant [hielt] das irgent in der welt was, den Phariens uß sym lande vertrieben, weil er einen andern ritter zu tod erschlagen hatte, und erst darauf ist Phariens zu Claudas gezogen, der syns herren fynt was, weil er ihm mit seinem Wissen um Ban und Bohort nützlich sein konnte. Das Ergebnis: Der konig Claudas hett yn fast lieb und macht yn rych und gewaltig in sym lande und gab im syner lut gnug zu urlagende mit wem er wolt. Und der ritter diende synem herren wol zu danck spad und fro.67 Später wird auch deutlich, dass Phariens, wie sein Neffe Lambegus öffentlich und unwidersprochen behauptet, synes herren des konig Bohortes nye verleuckente noch syn manschafft ny offgab.68 Phariens hat also zwei Herren, wobei Bohort und dessen Erben die älteren Rechte innehaben; für ihn gilt nach den rigiden Vorstellungen der Ligesse der oben angesprochene Treuvorbehalt. Dass unter den Umständen, unter denen Phariens des Landes verwiesen wurde, auch ganz andere Konsequenzen des Handelns denkbar wären, als Phariens sie dann zeigt, zeigt sich an dem tiefen Erschrecken der Evaine, die Phariens’ Rache fürchtet und darauf mit der üblichen Serie von Ohnmachten reagiert. Wie aber ist Phariens’ Verbannung zu verstehen? Der Text, und zumal der deutsche Text, ist hier nicht sehr deutlich; es dürfte sinnvoll sein, zunächst einmal jeweils für sich zu klären: 1. die nicht ausdrücklich genannten Beweggründe Bohorts für das ohne Ausnahme und immer betont streng gehaltene gericht, 2. die Qualität des demnach ebenso strengen Richtspruchs Bohorts über Phariens (er vertreib eynen ritter uß sym lande) und 3. das Vergehen, dessen Phariens beschuldigt worden ist (er hett ein andern ritter zu tod erschlagen; manschlacht).69 Im Französischen lautet der entsprechende Satz: Voirs fu que li rois Bohors avoit en sa vie deshireté un chevalier pour un

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tuna hinabgeschleudert. Dies kommentiert der Erzähler zum Schluss: Also geschach dem konig Artus das ungevelle das im gescheen solt. Lisa Jefferson beurteilt Phariens’ Agieren durchweg sehr kritisch, was zunehmend auf den »character« insgesamt ausgeweitet wird (Jefferson, Oaths [Anm. 5], bes. S. 48 Anm. 15): »As the text soon makes clear, Pharien’s oath to King Bohort is still in force, and his action is therefore in flagrant violation of this, making Pharien guilty of both treachery and perjury.« Ferner sei er »willing to put his own practical advantage above any higher ethical consideration« (S. 48) und »a self-seeking opportunist who is already portrayed as adept at playing all sides against the middle« (S. 51); Weiteres dann S. 55, 65 und 85 mit Anm. 107. Kluge I, 17, 17–19; Steinhoff I, 52, 35 – 54, 2; Micha VII, 4a, 3, 7–13. Kluge I, 24, 32f.; Steinhoff I, 74, 15f.; Micha VII, 7a, 11, 5f. Kluge I, 17, 12–15; Steinhoff I, 52, 28–33.

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autre que il avoit ochis (»Wahrhaftig war es so, dass der König Bohors einen Ritter enterbt hat / um seinen Besitz gebracht hat, weil dieser einen anderen getötet hat«), das entsprechende Substantiv lautet omechide (»Totschlag«).70 Anders als beim Vorwurf des Claudas gegenüber Ban, Uterpandragon habe ihn enterbet, was das altfranzösische deseriter/desheriter wiedergibt (s.o.), wird deseriter hier mit »jemanden uß sym lande vertrîben« übersetzt. Auch wird Phariens, der zu Beginn der Sequenz anonym bleibt, zunächst nur der vertriben ritter bzw. im Französischen li chevaliers desiretés genannt.71 Für einen Vasallen, für einen man wie Phariens, der dienst leistet, kann uß dem lande vertriben bzw. deseriter demnach nur heißen, »ihn aus dem (vermutlich ererbten) Lehen zu vertreiben« und damit die Rechtsgrundlage oder doch das Äquivalent für den dienst zu nehmen. Es war dies, wie später von Phariens gesagt wird, die auf Bitten der Königin mildere Strafe als der Tod, der zunächst für Phariens bestimmt war.72 Das Vergehen, dessen Phariens beschuldigt und für das diese strenge Strafe ausgesprochen wurde, war omechide, manschlacht eines anderen Ritters. Die Vorstellung, die damit von der Tat aufgerufen wird, dürfte etwa dem heutigen ›Totschlag‹ in Abgrenzung von ›Mord‹ entsprechen,73 mit der Besonderheit, dass, da hier ausdrücklich ein gleichwertiger Gegner angeführt wird, der Tod des anderen wohl als Folge eines Kampfes, womöglich einer Fehde, eines Rechtsmittels, gelten sollte. Ganshof führt ein Beispiel für Lehensverwirkung eines Vasallen an, der »einen Verwandten seines Herrn umgebracht hatte und von diesem vor seine curia gestellt worden war« und deswegen sein Lehen »vollkommen verwirkt« hatte (totum ex integro fevum secum forsfecerat).74 Möglich demnach auch, dass als Hintergrund für das eigens erwähnte strenge Gericht Bohorts und Bans an einen von ihnen verkündeten Gottes- oder Landfrieden zu denken wäre, den Phariens danach verletzt hätte, wenn auch, wie vermutlich insinuiert werden sollte, um sein Recht und damit seine êre zu wahren.75 Nicht nur, dass also Phariens als ein ritter präsentiert wird, der die übliche und akzeptierte Praxis mehrfacher Vasallität für sich in Anspruch nimmt – sein Verhalten, bei einem anderen, zusätzlichen (!) Herrn dienst zu nehmen, ist auch mehr als nur gerechtfertigt durch die Verwirkung des Lehens, das er ursprünglich von König 70 71

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Micha VII, 4a, 3, 2 – 4a, 4, 7. Kluge I, 17, 14f. und 21; 18, 31; 21, 20; Steinhoff I, 52, 32; 54, 4; 56, 32; 64, 25; Micha VII, 4a, 3, 7; 4a, 4, 4; 5a, 1, 1f. Zu Kluge I, 21, 20 bzw. Steinhoff I, 64, 25 fehlt im Altfranzösischen eine entsprechende Formel. Kluge I, 17, 33f.; Steinhoff I, 54, 20–22; Micha VII, 4a, 5, 6f. So übersetzt auch Steinhoff I, 53, 32; kaum zutreffen dürfte jedenfalls die Übersetzung von omechide im entsprechenden Passus bei Rosenberg 10a, 34: »the knight disinherited for murder«. Ganshof, Lehnswesen [Anm. 7], S. 105. Vgl. Kaiser, R[einhold], Gottesfrieden, in: LMa, 4/1989, Sp. 1587–92; Becker, H[ans]J[ürgen] / Contamine, P[hilippe] / Ehrhardt, H[arald], Landfrieden, in: LMa, 5/1991, Sp. 1657–60.

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Bohort empfangen hat, dem er darüber hinaus dennoch als seinem ersten Herrn die Treue wahrt. Dass damit, dem ›ligesse‹-Gedanken entsprechend, den Rechten des zweiten Herrn, des Königs Claudas, kein Abbruch getan wird, wird in den weiteren, anschließend erzählten Kasus verhandelt. In ihnen geht es durchweg darum, wer die beiden minderjährigen Nachkommen König Bohorts, Lionel und Bohort (den jüngeren), in Gewahrsam hat. Der Zufall hat Phariens die beiden Kinder und deren Mutter in die Hände gespielt; er nimmt sie mit einer bezeichnenden Geste gefangen: Da er die frauwen sah, da ranter an sie und ergreiff sie mit dem zaume. Obwohl Evaine bereits darauf erbermclich zu weynen beginnt, ergreift er die Wiegen mit den beiden Kindern und sprach, er wolt sie zu dem konig Claudas furen, und fůrt sie hinwegk.76 Berücksichtigt man die im Eid des Vasallen in aller Regel ›negativ‹ definierte und beschworene Treue, nämlich nichts gegen den Herrn zu unternehmen, was diesem schaden könnte,77 so ist dies ein richtiger Entschluss und konsequentes Verhalten gegenüber Claudas, dem die rechtmäßigen Erben von König Bohort und seiner Herrschaft ständige Bedrohung wären, sollte er sie nicht unter seiner Kontrolle haben. In einer für den Prosa-Lancelot typischen Verschiebung der Motive – sie wird hier als neu und anders gefasste Entscheidung des Phariens inszeniert, die einen inneren Konflikt zur Anschauung bringt – lässt sich Phariens dann aber durch den jamer und die Ohnmachten Evaines bewegen, die Kinder nicht Claudas zu übergeben. Vielmehr erzwingt er von Evaine, der er wegen ihrer Bitte für sein Leben dankbar ist, die Zustimmung dazu, dass nun er die Kinder in seiner Obhut behalte, in der Hoffnung, mögen sie ymmer ir lant wiedder erkobern [»zurückgewinnen«], das mir auch vil licht deste baß wirt.78 In der vagen Hoffnung, dass auch ihm sein Lehen wieder zuteil würde, falls Lionel und Bohort ihr Lehen, das sie von Artus zu erhalten haben, wiedergewinnen sollten,79 hält nun Phariens den beiden Kindern als seinen ersten Herren die Treue, bringt sich damit aber zugleich in einen möglichen Gegensatz zu Claudas. Um dieses Dilemma des Phariens geht es im Weiteren. Seine Treue gegenüber Claudas, dem er eigenes Lehen und Untervasallen verdankt,80 wird nun durch einen weiteren Kasus auf die Probe gestellt, in dem eine Rechtsnorm verletzt wird, die über dem Lehensrecht steht. Claudas betrügt Phariens mit dessen Frau. Dies ist zwar, wie der Text suggeriert, der Schönheit der Frau wegen 76 77 78 79

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Kluge I, 17, 23–26; Steinhoff I, 54, 7–11; Micha VII, 4a, 4, 7–11. Ganshof, Lehnswesen [Anm. 7], S. 88–90. Kluge I, 18, 2; Steinhoff I, 54, 26f.; Micha VII, 4a, 5, 9–12. Selbst Claudas sagt einmal über diese Länder: ›Nochdann halt ich zwey konigrich, die man zu recht von im [Artus] solt enpfahen zu lehen, er getorst nye dawiedder nicht gesprechen noch gethůn‹; Kluge I, 27, 20f.; Steinhoff I, 82, 5–7; Micha VII, 8a, 4, 6–8. Kluge I, 17, 17–19; Steinhoff I, 52, 35 – 54, 2; Micha VII, 4a, 3, 9–13. – Später heißt es, Phariens habe von Claudas lant erhalten und des andern landes […] zu lehen und zu erbe; Kluge I, 21, 21f.; Steinhoff I, 64, 26–28; Micha VII, 7a, 1, 3f. (eine Entsprechung zu zu lehen und zu erbe fehlt).

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verständlich, setzt aber Phariens auch gegenüber dem Herrn ins Recht; denn dieser hat ihm ausdrücklich das ohnehin übliche Recht zugestanden, den Ehebrecher, sollte er ihn auf handhafter Tat ergreifen, zu töten.81 Da dies jedoch misslingt – Claudas kann fliehen, ohne dass Phariens Beweise für seinen Ehebruch in der Hand hätte –, bleibt Phariens nur die Möglichkeit, seine Frau, guter literarischer Tradition nach, in einen Turm zu sperren.82 Dennoch gelingt es dieser, Claudas dazu zu bewegen, Phariens seinen Besuch anzukündigen, was diesen wiederum dazu zwingt, Claudas – auch wenn dieser ihm gegenüber die Treue gebrochen hat – seinen Herrenrechten entsprechend zu empfangen und seine Gemahlin am Gastmahl teilnehmen zu lassen. Dabei gelingt es dieser, Claudas darüber zu unterrichten, dass Lionel und Bohort, die als verschwunden gelten, in der Obhut von Phariens sind; das wiederum nutzt Claudas, um einen Gegner des Phariens an seinem Hof zu veranlassen, öffentlich und in Gegenwart von Claudas, dem höchsten Richter, Phariens der verreterey zu beschuldigen, weil Phariens syns rechten herren fynd behalten hab dru jare und me.83 Dieser Fall wird also nun vor Claudas’ Gericht und dem seiner Vasallen verhandelt und entschieden. Phariens wird begleitet von seinem Neffen Lambegus, dem er zuvor, für den Fall, er werde nicht zurückkehren, die Herrschaft an seiner Stelle übertragen hat.84 In dem Gericht vor Claudas und demnach auch für die Erzählung wird der Kasus entschieden, zu dem es in dieser Kette von Zufällen und Bedingungsfaktoren gekommen ist; dabei ist der genaue Wortlaut von Rede und Gegenrede bedeutsam. Der von Claudas angestiftete Ritter bringt die folgende Klage vor: Er bittet Claudas seiner Klage entsprechend zu riechten uber eynen verreter synes gerechten herren. Er habe gesehen und gehört und wolle mit seinem Leben dafür einstehen, dass Phariens ›[…] mynes herren fynde, des konigs Bohortes beyd kind, hat behalten dru jare und me.‹ – Darauf wendet sich Claudas an Phariens und fragt: ›Sint ir ein verreter, das ist mir werlich leyt, wann ich han uch menig ere gethan.‹ – Phariens antwortet merkwürdig ausweichend: ›Herre‹, […], ›ich will mich des beraten.‹ – Darauf entgegnet der Neffe Lambegus dem Phariens: ›Wie, […] wolt ir uch des beraten? […] Hant ir verretery wiedder uwern herren gethan als uch der ritter zyhet, so thunt das seil umb uwern hals

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Kluge I, 22, 6–14; Steinhoff I, 66, 19–30; Micha VII, 7a, 3, 5–18. Vgl. Thompson, Stith, Motif-Index of Folk-Literature. A classification of narrative elements in folk-tales, ballads, myths, fables, mediaeval romances, exempla, fabliaux, jest-books, and local legends, 6 Bde., 2. Aufl., Kopenhagen 1955–1958, hier Bd. 5, T 50.1: »Girl carefully guarded from suitors«. Kluge I, 23, 22f.; Steinhoff I, 70, 21f.; Micha VII, 7a, 7, 12–14. Es ist zunächst nicht deutlich, ob es sich nicht um zwei Figuren handelt, denjenigen, dem die Herrschaft übertragen, und denjenigen, der als Begleiter vor Gericht ausgesucht wird; im Weiteren besteht aber kaum ein Zweifel daran, dass es sich stets um Lambegus handeln soll: Kluge I, 23, 29–33 und 24, 8f.; Steinhoff I, 70, 31 – 72, 3 und 72, 18f.; etwas abweichend Micha VII, 7a, 8, 5–9 und 7a, 9, 1–3 sowie 7a, 9, 15–17; dazu Robinson, 14a, Anm. 3, und Steinhoff II, S. 816, Kommentar zu 72, 1; anders hingegen Jefferson, Oaths [Anm. 7], S. 53 Anm. 29.

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und laßt von uch riechten! Hatt er unrecht und ir recht, so wert uch sicherlichen wiedder den besten ritter von der welt und den stercksten‹, denn untruw schwäche einen Ritter, während rechte truw jeden erst zum guten Ritter mache. Danach wendet er sich an Claudas: ›Herre konig, herre, ich wil mynen oheym dißer verretery unschuldig machen mit mym libe und will dißen kampff fur yn fechten.‹ Phariens springt auf, niemand dürfe für ihn fechten, und gibt Claudas seinen Handschuh: ›Herre‹, sprach er, ›seht hien myn wette [»mein Unterpfand«] das ich nye verretery zu uch gethet!‹ Sodann fragt Claudas, ob er etwa leugnen wolle, dass er die Kinder Bohorts in seiner Obhut habe. Darauf antwortet wieder Phariens’ fürsprech Lambegus, falls Phariens die Kinder habe, dann leiste Phariens ihm, König Claudas, schon Genugtuung damit, dass er jeden, der ihm verretery gegenüber Claudas vorwerfe, als Lügner bloßstellen werde. Alsdann insistiert Claudas auf dem materiellen Teil der Klage seines Ritters: ›Er ist besprochen von des koniges Bohortes kinden das er sie me dann dru jar behalten hatt.‹ Wenn Phariens dem widerspreche, werde der Ritter, der die Klage vorgebracht hat, das im Zweikampf auf Leben und Tod bezeugen. Lambegus hingegen geht es um den Vorwurf der verretery, und er antwortet: ›Herre‹, […], ›hatt er sie behalten, da mit hat er keyn verretery gethan.‹ Niemand von den Umstehenden würde behaupten können, ›das er da mit verretniß hett gethan, […], wann er synes herren des konig Bohortes nye verleuckente noch syn manschafft ny offgab. Al vertreib yn der konig syn herre; und me, wann er synes herren man was und die manschafft nye verwarff, so was er schuldig synem herren zu helffen, ob er lebte, und synen kinden, ob er sie hett.‹ Niemand widerspricht diesem entscheidenden Urteilsspruch, ja, selbst der Ritter, der die Klage vorgebracht hat, zögert und stellt sich erst auf Claudas’ nachdrückliche Ermahnung dem Kampf; und Phariens schlug dem ritter zuhant das heubt abe.85 Die narrative Strategie dieses Hin und Her ist klar: Der Vorwurf der verretery kann Phariens nach der Logik der Ligesse nicht treffen; es geht nicht um den materiellen Teil des Vorwurfs: Gerade weil Lambegus offenbar den Eindruck erwecken soll, selbst nicht zu wissen, ob sein Onkel Phariens nun die Kinder hat oder nicht, und auch wenn Phariens selbst sich seiner Sache unsicher ist, so hat er doch keine verretery begangen, nicht einmal gegenüber seinem Herrn Claudas, da er verpflichtet war, selbst die Kinder des Herrn, dem er zuerst die Treue geschworen hat, zu behüten, ihnen rat und helfe zukommen zu lassen. Alle, der anklagende Ritter und Claudas eingeschlossen, erkennen diesen Urteilsspruch an, der durch das Ergebnis des Zweikampfes bestätigt wird. Das Prinzip der Ligesse bei Mehrfach-Vasallität kommt in dem ausdrücklich ausgestellten Formalismus des Verfahrens nur umso deutlicher zum Vorschein; die materiellen Einwände darf Claudas vorbringen, er, der zu Beginn der Szene wieder als verreter bezeichnet wurde.86 85

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Kluge I, 23, 34 – 25, 15; Steinhoff I, 72, 4 – 76, 7; Micha VII, 7a, 9, 1 – 7a, 13, 4. – Zur Szene mit zahlreichen Parallelen aus der zeitgenössischen Rechtsliteratur Jefferson, Oaths [Anm. 7], S. 53–55. Kluge I, 23, 34; Steinhoff I, 72, 4; Micha VII, 7a, 9, 3.

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Nach diesem Verfahren schwört Claudas nun dem Phariens, er werde die Kinder mit eren halten, ihnen ihr Land, d.h. ihr Lehen, zurückgeben, und zwar auch Bonewig, da man ihm glaubwürdig versichert habe, dass König Bans Sohn tot sei. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, die Kinder durch Lambegus in das Kloster der Evaine in Sicherheit bringen zu lassen, lässt Phariens sie darauf an den Hof des Claudas zurückbringen; dort werden aber Lionel und Bohort und ihre adligen Erzieher (meister) Phariens und Lambegus in einem Turm in Gaune gefangen gehalten. Claudas selbst will nun, nur von einem Knappen begleitet, an König Artus’ Hof erkunden, ob er sich auch mit Artus messen könne. Doch Claudas wie der Knappe kommen unabhängig voneinander zu der Einsicht, dass dies vergeblich sein würde; Stabilität der Herrschaft und Glanz des Arturischen Hofes sind trotz Kriegen gegen mächtige Herrscher vor allem durch recht und milte garantiert. So rät der nicht einmal zum Ritter geschlagene Knappe dem König Claudas, der ihn erproben will, von einem Angriff auf Artus ab. Claudas legt ihm dies zum Schein als ›Verrat‹ aus; dies gibt Gelegenheit, in einem weiteren Kasus »the problem of conseil« ausgiebig zu diskutieren, d.h. die Pflichten des Vasallen, dem Herrn guten Rat, auch gegen dessen Interessen, im Spannungsfeld von truw und untruwe zu erteilen.87 Claudas hält darauf, zur Feier des Jahrestages seiner Krönung und der Ritterweihe seines Sohnes Dorin, einen Hoftag, provokativ im von ihm eroberten Land Gaune. Die Fee Ninienne will die gefangenen Lionel und Bohort befreien und zu sich bringen lassen; zu diesem Zweck schickt sie eine Vertraute namens Saraide zu dem Hoftag. Auf Saraides fordernd vorgetragene Bitte lädt Claudas auch die vier Gefangenen zum Festmahl. Entgegen allen Vorhaltungen und Warnungen des Phariens und des Lambegus erschlägt Lionel dabei des Claudas Sohn in größtem Zorn, der durch Juwelen verursacht worden ist, die Saraide den Kindern mit Hilfe von Spangen appliziert hat. Bohort und Lionel zerstören die Krönungsinsignien des Claudas. Saraide kann mit den beiden Kindern zum See der Ninienne flüchten; niemand bemerkt dies, da sie beide in Jagdhunde verwandelt hat, während zwei Hunde in der Gestalt von Bohort und Lionel erscheinen. Letztere flüchten sich in einen Raum, in dem Claudas sie gefangen halten lässt. Mit dieser Kette aus ›natürlichen‹ Zufällen und Zufällen aus Zauberei, provoziertem Zorn und inszenierter Blindheit aller Beteiligten setzt nun die Auseinandersetzung von Claudas, Phariens und Lambegus mit den burgern von Gaune und Rittern der Umgebung um das Schicksal der Kinder ein. Zunächst geht es um das Verhalten der beiden Vasallengruppen, Phariens’ und Lambegus’ und derer von Gaune, gegenüber ihrem Herrn Claudas; Letzterer verdächtigt jene der Mitwisserschaft, wenn nicht der Mittäterschaft am Tod seines ausgiebig, vor allem wegen seiner milte, beklagten Sohnes; die Klage liest sich in manchem wie ein Fürstenspiegel.88 Die beiden Gruppen hingegen wollen ihre rechten 87 88

Jefferson, Oaths [Anm. 7], S. 56ff.; infrage kommt insbesondere der Passus Kluge I, 29, 35 – 31, 32; Steinhoff I, 88, 15 – 94, 8; Micha VII, 8a, 11, 1 – 8a, 16, 13. Kluge I, 61, 28 – 63, 26; Steinhoff I, 176, 33 – 182, 24; Micha VII, 14a, 3, 1 – 14a, 8, 8.

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Herren schützen, an denen Claudas, der sie gefangen glaubt, seinen Sohn rächen will. Zunächst sind die von Gaune im Vorteil; als sie hören, dass Claudas die Kinder töten will, sammeln sie ein ganzes Heer und ziehen damit vor die Burg, weit schneller als Claudas, der sich seiner Gefolgsleute, zumal derer aus Gaune, nie sicher sein kann. Die interne Begründung für den Heeresaufzug derer von Gaune gegen Claudas formuliert Phariens: ›Wir han auch viel me lút dann der konig […], wir han recht, und er hat unrecht; wir wollen helffen unsern rechten herren. Bliben wir dot, unser sele werdent behalten. Beschutten wir unser rechten herren, so spricht uns alle die welt wol. Ich han dick hörn sagen das yglich man schuldig sy synem rechten herren zu helffen; und wo er synem rechten herren hilffet zu recht, blibet er da dot, er werd als wol behalten als ob er under den heiden dot belieb, die unsers herren fynt sint.‹ Phariens, der das Heer anführt, fordert von Claudas, des konig Bohortes zwey kint herauszugeben. Demgegenüber formuliert jedoch Claudas seinen Anspruch: ›Herre Phariens‹, […], ›ir sint doch myn man, und alle die mit uch sint, die sint beide, min lút und myn man.‹ Diesen Hinweis auf die Gefolgschaftspflicht weist Phariens zurück; wenn sie jedoch die Kinder hätten und Claudas immer noch eine Klage gegen sie vorzubringen hätte, wollten sie sich gern vor seinem Gericht verantworten – ›als wir zu recht thun sollent‹.89 Es ist danach grundsätzlich legitimiert und durch ›die Welt‹ und durch Gott gutgeheißen, dem rechten herren gegen alle anderen zu helfen, d.h. auch gegen den anderen Herrn, dessen Herrschaft und die damit verbundenen Rechte nicht bestritten, sondern ebenso grundsätzlich anerkannt werden; sie finden jedoch ihre Grenze in diesem Kasus am höheren Recht des primären Herrn. Um diese Streitfrage geht es auch im Weiteren. An Claudas’ Vorhaben, die Kinder angesichts seiner derzeitigen Unterlegenheit nur auf eine Weise herauszugeben, das ers ere het,90 entzündet sich mit gegenseitigen Provokationen der Kampf. In ihm wird nun in wechselnden Konstellationen mit je neuen Parametern und bis hin zur Groteske der Anspruch der beiden Herren auf Herrschaft resp. Gefolgschaft durchgespielt. In diesem Kampf zeichnen sich vor allen anderen der von Phariens zugleich wegen untruwen, falsch und schalckeit verwünschte und bewunderte Claudas auf der einen91 sowie Phariens und Lambegus auf der anderen Seite aus. Claudas gelingt es trotz zahlreicher schwerer Verletzungen, den Lambegus, der Claudas über alle Maßen hasst, so zu treffen, dass er ihm nur noch den Kopf abtrennen müsste – aber Phariens kann im letzten Moment seinen Neffen retten. Als darauf Lambegus den in diesem Moment hilflosen Claudas ermorden will, hilft Phariens dem Claudas, das yne syn nefe nicht erstach.92 Er liefert dafür, mitten auf dem Schlachtfeld, neben einem abgeschlagenen Kopf, zwei Begründungen: Man dürfe den besten ritter […] der in der welt 89 90 91 92

Kluge I, 63, 32 – 64, 22; Steinhoff I, 182, 32 – 184, 32; Micha VII, 14a, 9, 5 – 14a, 11, 15. Kluge I, 64, 29; Steinhoff I, 186, 5; Micha VII, 14a, 12, 10f. (il les rendra en teil maniere qu’ il n’en soit blasmés de couardise). Kluge I, 66, 33–35; Steinhoff I, 190, 34–37; Micha VII, 14a, 19, 18–20. Kluge I, 67, 16f.; Steinhoff I, 192, 23; Micha VII, 14a, 21, 16f. (leicht abweichend).

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lebte, ein Ruhm, der sonst stereotyp Lancelot zukommt, nicht, und vor allem in mannes nöten nicht töten, denn alle die welt mocht so hohen princen und so gůten ritter nicht vergelten ob er alhie tot verlibe. Und gegenüber dem Vorwurf des Lambegus, Phariens werde seine ere verlieren, wenn er einen Mann entkommen lasse, den man töten müsse, da er ihnen bereits so großen schaden angetan und vor ihrer aller Augen ihre gerecht herren beyd hätte töten wollen, definiert Phariens noch einmal sehr klar die Pflichten des Vasallen gegenüber dem Herrn, die nur eingeschränkt sind, wenn ansonsten die Rechte des möglicherweise höheren oder früher gewählten anderen Herrn eingeschränkt wären, unabhängig also selbst von der moralischen Qualifikation des Herrn, wie ja ebenso unabhängig davon auch dessen ritterliche Tapferkeit und Kampfkraft zu rühmen sind: ›Der man ist nit schuldig synen herren zu töten durch keynerhande missetat, die er úmmer gethun mag. Sieht er synen herren in noten das er den lip must verliesen, er ist im schuldig zu helffen mit lib und mit gůt; er sy dann vor von im gescheiden, das er im sin manschafft und das gut, das er von im hatt, off hab gegeben. So bin ich yn schuldig zu beschutten vom tode wo ich mag, und myn trúw zu behalten die ich im gegeben han. Mynes herren kint bin ich schuldig zu beschirmen allenthalben und zu behuten wo ich mag, wann ich irs vatter man was und ich lang mit yn gewest bin.‹93

Auf diese Rede hin übergibt Claudas dem Phariens sein Schwert und verspricht, ihm Lionel und Bohort auszuliefern. Dies geschieht – aber der Erzähler erinnert daran, dass es sich ja tatsächlich um Hunde handele. Als dies entdeckt wird, setzt dies eine neue Kette von Zorn auf Claudas, von dem die von Gaune sich getäuscht glauben, von Verfolgung und Krieg in Gang. Die Reihe der Kasus, die nun erzählt werden – man wird mit fließenden Übergängen etwa 24 verschiedene Konstellationen unterscheiden können –, ist zentriert auf zwei Gesichtspunkte. Glaubwürdige Zeugen müssen bestätigen, dass Lionel und Bohort leben und dass nicht Claudas für ihr Verschwinden oder gar für ihren möglichen Tod verantwortlich ist; bis dies geklärt ist, sind aber die Rechte des Herrn, d.h. des Claudas, gegenüber denen von Gaune zu wahren und umgekehrt die Rechte der Vasallen in Gaune gegenüber dem Herrn, als dieser mit militärischer Übermacht Gaune zu belagern sich anschickt. Dies diktiert zunächst Konflikte des Phariens mit Lambegus und denen von Gaune, bis hin zu dem Höhepunkt, dass Phariens den Lambegus töten will, weil dieser ihn durch sein Verhalten zum Verräter an Claudas gemacht und um seine Ehre gebracht habe; Lambegus, der eigentlich von Phariens’ Frau gehasst wird, wird jedoch durch ihre inständig vorgetragene Bitte um sein Leben gerettet – wie einst Phariens durch die Bitten von Bohorts Gemahlin Evaine.94 Unter anderen Bedingungen – nunmehr ist Claudas überlegen – gibt Phariens, geradezu im Gegenzug, wie oben beschrieben, Claudas seine manschafft und das gut, das er von im hatt, auf, ist also nicht mehr verpflichtet,

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Kluge I, 67, 18–36; Steinhoff I, 192, 24 – 194, 13; Micha VII, 14a, 22, 1–24. Kluge I, 82, 16–31; Steinhoff I, 232, 17 – 234, 1; Micha VII, 14a, 66–67, 1–8.

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unter allen Umständen das Leben von Claudas zu beschützen – nicht aber wegen dessen Missetaten, sondern weil Claudas auf den pflichtgemäß vorgebrachten rat des Vasallen Phariens nicht eingegangen, sondern bereit ist, auf diesen dienst zu verzichten und die Stadt Gaune nicht zu schonen.95 Selbst in der Aufgabe der Vasallität werden also noch deren Normen gewahrt. Es kommt dann dennoch zum Frieden, weil Lambegus sich, obwohl ihn nur Phariens indirekt dazu auffordert, dem Claudas, wie von diesem verlangt, auf den Tod seinem Gericht ausliefert, aber unter Wahrung seiner Ehre: Er wirft Claudas seine Rüstung vor die Füße. Claudas schenkt in diesem Showdown jedoch Lambegus das Leben und bittet ihn und Phariens, wieder seine Vasallen zu werden; beide lehnen dies jedoch ab.96 Damit ist ihre narrative Mission auch erfüllt. Phariens darf Lionel und Bohort noch einmal sehen – ein Wiedersehen, das durch Lionels unberechtigten zorn fast zu den gleichen Konflikten wie mit Claudas führen könnte; danach wird nur noch, in einem Satz, von Phariens’ Tod berichtet.97 Es ist unnötig, diese Kette neuer Kasus mit ihren je neuen Anlässen, die oft als Zufall inszeniert werden, noch einmal zu analysieren. Wichtig ist, dass für die Vorgeschichte des Prosa-Lancelot, d.h. von den ›historischen‹ Voraussetzungen der ersten Sätze an bis zum Einzug Lancelots am Artushof, gilt, dass nicht ausschließlich, aber dominant nach diesem Muster erzählt wird. Die Figuren, mit denen die Kasus besetzt sind, lassen sich geradezu als Funktionen dieser Kasus lesen. Die Verkettung der einzelnen Kasus nach diesem Muster erfolgt sowohl durch z.T. identische Figuren, womit wiederum die oftmals problematische Identität dieser Figuren erzeugt wird, als auch durch Parallelisierungen von Anlass und Konstellation des Konflikts sowie durch Reprisen mit komplexitätssteigernden Ansätzen unter anderen und schwierigeren Bedingungen. Den Zusammenhang der verschiedenen Kasus untereinander wie mit der Geschichte Lancelots, Hectors, Lionels, Bohorts, Galaads, Artus’, Ginovers und vieler anderer, mit dem sog. Hauptteil also, garantiert jedoch vor allem ein Ansatz, der auf möglichst vollständige Erfassung von Geschichte in ihren Voraussetzungen, Abläufen, Zufällen, Konditionierungen und Mechanismen zielt, die insgesamt für die beteiligten Figuren erst im Nachhinein die Durchschaubarkeit von Abläufen und ihren Ergebnissen suggerieren, die durch Zufall veranlasst und gesteuert sind. Vorausdeutungen verschiedenster Art und ihre Konfrontation mit Hoffnungen und Befürchtungen der in ihrem Wissen eingeschränkten Figuren suggerieren zugleich die letztliche Nichtverfügbarkeit von Geschichte, ihre Prädestination nach den Regeln einer regellosen Fortuna. Im Erzählen der Vorgeschichte hat die Geschichte des Phariens einen zentralen Part, der nicht einfach separiert werden und dann einzig durch Referenzen auf die Probleme feudaler Gegenwart des 13. Jahrhunderts erklärt 95 96 97

Kluge I, 99, 6 – 100, 32; Steinhoff I, 276, 13 – 280, 25; Micha VII, 17a, 6, 3 – 17a, 10, 11. Kluge I, 105, 14 – 110, 20; Steinhoff I, 292, 23 – 306, 27; Micha VII, 17a, 26, 6 – 17a, 41, 15. Kluge I, 111, 32f.; Steinhoff I, 310, 19f.; Micha VII, 18a, 4, 5f.

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werden kann. Erzählt wird die Geschichte der Arturischen Herrschaft, in der Vorgeschichte deren labile Anfangsphase am Beispiel von zwei ihrer wichtigen Territorien, deren Verlust durch das, wiederum ›historisch‹ erklärte, Versagen von König Artus bedingt ist, damit aber zugleich jene drei ›fahrenden Ritter‹ hervorbringt, die wesentlich durch die Treue ihrer Vasallen und die Zauberei der Ninienne gerettet werden und dadurch die Arturische Herrschaft erst zu jener Größe führen, durch die sie berühmt ist. Dass feudale Herrschaft selbst in der Lancelot-Ginover-Liebe zum zentralen Thema des Romans wird, hat Cornelia Reil eindrucksvoll gezeigt.98 Zum Thema wird Herrschaft in der Vorgeschichte durch die Reihung der Kasus. »Obligatorische Kennzeichen kasuistischer Textorganisation sind«, nach einer Formulierung von Manfred Eikelmann, »die problematisierende Umsetzung der Regel-Fall-Struktur, das in seinem Ausnahmestatus realitätsbezogene Fallbeispiel sowie der daran geknüpfte Appell zur Normen- und Wertereflexion.«99 Die Normen feudaler Herrschaft und Vasallität werden in Kasus diskutiert, expliziert und immer wieder auch artikuliert. Dass sie einen Orientierungsrahmen und keine Verhaltensmaßregeln bieten, sichert ihr kasuistisch organisiertes Erzählen im Rahmen einer Geschichte, deren Verlauf ihre relative Gültigkeit demonstrativ bezeugt.

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Reil, Cornelia, Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot, Tübingen 1996 (Hermaea N.F. 78). Meine Skizze verfolgt im Anschluss an ihre Arbeit demnach andere Ziele als die Normendiskussion bei Ehlert, Trude, Normenkonstituierung und Normenwandel im Prosa-Lancelot, in: Wolfram-Studien, 9/1986, S. 102– 118, andere Ziele auch als die Diskussion von »Recht« durch Freytag, Wiebke, Mundus fallax, Affekt und Recht oder exemplarisches Erzählen im Prosa-Lancelot, in: Wolfram-Studien, 9/1986, S. 134–194, hier S. 171–187, schließlich auch weniger ambitionierte Ziele als die Untersuchung von Howard Bloch zum Rechtsdiskurs im Prosa-Lancelot, insbesondere in der Mort Artu: Bloch, Howard, Medieval French Literature and Law, Berkeley u.a. 1977, hier S. 13–62; dazu zuletzt Waltenberger, Michael, Das große Herz der Erzählung. Studien zu Narration und Interdiskursivität im ›Prosa-Lancelot‹, Frankfurt/M. u.a. 1999 (Mikrokosmos 51), S. 162–172. Eikelmann, Manfred, Kasus, in: RLW, 2/2000, S. 239–241.

Almut Schneider (Eichstätt-Ingolstadt)

er liez ze himel tougen erhellen sîner stimme dôn Sprachklang als poetische Fundierung normativen Sprechens

Die Frage nach Legitimation und Geltung von Literatur stellt sich in besonderem Maße – dies hat die neuere Forschung herausgearbeitet – im Bereich legendarischen Erzählens, kann doch hier zwar der Erzählgegenstand a priori Geltung für sich beanspruchen, nicht aber der Erzählakt selbst.1 Legendarisches Erzählen, so führt Peter Strohschneider aus, ist zunächst »durch ein unaufhebbares Geltungsdefizit gekennzeichnet«2, denn was für den Erzählgegenstand – das Heilige und seine konkreten Manifestationen in der Welt, in einem Heiligen und in dessen Reliquien – gilt, dies gilt für den Erzählakt, die Legende selbst, gerade nicht und kann es auch gar nicht: »Die narrative Rede über Heiligkeit selbst verfügt keineswegs immer schon über höchste Geltung. Im Gegenteil: Sie ist ja stets ein Immanenz-Moment, ein Teil von ›Welt‹, und das bedeutet, dass schon insofern der Erzählakt hier immer von seinem Erzählgegenstand her devaluiert wird.«3

Den Grund für dieses Geltungsdefizit fasst Strohschneider, auch im Rekurs auf Bruno Quast, darin, dass Erzählen immer ein differenzieller Zeichenprozess ist, das Erzählte hingegen Manifestation einer Transzendenz, die als das von allem Unterscheidbaren kategorial Unterschiedene – damit auch von Sprache, Sprechen, Erzählen – sich der literarischen Darstellbarkeit entzieht.4 Literatur, insbesondere geistliche

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Vgl. Strohschneider, Peter, Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ›Alexius‹, in: Melville, Gert / Vorländer, Hans (Hrsg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 109–147, hier S. 116. Ebd., S. 117. Zum Legitimierungsbedarf insbesondere der geistlichen, der religiösen Dichtung vgl. Kellner, Beate, Wort Gottes – Stimme des Menschen. Textstatus und Profile von Autorschaft in Otfrids von Weißenburg ›Evangelienbuch‹, in: Kellner, Beate / Strohschneider, Peter / Wenzel, Franziska (Hrsg.), Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 139–162, hier S. 141. Strohschneider, Textheiligung [Anm. 1], S. 117. Vgl. ebd.; s. Quast, Bruno, Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und früher Neuzeit, Tübingen 2005 (Bibliotheca Germanica 48); Kellner, Wort Gottes [Anm. 2], S. 141; vgl. auch Quast, Bruno, Vera Icon. Über das Verhältnis von Kulttext und Erzählkunst in der ›Veronika‹ des Wilden Mannes, in: Müller, Jan-Dirk / Wenzel, Horst (Hrsg.),

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Dichtung, ist Ort der Diskursivierung, der Repräsentation, nicht aber der Präsenz des Heiligen.5 An diesem Punkt setzen meine Überlegungen an – und so möchte ich im Folgenden noch einmal nach Strategien der Legitimierung und Authentifizierung legendarischen Erzählens fragen, auf der Figurenebene wie auch auf der des Textes selbst. Wie also konstruiert der Text narrativ die Geltung seiner Figur? Im Fall der Legende wäre demnach zu fragen: Welche literarischen Strategien wendet der Text an, um die Heiligkeit seines Protagonisten evident werden zu lassen? Auf einer zweiten Ebene ist darüber hinaus nach einer möglichen Authentifizierung des Erzählaktes zu fragen. Noch kaum hinreichend berücksichtigt, so scheint mir, blieb in diesem Kontext bislang die Funktion der Sprache – und genau hier möchte mein Beitrag ansetzen: Die Autorisierung von Heiligkeit, so möchte ich am Beispiel von Konrads von Würzburg Legenden zeigen, vollzieht sich wesentlich über die Sprache des Heiligen. Dabei ist es jedoch nicht zuerst der Inhalt didaktischer Rede oder deren rhetorische Durchformtheit,6 sondern insbesondere der Klang der Sprache, der seinen Sprecher legitimiert und dessen Rede als heiligmäßig ausweist. Diese These gründet kaum zufällig auf der Lektüre Konrads von Würzburg, ist doch gerade Konrad durch eine virtuose rhetorische Kunstfertigkeit und ein ausgefeiltes Sprachbewusstsein in allen seinen Werken gekennzeichnet, so dass er mehrfach in den Blick neuerer Untersuchungen auch zu Fragen mittelalterlicher volkssprachiger Poetik gerückt ist.7 Mein Untersuchungsgegenstand im Folgenden sind seine drei Legenden, Silvester, Alexius und Pantaleon,8 die Konrad im wohl verhältnismäßig

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Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 197–216, hier S. 214. Vgl. Kellner, Wort Gottes [Anm. 2], hier S. 141. Entschieden weist Strohschneider die Sprache der Legende wie auch des Heiligen als eine Funktion der Authentifizierung von Heiligkeit zurück. Weder werde die Geltung der Rede vom Heiligen, auch der narrativen Rede, »einfach immer schon – situationsabstrakt, kontextindifferent – vom heiligen Gegenstand oder Thema dieser Rede gestiftet«, noch sei sie ein Effekt der besonderen linguistischen Struktur legendarischen Erzählens. Vgl. Strohschneider, Textheiligung [Anm. 1], S. 121. Wenn Strohschneider vor diesem Hintergrund auf das Sprechen fokussiert, auf den Gebrauch der Rede vom Heiligen »in institutionell geregelten Sprechsituationen« (ebd.), so geht es mir um eine musiktheoretisch begründete Differenzierung der Sprache, um von dort aus die Frage nach ihrer möglichen Heiligkeit neu zu stellen. Schnyder, Mireille, Eine Poetik des Marienlobs. Der Prolog zur ›Goldenen Schmiede‹ Konrads von Würzburg, in: Euphorion, 90/1996, S. 41–61; Müller, Jan-Dirk, ›schîn‹ und Verwandtes. Zum Problem der Ästhetisierung in Konrads von Würzburg ›Trojanerkrieg‹ (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik), in: Dicke, Gerd / Eikelmann, Manfred / Hasebrink, Burkhard (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 287–307. Gereke, Paul (Hrsg.), Konrad von Würzburg, Die Legenden, Bd. I, Silvester, Halle 1925 (ATB 19); ders. (Hrsg.), Konrad von Würzburg, Die Legenden, Bd. II, Alexius, Halle 1926

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engen Rückgriff auf lateinische Vorlagen verfasst hat, ohne dass ich hier das jeweils genaue Verhältnis zur Vorlage einbeziehen könnte.9 Das ist insofern vielleicht legitim, als es mir nicht um die Originalität Konrads geht, sondern um eine Beobachtung, die sich, wie ich hoffe zeigen zu können, an Konrads Legenden zwar besonders gut beschreiben lässt, über diesen Gattungsrahmen jedoch zugleich hinausführt auf eine Frage mittelalterlicher volkssprachiger Poetik, genauer: auf einen Aspekt, der mir für die Beschreibung einer solchen – allenfalls implizit zu greifenden – Poetik wichtig zu sein scheint, der aber bislang in der Forschung noch kaum hinreichend Beachtung gefunden hat: auf den Diskurs der mittelalterlichen Musiktheorie10 im Kontext poetologischer Reflexion.11 In erweiterter Perspektive geht es mir also nicht darum, spezifisch eine Poetik legendarischen Erzählens nachzuzeichnen; meine Überlegungen zielen nicht auf die Sprache des Heiligen, sondern vielmehr auf die Heiligkeit der Sprache in diesem Zusammenhang.

I. Sprache, so Konrads Überzeugung, die sich in allen drei Legenden belegt findet, kann Gottes Wirken in der Welt sichtbar machen – und mehr noch: es ist der Dichter, der dies mit seinen ureigenen Mitteln – mit seiner Sprache – bewerkstelligen kann.12 Daz wunder sol ze liehte varn / daz got durch sîne tugent begie (V. 54f.), heißt

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(ATB 20); Woesler, Winfried (Hrsg.), Konrad von Würzburg, Die Legenden, Bd. III, Pantaleon, 2. Aufl., Tübingen 1974 (ATB 21). Vgl. Brunner, Horst, Konrad von Würzburg, in: VL2 , 5/1985, Sp. 272–304, hier Sp. 286; zum Silvester und dessen Verhältnis zur lateinischen Vorlage vgl. auch Kliege-Biller, Herma, ›…und ez in tiusch getihte bringe von latîne‹: Studien zum ›Silvester‹ Konrads von Würzburg auf der Basis der ›Actus Silvestri‹, Münster 2000; zusammenfassend Woesler, Winfried, Mittellateinische Legende und volkssprachige Version. Aus der Werkstatt einer Neuedition von Konrads von Würzburg ›Silvester‹, in: editio, 11/1997, S. 50–61, hier S. 53. In welcher Vielfalt Musiktheoretisches seinen Niederschlag in der mittelalterlichen Literatur findet, führt Michael Bernhard vor. Vgl. Bernhard, Michael, Das musikalische Fachschrifttum im lateinischen Mittelalter. Eine Charakteristik, in: Zaminer, Friedrich (Hrsg.), Geschichte der Musiktheorie, Bd. 3, Bernhard, Michael u.a. (Hrsg.), Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter, Darmstadt 1990, S. 37–103, hier S. 86–103. Die Nähe der Kunstauffassung Konrads von Würzburg zur mittelalterlichen klerikalen Musiktheorie führt Ingo Scherbaum mit dem Verweis auf den Auftraggeber des Trojanerkrieg, den Basler Domkantor Dietrich an dem Orte (de Fine), an, ohne jedoch von hier aus nach einer Poetik Konrads zu fragen. Scherbaum, Ingo, Die Vokalmusik im mittelalterlichen Gottesdienst und Konrads von Würzburg Auffassung vom Ansehen der Dichtkunst im ›Trojanerkrieg‹ und im Spruch 32,301, in: ZfdA, 131/2002, S. 326–334. Ausführlich dargestellt und belegt findet sich diese These bei Kretzschmar, Regina, Sprachbewusstsein bei Konrad von Würzburg, Mag. masch. Göttingen 1998.

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es im Prolog zum Pantaleon, und Konrad schließt daran unmittelbar an, dass er dies als seine eigene Aufgabe begreift: mit rede wil ich ensliezen hie / den namen und die helfe sîn (V. 56f.). Konrads Programmwort für seine dichterische Tätigkeit steht hier in einem Prolog, der überdies durch seine explizite Nähe zu Gottfrieds Tristan legendarisches Erzählen in hochliterarische Zusammenhänge einordnet,13 und ist damit im Kontext der Legende zugleich auf ihren spezifischen Gegenstand bezogen: entsliezen al der werlte heil (V. 4361) – so lautet im Silvester die Aufgabe, die dem Protagonisten im Disput mit den jüdischen Gelehrten gestellt ist. Setzt Konrad die Wirkmächtigkeit der Sprache ins Zentrum gerade der Legende – auf der Ebene des Erzählens wie auch auf der des Erzählten –, so würde eine Authentifizierung des Heiligen durch Sprache damit korrespondieren. Die Protagonisten der Legenden Konrads – so meine These, und dies gilt für Silvester, Pantaleon und Alexius gleichermaßen – erweisen ihre Heiligkeit auf zweifache Weise: zunächst durch ihre Sprache, durch die besondere Qualität ihrer rede, und in einem zweiten Schritt durch ihre äußere Erscheinung, durch das lieht, das den Heiligen in dem Moment auszeichnet, in dem seine Heiligkeit offenbar wird. Dabei betont Konrad jedoch weniger den Inhalt didaktischer Rede als ihren Ausdruck. Es sind nicht zuerst die Predigtworte, die den Heiligen ausmachen, sondern es ist vielmehr eine ästhetische Kategorie seines Sprechens, die sich im Begriff der süeze fassen lässt als der zentralen Kategorie, mit der heiligmäßiges Sprechen hier durchweg gekennzeichnet ist. Damit verwendet Konrad zugleich einen Terminus, der auch in der Lyrik die unmittelbare Wirkung der stimmlichen Klangkunst bezeichnet.14 Dies beginnt im Silvester schon mit dem Lehrer des Protagonisten: Der junge Silvester beherbergt den heiligen Thymotheus,15 der in Rom mit vil süezer predigunge (V. 203) seine Zuhörer zum Christentum bekehrt. In dessen Nachfolge wird auch Silvester nach seinem Eintritt in den Orden durchweg süeze predigunge (V. 482) und reiniu süeziu lêre (V. 609) hervorbringen. In gleicher Weise sind die Worte des Alexius als 13

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So lassen sich die Prologverse, swer sînen tôt vor ougen hât / und in ûf erden êret, / der wirt von im bekêret / unde erlôst von arbeit (V. 44–47), unmittelbar beziehen auf den Prolog zum Tristan: wan swer des iht vor ougen hât, / dâ mite der muot zunmuoze gât, / daz entsorget sorgehaften muot, / daz ist ze herzesorgen guot (Marold, Karl [Hrsg.], Gottfried von Straßburg, Tristan, unveränderter 4. Abdruck nach dem dritten mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten Apparat besorgt von Werner Schröder, Berlin, New York 1977, V. 77–80). Die Funktion, die Gottfried seinem senemære zuschreibt, die Erlösung aus der Not, ist bei Konrad in eine heilsgeschichtliche Funktion legendarischen Erzählens übertragen. Die Nähe der beiden Prologe beobachtet auch Wyss, Ulrich, Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik, Erlangen 1973 (Erlanger Studien 1), hier S. 234. Vgl. Bleumer, Hartmut, Gottfrieds ›Tristan‹ und die generische Paradoxie, in: PBB, 130/2008, S. 22–61. Prominentes Beispiel dafür ist Gottfrieds Literaturexkurs im Tristan: »Die Lyriker (nahtegalen) erzeugen einen starken sinnlichen Eindruck, dessen auditive Qualität sich topisch besonders über die Geschmacksmetapher bezeichnen lässt.« Ebd., S. 40. Vgl. Gereke (Hrsg.), Silvester [Anm. 8], V. 166f.: geheizen Thymotêus / was sîn heileclicher name.

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süß charakterisiert, mit denen er seiner Braut seine Weigerung erläutert, die Ehe zu vollziehen: mit süezen worten minneclich / begunde er si daz lêren (V. 222). Und auch die Worte des Priesters, der Pantaleon zum Christentum bekehrt, erscheinen diesem als süß wie Honigwein, süeze als ein mete (V. 264). In seiner materialreichen Studie Süße Nägel der Passion beschreibt Friedrich Ohly Süße als theozentrisches Phänomen: sie ist in Gott und strömt zu ihm zurück, auch in Gebet und Liturgie.16 Sie ist zunächst Attribut Christi,17 doch ist bei Konrad auch der Heilige selbst mehrfach als süez gekennzeichnet, Silvester als der reine und der vil süeze (V. 328) und auch Alexius als der süeze (V. 286). Die süeze ist damit Kategorie des Heiligen selbst wie auch seiner Rede und könnte damit zunächst auf die ästhetische Durchformtheit, die rhetorische Virtuosität seines Sprechens verweisen. Doch im Pantaleon wird die Süße heiligmäßigen Sprechens anders, spezifischer zugeordnet: Als Pantaleon auf die Anschuldigungen Kaiser Maximians reagiert, ist es allein die Stimme, die Konrad als süß beschreibt, noch bevor von seinen Worten die Rede ist: Des antwurt im Pantaleôn. er lie vil süezer stimme dôn erklingen von dem munde sîn. er sprach […]. (Pantaleon, V. 981–984)

Süße ist hier also nicht eine rhetorische Geschmücktheit der Sprache, sondern ihr Klang. Wer Wahrheit spricht, tut dies mit leiser und wohlklingender Stimme – und so steht Pantaleons innecliches Gebet (V. 1085) im Gegensatz zum Gebrüll der Heiden, deren uppeclich geschrei (V. 1069) ihren Götzendienst begleitet.18 Der süeze dôn seiner stimme kontrastiert zugleich mit der heiseren Stimme des heidnischen römischen Kaisers, der âmehtic unde heiser / an kristenlicher sælekeit (V. 1024f.) der Lehre Pantaleons nicht folgen kann. Dabei ist eine solche Gegenüberstellung keineswegs auf Konrads Legenden beschränkt. Gleiches lässt sich im Engelhard finden,19 denn als Dietrich erkrankt, ist eines seiner Krankheitszeichen die Veränderung seiner Stimme: diu lûtersüeze stimme sîn / wart unmâzen heiser (V. 5160f.). 16

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Vgl. Ohly, Friedrich, Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik, in: Heintz, Günter / Schmitter, Peter (Hrsg.), Collectanea philologica. Festschrift für Helmut Gipper zum 65. Geburtstag, Bd. II, Baden-Baden 1985 (Saecula spiritalia 15), S. 403–613, hier S. 536. »Die dem Zusammenklang von Wort und Ton, von Sprache und Musik im himmlischen und irdischen Alleluia gleichwohl auch eigene ästhetische Qualität der Süße ist kein autonomer Wert, vielmehr eine Funktion der theologischen, in der Bezogenheit auf Gott ruhenden Qualität der Süße […].« Vgl. ebd., S. 471. Dafür finden sich etliche Belege im Pantaleon, vgl. die Verse 276, 563, 796, 1084, 1282, 2030; Silvester, V. 377. Gegen das Geschrei der Götzendiener setzt Pantaleon Gebet und Flehen; dô wart ein lût gebrehte schîn / von maniger stimme schalle. / swaz sie geriefen alle / daz was ein uppeclich geschrei (V. 1066–69). Gereke, Paul / Reiffenstein, Ingo (Hrsg.), Konrad von Würzburg, Engelhard, 3., neubearbeitete Aufl., Tübingen 1982 (ATB 17).

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Spezifisch der Sprachklang also des Gerechten bzw. des Heiligen ist als süß gekennzeichnet und grenzt ihn von dem seines Widersachers ab. Und auch die Sprache dessen, der bekehrt wurde, erklingt im neuen, süßen Klang, wie dies Konstantin in seiner Begegnung mit Silvester erfährt. Nachdem der römische Kaiser sich durch den Verzicht auf die Opferung der unschuldigen Kinder selbst überwunden hat, begegnen ihm Petrus und Paulus im Traum und versprechen Heilung, wenn er Silvester zu sich hole und sich taufen lasse. Konstantin folgt dieser Aufforderung und lässt Silvester zu sich rufen. Als dieser nun – in Erwartung seiner Marter – vor Konstantin steht, nimmt ihn der Kaiser wohlwollend auf, und es ist bereits der Klang seiner Sprache, der, noch ohne dass ein Wort wiedergegeben wäre, seine Wandlung bezeugt und damit – der Sprache des Heiligen korrespondierend – Bekehrung und Taufe vorwegnimmt: vil süeze sunder lougen wart wider in diu sprâche sîn. er tet im dâ mit rede schîn wie des nahtes im geschach. (Silvester, V. 1398–1401)

II. Insbesondere der Klang der Sprache also ist es, der seinen Sprecher – noch vor jedem didaktischen Inhalt – legitimiert und dessen Rede autorisiert. Die prophetische Rede erklingt im süßen Ton,20 und so findet normatives Sprechen seine Legitimation spezifisch im Klang der Sprache. Doch was ist es, was diesen Klang auszeichnet, was ist Sprachklang und wie ist dieser Klang zu deuten? Auf welches Sprachmodell also rekurriert der Text, wenn es von Pantaleon heißt, er lie vil süezer stimme dôn erklingen von dem munde sîn. er sprach […] (Pantaleon, V. 982–984)?

Dôn ist hier als der Teil der Stimme ausgewiesen, der beim Reden erklingt, neben dem Wort als dem Bedeutungsträger der Sprache. Eine theoretische Fundierung für eine solche Differenzierung von Sprache – die auch in Konrads Trojanerkrieg anklingt, wenn er im Prolog von red und guoter doene (V. 53) spricht –21 findet sich im musik20

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Als ein weiteres Beispiel für den süßen Klang als Charakteristikum göttlich inspirierter Dichtkunst lässt sich die Geschichte Caedmons als dem »ersten christlichen Sänger germanischer Zunge« in Beda Venerabilis’ Historia Ecclesiastica gentis Anglorum anführen. Gerade der süße Klang weist den Sänger als unter dem Glanz der Gnade Gottes Stehenden aus. Vgl. Kellner, Wort Gottes [Anm. 2], hier S. 139–142. Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg, nach den Vorarbeiten K[arl] Frommanns und F[ranz] Roths zum ersten Mal hrsg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 44).

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theoretischen Schrifttum. Am Beginn des ersten Buches seines Traktates De musica unterscheidet Augustinus bei Wörtern zwischen Klang und Bedeutung, sonus und significatio, und leitet damit seine Begründung für eine Wissenschaft der Musiktheorie ein.22 Wenn Augustinus hier von sonus spricht, so verwendet er einen Begriff für den musikalischen Komplex von Laut / Ton / Klang, dessen Begriffsgeschichte im antiken und mittelalterlichen Schrifttum nicht linear nachzuzeichnen ist, sondern in einer Vielzahl paralleler Stränge verläuft, von denen jeder einzelne sonus auf sehr eigene, mitunter nicht kompatible Weise definiert oder veranschaulicht.23 Von Anfang an aber steht sonus im Spannungsverhältnis zu vox als dem musiktheoretischen Begriff für einerseits Klang, andererseits Stimme, der mit einem gleichfalls breiten Bedeutungsspektrum ausgestattet ist, das auch Sprache, Rede und Wort umfasst.24 Insbesondere aber ist vox – mitunter auch sonus – das lateinische Äquivalent zum griechischen phonē, das, so führt Albrecht Riethmüller aus, »zusammen mit logos das verzweigteste und wichtigste begriffliche Glied sein [dürfte], das Sprachund Musikgeschichte, Sprach- und Musiktheorie verbunden gehalten hat.«25 Nach Aristoteles – insbesondere im zweiten Buch seiner Schrift De anima, aber auch im ersten Kapitel seiner Hermeneutik – ist phonē zuerst auf den Menschen zugeschnitten.26 Nur bei ihm, so Albrecht Riethmüller, ist die Stimme in der Lage, Sprache und

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Deutlich wird diese Unterscheidung bei der Frage des Magisters: Praeter id, quod significatio diversa est, nihil tibi videtur sonus distare? Vgl. Hentschel, Frank (Hrsg.), Aurelius Augustinus, De musica, Bücher I und VI, Vom ästhetischen Urteil zur metaphysischen Erkenntnis, Lateinisch-deutsch, Hamburg 2002 (Philosophische Bibliothek 539), hier S. 2. Der Klang seinerseits, so führt Augustinus seine Argumentation fort, kann unterschieden werden in den Rhythmus und den Klang der Buchstaben, wobei die rhythmischen Grundmuster der Sprache sich von der Grammatik abstrahieren lassen und damit eine eigene Wissenschaft verlangen: die Musiktheorie. Vgl. ebd., S. 2–6, und das Vorwort S. XII. Vgl. Hentschel, Frank, Sonus, in: Riethmüller, Albrecht (Hrsg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Ordner VI: Si–Z, Stuttgart 2000, S. 1–28 (Einzelzählung). Hentschel hebt insbesondere die universelle Verwendbarkeit des Ausdrucks sonus hervor, der sich – in einer unerschöpflichen Vielfalt von Bedeutungsnuancen – nie zu einem regelrechten Fachterminus entwickelt habe. »Die Bedeutung des Wortes sonus wird im je konkreten Fall nur durch das Beziehungsgeflecht von verwandten Wörtern wie vox, chorda, nota, clavis konstruiert; erst das System dieser Begriffe verleiht jedem einzelnen sein jeweiliges Denotat […].« Ebd., S. 1. Vgl. Riethmüller, Albrecht, Zum vokalen Prinzip der Musikgeschichte, in: Brüstle, Christa / Riethmüller, Albrecht (Hrsg.), Klang und Bewegung. Beiträge zu einer Grundkonstellation, Aachen 2004, S. 11–39, hier S. 12f. Ebd., S. 14. So bindet Aristoteles die Äußerungen der Stimme, die stimmlichen Laute, an das Vorhandensein einer Seele. Vgl. Aristoteles, Peri hermeneias, übersetzt und erläutert von Hermann Weideman, in: Flashar, Helmut (Hrsg.), Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, Bd. 1, Teil II, Berlin 1994, hier S. 3. In seiner Schrift De anima (II,8 420b5) definiert Aristoteles an einer »zum locus classicus gewordenen Stelle

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Wort aufzunehmen bzw. zu tragen: »Nur hier trägt phone den Logos, der in der Bedeutung von Vernunft und Verstand bei Aristoteles sogar zur Definition des Menschen als eines animal rationale nötig ist. Phone ist für ihn das materielle Substrat des Logos.«27 Eine vergleichbare Differenzierung von Sprache – bzw. hier nun von Gesang – in klangliche und semantische Anteile findet sich wiederum bei Augustinus. Im XII. Buch seiner Confessiones erläutert er im Kontext der Frage nach der Zeitlichkeit im Schöpfungsprozess den Zusammenhang von sonus und cantus.28 Ausgehend von der Frage, wie das ›Zuerst‹ im Schöpfungsprozess des »Im Anfang schuf Gott« zu denken sei, erörtert er den Gesang als ein – in seiner Komplexität gleichwertiges – Beispiel für das Verhältnis von Form und Materie: Wie im Schöpfungsprozess das ungeformte All der Schöpfung vorausgehe, so auch das Tönen dem Gesang.29 In dem nun folgenden Verlauf seiner Argumentation erläutert Augustinus, in welcher Weise dieses ›Zuerst‹ im Zusammenspiel von Tönen und Gesang zu verstehen sei, wo doch Singen immer schon geformtes Tönen sei (quia cantus est formatus sonus): Neque enim priore tempore sonos edimus informes sine cantu et eos posteriore tempore in formam cantici coaptamus aut fingimus, sicut ligna, quibus arca, vel argentum, quo vasculum fabricatur […] Idem quippe formatur, ut cantus sit. Et ideo, sicut dicebam, prior materies sonandi quam forma cantandi: non per faciendi potentiam prior; neque enim sonus est cantandi artifex, sed cantanti animae subiacet ex corpore, de quo cantum faciat; nec tempore prior:

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[…] phonē als Ton von etwas Belebtem« und bestimmt phonē zudem als einen psophos, als dem allgemeinsten Begriff für Ton, der etwas bedeutet; Riethmüller, Albrecht, phonē, in: MGG2 , Sachteil, 7/1997, Sp. 1588–90, hier Sp. 1588f. Riethmüller, Zum vokalen Prinzip [Anm. 24], S. 28. Vgl. Seidl, Horst (Hrsg.), Aristoteles, Über die Seele, mit Einleitung, Übersetzung (nach Willy Theiler) und Kommentar, Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Biehl und Otto Apelt, Hamburg 1995 (Philosophische Bibliothek 476), hier Buch II, Kapitel 8, S. 113: »Daher ist Stimme das Anschlagen der eingeatmeten Luft an die sogenannte Luftröhre, das durch die diesen Teilen innewohnende Seele bewirkt wird. Nicht jeder Ton eines Lebewesens ist nämlich Stimme […], sondern das Anschlagende muss beseelt sein und mit einer gewissen Vorstellung begabt; denn die Stimme ist ein bedeutungsvoller Ton (Laut) […].« Augustinus, Bekenntnisse, Lateinisch und deutsch, Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück, Frankfurt/M. 1987, hier S. 738f. Ebd.: Cum vero dicit primo informem, deinde formatam, non est absurdus, si modo est idoneus discernere, quid praecedat aeternitate, quid tempore, quid electione, quid origine: aeternitate, sicut deus omnia; tempore, sicut flos fructum; electione, sicut fructus florem; origine, sicut sonus cantum (Übers.: »Meint er [der Interpret der Worte in principio fecit] aber als die Erstschöpfung das ungeformte All, auf das als weitere erst die Formschöpfung folgte, so begeht er keinen Unsinn, wofern er nur imstande ist auseinanderzuhalten, was erstig ist der Ewigkeit nach, der Zeit nach, der Wertung nach, der Voraussetzung nach: der Ewigkeit nach wie Gott vor den Dingen allen; der Zeit nach wie die Blüte vor der Frucht, der Wertung nach wie die Frucht vor der Blüte; der Voraussetzung nach wie das Tönen vor dem Singen.«).

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simul enim cum cantu editur; nec prior electione: non enim potior sonus quam cantus, quandoquidem cantus est non tantum sonus verum etiam speciosus sonus. Sed prior est origine, quia non cantus formatur, ut sonus sit, sed sonus formatur, ut cantus sit.30

Der noch nicht gestaltete musikalische Ton (sonus) geht dem Gesang als dem geformten Ton (formatus sonus) voraus. Dies geschieht jedoch weder im zeitlichen Nacheinander, noch ist der Ton als Wirkursache des Gesangs zu begreifen, sondern der Klang bildet das Fundament des Gesangs, er ist sein Stoff, die materies cantilenarum,31 die geformt wird, um Gesang zu werden. Genau diese Analogiesetzung zwischen Schöpfung und Gesang findet sich volkssprachig im Renner Hugos von Trimberg – hier nun mit den Bezeichnungen wort und dôn für verbum und sonus. Dort heißt es: Der werlde materie alsô vür gienc, Dô alliu dinc got ane vienc Vor aller geschepfede anevange, Als ein dôn tuot vor gesange, Sô wort und dôn sint ein gesanc Einz, zwei, zwei, einz, anevanc. (Renner, V. 18691–96)32

Der Beleg zeigt zum einen, dass die Aufspaltung des Gesangs in einen klanglichen und einen semantischen Teil auch Eingang in die Volkssprache gefunden hat, und zum anderen, dass dôn Äquivalent für sonus als ein musiktheoretischer Begriff sein kann und damit Vermittlungsbegriff zwischen lautlicher und semantischer Seite der

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Ebd., S. 740f.; Übers.: »[E]s ist ja nicht so, daß wir vorher, ohne schon zu singen, ungeformte Töne ausstießen, um sie danach erst durch Fügen oder Modeln in die Form von Gesang zu bringen so wie man aus Holz einen Kasten fertigt, aus Silber ein nettes Gefäß […]; es ist ja Ton, was geformt wird, um Gesang zu sein. Und nur in diesem Sinne, wie gesagt, ist Ton als der Stoff vor Gesang als der Form: nicht als wirkende Kraft ist er zuvor – der Ton ist ja nicht Urheber des Gesangs, vielmehr ist er für die Seele des Singenden nur die leibliche Voraussetzung für sein Singen; auch nicht der Zeit nach ist er zuvor – er wird ja mit dem Singen selbst erst hervorgebracht; auch steht er nicht der Wertung nach voran – denn Ton ist nicht höheren Ranges als Gesang, da doch Gesang nicht einfach nur Ton ist, sondern darüber formvoll schönes Tönen. Nein, der Ton ist erstig der Voraussetzung nach; denn Gesang wird nicht geformt, nur damit Ton sei, sondern Ton wird geformt, damit Gesang sei.« Diesen Begriff verwendet Augustinus in seiner Schrift De doctrina christiana (Buch II, 17, 27). Vgl. Hentschel, Sonus [Anm. 23], hier S. 10; Aurelius Augustinus, De doctrina Christiana. De vera religione, in: Martin, Josef (Hrsg.), Sancti Aurelii Augustini Opera, Bd. 4,1, Turnhout 1962 (Corpus Christianorum, Series Latina 32); Augustin, Die christliche Bildung (De doctrina Christiana), Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Karla Pollmann, Stuttgart 2002, hier S. 70f. Vgl. auch Augustinus, Bekenntnisse [Anm. 28], S. 740f.: cantus in sono suo vertitur, qui sonus eius materies eius est. Ehrismann, Gustav (Hrsg.), Hugo von Trimberg, Der Renner, Bde. I–IV, Stuttgart 1908– 1911 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 247, 248, 252, 256).

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Sprache.33 Bei Konrad nun findet sich diese Differenzierung des Gesangs – nicht in wort, aber in rede und gedœne – als Teil seiner poetologischen Reflexion, mit der er den Bereich der Dichtkunst ergänzt um den des Singens und des Erklingens. So heißt es im Spruch 32: elliu kunst gelêret mac werden schône mit vernunst, wan daz nieman gelernen kan red und gedœne singen; diu beidiu müezen von in selben wahsen unde entspringen: ûz dem herzen clingen muoz ir begin von gotes gunst. (Spruch 32, V. 301–308)34

Bei genauem Hinsehen zeigt sich nun, dass Konrad die gedankliche Bewegung, die Augustinus in seinen Confessiones entwickelt hat, auch in den zitierten Versen des Pantaleon erfasst: Des antwurt im Pantaleôn. er lie vil süezer stimme dôn erklingen von dem munde sîn. er sprach […]. (Pantaleon, V. 981–984)

Noch bevor die Worte Pantaleons zu hören sind, ist der Klang seiner Stimme beschrieben – und er rechtfertigt bereits die Rede, die Pantaleon erklingen lassen wird. Auch hier also – in Konrads literarischer Darstellung – geht der Ton dem Wort als dessen klangliches Fundament voraus. Der Ton ist dabei jedoch keineswegs asemantisch,35 denn mit dem ästhetisch vollendeten dôn – dem süßen Klang seiner Stimme – erweist sich bereits, ob der Sprecher in der Gnade Gottes steht und er daher zu Recht red und gedœne erklingen lassen kann. Damit lässt sich auch für diesen Zusammenhang festhalten, was Hartmut Bleumer für die nahtegalen in Gottfrieds Literaturexkurs herausgestellt hat, dass »das [sprachliche] Zeichen durch den Klang einen unmittelbaren

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Zum Zusammenhang von vox / sonus – allerdings im Kontext sprachtheoretischer Überlegungen zu Frauenlob und dessen Verwendung des weiter gefassten, Tierstimmen einschließenden, Übersetzungsterminus lût – vgl. Huber, Christoph, Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob, Zürich, München 1977 (MTU 64), hier S. 135f. Schröder, Edward (Hrsg.), Konrad von Würzburg, Die Klage der Kunst. Leiche, Lieder und Sprüche, in: Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg, Bd. III, mit einem Nachwort von Ludwig Wolff, 3. unveränderte Aufl., Dublin, Zürich 1967, S. 66. Bedeutung kommt der phonē auch bei Aristoteles zu, zumal unter dem Gesichtspunkt der Seele. Denn unter der Voraussetzung, dass phonē ein Schall von etwas Lebendigem ist, ist es »durchaus anzunehmen, dass phone etwas bedeute, – aber eben jenseits des grammatisch-logischen Sinnes. Genau dies sieht Aristoteles, wenn er die logische Schrift De interpretatione mit der Ausführung beginnt, dass in der phone die Dinge Kennzeichen (gr. symbola) der Zustände der Seele seien, während das Geschriebene wiederum Kennzeichen der Dinge in der phone sei.« Riethmüller, Zum vokalen Prinzip [Anm. 24], hier S. 31.

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zugänglichen Sinn gewinnt, in einem Akt performativer Konsonanz.«36 In Konrads Legenden also, so meine These, wird der Heilige wesentlich legitimiert und authentifiziert über das klangliche Fundament seiner Sprache.

III. Doch inwiefern lässt sich dieser Klang genauer beschreiben? Dafür scheint es mir wichtig, auch den zweiten Aspekt der Legitimierung in Konrads Legenden buchstäblich ins Auge zu fassen: den Aspekt der Visualität von Heiligkeit,37 die gleichfalls narrativ entworfen ist. Auch seine äußere Erscheinung zeichnet den Heiligen aus und lässt seine Heiligkeit offenbar werden. So erscheint der Körper des Alexius im Moment seines Todes durliuhtic als ein glasevaz in dem ein lieht ist schône enzunt. er lac dâ bî der selben stunt blüejend als ein rôse vrisch. sîn varwe diu was engelisch und ouch daz antlitze sîn: diu beide gâben liehten schîn. (Alexius, V. 950–956)

Doch ein solcher englischer Glanz kennzeichnet nicht nur den Moment des Todes, auch zu Lebzeiten kann der Heilige in einem solchen Licht erstrahlen: Nachdem Silvester zum Priester geweiht wurde und in den Orden eingetreten ist, spricht er – inspiriert durch die Gnade Gottes – allzeit sô süeze predigunge (V. 482), daz sî nâch edels herzen kür niht bezzer mohte werden. den liuten ûf der erden und gote vor in allen muoste wol gevallen diu rede und diu gebærde sîn. sîn vorme und sîner varwe schîn diu gâben engelischen glanz. durnehtic was er unde ganz an lîbe und an gesuntheit. gezieret was mit süezekeit sîn sprâche als ein geblüemet wise. (Silvester, V. 484–495)

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Bleumer, Gottfrieds ›Tristan‹ und die generische Paradoxie [Anm. 14], hier S. 41. Vgl. Wenzel, Horst, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, hier S. 99–101.

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Körper und Gesicht des Heiligen – im Leben oder im Tod – leuchten im Moment des Offenbarwerdens seiner Heiligkeit in englischer varwe, als Zeichen seiner Teilhabe am himmlischen Glanz. Überdies ist der Glanz hier umrahmt von der zweifachen Charakterisierung der Sprache des Heiligen als süeze, zum einen auf die Predigt bezogen, zusammen mit der Gestik Silvesters, zum anderen auf die rhetorisch geschmückte, geblümte und damit vollendet geformte Sprache. Es ist damit die rede selbst, die dem Körper ihres Sprechers seinen engelhaften Glanz verleiht, und so ist umgekehrt der Glanz, auf diese Weise eingeschlossen, als ein Pendant ihrer Süße markiert. Indem sich die Süße des Sprachklangs in Konrads Legenden mit dem engelischen glanz verbindet, durch den beispielsweise Silvester im Moment seiner Predigt ausgezeichnet wird, erscheint der Heilige in die Nähe der Engel gerückt und damit gleich ihnen als eine Figur der Grenze zwischen himmlischer und irdischer Sphäre.38 Zudem – dies zeigt der Prolog zum Pantaleon – lässt sich der Engelsglanz auch als ein Vorausgriff dafür lesen, dass der Heilige selbst einen Platz in den Himmelschören beanspruchen und einnehmen wird, denn: swer muot ze reinen werken hât, der mac vil gerne hœren wie si [die Märtyrer] zer himel kœren mit ir marter komen sint. (Pantaleon, V. 13–15)39

Darüber hinaus aber kann es ihm auch gelingen, andere dorthin zu entsenden und dadurch die Engelschöre zu vergrößern. So heißt es vom Lehrer Silvesters, dem heiligen Thymotheus, dass er in Rom mit vil süezer predigunge […] machte grôz der engel spil (Silvester, V. 203 und 206). Der Heilige ist so als Grenzgänger gezeichnet – im Übergang zum himmlischen Dasein, dessen Attribute er schon auf Erden erwirbt.40 Indem sich seine Heiligkeit besonders im Sprachklang erweist, wird die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz von der Stimme überwunden. Dieses Bild findet sich gleichfalls im Renner Hugos von Trimberg: Ist einer süezer worte vol, Sô singet der ander alsô wol, Daz engel tanzende süllen werden Von sîner stimme süeze ûf erden. Süeziu stimme mit süezer andâht Hât ofte fröude von himel brâht, Fröude ûf gein himel und fröude her abe. (Renner, V. 21719–25) 38

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Auch Alexius erstrahlt im Moment seines Todes im engelsgleichen Glanz: sîn varwe diu was engelisch / und ouch daz antlitze sîn: / diu beide gâben liehten schîn (Gereke [Hrsg.], Alexius [Anm. 8], V. 953–955). Vgl. auch Woesler (Hrsg.), Pantaleon [Anm. 8], V. 1956–61. Zur Heiligkeit als Grenzkategorie vgl. Köbele, Susanne, ›heilicheit durchbrechen‹. Grenzfälle von Heiligkeit in der mittelalterlichen Mystik, in: Hamm, Berndt / Herbers, Klaus / Stein-Kecks, Heidrun (Hrsg.), Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2007 (Beiträge zur Hagiographie 6), S. 147–169.

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Wichtig ist mir hier weniger die Süße der Worte und ihres Klangs, der sich in der Stimme manifestiert, sondern die Bewegung, die der Text aufzeigt, indem er die süeze stimme mit ihrem Gesang zum Auslöser werden lässt für den Tanz der Engel als Teil ihrer himmlischen Lobpreisung.41 Die Stimme, die ihren eigentlichen Ort ûf erden hat, führt Freude herauf und herunter, und so erweist sich der Sprachklang als Raum der Grenzüberschreitung, der Berührung von Immanenz und Transzendenz, wie dies speziell auch die kirchliche Liturgie ermöglicht. Denn auch die goldene Friedenszeit Konstantins im Silvester zeichnet sich durch Klang aus: als mir diu wârheit kündet, sô lebten si mit schalle. die münster wurden alle stimm und süezer dœne vol. swie man gotes wirde sol mit kurzewîlen mêren, daz tâten si nâch êren allez bî der selben vrist. (Silvester, V. 2394–2401)

Nicht die gesungenen Worte werden wiedergegeben, sondern Konrad berichtet allein von deren Klang: es ist ein Klangraum, der hier geschaffen wird und die Goldene Zeit auszeichnet. »Der einstimmige liturgische Gesang des Frühmittelalters« – so führt Michael Walter zum Engelsgesang aus – »war keine Komposition im neuzeitlichen Sinn, sondern ein Einstimmen in den präformierten und ›jeweils immer schon vorhandenen‹ Gesang der Engel und damit eine kosmologische Manifestation.«42 Alles liturgische Singen wird demnach zur Teilhabe am Gesang der Engel und mehr noch: »Liturgische Musik stellte die unmittelbare, kosmologisch fundierte Verbindung zu Gott selbst dar.«43 In Konrads Legende findet sich dies gespiegelt im Moment der

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Die unmittelbare Nähe von Musik und Bewegung findet sich bereits in der Definition des Augustinus, wenn er Musik als scientia bene modulandi et movendi beschreibt. Vgl. Kaden, Christian, ›[…] auf dass alle sinne zugleich sich ergötzten, nicht nur das Gehör, sondern auch das Gesicht‹. Wahrnehmungsweisen mittelalterlicher Musik, in: Müller/Wenzel (Hrsg.), Mittelalter [Anm. 4], S. 333–367, hier S. 336. Zu literarischen Traditionslinien und kulturellen Deutungsmustern des Engelstanzes vgl. Zimmermann, Julia, Teufelsreigen – Engelstänze. Kontinuität und Wandel in mittelalterlichen Tanzdarstellungen, Frankfurt/M. 2007 (Mikrokosmos 76). »Obwohl die eigentliche und höchste Aufgabe der Engel nach theologischer Auffassung die unablässige (vokale) Lobpreisung Gottes ist, bleibt die Idee vom himmlischen Chor in frühchristlicher Zeit häufig eng verbunden mit der mysterienhaften Abstraktion vom Kreistanz der Engel als einem Sinnbild himmlischer Liturgie. Ebenso wie der Gesang der Engel steht auch die symbolhafte Kreisbewegung ihres Tanzes seit jeher für die Unendlichkeit, Vollkommenheit und Harmonie des Gotteslobes.« Ebd., S. 99. Walter, Michael, Engelsmusik, in: MGG2 , Sachteil, 3/2000, Sp. 10. Ebd.; vgl. Hammerstein, Reinhold, Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters, Bern, München 1962, hier S. 31. Literarische Belege für diese Vorstellung vom »Einstimmen der irdischen in die himmlische Liturgie, von der Konso-

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Friedenszeit, die Konstantin schafft, denn auch hier berühren sich Immanenz und Transzendenz im Klang des liturgischen Gesangs – insbesondere im nie verklingenden Sanctus44 –, wenn es heißt, die münster sind der d$ne vol.45 Damit ist der Sprachklang als Raum des Grenzübergangs von Immanenz und Transzendenz gezeichnet, der süeze Klang bildet den Berührungspunkt der himmlischen und irdischen Sphäre. Die Stimme aber als Phänomen des Grenzübergangs ermöglicht den Übergang von Transzendenz und Immanenz in beide Richtungen, denn mittels der Stimme, des Klangs ›von oben‹, wird der Heilige ausgezeichnet – und er selbst sendet seine Stimme gen Himmel, um mittels des Gebetes seine Wunder wirken zu lassen. So kündet im Alexius Gottes Stimme von der Heiligmäßigkeit des Protagonisten. Nachdem Alexius seinen Brief verfasst hat und gestorben ist, will Gott die Marter des Alexius offenbar machen – und hier erstmals taucht im Text die Verbindung von stimme mit dôn auf: an dem vil hêren balmetage, dô man gesanc die messe vrôn, dô wart ein wünneclîcher dôn ze Rôme erhœret und vernomen. ein stimme was von himel komen hôch in dem münster obene, diu rief dâ wol ze lobene: ›wol ûf, her zuo mir alle die der lîp ûf ertrîche hie mit jâmer und mit sender klage dur mînen willen kumber trage!‹ (Alexius, V. 788–798)

In den liturgischen Gesang der Messe hinein ertönt die himmlische Stimme, und so wird der Klangraum zum Einfallstor der göttlichen Offenbarung. Ein zweites Mal

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nanz der Stimmen der Engel und der Heiligen im Himmel mit den Stimmen der Sänger im Chor« finden sich bei Ohly, Süße Nägel [Anm. 16], S. 476f. In der Apokalypse des Johannes findet sich – als spezifisch christliche Neuerung – die Vorstellung vom himmlischen Lobpreis zur himmlischen Liturgie verdichtet, an der die Kirche, d.h. die Menschen teilhaben. Im Zentrum dieser Vereinigung von irdischer und himmlischer Liturgie steht das gesungene Lob Gottes, dem sich die Engel als liturgische Wesen widmen und in das die Menschen einstimmen können. »In der kirchlichen Liturgie spiegelt sich diese Vorstellung in der Präfation und im Sanctus, das auch als hymnus seraphicus bzw. angelicus bezeichnet wurde und mit dem die Gläubigen in den Engelsgesang einstimmten.« Walter, Engelsmusik [Anm. 42], Sp. 9; vgl. Hammerstein, Musik der Engel [Anm. 43], S. 22f. Horst Wenzel führt aus, in welcher Weise die mittelalterliche Architektur mit der langen Nachhallzeit romanischer und gotischer Kirchen dafür sorgt, dass das Wort Gottes im Kirchenraum körperlich erfahrbar wird: »Die Verkündigung durch das Wort im Raum der Kirche ist deshalb immer auch eine leibhaftige Begegnung mit Gott in seinem eigenen Haus: die Kirche ist erfüllt durch das Wort, ein Haus des Logos.« Wenzel, Hören und Sehen [Anm. 37], hier S. 105. Insbesondere kann dies für das gesungene Wort gelten.

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meldet sich die Stimme in einem lûten schalle (V. 817), bevor die Menschen nach dem Heiligen in ihrer Mitte zu suchen beginnen. Sie finden aber niemanden und kehren zum Gebet in hôher klage (V. 839) ins Münster zurück, bis die Stimme erneut – zum dritten Mal – erklingt, nun in einem süezen dône lût (V. 853), und endlich den Ort verkündet, an dem der Papst und die beiden römischen Kaiser den im Glanz erstrahlenden Leichnam des Alexius entdecken werden. Ähnlich der Stimme des Gerechten, die sich im leisen, süezen Klang entfaltet, ertönt auch Gottes Offenbarung der Heiligkeit des Alexius nicht im Schall, sondern im leisen Tönen.46 Im Silvester ist es der Moment der Taufe Konstantins, in dem sich Gott den Menschen nicht nur im Licht, sondern auch im Klang zuwendet: sus wart ein siusen unde ein dôn in dem vil hêren bade vrôn, dô von himel kam der schîn. (Silvester, V. 1845–47)

Die Legende von Pantaleon hingegen erzählt, wie der Heilige selbst seine Stimme zu Gott richtet und auf diese Weise die Grenze zur Transzendenz überwindet. Deutlich wird dies im Wunder der Blindenheilung: Ein liehtelôse[r] kneht (V. 515), jemand also, der nicht im Glanz der Gnade Gottes steht, hört von Pantaleons ärztlicher Kunst sprechen unde jehen (V. 492) und bittet um Hilfe. Das Wunder seiner Heilung vollzieht sich durch die Worte, die der süeze Pantaleon, wie er kurz zuvor genannt wird (V. 590), spricht: Mit disen worten unde alsô der gotes wunderære dô greif an des blinden ougen. er liez ze himel tougen erhellen sîner stimme dôn. (Pantaleon, V. 617–621)

Auch im Gebet zur Heilung des Lahmen bittet Pantaleon Gott darum, ihn mit der Stimme erreichen zu können: got herre, mîn gebet vernim unde erhœre mîniu wort. ûf dîne hôhen himel dort lâ mîne stimme komen ze dir. (Pantaleon, V. 1088–91)

Im Bleizuber noch sendet Pantaleon seine Gebete ûf zuo der himel kœren (V. 1315), wenn er bittet: geruoch erhœren, / got herre, mîne stimme (V. 1316f.). Und als der Gemarterte schlussendlich zu sterben wünscht, bittet er Christus um Gehör; diese Bitte wird gefasst als Wunsch nach einer Hinwendung Christi, als Wunsch nach einer

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Damit entspricht die Textbewegung der Berufung des Elija am Berg Horeb, vgl. 1 Könige 19,11–13. Hier begegnet Gott seinem Propheten nicht im Sturm, Erdbeben oder Feuer, sondern erst im leisen Säuseln, das den Naturgewalten folgt.

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Bewegung Christi auf den Märtyrer zu: dû neige mir dîn ôre / von dîme himelkôre (V. 1585f.). Auch der Sprache des Heiligen erscheint damit die Möglichkeit zur Grenzüberschreitung inhärent, ihr Klang erweist sich als Vermittlungskategorie zwischen Immanenz und Transzendenz.47

IV. Zu fragen bleibt nach einer möglichen Legitimierung des Erzählaktes selbst. Dafür erscheint mir der Prolog zum Alexius aufschlussreich in der Weise, als er zumindest im Ansatz einen Weg formuliert, zwar nicht explizit den Klang, wohl aber den Glanz des Heiligen mittels Dichtkunst zu spiegeln. Got, schepfer über alliu dinc, sît daz der wîsheit ursprinc von dir fliuzet unde gât, sô lâ mir dîner helfe rât zuo vliezen und die sinne sleht, daz ich geprîse dînen kneht, und ich des leben hie gesage der alsô lûter sîne tage in dîme dienste wart gesehen. sîn lop durliuhteclîche enbrehen muoz von wâren schulden. er hât nâch dînen hulden geworben alsô vaste daz in der êren glaste sîn name sol erschînen. dâ von sô lâ mir dînen wîsen rât ze helfe komen, sô daz sîn leben ûz genomen, daz in latîne stât geschriben, werde in tiusch von mir getriben alsô bescheidenlîche nu daz dâ von geprîset du werden müezest unde ouch er. (Alexius, V. 1–23)

Konrad bittet um Gottes Zustrom an Weisheit, damit er den Knecht Gottes preisen könne und dessen Leben berichten. So wie der Körper des Toten als Ausweis seiner Heiligkeit erstrahlte, so soll nun in der Legende dessen Name in der êren glaste erscheinen (V. 14) und erstrahlen. Genau dafür braucht der Dichter Gottes Beistand, denn

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Zum Klang als Vermittlungskategorie – im Gegensatz zum Zeichen als einer Kategorie der Distanz – vgl. jetzt Bleumer, Gottfrieds ›Tristan‹ und die generische Paradoxie [Anm. 14].

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er selbst ist es, der diesen Glanz – durch seine Dichtkunst – hervorbringt und damit zugleich, in einem weiteren gedanklichen Schritt, Gottes Lobpreis begründet und motiviert.48 Dem Strom göttlicher Weisheit, der zudem mit dem Schöpfungswerk Gottes assoziiert ist, entspricht damit auch hier eine Gegenbewegung – gefasst in den Verben trîben und enbrehen –, die Gottes Zuwendung an Gnade und Weisheit mit den eigenen Mitteln dichterischer Kunst im dynamischen Prozess zu beantworten sucht, das Lob des Heiligen erstrahlen lässt und damit zugleich auch Gottes Lob hervorruft. So erscheint in Konrads Prolog die topische Inspirationsbitte in der Weise gewandelt, dass neben der göttlichen Gnade auch die bescheidenheit des Dichters als Voraussetzung dafür bezeichnet ist, dass auch die Dichtung Glanz verleihen kann.49 In der Rationalität des Dichters aber sind die klanglichen und semantischen Aspekte seiner kunstvoll geformten Sprache integriert, so dass die Worte der Legende den heiligen Glanz aufnehmen und in volkssprachiger Dichtung spiegeln, ze tiuscher worte schîne (V. 2146) bringen können, wie es im Epilog zum Pantaleon heißt.50

V. Erzählen die Legenden Konrads von Würzburg eine Geschichte vom Hereinragen der Transzendenz in die Immanenz, so zeigt sich, in welcher Weise es spezifisch der Klang 48 49

50

Vgl. Wyss, Theorie [Anm. 13], hier S. 216: »Als Beitrag zum Glänzen dieser Ehre kann Konrads Dichten gelten, und deshalb hat es Anrecht auf göttlichen Beistand.« Zur Inspirationsbitte vgl. Haug, Walter, Wege der Befreiung von Autorität: Von der fingierten Quelle zur göttlichen Inspiration, in: Poag, James F. / Baldwin, Claire (Hrsg.), The Construction of Textual Authority in German Literature of the Medieval and Early Modern Periods, Chapel Hill, London 2001, S. 31–48; wieder abgedruckt unter dem Titel Autorität und fiktionale Freiheit in: Haug, Walter (Hrsg.), Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 115–127; zur weiteren Entwicklung des Inspirationsgedankens vgl. Steppich, Christoph J., Numine affletur. Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance, Wiesbaden 2002 (Gratia 39). Diese Wendung, die sich in wörtlicher Entsprechung auch im Prolog zum Trojanerkrieg (V. 306) findet, zeigt auch, dass Konrad seine Aufgabe in der kunstvollen Gestaltung des Vorgefundenen sieht. Vgl. Kellner, Beate, ›daz alte buoch von Troye […] daz ich ez welle erniuwen‹. Poetologie im Spannungsfeld von ›wiederholen‹ und ›erneuern‹ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg«, in: Dicke / Eikelmann / Hasebrink (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes [Anm. 7], S. 231–262, hier S. 247. Zum schîn in Konrads Dichtung vgl. Müller, Jan-Dirk, ›schîn‹ und Verwandtes [Anm. 7]. Hans Blumenberg hat gezeigt, auf welch vielfältige Weise Licht als Metapher der Wahrheit von den Anfängen metaphysischen Denkens an verwendet worden ist, als eine Chiffre, in der das »Verhältnis von Einheit und Vielheit, von Absolutem und Bedingtem, von Ursprung und Abkunft« Ausdruck findet. Vgl. Blumenberg, Hans, Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung, in: Studium Generale, 10/1957, S. 432–447, hier S. 432.

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der Sprache ist, der den Raum öffnet, innerhalb dessen diese Grenzüberschreitung in beide Richtungen möglich wird: die Präsenz des Heiligen erweist sich im Klang der Sprache, und so bildet umgekehrt der Sprachklang ein zentrales Moment der Legitimierung und Authentifizierung normativen Sprechens. Dabei ist es die Differenzierung der Sprache in Klang und Wort, die bei aller Zeichenhaftigkeit des Redens zugleich einen Anteil von Unmittelbarkeit bewahrt, die eine Einfallstelle für die Teilhabe an Heiligkeit bildet bzw. die Auszeichnung unmittelbarer Nähe zur Transzendenz ermöglicht. Auch wenn der Gegenstand legendarischen Erzählens per se Geltung für sich beanspruchen kann, so muss doch der Text die Geltung – in diesem Fall die Heiligkeit – seiner Figur im Erzählakt erst wieder neu konstruieren. Konrad von Würzburg unternimmt dies mit spezifisch poetischen Mitteln. Indem er die Heiligkeit seiner Figur zum einen über ihren Sprachklang als Fundament normativen Sprechens, zum anderen über ihr Einstimmen in den Engelsgesang narrativ entwickelt, legitimiert er seinen Erzählgegenstand im Rückgriff auf Kategorien, die dem musiktheoretischen Diskurs des Mittelalters entlehnt sind und so die Nähe von Poetik und Musik erkennbar werden lassen. Es wäre darüber hinaus zu fragen, inwieweit diese Nähe zwischen volkssprachiger poetologischer Reflexion und dem mittelalterlichen Diskurs der Musiktheorie zur Grundlage einer Beschreibung nicht nur Konrads impliziter Poetik werden kann.

Mark Chinca (Cambridge)

Norm und Durchschnitt Zum Münchner Eigengerichtsspiel von 1510

I. Alles normative Sprechen setzt – mehr oder weniger bewusst – einen Ist-Zustand voraus, den es im Sinne des jeweils befürworteten Soll zu verwandeln gilt. Manchmal wird das Ist rein negativ im Sinne einer Normwidrigkeit bestimmt. Ein herausragendes Beispiel aus der deutschen Literatur des Mittelalters bietet dafür Gottfried von Straßburg mit seiner sogenannten Minnebußpredigt. Hier, wo das korrupte Liebesverhalten der Zeitgenossen als einfache Negation des von Tristan und Isolde verwirklichten Ideals der Minne beschrieben wird, handelt es sich offenbar um einen polemisch zugespitzten Entwurf, dessen Funktion darin besteht, Gottfrieds Lehre von der Minne und vor allem seine Erzähltätigkeit als unentbehrliche Korrektur oder wenigstens Kompensation einer als ungenügend empfundenen Wirklichkeit erscheinen zu lassen.1 Es gibt allerdings auch den Gegenfall des als normgerecht bestimmten IstZustands. Freilich hat ›Norm‹ in diesem Fall nicht mehr die Bedeutung von ›Vorschrift‹ oder ›Richtschnur‹ (zu der es das Adjektiv ›normativ‹ gibt), vielmehr bezeichnet sie das Durchschnittliche und Übliche, also das Verhalten und die Zustände, die man für ›normal‹ hält. Zwar ist ›Normalität‹ nicht weniger abstrakt als ›Normativität‹, der wichtige Unterschied besteht jedoch darin, dass die Norm hier einen Mittelwert aller tatsächlich vorhandenen Größen darstellt. Der Durchschnitt ist nicht Ausdruck dessen, was sein sollte, sondern er verkörpert die Regelmäßigkeit dessen, was ist. Ebendiese Normalität wird von einer langen, bis in die Frühzeit der Kirche zurückreichenden Tradition der Predigt als Ausgangspunkt zugrunde gelegt. Bereits zu Beginn des 6. Jahrhunderts schrieb der syrische Homiliendichter und spätere Bischof Jakob von Sarug, dass Predigten über die Heiligkeit und Vollkommenheit den durchschnittlichen Zuhörer nur in den Schlaf beförderten; wenn der Prediger dagegen von der Vergebung der Sünden rede, wache derselbe Zuhörer sofort auf, weil

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Krohn, Rüdiger (Hrsg.), Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. 2, Text, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Verse 9983–19548, Stuttgart 20079 (RUB 4472), V. 12183– 12357. Zur Interpretation der Stelle vgl. Chinca, Mark, Gottfried von Strassburg: Tristan, Cambridge 1997 (Landmarks of world literature), S. 81–86, sowie den auf dem neuesten Stand der Forschung basierenden Überblick von Tomasek, Tomas, Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007 (RUB 17665), S. 152–155.

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er spüre, dass es jetzt um seine eigene Angelegenheit gehe.2 Auch das spätmittelalterliche geistliche Spiel, dem die folgenden Ausführungen gelten, gehört noch dieser Tradition der wirksamen, weil den Interessen und Bedürfnissen des durchschnittlichen Rezipienten entsprechenden Predigt an.

II. Das Münchner Eigengerichtsspiel ist eine Moralität, die dem allgemeinen Laienpublikum christliche Normen für die Vorbereitung auf den Tod beibringen will.3 Diese Normen, deren Quintessenz auf die Stichwörter ›Bußfertigkeit‹, ›gottgefälliger Lebenswandel‹, ›ständiges Bedenken der Letzten Dinge‹ hinausläuft, werden sowohl in wiederholten Aufrufen an das Publikum ausdrücklich artikuliert als auch in einer Reihe von figuren (d.h. exemplarischen Szenen) veranschaulicht.4 Laut Angabe des Titelblatts des im Jahre 1510 beim Münchner Drucker Hans Schobser erschienenen Textdruckes5

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Gedicht über den rechten Räuber, in: Ausgewählte Schriften der syrischen Dichter Cyrillonas, Baläus, Isaak von Antiochien und Jakob von Sarug, aus dem Syrischen übersetzt von Dr. P. S[imon Konrad] Landersdorfer, Kempten, München 1913 (Bibliothek der Kirchenväter 6), S. 363. Vgl. die Lexikonartikel von Rosenfeld, Hellmut, ›Münchner Eigengerichtsspiel‹ (›Spiel vom sterbenden Menschen‹), in: VL2 , 6/1987, Sp. 754–758, und Chinca, Mark, Münchner Eigengerichtsspiel, in: Killy, 8/2010, S. 422f. Das Spiel ist außerdem im Kontext der frühneuzeitlichen Ackermann-Rezeption und im Hinblick auf die problematische Darstellbarkeit des Todes zweimal von Christian Kiening behandelt worden: Schwierige Modernität. Der ›Ackermann‹ des Johannes von Tepl und die Ambiguität historischen Wandels, Tübingen 1998 (MTU 113), S. 250–259; ders., Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit, München 2003, S. 42–45. Zur Bedeutung von figur vgl. Michael, Wolfgang F., Die Bedeutung des Wortes ›figur‹ im geistlichen Drama Deutschlands, in: Germanic Review, 21/1946, S. 3–8; Schulze, Ursula, Formen der ›Repraesentatio‹ im Geistlichen Spiel, in: Haug, Walter (Hrsg.), Mittelalter und frühe Neuzeit, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 312–356, insbes. S. 324–326. Weitere, im Münchner Spiel häufig in Verbindung mit figur verwendete Bezeichnungen für das szenisch Dargestellte sind: exempel, beyspil, ebenbild. VD 16 Nr. G 2679; Schottenloher, Karl, Der Münchner Buchdrucker Hans Schobser 1500– 1530, München 1925, S. 28, Nr. 38. Exemplare: London, British Library, C53c9; München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 295 (Digitalisat: http://mdz10.bib-bvb.de/~db/ bsb00007944/images/index.html). Zu Schobser vgl. außerdem Geldner, Ferdinand, Die deutschen Inkunabeldrucker. Ein Handbuch der deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts nach Druckorten, Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 139, 150, 255, 257–259; Reske, Christoph, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing, Wiesbaden 2007 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51), S. 623.

Zum Münchner Eigengerichtsspiel von 1510

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wurde das Spiel in München auch öffentlich aufgeführt,6 wahrscheinlich noch im selben Jahr in der Woche nach Fronleichnam (12. Juni). Jedenfalls ist für diese Woche die Aufführung von nicht näher bestimmten Spielen auf dem Münchner Marktplatz belegt;7 möglicherweise handelt es sich um die Aufführung des Eigengerichtsspiels in Verbindung mit einem Weltgerichtsspiel, das in einer Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek überliefert ist.8 Der Schobsersche Druck, der laut Explicit am 19. Juli 1510, nicht lange also nach dem vermeintlichen Aufführungsdatum, erschienen ist, weist deutliche Spuren der Bearbeitung auf. Es handelt sich offenkundig nicht mehr um ein Regiebuch, sondern um ein Erbauungsbuch für die private Lektüre. Dieser Funktionswandel lässt sich bereits an den wechselnden Werkbezeichnungen beobachten: Heißt es auf dem Titelblatt noch figur vnd Exempel vom aygen gericht vnd sterbenden mēschē zu munichen gehaltē, so lautet die Beschreibung im Explicit büchel von dem aygen gericht des sterbenden menschen. Des Weiteren ist die Bearbeitungstendenz an den zahlreichen genau nachgewiesenen Bibel- und Autoritätenzitaten erkennbar, mit denen die Reden der geistlichen und der überirdischen Charaktere durchsetzt sind,9 sowie an den Bühnenanweisungen, die gelegentlich mit Rezeptionshinweisen angereichert sind, die weit über das für Inszenierungszwecke Erforderliche hinausgehen,10 und vor allem an den zwölf Holzschnitten, die dem Text beigegeben sind und in mal abwechselnder, mal wiederkehrender Abfolge die Lektüre desselben skandieren.11 Den Bearbeitungscha6

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Got zů lob dem / menschen zu / besserung / sind dise figur vnd / Exempel vom ay / gen gericht vnd / sterbenden mēschē / zu munichen ge / haltē worden 1.5.1.0. Der Text wird zitiert nach Bolte, Johannes (Hrsg.), Drei Schauspiele vom sterbenden Menschen, Leipzig 1927 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 269/270), S. 1–62, hier S. 1. Neumann, Bernd, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, Bd. 1, München 1987 (MTU 84), Nr. 2316 (S. 598f.). Das Eigengerichtsspiel dürfte auch der figur des sterbenden Menschen zugrunde liegen, die am 21. September 1549 vor dem Rathaus in Bruneck/Südtirol aufgeführt wurde; vgl. Neumann, Nr. 1016 (S. 253); Dörrer, Anton, Die geistlichen Bürgerspiele in Bruneck (Pustertal), in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 157/1930, S. 1–12, hier S. 3f. Cgm 4433, 1. Viertel des 16. Jh.s; Bergmann, Rolf, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986, Nr. 117 (S. 262–264). Vgl. allgemein zu diesem Spiel: Rosenfeld, Hellmut, ›Münchner Weltgerichtsspiel‹, in: VL2 , 6/1987, Sp. 775–778. Vgl. hierzu Kiening, Schwierige Modernität [Anm. 3], S. 251f. mit den Anm. 212 u. 217. Manche Anweisungen enthalten eine kurze Inhaltsangabe der darauf folgenden Rede (z.B. nach V. 1574: Der dritt precursor sagt von vierlay seelen, die im fegfeür schreyen), oder sie charakterisieren den Sprechakt, den sie einleiten (z.B. nach V. 702: Der sterbend danckt dem průder seins gůten rats); andere wiederum skizzieren knapp die Situation des Redenden (z.B. nach V. 666: Der erst sterbend mensch hat sein tag in gůtem leben volpracht, darumb überwindt er all anfechtung mit hilff gots […]). Im Folgenden seien einige Beispiele genannt: Bild 5, das den Kaufmann und den Theologen im Gespräch zeigt, kehrt bei jedem neuen Auftritt des Paares – insgesamt sechsmal –

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rakter des Drucktexts und die daraus resultierenden veränderten Perspektiven für den Leser des Spiels hat jede Interpretation zu berücksichtigen. In thematischer wie auch funktionaler Hinsicht ist das Münchner Spiel mit den zeitgenössischen Moralitäten der Jedermann-Tradition verwandt, also mit dem mittelniederländischen Elckerlijc (ältester Druck um 1495) und dessen mittelenglischer Fassung Everyman (ältester Druck um 1510–25).12 Wie das Eigengerichtsspiel stellen

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wieder. Auch Bild 2, Gott als thronender Richter, erscheint sechsmal, um ein erneutes Aufgreifen des Themas des Seelengerichts anzukündigen. Die Bilder 9 und 11, welche den Eingang der Seele in den Himmel bzw. ins Fegefeuer darstellen, wiederholen sich je einmal, wenn von dem betreffenden Bestimmungsort im Jenseits nochmals die Rede ist. Der dreizehnte Holzschnitt nach dem Explicit zeigt das bayerische Wappen. Die Ausgabe Boltes [Anm. 6] enthält an entsprechender Textstelle Kurzbeschreibungen des Bildinhalts, nicht aber die Bilder selbst; diese sind jetzt über das Internet, im digitalisierten Münchner Exemplar des Originaldrucks [Anm. 5], leicht zugänglich. Eine eingehende Untersuchung zu den Bildern und ihrem Verhältnis zum Text fehlt bislang. Unhaltbar ist jedenfalls die von Hellmut Rosenfeld als sicheres Faktum geäußerte These, sämtliche Holzschnitte bis auf das an die Sterbeszenen der Bilder-Ars moriendi angelehnte Bild 1 seien nach dem Bühnenbild entworfen worden, und zwar von dem Münchner Hofkünstler Jan Pollack, der der Aufführung des Spiels auf dem Marktplatz beigewohnt haben müsse (Das Münchner Eigengerichtsspiel von 1510, Hans Schobsers Druck von 1510 und seine Illustrationen von Jan Pollack, in: Gutenberg-Jahrbuch, 57/1982, S. 225–233): Bild 8 (der Engel rettet die Seele vor vier Teufeln) und Bild 9 (der Engel führt die Seele ins Paradies), die nach Ansicht Rosenfelds »noch deutlich das Vorbild der Aufführung in der Größe der Seelenverkörperung [zeigen]« (S. 231), sind in motivischer wie auch kompositorischer Hinsicht bis auf ihre Spiegelverkehrtheit identisch mit den Illustrationen De aspectu demonum et angeli qui deduxit eum und De visione glorie Sanctorum in den bei Johann und Konrad Rist in Speyer erschienenen Wiegendrucken der Visio Tnugdali; vgl. die Bll. Civ v u. Cvr des Münchner Drucks mit den S. 4 u. 37 der Inkunabel ISTC Nr. it00498000 (um 1484; Seitenzählung des Digitalisats des Exemplars der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, GB IV 6346, in der Verteilten Digitalen Inkunabelbibliothek: http://inkunabeln.ub.uni-koeln.de). Es steht zu erwarten, dass ein systematischer Vergleich der Schobserschen Holzschnitte mit anderen illustrierten Erbauungsbüchern und Jenseitsdarstellungen, etwa den bebilderten Drucken des Cordiale de quattuor novissimis des Gerhard van Vliederhoven, noch weitere Bildquellen und -muster ermitteln wird. Haan, M.J.M. de / Delden, B.J. van (Hrsg.), De Spiegel der Zaligheid van Elkerlijk, Leiden 1979 (Publikaties van de Vakgroep Nederlandse Taal- & Letterkunde 7); Cawley, A.C. (Hrsg.), Everyman, Manchester 1961. Das Jedermann-Szenario wurde außerdem in mehreren neulateinischen und volkssprachigen Dramen des 16. Jahrhunderts verarbeitet: Roersch, Alphonse (Hrsg.), Christianus Ischyrius, Homulus, Gent 1903; Kolross, Johannes, Spiel von Fünferlei Betrachtnissen, in: Bächtold, Jakob (Hrsg.), Schweizerische Schauspiele des sechszehnten Jahrhunderts, Bd. 1, Zürich 1890, S. 51–100; Dammer, Raphael / Jessing, Benedikt, Der Jedermann im 16. Jahrhundert. Die Hecastus-Dramen von Georgius Macropedius und Hans Sachs, Berlin, New York 2007 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 42); Roloff, Hans-Gert (Hrsg.), Thomas Naogeorg, Sämtliche Werke, Bd. 2, Dramen II. Tragoedia alia nova Mercator mit einer zeitgenössischen Übersetzung, Berlin, New York 1982; Stricker, Johannes, De Düdesche Schlömer, in: Berger, Arnold

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diese Moralitäten Sterben, Tod und Gericht des einzelnen Menschen dar und verfolgen die gleiche predigthafte Absicht, die Zuschauer zu Bußfertigkeit und Umkehr zu ermahnen. Den gemeinsamen theologischen Hintergrund bildet die Lehre des iudicium particulare, des Partikulargerichts, das gleich nach dem Tod eines jeden Menschen stattfindet und in dem die Seele je nach Verdienst oder Verfehlung Himmel, Hölle oder Fegefeuer zugeordnet wird. Obwohl diese Lehre erst im frühen 14. Jahrhundert dogmatisch genau fi xiert wurde (Papst Benedikt XII., Benedictus Deus, 1336), war der Gedanke eines vorläufigen, nur den einzelnen Menschen und seine Seele betreffenden Gottesgerichts seit dem 3. Jahrhundert unter den Theologen geläufig, da es sich aus seelsorgerischen wie auch rein theoretischen Gründen als notwendig erwies, eine Erklärung für das Schicksal der Seele in der Zeit zwischen dem leiblichen Tod des Einzelnen und der Auferstehung aller Menschen beim endgültigen Gericht am Jüngsten Tag anzubieten.13 Trotz der konstatierten Gemeinsamkeiten weicht das Eigengerichtsspiel vom Jedermann-Szenario in wesentlichen Punkten ab. Die Handlung ist nicht die Geschichte eines einzigen Protagonisten, der – wohl nach dem Schema der orientalischen Parabel von den Freunden in der Not – von all seinen vermeintlich guten Freunden im Stich gelassen wird.14 Sie besteht stattdessen aus einer Reihe dramatisierter Exempel, die sich aus der Vielfalt des spätmittelalterlichen Memento-mori- und Ars-moriendiSchrifttums speisen und deren Besetzung variabel ist.15 Auf ein Vorspiel, in dem Gottvater zunächst auf Anraten Satans seinen Zorn, dann aber auf die Fürbitte

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Erich (Hrsg.), Die Schaubühne im Dienste der Reformation, Bd. 2, Leipzig 1936 (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reformation 6), S. 135–347. Zur Stellung des Eigengerichtsspiels innerhalb dieser Tradition vgl. Könneker, Barbara, Die Moralität ›The somonynge of Every-man‹ und das Münchner Spiel vom Sterbenden Menschen, in: Strelka, Joseph P. / Jungmayr, Jörg (Hrsg.), Virtus et Fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag, Bern, Frankfurt/M., New York 1983, S. 91–105; informativ bleibt auch der Überblick über die JedermannDramen von Hertel, Gerhard, Die Allegorie von Reichtum und Armut. Ein aristophanisches Motiv und seine Abwandlungen in der abendländischen Literatur, Nürnberg 1969 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 33), S. 143–153. Zum dogmatischen Hintergrund vgl. den Artikel Jugement in: DTC, 8/1924, Sp. 1721– 1832. Zu dieser Parabel und ihrer Verarbeitung in der europäischen Literatur des Mittelalters vgl. Goedeke, Karl, Every-Man, Homulus und Hekastus. Ein Beitrag zur internationalen Literaturgeschichte, Hannover 1865, S. 1–132. Zur Ars moriendi vgl. unten Abschnitt V. Zu weiteren textlichen Quellen und Vorlagen des Spiels, insbesondere dem Ackermann des Johannes von Tepl, vgl. Kiening, Schwierige Modernität [Anm. 3], S. 252–257. Rosenfeld, Hellmut, Zur Darstellung des Eigengerichts in der mittelalterlichen Kunst und Literatur, in: Aus dem Antiquariat, 10/1985, S. A361–A368, verweist ferner auf gedruckte Bilderbogen des Eigengerichts mit lateinischen oder deutschen Spruchbändern als mögliche Vorlagen; der Aufsatz wurde in erweiterter Fassung wieder abgedruckt in: Klein, Hans-Adolf (Hrsg.), Hellmut Rosenfeld, Ausgewählte Aufsätze, Göppingen 1987 (GAG 473), S. 266–274.

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Marias und Christi hin seine Gnade über die sündige Menschheit ausschüttet, folgen die Begegnung eines weltzugewandten Jünglings mit dem Tod, drei Sterbeszenen mit anschließendem Partikulargericht und zum Schluss eine ausgedehnte Fegefeuerhandlung, in der die Armen Seelen gruppenweise nach Art eines Reihenspiels die Lebenden um Hilfe anflehen. Mit Ausnahme des Vorspiels sind sämtliche Szenen in ein Lehrgespräch zwischen einem Kaufmann und einem Doktor der Theologie eingebettet. Der Kaufmann fragt begierig nach Unterweisung, um sein Leben so zu ordnen, dass er sich vor Gottes Zorn und der ewigen Höllenstrafe nicht zu fürchten braucht (V. 272–275), worauf der Theologe mit den erwünschten Ratschlägen aufwartet und die soeben erwähnten Exempel zur Veranschaulichung seiner Lehre heraufbeschwört. Das Vorhandensein eines Rahmengesprächs macht den zweiten signifikanten Unterschied zwischen dem Eigengerichtsspiel und den Jedermann-Dramen aus. Ist bei diesen die Handlung bis auf Prolog und Epilog ganz auf einer einheitlichen Repräsentationsebene gehalten, so haben wir es dagegen im Münchner Spiel mit mehreren ineinander verschachtelten, sich teilweise auch überschneidenden Darstellungsebenen und Vermittlungsinstanzen zu tun. Insgesamt vier Precursore vermitteln mit ständigen Ankündigungen und Ermahnungen das gesamte Bühnengeschehen an das Publikum. Innerhalb dieses Geschehens vermittelt seinerseits der Theologe einzelne Szenen an den Kaufmann, so dass diese den Status einer Binnenrepräsentation, eines Spiels im Spiel, erhalten. Allerdings wird dieser Status wiederum dadurch verunklärt, dass die Binnenexempel ebenfalls von den Precursoren den realen Zuschauern präsentiert werden (V. 12–16; 565–610; 1575–1594). Obendrein kommt es innerhalb der Bühnendiegese zu wiederholten Grenzüberschreitungen, wenn etwa handelnde Figuren, die verschiedenen Schichten der Darstellung angehören, direkt zueinander sprechen16 oder wenn Themen oder Charakterkonstellationen von der einen Ebene auf die andere abwandern.17 Solche Momente ontologischer Nivellierung erzeugen eine schillernde Optik – sieht man jetzt ein Spiel im Spiel oder nicht? –, die zweifellos die Faszination der Bühnenrepräsentation für den Zuschauer nur gesteigert hat. Eine dritte Besonderheit des Eigengerichtsspiels betrifft das dominante Prinzip der Charakterkonstruktion. In Elckerlijc/Everyman ist die allegorische Personifikation vorherrschend. Die handelnden Personen sind zumeist sprechende Abstraktionen und geistige Fähigkeiten, z.B. Gheselscap/Fellowship, Kennisse/Knowledge, Schoonheyt/ Beauty, Vijf sinnen / Five Wits, Vroescap/Discretion. Im Münchner Spiel kommen Personifikationen dieser Art äußerst selten vor (eigentlich nur zweimal: Der tod, Das menschlich geschlächt). Das am häufigsten verwendete Prinzip der Charakterbildung besteht vielmehr darin, dass eine Berufsbezeichnung oder ein menschliches Lebensstadium mit dem unbestimmten Artikel oder einer Ordinalzahl gekoppelt wird, also: 16 17

Theologe zu Jüngling, V. 461–467; Tod und Arme Seelen zu volck bzw. zů der gantzen cristenhait (d.h. zu den Zuschauern), V. 511–544, 1707–1722. So prägt beispielsweise das Lehrer-Schüler-Verhältnis sowohl den Rahmendialog als auch die exemplarischen Sterbeszenen.

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ain kauffmann, ain doctor theologie, ain junger gesell, der dritt sterbend mensch, Die vierdten selen im fegfeür etc. Diese Namensgebung bewirkt, dass die handelnden Personen als das wahrgenommen werden, was Daniel Boyarin »sample« nennt: Als Muster weisen sie auf die größere Masse oder Verschmelzung (»fusion«) gleichartiger Wesen hin, deren durchschnittliches und repräsentatives Beispiel sie sind.18 Eine alternative, von James J. Paxson vorgeschlagene Bezeichnung für diesen Personifikationstyp ist »isotype«: Gemeint ist ein Charakter, der für eine größere Anzahl von Entitäten steht, die ontologisch vom gleichen Schlag sind wie er selbst, etwa ein Jugendlicher, der für alle Jugendlichen steht.19 Aus den zwei letztgenannten Unterscheidungsmerkmalen geht hervor, dass das Problem von Normativität und Normalität und ihrem Verhältnis zueinander bereits in der Struktur des Eigengerichtsspiels angelegt ist. Im Rahmendialog des Kaufmanns und des Theologen ist der Prozess der Normenvermittlung für den Zuschauer (und auch den Leser) des Spiels objektiviert. Damit ist die Möglichkeit einer Reflexion über die Bedingungen normativen Sprechens gegeben. Die Übervölkerung der Bühnenwelt mit durchschnittlichen ›samples‹ oder ›isotypes‹ hat ihrerseits zur Folge, dass die handelnden Personen als Konstituenten einer Welt der Normalität wahrgenommen werden – und dies sowohl vom Zuschauer als auch vom Leser, da die Namen in Charakterreden und Regieanweisungen gleichermaßen vorkommen. Wie das Verhältnis der so wahrgenommenen Normalität zur sie verändern wollenden Normativität im Laufe des Spiels für den Rezipienten thematisiert und mitunter auch von den handelnden Personen selbst diskutiert wird, soll im Folgenden an drei Stellen herausgearbeitet werden.

III. Signifikanterweise wird die Frage nach den Wirkungsbedingungen normativen Sprechens gleich zu Beginn des Rahmendialogs gestellt und dort auch von den Gesprächspartnern abgehandelt. Der Kaufmann wird dem Publikum von einem Precursor vorgestellt als ain kauffmann, der mit welltlicher sach / Sich neren thůt mit seinem handel (V. 246f.). Gleichzeitig wird der Figur auch eine allgemeine, über ihre Singularität hinausgehende Bedeutung zugesprochen, als der Precursor hinzufügt:

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Daniel Boyarin, Take the bible for example: Midrash as literary theory, in: Gelley, Alexander (Hrsg.), Unruly examples. On the rhetoric of exemplarity, Stanford 1995, S. 27–47, hier S. 33: »[…] a concrete portion of a mass (a ›fusion‹ of all such similar objects) which through its characteristics manifests the characteristics of the entire mass. […] In English we would use the word ›sample‹ or ›specimen‹ to convey this meaning.« Paxson, James J., The poetics of personification, Cambridge 1994, S. 46: »He [sc. the isotype] is the representation of a greater number of entities ontologically identical to himself.«

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Mark Chinca (darinn merck ain yeder seinen wandel, Wie er sein narung gwinn unnd treyb, das er darinn unstraffper bleyb Unnd gotes zorn müg empfliehen, sein leben zů gůter tugendt ziehen, Als diser kauffman hat gethan). (V. 248–253)

Der Kaufmann soll dem Publikum ein Beispiel sein, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen hat er den normativen Status eines Vorbilds. Tatsächlich erweist er sich im Verlauf der Handlung als vorbildlicher Schüler, der mit seiner Gelehrigkeit offensichtlich modellhaft auf den realen Zuschauer des Spiels wirken soll. Zum anderen ist er ein repräsentatives Beispiel. Jeder (ain yeder) vermag seine eigene Lebensweise in der Bühnenfigur wiederzuerkennen, die somit ein Muster – im Sinne von Boyarins »sample« – aller durchschnittlichen, in normalen Verhältnissen lebenden Menschen darstellt. Die repräsentative Beispielhaftigkeit des Kaufmanns wird sogar noch durch die Art seines ersten Bühnenauftritts unterstrichen. Die betreffende Regieanweisung nach V. 266 lautet: Jetzt kompt herfür auß der cristenhayt ain kauffman […]. Das Publikum sieht ihn also aus der Masse aller getauften Christen gleichsam als ein Exemplar hervortreten. Auf die erste Frage des Kaufmanns: O wie sol ich verzeren das leben mein? (V. 276) antwortet der Theologe mit einem genauen Bibelzitat: In allen deinen wercken gedennck dein letste zeyt! / so wirstu nymermer sünden in ewigkeyt (V. 283f.; Sir 7,40f.: In omnibus operibus tuis memorare novissima tua, et in æternum non peccabis). Diese Weisung nimmt der Kaufmann jedoch nicht ohne Weiteres an. Im Gegenteil, er fragt seinen Lehrer, ob der Spruch wirklich beim Wort zu nehmen sei: Sol ich allzeyt an den tod gedenncken / unnd in allen meinen wercken darvon nit wencken? (V. 287f.). Als viel beschäftigter Mann, der sich und seine Familie ernähren müsse, habe er leider keine Zeit, solchen asketischen Anforderungen in ihrer vollen Strenge zu genügen (V. 289– 293). Der Theologe beruhigt ihn sofort: Es sei nicht erforderlich, den Tod in der vorgeschriebenen Weise zu allen Zeiten zu betrachten (du darfft nit allso an den tod gedencken zů aller zeyt; V. 296), sondern nur zu gewissen Zeiten, und zwar jedes Mal dann, wenn das Fleisch, die Welt oder der Teufel zur Sünde verlockten (V. 296–300). Für diesen gar gůt unnderschaid (V. 310) bedankt sich der Kaufmann und erklärt, er würde nun gerne ausführlicher über die Technik der Todesbetrachtung informiert werden (V. 311–313). Daraufhin hält der Theologe eine längere Rede über den besten Weg zur Vermeidung der ewigen Höllenstrafe: erstens, dass man in seinen Mußestunden seinen Lebenswandel und sein Gewissen prüfen solle; zweitens, dass der Tod jederzeit und überall zu gewärtigen sei; drittens, dass man die Letzten Dinge stets bedenken müsse (V. 314–372). Die von dem Theologen vorgenommene pragmatische Anpassung der Norm an die Verhältnisse und Möglichkeiten eines durchschnittlichen Adressaten führt ein Moment von Diskrepanz in den normativen Diskurs ein, zwischen der Absolutheit des Gottesworts einerseits und der Bedingtheit der Applikation desselben anderer-

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seits. Diese Diskrepanz tritt besonders eindringlich in der Umdeutung der Umstandsbestimmung des Bibelspruchs und der daraus abzuleitenden Norm zutage. Das biblische »in allen deinen Werken« bedeutet in der Erklärung des Theologen: »nicht in allen deinen Werken«, Sonder, wenn dich dein aygen fleisch [bzw. die wellt, der teüfel] raiczt zů@ sünden (V. 297); aus dem »Jederzeit« des Aufrufs zur Gewissensprüfung wird: »nicht zu jeder Zeit«, sondern nur […] so dir miessige zeyt wirt gegeben (V. 315). Gleichwohl wird die Diskrepanz nicht als störend empfunden und führt zu keiner Relativierung des normativen Diskurses, weder im Hinblick auf die göttliche Setzung (als wäre diese von allzu starrer Rigorosität) noch bezüglich der menschlichen Auslegung (als würde der Theologe etwa Abstriche am biblischen Gebot machen). Vielmehr gilt die Applikation als angemessene Umsetzung der Norm, da sie von der Autorität der Kirche gedeckt ist. Auf die Rolle der Kirche als Vermittler zwischen göttlicher Normativität und menschlicher Normalität weisen die Autoritätenzitate hin, mit denen der Theologe seinen unnderschaid des Bibelverses begründet20 und denen sich die eigene Interpretation gleichsam als letztes Glied einer Traditionskette anschließt. Auf diese Weise ausgelegt, sind christliche Normen für jeden verbindlich: für den Kaufmann, und letztlich für den Zuschauer bzw. Leser des Spiels, der sich in der Figur des Kaufmanns wiederzuerkennen hat und der vom Precursor zur Beherzigung der Lehren des Theologen aufgefordert wird (V. 263–266).

IV. Um den Kaufmann zur regelmäßigen Erinnerung an den Tod zu bewegen, führt ihm der Theologe ein Exempel vor, das den Disput eines jungen Mannes mit dem Tod darstellt.21 Der Jüngling erklärt, sein ganzes Sinnen und Trachten gelte nur den irdischen Freuden, konkret: […] schönen frawen und gůten gesellen / […] schlemmen unnd prassen (V. 473f.; in dem begleitenden Holzschnitt wird der Jüngling als modischer Kavalier mit Federhut und Schwert dargestellt). Die Warnungen des Todes schlägt er in den Wind: Später, in dreißig Jahren (V. 434), werde noch Zeit sein, die Letzten Dinge zu bedenken. Die Handlung nimmt nun ihren erwarteten Lauf. Der Tod (der im Holzschnitt in der Gestalt eines menschlichen Skeletts erscheint, das dem jungen Mann eine Sanduhr als Symbol der Vergänglichkeit vorhält) rafft den Jüngling dahin,

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Es werden Hieronymus und Petrus Damiani angeführt, V. 301–309: Wann sant Jheronimus spricht unnd melt: / ›leychtigklich verschmächt der all sünd der welt / Unnd alles das, das wider got ist, / so er fleyssigklich gedennckt, das er sterblich ist.‹ / Unnd Petrus Damianus unns warnung geyt: / ›zů entrinnen den pfeylen der teüfelischen streyt / Bedunckt mich kain krefftiger harnasch noch schildt / dann gedechtnus des tods, wer die einpildt, / Darzů des letsten urtails erschrockenlichaid.‹ Zu dieser Begegnung vgl. Kiening, Schwierige Modernität [Anm. 3], S. 253–257.

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als dieser noch in der Blüte seiner Jahre steht und den Tod am allerwenigsten gewärtigt. (Der folgende Holzschnitt zeigt den Tod mit seinem Bogen, von dem er soeben den Pfeil abgeschossen hat, der dem jungen Mann im Rücken steckt.)22 Schließlich verurteilt Gott den Jüngling – Seele u n d Leib (V. 502) – zur ewigen Verdammnis. Für den Kaufmann, und auch für den realen Zuschauer dieser Szene, soll der junge Mann ein negatives Beispiel für die Folgen der Unbelehrbarkeit sein. Er verwirft genau diejenigen christlichen Verhaltensnormen, die der Theologe seinem Dialogpartner einschärfen will, und wird dafür schrecklich bestraft. (Tatsächlich versucht der Theologe selbst in einer jener Rahmenüberschreitungen, von denen oben die Rede war, auf den jungen Mann einzureden. Sein predigen, wie es der Jüngling abschätzig nennt, bleibt natürlich ohne Wirkung.)23 Dass dieser Typus von Verstocktheit dazu noch jung ist, spielt für die Exemplarität seines Charakters keine wesensbestimmende Rolle, auch wenn mangelnde Einsicht zu den stereotypen Fehlern der Jugend gehört. Im Bühnengeschehen kommt es vielmehr auf den exemplarischen Kontrast zwischen Einsichtigkeit und Verstocktheit an, genauer: zwischen denjenigen Laien, die auf den Kleriker hören, und denjenigen, an denen solche Belehrung nur abprallt.24 Dies bestätigt sich an dem Kontrast, den der junge Mann zum lernbegierigen Kaufmann bildet, und ferner auch an der genauen Parallele, die zwischen seinem Fall und dem des zweiten sterbenden Menschen besteht, dessen Alter übrigens unbestimmt bleibt. Genauso wie der Jüngling verschließt sich auch dieser der als lästig empfundenen predig eines Klerikers25 – in diesem Fall eines Sterbebeistand leistenden Augustiners – und wird nach seinem Tod ewig verdammt. Die kommentierende Bühnenanweisung, die den Auftritt des jungen Mannes ankündigt, setzt jedoch andere Akzente. Zwar wird der Jüngling noch als negatives Beispiel in das Geschehen eingeführt, aber jetzt eben als Beispiel eines spezifisch j u g e n d l i c h e n Fehlers: Jetz kompt ain junger gesell, der bedeüt die můtwilligen jungen menschen, die sich irer jugend und sterck tröstent und weder ler noch straff annemen wöllen, sonder der wellt freüd unnd wollust nach leben, die söllen das exempel mercken. (Regieanweisung nach V. 378)

Obwohl andere handelnde Personen den Jüngling mit junger gsell anreden (V. 385, 461) und er selbst auf sein jugendliches Alter hinweist (V. 433), wird diese Eigen22

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Zu Pfeil, Bogen und Sanduhr als Attribute der Todespersonifikation vgl. Titzmann, Michael, Der Tod als Figur im Drama des deutschsprachigen Gebiets im 16. Jhdt.: Implikationen und Transformationen, in: Hempfer, Klaus W. / Regn, Gerhard (Hrsg.), Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. Festschrift für Alfred NoyerWeidner zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 1983, S. 352–393, insbes. S. 358–362. V. 468 u. 471: Ey, was sagt unnd predigt mir vor der pfaff! […] Ich volg dir nit, das sag ich dir fürwar. Vgl. Kiening, Das andere Selbst [Anm. 3], S. 44: »Das Spiel operiert mit der Spannung zwischen Unbelehrbarkeit und Einsichtsfähigkeit.« V. 993: Du sagst mir vor ain lange predig zwar.

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schaft erst in der Regieanweisung zur Grundlage seiner Beispielhaftigkeit gemacht, indem sein Charakter als Muster (›sample‹) der eigensinnigen, unbelehrbaren Jugend herausgestellt wird. Für den Leser der gedruckten Fassung des Spiels bedeutet dies, dass der Charakter des Jünglings nicht nur in seiner (Gegen-)Normativität, als schlechtes Vorbild, wahrgenommen wird, sondern dass auch die N o r m a l i t ä t der Figur als ›typischer‹ Jugendlicher in Erscheinung tritt. Damit konstatiert der Leser nicht nur – wie der Zuschauer – den exemplarischen Kontrast zwischen Kaufmann und Jüngling, sondern wird durch die Bühnenanweisung zusätzlich auf eine Parallele zwischen den beiden Figuren verwiesen. Beide verkörpern das Prinzip der Normalität als Bedingung normativen Sprechens, allerdings tut es der Jüngling auf radikal verschärfte Weise. Steht der Kaufmann für eine immerhin besserungsfähige Normalität, deren Möglichkeiten und Grenzen der Normgebende nur zu berücksichtigen hat, so verkörpert der Jüngling dagegen als durchschnittlicher Repräsentant seiner Generation das Prinzip der absoluten Renitenz, an der jeglicher normative Anspruch scheitert. Dass aus einer solchen Begegnung keine konkrete und anwendbare Handlungsnorm entstehen kann, ist an der absurden Forderung erkennbar, die die Bühnenanweisung an alle Jugendlichen stellt: die söllen das exempel mercken. Da von einem prinzipiell Unbelehrbaren nicht zu erwarten ist, dass er überhaupt etwas einsieht, dient die Weisung lediglich dazu, den Leser der Buchfassung in seinen Vorurteilen über die Jugend zu bestätigen.

V. Zur Veranschaulichung seiner nächsten Lektion lässt der Theologe drei sterbende Menschen hintereinander auftreten. Der Zweck dieser Exempelreihe besteht darin, den Kaufmann mit den Normen für heilsames Sterben gemäß den Richtlinien der Ars moriendi vertraut zu machen. Den Kern jeder Szene bildet der Streit zwischen Anfechtung und Trost: Einerseits versucht der Teufel, sich der Seele des Sterbenden zu bemächtigen, indem er diesen mit unheilsamen, Verderben bringenden Gedanken anficht, andererseits spricht der Beichtvater dem Sterbenden Trost zu. Das Modell für diese dialogisch gestaltete Gegenüberstellung liefert die um 1460 entstandene und sowohl lateinisch als auch volkssprachlich reichlich überlieferte Bilder-Ars moriendi, deren Incipit von einem Precursor im Münchner Spiel fast wortgenau zitiert wird.26

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V. 569–579; vgl. die Gegenüberstellung der betreffenden Textpartien in: Kiening, Schwierige Modernität [Anm. 3], S. 252f., Anm. 218. Zusammenfassend zur Bilder-Ars moriendi vgl. Palmer, Nigel F., Ars moriendi und Totentanz. Zur Verbildlichung des Todes im Spätmittelalter. Mit einer Bibliographie zur ›Ars moriendi‹, in: Borst, Arno / Graevenitz, Gerhard von / Patschovsky, Alexander u.a. (Hrsg.), Tod im Mittelalter, Konstanz 1993 (Konstanzer Bibliothek 20), S. 313–334, hier S. 314 u. 321–325; Chinca, Mark, Innenraum des Selbst,

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(Allerdings werden in der Bilder-Ars moriendi die ›Inspirationen‹ – also die Repliken auf die Anfechtungen – nicht von einem Geistlichen, sondern von einem Engel gesprochen.) Der erste Sterbende hat ein vorbildliches Leben geführt, ist daher auf seine Todesstunde bestens vorbereitet und hält den Anfechtungen des Teufels mühelos stand.27 Im anschließenden Partikulargericht wird seine Seele direkt in den Himmel aufgenommen. Es folgt ein umfassender Kommentar, in dem der Theologe dem Kaufmann auf dessen Drängen einen ungefähren Eindruck von den unaussprechlichen Freuden des Himmels zu vermitteln sucht. Der zweite Sterbende wird vom Theologen als unwilliger sterbender mensch vorgestellt (V. 916) und bildet den polaren Gegensatz zum ersten. Zeit seines Lebens hat er nur irdischen Genüssen gefrönt (V. 917), hat weder auf Gott noch auf seinen Beichtvater gehört, dessen Rat er sogar noch auf dem Sterbebett verwirft. Folglich erliegt er der Anfechtung, und seine Seele wird in alle Ewigkeit verdammt.28 Das dritte Beispiel betrifft einen Menschen, der seine Vorbereitung immer wieder aufgeschoben hat und dies jetzt bereut. In seiner letzten Stunde lässt er sich von seinem Beichtvater zur Umkehr bewegen (nach dem

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Innenraum des anderen. Zur Ars moriendi im 15. Jahrhundert, in: Hasebrink, Burkhard / Schiewer, Hans-Jochen / Suerbaum, Almut u.a. (Hrsg.), Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium, Tübingen 2007, S. 355–381, hier S. 360f., Anm. 17; Sahm, Heike, Mediale Formatierung. Die ›ars moriendi‹ des 15. Jahrhunderts im Übergang von der Handschrift zum Druck, in: Kapfhammer, Gerald / Wille, Friederike (Hrsg.), Grenzgänger. Mittelalterliche Jenseitsreisen in Text und Bild [im Druck]. In der Ars moriendi werden die Anfechtungen einzeln aufgezählt und beschrieben. Im Fall des ersten Sterbenden handelt es sich speziell um die sogenannten ›temptationes de fide‹ und ›de vana gloria‹; vgl. die Bühnenanweisungen nach V. 610 u. nach V. 678: Der erst teüfel ficht den sterbenden menschen an im glauben […]; So der teüfel den sterbenden menschen im glauben nit überwinden mag, ficht er in an mit geystlicher hoffart […]. Sowohl der Bilder-Ars moriendi als auch ihrer textlichen Quelle, dem Speculum artis bene moriendi, zufolge werden besonders die ›devoti‹, ›religiosi‹ und ›perfecti‹ mit der ›spiritualis superbia‹ oder ›vana gloria‹ angefochten; vgl. dazu Akerboom, Dick, ›…Only the image of Christ in us‹. Continuity and discontinuity between the late medieval ›ars moriendi‹ and Luther’s ›Sermon von der Bereitung zum Sterben‹, in: Blommestijn, Hein / Caspers, Charles / Hofman, Rijcklof (Hrsg.), Spirituality renewed. Studies on significant representatives of the Modern Devotion, Löwen 2003 (Studies in spirituality. Supplement 10), S. 209–272, hier S. 256f. (Transkription der Blockbuchausgabe IA der Bilder-Ars moriendi); Speculum artis bene moriendi, 2. Teil, 4. Anfechtung, 1. Absatz (keine Ausgabe; ein Wiegendruck des Textes, ISTC Nr. ia01090000, ist im Internet über die Verteilte Digitale Inkunabelbibliothek [Anm. 11] verfügbar). Zusammenfassend zur Reihenfolge der Anfechtungen in der Ars moriendi: Rudolf, Rainer, Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens, Köln, Graz 1957 (Forschungen zur Volkskunde 39), S. 116. ›Temptatio de desperatione‹; vgl. die Bühnenanweisung nach V. 1016: Der teüfel […] rayczt [den siechen] zů verzweyflung […].

Zum Münchner Eigengerichtsspiel von 1510

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Motto: […] ist das ennd gůt, so ist es alles gůt; V. 1242);29 er überwindet den Teufel30 und wird nach seinem leiblichen Tod zum Fegefeuer verurteilt, wo seine Seele die noch anstehenden zeitlichen Sündenstrafen abbüßen soll. Veranlasst durch Fragen des Kaufmanns nach dem Leiden der Armen Seelen im Fegefeuer, hält der Theologe nach diesem Exempel eine längere traktatartige Rede, die dann die letzte Reihe von ausnahmslos im Fegefeuer spielenden Binnenexempeln einleitet. Ihr Ziel ist es, anngst unnd herczen layd der Armen Seelen darzustellen und dadurch den Kaufmann zur Erbarmung zu bewegen.31 Viermal nacheinander wird dasselbe Szenarium durchgespielt. Eine Gruppe Armer Seelen wendet sich klagend an die Lebenden und wirft diesen Unbarmherzigkeit und Pflichtvergessenheit vor.32 Engel trösten die Seelen mit der Versicherung, sie würden die Lebenden zur Pflichterfüllung mahnen bzw. die Lebenden beteten bereits für ihre verstorbenen Wohltäter, teilten Almosen aus, ließen Seelenmessen lesen usw., so dass für die Armen Seelen eine baldige Erleichterung ihrer Qual absehbar sei. Als Gegenleistung beten die Armen Seelen um Gottes Hilfe und Beistand für die Lebenden. Zum Abschluss der Fegefeuerhandlung richtet eine Gruppe von fünf Seelen einen letzten Appell an die gesamte Christenheit, sich der Armen Seelen zu erbarmen und ihnen durch fromme Leistungen – zusammengefasst in der Formel Peten, vasten, meß lesen unnd almůsen geben (V. 1713; vgl. V. 1778) – zu ewigem Leben zu verhelfen. Der Fegefeuerthematik kommt im Eigengerichtsspiel schon aufgrund des breiten Raumes, den sie in der Bühnenhandlung einnimmt, ein besonderes Gewicht zu. Tod und Beurteilung des dritten sterbenden Menschen, die anschließende Fegefeuerbeschreibung des Theologen und die darauf folgende Arme-Seelen-Handlung machen 542 von insgesamt 1848 Versen aus – also mehr als ein Viertel des gesamten Textumfangs. Die normative Aussage dieser Szenen ist jedoch ambivalent. Der Intention nach soll die Darstellung des Fegefeuers und der dazu Bestimmten bzw. darin Lei29

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Dieses Argument ist aus dem berühmten Sterbekapitel in Heinrich Seuses Büchlein der ewigen Weisheit übernommen, genauer aus dem Dialog zwischen dem diener und dem unbereiten sterbenden menschen, an den die erste Partie des Gesprächs mit dem Beichtvater bis zum Auftritt des Teufels (V. 1279) überhaupt sehr eng angelehnt ist: Bihlmeyer, Karl (Hrsg.), Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, Stuttgart 1907, Neudruck 1961, S. 278–287, vgl. bes. die Stelle S. 280, Z. 15 bis S. 282, Z. 5. In diesem Fall besiegt er die ›temptatio de avaritia‹, die sich als unheilsame Versessenheit des Sterbenden auf amici corporales, uxor, liberi, divicie et alia temporalia manifestiert (Akerboom, ›Only the image of Christ in us‹ [Anm. 27], S. 258); vgl. die Bühnenanweisung nach V. 1278: […] der dritt teüfel […] ficht den menschen an / mit seinem weyb und kinden, auch mit seinem gůt […]. V. 1565f.; vgl. den unmittelbar darauf folgenden Aufruf des Precursors an die Zuschauer, V. 1575–1594. Bei der ersten Gruppe sind es die Erben, die solchen Tadel verdient haben (V. 1595–1608), bei der zweiten die Nutznießer der Wohltätigkeit der Verstorbenen zu deren Lebzeiten (V. 1629–1640), bei der dritten die Testamentsvollstrecker (V. 1659–1670) und bei der vierten die Empfänger von Almosen aus der Hinterlassenschaft (V. 1687–1694).

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Mark Chinca

denden als warnendes Beispiel dienen. Man sollte n i c h t wie der dritte sterbende Mensch unvorbereitet sein, wenn einem die letzte Stunde schlägt, und man sollte n i c h t die Qualen des Fegefeuers bagatellisieren und das Fegefeuer selbst für ein annehmbares Ziel halten, als käme es lediglich darauf an, die Hölle zu vermeiden. Solches Verhalten ist dem Theologen zufolge […] ain grosse torhait (V. 1559). Gleichzeitig dienen dieselben Szenen zur Demonstration positiver Normen. Der dritte Sterbende unterwirft sich im Gegensatz zu dem Jüngling und dem zweiten Sterbenden am Ende doch noch der Autorität der Kirche. Er lässt sich rat auß dem römischen Ordinarium geben,33 und er unterzieht sich dem normativen Sterberitual, wie es die Ars moriendi vorschreibt: Auf die Beantwortung der sogenannten Anselmschen Fragen – einer Reihe katechetischer Fragen zur Feststellung der Disposition des Sterbenden, die Anselm von Canterbury zugeschrieben werden – folgen Gebete an Gott nach Formeln der Ars moriendi und die herkömmliche Commendatio animae.34 Die abschließende Arme-Seelen-Handlung mit ihrem Mechanismus von Klage, Erhörung und Anerkennung erinnert die Lebenden sowohl an ihre Verpflichtungen den Verstorbenen gegenüber als auch daran, dass die Armen Seelen sich für erwiesene Hilfe zu bedanken wissen. Somit trägt die Handlung zur Erhaltung des für das Mittelalter kennzeichnenden Memorialwesens bei, das auf der normativen Grundlage der Reziprozität von Leistung und Gegenleistung Lebende und Tote in einer Gemeinschaft verbindet.35 Über die Demonstration positiver Handlungsnormen hinaus bekommt der Zuschauer bzw. Leser unverkennbar den Eindruck, dass es sich bei den Fegefeuerszenen auch um ein Stück N o r m a l i t ä t handelt. Die drei exemplarischen Sterbenden sind nach Angabe des ersten Precursors im Prolog zum ganzen Spiel an das Enchiridion des Augustinus angelehnt (V. 13–16). In Kapitel 110 dieses Werkes, wo es um die Wirksamkeit der Gebete und Opfer für die Seelen im Jenseits geht, teilt Augustinus die Verstorbenen je nach vivendi modus in drei Kategorien ein: die valde boni, d.h.

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Bühnenanweisung nach V. 1388; gemeint sind Ritualbücher, die im Kontext der Letzten Ölung häufig auch Mahnreden an den Sterbenden vorsehen. Vgl. die Hinweise bei O’Connor, Mary Catharine, The art of dying well. The development of the Ars moriendi, New York 1942, Neudruck 1966 (Columbia University Studies in English and Comparative Literature 156), S. 43, Anm. 206. Zu diesen Sprechakten als Bestandteil der Sterbekunst vgl. Rudolf, Ars moriendi [Anm. 27], S. 57f. u. 115. Grundlegend hierzu Oexle, Otto Gerhard, Die Gegenwart der Toten, in: Braet, Herman / Verbeke, Werner (Hrsg.), Death in the middle ages, Löwen 1983 (Mediaevalia Lovanensia Series I / Studia IX), S. 19–77; vgl. außerdem Schmid, Karl / Wollasch, Joachim (Hrsg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Denkens im Mittelalter, München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 48); Geary, Patrick J., Living with the dead in the middle ages, Ithaca, London 1994; Gordon, Bruce / Marshall, Peter (Hrsg.), The place of the dead. Death and remembrance in late medieval and early modern Europe, Cambridge 2000.

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die vorbildlich lebenden Christen, die nach ihrem Tod keiner Hilfe von menschlicher Seite mehr bedürfen; die valde mali oder verstockten Sünder, denen überhaupt nicht mehr zu helfen ist; und die non valde boni, die Mittelmäßigen oder Durchschnittlichen, die etwas Verdienst im Diesseits erworben haben und deren läuterungsbedürftige Seelen daher aus den Suffragien der Lebenden Nutzen ziehen können.36 Es kann sein, dass der namentliche Hinweis auf Augustinus ein Zusatz des Bearbeiters für den Druck ist. Allerdings dürfte das zugrunde liegende Schema auch für den Zuschauer deutlich erkennbar sein, der ja aus der Abfolge von kontrastierenden Beispielen ersieht, dass es sich beim dritten Sterbenden um ein Mittelmaß zwischen den beiden vorausgehenden Extremfällen handelt. Der dritte sterbende Mensch, dessen Seele ins Fegefeuer kommt, steht also für den Durchschnittsfall. Daraus folgt, dass die Armen Seelen nicht nur ein Schicksal veranschaulichen, das man besser zu vermeiden sucht, sondern zudem das exemplifizieren, was man die durchschnittliche Lebenserwartung im Jenseits nennen möchte – den Zustand, der durch das Urteil des Partikulargerichts über die Seele des mittelmäßigen, weder ganz tadellos noch ganz lasterhaft lebenden Menschen herbeigeführt wird. Bei den Ritualen der Ars moriendi geht es also um klerikale Normen, die im Durchschnittsfall des non valde bonus wenigstens das Schlimmste abzuwehren vermögen. Diese Art der Vorbereitung auf den Tod in letzter Minute wird nicht ausdrücklich empfohlen, im Gegenteil. Dadurch aber, dass der dritte sterbende Mensch nicht einfach verteufelt wird, sondern vielmehr als Objekt einer kirchlich sanktionierten, normgeleiteten ›Bergungsaktion‹ auftritt, wird stillschweigend eingeräumt, dass die Normativität sich der Normalität anzupassen hat und nicht umgekehrt.

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Enchiridion ad Laurentium de fide et spe et caritate, in: Aurelii Augustini Opera, Tl. 13, Bd. 2, Turnhout 1969 (CCSL 46), S. 108f.

II.

Norm und Individualität / Strategien normativen Sprechens in der Literatur

Martin H. Jones (London)

Normerfüllung oder Normverletzung? Zum Urteil des Königs Artus über Gramoflanz’ Brief an Itonje

In der äußerst verwickelten letzten Phase der Gawan-Geschichte, die Wolfram von Eschenbach im 14. Buch seines Parzival schildert, spielt der Brief, den König Gramoflanz an Itonje schickt, eine entscheidende Rolle. Denn dieser Brief überzeugt Artus von der Aufrichtigkeit der Liebe des Gramoflanz zu seiner Nichte Itonje und bewegt ihn dazu, sich um eine friedliche Lösung der vielfältigen Konflikte, die sich hier auf bedrohliche Weise verdichtet haben, zu bemühen. Die Frage, der ich hier nachgehen will, ist ganz einfach die: Wie ist es zu erklären, dass dieser Brief eine so bedeutende Wirkung erzielt, welche Merkmale des Briefs tragen dazu bei, dass Artus Gramoflanz plötzlich in einem neuen Licht sieht und sich zur Förderung der Liebe zwischen ihm und Itonje entschließt? Zunächst rufe ich die Umstände dieses wichtigen Handlungsmoments in Erinnerung. Auf dem plân ze Jôflanze (610,23),1 wo der Zweikampf zwischen dem mit Itonje in Liebe verbundenen Gramoflanz und ihrem Bruder Gawan stattfinden soll, haben sich die Hauptakteure in ihren Lagern versammelt: Neben Gramoflanz, der mit einem mächtigen Heer aus Rosche Sabbins herangezogen ist, und Gawan, der mit seiner neuen Lebensgefährtin, der Herzogin Orgeluse, und seinem jüngst erworbenen Gefolge aus Schastel marveil gekommen ist, befindet sich dort auch Artus, der Gawans Bitte, ihn in Begleitung seines Hofes zu unterstützen, entsprochen hat. Itonje, kürzlich zusammen mit ihrer Großmutter, Mutter und Schwester durch Gawan aus ihrer Gefangenschaft in Schastel marveil befreit, ist jetzt im Lager ihres Onkels Artus. Dort sorgt sie für großen Aufruhr unter ihren weiblichen Verwandten, als sie die Identität der Kontrahenten im bevorstehenden Zweikampf erfährt. Ihre Bestürzung über diese Begegnung zwischen ihrem Geliebten und ihrem Bruder bringt sie mit solcher Erregtheit zum Ausdruck, dass ihre Großmutter Arnive, in der Hoffnung, Artus könne einen Ausweg aus diesem Dilemma finden, ihn veranlasst, mit Itonje zu sprechen (710,9–711,10). Das private Gespräch findet in einem kleinen Zelt statt; ansonsten ist nur Bene anwesend. Itonje weiß von der Feindseligkeit zwischen Gramoflanz und Orgeluse und macht die Herzogin dafür verantwortlich, dass Gawan ihr gegenüber so unbrüderlich handeln will, zumal er über ihre Liebe zu 1

Textausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin, New York 1998.

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Gramoflanz informiert ist; sie bittet Artus, sich einzuschalten, um den Kampf zu vermeiden (711,17–712,2). Artus fragt nach den Umständen dieser Liebesbeziehung und erfährt, dass Gramoflanz und Itonje sich nie gesehen haben, dass sie trotzdem Liebespfänder ausgetauscht haben und dass Itonje fest an die Liebe Gramoflanz’ zu ihr glaubt: der künec ist an mir stæte, / ân valsches herzen ræte (712,29f.). Das Bild ihres Geliebten, das Itonje hier zeichnet, ist für Artus etwas ganz Neues. Als er den Brief las, in dem Gawan ihn aufforderte, nach Joflanze zu kommen, wurde ein ganz anderes Image von Gramoflanz bei Artus evoziert: Er empörte sich über die Anmaßung und die Frechheit, die in der Herausforderung seines Neffen Gawan evident waren: daz der künec Gramoflanz / hôchvart mit lôsheite ganz / gein mîme künne bieten kan! (650,13–15). Artus wußte bereits von der Tötung Cidegasts durch Gramoflanz, die diesem noch immer großen Kummer einbrachte, und er war entschlossen, Gramoflanz noch größeren Kummer zu machen und bessere Manieren beizubringen: er wænt, mîn neve Gâwân sî Cidegast, den er sluoc, dâ von er kumbers hât genuoc. ich sol im kumber mêren und niwen site lêren. (650,16–20)

Eine ähnliche Meinung von Gramoflanz ist der Botschaft zu entnehmen, die Artus, inzwischen in Joflanze angelangt, an ihn sandte und die eine Strategie der Abschreckung verfolgte: Der Angriff auf ein Mitglied der Artusfamilie sei eine arrogante Beleidigung, die andere vermieden hätten: es wære eim andern man ze vil (677,12); Gramoflanz solle bedenken, dass die ganze Macht der Tafelrunde hinter Gawan stehe (683,27–684,10). Trotz dieser bislang negativen Meinung von Gramoflanz ist Artus jetzt im Gespräch mit seiner Nichte so sehr von der Intensität ihrer Gefühle beeindruckt, dass er sofort an die Möglichkeit denkt, eine andere Strategie zur Vermeidung des Kampfs zu finden. Nur muss er zuvor mit Sicherheit wissen, ob Gramoflanz die Gefühle Itonjes teilt: süeziu magt gehiure, den kampf möht ich wol scheiden, wesse ich daz an iu beiden, op sîn herze untz dîn gesamnet sint. (712,10–13)

Damit ist der Weg bereitet für die Überbringung von Gramoflanz’ Brief: Er steckt schon wenige Meter entfernt in der Hand eines seiner Boten, die vor dem Zelt stehen, und kommt über Bene, die noch einmal ihre Rolle als Postillon d’Amour zwischen den Liebenden spielt, gleich in die Hände Itonjes und danach in die Hände Artus’. Gramoflanz’ eigener Brief evoziert bei Artus ein ganz anderes Bild als Gawans Brief: das eines aufrichtig Liebenden. Das wird sowohl im Erzählerkommentar als auch in Artus’ eigenen Worten zum Ausdruck gebracht, ohne dass der Grund für die

Normerfüllung oder Normverletzung?

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Neueinschätzung des Gramoflanz expressis verbis angegeben wird. In der Rede des Erzählers heißt es: Artûs an dem brieve sach, daz er mit sîme sinne sô endehafte minne bî sînen zîten nie vernam. dâ stuont daz minne wol gezam. (714,26–30)

Und in Artus’ eigener Rede: […] ›niftel, du hâst wâr, der künec dich grüezet âne vâr. dirre brief tuot mir mære kunt daz ich sô wunderlîchen funt gein minne nie gemezzen sach.‹ (716,1–5)

Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass Gramoflanz’ Brief modernen Vorstellungen von einem Liebesbrief nicht entspricht. Man hat verschiedentlich auf Eigenschaften des Briefs aufmerksam gemacht – die formelhaften Ausdrücke, die inhaltlosen Klischees, die künstlichen Wortspiele, die häufigen Wiederholungen, das allgemein gehaltene Liebesbekenntnis, die Ideenarmut –, die nach heutigem Ermessen eher dazu geeignet sind, den Brief als Zeugnis der echten Liebe zu disqualifizieren als ihn in dieser Funktion zu bestätigen. Wir wissen aber, dass die Briefkultur des Mittelalters andere Normen setzte als die heute geltenden. Ein Blick in die Regelwerke der ars dictaminis, der Briefschreiblehre, zeigt, dass der Brief des Gramoflanz in formaler und stilistischer Hinsicht gängige Normen weitgehend erfüllt. Das hat Eckart Conrad Lutz besonders in Bezug auf den Aufbau des Briefs dargelegt, indem er eine Analyse mithilfe des im Mittelalter bekanntesten Briefschemas und seiner fünf Teile – ›salutatio‹, ›captatio benevolentiae‹, ›narratio‹, ›petitio‹ und ›conclusio‹ – durchführt.2 Lutz referiert zudem die Gliederungen von Gramoflanz’ Brief, die andere vorgelegt haben, und resümiert: »Auch wenn die Gliederungsversuche in Einzelheiten voneinander abweichen, ergibt in jedem Fall ein Vergleich mit dem von der ars dictandi beschriebenen regelmäßigen Briefschema weitgehende Übereinstimmung.«3 Ähnliches gilt auch für die rhetorische Ausschmückung des Briefs. In seinem Kommentar zum Parzival bemerkt Eberhard Nellmann ganz schlicht: »Zum Briefstil gehört die rhetorische Form […]. Bezeichnend hier: die Wortwiederholungen, Meta-

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Lutz, Eckart Conrad, Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters, Berlin, New York 1984 (QF, NF 82), S. 33–46 mit reicher Literatur zum fünfteiligen Briefschema. Ebd., S. 45.

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phern und Vergleiche.«4 Andere rhetorische Figuren – Adnominationes und Polyptota – werden von Lutz registriert.5 Wenn diese knappen Beobachtungen dazu dienen, etwas von dem, was uns an diesem Brief befremdet, zu neutralisieren, reichen sie doch nicht dazu aus, die Wirkung, die Gramoflanz’ Brief auf Artus hat, zu erklären. Denn sie beziehen sich ganz allgemein auf den mittelalterlichen Brief und nicht auf diesen Brief in seiner spezifischen Eigenschaft als Liebesbotschaft. Mit diesem Aspekt von Gramoflanz’ Brief hat sich bislang, soweit ich sehe, Helmut Brackert in einem Aufsatz vom Jahre 1974 über Minnebriefe im späthöfischen Roman am intensivsten beschäftigt.6 In der Sekundärliteratur zum Parzival wird in Bezug auf Gramoflanz’ Brief immer wieder – ohne jegliche kritische Reflexion – auf diesen Aufsatz verwiesen. Im Titel seines Aufsatzes zitiert Brackert Parzival 714,30 dâ stuont daz minne wol gezam, und das nicht von ungefähr. Denn nach Brackert hat »der Minnebrief, wie er in der deutschen Epik vom Anfang des 13. bis weit ins 15. Jahrhundert hinein […] auftritt, […] seine literarische Tradition«. Und diese Tradition nimmt ihren Anfang in Wolframs Parzival: »Dem noch lange maßgeblichen […] Briefmuster begegnen wir zuerst bei Wolfram von Eschenbach im ›Parzival‹ «, und zwar »am ausgeprägtesten beim Brief des Gramoflanz an Itonje«.7 Neben einer Analyse der Disposition dieses Briefs kommentiert Brackert vor allem seinen Inhalt: »[Dieser Brief] setzt sich […] aus den allgemeinsten Minneformeln zusammen, wie sie uns aus der lyrischen Sprache des Minnesangs vertraut sind. […] Der formelhafte lyrische Duktus entspricht dem Inhalt des Briefes, dem ganz und gar allgemein gehaltenen Minnebekenntnis, das auf die persönliche Lage der Liebenden mit keinem Wort eingeht. Dabei schiene nichts natürlicher und, von der Handlung her, sogar auch notwendiger als dieses.«8

Brackert schildert die prekäre Lage der Liebenden, fährt dann fort: »Diese scheinbar ausweglose Situation ignoriert der Minnebrief völlig; er vermeidet jegliche Einfügung in den logischen Zusammenhang der epischen Handlung. Das Ergebnis ist ein Briefformular, wie es an jeder anderen Stelle des Romans unter beliebig anderen Umständen erscheinen könnte.«9

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Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8/1–2), Bd. 2, S. 753. Lutz, Rhetorica divina [Anm. 2], S. 43. Brackert, Helmut, ›Da stuont daz minne wol gezam.‹ Minnebriefe im späthöfischen Roman, in: Moser, Hugo / Brackert, Helmut (Hrsg.), Spätmittelalterliche Epik. ZfdPh, 93/1974, Sonderheft, S. 1–18. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5. Ebd.

Normerfüllung oder Normverletzung?

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Um das Urteil, das Artus über den Brief des Gramoflanz fällt, zu verstehen, muss man sich nach Brackert über den zu erwartenden Inhalt des deutschen Minnebriefs im Klaren sein: »[… B]eschworen werden sittliche Kräfte, die die minne entbindet und entbinden soll; bestätigt werden vorgegebene Formen höfischen Minnedienstes, in denen sich ein Minneverhältnis bewegen muß, um beispielhaft und damit überhaupt erst darstellenswert zu sein. So muß auch im Brief stehen, was für alle, nicht nur für diese beiden Liebenden gilt. Was aber allgemein gilt, findet seinen sprachlichen Ausdruck nicht in der individuellen Prägung, sondern in der Formel und deren Variation. Nur wer solches bedenkt, wird Briefen wie dem des Gramoflanz, die der moderne Betrachter als inhaltlos und floskelhaft empfinden mag, ästhetische Gerechtigkeit widerfahren lassen und das Urteil verstehen, das ein ›mittelalterlicher Kenner‹ über gerade diesen Brief abgibt.«10

Mit »mittelalterliche[m] Kenner« meint Brackert den König Artus, den er in diesem Zusammenhang auch als »Mitte und Maß aller höfischen Formkultur« und »de[n] sachverständige[n] Urteiler« beschreibt.11 Nach Brackert basiert also Artus’ positives Urteil über den Brief des Gramoflanz auf einer normativen Vorstellung vom Liebesbrief, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er sich der formelhaften Sprache des Minnesangs bedient und – wie der Minnesang – sich auf einer Ebene der Allgemeinheit und des Exemplarischen bewegt, die keinen Bezug zu einem spezifischen situativen Kontext hat. Insofern als Gramoflanz’ Brief diese Merkmale aufzeigt, diese Norm erfüllt, bezeugt er die Aufrichtigkeit der Liebe seines Verfassers. Wie nützlich Brackerts Vorstellung vom Liebesbrief für die Untersuchung der Minnebriefe im späthöfischen Roman – den eigentlichen Gegenstand seines Aufsatzes – auch sein mag, scheint sie mir als Ansatz zur Beurteilung des Gramoflanz-Briefs im Besonderen und seiner Rolle im Parzival nicht völlig adäquat, und das vor allem aus zwei Gründen, die letztendlich eng zusammenhängen, obwohl ich sie der Klarheit halber gesondert vorstellen werde. Erstens: Brackerts Auffassung des Briefs ist restriktiv in dem Sinne, dass sie ihn nur als verbales Gebilde betrachtet und keine Rücksicht auf den Vorgang nimmt, zu dem er gehört und von dem man keineswegs behaupten kann, dass er die persönliche Lage der Liebenden – Itonjes und Gramoflanz’ – ignoriere. Durch seinen Brief will Gramoflanz die Situation, in der sich er und seine Geliebte momentan befinden, ganz konkret beeinflussen. Seitdem Gawan Herr des Schastel marveil geworden ist, haben sich die Umstände der Fernliebe, die Gramoflanz und Itonje verbindet, grundlegend geändert. Als Clinschor noch im Schastel marveil herrschte, hatten die Liebenden durch Bene, die alleine in das Geheimnis ihrer Liebe eingeweiht war, anscheinend regelmäßigen Kontakt miteinander. Jetzt befindet sich Itonje nicht mehr auf gleichsam neutralem Boden, sondern im – vom Standpunkt des Gramoflanz aus gesehen – ausgesprochen feindlichen Lager des Königs Artus und im Einflussbereich der 10 11

Ebd., S. 7. Ebd.

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Orgeluse, die sich immer noch an ihm rächen will. Eine weitere Komplikation kommt dann hinzu, als Bene erfährt, wer Gramoflanz’ Gegner im Zweikampf sein soll. Mit Bestürzung erkennt sie sofort, in welch unmögliche Situation Gramoflanz Itonje bringen wird, wenn er auf seinem Kampf gegen Gawan besteht; sie wirft ihm Treulosigkeit vor und beschimpft ihn vehement (693,21–30). Gramoflanz nimmt sie beiseite, bittet sie, nicht zornig auf ihn zu sein, und fordert sie auf, Itonje zu versichern, er sei ihr dienstman und wolle ihr dienen, soweit es in seinen Kräften stehe (694,1–8); das bringt ihm aber nur weitere Schimpfworte von Bene ein (694,17f.). Anstatt, wie bislang, eine ihm getreue und wohlgesinnte Gehilfin zu sein, ist Bene also nunmehr für Gramoflanz zum Unsicherheitsfaktor geworden, mit dessen womöglich negativem Einfluss auf Itonje noch zusätzlich zu rechnen ist. Bevor Bene ins Lager des Artus und in die Nähe Itonjes zurückkehrt, wird sie auch von Gawan angesprochen, der sie eindringlich mahnt, Itonje nichts über die Feindseligkeit zwischen ihm und Gramoflanz und ihren bevorstehenden Kampf zu sagen; außerdem solle sie ihren eigenen Kummer nicht durch ihr Weinen verraten (696,21–30). In der Tat sagt Bene daraufhin nichts über den Kampf, aber als sie bei Tisch sitzen, liest Itonje an ihren Augen – diu weinden tougen (697,30) – ab, dass Bene innerlich schwer leidet. Das versetzt Itonje ihrerseits in einen Zustand der höchsten Beunruhigung und Ungewissheit (698,1–14): Warum ist Bene wieder da und nicht mehr bei Gramoflanz, zu dem Itonje sie sandte? Wofür wird sie (Itonje) gestraft? Hat Gramoflanz ihr die Liebe und den Dienst aufgekündigt? Von Itonjes an Verzweiflung grenzender Verstörtheit weiß Gramoflanz selbstverständlich nichts, aber er ist offensichtlich über ihre emotionale Befindlichkeit besorgt und will feststellen, ob die veränderte Situation, in der sie sich befinden, ihre Gefühle ihm gegenüber verändert hat. Zu diesem Zweck erteilt er den zwei Knappen, die Artus eine Botschaft von ihm bringen sollen, einen zusätzlichen Auftrag. Zunächst werden die Knappen auf Empfehlung von Gramoflanz’ Ratgebern dazu bestellt, Artus zu sagen, er solle dafür sorgen, dass – nachdem sich Parzival in die Sache eingemischt hat – nicht wieder ein anderer als Gawan zum Kampf mit Gramoflanz komme. Als dieser öffentliche Auftrag erteilt worden ist, spricht Gramoflanz unter vier Augen mit den Knappen und gibt ihnen einen ganz privaten Auftrag: […] ›nu sult ir spehn, wem ir dâ prîses wellet jehn under al den clâren frouwen. ir sult ouch sunder schouwen, bî welher Bêne sitze. nemt daz in iwer witze, in welhen bærden diu sî. won ir freude od trûren bî, Daz sult ir prüeven tougen. ir seht wol an ir ougen, op si nâch friunde kumber hât.‹ (709,23–710,3)

Wenn die Knappen als die Augen des Gramoflanz im feindlichen Lager dienen sollen, so dient der Brief, den er ihnen mitgibt, dort als seine Stimme und als sein Körper.

Normerfüllung oder Normverletzung?

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Dass Gramoflanz gerade in dieser Situation zum ersten Mal, soviel wir wissen, einen Brief an Itonje schreibt, lässt sich zwar dadurch erklären, dass Bene, die jetzt im Lager des Artus ist, ihm als Botin nicht zur Verfügung steht. Aber selbst wenn es ihm nicht freisteht, ob er Itonje, wie üblich, durch die Person Benes eine mündliche Botschaft schickt oder schriftlich mit ihr kommuniziert, so profitiert er gleichwohl von der »Fähigkeit des geschriebenen Wortes, über räumliche und zeitliche Intervalle hinweg zwischen Abwesenden eine simulierte Präsenz zu schaffen«.12 Aus dieser Fähigkeit leitet sich für Christine Wand-Wittkowski die »Gesprächsersatzfunktion« des Briefs ab.13 In der Simulation eines direkten Gesprächs sieht Wand-Wittkowski ein wichtiges Element der mittelalterlichen Auffassung vom Wesen des Briefs. Wie Krautter beruft sie sich auf Adalbertus Samaritanus: »Anders als im Botenbericht spricht im Brief der Absender selbst. Adalbertus Samaritanus, der Begründer der neuen Bologneser dictamen-Schule [Praecepta dictaminum um 1111/15], hält deshalb den Brief gegenüber der mündlichen Botschaft für überlegen. Der Brief fingiere eine unmittelbare Kommunikation von Angesicht zu Angesicht (›acsi ore ad os‹), als ob der Briefschreiber anwesend sei.«14

Die Relevanz dieser Auffassung des Briefs für das Verständnis unserer Szene im Parzival geht deutlich daraus hervor, dass Itonje den Brief wiederholt küsst und an ihre Brust drückt, dass sie ihn also empfängt, als ob es Gramoflanz persönlich wäre: dô wart der brief vil gekust: / Itonjê druct in an ir brust (714,17f.). Als Artus dann den Brief in die Hand nimmt, findet er darin geschrieben, waz ûz sîn selbes munde / Gramoflanz der stæte sprach (714,24f.); diese Verse sind nicht unbedingt in dem Sinne zu verstehen, dass Gramoflanz den Brief diktierte,15 denn wie Gahmuret durch seinen Brief an 12

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Krautter, Konrad, Acsi ore ad os … Eine mittelalterliche Theorie des Briefes und ihr antiker Hintergrund, in: Antike und Abendland, 28/1982, Heft 2, S. 155–168, hier S. 159. Das Zitat im Titel dieses Aufsatzes ist der ars dictaminis des Adalbertus Samaritanus, Praecepta dictaminum, entnommen. Adalbertus’ Definition des Briefs enthält folgende Aussage: […] in epistolis namque ita legator loquitur acsi ore ad os et presens […] (zit. ebd., S. 158), die Krautter so wiedergibt: »In Briefen spricht der Absender so, als ob der Empfänger von Angesicht zu Angesicht und gegenwärtig wäre« (ebd., S. 159). Wand-Wittkowski, Christine, Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur, Herne 2000; der Ausdruck »Gesprächsersatzfunktion« findet sich zuerst auf S. 22, dann passim. Ebd., S. 43. Vgl. Wenzel, Horst, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 258–260; Wenzel, Franziska, Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolfs von Ems ›Wilhelm von Orlens‹, Frankfurt/M. 2000 (Mikrokosmos 57), S. 126–128. Zum Brief als »Metonymie des Briefschreibers«, siehe McFarland, Timothy, Beacurs und Gramoflanz (722,1–724,30). Zur Wahrnehmung der Liebe und der Geliebten in Wolframs ›Parzival‹, in: Greenfield, John (Hrsg.), Wahrnehmung im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002, Porto 2004, S. 169–191, hier S. 178f. Siehe den Kommentar zur Stelle in Martin, Ernst (Hrsg.), Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ und ›Titurel‹, Halle/S. 1903, Zweiter Teil: Kommentar (Germanistische Handbibliothek IX, 2), S. 477.

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Belakane und Gawan durch seinen Brief an Artus zeigen, ist es in der Welt des Parzival durchaus möglich, dass ein adliger Laie private Briefe eigenhändig schreibt. Durch den Brief, den er Itonje schickt, schmuggelt sich also Gramoflanz ins feindliche Lager und in die private Szene im Zelt hinein – er ist plötzlich dort gegenwärtig und spricht mit seiner eigenen Stimme; durch den Brief überbrückt er die Trennung, die den Liebenden aufgezwungen wird – es kommt zu »einem Moment persönlicher Nähe«.16 All das darf man, glaube ich, auch in Erwägung ziehen, wenn man Artus’ Urteil über den Brief zu verstehen sucht. Ich wende mich jetzt dem zweiten Grund zu, aus dem ich den Ansatz Brackerts inadäquat finde. Hier richte ich das Augenmerk auf den Wortlaut des Briefs. Brackerts Behauptung, Gramoflanz’ Brief setze sich aus Minneformeln zusammen, wie wir sie in der Minnelyrik finden,17 ermangelt näherer Nachweise, und wir dürfen wohl die Frage stellen, an welche Gattung bzw. Gattungen der deutschen Minnelyrik er dabei dachte.18 In der Tat hat der Brief – wie in Anbetracht des Themas nicht anders zu erwarten ist – zentrale Begriffe (minne, triuwe, trôst, dienst usw.) und einzelne Motive (siehe unten) mit der Minnelyrik gemein, aber das reicht kaum aus, ihm eine grundsätzliche Abhängigkeit vom Minnesang zuzuschreiben. Selbst wenn man Brackert vorbehaltlos Recht gäbe, bedeutete das selbstverständlich noch lange nicht, dass die dem Minnesang entlehnten Formeln in ihrem neuen Kontext denselben Stellenwert hätten wie in den Minneliedern – im Besonderen bedeutete das nicht, dass die aus der Minnelyrik transponierten Elemente nur zur Darstellung der Liebe als eines überindividuellen und exemplarischen Phänomens dienten, wie wir das normalerweise vom Minnesang erwarten.19 Beim Brief des Gramoflanz handelt es sich eben nicht um ein Minnelied, dem der situative Kontext fehlt, sondern um eine Briefeinlage im Roman, die in einem epischen Zusammenhang steht und über deren Verfasser und Adressatin und die sie verbindende Geschichte und Situation wir einiges wissen. Es bietet sich daher an, den Brief nicht als Versatzstück zu betrachten, das unter beliebig anderen Umständen eingesetzt werden könnte, sondern als einen Text, der einen bestimmten Platz in einer einmaligen Handlung hat. Wir dürfen versuchen, ihn im Lichte seines epischen Zusammenhangs zu interpretieren, sollten uns vielleicht sogar dazu aufgefordert fühlen. 16 17 18

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Wand-Wittkowski, Briefe [Anm. 13], S. 47, mit Bezug auf den Brief Gahmurets an Belakane. Die einzige Ausnahme, die Brackert zulässt, ist das Gleichnis von den Polarsternen (715,16–18); siehe Brackert, ›Da stuont‹ [Anm. 6], S. 5. Mayser, Eugen, Briefe im mittelhochdeutschen Epos, in: ZfdPh, 59/1934–35, S. 136–147, fühlte sich in mancher Hinsicht an Walther von der Vogelweide erinnert: »Nicht nur in dem herzlichen frouwelîn klingt hier Walthers Naturton an« (S. 138). Ich verweise nur en passant auf Haferland, Harald, Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone, Berlin 2000 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 10), der die Erwartungen, einschließlich der hier angesprochenen, mit denen die Minnesangforschung in den letzten Jahrzehnten zu Werke gegangen ist, infrage stellt. Haferlands Besinnung auf passende Ansätze zur Interpretation der Minnekanzone ist durchaus wertvoll, aber nicht von wesentlicher Bedeutung in diesem Zusammenhang.

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Ich habe den Brief schon weitgehend kontextualisiert, muss aber noch einiges zu Gramoflanz’ Erfahrung in der Liebe nachtragen, bevor ich den Brief näher anschaue. Das Gespräch, das Gramoflanz bei seinem ersten Auftritt im Roman in der Episode des Kranzraubs mit Gawan führt, ist hier besonders aufschlussreich. Gramoflanz kontrastiert seinen gescheiterten Versuch, die Liebe Orgeluses zu gewinnen, mit seiner neuen Liebe zu Itonje. Wie er ganz offen gesteht, ging Gramoflanz gegenüber Orgeluse mit unrechtmäßiger Gewalt vor, indem er Cidegast tötete, Orgeluse entführte und sie ein Jahr lang gefangen hielt: ›si kan noch zornes walden gein mir. ouch twinget si des nôt: Cidegasten sluog ich tôt, […] Orgelûsen fuort ich dan, […] mit vlêhen hêt ich se ein jâr.‹ (606,4–12)

Während dieses Jahres bot er ihr seine Krone, seine Länder und seinen Dienst an, aber seine Bemühungen stießen nur auf verbissene Feindseligkeit: ›ich bôt ir krône und al mîn lant: / swaz ir diens bôt mîn hant, / dâ kêrt si gegen ir herzen vâr‹ (606,9–11). Orgeluse wies ihn vehement ab, und der Schmerz über diese ihm erteilte Abfuhr scheint noch durch: ine kunde ir minne nie bejagen. / ich muoz iu herzenlîche klagen (606,13f.). In diesem ersten Versuch Gramoflanz’, die Liebe einer Frau zu gewinnen, dürfen wir zwei Aspekte unterscheiden: erstens die Gewaltanwendung – den Totschlag, die Entführung, die Gefangenschaft – und zweitens das einjährige vlêhen, das auf unfruchtbaren Boden fiel. Wenn wir uns an das Beispiel des Grafen Oringles in Hartmanns Erec erinnern, der die vermeintliche Witwe Enite gegen ihren Willen heiratete und sie brutal misshandelte, als sie ihm ihre Gesellschaft bei Tisch verweigerte, wird deutlich, dass Gramoflanz in diesem Jahr des vergeblichen Werbens wenigstens eine gewisse Selbstbeherrschung zeigte. In dieser Phase seiner Werbung um Orgeluse ähnelte er weniger einem Frauenräuber und Frauenschänder wie Meljacanz im Parzival oder einer jener außerhöfischen Figuren wie z.B. Riesen, die Frauen ruchlos wegschleppen, als einem, dessen Minnedienst von seiner Dame entschlossen abgewiesen wird. So lässt sich wohl der Schmerz erklären, den er noch immer wegen Orgeluses Weigerung, ihn zu erhören, empfindet. Im Gegensatz zum Minnesänger hat er aber kein Lied daraus gemacht! Die Erinnerung an das Debakel bei Orgeluse ist also noch frisch, aber jetzt hat Gramoflanz eine neue Liebe: mîn herz nâch ander minne gêt (606,21), erklärt er vor Gawan. Die Fernliebe, der er sich jetzt hingibt, ist der Gegenpol der aggressiven ersten Schritte in seiner Werbung um Orgeluse.20 Wenn jetzt überhaupt von Gewalt die

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Vgl. McFarland, Beacurs und Gramoflanz [Anm. 14], S. 182f., der den Kontrast allerdings in einem anderen Sinne weiterführt.

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Rede sein kann, dann nur im emotionalen Sinne: Gramoflanz leidet kumber und nôt wegen Itonje (606,28; 607,6), sie ›zwingt‹ ihn mehr als alle anderen Frauen: alle die ûf erden sint, / Die getwungen mich sô sêre nie (606,30–607,1). Obwohl er an seiner neuen Liebe leidet, vertraut er auf Itonjes Zuneigung – ouch trûwe ich wol, si sî mir holt (607,5) – und hat handfeste Beweise dafür in den Liebespfändern, die sie ihm geschickt hat; er bittet Gawan, sie im Gegenzug seines Dienstes zu versichern: ›ich hân ir kleinœte alhie: / nu gelobet ouch mîn dienst dar / gein der meide wol gevar‹ (607,2– 4). Außerdem ist die Wirkung, die die Liebe Itonjes auf ihn hat, durchaus heilsam, denn der Ruhm, den er seit der Abweisung durch Orgeluse erworben hat, ist seiner Meinung nach einzig dem Einfluss Itonjes zuzuschreiben: ›sît Orgelûs diu rîche mit worten herzenlîche ir minne mir versagete, ob ich sît prîs bejagete, mir wurde wol ode wê, daz schuof diu werde Itonjê.‹ (607,7–12)

Gramoflanz zeigt also ein lebhaftes Bewusstsein für die Unterschiede in seinen Liebeserfahrungen: Die neue Liebe wird vor dem Hintergrund der alten Liebe und als Gegensatz zu ihr empfunden, und die Essenz dieses Gegensatzes ist darin zu sehen, dass die Liebe zu der jetzt umworbenen Frau erwidert wird. Abgesehen von den Liebesgeschenken, die Itonje ihm schickte, haben wir keinen unmittelbaren Einblick in den Beitrag, den sie zu diesem Verhältnis vor der Kranzraubepisode machte; der Inhalt der Botschaften, die sie ihm durch Bene übermittelte, ist uns unbekannt; wir wissen also nicht, worauf sich genau die Zuversicht des Gramoflanz gründet. In der Zeit zwischen dieser Episode und dem Schreiben seines Briefs an Itonje überbringt ihm aber Bene nochmals eine Botschaft von ihr, deren Inhalt wiedergegeben wird. Zuerst teilt ihm Bene die wichtige Nachricht mit, dass Itonje Schastel marveil verlassen hat (686,18–20), dass sie also vor Joflanze ist, aber im feindlichen Lager. Die Botschaft von Itonje lautet dann in indirekter Rede: si [Bene] mant in triwe unt êre von ir frouwen mêre denne ie kint manne enbôt, und daz er dæhte an ir nôt, sît si für alle gewinne dienst büte nâch sîner minne. (686,21–26)

Auf diese für uns wie für ihn unmissverständliche Beteuerung ihrer Treue und ihres Dienstes reagiert Gramoflanz erwartungsgemäß: daz machte den künec hôchgemuot (686,27). Diese Stimmung ist aber von kurzer Dauer: Bald stellt sich Besorgnis um Itonjes emotionalen Zustand ein, und es kommt zum Schreiben seines Briefs:

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›Ich grüeze die ich grüezen sol, dâ ich mit dienste grüezen hol. frouwelîn, ich meine dich, sît du mit trôste trœstes mich. unser minne gebent geselleschaft: daz ist wurzel mîner freuden kraft. dîn trôst für ander trôste wigt, sît dîn herze gein mir triwen pfligt. du bist slôz ob mîner triwe unde ein flust mîns herzen riwe. dîn minne gît mir helfe rât, daz deheiner slahte untât an mir nimmer wirt gesehn. ich mac wol dîner güete jehn stæte âne wenken sus, als pôlus artanticus gein dem tremuntâne stêt, der neweder von der stete gêt: unser minne sol in triwen stên unt niht von ein ander gên. nu gedenke ane mir, werdiu magt, waz ich dir kumbers hân geklagt: wis dîner helfe an mir niht laz. ob dich ie man durch mînen haz von mir welle scheiden, so gedenke daz uns beiden diu minn mac wol gelônen. du solt froun êren schônen, und lâz mich sîn dîn dienstman: ich wil dir dienen swaz ich kan.‹ (715,1–30)

Der Brief beginnt mit einem Gruß: »Ich grüße diejenige, die ich zu grüßen Grund habe – diejenige, bei der ich durch meinen Dienst Grüße hole (erwerbe).« Der Gruß – die ›salutatio‹ – gehört zur Textsorte ›Brief‹, bildet also einen konventionellen Anfang, aber er wird so formuliert, dass sich ein Hauptthema des Briefs schon an dieser Stelle andeutet, nämlich die Gegenseitigkeit, die diese Liebesbeziehung kennzeichnet: Er grüßt sie, weil sie ihn in Anerkennung seines Dienstes grüßt. Und sein Dienst korrespondiert wiederum mit der kürzlich von Bene überbrachten Versicherung der Itonje, dass si für alle gewinne / dienst büte nâch sîner minne (686,25f.). Mit der Anrede frouwelîn (715,3) wird zum ersten größeren Abschnitt des Briefs übergeleitet, der laut Lutz »rhetorisch gesehen captatio benevolentiae und narratio in einem ist«.21 Der leitende Gedanke dieses Abschnitts findet sich in Vers 715,5: unser minne gebent geselleschaft, d.h., ihre Liebe und seine Liebe leisten sich Gesellschaft, sie sind also gleich. Diese Aussage wird unterstützt durch die Kausalkonstruktionen in 21

Lutz, Rhetorica divina [Anm. 2], S. 44.

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den Versen 715,3f.: er liebt sie, weil sie ihm Trost spendet, und 715,7f.: der Trost, den sie ihm spendet, übertrifft allen anderen Trost, weil ihr Herz treu ist gegen ihn.22 Ihre triwe wird durch seine triwe erwidert, ja Itonje hält seine triwe unter strengem Verschluss, so dass sie nicht entkommen, sich nicht vermindern kann (715,9). Seine ganze freude (715,6), anders formuliert: der Verlust seines Herzeleids (715,10), liegt an der sie verbindenden minne und triwe. Wenn hier mit gängigen Ausdrücken des Minnesangs operiert wird, so fällt doch die Betonung der Gegenseitigkeit der Liebe und der konstruktiven Interaktion zwischen den Liebenden auf, und sie gewinnt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung, wenn man bedenkt, wie sehr sich die in diesen Versen beschriebene Liebesbeziehung von Gramoflanz’ vergeblicher Werbung um Orgeluse unterscheidet. Damals begegnete er nur Feindseligkeit, jetzt begegnet er minne, trôst, triwe; dort erntete er nur Grund zum klagen, hier erntet er freuden kraft. Diese vergangenheitsbezogene Perspektive verleiht auch den folgenden Versen eine zusätzliche Dimension: ›dîn minne gît mir helfe rât, / daz deheiner slahte untât / an mir nimmer wirt gesehn‹ (715,11–13). Das Motiv der sittlichen Läuterung, die durch die Minne erzeugt wird, mag zwar konventionell sein,23 es gewinnt aber an Relevanz für die gegenwärtige Situation, wenn man sich an die Untaten erinnert, die Gramoflanz – wie er selbst in seinem Gespräch mit Gawan zugab – an Orgeluse verübte. Dagegen hilft ihm jetzt Itonjes Liebe, jede Art von Missetat zu vermeiden. Damit präsentiert sich ein unter dem Einfluss Itonjes positiv veränderter Gramoflanz, gefeit gegen weitere Untaten durch seine neue Liebe. Man könnte sogar darüber spekulieren, ob er Itonje mit dieser Aussage ein Versprechen geben will, im Kampf gegen Gawan einen tödlichen Ausgang zu vermeiden. Dieser Teil des Briefs gipfelt in den Versen 715,14–20 mit dem ganz originellen Bild von den Polarsternen, die ebenso wenig von ihren festgesetzten, einander gegenüberliegenden Stellen im Weltall weichen können, wie Itonje und Gramoflanz ihrer Liebe zueinander untreu werden können. Das Treffende dieses Bilds, seine Bezogenheit auf die spezifische Situation der Liebenden, hat Wilhelm Deinert deutlich herausgestellt: »Gramoflanz und Itonje haben sich in ihrer Entfernung wie die Polsterne niemals gesehen und sind dennoch an ihrer Stelle aufeinander ausgerichtet; wie die Sterne aus triuwe ihre Plätze einhalten, so soll auch ihre minne in triuwen stên / unt niht von ein ander gên.«24 Mit diesem Bekenntnis zur Beständigkeit ihrer Liebe – stæte âne wenken (715,15) – geht der Brief ohne besondere Markierung in seinen zweiten größeren Abschnitt, die ›petitio‹, über. Von Vers 715,19 an dominieren Imperativ- und Modalkonstrukti22 23 24

Vgl. ebd. Siehe Nellmann in: Parzival [Anm. 4], Bd. 2, S. 753, zu den Versen 715,12f.: »Typische Minnesangfloskel. Vgl. Dietmar von Aist (MF 9,3) und Walther 93,17f.« Deinert, Wilhelm, Ritter und Kosmos im ›Parzival‹. Eine Untersuchung der Sternkunde Wolframs von Eschenbach, München 1960 (MTU 2), S. 130.

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onen, die das Augenmerk entschieden auf die gegenwärtige Situation der Liebenden lenken – und vor allem auf das, was Itonje tun muss, um das Fortbestehen ihrer Liebe zu sichern. Zuerst richtet Gramoflanz die Bitte an sie, ihm ihre Hilfe in seinem Liebeskummer nicht zu versagen (715,21–23). Dann hält er Itonje dazu an, auf niemanden zu hören, der sie – aus Feindseligkeit gegen ihn – von ihm zu trennen versuche; sie solle sich vielmehr mit dem Gedanken, wie viel Lohn die Liebe ihnen zu geben vermöge, dagegen wappnen: ›ob dich ie man durch mînen haz von mir welle scheiden, so gedenke daz uns beiden diu minn mac wol gelônen.‹ (715,24–27)

In dieser Aufforderung darf man wohl das Motiv der merkære und lügenære, die im Minnelied als Feinde der Liebenden eine Rolle spielen, erkennen. Der Bezug zur gegenwärtigen Lage dieser beiden Liebenden liegt aber klar auf der Hand, denn solange Itonje im Lager des Artus ist, wo Orgeluse und andere Feinde des Gramoflanz (unter ihnen jetzt vielleicht auch Bene) Zugang zu ihr haben, steht zu befürchten, dass sie unter Druck gesetzt wird, sich von ihm loszusagen. Von einem Ignorieren der Situation, in der sich die Liebenden befinden, kann hier seitens des Briefschreibers sicherlich nicht die Rede sein. Die ›conclusio‹, die die letzten drei Verse des Briefs einnimmt, unterscheidet sich, wie auch sonst oft, kaum von der ›petitio‹, denn Gramoflanz fordert Itonje zunächst auf, der Ehre aller edlen Frauen eingedenk zu sein und ihn ihr dienstman sein zu lassen. Er schließt den Brief dann mit einer emphatischen Beteuerung, die den Dienstgedanken des ersten Satzes wieder aufnimmt.25 So – oder etwa so – kann der Brief des Gramoflanz gelesen werden, wenn man ihn im Lichte des epischen Zusammenhangs, in dem er steht, zu interpretieren versucht.26 Deutliche Bezüge zu Gramoflanz’ Vergangenheit und zur gegenwärtigen Lage der Liebenden lassen sich an mehreren Stellen erkennen; als Ganzes ist der Brief mehr als eine allgemein gehaltene Liebesbotschaft, die von jedem beliebigen Liebenden unter beliebig anderen Umständen hätte geschrieben werden können. Wie steht es denn mit Artus’ Urteil über diesen Brief? Einiges von dem, was ich mir aus dem Brief gewissermaßen als Subtext herauszuhören erlaubte, kann Artus dem Brief nicht entnehmen, denn im Gegensatz zu uns war er nicht Zeuge des Gesprächs zwischen Gramoflanz und Gawan. Ihm ist aber bekannt, dass sich Gramoflanz schwerer Verbrechen gegen Orgeluse schuldig machte, dass sich

25 26

Vgl. Lutz, Rhetorica divina [Anm. 2], S. 45. Die hier dargelegte Lesart erhebt keinen Anspruch darauf, die Deutungsmöglichkeiten, die im Brief gegeben sind, ganz auszuschöpfen. Wie die Diskussion im Anschluss an den Vortrag zeigte, bieten sich mehrere Möglichkeiten an, den Brief sowohl intra- als auch intertextuell weiter auszuwerten.

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Gramoflanz und Itonje nie gesehen haben, dass sein – Artus’ – Lager ihm als feindliches Gebiet gelten muss. Es ist also möglich, dass Artus für Gramoflanz’ implizite Behauptung, er habe sich verändert und sei jetzt gegen Untaten gefeit, Verständnis hat; möglich ist auch, dass er das Treffende des Bildes von den Polarsternen zu schätzen weiß; möglich ist schließlich, dass er Gramoflanz’ Versuch, Itonje vor dem Zureden seiner Feinde zu warnen und sie in ihrer Liebe zu bestärken, als ein Zeichen des Mitgefühls für den Zustand seiner Geliebten auffasst, das einem echten Liebenden wohl geziemt. Zieht man noch den Eindruck der persönlichen Präsenz des Gramoflanz, der durch den Brief vermittelt wird, in Betracht, dann ist es denkbar, dass Artus nicht von der idealtypischen Allgemeinheit, sondern von der einmaligen Spezifität dieses Briefs und der Handlung, zu der er gehört, beeindruckt ist und sich d e s w e g e n von der Aufrichtigkeit der Liebe des Gramoflanz überzeugen lässt. Wenn wir die Brackertsche Norm des Liebesbriefs weiterhin gelten lassen wollen, so heißt das, dass das positive Urteil, das Artus über den Brief fällt, eher auf der Verletzung als auf der Erfüllung der Norm basiert. Aber vielleicht ist es an der Zeit, bei der Bewertung des Gramoflanz-Briefs die Brackertsche Norm aufzugeben. Es mag sein, dass spätere Romandichter in diesem Brief ein Vorbild sahen, nach dem sie, ihren eigenen Interessen folgend, den für den späthöfischen Roman typischen Liebesbrief entwickelten. Als Basis für die Interpretation des Gramoflanz-Briefs ist diese Norm aber mehr als fraglich, und es wäre besser, sich bei der Interpretation dieses Briefs damit zu begnügen, ohne Normvorstellungen auskommen zu müssen, als ihn an einer falschen Norm zu messen. Ganz ohne Orientierungshilfe lässt uns Wolframs Text jedoch nicht, denn Artus ist nicht der einzige »mittelalterliche Kenner« und »sachverständige Urteiler«, der sich eine Meinung über die Liebe des Gramoflanz zu Itonje bildet und sein Handeln durch diese Meinung bestimmen lässt. Auf der Basis des Gesprächs, das er in der Kranzraubepisode mit Gramoflanz führte, und in Erfüllung der damals von Gramoflanz an ihn gerichteten Bitte (›nu gelobet ouch mîn dienst dar / gein der meide wol gevar‹; 607, 3f.) überbringt Gawan seiner Schwester die Beteuerung von Gramoflanz’ Liebe zu ihr. Itonje bestreitet zuerst, überhaupt etwas von der Liebe eines Mannes zu wissen, aber als Gawan das Gespräch auf die Person des Gramoflanz lenkt, gibt sie zu, dass sie ihn vom Hörensagen kennt (631,21–632,30). Gawan erfüllt dann sein Versprechen, den Liebesboten für Gramoflanz zu spielen:27 ›ir sult sîn fürbaz künde hân, sît er sich prîse nâhet unt des mit willen gâhet. von sînem munde ich hân vernomn, daz er herzenlîche ist komn mit dienst, ob irs geruochet, 27

Gawans Versprechen lautete: ›ich wil iwer bote sîn: / gebt mir her daz vingerlîn, / und lât mich iwern diens sagen / und iwern kumber niht verdagen‹ (608,1–4).

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sô daz er helfe suochet durch trôst an iwer minne. künec durch küneginne sol billîche enpfâhen nôt. frouwe, hiez iur vater Lôt, sô sît irz die er meinet, nâch der sîn herze weinet: unde heizt ir Itonjê, sô tuot ir im von herzen wê. ob ir triwe kunnet tragn, sô sult ir wenden im sîn klagn.‹ (633,2–18)

Gawans Rolle in dieser Szene mit Itonje ist höchst problematisch – er gibt sich nicht als ihr Bruder zu erkennen, er verschweigt ihr den Kampf zwischen ihm und Gramoflanz und die damit verbundenen Komplikationen –, aber es besteht kein Grund zu der Annahme, dass er nicht aus fester Überzeugung von der Aufrichtigkeit der Liebe des Gramoflanz zu Itonje spricht. Als Itonje gesteht, dass sie Gramoflanz’ Liebe erwidert, und ihren Bruder bittet, ihre gegenseitige Liebe zu fördern (634,1– 635,12), weiß er zwar nicht, was er für sie tun kann, gibt aber seinem Wohlwollen deutlich Ausdruck: dô sprach er ›frowe, nu lêrt mich wie. er hât iuch dort, ir habt in hie, unt sît doch underscheiden: möht ich nu wol iu beiden mit triwen solhen rât gegebn, des iwer werdeclîchez lebn genüzze, ich woldez werben: des enlieze ich niht verderben.‹ (635,13–20)

In diesen Aussagen Gawans über die Liebe von Gramoflanz und Itonje fallen zwei Dinge besonders auf: Erstens, wie sehr gewisse thematische Schwerpunkte von Gramoflanz’ Brief schon hier herausgestellt werden: Gramoflanz strebt eine ruhmwürdige Lebensführung an, er will Itonje dienen, er sucht bei ihr helfe und trôst, er leidet ihretwegen, ihre triwe kann ihm in seiner Not helfen, ihre Liebe ist wechselseitig. Zweitens, wie sehr sich die Einstellung Gawans zu Gramoflanz’ Liebe mit der Einstellung Artus’ deckt: Beide glauben, dass Gramoflanz die Hilfe der Itonje verdient, und fordern sie dazu auf, Kummer von ihm abzuwenden,28 und beide trügen gerne selbst dazu bei, dieser Beziehung eine glückliche Zukunft zu sichern.29 Bestimmte Eigenschaften von Gramoflanz’ Liebe zu Itonje, die sich Gawan während seines Gesprächs mit ihm einprägten, stechen auch im Brief, den Artus liest, hervor, und die Reaktion 28 29

Vgl. Gawans Worte 633,17f.: ›ob ir triwe kunnet tragn, / sô sult ir wenden im sîn klagn‹ mit denen von Artus 716,6f.: ›du solt im sîn ungemach / wenden: alsô sol er dir.‹ Artus und Gawan unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, die Situation der Liebenden positiv zu beeinflussen, aber das steht auf einem anderen Blatt.

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der beiden »sachverständigen Urteiler« ist identisch. Verschieden sind zwar die Medien, durch die sich Gramoflanz ihnen als aufrichtiger Liebender jeweils präsentiert – Gawan h ö r t Gramoflanz’ Worte (608,8), Artus l i e s t sie –, aber die Botschaft, die übermittelt wird, ist dieselbe. Die Überzeugungskraft von Gramoflanz’ Selbstdarstellung ist also nicht mediengebunden, im Besonderen ist sie nicht speziell vom Kommunikationsmittel des Briefs, durch das Artus die Selbstdarstellung rezipiert, abhängig, obwohl der Vorgang, zu dem der Brief gehört, und die Situation, in der er überbracht wird, ohne Zweifel eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Persuasiv ist die Darstellung von Gramoflanz’ Liebe zu Itonje, weil sie mit einer Vorstellung von ehrlicher Liebe, die Artus und Gawan gemeinsam ist, konform geht. In der Minnekonzeption der Artuswelt, wie Wolfram sie in diesem Werk entwirft, einer Welt, die Liebesbeziehungen besondere Achtung entgegenbringt,30 ist wohl die Norm zu finden, an der Gawan die gesprochenen Worte des Gramoflanz und Artus dessen geschriebene Worte messen, um sich ein Urteil über seine Liebe zu Itonje zu bilden. Diese Erkenntnis wirft weitere Fragen auf – vor allem, wie die Fernliebe, diese Sonderform der Minne, die nur in diesem einzigen Fall im Parzival belegt ist, zu den anderen Typen der Minne, die in der Artusgesellschaft und auch sonst in Wolframs Werk für gut erachtet werden, verhält.31 Aber dieser Frage, neben anderen, nachzugehen, würde weit über den Rahmen dieses Aufsatzes und über das Ziel, das ich mir mit der Untersuchung von Gramoflanz’ Brief steckte, hinausführen. Ich komme also zum Schluss auf den Brief zurück. In seinem Kommentar zum Parzival hat Ernst Martin, die These Brackerts in etwa vorwegnehmend, den Brief des Gramoflanz »eins der ersten Muster eines mhd. poetischen Liebesbriefes« genannt und die Briefe des Gahmuret an Belakane und der Ampflise an Gahmuret als von diesem Muster »durch Sonderinhalt abweichende Briefe« bezeichnet.32 Wenn ich mit meinen Ausführungen nicht mehr erreicht habe, als den Brief des Gramoflanz aus der Zwangsjacke der Brackertschen Norm zu befreien und ihn neben die zwei anderen Liebesbriefe im Parzival als einen »durch Sonderinhalt« charakterisierten Brief einzuordnen, der unsere ernsthaften interpretatorischen Bemühungen verdient, dann habe ich die Hauptaufgabe, die ich mir stellte, erfüllt. 30

31

32

Vgl. Schu, Cornelia, Vom erzählten Abenteuer zum ›Abenteuer des Erzählens‹. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs ›Parzival‹, Frankfurt/M. 2002 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 2), S. 371: »Es läßt sich feststellen, daß in der arthurischen Gesellschaft die Minnebindung ein hohes Ansehen genießt; sie ist ein wesentlicher Bestandteil des individuellen wie des gesellschaftlichen Glücks, trägt zur Harmonie bei und ist oftmals gar Mittel der Konfliktlösung.« Zur Fernliebe siehe Wenzel, Horst, Fernliebe und Hohe Minne. Zur räumlichen und zur sozialen Distanz in der Minnethematik, in: Krohn, Rüdiger (Hrsg.), Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, München 1983, S. 187–208, und besonders Schnell, Rüdiger, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern, München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 275–286. Martin, Kommentar [Anm. 15], S. 477.

Nine Miedema (Saarbrücken)

Gesprächsnormen Höfische Kommunikation in didaktischen und erzählenden Texten des Hochmittelalters

I. Gesprächsnormen in der deutschsprachigen didaktischen Literatur Freidanks Bescheidenheit (1. Drittel des 13. Jahrhunderts) vermerkt, wer im Gespräch andere diffamiere, werde seinerseits weit üblerer Nachrede ausgesetzt sein: Swer übele von dem andern reit, / des wirt im zwirnt als vil geseit (V. 124,9f.).1 Auch der Winsbecke 1

Bezzenberger, H[einrich] E[rnst] (Hrsg.), Fridankes ›Bescheidenheit‹, Halle/S. 1872, Neudruck Aalen 1962. Ähnlich Tauber, Walter (Hrsg.), Konrad von Haslau, Der Jüngling. Nach der Heidelberger Hs. Cpg. 341 mit den Lesarten der Leipziger Hs. 946 und der Kalocsaer Hs. (Cod. Bodmer 72), Tübingen 1984 (ATB 97), V. 989–994: er ubet gebeurisch narrenspil, / daz schaden bringet und schanden vil, / die wort mit spotte, daz man lachet, / da mit er vr)nt und mage swachet: / so honet ouch in vil manger wider: / sust liget itweders lop da nider; s. ebenso V. 937f. Vergleichbar auch Tirol und Fridebrant (König Tirol, Mitte des 13. Jahrhunderts): Swer strâfet vriunt vor liuten vil / und sich dâ mit beschœnen wil, / diu strâfe ist vipernâtern gift / und snîdet als daz jappestift [»Fußangel«?]. / ist aber diu scham an in geborn, / sun, haldestû des strâfen vil, / den vriunt hâst iemer mê verlorn; s. Leitzmann, Albert (Hrsg.), ›Winsbeckische Gedichte‹ nebst ›Tirol und Fridebrant‹, 3., neubearb. Aufl. von Ingo Reiffenstein, Tübingen 1962 (ATB 9), Str. 43. – Casagrande, Carla / Vecchio, Silvana, I peccati della lingua. Disciplina ed etica della parola nella cultura medievale, Rom 1987, nennen die folgenden 14 im Mittelalter diskutierten sogenannten ›Zungensünden‹ (s. dazu auch Lindorfer, Bettina, Bestraftes Sprechen. Zur historischen Pragmatik des Mittelalters, München 2009): ›blasphemia‹; ›murmur‹; ›mendacium / periurium / falsum testimonium‹; ›contentio‹; ›maledictum‹; ›contumelia / civicium‹; ›detractio‹; ›adulatio‹; ›iactantia / ironia‹; ›derisio‹; ›turpiloquium / scurrilitas / stultiloquium‹; ›multiloquium‹; ›verbum otiosum / vaniloquium‹; ›taciturnitas‹. Es handelt sich hier um das ›maledictum‹. Fridankes ›Bescheidenheit‹, V. 164,3–165,20, hier V. 164,3f., bringt die Hinweise auf die Zungensünden auf die folgende Formel: Daz wirste lit, daz iemen treit / daz ist diu zunge, sô man seit. – An Forschungsliteratur zum Thema ist zu nennen: Bumke, Joachim, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 200511 (dtv 30170), insbesondere S. 433–446; Wenzel, Horst, Die Zunge der Brangäne oder die Sprache des Hofes, in: Buschinger, Danielle (Hrsg.), Sammlung – Deutung – Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit, Mélanges de littérature médiévale et de linguistique allemande offerts à Wolfgang Spiewok à l’occasion de son soixantième anniversaire par ses collègues et amis, Amiens 1988, S. 357–367; Haferland, Harald, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10); Wenzel, Horst, ›zuht und êre‹. Höfische Erziehung im ›Welschen Gast‹ des Thomasin von Zerclaere [1215], in: Mon-

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(1210/20) gibt Anweisungen zum richtigen Gesprächsverhalten, sowohl in Bezug auf die Inhalte als auch auf den Gesprächsverlauf (man solle z.B. den Gesprächspartner ausreden lassen): 10,1

10,10

2

Sun, swer bî dir ein mære sage, mit worten ims niht underbrich, und swer dir sînen kumber klage in scham, über den erbarme dich: […] den wîben allen schône sprich: ist iendert einiu sælden vrî, dâ bî sint tûsent oder mêr, den tugent und êre wonet bî. (Str. 10,1–4; 7–10)2

tandon, Alain (Hrsg.), Über die deutsche Höflichkeit. Entwicklung der Kommunikationsvorstellungen in den Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern, Bern u.a. 1991, S. 21–42; Bumke, Joachim, Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, in: PBB, 114/1992, S. 414–492, insbesondere S. 478–481; ders., Höfischer Körper – höfische Kultur, in: Heinzle, Joachim (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt/M., Leipzig 1999 (insel taschenbuch 2513), S. 67–102, hier S. 72–80; Rocher, Daniel, Die ›Ars oratoria‹ des Thomasin von Zerklaere in seinem ›Wälschen Gast‹, in: Schulze-Belli, Paola (Hrsg.), Thomasin von Zirklaere und die didaktische Literatur des Mittelalters, Beiträge der Triester Tagung 1993, Triest 1996 (Studi Tergestini sul Medievo NS 2), S. 63–77; Ehlert, Trude, ›Ein vrouwe sol niht sprechen vil‹. Körpersprache und Geschlecht in der deutschen Literatur des Hochmittelalters, in: dies. (Hrsg.), Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenja von Ertzdorff zum 65. Geburtstag, Göppingen 1998 (GAG 644), S. 145–171; Schuhmacher, Meinolf, Schriftliche Modelle vormoderner Gesprächskultur. Tischzuchten – Gesprächsspiele – Konversationsbüchlein, in: Der Deutschunterricht, 53/2001, H. 6, S. 8–15; Lechtermann, Christina, ›Von wem, ze wem, waz, wie und wenne‹. Redeordnungen, in: Harms, Wolfgang u.a. (Hrsg.), Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters, Stuttgart 2003, S. 81–95; Schnell, Rüdiger (Hrsg.), Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch, Köln u. a. 2008. – Zu den entsprechenden Hinweisen für Frauen in der romanischen didaktischen Literatur des Mittelalters s. Städtler, Katharina, Schule der Frauen. Altprovenzalische Liebeslehren, Lehrgedichte und Konversationsregeln für Mädchen und Frauen. Vorstufen einer weiblichen Ästhetik im Mittelalter?, in: LiLi, 19/1989, S. 75–92 (mit weiterer Literatur). – Folgende Veröffentlichungen klammern die mittelalterlichen Zeugnisse weitestgehend aus: Henn-Schmölders, Claudia, ›Ars conversationis‹. Zur Geschichte des sprachlichen Umgangs, in: Arcadia, 10/1975, S. 16–33; Schmölders, Claudia (Hrsg.), Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie, München 19862 (dtv 4446); Bogner, Ralf Georg, Die Bezähmung der Zunge. Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation in der frühen Neuzeit, Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 31). In: Leitzmann (Hrsg.), ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]. – Zum zuletzt zitierten Hinweis, man möge über Damen nichts Schlechtes reden, s. auch Str. 13,9f.: [U]nd sprich in wol: tuostû des niht, / sô muoz ich mich getrœsten dîn. Vergleichbares Gedankengut findet sich auch in Bezzenberger (Hrsg.), Fridankes ›Bescheidenheit‹ [Anm. 1], V. 103,25f. (Swer wîben sprichet valschiu wort, / der hât fröuden niht bekort); aus der (fingierten) Perspektive

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Insbesondere das Lügen wird mit Nachdruck als unmoralisch verworfen: Im Konrad von Haslau zugeschriebenen Jüngling etwa (ausgehendes 13. Jahrhundert) heißt es am Ende eines längeren Exkurses über die Lüge (V. 762–808) zusammenfassend: [W]o schedelich leuget ein jungelinc, / der gebe mir einen schillinc (V. 807f.).3 Darüber hinaus findet sich in nahezu jedem Werk der mittelalterlichen didaktischen Literatur die Warnung vor vorschnellem und unbedachtem Sprechen, so etwa im Winsbecke:

3

der Dame formuliert die Winsbeckin (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]), Str. 4,9f.: [S]welh wîp nû kumt in swachez wort, / müelîch si sich verrihtet wider. Allgemeiner auch in Rückert, Heinrich (Hrsg.), ›Der Wälsche Gast‹ des Thomasin von Zirclaria, Quedlinburg, Leipzig 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 30), Neudruck mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann, Berlin 1965, V. 561–566: [S]wer hât tugenthaften muot, / der sol niht sprechen niwan guot. / daz guot man güetlîchen sol / sprechen, swer wil sprechen wol. / swelich man kan merken wenne / er spreche, der spricht nâch rehte denne (s. hierzu Haferland, Höfische Interaktion [Anm. 1], S. 167). Alle Thomasin-Zitate im Folgenden nach Rückert. Für alle Zitate im Folgenden gilt, dass nicht zwischen Schaft-S und rundem S unterschieden wird. Viele der Thomasin-Zitate finden sich auch in: Thomasin von Zerklaere, ›Der Welsche Gast‹, ausgewählt, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eva Willms, Berlin, New York 2004. Tauber (Hrsg.), Konrad von Haslau, ›Der Jüngling‹ [Anm. 1]. Eine besondere Wertung der Lüge wird dadurch erkennbar, dass hier zum ersten Mal eine höhere Währung (schillinc statt pfenninc) zur Belohnung des Lehrers genannt wird als in den sonstigen Ausführungen. Vgl. auch Bezzenberger (Hrsg.), Fridankes ›Bescheidenheit‹ [Anm. 1], V. 35,2f.: Ezn wart nie grœzer sünde / dan luges urkünde (das liegen wird in V. 165,21–172,9 ausführlich thematisiert; vgl. außerdem z.B. V. 53,2a–b: Swer sich niht liegens schamen wil, / der volget eime bœsen spil, V. 53,3f.: Swer sich lüge niht enschamt, / der hât ein ungetriuwez amt); Tirol und Fridebrant (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]), Str. 41,1: Wan liegen ist ein angestlîch hort. Ehrismann, Gustav (Hrsg.), Der ›Renner‹ von Hugo von Trimberg, Bd. 1–4, Tübingen 1908–1911, Nachdruck Berlin 1970, widmet die Verse 15063– 15548 dem liegen; vgl. dort etwa auch V. 10657–10664. S. auch die Winsbecken-Parodie (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]), Str. 17,4f. u. 18,4. Im Sinne der Zungensünden (Casagrande/Vecchio [Anm. 1]) handelt es sich hierbei um das ›mendacium‹. – Anders als die deutlich stärker differenzierenden Traktate zur Lüge, die seit Augustinus’ De mendacio überliefert sind, ist für die didaktischen Werke des Mittelalters überwiegend eine pauschale Verurteilung des Lügens kennzeichnend. Überraschend finden sich jedoch in Fridankes ›Bescheidenheit‹ auch einige positive Deutungen des listigen Einsatzes der Lüge, vgl. V. 166,15f.: Liegen triegen ist ein list, / der wert vor allen listen ist (vgl. auch im Anhang, V. 169,24–26: […] vil bezzer sî / bescheidenliche gelogen / dan mit der warheit betrogen; V. 169,31 ist positiv wertend von lügelisten die Rede; vielleicht eher im Sinne einer Zeitklage zu verstehen ist V. 166,25f.: Liegen triegen swer diu kan, / den lobt man z’einem wîsen man). Es scheint sich hier eine Diskrepanz zwischen der ethischen Verurteilung der Lüge und der positiven Wertung des list im Sinne der klugen Überlegenheit in literarischen Zeugnissen zu manifestieren (vgl. dazu Semmler, Hartmut, Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur, Berlin 1991 [Philologische Studien und Quellen 122]); s. dazu u., S. 275.

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ê daz diu rede entrinne dir ze gæhes ûz dem munde hin, besnît si wol ûf den gewin, daz si den wîsen wol behage: daz wort mac niht hin wider în und ist doch schiere vür den munt. (Str. 25,3–8)4

Überblickt man die deutschsprachige didaktische Literatur des 13. Jahrhunderts, so zeigt sich, dass sich diese insgesamt auffällig häufig dem Thema des angemessenen sprachlichen Verhaltens widmet. Im Welschen Gast Thomasins von Zerklaere (1215/16) sind die Hinweise besonders zahlreich; da dieser Text zudem in Deutschland im 13. Jahrhundert eine erhebliche Verbreitung erfuhr, seien seine Bemerkungen über die Regeln des Sprachgebrauchs, die sich insbesondere in Buch I finden, hier etwas ausführlicher dargestellt.5 Unmittelbar zu Anfang des Buches I gibt der Welsche Gast den generellen Hinweis: Ich hân gehôrt unde gelesen, / man sol ungerne müezec wesen. / ein ieglîch biderbe man sol / zallen zîten sprechen wol / ode tuon ode gedenken: / von dem wege sol er niht wenken (V. 141–146); an erster Stelle wird damit die Wichtigkeit eines angemessenen s p r a c h l i c h e n Handelns aufgeführt.6 Das wol sprechen wird im Anschluss daran erneut als die e r s t e Möglichkeit angesprochen, die Freizeit sinnvoll zu verbringen: [S]wenn man niht ze tuon hât, / man habe den sin und ouch den rât / daz man eintweder spreche wol / od gedenke daz man sol (V. 149–152).7 Erst deutlich später gibt der Wel4 5

6

7

In: Leitzmann (Hrsg.), ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]. S. hierzu Ruff, Ernst J. F., Der ›Welsche Gast‹ des Thomasin von Zerklaere. Untersuchungen zu Gehalt und Bedeutung einer mittelhochdeutschen Morallehre, Erlangen 1982 (Erlanger Studien 35), S. 20–51; Lechtermann, ›Von wem‹ [Anm. 1]. Vgl. Ruff, Der ›Welsche Gast‹ [Anm. 5], S. 24. Thomasin gibt damit die drei bereits in Wilhelms von Conches Philosophia moralis (um 1124) genannten Elemente (verecundia est in gestu et opere et verbo honestatem servare) in einer eigenen Reihenfolge wieder (ähnlich auch in V. 193–198, abweichend allerdings in V. 199–201 u. 837–840); vgl. Teske, Hans, Thomasin von Zerclaere. Der Mann und sein Werk, Heidelberg 1933 (Germanische Bibliothek, 2. Abt., 34), S. 119. Die traditionelle Reihenfolge findet man z.B. bei der Winsbeckin (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]), Str. 12,4–6 (aus dem Mund der Tochter): [U]nd lêre mich nâch êren leben, / gebâren unde sprechen eben, / daz ich den wîsen wol behage. – Bereits der Prolog des Welschen Gast thematisiert sprachliches Verhalten, indem er jeden dazu ermahnt, sich so zu verhalten, dass andere von im spreche[n] wol (V. 16), denn swer vrumer liute lop hât, / der mac wol tuon der bœsen rât (V. 81f.). Eine Eigenart Thomasins ist, dass er bereits früh im Text (V. 39–46) das strîfeln anspricht, d.h. die Verwendung französischer Lehnwörter. S. zum Einsatz des Französischen in deutschen Erzähltexten Zotz, Nicola, Sprache des Hofes – Sprache der Liebe. Französisch als Sprache der Distanz im ›Tristan‹, in: Huber, Christoph / Millet, Victor (Hrsg.), Der ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, Symposium Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000, Tübingen 2002, S. 118–129. Der Helmbrecht etwa (wohl 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts) distanziert sich allerdings sehr deutlich von der Mode der Verwendung jeglicher fremdsprachlicher Einsprengsel (s. Panzer, Friedrich / Ruh, Kurt [Hrsg.], Wernher der Garten-

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sche Gast den Hinweis, dass Thomasin eine provenzalische Konversationslehre geschrieben habe, die allerdings nicht erhalten geblieben ist; 8 handelt es sich hierbei nicht um eine die Autorität des Belehrenden stärkende Fiktion, so könnte Thomasins frühere Beschäftigung mit Konversationsmaximen die starke Betonung dieses Themas im Welschen Gast zumindest zu einem Teil veranlasst haben. Im Bereich der allgemeinen Gesprächsregeln im Welschen Gast fällt auf, dass das höfische Sprechen in engem Zusammenhang mit nonverbalem Gebärden gesehen wird, insbesondere für Frauen, da die höfische Erziehung die Disziplinierung des gesamten Körpers und nicht lediglich den sprachlichen Ausdruck betrifft: [S]chœne gebærde und rede guot / die krœnent daz ein vrouwe tuot (V. 203f.).9 So solle eine Frau einen Mann im Gespräch nicht anstarren; ein Mann dürfe zwar Männer und Frauen ansehen, solle sich dabei allerdings gezogenlîche verhalten10 und, wie die Frauen, beim Reden die Hände stillhalten.11 Zu lautes Sprechen wird insbesondere für Frauen

8 9

10 11

ære, ›Helmbrecht‹, 10. Aufl., besorgt von Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 1993 [ATB 11], V. 717–794). Vgl. auch Volfing, Annette, si sprach hin zim en franzoys: / ob ichz iu tiuschen sagen sol, / mir tuont ir mære niht ze wol. Zur Betonung sprachlicher Differenz in den Dialogen des mittelhochdeutschen höfischen Romans, in: Unzeitig, Monika / Miedema, Nine / Hundsnurscher, Franz (Hrsg.), Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik: Komparatistische Perspektiven, Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1), S. 273–291. V. 1173–75, 1657–64 u. 1677–83; vgl. Wenzel, ›zuht und êre‹ [Anm. 1], S. 29. Auch die Winsbeckin (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]), Str. 6–8, warnt Frauen ausführlich vor wilde[n] blicke[n] und lautem Lachen. Die Winsbecken-Parodie verdreht gerade auch diese Konversationsregeln: [D]az maul du spitz alsam ein stür / oder zerr ez weiten auf, / darinne mit der zungen stür (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1], Str. 1,5–7). Dies thematisiert auch der Renner Hugos von Trimberg: Swelhe meide und jungiu wîp sich flîzen / Daz si den munt einhalp ûf rîzen / Als ein ros an krummem zoume, / Die gênt in einem tummen troume (Ehrismann [Hrsg.], Der ›Renner‹ von Hugo von Trimberg [Anm. 3], V. 12109–12). – Vergleichbar im Welschen Gast: [E]in vrouwe sol niht vrevelîch / schimphen, daz stât vröuwelîch (V. 397f.). Einige Bekanntheit genießt auch die folgende, den Spielraum der Frauen stark einschränkende Bemerkung: Ein vrouwe hât an dem sinne genuoc / daz si sî hüfsch unde gevuoc, / und habe ouch die gebærde guot / mit schœner rede, mit kiuschem muot. / ob si dan hât sinnes mêre, / sô hab die zuht und die lêre, / erzeig niht waz si sinnes hât: / man engert ir niht ze potestât. / ein man sol haben künste vil: / der edelen vrouwen zuht wil / daz ein vrouwe hab niht vil list, / diu biderbe unde edel ist: / einvalt stêt den vrouwen wol (V. 837–849). S. zu diesem Themenkomplex Ehlert, ›Ein vrouwe sol niht sprechen vil‹ [Anm. 1]; Schubert, Martin J., Zur Theorie des Gebarens im Mittelalter. Analyse von nichtsprachlicher Äußerung in mittelhochdeutscher Epik. Rolandslied, Eneasroman, Tristan, Köln u.a. 1991 (Köhler Germanistische Studien 31). Ein vrouwe sol niht vast an sehen / einn vrömeden man, daz stât wol. / ein edel juncherre sol / bêde rîter unde vrouwen / gezogenlîche gerne schouwen (V. 400–404). Ein juncherr und ein rîter sol / hie an sich ouch behüeten wol, / daz er sîn hende habe still, / swenner iht sprechen wil (V. 441–444), die Damen sollen die Bewegungen der Hände, der Augen und des Kopfes zügeln (V. 437–440). Vergleichbar sind die Angaben, man solle beim Reden nicht lachen (V. 527–536); mit den Tischzuchten überschneiden sich die Angaben im Bereich der Gesprächsnormen bei dem Hinweis, man solle nicht mit vollem

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kritisiert;12 vergleichbar den oben zitierten Hinweisen, man solle den Gesprächspartner ausreden lassen, ermahnt der Welsche Gast zum sorgfältigen Zuhören.13 Die nachfolgenden Ausführungen im ersten Buch des Welschen Gastes werden z.T. anhand einzelner Sprechakte strukturiert. So lässt der Autor sich mit einigem Nachdruck über ruom, lüge, spot,14 über das schallen und geuden15 sowie über das schimphen und schelten aus.16 Auch hier wird genderspezifisch differenziert: Der ruom, das

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Mund sprechen (ein Mann sol sich hüeten zuo der stunt / daz er trinke und spreche niht / di wîl er hab im munde iht, V. 488–490, ähnlich solle auch die Dame beim Essen schweigen, V. 469f.). Vgl. Schuhmacher, Schriftliche Modelle vormoderner Gesprächskultur [Anm. 1], S. 11, mit weiteren Beispielen aus anderen Texten. Ein juncvrouwe sol senfticlîch / und niht lût sprechen sicherlîch (V. 404f.). S. Wenzel, ›zuht und êre‹ [Anm. 1], S. 32. [E]in juncherre sol sîn sô gereit / daz er vernem swaz man im seit, / sô daz ez undurft sî / daz man im sage aver wî (V. 406–409). Wer sich schamt, der muoz verlâzen / ruom, lüge, spot und schalkeit, / und manger slaht unstætekeit (V. 190–192). Bereits im Prolog wurde auf bœser liute spot, der zu ignorieren sei, hingewiesen (V. 76). Ferner heißt es: Ruom, lüge, spot, swer die drî / hât, der mac niht heizen vrî, / wan der ist schalc der schalkeit, / im sî mîn dienest widerseit. / daz ist der zühte gebot / daz niemen habe des andern spot, / und daz weder wîp noch man / niht enliege den andern an. / ruom ist diu meiste schalkeit; / spot von ruom nimmer gescheit. / der ruomær ist aller schame vrî, / die lüge sint im nâhen bî (V. 217–228); es folgen weitere Ausführungen über diese drei Sprechakte (V. 229–296), vor denen bereits Cicero warnt (Schuhmacher, Schriftliche Modelle vormoderner Gesprächskultur [Anm. 1], S. 8) und die sich teilweise den Zungensünden zuordnen lassen (Casagrande/Vecchio [Anm. 1]: ›adulatio / iactantia‹?, ›mendacium‹, ›derisio‹). – Auf das Lügen boshafter Menschen kommt der Welsche Gast in V. 1382–87 erneut zu sprechen (vgl. auch die Angaben o. in Anm. 3), auf die Lüge der âventiure in V. 1118–26. S. auch Ruff, Der ›Welsche Gast‹ [Anm. 5], S. 27–31. Zum Thema Spott vergleichbar: Tauber (Hrsg.), Konrad von Haslau, ›Der Jüngling‹ [Anm. 1], V. 846f. u. 989–1002. V. 297–362; Casagrande/Vecchio [Anm. 1]: ›iactantia‹? Vgl. auch Wenzel, ›zuht und êre‹ [Anm. 1], S. 33. V. 659–670, 1543–45 u. 1665–76; vgl. Casagrande/Vecchio [Anm. 1]: ›contumelia / maledictum‹. Zu Parallelen in lateinischen Werken s. Teske, Thomasin von Zerclaere [Anm. 6], S. 120–124. Einige Aufmerksamkeit erfährt auch das rûnen (V. 567–580; vgl. auch Bezzenberger [Hrsg.], Fridankes ›Bescheidenheit‹ [Anm. 1], V. 158,4–13; Tauber [Hrsg.], Konrad von Haslau, ›Der Jüngling‹ [Anm. 1], V. 904f.; Casagrande/Vecchio [Anm. 1]: ›murmur‹). S. ebenso die Ausführungen zum Ausplaudern von Geheimnissen (V. 537–552), die sich vergleichbar auch im Winsbecke finden (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1], Str. 9; s. auch die Winsbeckin-Parodie [ebd.], Str. 20). »Die öffentliche Rede soll eine höfische Rede sein (geziert mit hüfscheit), und deshalb erweckt die heimliche Rede notwendig den Verdacht des Unhöfischen, Unziemlichen, letztendlich Normsprengenden und also Feindlichen. In diesem Verdacht äußert sich bereits das Wissen, daß die öffentliche Rede die handlungsrelevanten Sinnpotentiale nicht voll erfaßt, daß die zeremoniale Rede vielfach Anspruch bleibt und die heimliche Verständigung eine eigene Wirksamkeit entfaltet. So verstanden ist nichtöffentliches rûnen auch ein erster Indikator für die große Zukunft höfischer Intrige« (Wenzel, ›zuht und êre‹ [Anm. 1], S. 34; Willms’ Übersetzung [Anm. 2] mit »flüstern« erfasst die Sinndimensionen des ›murmur‹ nicht).

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Selbstlob, sei insbesondere von Frauen zu vermeiden (V. 277f.): [S]i sulen haben kiuschiu wort, / wan daz ist der zühte hort (V. 389f.).17 Neben der konsequent durchgeführten Differenzierung nach Geschlechtern findet sich in Ansätzen eine Unterscheidung des Redeverhaltens junger und älterer Sprecher(innen): [E]in j u n c v r o u w e sol selten iht / sprechen, ob mans vrâget niht. / ein v r o w e sol ouch niht sprechen vil, / ob si mir gelouben wil (V. 465–468, Hervorhebung N. M.); in V. 1523–34 wird das törichte Sprechen alter Frauen thematisiert. Für Männer wie auch für Frauen jeglichen, aber insbesondere jungen Alters wird im Welschen Gast (ähnlich wie in den unten, Anm. 18, zitierten Beispielen) mehrfach darauf hingewiesen, dass es in vielen Fällen besser sei, n i c h t zu sprechen. Den bündigsten Ausdruck findet dieser Gedanke in zwei Dikta: Swer vil gereit, der ist ein kint, / wîse liute hânt in vür ein rint (V. 711f.) bzw. vil vernemen, lützel sagen (V. 582).18 Jedoch werden an vielen Stellen auch ausführlichere Hinweise über das situationsgerechte Sprechen und Schweigen gegeben, so etwa: 585

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[S]wîgent man daz lernen sol daz man dar nâch wil sprechen wol. swer swîgent niht lernen wil, der spricht unnützer dinge vil. man sol daz zieren heimlîchen daz man wil sprechen offenlîchen. daz kint mit vorhten lernen sol swaz er dernâch wil sprechen wol. (V. 585–592)19

Auch bereits bei Wenzel, ›zuht und êre‹ [Anm. 1], S. 32. Vgl. auch Tirol und Fridebrant: Ouch lâ dîn zungen stille ligen: / ein geheizen wære baz verswigen (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1], Str. 40,1f.; s. auch die Winsbeckin-Parodie [ebd.], Str. 20f.). Ähnlich auch Bezzenberger (Hrsg.), Fridankes ›Bescheidenheit‹ [Anm. 1], V. 52,16f.: Swer sînes mundes hât gewalt, / der mac mit êren werden alt; V. 52,22f.: Ein man sol swîgen in der jugent, / sô behelt sîn alter tugent; V. 80,10f.: Swer niht wol gereden kan, / der swîge und sî ein wîse man; V. 82,12f.: Der tôre verhilt deheine frist, / swaz in sîme herzen ist. S. außerdem Tauber (Hrsg.), Konrad von Haslau, ›Der Jüngling‹ [Anm. 1], V. 175f.: [W]o niht swiget und wichet ein jungelinc, / der gebe mir einen pfenninc; vgl. auch V. 585f. u. 907. S. zu diesem Thema Roloff, Volker, Reden und Schweigen. Zur Tradition und Gestaltung eines mittelalterlichen Themas in der französischen Literatur, München 1973 (Münchener Romanistische Arbeiten 34); Ruberg, Uwe, Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters, München 1978 (Münstersche Mittelalter-Schriften 32); Schnyder, Mireille, Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003 (Historische Semantik 3). S. Wenzel, ›zuht und êre‹ [Anm. 1], S. 33. Für Freidank spielt nicht nur das schweigende Nachahmen eine wichtige Rolle, sondern auch die gezielte Nachfrage: Swer niht enweiz und niht enfrâget, / und niht kan und in lernens betrâget, / und die kunst, die er dâ kan, / ze lernenne niemen gan, / und hazzet den, der rehte tuot: / disiu driu sint tôren muot (Bezzenberger [Hrsg.], Fridankes ›Bescheidenheit‹ [Anm. 1], V. 78,17–22; vgl. V. 78,34f.: Frâge und

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Im Sinne der Suche nach mâze wird auch zu langes Schweigen kritisiert:20 720

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[M]an sol ze vil doch swîgen niht, wan von vil swîgen dicke geschiht daz von vil klaffen mac geschehen. man sol die mâze wol ersehen an allen dingen, daz ist guot: ân mâze ist niht wol behuot. Swer gar sînn willen spricht und tuot, der hât genuoc vihlîchen muot. (V. 719–726)

So wird deutlich, dass der Welsche Gast einen wichtigen Erziehungsauftrag ausspricht, wenn er zusammenfassend formuliert: [I]ch wil iu sagen, swelich man / mit sinne niht erahten kan / von wem, ze wem, waz, wie und wenne / er rede, ez schadet im etwenne (V. 553–556).21 In Hugos von Trimberg Renner (1300 vollendet), zu dessen Zielen es ebenfalls gehört, reiniu werc u n d s ü e z i u w o r t (V. 565)22 zu lehren, finden sich an zwei verschiedenen Stellen umfangreiche Kataloge von zu vermeidenden Handlungen, unter denen sich auffällig viele Sprachhandlungen finden. Nach der den Text eröffnenden Deutung der Birnbaum-Allegorie folgt als erste Ausführung im Bereich hôchfart (V. 276, 278, 284), der ersten Todsünde, die folgende Zusammenstellung (gesperrt gedruckt die sprechaktbezeichnenden Verben): 285

20 21

22

Ketzerîe, r ü e m e n , t r a t z e n , S p o t t e n , s c h r î e n , roufen, kratzen, S c h a l l e n , b r e h t e n , reien, springen, Stürmen, vehten, loufen, ringen, Rouben, brennen, morden, stechen,

wîsiu lêre / die bringent michel êre; einschränkend allerdings V. 79,1f.: Swer alliu dinc befrâgen wil, / der hât wîsheit niht ze vil). Vgl. Casagrande/Vecchio [Anm. 1]: Gemeint ist hier die ›taciturnitas‹. S. auch Winsbecke (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]), Str. 23,5: ze rehte swîc, ze staten sprich. Die unmittelbar nachfolgenden Verse erläutern diese allgemeinen Angaben, s. V. 557–566: [M]an sol sehen von wem man seit: / der vrum ist von dem bœsn gescheit. / dehein man sol dem klaffære / sagen tougenlîchiu mære. / swer hât tugenthaften muot, / der sol niht sprechen niwan guot. / daz guot man güetlîchen sol / sprechen, swer wil sprechen wol. / swelich man kan merken wenne / er spreche, der spricht nâch rehte denne. Vgl. auch V. 9837f.: […] swer si [die rede] niht enkan / rihten, ist ein unsælec man. – Wenig später (ca. 1245) wird Albertanus von Brescia den berühmten und ganz ähnlich aufgebauten ›Versiculus‹ Quis, quid, cui dicas, / cur, quomodo, quando, requiras zitieren, der seinerseits lediglich bereits vor ihm Gesagtes zusammenfasst (Vorrede der Ars loquendi et tacendi, enthalten in der Ausgabe von Sundby, Thor [Hrsg.], Brunetto Latinos levnet og skrifter, Kopenhagen 1869/1884; zitiert nach der Bibliotheca Augustana: http://www.hs-augsburg.de/~Harsch/Chronologia/Lspost13/ Albertanus/alb_lota.html [Stand: 13.5.2008]; s. auch Casagrande/Vecchio [Anm. 1], S. 73–77 u. 91–96). Ehrismann (Hrsg.), Der ›Renner‹ von Hugo von Trimberg [Anm. 3], Hervorhebung N. M.

Gesprächsnormen 290

295

300

259

Dröuwen, smêhen, übel sprechen, Stôzen, twingen, vâhen, slahen, Rennen, sprengen, würgen, hâhen, Vürnêmischiu hertikeit, Stolzieren und bœsiu glîchsenheit, Loter wîse und loter kleit, An trinken, an spîse unmêzikeit, Zoubern, goukeln, l i e g e n , triegen, F l u o c h e n , s c h e l t e n , s w e r e n , kriegen: Diz ist der hôchferte ingesinde, Bî dem ich selten iht guotes vinde. (V. 285–300)

An späterer Stelle, in der fünften distinctio (Von zorne und nîde), folgt eine zweite Liste verwerflicher Sprach- und sonstiger Handlungen:23 14150

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14160

14165

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L i e g e n , triegen, s c h e l t e n , b r e h t e n , D r ô e n , s w e r e n , gein got vehten, Tr a t z e n , s c h r î e n , ü b e l s p r e c h e n , Morden, stürmen, triuwe brechen Sint des zornes drabe knehte, Die alle rûschent mit g e b r e h t e , Den man iren rûm muoz lâzen, Swenne si varnt die frîen strâzen. Bescheidenheit muoz in entwîchen, Des nîdes gesinde siht man slîchen Bî der strâzen ûf den stîgen: S n u d e r n , s m o c k e n unde s w î g e n , Innen ruoz und ûzen krîden, N â c h k ô s e n , als ein scharsach snîden, Metten, l i e g e n , nase rimpfen, S p o t t e n , gucken, v a l s c h e z s c h i m p f e n , Itewîzen , f luochen , smêhen , V a l s c h e z r û n e n , dieplich spehen, Ougen spitzen, z e n e w e t z e n , Va l s c h e r ê t e , m ö r t l i c h h e t z e n , Nîthart, Siurinc, Slangenzagel, Billunc, Nîdunc, Tugenden hagel Sint des nîdes spiezslîfêre, Aller untugende nâchgrîfêre. (V. 14149–72)

So manifestiert sich in den didaktischen Werken des Hochmittelalters ein ausgeprägtes Bewusstsein von der Wichtigkeit des angemessenen höfischen Sprechens – denn, wie Freidank wertend zusammenfasst: Bî rede erkenne ich tôren, / den esel bî den ôren

23

Zur Macht des Wortes s. außerdem ebd., V. 17731–812; das Kapitel Von der zungen (V. 20691–902) geht auf positive und negative Aspekte der Rede ein, das Kapitel Von liegen (V. 15063–548) ausschließlich auf negative.

260

Nine Miedema

(V. 82,10f.).24 Eine systematische Aufarbeitung der Gesprächsnormen in der deutschsprachigen didaktischen Literatur des Mittelalters ist ein dringendes Forschungsdesiderat;25 denn nur durch eine solche Zusammenstellung ließe sich erfassen, welche Regeln, über die ganz allgemeine Angabe hinaus, man habe ›angemessen‹ zu sprechen, im Mittelalter als normativ postuliert wurden (und inwiefern sich diese evtl. von Autor zu Autor unterscheiden – auch im Bereich der Didaxe ist mit Individualstilen zu rechnen). Die vorliegenden Ausführungen seien als eine erste, aber keineswegs vollständige Sammlung und Auswertung diesbezüglicher Zeugnisse verstanden. Die zitierten deutschsprachigen didaktischen Anleitungen, die (unter vielem anderen auch) das höfische Sprechen behandeln, beruhen im Bereich der Regeln für das Sprachhandeln auf den antiken, lateinischen ›artes oratoria‹26 und gehören zum gleichen Komplex wie die seit dem 12. Jahrhundert überlieferten mittellateinischen ›artes dictaminis‹,27 ›artes arengandi‹28 und ›artes praedicandi‹.29 Die mittellateinischen Redekünste bemühen sich vor allem um eine Perfektionierung der publikumswirksamen monologischen Einzelrede sowie auch um eine Typologisierung der bereits

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Bezzenberger (Hrsg.), Fridankes ›Bescheidenheit‹ [Anm. 1]; vgl. V. 64,14f.: Guot rede ist ûf der erde / im aller hœhsten werde. »Zur Rekonstruktion der höfischen Sprachkultur können auch die Anweisungen zum gepflegten Sprechen in den Hoflehren herangezogen werden. Noch wichtiger sind vereinzelte historische Zeugnisse, die erkennen lassen, daß das sprachliche Verhalten am Hof als Kriterium für die gesellschaftliche Beurteilung der Menschen gewertet wurde« (Bumke, Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme [Anm. 1], S. 480; zu den zuletzt genannten Quellen, die hier weitgehend außer Betracht gelassen werden, s.u. Anm. 43). Vgl. außerdem Moos, Peter von, Zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Dialogische Interaktion im lateinischen Hochmittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien, 25/1991, S. 300–314, hier S. 309f. (»Noch kaum in Angriff genommen ist die genuin mediävistische Aufgabe, sämtliche im weitesten Sinne verhaltensethische Literatur […] seit der Patristik auf Regeln zur Gesprächsführung zu durchforsten«. Vgl. dazu bereits Cicero, De officiis (1. Jahrhundert v. Chr.), I,35,126–I,38,137 (s. Schuhmacher, Schriftliche Modelle vormoderner Gesprächskultur [Anm. 1], S. 8). S. Camargo, Martin, Ars dictaminis, ars dictandi, Turnhout 1991 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 60); Worstbrock, Franz Josef u.a. (Hrsg.), Repertorium der Artes dictandi des Mittelalters, Bd. 1, Von den Anfängen bis um 1200, München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 66). S. von Moos, Zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit [Anm. 25]; ders., Die italienische ›ars arengandi‹ des 13. Jahrhunderts als Schule der Kommunikation, in: Brunner, Horst / Wolf, Norbert R. (Hrsg.), Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 1993, S. 67–90; ders., Die Kunst der Antwort. Exempla und ›dicta‹ im lateinischen Mittelalter, in: Haug, Walter / Wachinger, Burghart (Hrsg.), Exempel und Exempelsammlungen, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 2), S. 24–58. Vgl. etwa die ars praedicandi des Alanus ab Insulis († 1203); s. Casagrande/Vecchio [Anm. 1], S. 83–91.

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erwähnten ›Zungensünden‹,30 insbesondere ausgehend von der Vorstellung, dass die Sprache Anlass zu Übeltaten sein kann und die Zunge dementsprechend gezügelt werden müsse.31 Die genannten mittelalterlichen lateinischen Texte entstanden jedoch im klerikalen Diskurs, während die deutschsprachigen Werke sich nachdrücklich an weltliche Laien wandten; es wundert deswegen nicht, dass die deutschsprachigen Texte einerseits nicht die Systematik und Vollständigkeit der lateinischen übernahmen und diese andererseits um viele neue Teilaspekte ergänzten, die es hier zu untersuchen gilt. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass Konversation bzw. Kommunikation nicht mit Rede gleichzusetzen ist; das Bewusstsein dafür, dass die Prinzipien dialogischer Interaktion systematisiert und beschrieben werden können, findet ebenfalls seit dem 12. Jahrhundert verstärkt seinen schriftlichen Ausdruck.32 Dabei geben die lateinischen Schriften zwar das Muster des Versuchs der Regulierung der gesprochenen Sprache vor, die mittelhochdeutsche Sprache und der weltliche Kontext erfordern

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S. zu den Zungensünden Casagrande/Vecchio [Anm. 1]; Lindorfer [Anm. 1]. Als biblische Grundlagen für die Vorstellung von den Zungensünden und der Zügelung der Zunge gelten u.a. Prv 18,21 und Iac 3. S. auch Lechtermann, ›Von wem‹ [Anm. 1], S. 82f. S. im Bereich der deutschen Texte den Welschen Gast: [N]âch bœser rede kumt missetât (V. 210); bœser schimph macht haz, zorn, nôt, / zorn vîntschaft, vîntschaft tôt (V. 667f.). Dass insbesondere das Spielen Anlass zu unbedachtem Sprechen gebe (V. 689: bœse rede), wird im Welschen Gast in V. 686–710 ausgeführt (ähnlich auch Tauber [Hrsg.], Konrad von Haslau, ›Der Jüngling‹ [Anm. 1], V. 294–325); der ›Renner‹ sieht darüber hinaus insbesondere die Trunkenheit als Anlass für vil bœser worte (Ehrismann [Hrsg.], Der ›Renner‹ von Hugo von Trimberg [Anm. 3], V. 10296; vgl. dort außerdem V. 11278–80). von Moos, Zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit [Anm. 25], S. 307f.: »Die Pflege des kultivierten, rhetorisch erfolgreichen Umgangs mit Menschen steigt somit von bloßer Gewöhnungspädagogik auf zur schriftlich weitergegebenen Kunstlehre […] des zwischenmenschlichen Umgangs«. Ansätze zur Entwicklung dialogischer (im Gegensatz zu monologischer) Rede sind bereits bei Julius Victor erkennbar (Ende des 4. Jahrhunderts). Vgl. für das Hochmittelalter den Traktat De amore des Andreas Capellanus (1180–90), der (im Sinne des erfolgreichen Werbens um eine Dame) situationsangemessenes verbales Handeln in Musterdialogen vorführt, die allerdings relativ statisch bleiben (dazu Haferland, Höfische Interaktion [Anm. 1], S. 163–173, hier S. 166f.). Die inhaltlich vergleichbaren Minnehöfe (›cours d’amour‹) sind in deutscher Sprache erst im 15. Jahrhundert nachgewiesen, s. Schuhmacher, Schriftliche Modelle vormoderner Gesprächskultur [Anm. 1], S. 12. – Im geistlichen Bereich finden sich in der Cura pastoralis Gregors des Großen (um 591) Ansätze zur genaueren Beschreibung einer auf die Befindlichkeit des Gesprächspartners Rücksicht nehmenden Gesprächsführung, die jedoch ganz auf das Erreichen der richtigen Disposition für ein Beichtgespräch ausgerichtet ist, s. PL, 77/1896, Sp. 13–128. Vgl. außerdem Casagrande/Vecchio [Anm. 1], S. 73–102, zu den die Konversation betreffenden Anteilen in den Verhaltenslehren des Albertanus de Brescia und des Hugo von St. Victor (De institutione novitiorum). von Moos, Die Kunst der Antwort [Anm. 28], S. 27–39, bespricht die lateinische Konversationslehre des Engelbert von Admont (nach 1298 entstanden).

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jedoch ihre eigenen Sprachformen und Sprachnormen.33 Der Vergleich mit lateinischen und darüber hinaus romanischen Quellen ist somit notwendig,34 es wäre aber auch bereits viel gewonnen, wenn es gelänge, die mittelalterlichen Kommunikationsnormen für den d e u t s c h e n Sprachraum annäherungsweise vollständig zu ermitteln. Als Gesamtkonzept sozialer Erziehung entwirft die höfische Kultur in Deutschland nicht zuletzt auch ein Ideal verbaler Interaktionsstrategien, das trotz der Differenzierung nach Geschlecht, Stand, Alter und Situation für alle Mitglieder der sozialen Elite Verbindlichkeit beansprucht, eine Verbindlichkeit, die diese Gruppe nach innen konsolidiert und nach außen von anderen Ständen abgrenzt. Joachim Bumke postulierte 1992, die höfische Kultur sei »von den Betroffenen selbst i n e r s t e r L i n i e als Sprachkultur begriffen« worden.35 Möglicherweise wird der Stellenwert der angemessenen Sprache für die höfische Kultur damit allzu stark in den Vordergrund gerückt, kaum zu leugnen ist jedoch, dass die Entwicklung eines gehobenen Sprachcodes als einer der wichtigeren Faktoren im höfischen Kontext zu interpretieren ist. Entscheidend erscheint, dass die Entwicklung des neuen Sprachbewusstseins im 12. und 13. Jahrhundert nicht nur auf die Demonstration prestigeverleihender höfischer vröide und zuht bei festlichen Anlässen, auf ›Konversation‹ im modernen, unverbindlich-unterhaltenden Sinne bezogen ist, sondern darüber hinaus umfassend den Anspruch erhebt, auf dem Weg verbaler (statt kriegerischer) Problem- und Konfliktlösung in gesellschaftspolitischen Fragen Konsens zu finden und zu bewahren.

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»Alle diese Zeugnisse weisen darauf hin, daß die höfische Rede eigenen kommunikativen Normen folgt und einem eigenen Symbolsystem angehört, das innerhalb der höfischen Sphäre die höchste Zustimmung erfährt, aber ständig gefährdet bleibt« (Wenzel, Die Zunge der Brangäne [Anm. 1], S. 361). Erste Ansätze eines Vergleiches der deutschen didaktischen Texte mit den romanischen ›ensenhamens‹, die teilweise allerdings erst später verschriftlicht wurden als der Welsche Gast, bei Teske, Thomasin von Zerclaere [Anm. 6], S. 124–136. Insgesamt scheinen insbesondere die provenzalischen Konversationsregeln des 12. Jahrhunderts gegenüber den deutschen avancierter zu sein, jedoch bedarf dieser erste Eindruck noch einer genaueren Verifizierung. Vgl. Städtler, Schule der Frauen [Anm. 1], die etwa darstellt, dass den Damen im 12. Jahrhundert in der Romania (auch in den didaktischen Werken, z.B. im ›ensenhamen‹ des Garin lo Brun) der Freiraum zugesprochen wird, Gespräche über Liebeslyrik zu führen, ein Zeitvertreib, der in den deutschsprachigen didaktischen Werken nicht angesprochen wird. Das 13. Jahrhundert zeigt sich allerdings auch in der Romania restriktiver. Vgl. im weiteren Umfeld auch Müller-Oberhäuser, Gabriele, ›With cortays speche‹. Verbale Höflichkeit in den mittelenglischen Courtesy Books, in: Meier, Christel u.a. (Hrsg.), Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, München 2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften 79), S. 211–231, hier S. 223: »Die mittelenglische Höflichkeitssprache entsteht erst im 14. und 15. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit dem Französischen.« Bumke, Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme [Anm. 1], S. 478 (Hervorhebung N. M.). Vergleichbar ders., Höfischer Körper – höfische Kultur [Anm. 1], S. 73. Ähnlich auch Wenzel, Die Zunge der Brangäne [Anm. 1], hier S. 359 (Sprache als »charakteristischer Bestandteil der höfischen Lebensform«).

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II. Kommunikationslehren in der höfischen Epik Die bisher zitierte didaktische Literatur ist selbstverständlich nicht die einzige Äußerung höfischen Selbstverständnisses; mindestens ebenso aussagekräftig sind die epischen Werke, die zwar (ebenso wie die didaktischen Schriften) kein direktes Abbild der mündlichen sprachlichen Gepflogenheiten im Mittelalter sind, aber sehr wohl die Ideale höfischen Handelns (auch Sprachhandelns) widerspiegeln. In einigen Werken insbesondere der nachklassischen höfischen Epik werden von intradiegetischen Figuren vollständige Erziehungslehren formuliert, die sich auf ähnliche Art und Weise, wie oben unter Abschnitt I skizziert, auch auf das vorbildliche sprachliche Verhalten beziehen können. Da diese Lehren im Wesentlichen mit den zitierten didaktischen Werken übereinstimmen und die Epen zumeist erst n a c h diesen entstanden sind, ist eine direkte Beeinflussung mit großer Sicherheit anzunehmen. Zitiert sei deswegen nur ein Beispiel, das aus dem Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems stammt.36 Jofrit, der wise fúrste (V. 3277), gibt Willehalm u.a. die folgenden Ratschläge, eine Art Fürstenlehre in Kurzform:37

3415

36

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»[…] Bis beschaidenliche, Demůte arm und riche, La h i n d e r r e d e , valschen s p o t ! Durch diner zúhte gebot Hůte dich an der geschicht

Ähnliches findet sich z.B. in ›Der Trojanische Krieg‹ von Konrad von Würzburg, nach den Vorarbeiten Karl Frommanns und Friedrich Roths zum ersten Mal hrsg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 44), V. 15020–53 (vgl. Ehlert, ›Ein vrouwe sol niht sprechen vil‹ [Anm. 1], S. 16f.). Diese Passage ist deswegen von besonderem Interesse, da hier (aus der Sicht eines männlichen Autors, jedoch aus dem Mund einer weiblichen Figur) Achilles Verhaltensregeln nahegelegt werden, die er zu befolgen habe, damit seine Verkleidung als Frau überzeuge. Vgl. außerdem Wirnt von Grafenberg, ›Wigalois‹, Text der Ausgabe von Johannes M. N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005, V. 11521–52 (Gawein zu Wigalois). Auch die Erzählerkommentare einiger Autoren geben Elemente einer idealen höfischen Spracherziehung wieder, vgl. z.B. Kragl, Florian (Hrsg.), Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet. Text – Übersetzung – Kommentar. Studienausgabe, Berlin, New York 2009, V. 248f.: an spot er [der junge Lanzelet] sich niht kêrte, / als ungeslaht liute tuont (vgl. umgekehrt zu Keie V. 2905f.: wan er sich spottes an nam, / der nie stæten man gezam); V. 256f.: Si lêrten in gebâren / und wider di vrouwen sprechen; V. 258–261: ern wolt nie gerechen / deheinen wîplichen zorn, / wan er von adel was geborn. / ze mâze muos er swîgen. Entsprechend: Johfrit jach, daz er nie gesæhe / deheinen kindischen degen, / der sô schœner worte kunde pflegen / und doch sô tôrlîche rite, V. 564–567. Junk, Victor (Hrsg.), Rudolfs von Ems ›Willehalm von Orlens‹, Berlin 1905, Nachdruck der zweiten Aufl. Dublin, Zürich 1967. In Sperrdruck erscheinen erneut diejenigen Passagen, die sich auf verbales Verhalten beziehen.

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Das du dich ú b e r s p r e c h e s t niht, Din selbes so vergessest Das du dich iht vermessist Des din kraft niht geendon muge! Verbir das s m a c h e n und die l u g e , Tů wol, r u m e dich des niht! […]« (V. 3411–21)

Nicht zu lästern, nicht zu spotten, nicht zuviel zu versprechen, niemanden zu schmähen, nicht zu lügen, sich selbst nicht zu loben – all dies sind Elemente, die sich, wie in Abschnitt I gezeigt, vielfach ebenso in den didaktischen Werken finden lassen und deren Geltung durch die Epik bestätigt wird.

III. Höfische Literatur und vorbildliches Sprechen Konrad von Würzburg führt im Prolog des Partonopier (1277?) aus:

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[I]ch zel iu drîer hande nutz, die rede bringet unde sanc. daz eine ist, daz ir süezer klanc daz ôre fröuwet mit genuht; daz ander ist, daz hovezuht ir lêre deme herzen birt; daz dritte ist, daz diu zunge wirt gespræche sêre von in zwein. (V. 8–15)38

Dies legt nahe, dass der höfischen Literatur im Bereich der Erziehung zum formvollendeten Sprechen, vermittelt durch als sprechend dargestellte Figuren, zumindest von einigen Autoren eine Vorbildfunktion zuerkannt wurde: Sie mache die zunge der Rezipienten sêre gespræche. Im Literaturkatalog für Mädchen und Jungen des Welschen

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Konrads von Würzburg ›Partonopier und Meliur‹, aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer hrsg. von Karl Bartsch, mit einem Nachwort von Rainer Gruenter, Wien 1871, Nachdruck Berlin 1970. Wenzel, ›zuht und êre‹ [Anm. 1], S. 22, versteht alle »höfische[n] Epen […] als Erzählungen von hervorragenden Frauen und Männern, die als Identifikationsfiguren [generell, somit auch im Bereich der von Wenzel, ebd. auf S. 20f. u. 32–34 besprochenen höfischen Sprache, N. M.] handlungsleitend und -orientierend wirksam sind«, als »spiegel vrumer liute (W.G. 619f.), zur Einübung in vorbildliches Handeln durch Partizipation und Nachahmung« (ebd., S. 39f.). – Kritisch zu dieser Passage des Partonopier Hübner, Gert, ›wol gespræchiu zunge‹. Meisterredner in Konrads von Würzburg ›Partonopier und Meliur«, in: Unzeitig / Miedema / Hundsnurscher (Hrsg.), Redeszenen [Anm. 7], S. 215–234. Rudolfs von Ems ›Willehalm von Orlens‹ [Anm. 37] definiert [v]on hovelichen dingen / hoverede machen g*t (V. 98f.) als ein Ziel des Erzählens; durch Erzählerkommentare zu Redebeiträgen von Figuren wie [m]it h"fe rede das geschach (V. 13813) wird deutlich, dass auch hier das Vorführen vorbildlicher hoverede auf Figurenebene eine wichtige Rolle spielt.

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Gastes (V. 1026–78) wird zwar nicht auf die sprachlichen Fähigkeiten der Figuren als Vorbilder eingegangen;39 in der Epik selbst wird jedoch durchaus der Anspruch formuliert, die Rezipienten könnten durch die Lektüre der Texte auch die richtige Art des Sprechens und Kommunizierens erlernen. Bumke vermerkte bereits 1992: »Es fehlt an einer Untersuchung der Normen und der Praxis höfischen Sprechens auf der Grundlage der literarischen Zeugnisse«; 40 auch heute noch gilt es, hier Forschungslücken zu schließen oder zumindest erneut auf sie aufmerksam zu machen. Es ist daran zu erinnern, dass die Überlieferung solcher literarischen, epischen Werke in der Volkssprache bereits früher einsetzt als diejenige der deutschsprachigen didaktischen Texte. Im vorhöfischen Vorauer Alexander, im Rolandslied oder auch in den frühen ›Spielmannsepen‹ sind die Dialoge zwar in der Regel noch kurz und von einer starken Asymmetrie der Sprecher gekennzeichnet; 41 bereits die frühhöfischen Texte aber weisen erste Beispiele für elaborierte Begrüßungsformen auf, die Ausdruck des höfischen sprachlichen »Zeremoniell[s]« sind,42 39

40

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Die einzige Ausnahme ist, dass Keie im Welschen Gast für seine Lügen und seine spöttische Sprache getadelt wird: [E]z schînt daz Parzivâl nien lebet, / wan der her Key nâch êren strebet / mit lüge und mit unstætekeit, / mit spotte und mit schalkeit (V. 1067–70; vgl. im Prolog auch V. 77f.). Bumke, Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme [Anm. 1], S. 480, Anm. 237; ähnlich S. 478f. Bumke nennt die Differenzierung in Anredeformen, in der höfischen Titulatur, im sprachlichen Zeremoniell der Begrüßung und in verschiedenen sprachlichen Formen, besonders gegenüber den Damen, als charakteristisch für die neue Qualität der höfischen Sprache. Vgl. auch ebd., S. 479, Anm. 233: »Die wichtigsten Kennzeichen der gesprochenen Hofsprache dürften Selektion (vor allem im Wortschatz), Komplexität (im Satzbau) und Fremdorientierung (französische Lehnwörter) gewesen sein. Ich halte es für möglich, durch eine vergleichende Untersuchung der direkten Reden in der höfischen Literatur, die ausdrücklich als Zeugnisse einer höfischen Sprechweise gekennzeichnet sind, einige Anhaltspunkte für die Prinzipien der gesprochenen Hofsprache zu gewinnen.« Er verweist damit nicht auf die neuen Formen der im eigentlichen Sinne dialogischen Interaktion zwischen den Sprechern. Vgl. auch von Moos, Zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit [Anm. 25], S. 305. S. Schwartzkopff, Werner, Rede und Redeszene in der deutschen Erzählung bis Wolfram von Eschenbach, Berlin 1909, Nachdruck New York, London 1970 (Palaestra 74), und insbesondere Schulte, Wolfgang, ›Epischer Dialog‹. Untersuchungen zur Gesprächstechnik in frühmittelhochdeutscher Epik (›Alexanderlied‹ – ›Kaiserchronik‹ – ›Rolandslied‹ – ›König Rother‹), Diss. Bonn 1970. Bumke, Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme [Anm. 1], S. 480, Anm. 237. Vgl. etwa Frommann, Karl (Hrsg.), Herbort’s von Fritslâr ›Liet von Troye‹, Quedlinburg, Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 5), V. 2732– 35: Sie vndergruzte[n] sich da / Mit so getane[n] worten / Die dar zv gehorten / Iegelich sine wise. Ähnlich verweist die didaktische Literatur immer wieder auf die Notwendigkeit des angemessenen Grüßens, s. z.B. Bezzenberger (Hrsg.), Fridankes ›Bescheidenheit‹ [Anm. 1], V. 44,27–45,1 u. 131,17–20; Winsbecke (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]), Str. 39,9f.; Winsbeckin (ebd.), Str. 5,5f. u. 44,8; Tauber (Hrsg.), Konrad von Haslau, ›Der Jüngling‹ [Anm. 1], V. 206f. S. zu den Begrüßungsformeln in der mittelhoch-

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und bringen eine generelle Wertschätzung für denjenigen zum Ausdruck, der als wol gespreche bezeichnet werden kann.43 Dieses fällt insbesondere im Trojaroman Herborts von Fritzlar auf, der zwischen 1190 und 1217 entstanden sein dürfte und für den somit die Kennzeichnung als ›frühhöfisch‹ in der Forschung umstritten ist. In diesem Werk wird für nahezu jeden Helden angegeben, welches sprachliche Verhalten ihn kennzeichne. So wird unter den G r i e c h e n Agomemnon als [s]tille vn[d] ernsthaft beschrieben (V. 2951; [e]r het ez mer an der kraft / Den er gespreche, V. 2952f.), obwohl er wenig später eine ausführliche Ansprache hält (V. 3434–70). Seine Beherrschung von [m]i[n]necliche[m] gruzze und [k]vrze[r] rede suzze (V. 2963f.) wird als weiteres Charakteristikum genannt. Menelaus hette harte gut wort (V. 2970); bei Patroclus wird bemängelt, dass er honsam ist (V. 2999); Ayax [h]ette suzze rede schone wort (V. 3002). Über Vlixes wird ausgesagt: Auch was sin zvnge / Wol gespreche vn[d] gerade / Daz enwas ni[m]mans schade / Er sprach gerne an daz recht (V. 3036–39); Diomedes ist [a]n den worte[n] […] balt (V. 3042), [h]arte gerne luge[n]lich / An den gelubede[n] mislich (V. 3045f.). Für Nestor gilt: Sine[n] fru[n]den er leide sprach / Swe[n]ne im dehein zorn geschach (V. 3067f.). Bei den Beschreibungen der männlichen Tr o j a n e r sind bei Herbort Hinweise auf die rhetorischen Fähigkeiten seltener. Jedoch fehlen auch hier Angaben zum sprachlichen Verhalten nicht: Troylus wird durch [m]inliche gruzze / Gute rede suzze gekennzeichnet

43

deutschen Literatur Bolhöfer, Walther, Gruß und Abschied in althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit, Diss. Göttingen 1912; Roos, Renate, Begrüßung, Abschied, Mahlzeit. Studien zur Darstellung höfischer Lebensweise in Werken der Zeit von 1150–1320, Bonn 1975; Fuhrmann, Horst, Willkommen und Abschied. Begrüßungs- und Abschiedsrituale im Mittelalter, in: Hartmann, Wilfried / Boockmann, Hartmut (Hrsg.), Mittelalter. Annäherungen an eine fremde Zeit, Regensburg 1993 (Schriftenreihe der Universität Regensburg NF 19), S. 111–139; vgl. auch Lebsanft, Franz, Studien zu einer Linguistik des Grußes. Sprache und Funktion der altfranzösischen Grußformeln, Tübingen 1988 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 217). Vgl. etwa Frommann (Hrsg.), Herbort’s von Fritslâr ›Liet von Troye‹ [Anm. 42], V. 391– 393: Eine[n] ritter er do nam / Der im zv bote[n] wol gezam / Gespreche vn[d] mit gute[n] siten. Vgl. auch Heinrich von Veldeke, ›Eneasroman‹, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1989 (RUB 8303 [10]), V. 8533 u. 8531: Drances wird als gezogenlîche, verwizzen unde redehaht beschrieben. Auch Wigalois (ca. 1208–20) wird dazu erzogen, mit zühten zu sprechen unde stên und den valschen man mit rede zu überwinden (Wirnt von Grafenberg, ›Wigalois‹ [Anm. 36], V. 1240 u. 1605). Vgl. zu diesem Themenkomplex anhand außerliterarischer Zeugnisse Bumke, Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme [Anm. 1], S. 480, Anm. 236: »Von Kaiser Friedrich I. wird berichtet, er habe gegenüber einer hochfahrend auftretenden Gesandtschaft ›in der Besonnenheit seiner Haltung und in der Liebenswürdigkeit seiner Rede königliche Haltung bewiesen und aus dem Stegreif sehr gewandt geantwortet‹ […]. Rahewin schrieb über Friedrich I.: ›In seiner Muttersprache ist er sehr redegewandt‹ […]. – Von Kaiser Otto IV. wird berichtet, daß die Fürsten, die im Jahr 1211 Gründe für seine Absetzung suchten, dafür seine ›rohen Sitten‹ namhaft machten, die sich besonders in seiner mangelnden Sprachkultur zeigten, da er ›Äbte als Mönche und ehrwürdige Frauen als Weiber bezeichnete‹ […]«.

Gesprächsnormen

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(V. 3193f.), Eneas ist [w]ol gespreche vn[d] wol gelart (V. 3213), Antenor konde sprache manic falt (V. 3224). Eine so differenzierte Trennung nach Geschlechtern, wie sie Thomasins Welscher Gast aufweist, wird hier nicht vorgenommen; zu Helena wird in Bezug auf ihre sprachlichen Fähigkeiten nichts ausgesagt, jedoch heißt es zu Brisis immerhin, sie sei [b]eide gespreche vn[d] wis (V. 3108).

Auch etwa die Notwendigkeit der Beherrschung des Zorns im Gespräch44 wird bereits in den frühhöfischen Erzähltexten dargestellt und teilweise mit wertenden Erzählerkommentaren versehen.45 Es zeigt sich in den frühhöfischen literarischen Werken außerdem ein wachsendes Bewusstsein von den Möglichkeiten der Gesprächslenkung. Lavinias Mutter etwa wird im Eneasroman Heinrichs von Veldeke vom Erzähler zwar als eine Sprecherin eingeführt, die eine Rede hält, wie sie es vil wole konde, / mit michelme sinne (V. 9746f.),46 und die anschließende, nach allen Regeln der Rhetorik aufgebaute Überzeugungsrede (V. 9749–88) gibt dem Erzähler in dieser Bewertung zunächst recht. Die Rede jedoch soll Lavinia davon überzeugen, ihre minne Turnus zu schenken, obwohl Lavinia noch gar nicht versteht, was minne bedeutet (V. 9799). Lavinias Mutter ist somit von den falschen Voraussetzungen bei ihrem ›Publikum‹ ausgegangen, sie missachtet, ze weme sie spricht, und so verfehlt ihre Rede die beabsichtigte Wirkung. Im nachfolgenden Gespräch (V. 9789–9990) zeigt sich unmissverständlich, dass die Mutter zwar von Rhetorik einiges versteht, nichts aber von Gesprächslenkung bzw. Dialogführung: Die Tochter Lavinia dominiert den Gesprächsverlauf nach der formvollendeten, aber erfolglosen Rede der Königin eindeutig, bis die Königin schließlich zornentbrannt das Zimmer verlässt. Insbesondere der erste deutschsprachige Artusroman, Hartmanns von Aue Erec, demonstriert programmatisch in pointierter Gegenüberstellung höfisches und nichthöfisches Sprechen, so z.B. in der Cadoc-Episode beim Gespräch zwischen Erec und

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45

46

Ein beliebiges Beispiel: Do zvrnte her Achilles / V[n]d sturte sich vnder des / daz er niht vbels sprach / Wizzet ir icht wie daz geschah / Er wolde gewis sin des / Daz her palimedes / Sin gewerp hette vernome[n] / Des was er ferre vnder kome[n] / Leide er im gedachte / Sin zorn (in) doch brachte / Ein teil vz der vart / Daz er vbel spreche[n]de wart (Frommann [Hrsg.], Herbort’s von Fritslâr ›Liet von Troye‹ [Anm. 42], V. 12213–24). Vgl. zur Warnung vor dem Zorn im Rahmen der didaktischen Literatur etwa Bezzenberger (Hrsg.), Fridankes ›Bescheidenheit‹ [Anm. 1], V. 60,9–12, 64,12f. u. 65,2f. (In zorne sprichet lîchte ein man, / daz wirste, daz er danne kan); Winsbecke (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]), Str. 24. Eine Zusammenstellung der vielen Passagen, in denen Figuren vom Erzähler entweder als zornlîche, mit michelme spotte, âne zuht oder als höveschlîchen, mit zühten, gezogenlîche, mit gezogenlîchen worten, zühteclîche sprechend dargestellt werden, fehlt bisher, ebenso wie eine Sammlung derjenigen Stellen, an denen die Figuren gegenseitig ihre verbalen Äußerungen kommentieren (ir sprechet wol / dû sprichest wol; zu überprüfen wäre, ob hier ausschließlich der Inhalt des Gesagten gemeint ist oder gelegentlich auch die Form). Heinrich von Veldeke, ›Eneasroman‹ [Anm. 43].

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den beiden gegen jede höfische Gesprächsnorm verstoßenden Riesen.47 Wiederholt seien hier lediglich die wichtigsten Aspekte: Die Lexik, die Verwendung bildhafter Rede, die komplexere Syntax sowie insbesondere die Explikation friedlicher Absichten und die Abschwächung der Illokutionsindikatoren bei den Direktiva (d.h. bei Befehlen und Aufforderungen)48 gehören zu den wichtigsten Bereichen, in denen sich programmatische Unterschiede zwischen den Dialogen in den älteren, vorhöfischen Erzähltexten und den neuen, höfischen Gesprächsnormen feststellen lassen. Das folgende Beispiel zeigt das vorbildlich-höfische Sprachverhalten der von Ginover zu Iders und seiner Gefolgschaft ausgeschickten Hofdame, kurz bevor sowohl diese als auch Erec vom Zwerg Maledicur mit der Peitsche geschlagen werden – auch hier kontrastieren die höfischen und die (als Beleidigung des Artushofes den Anstoß für die gesamte Handlung gebenden) unhöfischen Verhaltensweisen der Figuren in extremer Weise:

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40

mit zühten si zuo im sprach: »got grüeze iuch, geselle, und vernemet waz ich welle. mîn vrouwe hât mich her gesant, diu ist künegîn überz lant: durch ir zuht gebôt si mir daz ich iuch gruozte von ir, und weste gerne mære wer der ritter wære und disiu maget wol getân. muget ir mich daz wizzen lân, âne schaden ir daz tuot: mîn vrouwe vrâget wan durch guot.« (V. 31–43)

Die höfisch-höfliche Art der verbalen Auseinandersetzung, so zeigen diese und ähnliche Beispiele aus dem Erec, bemüht sich darum, die Illokution insbesondere direkti47

48

›Erec‹ von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler ›Erec‹-Fragmente, hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39), V. 5424–97. »Höfische rede ist für Hartmann Ausdruck einer inneren Qualität, die zwar durch die adlige Geburt als Disposition schon vorliegt, aber im Vorgang der Erziehung ausgearbeitet werden muß« (Wenzel, Die Zunge der Brangäne [Anm. 1], S. 359). S. hierzu ausführlicher Miedema, Nine, Höfisches und unhöfisches Sprechen im ›Erec‹ Hartmanns von Aue, in: Miedema, Nine / Hundsnurscher, Franz (Hrsg.), Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 181–201; Culpeper, Jonathan / Kádár, Dániel Z. (Hrsg.), Historical (Im)Politeness, Bern u. a. 2010 (Linguistic Insights 65). Die Abschwächung der Illokutionsindikatoren gehört zum Komplex der zunehmend differenzierteren Verwendung indirekter Sprechakte; s. Michel, Paul, Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede, Bern u.a. 1987 (Zürcher Germanistische Studien 3); von Moos, Die Kunst der Antwort [Anm. 28], S. 25–27.

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ver Sprechakte abzuschwächen bzw. zu verschleiern. Die Informationsfrage der Hofdame ist ihrer Illokution nach eine Aufforderung, ein Direktivum. Als Mittel zur Abmilderung der Aufforderung dienen die Verwendung der höflichen Anrede (im Mittelhochdeutschen das Ihrzen, s. V. 32 u.ö.: iuch), die Verwendung von bestimmten Partikeln und Adverbien (wie jâ, et, wol usw., hier ohne Nachweis), der Einsatz der Frageform statt des Imperativs49 sowie die Verwendung bestimmter Modalverben (V. 41: muget) und des Konjunktivs (V. 38: weste). Darüber hinaus werden auch hier die guten Absichten der Initialsprecherin explizit verbalisiert,50 und es wird betont, dass dasjenige, was eingefordert wird, die Beantwortung der Frage nämlich, für den Fragenden bzw. Befehlenden die Erfüllung eines Wunsches bedeuten würde (weste gerne, V. 38), während es gleichzeitig demjenigen, an den sich die Frage bzw. die Aufforderung richtet, nicht schaden würde (âne schaden ir daz tuot, V. 42). Es wird damit ein Normsystem höfisch-höflicher Umgangsformen entwickelt, das z.T. bis heute Gültigkeit hat; zu Hartmanns Zeit war dies noch so neu, dass in den Erzähltexten mit einigem Nachdruck auf die neuen Regeln hingewiesen werden musste. Eine solche auch sprachwissenschaftliche Analyse der Redeszenen in den literarischen Werken lässt erkennbar werden, was die didaktischen Werke kaum vorführen: Diese fordern zwar ein, man solle schône, mit zühten und rehte sprechen, führen jedoch nicht detaillierter aus, wie dies zu realisieren sei; die praktischen, wenn auch idealisierten Beispiele für ein solches höfisch-formvollendetes Sprechen lassen sich den höfischen Erzähltexten entnehmen. Gelegentlich findet sich jedoch auch in den didaktischen Werken ein Beispiel für die Anwendung der gerade skizzierten Höflichkeitsnormen. Dargestellt sei hier eine Passage aus dem Renner Hugos von Trimberg:

11535

11540

Sprêche ein man: ›Wol dan mit mir!‹ Ich sprêche ze hant: ›War wöllet ir?‹ Sprêch er: ›Ir müezet mit mir gên!‹ Ich sprêche: ›Sô wil ich hie bestên!‹ ›Nu gêt denne durch die liebe mîn!‹ ›Gerne, friunt, nu sol ez sîn!‹ Swem ich betwungen dienen sol, Dem diene ich selten immer wol. (V. 11533–40)51

Umschrieben wird hier weit vor der Entstehung einer eigentlichen Theorie des Sprachhandelns, dass die unvermittelte Aufforderung (das betwingen, vgl. V. 11539), hier in der verblosen, in ihrer Knappheit höchst autoritativen Form mit mir (V. 11533), zur Weigerung reizt: Der Aufforderung wird nicht stattgegeben, sondern sie führt zur 49

50 51

Die Frageform, die hier nur im Kommentar der Sprecherin über ihr eigenes, ihr von Ginover aufgetragenes Sprachhandeln (V. 43) bzw. in der indirekten Frageform (V. 39; vgl. V. 3516f.) sichtbar wird, lässt sich etwa mithilfe der Cadoc-Episode nachweisen (V. 5475). Vgl. hier neben dem Erzählerkommentar mit zühten, V. 31, in der Figurenrede durch zuht, V. 36, und mîn vrouwe vrâget wan durch guot, V. 43; vgl. auch V. 3519. Ehrismann (Hrsg.), Der ›Renner‹ von Hugo von Trimberg [Anm. 3].

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Gegenfrage (War wöllet ir?, V. 11534). Die erneute Aufforderung (kein Imperativ, sondern mit müezen umschrieben: Ir müezet, V. 11535) führt zu einer erneuten, expliziteren Verweigerung: Sô wil ich hie bestên! (V. 11536). Erst der Hinweis darauf, derjenige, an den sich die Aufforderung richtet, würde dem Auffordernden durch das Befolgen seines Hinweises einen Gefallen tun (durch die liebe mîn, V. 11537), bewegt den anderen dazu, dem Befehl [g]erne (V. 11538) Folge zu leisten. Die Illokution, die Intention, den anderen zum Mitkommen zu bewegen, ist die Gleiche, aber sie wird in der Formulierung Nu gêt denne durch die liebe mîn! (V. 11537) weniger explizit ausgesprochen als in Wol dan mit mir (V. 11533); erfolgreicher ist ein Sprecher, so führt dieses Beispiel vor, wenn er keinen zum dienen z w i n g t , sondern ihn allenfalls höflich um eine Sache b i t t e t , unter dem Verweis darauf, dass der andere ihm damit helfen könne, ohne seinerseits Gesichtsverlust zu erleiden. Solche Hinweise zeigen, wie mögliche Persuasionsstrategien auch in der d e u t s c h e n Sprache um 1200 immer differenzierter reflektiert werden: Demonstriert wird, dass nicht nur in monologischer Form durch Inhalte, Argumente und autoritativen Sprachduktus überzeugt werden kann, sondern auch durch eine höfliche und geschickte Form des Gesagten, in einem dialogisch entwickelten, bewussten Umgang mit antizipierten Reaktionen des Gegenübers. Nähere Untersuchung verdienen darüber hinaus diejenigen Passagen in den mittelhochdeutschen Epen, die Regeln für den Inhalt und den Ablauf von Gesprächen als Norm formulieren, welche in den zeitgenössischen deutschsprachigen didaktischen Werken nicht nachweisbar sind. Ein Beispiel dafür kann einer Szene aus Wolframs Parzival entnommen werden.52 Vorangegangen ist, dass Parzival, nach Auskunft des Erzählers tumpheit âne (179,23) und dennoch keinesfalls ein idealer Ritter, nach seinem Aufenthalt bei Gurnemanz nach Pelrapeire gekommen ist und Einlass begehrt hat, da er hofft, dort dienen zu können (vgl. 182,26).53 In der Burg beobachtet er die ausgemergelten Burgbewohner, die ihn schämlîche (185,21) empfangen54 52

53

54

Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung von Bernd Schirok, Berlin, New York 20032. Vgl. zu dieser Passage auch Ehlert, ›Ein vrouwe sol niht sprechen vil‹ [Anm. 1], S. 159f. Bereits Parzivals Rede zur Dienstmagd, die wie das Angebot eines Liebesdienstverhältnisses formuliert ist (182,25–28), stellt seinen Mangel an bescheidenheit unter Beweis; die magt wendet sich mit sinne an ihre Herrin (182,29) und demonstriert damit, dass ihr im Gegensatz zu Parzival sehr wohl bewusst ist, für welche Adressatin Parzivals Worte angemessen wären. Die Bewohner werfen ihm innerlich vor, Parzival hätte eine andere Unterkunft wählen sollen (der dûhte si anders wol sô wert, / daz er niht dörfte hân gegert / ir herberge als ez in stuont, 185,23–25); Parzival aber, so gibt der Erzähler an, sei die Not der Burgbewohner unkunt gewesen (185,26). Auch hier (s.u. S. 271–274) ist das Motiv vorhanden, dass Parzival nach seiner Begegnung mit Gurnemanz das situativ angemessene Fragen erlernen muss; vgl. außerdem das Gespräch zwischen Gawan und dem Fährmann Plippalinôt, aus dem hervorgeht, dass Parzival in Bezug auf Schastel marveil versäumt hat, die entscheiden-

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und dennoch ihr Bestes versuchen, mit Geschenken und einem Empfang bei ihrer Königin Condwîr âmûrs. Diese ist von solcher Schönheit, dass Parzival glaubt, Lîâze, die Tochter des Gurnemanz, vor sich zu haben.55 Der Erzähler kommentiert allerdings, nicht ohne Ironie, Lîâzen schœne was ein wint / gein der meide diu hie saz (188,6f.) und gibt damit an, dass es Parzival noch an bescheidenheit, an Urteilsvermögen, fehlt. Dies erhellt auch aus einem weiteren Erzählerkommentar: 15

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sîn manlîch zuht was im sô ganz, sît in der werde Gurnamanz von sîner tumpheit geschiet unde im vrâgen widerriet, ez enwære bescheidenlîche, bî der küneginne rîche saz sîn munt gar âne wort, nâhe aldâ, niht verre dort. maneger kan noch rede sparn, der mêr gein frouwen ist gevarn. (188,15–24)

Der Erzähler wiederholt damit, Gurnemanz habe Parzival keinesfalls generell verboten, Fragen zu stellen, sondern lediglich davor gewarnt, unbedacht (un-bescheidenlîche, 188,19) zu fragen, ohne sich vorher selbst ein Urteil gebildet zu haben;56 das Motiv spielt auf Munsalvaesche bekanntlich eine deutlich wichtigere Rolle, der Hinweis auf das angemessene vrâgen ist jedoch auch hier vorhanden und ist so Bestandteil einer der vielen Motivketten im Parzival.57 Parzivals Verhalten ist zwar auch in dieser Situation von zuht geprägt (188,15), aber seine Erfahrung bei Hofe und insbesondere mit höfischen Damen ist derart gering, dass er keine Gesprächseröffnung findet. Immerhin räumt der Erzähler zu Parzivals Verteidigung ein, bei Damen verschlage es sogar einem erfahrenen Mann häufig die Sprache, und flicht damit den Minnetopos des Verstummens angesichts der überwältigenden Schönheit der Geliebten ein – Par-

55 56

57

den Fragen zu stellen (559,19–30). Vergleichbar ist evtl. auch, dass Parzival erst nach mehrmaligem Ansatz das Formulieren angemessener Forderungen an Besiegte erlernt, s. etwa 197,30–199,14 (Kingrûn), 212,30–215,18 (Clâmidê) u.ö. In einer Gedankenrede äußert Parzival: Lîâze ist dort, Lîâze ist hie. / mir wil got sorge mâzen: / nu sihe ich Lîâzen, / des werden Gurnemanzes kint (188,2–5). Vgl. 171,17–24: irn sult niht vil gevrâgen: / ouch sol iuch niht betrâgen / bedâhter gegenrede, diu gê / reht als jenes vrâgen stê, / der iuch wil mit worten spehen. / ir kunnet hœren unde sehen, / entseben unde dræhen: / daz solt iuch witzen næhen. Zu diesem Themenkomplex s.o. Anm. 19 und u. Anm. 57 sowie Dietl, Cora, Die Frage nach der Frage. Das zweite SiguneGespräch bei Wolfram und Albrecht, in: Miedema/Hundsnurscher (Hrsg.), Formen und Funktionen von Redeszenen [Anm. 47], S. 281–295 (mit weiterer Literatur). S.o. Anm. 54 u. Anm. 56. Darüber hinaus benutzt Wolfram das Motiv der »fragenden Zuwendung« auch im Willehalm, s. Tomasek, Tomas, Legende und höfische Gesprächskultur. Überlegungen zum ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach, in: Frühmittelalterliche Studien, 32/1998, S. 182–195, hier S. 193f., das Zitat S. 194.

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zival scheint allerdings, trotz der Erinnerung an Lîâze, hier noch nicht von minne zu Condwîr âmûrs ergriffen zu sein. Parzivals Schweigen verunsichert Condwîr âmûrs. In einer lebhaften, durch die Selbstwiderrufe in Teilen nahezu dialogisch gestalteten Gedankenrede versucht sie, seine ›taciturnitas‹ zu interpretieren, weit vor Paul Watzlawick offenbar bereits von der Annahme ausgehend, dass man nicht n i c h t kommunizieren könne und dass Parzivals Schweigen somit eine kommunikative Bedeutung habe: 25

30 189,1

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10

Diu küneginne gedâhte sân »ich wæn, mich smæhet dirre man durch daz mîn lîp vertwâlet ist. nein, er tuotz durch einen list: er ist gast, ich pin wirtîn: diu êrste rede wære mîn. dar nâch er güetlîch an mich sach, sît uns ze sitzen hie geschach: er hât sich zuht gein mir enbart. mîn rede ist alze vil gespart: hie sol niht mêr geswigen sîn.« zir gaste sprach diu künegîn: »hêrre, ein wirtîn reden muoz. ein kus erwarp mir iwern gruoz, ouch but ir dienst dâ her în: sus sagte ein juncfrouwe mîn. des hânt uns geste niht gewent: des hât mîn herze sich gesent. hêrre, ich vrâge iuch mære, wannen iwer reise wære.« (188,25–189,14)

Condwîr âmûrs zeigt sich somit zunächst unsicher in ihrer Interpretation des vom Erzähler als unbeholfen umschriebenen Kommunikationsverhaltens Parzivals: Sie befürchtet, dessen Schweigen drücke Ablehnung, ja Abneigung gegenüber ihrem dürren Körper aus (188,26f.). Daraufhin besinnt sie sich, dass Parzivals Verhalten möglicherweise als list (188,28) zu verstehen sei (zu übersetzen als kluges, vielleicht auch als taktvolles Verhalten), da es eigentlich der Gastgeberin obliege, ein Gespräch zu beginnen. So zitiert sie für sich die Konversationsregel er ist gast, ich pin wirtîn: / diu êrste rede wære mîn (188,29f.), eine Regel, die offensichtlich mit der generellen, oben zitierten Norm der weiblichen Zurückhaltung im Gespräch konfligiert. Sie überlegt, dass Parzival sie güetlîch (189,1) anschaue und möglicherweise aus zuht (189,3) schweige, um ihr den Vortritt im Gespräch zu lassen, und so beschließt sie letztlich: [H]ie sol niht mêr geswigen sîn (189,5). Als ob sie sich selbst Mut einreden müsste oder als ob sie die Verlegenheit durch den Verweis auf allgemeingültige Normen aufheben könnte, wiederholt sie Parzival gegenüber als erstes diese Konversationsregel: [E]in wirtîn reden muoz (189,7). Sie verweist darauf, dass sie aufgrund des Begrüßungskusses und des Dienstangebotes davon ausgehe, dass Parzival ihr freundlich gesonnen sei,

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und fordert damit die von Parzival unterlassene explizite Verbalisierung wohlwollender Intentionen ein. Nach dieser Aufforderung zur gegenseitigen Bestätigung friedlicher Absichten stellt sie, die Verlegenheit überwindend, eine der in mittelalterlichen Zeugnissen immer wieder begegnenden Standardfragen der Konversation: [I]ch vrâge iuch mære, / wannen iwer reise wære (189,13f.).58 Die Szene zeigt, dass Condwîr âmûrs auf Pelrapeire zumindest einige Grundregeln höfischen verbalen Verhaltens gelernt hat, die hier als Allgemeingut präsentiert werden (und deren Gültigkeit etwa in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg bestätigt wird, auch wenn sie in der deutschsprachigen didaktischen Literatur nicht alle nachgewiesen sind).59 Sie kann auf einen Grundstock von mehreren Verhaltensregeln

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Bereits in den Kasseler Glossen (uuanna pist dū?) und im Althochdeutschen Gesprächsbüchlein (Guane cumet ger, brothro?) gehört diese Frage zu den ersten, die die Texte enthalten (s. Braune, Wilhelm / Helm, Karl, Althochdeutsches Lesebuch, Tübingen 199417, S. 8f.; 10. Jahrhundert). Zur Konversation in diesen althochdeutschen Texten aus linguistischer Sicht s. zuletzt Kilian, Jörg, Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen 2005 (Germanistische Arbeitshefte 41), S. 45. Vgl. im Hochmittelalter ähnlich Frommann (Hrsg.), Herbort’s von Fritslâr ›Liet von Troye‹ [Anm. 42], V. 906–909: Die frauwe [= Medea] in frage[n] begu[n]de / Waz sin gewerp were / Dannoch fragete sie mere / Waz er wolde in daz lant; V. 3545–48: Do vndergruzte[n] sie sich / Gute[n] tag got mi[n]ne dich / Anchilles fragete in mere / Wen vn[d] wer er were. – Zu den spätmittelalterlichen Gesprächsbüchlein, die teilweise ähnliche Gesprächseröffnungen vorgeben, vgl. Streckenbach, Gerhard, Stiltheorie und Rhetorik der Römer im Spiegel der humanistischen Schülergespräche, Göttingen 1979; Bodemann, Ulrike / Grubmüller, Klaus, Schriftliche Anleitung zu mündlicher Kommunikation. Die Schülergesprächsbüchlein des späten Mittelalters, in: Keller, Hagen u.a. (Hrsg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 177–193; Stein, Elisabeth, Philipp von Ferrara, ›Liber de introductione loquendi‹. Ein geistliches Erzählbuch des Spätmittelalters, in: Zymner, Rüdiger u.a. (Hrsg.), Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber, Köln 2000, S. 137–148; Glück, Helmut u.a., Deutsche Sprachbücher in Böhmen und Mähren vom 15. Jahrhundert bis 1918. Eine teilkommentierte Bibliographie, Berlin, New York 2002. Zur Regel, die Gastgeberin habe das Gespräch zu eröffnen, s. ›Der Trojanische Krieg‹ von Konrad von Würzburg [Anm. 36], V. 8048–56: [M]an sol die geste frâgen / und mit in reden etewaz, / sô kunnent si sich deste baz / an fremder stat verslihten / und ûf daz dinc verrihten, / dar nâch si werben danne. / ez gît dem vremden manne / trôst unde rât, wan man im sich / mit worten machet heimelich; vgl. V. 8039–43: [T]rût herre, tugentrîcher helt, / lânt mir niht werden hie gezelt / vür ein dörperîe daz, / ob ich mit iu red etewaz, / dâ von iu kurz diu stunde wirt. S. auch Kragl (Hrsg.), Ulrich von Zatzikhoven, ›Lanzelet‹ [Anm. 36], V. 815f.: [M]it swaz rede siu in an kam, / des antwurt er, als ez zam. Teske, Thomasin von Zerclaere [Anm. 6], S. 126, bespricht Beispiele aus den provenzalischen Verhaltenslehren dafür, dass die Gastgeberin sich nicht zurückzuziehen habe, wenn Gäste im Haus sind (ähnlich der Welsche Gast, V. 391f.); anhand solcher allgemeineren Regeln ließe sich in provenzalischen Verhaltenslehren nach Entsprechungen für die von Condwîr âmûrs zitierte Konversationsnorm suchen. – Olef-Krafft, Felicitas (Hrsg.), Chrétien de Troyes, ›Le Roman de Perceval‹ ou ›Le Conte du Graal‹. ›Der Percevalroman‹ oder ›Die Erzählung vom Gral‹, Altfranzösisch/

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zurückgreifen, der ihr im ›sprachlichen Zeremoniell‹ Halt gibt, wenn sie die Regeln situativ richtig anzuwenden weiß.60 Dies unterscheidet sie von Parzival, der ohne höfische Sozialisation aufgewachsen ist und eine nur rudimentäre (und von Parzival zudem falsch angewandte und verabsolutierte) Gesprächslehre von Gurnemanz erhalten hat. Auch in späteren Gesprächen wird sich Parzival noch mehrfach ausgesprochen ungeschickt verhalten – nicht nur in Bezug auf die Erlösungsfrage, sondern auch in anderen, weniger lebenswichtigen Gesprächssituationen. Dies unterscheidet ihn deutlich vom verbal mit einem Höchstmaß an Geschick und Takt agierenden Gawan oder auch vom Parzival in Bezug auf die Gesprächsführung weit überlegenen Trevrizent.

IV. Verhältnis von Norm und Individualität Das zuletzt besprochene Beispiel ist deswegen von besonderem Interesse, weil die Regel, die Gastgeberin sei für den Anfang (und den weiteren Verlauf?) des Gesprächs verantwortlich, in der deutschen didaktischen Literatur nicht nachgewiesen ist. Das Beispiel zeigt darüber hinaus, dass die Didaktiker die Grenzen des Idealen teilweise deutlich restriktiver definierten als die literarischen Texte. Folgt man den überlieferten deutschsprachigen didaktischen Schriften, so habe die Frau zu schweigen, es sei denn, sie werde etwas gefragt (s.o., S. 257); folgt man Hartmann, Gottfried, Wolfram, Konrad oder anderen Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts, so zeigt sich, dass die Spielräume der höfischen Dame (zumindest im literarischen Idealbild) durchaus größer waren. Nicht nur die Damen, auch die Ritter verstoßen in den literarischen Werken nicht gerade selten gegen die etwa von Thomasin aufgestellten Konversationsre-

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Deutsch, Stuttgart 1991 (RUB 8649), V. 1856–83, beschreibt die gleiche Szene deutlich kürzer, ohne Gedankenrede und ohne explizite Verbalisierung von Konversationsregeln: Et la damoisele atendoit / Qu’ il l’araisnast de coi soit, / Tant qu’ele vit tres bien et sot / Que il ne li diroit ja mot, / S’ele ne l’araisnoit avant. / Lors dist molt debonairemant: / ›Sire, dont venistes vos hui?‹ (V. 1877–83). Wolfram verfährt somit auch hier sehr frei mit seiner Vorlage und macht die mittelalterlichen Vorstellungen von Höflichkeit in Konversationszusammenhängen expliziter deutlich. Dass auch Condwîr âmûrs die höfischen Verhaltensregeln nicht in idealer Weise befolgt und in dieser Hinsicht Parzival durchaus vergleichbar ist, zeigt sich wenig später, als sie zu Parzival ins Schlafzimmer kommt, um ihn um Hilfe zu bitten (192,1–196,8) – der Erzähler muss ihr unschuldiges, aber durchaus falsch interpretierbares Verhalten hier (wie oben bei Parzival) mit einigem Aufwand rechtfertigen. Mit dem Zitat der Konversationsregel wird Condwîr âmûrs’ Unerfahrenheit als Herrscherin in den Vordergrund gerückt: Ihr innerer Konflikt bezüglich des angemessenen sprachlichen Agierens ergibt sich aus den oben, S. 257, bereits zitierten Differenzen in den Regeln für Mädchen und erwachsene Damen ([E]in juncvrouwe sol selten iht / sprechen, ob mans vrâget niht. / ein vrowe sol ouch niht sprechen vil, / ob si mir gelouben wil; Welscher Gast, V. 465–468).

Gesprächsnormen

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geln – z.B. indem sie sich des Spottens61 oder des Lügens62 schuldig machen, ohne dass dafür irgendwelche (nach Auskunft der didaktischen Werke zu erwartenden) Sanktionen folgen. Das Gesamtbild, das sich aus dem Vergleich der Konversationsregeln der didaktischen und der literarischen Texte ergibt, weist somit einige Diskrepanzen auf. Es fragt sich abschließend, wie sich solche Differenzen zwischen den normativ-didaktischen und den idealisierend-literarischen Werken interpretieren lassen. Die didaktischen Texte propagieren die Konsolidierung einer sozialen Elite, die höfische Sozialisation, und damit eine gewisse Anpassung an (auch sprachliche) Normen. Solchen Gesprächsnormen, so prekär sie im 12. und frühen 13. Jahrhundert noch sein mögen, wohnt eine entindividualisierende Kraft inne. Durch die Gesprächsnormen grenzt sich eine exklusive Gemeinschaft Gleichgesinnter aus, innerhalb derer keiner an seinen Ohren, d.h. an seiner Sprache, als Esel erkannt werden will. Innerhalb dieser Elite führt der Anspruch einer Normierung der Sprache dazu, dass sich

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Der Winsbecke unterscheidet die verschiedenen Formen des Spottes insofern, als hier vor unbescheiden spot gewarnt wird, und impliziert damit, dass bescheiden spot erlaubt sei (in: Leitzmann (Hrsg.), ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1], Str. 27,3). Bestätigt wird dies in den Erzähltexten, in denen der Spott dann die Zustimmung der Erzähler findet, wenn ihn der Verspottete verdient hat: so etwa bei Keie (›Iwein‹. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hrsg. von G[eorg] F[riedrich] Benecke und K[arl] Lachmann, neu bearb. von Ludwig Wolff, siebente Ausgabe, Bd. 1, Text, Berlin 1968, V. 2587–2600); vgl. dazu Unzeitig, Monika, Die Kunst des ironischen Sprechens: Zu den Keie-Szenen in Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein, in: Unzeitig / Miedema / Hundsnurscher (Hrsg.), Redeszenen [Anm. 7], S. 255–272. In einigen Fällen stimmen zwar die intradiegetischen Figuren dem Spott zu, entwickelt sich jedoch eine gewisse dramatische Ironie daraus, dass sie nicht erkennen, unbescheiden spot geäußert zu haben. Vgl. etwa In behagete der spot wol, Frommann (Hrsg.), Herbort’s von Fritslâr ›Liet von Troye‹ [Anm. 42], V. 2280: (Zu Unrecht) verspottet wird Elenus, der sich dagegen ausspricht, Helena zu rauben. Panthus tadelt Priamus wegen dieses Spottes, wird jedoch von den anderen Figuren nicht gehört. S. zu diesem Themenkomplex von Moos, Die Kunst der Antwort [Anm. 28], S. 29f. Positiv bewertet wird zunächst ein gewisses Maß der Verstellung, s. Jones, Martin H., ›Durch schoenen list er sprach‹. Empathy, Pretence and Narrative Point of View in Hartmann von Aue’s ›Erec‹, in: Chinca, Marc / Heinzle, Joachim / Young, Christopher (Hrsg.), Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, Tübingen 2000, S. 291–307. Auf die Gefahr, dass die Verstellung, die der oben beschriebenen Verschleierung von Illokutionen ähnlich ist, der Lüge verwandt sein kann, wird insbesondere in der Hofkritik im 16. Jahrhundert hingewiesen, jedoch finden sich kritische Bemerkungen diesbezüglich auch bereits im 13. Jahrhundert; vgl. etwa Bezzenberger (Hrsg.), Fridankes ›Bescheidenheit‹ [Anm. 1], V. 49,23f., 49,25–50,5 u. 131,17–20; Tirol und Fridebrant (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]), Str. 39; Winsbeckin (ebd.), Str. 17 u. 44; Ehrismann (Hrsg.), Der ›Renner‹ von Hugo von Trimberg [Anm. 3], V. 743–750, 864–866, 1127–34 u. 14481–84; Tauber (Hrsg.), Konrad von Haslau, ›Der Jüngling‹ [Anm. 1], V. 177–190. Vgl. aber von Moos, Die Kunst der Antwort [Anm. 28], S. 28f., zur » ›tolerierbaren‹ Lüge« (Zitat S. 28).

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ein Mindestmaß (bzw. Mittelmaß) von Normen entwickelt; dieses wird insbesondere in den didaktischen Werken schriftlich fi xiert. Die Epik bestätigt zwar einerseits diese exklusive Gruppenzusammengehörigkeit, zitiert somit ihrerseits die gleichen Normen. Andererseits eröffnet sich jedoch, auch in sprachlicher Hinsicht, den intradiegetischen Figuren ein Freiraum, der sich aus der Exzeptionalität des Helden oder der Heldin ergibt, die ein Spiel mit den Normen erlaubt. Singularität, als konstitutives Merkmal eines jeden Helden, eines jeden literarischen Protagonisten, bestätigt die Norm als Folie für die a n d e r e n , indem der Held bzw. die Heldin selbst die Norm überschreitet. Bei zunehmender Differenzierung der (teilweise widersprüchlichen) Sprachregeln gewinnt die situativ richtige Auswahl aus den Regeln an Bedeutung, ggf. auch der situativ richtige V e r s t o ß gegen die Regeln. So kann es dem Helden textintern erlaubt werden, im Gespräch zu zürnen, zu spotten, zu lügen, falsche Versprechen zu machen usw., zumindest insofern er damit das Gesamt höfischer Gesellschaftsstrukturen nicht gefährdet.63 Die literarischen Werke bestätigen somit den Kanon kulturkonstituierender Verhaltensnormen zwar, diskutieren jedoch gleichzeitig für die Protagonisten die Möglichkeiten individuell normabweichenden Verhaltens.64 So scheinen sich die Erzähltexte, anders als die didaktischen Schriften, auf drei Ebenen mit der normativen Kraft von Gesprächsregeln auseinanderzusetzen: 1. Auf einer sehr basalen Ebene stellen die literarischen Texte Gesprächsnormen auf bzw. bestätigen diese: in den im Rahmen der Erzählhandlung zitierten Fürsten-

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Eines der wenigen konsequent eingehaltenen Konversationstabus scheint das Vermeiden des Selbstlobs zu sein. Bekanntlich führt diese Maxime allerdings in Strickers Daniel von dem Blühenden Tal zeitweise zu einer Lähmung aller Befreiungsbemühungen um Artus, vgl. Resler, Michael (Hrsg.), Der Stricker, ›Daniel von dem Blühenden Tal‹, 2., neubearb. Aufl., Tübingen 1995 (ATB 92), V. 7143–86; im Guoten Gêrhart Rudolfs von Ems ist sie die Grundlage für die paradoxe Rahmenerzählung, die vom bescheidenen Gêrhart verlangt, dass er Kaiser Otto gegenüber seine eigenen lobenswerten Taten darstellt (s. Asher, John A. [Hrsg.], Rudolf von Ems, Der guote Gêrhart, 3. durchgesehene Aufl., Tübingen 1989 [ATB 56]). Möglicherweise verkörpern insbesondere die Nebenfiguren die normkonformen Verhaltensweisen im mittelalterlichen Gespräch, vgl. die Hinweise zur positiv bewerteten Hofdame Ginovers auf S. 268f. (und im Erec außerdem die Rede des Knappen in V. 3515–40 bzw. die negativ beurteilte Sprechweise der Riesen, V. 5429–97). Überraschend wird aus dem Iwein Lunete, die zwischen Haupt- und Nebenfigur changiert, die Grenzen des für eine Hofdame angemessenen sprachlichen Agierens mehrfach zu überschreiten scheint und deswegen im Parzival scharf kritisiert wird (436,6: gæher bete, 436,10: râte gar ze fruo), als einziges positives literarisches Vorbild in der Winsbeckin genannt (in: Leitzmann [Hrsg.], ›Winsbeckische Gedichte‹ [Anm. 1]), Str. 11. Vgl. ›Iwein‹ [Anm. 61], V. 1783–99, und Zimmermann, Tobias, Den Mörder des Gatten heiraten? Wie ein unmöglicher Vorschlag zur einzig möglichen Lösung wird – der Argumentationsverlauf im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns ›Iwein‹, in: Miedema/Hundsnurscher (Hrsg.), Formen und Funktionen von Redeszenen [Anm. 47], S. 203–222.

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lehren bei Rudolf von Ems etwa, die mit dem Welschen Gast und anderen didaktischen Werken übereinstimmen, oder auch in den sonst gelegentlich bezeugten Regeln, wie sie etwa Condwîr âmûrs zitiert. Diese Regeln aus den Texten herauszufiltern ist ein Forschungsdesiderat: Nur so wird sichtbar, welchen kleinsten gemeinsamen Nenner von Gesprächsnormen das Mittelalter kannte. In diesem Sinne haben auch die mittelalterlichen Erzähltexte normative Funktionen und Ansprüche. Es fällt allerdings auf, dass solche Regeln in den Erzähltexten vornehmlich dort zu finden sind, wo es um die Erziehung j u n g e r Protagonisten geht. 2. Es eröffnet sich eine zweite Ebene dadurch, dass in den Erzähltexten Dialogbeispiele gegeben werden. Vorbildliches Grüßen, vorbildliche Konversation beim geselligen Zusammensein, verbale Höflichkeit und hövescheit bzw. verhandlungstaktisches Geschick (Gesprächsstrategien) werden von den Figuren vorgelebt und sollen zur Imitation anregen. Da die Beispiele jeweils situativ gebunden sind, erheben sie eine andere Art des Anspruchs auf Normativität: Sie setzen eine Übertragungsleistung seitens des Rezipienten voraus. Nicht selten sind es Nebenfiguren, die sich verbal vorbildlich falsch (wie Keie oder die Riesen) oder vorbildlich richtig verhalten (wie Ginovers Hofdame in ihrer Anrede Maledicurs), und nicht selten wird gerade dieses sprachliche Verhalten vom Erzähler kommentiert. Auch die gegenseitige Bewertung des sprachlichen Verhaltens seitens der intradiegetischen Figuren liefert weitere Hinweise darauf, welche Vorstellungen vom idealen Sprechen die Autoren vertraten. 3. Die dritte Ebene ist die der Singularität bzw. Exzeptionalität, die es erlaubt, sofern es die Sache erfordert, bewusst gegen die Norm zu verstoßen. Sie ist selbst weder normativ (da sie die Norm bricht) noch vorbildlich (da sie nur dem Außergewöhnlichen zusteht). Sie bestätigt durch ihre individuelle Prägung die Norm, die a n d e r e (einschließlich der Rezipienten der Texte) einzuhalten haben. So erlaubt der Erzähler Tristan und Isolde zu lügen, dem Truchsessen aber nicht; so steht es Artus zu, durch doppeldeutige Suggestivfragen ein Rechtsurteil über die Schwestern vom Schwarzen Dorn herbeizuführen; so wird es Willehalm erlaubt, in Zorn zu sprechen. Durch dieses Spiel mit der Exzeptionalität des Helden wird die Norm, die für die Nicht-Exzeptionellen gilt, umso deutlicher erkennbar. Sowohl die didaktischen als auch die literarischen Texte des Hochmittelalters liefern Bausteine zum Verständnis des sich allmählich herausbildenden Kanons mittelalterlicher Gesprächsnormen. Es zeichnet sich ab, dass jenseits der individuellen Vorlieben einzelner sowohl didaktisch als auch literarisch orientierter Autoren zumindest gewisse Basiswerte erarbeitet werden können, sei es in Bezug auf die Form sprachlicher Äußerungen (wie anhand der Höflichkeitsmaximen gezeigt) oder bezüglich deren Inhalte oder auch in Bezug auf die Beeinflussung eines Gesprächsverlaufs. Bewusst zu halten ist, dass die Normativität solcher Regeln eine relative ist: Wie ›die‹ Menschen im 13. Jahrhundert tatsächlich gesprochen haben mögen, ist mit diesen Methoden nicht zu ermitteln65 – ein zukünftiges Forschungsziel sollte aber sein, das 65

Vgl. von Moos, Die Kunst der Antwort [Anm. 28], S. 23f.

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ideale Selbstbild bzw. Vorbild für die mittelalterlichen Formen der Kommunikation detaillierter zu rekonstruieren. Schwierig ist es dabei, für die literarischen Texte zwischen allgemeingültigen (tatsächlich normativen) Regeln und dem nur dem Helden zugestandenen normabweichenden Gesprächsverhalten zu differenzieren; nicht immer geben die Erzählerkommentare eindeutig vor, wie die einzelnen Dialogbeiträge der Protagonisten zu bewerten sind. Es erscheint jedoch gewinnbringend, den skizzierten Weg zu einer Beschreibung der höfischen Sprache, als eines wesentlichen Bestandteils des höfischen Selbstverständnisses insgesamt, weiter zu verfolgen.

Gerhard Wolf (Bayreuth)

Paradoxe Normativität? Ambivalenzen des Normierungsprozesses in der didaktischen Literatur des 13. Jahrhunderts (Seifried Helbling, Der Jüngling, Der Magezoge)

I. Normativität und Paradox Bei jedem pädagogischen oder didaktischen Entwurf stellt sich die Frage nach der Letztbegründung der ihm zugrunde liegenden Normen. Da man diese Problematik erkenntnistheoretisch allein nicht bewältigen kann, bedarf es anderer Strategien: Wer die Normen mittels religiöser Dogmen und Glaubenssätze begründet, hat dabei noch am wenigsten Widerstand zu gewärtigen, zumindest bei Rezipienten, deren Glaube an den göttlichen Ursprung von Normen unerschüttert ist. Bei Agnostikern keimt hingegen die Frage nach der Überlieferung des göttlichen Willens oder nach dessen richtiger Interpretation auf und droht das jeweilige Normensystem in Zweifel zu ziehen. Eine rein innerweltliche, soziologische oder psychologische Begründung von Normen ist erst recht prekär, weil eine Nachprüfung ihrer Praktikabilität und Wirkung in der Vergangenheit oft zu ihrer Erschütterung führte. Hält man die Vernunft des Einzelnen für die letzte Entscheidungsinstanz über die Geltung und Anwendbarkeit von Normen, dann muss zugestanden werden, dass die subjektive Vernunft auch zu ganz anderen Ergebnissen kommen kann. Da außerdem jede Normativität Machteffekt erzeugen will, müssen die Sanktionen an den Letztbegründungen orientiert sein. Jenseitige Strafen, der Verlust des ewigen Heils wirken wiederum nur bei denjenigen, die ihren Glauben an das Jüngste Gericht nicht aufgegeben haben. Soziale oder psychologische Konsequenzen aus Fehlverhalten sind zwar der Vernunft eher zugänglich, aber wie alle weltlichen Strafen von begrenzter Akzeptanz. Lehren, die unmittelbar auf das diesseitige Verhalten der Angesprochenen einwirken wollen, sehen sich ferner mit einem Widerspruch, den man als das ›Erziehungsparadox‹ bezeichnen könnte, konfrontiert: Ihr Anspruch ist universalistisch, trifft aber auf eine Vielfalt menschlicher Lebensformen, denen ihre je eigenen Schicksale, ständischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten eingeschrieben sind und aus denen heraus abweichende Ansichten formuliert werden. Einer abstrakten Normativität steht schließlich die normative Kraft des Faktischen gegenüber, die ganz konträre Beobachtungen hervorrufen kann. Insofern trägt jeder normative Ansatz seine eigene Paradoxie bereits in sich. Die Diskussion um die Begründung und den Geltungsanspruch von Normativität hat – wie die Auseinandersetzung um Michel Foucaults antinormativistische Theorie zeigt – bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Ihre Wurzeln reichen bis in die

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Antike zurück, sie ist auch dem 13. Jahrhundert vertraut mit dem Streit um das Verhältnis von Glauben und Vernunft, zwischen Augustinus- und Aristoteles-Rezeption, ihr Widerhall findet sich in zeitgenössischen didaktischen Texten, in denen die Letztbegründung der vermittelten Normen nicht allein aus der Religion geleistet wird, sondern in denen die Autoren der Vernunft einen eigenständigen Platz geben, wenn sie psychologische, soziale, alltagspragmatische Gründe für die Einhaltung der Normen vorbringen und die Sanktionen als innerweltliche beschreiben. Damit gewinnen die betreffenden Texte einen Diskussionsfreiraum und im Vergleich mit den abstrakten, religiös begründeten Normen eine alltagspragmatische Verbindlichkeit, umgekehrt aber handeln sie sich die Paradoxien der Vernunft ein. In der Literatur des Spätmittelalters hat dieser Prozess seinen Niederschlag in der Weise gefunden, dass die Bewältigung von Alltagssituationen mittels rationaler Klugheit zum Gegenstand der Texte wird. Als paradigmatisch hierfür gelten die Texte des Strickers, in denen die Intelligenz der Protagonisten entscheidend für die Problembewältigung ist. Als Ziel einer derartigen »Laienunterweisung«1 gilt die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Der Schritt zu einer subjektbezogenen und vernunftorientierten pragmatischen Normativität wird dabei nicht vollzogen, an die Stelle einer religiösen Norm tritt lediglich ein aus weltlichen und geistlichen Normen bestehendes Ordo-Modell, das sich jedoch nicht präzise definieren lässt, sondern als Schibboleth einer nicht näher definierten oder auch nur greifbaren Gesellschaftsideologie und als Kontingenzformel2 mit dem Code ordogemäß/nicht-ordogemäß verwendet wird. Mangels einschlägiger Quellen wird die Ordo-Vorstellung einer Gesellschaft jeweils aus dem zu interpretierenden Text abgeleitet, was abgesehen von der Gefahr eines Zirkelschlusses nur dann überhaupt einigermaßen widerspruchsfrei funktioniert, je abstrakter, literarisch autonomer – und damit meist auch: ästhetisch anspruchsvoller – die Texte sind. Umso mehr jedoch ein Text soziale, rechtliche, religiöse oder politische Normen konkretisiert und expliziert bzw. sich an ihnen abarbeitet, desto weniger scheint bei seiner Interpretation das angebliche Verhältnis eines Textes zu einem außerliterarischen, abstrakten Ordo-Modell noch ein tragfähiger Ansatz zu sein, weil man ständig auf der einen Seite der Gleichung mit der unbekannten Größe ›ordo‹ operieren muss. Die Vorstellung, die volkssprachigen Texte des 13. Jahrhunderts würden einen überständischen, universellen Geltungsanspruch erheben, also eine eigenständige

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Ragotzky, Hedda, Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers, Tübingen 1981 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1), S. 243f. Zum Begriff der Kontingenzformel vgl. Luhmann, Niklas, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 147. Zur Anwendung des Begriffs auf die höfische Literatur vgl. Wolf, Gerhard, ›daz der vil tugendhafte crist / wintschaffen alse ein ermel ist‹ – Gott als Kontingenzformel im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, in: Ritter, Werner H. / Kügler, Joachim (Hrsg.), Gottesmacht. Religion zwischen Herrschaftsbegründung und Herrschaftskritik, Berlin 2006 (Bayreuther Forum Transit 4), S. 89–109.

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Laientheologie abbilden, überfordert zumindest jene kleineren didaktischen Texte, die auf der Suche nach Normen sich an deren Paradoxien abarbeiten. Dazu zählen auch Paradoxien der Literarisierung: Normative Texte müssen Ambivalenzen ausblenden, um überhaupt Wirkung zu entfalten, hingegen tendiert eine explizite Lehre auf ästhetisch niedrigem Niveau zu einer Unbestimmtheit, die der Konkretisierung der Normen und ihrem Anwendungspotenzial in der Realität des Alltags entgegensteht. Des Weiteren kann man in den Texten von einem ›Beobachtungsparadox‹ sprechen: Eine Ethik, die mit dem Code der Moral operiert, d.h. etwas als gut oder als schlecht bezeichnet, muss beides als Einheit betrachten, denn in der Norm kommt das Ausgeschlossene immer mit zum Vorschein. Die Voraussetzung des Unterscheidens3 zwischen Gut und Böse als Grundbedingung der Normbildung führt indessen zu einer anderen Paradoxie, nämlich »dass man nicht entscheiden kann, ob die Unterscheidung von gut und böse ihrerseits gut oder böse ist.«4 Eine mögliche Form, dieser Paradoxie zu entfliehen, genauer: sie zu bearbeiten, ist die Dogmatik, eine andere die Kunst oder die Auslagerung des Problems in die Transzendenz bzw. die Religion.5 Der Versuch, in den didaktischen Texten eine Ethik zu systematisieren, führt schließlich auch deswegen in die Aporie, weil dadurch Bruchstellen und Widersprüche zwischen den einzelnen Normen erst recht sichtbar werden und die Komplexität dort erhöht wird, wo sie eigentlich reduziert werden soll. Eine Ursache hierfür liegt darin, dass jeder Ethik die Letztbegründung fehlt; insofern überzeugt sie niemals alle, und ein Autor ist gezwungen, dieses Dilemma mit in Rechnung zu stellen, wenn er seine Normen in irgendeiner Weise rational begründen will. Im Folgenden werde ich anhand von drei Beispielen versuchen zu analysieren, wie die Autoren am Ende des 13. Jahrhunderts mit diesen Paradoxien umgehen und ob sie bereits Gegenstand der Reflexion werden. Ausgewählt wurden Texte, die sich nicht etwa wie der Welsche Gast des Thomasin von Zerklaere ausschließlich an religiösen Normen orientieren oder die wie die Spruch- und Priameldichtung kaum längere

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Nach Niklas Luhmann ist alles Beobachten, Erkennen und Handeln paradox fundiert, da es auf Unterscheidungen basiert, die es operativ einsetzen, aber nicht als Einheit reflektieren kann; vgl. Luhmann, Niklas, Sthenographie, in: ders. u.a. (Hrsg.), Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien?, München 1990 (Materialität der Zeichen, Reihe A, 3), S. 119–137, bes. S. 123. Filipović, Alexander, Niklas Luhmann ernst nehmen? (Un-)Möglichkeiten einer ironischen Ethik öffentlicher Kommunikation, in: Debatin, Bernhard / Funiok, Rüdiger (Hrsg.), Kommunikations- und Medienethik. Grundlagen – Ansätze – Anwendungen, Konstanz 2003, S. 83–95, hier S. 86. Damit ist nicht die althergebrachte Ansicht wiederholt, wonach Religion die Lösung von Problemen bietet, die die Logik nicht lösen kann, sondern die durch Beobachtungen erzeugten Paradoxien werden im Religionssystem behandelt bzw. invisibilisiert: »Religion ist der exemplarische Vollzug dieser Paradoxierung/Entparadoxierung, wenn immer sich dazu ein Anlaß bietet« (Luhmann, Religion [Anm. 2], S. 137).

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Gerhard Wolf

zusammenhängende Gedanken bieten, sondern in denen sowohl ein ästhetischer Anspruch wie auch der Versuch, sich an dem Erziehungsparadox – dem Widerspruch zwischen der Vielfalt menschlicher Natur und der Formulierung einer allgemein gültigen Ethik – abzuarbeiten, erkennbar wird.

II. Das VII. Gedicht der Seifried-Helbling-Sammlung Als erstes Beispiel wähle ich das VII. Gedicht der sogenannten Seifried-HelblingSammlung.6 Die 15 Einzeltexte eines anonymen österreichischen Autors, die in den letzten beiden Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts entstanden sind, greifen konkrete politische Ereignisse und soziale Missstände auf; eine konkrete Ordo-Vorstellung als ideologischer Fixpunkt oder auch nur ein einheitlicher Interessenstandpunkt des Textes konnte bislang nicht eindeutig herausgearbeitet werden. Das VII. Gedicht eignet sich für eine Analyse von Normativität nicht nur wegen der darin enthaltenen Allegorie und Allegorese mit einem Anspruch auf Zeichendeutung, sondern weil hier auch ein expliziter Lehranspruch erhoben wird und der Text selbstreferentielle Elemente aufweist. Insofern ist das VII. Gedicht ein besonders markanter Zeuge des Formierungsprozesses des spätmittelalterlichen Normenverständnisses. Dem Aufbau des VII. Gedichts liegt eine klare und systematische Konzeption zugrunde: A1 B1

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Prolog Bericht des Ich-Erzählers

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Seemüller, Joseph (Hrsg.), Seifried Helbling, Halle/S. 1886, S. 238–279. Eine neuere Ausgabe der Sammlung ist Desiderat. Das VII. Gedicht ist von der Forschung noch weitgehend unbeachtet geblieben, jüngere Sekundärliteratur zu der Seifried-Helbling-Sammlung bzw. zur darin enthaltenen Lucidarius-Gruppe bieten Liebertz-Grün, Ursula, Seifried Helbling. Satiren kontra Habsburg, München 1981, wieder abgedruckt in: dies., Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300. Studien zu Ottokar von Steiermark, Jans Enikel, Seifried Helbling, München 1984 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 5), S. 11–70; Wolf, Gerhard, Die Kunst zu lehren. Studien zu den Dialoggedichten (›Kleiner Lucidarius‹) der ›Seifried Helbling‹-Sammlung, Frankfurt/M., Bern, New York 1985 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B, Untersuchungen 26); Vogt, Dieter, Ritterbild und Ritterlehre in der lehrhaften Kleindichtung des Stricker und im sog. Seifried Helbling, Frankfurt/M., Bern, New York 1985 (Europäische Hochschulschriften I, 845); Hangler, Reinhold, Seifried Helbling. Ein mittelhochdeutscher Dichter aus der Umgebung des Stiftes Zwettl, Göppingen 1995 (GAG 623); Cuadra, Inés de la, Diskurse über soziale Mobilität im Spiegel von Fiktion und Historie: Die ›Bauernszene‹ im ›Renner‹ Hugos von Trimberg (V. 1309–2280) und das achte Gedicht der ›Seifried Helbling‹-Sammlung (SH VIII, 1–410), in: ZfdPh, 119/2000, S. 75–97.

Paradoxe Normativität?

C

B2 B3 A2

Psychomachia c1 Gespräch der Tugenden / Fehdeankündigung b1 Erste ›Zwischeneinkehr‹ des Ich-Erzählers c2 Die Aufstellung der Heere b2 Zweite ›Zwischeneinkehr‹ des Ich-Erzählers c3 Kampf und Bannung der Laster Heimkehr des Ich-Erzählers Reflexion über die Wirkung von Lehre Epilog

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32–1130 32–204 205–245 246–481 482–499 500–1130 1131–39 1140–1246 1247–63

Bereits der Prolog (A1) thematisiert das grundlegende Spannungsverhältnis von weltlicher und geistlicher Wahrheit, indem jene Gestalt, die in der mittelalterlichen Literatur einerseits als die höchste Autorität menschlicher Weisheit gilt, andererseits auch die Grenzen weltlichen Wissens verkörpert: König Salomon.7 In diesem Spannungsbogen zwischen einer intellegiblen Normativität und einer transzendenten Wahrheit steht jede mittelalterliche Erziehungslehre, wobei der Autor unterschiedliche Lizenzen für beide Bereiche besitzt.

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›Aller wîsheit anevanc ist gotes vorhte sunder wank‹ sprach der wîse Salomôn: ob ich in unwîsheit won, daz wend an mir, herre Krist, sît dûz diu wâre wîsheit bist. geruoche mîner sinne pflegen, ich hân ein mære für ze legen, daz iz wol verstendic sî, den die mir nâhen sitzen bî. got man nennet alsus: mirabilis deus, daz sprichet: wunderlîcher got; sîn wille werd mir ein gebot: ich wil sîner wunder zellen einez besunder. (VII, V. 1–16)

Mit der Salomon-Reminiszenz und dem unmittelbar daran anschließenden Bescheidenheitstopos, der das Eingeständnis einer begrenzten Lehr- und Dichtungskompetenz des Ichs anzeigt, thematisiert der Prolog ein Dilemma, das auch für die BispelLiteratur8 signifikant ist: Da nur Christus diu wâre wîsheit ist, nicht jedoch der weltliche Herrscher Salomon und schon gleich gar nicht das Erzähler-Ich, kann die Norm und ihre Realisierung nicht definiert werden; vielmehr muss sich der Text auf die Erzählung eines wunders beschränken und dessen Deutung seinen Rezipienten 7 8

Vgl. Ragotzky, Gattungserneuerung [Anm. 1], S. 173–181. Vgl. ebd., S. 168–220.

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überlassen. Wenn das Erzähler-Ich sich im Gegensatz zu dieser Ankündigung dann doch nicht auf die Verständnisleistung seines intendierten und realen Publikums (V. 10) verlassen will, sondern am Ende des Textes als derjenige auftritt, der im Besitz der Wahrheit ist und der die Kompetenz besitzt, das mære zu deuten (V. 1140–1246),9 dann wird zum einen die angemessene indirekte Vermittlung von Normen, wie sie etwa der Stricker in seinen Mären entwickelt hat,10 zu einem zentralen Thema des Gedichts, zum anderen aber auch das Wesen von Normativität angesprochen. Der Erzähler reklamiert dabei nicht die wâre wîsheit für sich,11 mit der konditionalen Konjunktion ob (V. 4) ergeht vielmehr auch die implizite Aufforderung an den Zuhörer zur kritischen Prüfung der Grenze zwischen unwîse und wîse. Damit wird die Kunst von der Religion getrennt, eine theologische Aussage ist nicht geplant, der religiöse Horizont bleibt als Legitimation erhalten. Poetologisch wird also mit einer Unterscheidung begonnen, durch die Kunst erst möglich wird, indem sie in einen Freiraum zwischen Religion und Alltagspragmatik eintritt.12 Auf den Prolog folgt eine ›Spaziergangseinleitung‹ (B1), für die sich der Erzähler aus dem Inventar der Minnerede bedient:13 An einem Maimorgen gelangt das Ich zu einem minneredentypischen ›locus amoenus‹, wo es ein Gespräch zweier Frauen – rasch identifiziert als die Personifikationen von triuwe und wârheit – belauscht (c1). Beide geben vor, Österreich wegen des allgemeinen Sittenverfalls verlassen zu haben, und bieten jeweils ein konkretes Beispiel für den beklagten Moralverfall. Die Wârheit berichtet von einem Priester, der die Sakramente gegen Geld vergibt und damit – wie

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Dies entspricht der Argumentation in dem Bispel Die Weisheit Salomons, in dem sich der Autor ebenfalls nicht auf das Funktionieren der Allegorie verlässt und in dem er seine Weisheit über die des Königs Salomon stellt (vgl. Ragotzky, Gattungserneuerung [Anm. 1], S. 173–181). Siehe dazu Ragotzky, Gattungserneuerung [Anm. 1], bes. S. 133–137. Die Anbindung des Gedichts an die wâre wîsheit ist notwendig, weil sich der Autor mit der Psychomachie eines Stoffes bedient, der im Mittelalter eine ausgeprägte Tradition als geistliche Allegorie besitzt und nicht als Ständelehre gestaltet ist (vgl. Jauß, Hans Robert, Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung, in: ders. [Hrsg.], Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. VI,1, Heidelberg 1968, S. 146–244, hier S. 218, wieder abgedruckt in: ders., Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976, München 1977, S. [154]–[218], hier S. [192]). Zum Verhältnis zwischen ›weltlicher‹ und geistlicher Allegorie vgl. Glier, Ingeborg, Artes amandi. Untersuchungen zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden, München 1971 (MTU 34), S. 416–422. Angesichts der Komplexität des zu behandelnden Themas wird von den Autoren stillschweigend vorausgesetzt, dass nur Gott es vollständig ›beobachten‹ kann. Für die Übernahme des Psychomachie-Stoffes im Hauptteil des VII. Gedichts bedeutet dies, dass die typologische Bedeutung der allegorischen Figuren zurücktritt und die Psychomachie für eine innerweltliche Normdiskussion frei geworden ist. Angesichts der dynamischen Stofftradition der Psychomachie ist dies nicht überraschend (vgl. Jauß, Entstehung und Strukturwandel [Anm. 11], S. 217–224). Vgl. Glier, Artes amandi [Anm. 12], S. 394–399.

Paradoxe Normativität?

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bereits Joseph Seemüller14 bemerkt hat – gegen ein Gebot der St. Pöltener Synode von 1274 verstößt. Dieses Fehlverhalten wird zwar als Betrug an der Bescheidenheitsmaxime des heiligen Bernhard gekennzeichnet, aber davon ausgehend wird das in Apg 8,5–24 thematisierte Problem des Verkaufs der göttlichen Gnade grundsätzlich behandelt:

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er louc an sant Bernhart – owê daz sîn ie gedâht wart! – sant Paul und sant Augustîn: die rieten fleisch und guoten wîn, grôziu brôt zem alter tragen; zem sibenten und zem jârtage und ze der bevilde solt man wesen milde mit opfer und mit sêlgeræt: und swer des niht entæt, der wær in dem banne, von wîben und von manne – ›dâ von kumt er niht lîhte. phenninc von der bîhte sol er frumiclîchen geben, wil er kristenlîchen leben; man sol den kinden koufen chresem unde toufe, daz heilic öle gelten wol. sô ich die wârheit sagen sol, wir phaffen haben veile iu allen zeinem heile den wâren gotes lîchamen: des dürft ir iuch niht enschamen. swaz ir uns phaffen êren tuot, diu miet ist bezzer danne guot, dâ iuch got wirt umbe geben in daz êwige leben.‹ (VII, V. 71–98)

Hier gelingt die Normsetzung, weil mit dem heiligen Paulus und dem heiligen Augustinus zwei Instanzen benannt werden können, die klare Vorgaben aufgestellt hätten,15 und vor allem im Neuen Testament der Verkauf von gotes lîchamen indirekt eindeutig bewertet ist. Vor allem aber ist eine Beurteilung des falschen Verhaltens des Pfarrers möglich, weil dieser sich ganz unverschämt von der Norm abgrenzt (V. 83), 14 15

Seemüller, Joseph (Hrsg.), Seifried Helbling [Anm. 6], S. 364, Anm. zu V. 84ff. Als rechtmäßig wird die Versorgung des Priesters mit Fleisch, gutem Wein, einem großen Brot sowie am siebten Tage nach einer Beerdigung und an Jahrestagen mit einer extra Gabe angesehen. Wenn jedoch zusätzlich noch Geld für die Beichte und für die Taufe verlangt wird, dann ist der zulässige Rahmen überschritten (Seifried Helbling VII, V. 74–82).

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konkrete Forderungen erhebt und offen den Verkauf der Gnade anbietet – sein Verstoß gegen die Norm also beobachtbar ist. Paradoxerweise formuliert der Priester ähnlich wie Simon Magus seine Forderung klar, und insofern ist es von innerer Folgerichtigkeit, wenn die Wârheit dieses Beispiel erzählt. So fragwürdig der Bezug auf die angeblichen Normen des Paulus und Augustinus auch erscheinen mag, so einleuchtend scheint die Normsetzung in einem Bereich, der weder für den Autor noch für sein Publikum selbst prekär ist, weil er außerhalb ihrer eigenen Lebensrealität angesiedelt zu sein scheint. Normsetzung funktioniert demnach dort, wo Fehlverhalten offenkundig, kein Widerstand zu fürchten ist und keine impliziten Paradoxien bearbeitet werden müssen. Ganz anders verhält es sich bei dem zweiten Beispiel, das von der Triu vorgetragen wird und sich komplementär zu dem ersten mit dem Adelsstand (V. 110–126) befasst. Dem ›geistlichen Beispiel‹ entspricht, dass auch dem Adligen bei seinem Normbruch jedes Schuldbewusstsein abgeht: Er hält sich für getriu, wartet aber in Wirklichkeit nur auf eine Gelegenheit, seinen adligen Standesgenossen zu schädigen. Beide Einleitungsbeispiele sind Exempel der Sünde der Heuchelei (Mt 23,1–36): Der Priester gibt vor, die Sakramente zu verwalten, der adlige Herr täuscht Freundschaft und vorbildliche Normerfüllung vor, dabei geht es ihnen nur um finanziellen Gewinn und die Schädigung ihrer Mitmenschen. Explizit thematisiert wird im zweiten Beispiel jedoch die Beobachtbarkeit. Die Triu weist nämlich darauf hin, dass von der Außenwelt die Intention eines Menschen nicht zu beobachten ist, aber er selbst und der Teufel sehr wohl beobachten, wie ez umb sîn herze sî (V. 125). Indirekt wird damit auf das biblische Urteilsverbot angespielt, das die Rezipienten insofern entlastet als nicht sie, sondern der Teufel mit der Ahndung des Fehlverhaltens beauftragt wird. Offenbar will der Autor seine Rezipienten damit vor zwei Trugschlüssen bewahren: Weder kann man aufgrund des beobachteten Verhaltens auf die Intention schließen, noch soll die Einhaltung der Normen zur Überheblichkeit gegenüber denen führen, die dagegen verstoßen. Die Sünde der ›superbia‹ ist demnach als eine paradoxe Folge von Normsetzung und -erfüllung dem Autor gewärtig. Das Gespräch zwischen Wârheit und Triu wird durch den Boten Wankelbolt unterbrochen, der den Tugenden im Namen der Laster den Krieg erklärt. Eine Entscheidungsschlacht wird in acht Tagen auf die Ebene von Triebensee bei Wien festgelegt. In der Zwischenzeit begibt sich der Ich-Erzähler nach Hause (b1), um dann rechtzeitig zum Kampf zu kommen. Ein Engel, der auf seine Bitten hin erscheint (c2), erklärt ihm die Aufstellung der einzelnen Heere, erläutert ihm die einzelnen Laster und welche Verhaltensweisen sie bei den Menschen auslösen. Nach einer vom Erzähler in einem Graben verschlafenen Nacht (c3) beginnt die Schlacht. Anders als bei der Vorgeschichte (c1) bezieht sich der Autor für die Darstellung direkt auf die spätantike Stofftradition. Dabei dürfte ihm aufgrund ihrer weiten Verbreitung die erste Verarbeitung des Stoffes, die Psychomachie des Prudentius,16 geläu16

Cunningham, Maurice P. (Hrsg.), Aurelii Prudentii Clementis Carmina, Turnhout 1966

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fig gewesen sein. Im Zentrum dieses christlichen Epos steht die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, hier literarisiert als Kampf der Seele, die mithilfe Christi letztlich obsiegt. Prudentius gibt »dem urchristlichen Thema vom Ringen der Seele mit dem Leib (Gal. 5,17), aber auch den dämonischen Geistern personenhafte Gestalt, vor deren Macht der Mensch in der Finsternis dieser Welt zu bestehen hat.«17 Tugenden und Laster sind in den Zweikämpfen der Schlacht einander antipodisch zugeordnet, womit jeweils die widerstreitenden Kräfte im Menschen, die die Personifikationen verkörpern, sichtbar werden. Da der Ausgang des Kampfes feststeht, ergibt sich für den Autor das Problem, in den vorgezeichneten Ablauf epische Spannung zu integrieren. Dazu bedient er sich der Figur der Luxuria, die occiduis mundi de finibus hostis18 »auf dem Höhepunkt der Schlacht Verwirrung in den Reihen der Tugenden« stiftet.19 Prudentius überrascht nach Ende des Kampfes noch mit der Verletzung der Concordia durch die Discordia20 – ein Element, mit dem die Fortdauer der Gefahr suggeriert wird.21 In den mittelalterlichen Stoffbearbeitungen wird dann gegenüber Prudentius stärker der Kampf um die Seele herausgehoben. Eine solche spirituelle Ebene besitzt das VII. Gedicht der Seifried-Helbling-Sammlung nicht. Sofern sich der Autor des VII. Gedichts überhaupt einer konkreten Vorlage bedient hat, steht diese dem Jean de Blois zugeschriebenen Le tournoiement d’enfer aus der Mitte des 13. Jahrhunderts nahe,22 wo das Thema ebenfalls mit Gesellschaftskritik verbunden wird. Im Gegensatz dazu verzichtet der Seifried-Helbling-Autor auf jede weitergehende symbolische Ausgestaltung des Kampfes: Weder gehen die Laster – wie im Tournoiement d’enfer – an den Folgen der von ihnen verkörperten Affekte zugrunde, noch schlagen die Tugenden – wie bei Rutebeuf – in Laster um.23 Wie im Tournoiement d’enfer werden im VII. Gedicht die Laster in die Alltagsrealität des Publikums ›überführt‹,24 ausgespart werden hingegen der blutige Kampf und die grausame Tötung der Laster.25 Diese ergreifen vielmehr schon beim bloßen Anblick der Tugenden die Flucht. Sie werden gefangen genommen und dann bis zum Endgericht in den Vertreter eines

17 18 19 20 21 22 23 24 25

(Corpus christianorum, Series latina 126); Die Psychomachie des Prudentius, lateinisch – deutsch, mit 24 Bildtafeln nach Handschrift 135 der Stiftsbibliothek zu St. Gallen, eingeführt und übersetzt von Ursmar Engelmann, Basel, Freiburg, Wien 1959; zum Sieg der Sobrietas über die Luxuria vgl. V. 309–406. Jauß, Entstehung und Strukturwandel [Anm. 11], S. 216. Die Psychomachie des Prudentius [Anm. 16], V. 310. Jauß, Entstehung und Strukturwandel [Anm. 11], S. 216. Die Psychomachie des Prudentius [Anm. 16], V. 665–693. Die grausame Tötung der Laster durch die Tugenden birgt bereits einen paradoxen Effekt in sich (vgl. auch Jauß, Entstehung und Strukturwandel [Anm. 11], S. 216). Ebd., S. 222. Ebd. Vgl. dazu die Bannung der Laster in einzelne Stände (Seifried Helbling VII, V. 741–1050). Eine deutliche Reminiszenz an den Kampf um die Rettung der Seele bei Prudentius bietet u.a. Seifried Helbling VII, V. 316–327.

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Standes oder einer Untugend, der für das von der jeweiligen Personifikation bezeichnete Laster besonders repräsentativ ist, verbannt: die Valschheit etwa in einen korrupten Richter, die Lüge in einen Pferdehändler, der Nît in einen Bauern, die Gîtikeit in den Pfarrer, der nie genug bekommen kann; der Ritterstand wird nur für die Aufnahme eines Trunkenboldes herangezogen, dagegen die Ursünde der ›superbia‹ in einen römischen Kardinal verbannt, gemeint ist damit wahrscheinlich der Papst. In einem Fall greift das VII. Gedicht auf die schon in der französischen Tradition angelegte gesellschaftskritische Variante zurück: Ein Abt, vielleicht eine Anspielung auf Heinrich von Admont († 1297),26 kündigt der Heuchelei den Dienst auf, weil sie ihn zum Betrug an seiner Gemeinde verführt hat (V. 709–720). Dies ist jedoch eine Ausnahme, die nur den unerwarteten Ausgang des Kampfes, der nicht mit der Tötung, sondern mit der Bannung der Laster endet, vorbereitet. Die Funktion der Psychomachie im VII. Gedicht erläutert das Erzähler-Ich in der Wiederaufnahme der Rahmenhandlung: Nachdem der Ich-Erzähler den Kampf als Traum enthüllt hat (V. 1131–39), wird als Funktion der Erzählung ein konkreter methodologisch-didaktischer Nutzen für die magezoge genannt: Sie sollen ihrem Zögling die Allegorie erzählen und müssen dann bei einem entsprechenden Fehlverhalten ihres dann erwachsenen Eleven nur an den ›Verbannungsort‹ der jeweiligen Laster erinnern: So wäre das Wort ›Schiffer‹ die Chiffre für seine Arglist – eine Methode der Zeicheninterpretation, die an den Klugen Knecht des Strickers erinnert.27 Der Text will also zum einen Deutungskompetenz vermitteln, zum anderen auch eine ›Geheimsprache‹ zwischen Lehrer und Schüler begründen, die es dem magezoge ermöglicht, seine adligen Zöglinge – ob sie entwahsen sîm besem (V. 1153) – zu kritisieren, ohne gegen Standesnormen zu verstoßen. Bis zu dieser Stelle entspricht der Text ziemlich genau den Erwartungen, die man an die zeitgenössische Bispel- oder Märendichtung richten kann; die Zuhörer sollen durch die spezifische literarische Gestaltung zur Zeichendeutung bzw. zur Allegorese angeleitet werden, auf eine normative und explizite Festlegung von Verhaltensweisen wird deswegen verzichtet. Anders jedoch das VII. Gedicht: Hier wechselt der Text in den normativen Modus, wenn jetzt ein aus niun tugent bestehender Katalog geboten wird. Damit fällt der Text quasi einen Schritt hinter sein bisheriges Niveau der Allegorie zurück, wenn er explizit eine Norm für richtiges Handeln formuliert:

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26

27

ein junger ritter haben sol niun tugent, die ich nenne wol: diu êrste tugent sî im kunt, daz er got minn in aller stunt. zem andern mâl minn reiniu wîp,

Heinrich von Admont war als Landesverweser Herzog Albrechts I. 1292 maßgeblich an der Niederschlagung der Empörung des steirischen Adels beteiligt und dementsprechend als Verräter verhasst. Vgl. Ragotzky, Gattungserneuerung [Anm. 1], S. 85–89.

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daz ungevelschet sî ir lîp; des gewint er freud und sælde. guot ritter ûf dem velde zem dritten mâl nem wir für guot, zem vierten manlîch hôchgemuot, zem fünften êren wîse, zem sehsten triu ich prîse, zem sibenten wârhaft sîner wart, zem ahten milt in rehter vart, zem niunten mâl barmherzikeit, daz im der armen schade sî leit. swelch ritter nû die tugende hât, daz er sie volliclîch begât, ich nim iz ûf die triuwe mîn, er mac vor got ein ritter sîn. (VII, V. 1181–1200)

Aus welchem Grund auch immer der Autor den Modus wechselt – ob ihm eine Unterweisung ›ex negativo‹ als defizient erschien oder er der Deutungskraft seines Publikums nicht traute –, er handelt sich damit zwangsläufig Widersprüche ein sowie eine Diskussion um die Realisierungswahrscheinlichkeit dieser Normen, die er im allegorischen Teil vernachlässigen konnte. Ein erster Widerspruch besteht schon darin, dass sich einige der hier aufgeführten Verhaltensweisen überhaupt nicht in der Allegorie widerspiegeln, sondern völlig vereinzelt im Raum stehen. Dazu gehören die Frauenminne, Freigebigkeit, die Tapferkeit im Kampf oder der Aufruf zur Barmherzigkeit, der angesichts des vorherigen Kampfes die Frage nahelegt, ob diese auch gegenüber dem Laster angezeigt ist. Das Besondere des folgenden Textes ist es nun, dass dem Autor offenbar diese Problematik seines abstrakten Normenkatalogs selbst transparent gewesen ist. Wenn er nämlich im Folgenden einige dieser Maximen kritisch anhand der Realität prüft und damit deren Fragilität demonstriert, provoziert er zumindest Kritik hinsichtlich der Aufstellung universalistischer Normen. Es sind vier Argumente, die nicht nur gegen Erziehung, sondern gegen jede Normativität sprechen: 1. Realitätsfremdheit Ein derartiger Normenkatalog ist schon allein deshalb fragwürdig, weil es in Österreich nicht einmal 30 Ritter gibt, die diese neun Tugenden besitzen. 2. Implizite Gefahr der Normbefolgung Noch schwerer wiegt die Gefahr, dass jemand, der sich an kollektiven Normen orientiert, gegenüber denjenigen, die ihre subjektiven, an ökonomischen Kriterien orientierten Interessen verfolgen, das Nachsehen hat. Der Text exemplifiziert dies ausgerechnet am zentralen adligen Wert der ritterschefte:28 Derjenige, der sich im 28

Dazu gehört auch die Überwindung der Zagheit, die für den Selbstmord des Judas verantwortlich gemacht wird (V. 295–301). Gleichzeitig verleiten aber ritterlicher Mut und die Orientierung an dieser adligen Norm zu unüberlegten Handlungen.

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Turnierkampf bewähren will und seine Lehen als Pfand einsetzt, muss damit rechnen, alles an den ›Güterfresser‹ zu verlieren:

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ich weiz den ritter, des getât ouch wol niun tugende hât: mit bû, mit guot behalten, mit gewinnen manicvalten hât er ritterlîchen muot. wer hât veil zwei lêhenguot, der stapf gên im ûf den rinc: er sticht den selben jüngelinc, ez sî im liep oder zorn, daz diu lêhen sint verlorn. (VII, V. 1207–16)

Die Norm der ritterlichen Bewährung genügt also den Ansprüchen der Realität nicht mehr – und implizit ist damit auch die Gültigkeit der anderen Tugenden zur Diskussion gestellt. 3. Paradox der Lehre Belehrung bedeutet Kritik, Kritik aber immer eine Ablehnung des Kritisierten. Daraus folgt eine Reziprozität der Ablehnung. Dieses Dilemma kann nur Gott auflösen: 1220

1225

got herr, ân missewende, habe mich baz in dîner pfleg: ich suoche bêdenthalp die weg, nû zeig mir nâch der mitte! mir gevellet kûm der dritte, so gevall ich dem vierten niht: dar an mir vil reht geschiht. (VII, V. 1220–26)29

4. Professionelle Grenzen Der Autor versucht, die magezoge zu belehren, muss aber zugestehen, von diesen nicht ernst genommen zu werden, weil er nicht ihrem Berufsstand angehört (V. 1228–31). Letztlich scheinen beide Lehrmethoden, mit Allegorese oder mit normativen Sätzen, wirkungslos zu bleiben. Erstere scheitert daran, dass die Deutung der Zeichen durch die Erzieher vermittelt werden muss, diese aber dem ›Fachfremden‹ kein Gehör schenken. Unmittelbare Normativität dagegen verwickelt sich sofort in Widersprüche mit der Realität, wird paradox und verspricht damit erst recht keine Aussicht auf Wirksamkeit. Dieses Gegeneinander von Realität und Norm bezieht sich aber nicht nur auf die abstrakte Normvermittlung, sondern hat auch Einzug in die Psychomachie

29

Wenn das Ich selbst jeden dritten Ritter nur als standesmäßig adäquat akzeptiert, dann hat es zur Folge, dass nur jeder vierte ihn selbst auch zu schätzen weiß (Seifried Helbling VII, V. 1217–26).

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gefunden. Wenn der Ich-Erzähler nach der Kriegserklärung eine ›Zwischeneinkehr‹ (b1) in sein Haus einfügt, dabei das Gespräch der Tugenden als eine reale Handlung reflektiert und verwundert bemerkt, er habe noch nie Jungfrauen gesehen, die sich nach den Tugenden benannt hätten, dann wird diese Form der Erzählung und Normvermittlung ironisiert. Nicht anders ist es bei der zweiten ›Zwischeneinkehr‹ (b2), wo der Ich-Erzähler angesichts des anstehenden endzeitlichen Kampfes zwischen Tugend und Laster völlig ungerührt bleibt. In scharfem Kontrast zu dem heilsgeschichtlichen Ereignis schildert er ausführlich die Zutaten seines Abendessens und fällt dann in einen so tiefen Schlaf, dass er fast den Beginn des Kampfes versäumt. Indem die Alltagsrealität ihr Recht gegenüber der ästhetischen und hochartifiziellen Allegorese behauptet, wird auch die Fragwürdigkeit einer solchen Form von indirekter Unterweisung sichtbar. Der literarische ›Vollzug‹ der Normen in der Allegorie befriedigt zwar ästhetische Ansprüche, er unterläuft aber gleichzeitig den Bezug zu einer Welt, in der die Anwendung dieser Normen schon durch die Konfrontation mit der Alltagsrealität der Rezipienten dementiert, zumindest eingeschränkt wird. So bleibt dem Autor am Ende des Textes nur die Resignation: Didaxe wirkt nicht – weder als Normenkatalog noch als Allegorie. Der Grund dafür ist anthropologischer Natur: Während die Jugend zu dumm ist, den Sinn von Normen zu begreifen, ist das Alter zu faul bzw. hinsichtlich ritterlicher Bewährung bereits zu geschwächt, um die Normen zu realisieren. Aus der Resignation des Autors spricht aber auch die Einsicht, dass Normen nur dann wirken, wenn sie für den Einzelnen rational begründet sind. Da der Einzelne aber hier wesentlich in seinem ständischen Kontext oder in seiner augenblicklichen emotionalen Befindlichkeit gefangen bleibt, muss der Autor das Paradox der êre letztlich auch in die Transzendenz auslagern. Wenn ein an den Tugenden orientiertes Leben die Gewähr für das ewige Leben gibt, dann ist es schließlich auch rational, sich auf Erden daran zu orientieren.

III. Konrad von Haslau, Der Jüngling Will man das VII. Gedicht der Seifried-Helbling-Sammlung mit zeitgenössischen didaktischen Texten vergleichen, drängt sich Der Jüngling des Konrad von Haslau30 deswegen auf, weil der Seifried-Helbling-Autor diesen sonst nicht bekannten Autor als meister im II. Gedicht seiner Sammlung31 erwähnt (II, V. 443). Ähnlich wie im VII.

30

31

Tauber, Walter (Hrsg.), Konrad von Haslau, Der Jüngling. Nach der Heidelberger Hs. Cpg. 341 mit den Lesarten der Leipziger Hs. 946 und der Kalocsaer Hs. (Cod. Bodmer 72), Tübingen 1984 (ATB 97). Übersetzung und Kommentar des Textes bietet Heidt, Erwin, Konrad von Haslau: Der Jüngling. Übersetzung – Kommentar – Interpretation, Diss. Karlsruhe 2000, S. 50–124. Vgl. dazu Wolf, Die Kunst zu lehren [Anm. 6], S. 68–106.

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treten im II. Gedicht im Rahmen einer Gerichtsverhandlung die Tugenden als Kläger auf und behandeln die angeblichen Missstände in Österreich. Wenn an einer Stelle die Wârheit dazu auffordert (II, V. 440–450), die zuvor geschilderten Laster für Konrad von Haslau aufzuzeichnen, und ihm empfiehlt, sie für eine weitere Bußstrafe zu verwenden, dann ist dies ein Hinweis auf den Ursprung der vom Seifried-HelblingAutor verwendeten Idee der Charakterisierung und anschließenden Bestrafung der Laster. Eine weitere Reverenz könnte der Umfang des VII. Gedichts sein, der fast auf den Vers genau dem des Jüngling entspricht.32 Der literarische Kerngedanke von Konrads Text ist eine Unterweisung junger Adliger durch einen Erzieher. Dieser zählt einzelne Vergehen gegen Recht, Sitte und göttliches Gebot in loser Folge auf und belegt jeden – sei es Schüler, Erzieher oder Herr –, der gegen eine Norm verstoßen hat, mit einer Sanktion. Meistens handelt es sich dabei um eine Pfennigbuße, bei besonders schweren Vergehen wird mehr verlangt, selten die Buße erlassen oder gar darauf verzichtet, weil mit Geld der Verstoß nicht wiedergutzumachen sei. Der Autor konzentriert sich zunächst vornehmlich auf äußere Normen, er nennt genaue Vorschriften zur Körperhygiene, zum Haarschnitt, dem Auftreten in der Öffentlichkeit und dem richtigen Benehmen am Hof (V. 55–202).33 Je mehr sich der Autor mit der konkreten Umsetzung idealen Verhaltens befasst, desto mehr setzt er sich mit der Ambivalenz solcher Forderungen und mit konkreten Widersprüchen, die seitens des Publikums erhoben werden können, auseinander. Die Lehre wird zum Dialog. So scheint auf den ersten Blick – wie in anderen zeitgenössischen Lehren auch – die Warnung vor der Spielsucht (V. 285–452) jeder Diskursivierung entbehren zu können, weil im Spätmittelalter angesichts des Vordringens einer frühbürgerlichen, ökonomischen Rationalität jedes Hasard ausgeschlossen werden muss. Dem steht jedoch eine positive Seite der Spiele entgegen: Sie sind ein beliebter gesellschaftlicher Zeitvertreib und fördern die auch vom Autor als wichtiges Element adliger Vergesellschaftung betrachtete Kommunikation (V. 373–379), sofern der spielerische Wettstreit nicht zum ernsthaften Konflikt wird. Allerdings ist die Grenze zwischen dem einen und anderen nicht zu ziehen, und deswegen schweigt der Text dazu. Schließlich steht der Warnung vor dem Würfelspiel die Aussicht auf großen, überraschenden Gewinn entgegen, was der Autor mit dem beiläufigen Hinweis auf die schnelle Verflüchtigung jedes Spielgewinns zu erledigen versucht: waz er schock silbers ie gewan / daz muz er allez wider geben (V. 404f.). Hinter dem Rücken des Textes kommen so die psychologischen Gründe, die für das Spiel sprechen (Erlebnis, Spannung, Gewinn), zur Geltung. Noch ausführlicher geschieht dies bei der Behandlung des Alkoholgenusses. Diesen lehnt er nicht pauschal ab, nennt sogar akzeptable Gründe dafür, überlässt aber die Entscheidung darüber dem Rezipienten (V. 475–514): Tru32 33

Wenn man das Amen, mit dem das VII. Gedicht schließt, als eigene Zeile zählt, sind die Texte sogar genau gleich lang. Vgl. dazu im Jüngling auch die praktischen Regeln zur ›Tischzucht‹ (V. 516–626) und zur ›Hofzucht‹ (V. 627–740).

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ren und swer (V. 489) scheint ihm dabei als Grund ebenso akzeptabel zu sein wie gesellikeit (V. 501). Wie im VII. Gedicht sucht der Autor des Jüngling nach einer rational-alltagspraktischen Begründung seiner Normen und geht auf den konkreten sozialen Kontext und die Psychologie seines Publikums ein, wobei jedoch die Psychologisierung – wie zu zeigen sein wird – quer zur Normativität gerät. In der Forschung hat man die fehlende »straffe Durchführung« der Adelslehre kritisiert und als Norm eine aufsteigende Gliederung »vom Speziellen und Intimen zum Öffentlichen und Allgemeinen«34 reklamiert. Indessen sind die teilweise zirkuläre Argumentation, die Wiederholungen und Redundanzen durch das Prinzip der Dialogisierung der einzelnen Tugendlehren zu erklären. Auf die Darstellung defizienten Verhaltens folgt des Öfteren eine Erweiterung oder Diskussion des Themas, mit der auch die Problematik einer normativen Festlegung von Verhaltensweisen implizit unterstrichen wird. Aus diesem Grund kommt der Autor bei der Analyse der Gründe von Verhaltensweisen fast zwangsläufig wieder auf bereits behandelte Gedanken zurück. Ein Beispiel für eine solche Dialogisierung bietet etwa die Behandlung der Funktion der êre, die auch im Jüngling zentraler Inhalt adligen Handelns ist. Durch das unvermeidliche Streben aller nach Akkumulation von êre entsteht Konkurrenz, und deshalb muss sich der Autor im Anschluss daran mit der Frage befassen, wie mit den im Wettbewerb nicht unüblichen unlauteren Mitteln umzugehen sei (V. 125– 226). Als Lösung erscheint ihm die Schulung des Entscheidungsvermögens des Einzelnen, der nur so zwischen wahrem und falschem Verhalten seiner Umgebung differenzieren kann. Für den adligen Herrn ist diese Kompetenz unverzichtbar: Wenn er demjenigen, der nur scheinbar Dienst leistet, denjenigen vorzieht, der seinen Dienst zurückhaltend, aber zuverlässig versieht, dann wird auch dieser in seinem Dienst nachlässig werden (V. 217f.). Der Autor verlässt sich also nicht auf die Wirkung einer einfachen Maxime, wonach Belohnung dem geleisteten Dienst folgen muss, sondern es kommt auf die Überprüfung der Qualität der Leistung und die Intention an. Des Weiteren wird die Struktur des Jüngling nicht durch einen systematischen Normenkatalog bestimmt, sondern ihm liegt ein Metatext zugrunde, dessen Gegenstand das Erziehungsparadox selbst ist. Der entscheidende Unterschied zum VII. Gedicht besteht dabei darin, dass der Autor keine Auslagerung des Paradoxes in die Religion oder eine abstrakte Ethik vornimmt, sondern die Problematik mittels eines säkularen Rationalismus zu bewältigen versucht.35 Der göttliche Wille wird negiert, die Religion bleibt im Jüngling weitgehend ausgeblendet. An die Stelle der einen Instanz, von der alle Normen abgeleitet werden, tritt eine funktional differenzierte Gesellschaft. Das Erziehungssystem erscheint dabei als relativ autonomes und opera34

35

Boor, Helmut de, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. 1250–1350, 3. Bd., Teil 1, Epik, Lyrik, Didaktik, geistliche und historische Dichtung, 5. Aufl. neubearbeitet von Johannes Janota, München 1997, S. 337; vgl. auch Heidt, Konrad von Haslau [Anm. 30], S. 151– 157. Zur Problematik des Begriffs der Säkularisierung vgl. Luhmann, Religion [Anm. 2], S. 284.

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tiv geschlossenes System,36 in dem eine innerweltliche Logik vorherrscht, die die Paradoxien unaufgelöst lässt. Die permanente Konkurrenz um die êre und das ›Ansehensparadox‹ müssen bestehen bleiben, weil beides gleichermaßen als Stabilitäts- und Kontingenzgenerator fungiert. Jede Erziehung adliger Nachkommen muss die ›unendliche‹ Vermehrung von Ansehen als primäre gesellschaftliche Aufgabe vermitteln, auch wenn damit die adlige Solidarität latent bedroht wird. Neben diesem Paradox ›formuliert‹ der Text implizit noch weitere: Was ist von einer Erkenntnis zu halten, wonach erfolgreiche Erziehung auf der sukzessiven Gewöhnung und Einübung von Normen beruht, die Prägung durch die Eltern aber bereits zu einer Zeit stattgefunden hat, als sie der Erzieher noch nicht korrigieren konnte? Welchen Sinn machen Normen, deren ständige Übertretung in der Realität evident ist und deren Nutzen von den Heranwachsenden nicht erkannt werden kann? Welchen Wert haben schließlich Strafen, die nicht als Rache, sondern als Mittel der Erziehung gedacht sind und deswegen eine latente Inkonsequenz in sich tragen, weil sie einerseits nicht zu streng ausfallen dürfen, andererseits eine nur symbolische Wirkung nicht verfängt? Inwiefern sind harte Strafen nicht deswegen gefährlich, weil sie das Selbstbewusstsein des Zöglings erschüttern und sich dieser aus der Gesellschaft zurückzieht? Die Hoffnung des Autors, die adligen Knappen würden gleichzeitig heiter bleiben und dennoch die Strafandrohung ihres Erziehers fürchten (V. 817f.), wird deutlich als Utopie markiert. Was ist schließlich – und dieses ist sicher ein veritabler Erkenntnisschritt – von der Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu halten, wenn nicht klar ist, ob eine solche Unterscheidung nicht selbst bereits gut oder böse ist? Dieses Niveau erreicht der Diskurs bei der Bewertung des Zöglings, der zu verzaget ist, um sich an den ritterlichen Werten zu orientieren (V. 967f.), gebeurisch narrenspil (V. 989) betreibt und deswegen von anderen verspottet wird. Das Fehlverhalten geht nicht allein von dem Verspotteten aus, vielmehr ruinieren die Spötter ihr eigenes Ansehen (V. 994): Ihr Spott geht auf eine unüberlegte Unterscheidung zurück und verstößt gegen das Urteilsverbot des Neuen Testaments (Mt. 7,1). Selbst die an sich so unproblematische Unterscheidung zwischen Reich und Arm führt übertragen auf die Realität in eine Aporie: Weil richeit mangem daz leben kurtzet (V. 1069), wiset uf der helle strazen (V. 1076) und nicht Ansehen, sondern Verleumdung (V. 1086) einträgt, muss man sich von ihr lösen können. Gerät man jedoch in Armut, ist dies ebenso verwerflich, weil man dann als jemand beurteilt wird, der der torheit (V. 1092) anheimgefallen ist. Konsequenterweise bittet der Autor deshalb Gott, ihn gleichermaßen vor armute und richeit (V. 1074f.) zu bewahren. Ein letztes Paradox der Erziehung entfaltet der Autor am Ende des Textes37 anhand von drei verschiedenen Beispielen, die Gründe für missglückte Erziehung 36 37

Zur Ausdifferenzierung von Funktionssystemen vgl. ebd., S. 287. Mit Heidt, Konrad von Haslau [Anm. 30], S. 157, bin ich der Meinung, dass die in der Handschrift am Schluss stehenden Verse 1229–64 »vom Abschreiber vergessen und nach Fertigstellung der Abschrift an deren Ende nachgeschoben wurde[n]«.

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(V. 1097–1228) demonstrieren: zu große Nachsicht (V. 1099–1130) oder zu große Strenge, Härte und Vernachlässigung (V. 1131–82) sowie – beides kombinierend – völlige Inkonsequenz bei der Reaktion auf das Verhalten des Kindes (V. 1183–1228). In unterschiedlicher Weise belegen diese drei Beispiele, dass jemand, der seiner eigenen Emotionen nicht Herr ist, nicht als Erzieher taugt. Während bei den ersten beiden Beispielen die Gründe für das Versagen des Erziehers – zu große Liebe gegenüber dem Kind bzw. Desinteresse oder Unfähigkeit – nur kurz erwähnt werden, schildert der Text bei dem dritten Beispiel detailliert die Fälle, in denen der Erzieher aus Unsicherheit oder Unkenntnis sich ständig falsch verhält. Der Abschnitt schließt mit einem Resümee, das – wie das VII. Gedicht der Seifried-Helbling-Sammlung – als das größte Risiko für die Erziehung die Erzieher und deren Unzuverlässigkeit sieht. Alle normativen Vorgaben in einer Erziehungslehre sind zum Scheitern verurteilt, wenn sich der Erzieher selbst nicht daran orientiert. Daraus erfolgt eine völlige Orientierungslosigkeit des Zöglings, die ihn am Leben verzweifeln lässt: wer sunet, so ez waere zornes wert, sleht, so man genaden gert, der hat niht guter tugende kunde, wan er ubet schande und sunde. (Der Jüngling, V. 1221–24)38

Anders als im VII. Gedicht der Seifried-Helbling-Sammlung wird das Erziehungsparadox nicht in die Transzendenz ausgelagert. Im Gegenteil – der Autor überträgt die normativen Vorgaben in den Alltag und versucht, deren Geltungsanspruch durch rationale und psychologische Argumente zu erhärten. Da dies scheitert und ein textinternes, festgefügtes Tugendsystem fehlt, bleibt nur der Weg der Hinwendung zur subjektiven Verantwortung der Erzieher, die nach den individuellen Gegebenheiten und situationsadäquat zu entscheiden haben, welche Erziehungsmaßnahme für den Heranwachsenden die richtige ist. Aus dieser Erkenntnis resultiert nicht nur die Absenz abstrakter Normen und die Hinwendung zu praktischen Ratschlägen, sondern auch die Konzentration auf die negative Wirkung falscher Erziehung. Im Jüngling sind es demnach die Psychologisierung und die Konstruktion ›konkreter‹ Adoleszenzbiographien, die jeden übergeordneten Tugendkatalog fragwürdig machen. Der Autor scheint so auch die Paradoxie seiner eigenen Konstruktionen zu erkennen, denn bei dem einen führt Härte und Vernachlässigung in der Erziehung zu Misstrauen und Absonderung, beim anderen zum Kampf um Ansehen und damit zu einem tugendhaften Leben (V. 1169–82). Die erkannte Paradoxie von Normativität führt aber nicht nur in eine alltagspraktische Ausrichtung der Lehre und in die Psychologisierung, sondern auch in die Ästhetisierung der Lehre selbst. So dienen die vielen rhetorischen Stilfiguren, die der 38

Konsequenterweise will der Ich-Erzähler dem Kind, das eine solche Strafe verdient hätte, den Strafpfennig selbst borgen und ihn in 24-facher Höhe von seinem zuhtmeister (V. 1226) einfordern.

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Autor verwendet, der Bild- und Metaphernreichtum, insbesondere aber ›Würfels Klagelied‹ (V. 383–448), der ästhetischen Gestaltung des Werkes, die die Paradoxien der Normativität in sich aufnimmt, ohne sie zu bearbeiten.

IV. Der Magezoge Eine differenzierte Sicht auf Normativität und die Paradoxien von Didaxe wie im VII. Gedicht der Seifried-Helbling-Sammlung oder im Jüngling ist aber nicht allein von einer diskursiven Form und einer entsprechenden literarischen Rahmung abhängig. Dies soll anhand des dritten Textes, der ästhetisch weniger anspruchsvollen, als Positivdidaxe gestalteten ›Spruchsammlung‹39 Der Magezoge, gezeigt werden. Der ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammende Text bietet einzelne selbstständige Lehren, die sowohl als abgeschlossene Zweizeiler wie auch in längeren zusammenhängenden Versperioden entfaltet werden. Wie die Überlieferung zeigt, lassen sich die einzelnen Lehren leicht umgruppieren oder auch in andere Spruchsammlungen integrieren. Inhaltlich gibt es viele Berührungen mit dem Jüngling (richtiger Umgang mit dem Besitz, Warnung vor Völlerei, Trunksucht, Spott, Spiel, Lüge, Verrat, Meineid, Urteilen). Abgesehen von der Streuüberlieferung ist die Sammlung in sieben Handschriften sehr ungleichmäßig überliefert, wovon hier nur die beiden Handschriften Leipzig (L)40 und Heidelberg (P)41 berücksichtigt werden können. Von der Forschung wurde dem Text angelastet, dass er »der Disposition [entbehrt], [...] seine Lehren aus ungeordneten Einzelheiten [häuft] und [...] sich immer wieder[holt]«.42 Dabei wird jedoch zweierlei übersehen. Da die Handschriften die einzelnen Teile sehr unterschiedlich gruppieren, könnte dies ein Hinweis auf einen je verschiedenen performativen Gebrauch des Textes sein. Wenn man sich den Text als Teil einer öffentlichen Aufführung mit mehreren Sprechern vorstellt, ergeben sich in der Konfrontation der einzelnen Lehren abwechslungsreiche Effekte. Außerdem lassen einzelne Abschnitte – wie auch im Jüngling – eine Diskursivierung des Themas erkennen, die sich an der immanenten Widersprüchlichkeit von Normen entzündet. Dazu gehört etwa der ›Ritterspiegel‹ am Anfang des Gedichts, in dem drei der wichtigsten Funktionen des Ritters behandelt werden: seine Aufgaben als Gebiets- und

39 40 41

42

Vgl. dazu Gärtner, Kurt, ›Der Magezoge‹ (›Spiegel der Tugend‹), in: VL2 , 5/1985, Sp. 1153– 55. Haupt, M[oriz] (Hrsg.), Spiegel der tugende, in: Altdeutsche Blätter, 1/1836, S. 88–105. Rosenhagen, Gustav (Hrsg.), Der Magezoge, in: Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte III. Die Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 341, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1909, Dublin u.a. 1970 (Deutsche Texte des Mittelalters 17), S. 21–29. Boor, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter [Anm. 34], S. 337.

Paradoxe Normativität?

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Gerichtsherr sowie sein Verhalten als Vasall. In der Heidelberger Handschrift (P) beginnt der Abschnitt (V. 39–70)43 mit der klassischen Formulierung, die den Schutz der armen als die vornehmste Aufgabe von Ritterschaft definiert: 40

45

Wis voyt mit sinne durch die Gotes minne unde niht durch des gutes twanch, der ie an den eren hanch. beschirme die armen, daz ist ritterschaft, sprich ir wort, daz ist tugenthaft: so bist du vor Got wert, dar umbe segent man dir daz swert. (P, V. 39–46)

Neben dem konkreten Schutz vor äußeren Feinden soll der Ritter die Interessen der Armen und Schutzlosen wahrnehmen. Der Text in der Leipziger Handschrift (L) belässt es dabei, wechselt das Thema und behandelt abstrakt das Verhalten gegenüber dem Lehnsherrn, insbesondere in seinem Gericht (L, V. 43–48). P hingegen fügt ein Argument ein, welches die implizite Gefahr und gleichzeitig die Grenze solchen Schutzes erahnen lässt: Unter dem Schutz des Ritters können die armen selbst Schaden anrichten. Deswegen hebt der Text sogleich hervor, dass der Ritter zwar das Schwert zur Verteidigung der Armen erhalten hat, aber für deren Sünde gleichzeitig Gott als Pfand dient.44 Der Text perspektiviert demnach das Schutzgebot, weil es dann zu einer paradoxen Anweisung wird, wenn der Schutzbefohlene den Schutz missbraucht, um selbst Unrecht zu begehen. Um gerecht zu sein, darf sich der Ritter nicht durch seine eigene Beziehung zu den Übeltätern beeinflussen lassen; er muss ohne Ansehen der Person urteilen, und dabei dient ihm das herze als inneres Entscheidungszentrum: straf die ubeln als du solt, / den guten wis von herzen holt (P, V. 53f.). Auch die Rolle des Ritters gegenüber seinem Lehnsherrn wird in P dialogisiert. Hier ist es seine Ratgeberrolle, die für ihn eine Versuchung darstellt, denn Beratung des Herrn bedeutet Einfluss und Macht, die man zu eigenem Vorteil missbrauchen kann. Aus diesem Grund soll man sich weder durch hant salben (P, V. 60) bestechen lassen noch im Gericht des Lehnsherrn andere als rechtliche Maßstäbe anlegen. Auch an dieser Stelle zeigt sich die unterschiedliche Ordnung der Argumente in den Handschriften als Indiz für unterschiedliche Aussagen. Gemeinsam ist L und P der Verweis auf Gott als den Garanten für die Einhaltung der Gerechtigkeitsnorm.45 Während

43 44

45

In L umfasst derselbe Abschnitt nur die V. 35–58. trage diner leute sunde niht; / swaz ieman leides von in geschiht, / dar umbe bist du Gotes pfant. / dine sele stet in siner hant (P, V. 47–50). Es wäre zwar auch denkbar, dass mit dem Hinweis die Bediensteten des Ritters gemeint sind, die die armen unterdrücken, aber dies ändert an der grundsätzlichen Verantwortung des Herrn nichts. wis getriuwe dîme herren: / sîn leit lâ dir werren: / rât ime reht, daz ist dîn heil, / so enpfæhestû von gote teil. / wis vürspreche gotes halben / unde niht durch hantsalben. / alle lügenære / sint gote unt der werlde unmære (L, V. 43–50).

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jedoch L lapidare Wiederholungen des Gerichtsgebots bietet (richte deme man rihten sol, L, V. 53; süene waz ze süenne sî, L, V. 55), thematisiert P den Grund für etwaiges abweichendes Verhalten des Ritters als Gerichtsherr: Es ist die Besitzgier, die der Gerechtigkeit im Wege steht. Der Text impliziert mit dieser Ordnung der Argumente, dass der Richter oder vorsprech (P, V. 59) sich nach dem fremden Besitz sehnen könnte: 70

hore niht des losen sage, riht dem der dir klage. sene dich niht nach vremdem gute, dines eygens des habe hute. umb vremde gabe solt tu selden biten, gewer und versag mit schonem siten. (P, V. 69–74)

Das Verhältnis des Ritters zum Geld wird noch im Kontext anderer Themen behandelt.46 Immer geht es dabei um den Widerspruch zwischen dem feudalen Gebot der milte, das fast nur noch höfisches Relikt ist,47 und den Prämissen eines frühbürgerlichen Besitzdenkens, welches von Besitzakkumulation und einem fairen Warenaustausch zwischen gleichberechtigten Wirtschaftssubjekten ausgeht. Es will scheinen, als ob in diesem Kontext die Letztbegründung nicht in religiösen Geboten gesucht wird, sondern in einer rationalen, innerweltlichen Logik. Warum der Autor trotz seiner sonstigen Positivdidaxe das Verhältnis des Ritters zum Besitz nicht normativ festlegt, wird in jenem Abschnitt deutlich, der sich mit den Paradoxien von Reichtum (P, V. 299–320) und Armut befasst. Da – wie im Jüngling – Reichtum und Armut gleichermaßen verworfen werden, bleibt nur die Orientierung an einer notdurft, die aber ihrerseits nicht näher bestimmt wird. Auch formuliert der Text keine Maximen dafür, in welchen Situationen Barmherzigkeit und in welchen Geiz anzuwenden und wie beides zu bewerten sei. Der Grund dürfte die Arbitrarität von Freigebigkeit und Geiz sein, beides hat unkontrollierte Außenwirkungen, weil die Intention des Betreffenden nicht beobachtbar ist. Eine Lösung ist – wie im VII. Gedicht der SeifriedHelbling-Sammlung – ein generelles Urteilsverbot und die Warnung vor Spott (P, V. 349). Damit freilich wird auch die innerweltliche Beurteilung menschlicher Handlungen anhand eines universalistischen Normenkatalogs infrage gestellt. Wenn die Gesinnung für die Bewertung entscheidend ist, muss dieser Akt angesichts der Invisibilität menschlicher Motive allein Gott vorbehalten bleiben. Fast nebenbei hat der Autor hier noch ein weiteres konkretes Problem erfolgreicher Erziehung benannt: Perfekte Einhaltung gesetzter äußerer Normen führt nicht zur Bescheidenheit, sondern zu Hochmut und Selbstgerechtigkeit.

46 47

Zu Unrecht hat man dies als fehlende Systematik bezeichnet, es ist vielmehr so, dass der Zusammenhang zwischen den Normen transparent gemacht werden soll. Milde wird in P, V. 76, beiläufig als Teil eines Tugendkatalogs erwähnt.

Paradoxe Normativität?

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Dem Beispiel lässt sich entnehmen, was im ganzen Text zu beobachten ist: Der Autor stellt zwar ständig abstrakte Maximen auf, aber paradoxerweise darf deren Anwendung in der Realität nicht zum Gegenstand der Kommunikation werden. Es sind im Grunde auch nicht die Werke, die zur Beurteilung anstehen, sondern die Gesinnung, die sich nicht von außen beobachten lässt. Konsequenterweise erhebt der Text die Forderung nach der Selbsterkenntnis, was die Motive des eigenen Handelns mit einschließt: 48 erken dich selben, so erkennest du Got, daz ist sin lere und sin gebot. (P, V. 247f.)

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erkenne dich selbe, so erkennet dich got: daz ist sîn êre unt sîn gebot. erkennestu dich, des geloube mier, sô bistû wîser den ob dû alle tier erkentes, crût vogel unt steine, dar zuo daz gestirne algemeine. zuo allen gezîten wis dir bî. vrâge dîn herze, mit weme ez sî. (L, V. 307–314)

Diese ständige innere Prüfung soll eine Verinnerlichung moralischer Normen bewirken. Damit steht der Text der Gesinnungsethik des Petrus Abaelard nahe, in der nicht die Werke, sondern die innere Einstellung zu ihnen entscheidend ist. Alle äußeren Taten im Magezoge sind nur äußerer Schein. Deswegen darf man sich weder durch Anerkennung der eigenen Werke (lob), wovor gewarnt wird, verführen lassen noch sich zu Zorn, Hass oder selbst Lob gegenüber anderen verleiten lassen, weil man letztlich nicht die Motive für das Verhalten kennt oder auch nur die Auswirkungen der Handlungen abschätzen kann. Es ist kein Kampf um die Erfüllung eines starren Normenkatalogs, der verlangt wird, sondern er findet im Inneren des Menschen statt und wird gegen die innere Zustimmung zum Bösen geführt (vgl. P, V. 271–282). Die innere Gesinnung als Thema eines Normendiskurses richtet das Interesse auf ein Paradox, das im Magezoge an verschiedenen Stellen49 in den jeweiligen thematischen Diskurs eingeflochten wird, den Gegensatz zwischen minne und sinne. Dabei meint minne sowohl die Gottesminne wie auch eine positive Emotionalität.50 In P formal mit einem sonst nicht mehr verwendeten 8-fachen Reim hervorgehoben, wird dieser Gegensatz zusammenfassend behandelt:

355 48 49 50

hazze den haz, minne die minne, daz sint edele sinne. er zeige die minne mit dem sinne.

Aus diesem Grund warnt der Text auch vor positiven Urteilen, weil man die Handlung als solche zwar sieht, aber nicht den Willen dabei erkennt (L, V. 233f.). Vgl. P, V. 97–108, 213–215, 353–372, 427f., 475f. Gegen de Boor, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter [Anm. 34], S. 337, wo minne nur als Gottesliebe begriffen wird.

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ein niht ist die minne an die sinne: also sint die sinne an die minne. swer wiz ist an die minne, der hat toren sinne nach der tugent minne. (P, V. 353–360)

Da die Lehre des Magezoge durch und durch rationalisiert ist und über allem ein rationales Talionsprinzip schwebt, das in P mit den Worten auf den Begriff gebracht wird: swaz du wilt daz man dich erlazze, / einem andern gibe die maze (P, V. 111f.), muss der Text die ausgeschlossene Emotionalität, die in der emphatischen Zuwendung zu Gott eine spirituelle Rechtfertigung in sich trägt, integrieren. Mit der Normsetzung, wonach minne und sinne kongruent seien, wird indessen das Paradox nicht aufgelöst. Wenn der Text als zulässige Emotionalität Feindesliebe, emphatisches Mitleid und Freude gegenüber den Frohen definiert,51 dann wird dies dem Kerngrund von Emotionalität nicht gerecht, sondern unterwirft auch sie dem Diktat der sinne. Unkontrollierte Emotionalität wird so als Risiko für die Vernunft markiert. In vielen sozialen Handlungsanweisungen des Textes, die nicht eine Rückbindung an göttliche Liebe finden, sondern eher versuchen, die Konkurrenz zwischen den Adligen möglichst zu minimieren, wird sichtbar, dass der Autor die göttliche Liebe als Ziel allen menschlichen Handelns oder die Selbsterkenntnis und Selbstüberwindung des Einzelnen nicht als tragfähige Grundlage einer Tugendlehre ansieht. Geistliches und weltliches Denken verbleibt dadurch weitgehend voneinander getrennt, die weltlichen Partien der Erziehungslehre werden immer noch von dem Diktat der Ehrvorstellung geprägt, deren verhängnisvolle Konsequenzen, die vor allem in der Beleidigung des anderen und in seiner inadäquaten Behandlung bestehen, sollen abgemildert werden. Infolgedessen versucht der Text zwar, die Adelslehre aus der Gottesminne heraus zu begründen, vertraut aber letztlich nicht auf deren Wirkung. Anders als im VII. Gedicht der Seifried-Helbling-Sammlung oder im Jüngling geht der Autor nicht explizit auf reflexive Distanz zu seinen Normen: Vielmehr versucht er, die zuvor aufgedeckten Widersprüche mit der weltlich-geistlichen Utopie des Tugent berk (P, V. 481), auf dem dann das richtige Urteil über die wahren, den Handlungen zugrunde liegenden Intentionen gefällt wird, zu überdecken. In dem das Gedicht in P abschließenden Appell des Vaters an seinen Sohn wird dann der implizite Anspruch des Autors, zumindest die Gegensätze zwischen weltlichem Ansehen und göttlichem Heil zu versöhnen, auf die Formel gebracht: Sun, daz ist der wise rat den dir din vater lat. er zeiget dir Gotes lere unde die werltlich ere. (P, V. 501–504)52 51 52

Eine Aufforderung, sich auch in der Freude zu mäßigen, findet sich in V. 381f. Während P am Schluss nochmals die beiden unterschiedlichen Normhorizonte nennt, lagert L die sich daraus ergebenden Widersprüche in die Transzendenz aus, wenn hier das

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V. Paradoxe Normativität Jede Normativität bezieht sich auf Realität – wenngleich in unterschiedlichem Maße. Dabei ergab die Analyse der drei Texte, dass der Grad der Konkretheit der Lehren auch über den Grad ihrer Widerspruchsfreiheit entscheidet. Eine Regel, wonach ein adliger Knappe beim Reiten nicht die Ritter einstauben darf, bedarf keiner weiteren Begründung.53 Anders ist es hingegen, wenn abstrakte Werte wie Zuverlässigkeit, Wahrhaftigkeit, Sparsamkeit oder Barmherzigkeit vermittelt werden sollen und dabei eine Beziehung zu einer defizienten Realität hergestellt wird. Hier können dann die Beispiele aus der Realität sehr schnell eine antinormativistische Wirkung entfalten. Vor allem dringt diese Form der Realität in die Erziehungslehre ein, wenn in ihr – wie im VII. Gedicht der Seifried-Helbling-Sammlung – die Vergeblichkeit jeder Erziehung anhand des aktuellen, mangelhaften Zustandes der Gesellschaft thematisiert wird. Da die Umsetzung von Normen jedoch an die Fähigkeit der Erzieher gebunden ist, der Erfolg von Erziehung aber wiederum von sozialen und genealogischen Voraussetzungen abhängt, auf die der Erzieher keinen Einfluss hat, bleibt letztlich Resignation. Am sichtbarsten wird dies im VII. Gedicht, wo der Autor angesichts der Dekonstruktion der von ihm formulierten Normen mit einer Geste der Hilflosigkeit sein Werk denjenigen überantwortet, die daraus den normativen Nutzen ziehen sollen, den er eigentlich schon ausgeschlossen hat. Das Erziehungsparadox entsteht aber nicht nur durch die Konfrontation der Lehre mit der Realität, sondern auch aus unbearbeiteten Widersprüchen in der Theologie und dem ungeklärten Gewicht des Verstands und der Gesinnung für die Beurteilung menschlicher Handlungen. Am weitesten geht hier der Magezoge mit seinem Versuch, Emotionalität (minne) mit Verstand (sinne) zu harmonisieren. Hier wirkte die unabgeschlossene Diskussion im Gefolge der Aristoteles-Rezeption und der Ethik54 des Petrus Abaelard nach, der nicht die äußere Erfüllung eines Tugendkatalogs, sondern die Selbsterkenntnis und die Erforschung der eigenen Gesinnung in den Mittelpunkt stellte. Seine Ethik bestimmte, dass nicht die formale Befolgung von Normen, sondern die innere Entscheidung maßgebend für die Bewertung menschlicher Handlungen sein soll. Der sich daraus ergebende Widerspruch zur Aufstellung allgemeiner Normen wird in den zeitgenössischen didaktischen Texten zwar nicht explizit formuliert, dennoch lassen sich seine Spuren aber in den behandelten Texten wiederfinden. Die literarische Strukturierung des Stoffes im VII. Gedicht der Seifried-HelblingSammlung mit der Psychomachie sowie im Jüngling mit der Pfenningbuße lässt erah-

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Ich in einem ausführlichen Gebet Jesus Christus und Maria um das ewige Leben, in dem alle Widersprüche aufgehoben sind, bittet (L, V. 383–404). Tauber (Hrsg.), Der Jüngling [Anm. 30], V. 1229–35. Luscombe, David Edward (Hrsg.), Peter Abelard’s Ethics, Oxford 1971 (Oxford medieval texts).

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nen, dass die Autoren auch an dem Geltungsanspruch der höfischen Literatur55 partizipieren wollten und deswegen eine ästhetisch anspruchsvolle Form mit konkreten Normaussagen verbanden. Allerdings zeigt gerade die Verknüpfung beider Formen auch deren Begrenztheit für normative Aussagen. Literarische Texte mit ihrer relativ flachen Normativität im Hinblick auf die Bewältigung von Realitätsproblemen erzeugen beim Betrachter Unbestimmtheitsvermutungen, wohingegen normative Sätze gerade durch ihre Literarisierung und Perspektivierung in ihrem Aussagewert begrenzt erscheinen. Wenn dennoch solche Formen keine marginalen Einzelfälle geblieben sind, dann mag dies dem Umstand zuzuschreiben sein, dass durch Literatur die Machtund Geltungsansprüche von Normen relativiert werden können: Vor allem Literatur kann das Paradox bearbeiten, dass Normen sowohl gültig wie auch fallibel sind. Wie am VII. Gedicht zu sehen war, führt die Exemplifizierung einer Norm in Widersprüche, literarische Texte thematisieren diese Diskrepanz zwischen Norm und Leben, generell steht Narrativität der Normativität im Wege. Bloße Appelle zur Normerfüllung versagen schon angesichts divergierender subjektiver Bewertungen von Verhalten. Dieses Dilemma prägt das VII. Gedicht, in dem zwischen Norm und Allegorie bzw. der narrativen Handlung ein paradoxer Gegensatz entsteht: Das Erzähler-Ich definiert eine Norm, die durch die Handlung nicht gedeckt ist und sich aus ihr auch nicht ableiten lässt. Der Text erhebt vorrangig ästhetische Ansprüche, und deswegen wurde vom Autor die Psychomachie des Prudentius herangezogen, um intertextuelle Kompetenz und produktive Auseinandersetzung mit der Vorlage zu demonstrieren. Der Stoff wurde so fruchtbar gemacht für eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen von Normativität und Didaxe, die andere Ziele verfolgt als eine einlinige ›Laienunterweisung‹. Durch Literarizität entstehen weit jenseits aller Schuld-Sühne-Buße-Semantik Spielräume, in denen die Normativität selbst zum Thema wird. Eine dekonstruktive Lektüre scheint daher selbst bei normativen Texten unumgänglich zu sein, will man die Bedingungen, unter denen diese Texte entstanden und die ein aktuelles ›Selbstverständlichkeitsdefizit‹ vermuten lassen, erschließen. Nicht nur bei epischen Texten »dürfte [es] an der Zeit sein [...] beides zusammenzudenken: die Norm und den mitinszenierten Widerspruch gegen sie«.56

55

56

Im VII. Gedicht werden erwähnt der König Fruote von Dänemark (V. 366), der Landgraf Hermann von Thüringen (V. 368) und der edel künic Salatîn (V. 364), im Jüngling Keye (V. 831). Haug, Walter, Mittelhochdeutsche Klassik zwischen Norm und Normverstoß, in: Millet, Victor (Hrsg.), Norm und Transgression in deutscher Sprache und Literatur, Kolloquium in Santiago de Compostela 4.–7. Oktober 1995, München 1996, S. 1–17, hier S. 17.

Bernd Bastert (Bochum)

den wolt er lêren rehte tuon Der Winsbecke zwischen Didaxe und Diskussion

Wenn man in literaturwissenschaftlichen Lexika oder Handbüchern die Lemmata ›Norm‹ oder ›Normativität‹ sucht, wird man nur sehr bedingt fündig. Einzig das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft verzeichnet einen entsprechenden Eintrag.1 Obschon das lateinische Wort norma im Sinn von Maßstab oder Regel zuerst in Ciceros De oratore (3,190) nachweisbar ist und dort auf rhetorische Normen angewandt wird – auf ein Thema also, das durchaus in den Zuständigkeitsbereich der Literaturwissenschaften fällt –, zählen Normen und das Nachdenken darüber offenkundig kaum zu den praktischen oder theoretischen Werkzeugen der Literaturwissenschaft. Wesentlich mitbedingt sind diese »normtheoretische[n] Defizite« zweifellos durch die »normkritische Tradition der Genie- und Autonomieästhetik«.2 In anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, etwa in der Philosophie oder in der Soziologie, nimmt die Debatte um Normen und Normativität einen sehr viel breiteren Raum ein. Der Schwerpunkt liegt dabei allerdings in der Regel auf der Auseinandersetzung mit neuzeitlichen Normvorstellungen. Auf vormoderne Gegebenheiten und Verhältnisse sind soziologische und philosophische Definitionen, Darstellungen und Theorien daher nicht immer leicht applizierbar. Wiederum anders gestaltet sich die Situation in einer Disziplin, die schon in der Vormoderne über Normen, hier meist verstanden als ethisch-moralische Kategorien, nachgedacht hat: der Theologie. Auch wenn mittelalterlichen Theologen der Terminus ›Norm‹ im Sinn einer Verhaltensmaßregel unbekannt war, existiert darüber der Sache nach seit den Zeiten der Kirchenväter eine Diskussion, die bis heute nicht abgerissen ist. Die Debatte kann hier im Einzelnen nicht nachgezeichnet werden.3 Wichtig ist aber der Umstand, dass im theologischen Zusammenhang »die Frage nach einem letzten Orientierungsmaßstab, der menschl. N[orm]-Setzungen und -gestaltungen als ethisch gut u. gerecht

1

2 3

Anz, Thomas, Norm, in: RLW, 2/2000, S. 720–723; vgl. auch ders., Vorschläge zur Grundlegung einer Soziologie literarischer Normen, in: IASL, 9/1984, S. 128–144; Link, Jürgen, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 20063. Anz [Anm.1], S. 722. Vgl. die Überblicksdarstellungen sowie die weiterführende Literatur bei Schrader, Wolfgang H. / Korff, Wilhelm / Kreß, Hartmut, Normen, in: TRE, 24/1994, S. 620–643; Schramm, Michael, Normen, in: LThK 3, 7/1998, Sp. 907–909.

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Bernd Bastert

auszuweisen vermag«,4 doppelt beantwortet wird. Zum einen mit dem Verweis auf das Naturrecht, das am Zusammenleben der Menschen orientiert, letztlich also aus innerweltlichen Kategorien abgeleitet ist. Zum anderen mit dem Hinweis auf die transzendente, universale Liebe Gottes. Diese Konstellation einer zugleich innerweltlichen wie metaphysischen Normbegründung gilt es zu beachten, wenn im Folgenden ein normativer Text des Hochmittelalters behandelt wird, der gleichfalls eine zweifache Normendiskussion kennt. Der im 13. Jahrhundert entstandene Winsbecke, der seinen Namen einer lediglich in der Manessischen Handschrift begegnenden, höchstwahrscheinlich fiktiven Autorzuschreibung verdankt, scheint, der Überlieferung nach zu urteilen,5 ein nicht ganz unbedeutendes Werk der lehrhaften Literatur des Mittelalters gewesen zu sein; es sind bislang sieben Handschriften,6 fünf Fragmente,7 zwei Kurzfassungen8 und ein Exzerpt9 bekannt, die zwischen dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts und dem frühen 17. Jahrhundert entstanden. Dieser Erfolg pflanzte sich in der Proto-Germanistik des 17. und 18. Jahrhunderts fort, in der man den Text, den Melchior Goldast bereits 1604 ediert hatte, für eines der Spitzenprodukte des schwäbischen bzw. staufischen Zeitalters hielt. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ließ die Hochschätzung des Winsbecken – und mehr noch: die der ethische oder moralische Nor4 5

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9

Schramm, Normen [Anm. 3], Sp. 908. Die derzeit neueste Aufstellung der erhaltenen Textzeugen in: Brunner, Horst / Wachinger, Burkhart (Hrsg.): Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, Bd. 5, Tübingen 1991, S. 568–572; dort allerdings ein Klassifizierungssystem, das von der üblichen Siglenbezeichnung der Winsbecke-Forschung differiert. Hs. B (Weingartner Liederhs., Stuttgart, Landesbibl., Cod. HB XIII 1; erstes Viertel 14. Jh.) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1c]; Hs. C (Codex Manesse, Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 848; 1305–1340) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1d]; Hs. g (Gotha, Forschungsbibl., Cod. Chart. B 53; 1430/40) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1k]; Hs. J (Berlin, Staatsbibl., mgf 474; um 1300) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1a]; Hs. h (Berlin, Staatsbibl., mgf 681; 1450/55) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1m]; Hs k (Kolmarer Liederhs., München, Staatsbibl., Cgm 4997; um 1460) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1n und 1Winsb/1o]; Hs. l (Rom, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Rossiano 708 [früher WienLainz, Jesuitenkolleg, Cod. X 88]; Mitte 15. Jh.) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1l]. Fr. E (Krakau, Bibl. Jagiellonska, Berol. mgq 1532 [früher Berlin, Staatsbibl., mgq 1532]; letztes Viertel 13. Jh.) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1b]; Fr. M (Münster, Universitätsbibl., Hs. 1053; erste Hälfte 14. Jh.) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1e]; Fr. W (Kopenhagen, Königl. Bibl., NKS Cod. 662,8°; um 1400) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1j]; ohne Sigle (Münster, Gräfl. Galensches Archiv, R 11; 14. Jh. [verschollen]) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1f]; ohne Sigle (Aarau, Kantonsbibliothek, Wa 544 Inc.; 14. Jh.) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1g]. Hs. K (Basel, Universitätsbibl., Cod. B XI 8; Anfang 14. Jh.) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1i]; Hs. w (Wien, ÖNB, Cod. 2701; Mitte 14. Jh.) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1h]. Ohne Sigle (Weimar, Thüringische Landesbibliothek, Fol. 421/32; ca. 1615) [Brunner, Repertorium: 1Winsb/1p].

Der Winsbecke zwischen Didaxe und Diskussion

305

men präsentierenden didaktischen Dichtung insgesamt – allerdings merklich nach.10 Geradezu symptomatisch erscheint ein aus dieser Zeit stammendes Epigramm von Gottlieb Konrad Pfeffel (1736–1806) über lehrhafte Dichtung:11 V: A: V:

Warum so trüb? Ach Freund, mir stahl ein Bösewicht Mein ungedrucktes Lehrgedicht. Der arme Dieb.

Diese Sottise aus dem späten 18. Jahrhundert könnte ebenso gut als Motto für die forschungsgeschichtliche Behandlung moraldidaktischer Literatur in den folgenden zwei Jahrhunderten dienen, denn im Zentrum der Forschung hat sie seither nie mehr gestanden; der Winsbecke macht da keine Ausnahme. Nachdem er bis in die 1970er Jahre wenigstens noch eine, wenn auch nur kleine, Rolle in der Diskussion um das als normativ-ethisch verstandene ritterliche Tugend-›System‹ des Hochmittelalters spielte, scheint er in den letzten Jahren weitestgehend aus dem Fokus der Forschung geraten zu sein.12 Die prima facie allzu massiv hervortretenden normativen Intentio-

10

11 12

Vgl. dazu Harms, Wolfgang, Des Winsbeckes Genius. Zur Einschätzung didaktischer Poesie des deutschen Mittelalters im 17. und 18. Jahrhundert, in: Wapnewski, Peter (Hrsg.), Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion, Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 6), S. 46–59; vgl. allgemein Kallweit, Hilmar, Lehrhafte Texte. Erzählformen und ihre Funktionen, in: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Grundkurs 2, Reinbek 1981, S. 75–101. Kilian, Jörg, Lehrgespräch und Sprachgeschichte. Untersuchungen zur historischen Dialogforschung, Tübingen 2002. Zitiert nach Harms, Winsbeckes Genius [Anm. 10], S. 53. Die letzten Beiträger, die sich speziell mit dem Winsbecken befassten, waren Frey, Winfried: ›die rede ich in dîn herze grabe‹. Zur Vermittlung von Herrenethik im ›Winsbecke‹, in: Ebenbauer, Alfred (Hrsg.), Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag, Wien 1984 (Philologica Germanica 7), S. 176–195; Behr, Hans Joachim, ›Der werden lop‹ und ›gotes hulde‹. Überlegungen zur konzeptionellen Einheit des ›Winsbecke‹, in: Leuvense Bijdragen, 74/1985, S. 377–394, und Mundhenk, Alfred, Zur Kritik und Charakteristik des ›Winsbecke‹, in: ders., Walthers Zuhörer und andere Beiträge zur Dichtung der Stauferzeit, Würzburg 1993, S. 145–167. Eine Zusammenstellung der Forschungsliteratur zum Winsbecken bis ca. 1998 bei Schanze, Frieder, ›Winsbecke‹, ›Winsbeckin‹, ›WinsbeckenParodie‹, in: VL2 , 10/1999, Sp. 1224–1231, hier Sp. 1229–1231. Seit dieser Zeit sind zum Winsbecken selbst keine weiteren Studien mehr erschienen. Im größeren Zusammenhang wurde er behandelt von Brüggen, Elke, Laienunterweisung. Untersuchungen zur deutschsprachigen weltlichen Lehrdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, Habil. masch. Köln 1994, S. 294–312; Storp, Ursula, Väter und Söhne. Tradition und Traditionsbruch in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters, Essen 1994 (Item mediävistische Studien 2), S. 93–116; Rasmussen, Ann Marie, Fathers to Think Back Through. The Middle High German Mother-Daughter and Father-Son Advice Poems known as ›Die Winsbeckin‹ and ›Der Winsbecke‹, in: Ashley, Kathleen M. / Clark, Robert L. A. (Hrsg.), Medieval Conduct, Minneapolis 2001 (Medieval cultures 29), S. 106–134; Weichselbaumer, Ruth, Der konstruierte Mann. Repräsentation, Aktion und Disziplinierung in der didaktischen Literatur des

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nen rufen offenbar schnell Desinteresse, vielleicht sogar Aversion hervor. Dass man jedoch literarische Werke dieser Art um eine wesentliche Komponente verkürzt, wenn man in ihnen nur Didaxe erkennen wollte, sollte mittlerweile eigentlich keiner Diskussion mehr bedürfen. Didaktische Texte besitzen ihre eigene Dignität und gehorchen eigenen literarischen Regeln.13 Auf den ersten Blick scheint der Winsbecke freilich alles andere als ein sorgfältig komponierter literarischer Text zu sein. Über weite Strecken ist eine systematische Ordnung der in Strophen untergliederten ethischen Verhaltensmaßregeln, die oft eingeleitet werden mit imperativischen Wendungen wie du solt, merke oder wizze, nicht zu erkennen. Wohl lassen sich zuweilen thematische Cluster und/oder über Strophengrenzen hinweg reichende Verknüpfungen ausmachen, doch insgesamt erweckt der Text eher den Eindruck einer assoziativen Reihung. Die einzelnen Strophen wirken beinahe beliebig austauschbar, was sich in der Überlieferung dann auch in einer beträchtlichen Varianz in deren Anzahl und Anordnung niederschlägt.14 Für den Texttypus der mittelhochdeutschen Lehrdichtung ist eine solche Struktur indes nicht ganz ungewöhnlich, wie beispielsweise Freidanks Bescheidenheit zeigt, deren moraldidaktische Sentenzen in den einzelnen Handschriften ständig erweitert, gekürzt oder umgestellt worden sind; auch den Renner, Konrads von Haslau Jüngling oder Hans Vintlers Pluemen der tugent könnte man in diesem Zusammenhang nennen. Eine ähnliche strukturelle Offenheit findet sich gleichfalls in lateinischer Literatur jenes Typus,15 etwa in Abaelards Carmen ad Astrolabium oder in den aus dem 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. stammenden Disticha Catonis, der wohl berühmtesten,

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Mittelalters, Münster 2003 (Bamberger Studien zum Mittelalter 2), S. 46–50, 118–138; Trokhimenko, Olga V., ›Gedanken sint vrî?‹ Proverbs and socialization of genders in the Middle High German didactic poems ›Die Winsbeckin‹ and ›Der Winsbecke‹, in: Földes, Csaba (Hrsg.), Res humanae proverbiorum et sententiarum. Ad honorem Wolfgangi Mieder, Tübingen 2004, S. 327–350. Vgl. dazu die programmatischen Ausführungen von Brüggen, Elke, Fiktionalität und Didaxe. Annäherungen an die Dignität lehrhafter Rede im Mittelalter, in: Peters, Ursula (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 546–574; zur antiken und mittellateinischen Lehrdichtung vgl. Effe, Bernd, Dichtung und Lehre. Untersuchungen zur Typologie des antiken Lehrgedichts, München 1977 (Zetemata 69); Haye, Thomas, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter. Analyse einer Gattung, Leiden, New York, Köln 1997 (Mittellateinische Studien und Texte 22). Vgl. dazu Brüggen, Laienunterweisung [Anm. 12], S. 311f.: »Der Winsbecke wurde offenbar nicht als ein Text mit stringenter Strophenfolge und somit nicht als konzeptionelle Einheit aufgefaßt, sondern eher als eine mehr oder minder lockere Folge von in sich abgeschlossenen Einzelstrophen, die zu kürzeren oder längeren, häufig thematisch geordneten Komplexen zusammengestellt werden konnten.« Auch dort zeigt sich »das gleiche Phänomen der fehlenden Systematik und Struktur […] in nahezu allen mittelalterlichen Sammlungen versifizierter Sentenzen«, Haye, Lehrgedicht [Anm. 13], S. 261.

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immer wieder abgeschriebenen und bearbeiteten moraldidaktischen Spruchsammlung des Mittelalters, die jahrhundertelang als ein Grundbuch des mittelalterlichen Lateinunterrichts diente und zweifelsohne auch dem Autor des Winsbecken und vielen Redaktoren der einzelnen Handschriften bekannt gewesen sein dürfte und sie entsprechend beeinflusst hat. Mit den beiden letztgenannten lateinischen Werken teilt der Winsbecke eine weitere Gemeinsamkeit. Die Präsentation moraldidaktischer Normen wird jeweils entworfen als Ermahnung eines Vaters, die dieser in direkter Rede an seinen Sohn richtet, wobei eine Antwort des Sohnes unterbleibt; es handelt sich mithin um einen Halbdialog. Auch für diese Form literarischer Normvermittlung hatten, neben den Proverbia Salomonis, die ungeheuer weit verbreiteten und in viele europäische Volkssprachen übersetzten Disticha Catonis Modellcharakter. In der deutschen Literatur des Mittelalters funktionieren nach diesem Muster außer der deutschen Übersetzung der Disticha16 und dem Winsbecken z.B. der Magezoge, die Väterlichen Lehren des Andreas sowie (der zweite Teil von) Tirol und Fridebrant. Nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Präsentation scheinbar assoziativer und unsystematisch wirkender Ratschläge eines Vaters für seinen Sohn erweist sich der Winsbecke mithin als Abkömmling und Mitglied einer bedeutenden normvermittelnden Literaturtradition des Mittelalters, die sich auf spätantike lateinische und somit letztlich aus klerikaler Schulbildung erwachsene Wurzeln zurückführen lässt. Klerikale Einflüsse werden vielleicht auch in den Anfangsstrophen des Winsbecken deutlich (Str. 2–7), in denen der Vater die Achtung vor und die Liebe zu Gott thematisiert und mit einem wörtlichen Bibelzitat die Weisheit der Welt als Torheit vor Gott (1. Kor. 3,19) bezeichnet (Str. 5,6f.) und seinen Sohn ermahnt, geistlich leben und insbesondere die pfaffen zu ehren, auch wenn – möglicherweise eine Anspielung auf den literarisch immer wieder thematisierten Gegensatz zwischen ›miles‹ und ›clericus‹ – das unter Laien nicht gerade üblich sei. Mit der Zeile Sun, ob dir got vüege ein wîp (Str. 8,1) leitet der Winsbecke dann aber zu einer anderen Thematik über, die von nun an den Text über lange Zeit bestimmt:

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Vgl. dazu Zarncke, Friedrich, Der deutsche Cato. Geschichte der deutschen Übersetzungen der im Mittelalter unter dem Namen Cato bekannten Distichen bis zur Verdrängung derselben durch die Übersetzung Seb. Brants am Ende des 15. Jahrhunderts, Leipzig 1852; Zatočil, Leopold, Cato a Facetus. Pojednání a texty. Zu den deutschen Cato- und Facetusbearbeitungen. Untersuchungen und Texte, Brno 1952 (Spisy Masarykovy University v Brně 48); Henkel, Nikolaus, Was soll der Mensch tun? Literarische Vermittlung von Lebensnormen zwischen Latein und Volkssprache und die ›Disticha Catonis‹, in: Lutz, Eckart Conrad u.a. (Hrsg.), Literatur und Wandmalerei II, Tübingen 2005, S. 23–46; Baldzuhn, Michael, Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ›Fabulae‹ Avians und der deutschen ›Disticha Catonis‹, 3 Bde., Berlin, New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 44); vgl. auch ders., ›Disticha Catonis‹ – Datenbank der deutschen Übersetzungen, http://www.rrz.uni-hamburg.de/disticha-catonis/ (Stand: 30.12.2011).

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dem von der Figur des Vaters präsentierten Entwurf einer auf ethisch und moralisch korrektes Verhalten in unterschiedlichen Lebenssituationen ausgerichteten Didaxe für weltliche Adelige. Dabei spielt der Text eine weitere literarische Tradition ein: die des höfischen Romans. Sie manifestiert sich in intertextuellen Verweisen wie der Erwähnung von Gahmuret und dessen Verhältnis zu einer moerin (Str. 18), erschöpft sich aber nicht darin. Denn die Ausgangssituation des Winsbecken – ein älterer, erfahrener Mann belehrt einen jüngeren, der kurz vor der Übernahme einer eigenen Herrschaft stehen könnte, über korrektes Handeln und Verhalten eines adelig-ritterlichen Herrn – erinnert an Szenarien, wie sie häufiger im höfischen Roman, nicht selten an strukturell bedeutsamer Position, begegnen; so etwa, wenn Gurnemanz Parzival über das Rittertum belehrt oder wenn Gawein seinem Sohn Wigalois Ratschläge zur Herrschaftsausübung im eigenen Land gibt. Der Forschung sind Analogien dieser Art bereits früh aufgefallen.17 Zuletzt hat Hannes Kästner sie in seiner instruktiven Studie über Mittelalterliche Lehrgespräche auf breiter Materialbasis zusammenfassend beschrieben und dabei auch den Winsbecken umsichtig und überzeugend in diese Tradition eingeordnet.18 Der Winsbecke ist also offensichtlich mehr als ›nur‹ ein lehrhafter Text, der – im Übrigen wenig spektakuläres und absolut erwartbares – Wissen und Verhalten für Adelige vermittelt. Er ist zugleich, und wohl sogar primär, ein aus lateinischen, klerikalen wie aus volkssprachigen, höfischen Schreibmustern komponiertes Gebilde, dessen Literalität und Fiktionalität zeitgenössischen Rezipienten, oder doch zumindest Gruppen von ihnen, nicht verborgen geblieben sein dürfte. Für die lehrhafte Literatur des Mittelalters ist dieser Befund allerdings keineswegs singulär; er gilt, um nur ein zeitnahes Beispiel zu nennen, in vergleichbarer Weise auch für Tirol und Fridebrant. Die, der Überlieferung nach zu urteilen, relativ weite Verbreitung und der lang anhaltende Erfolg, der den Winsbecken von manchen anderen Texten dieses Genres abhebt, lassen sich durch die auszumachende Literalität allein noch nicht erklären. Um diesen Erfolg verstehen zu können, ist es hilfreich, einen genaueren Blick auf die Überlieferung zu werfen. Wenn bislang vom Winsbecken die Rede war, musste der Eindruck entstehen, als wenn es sich bei diesem Text ausschließlich um die literarische Darstellung der Belehrung eines Jüngeren durch einen Älteren handelte. Und zu diesem Schluss gelangt man auch fast zwangsläufig, wenn man Handbücher, große Teile der einschlägigen (älteren) Forschung und nicht zuletzt die kritischen Ausgaben konsultiert.19 Zieht man freilich die den Winsbecken überliefernden Codices zu Rate,

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Vgl. etwa Leitzmann, Albert, Der Winsbeke und Wolfram, in: PBB, 14/1889, S. 149–152. Kästner, Hannes, Mittelalterliche Lehrgespräche. Textlinguistische Analysen, Studien zur poetischen Funktion und pädagogischen Intention, Berlin 1978 (Philologische Studien und Quellen 94), bes. S. 210–214; vgl. auch Brinker-von der Heyde, Claudia, Geschlechtsspezifik, Normen und Konflikte in mittelalterlichen Lehrgesprächen, in: JbIG, 33/2001, S. 41–62. Die erste moderne Ausgabe des Winsbecken stammt von Haupt, Moriz (Hrsg.), Der Winsbeke und die Winsbekin, Leipzig 1845; ihm folgte Leitzmann, Albert (Hrsg.), König Tirol,

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wird man zu einem anderen Ergebnis kommen. Denn die meisten jener Handschriften, in denen der Text nicht nur fragmentarisch überliefert ist, darunter gerade auch die ältesten, kennen eine frappierende Entgegnung des Sohnes auf die langen, zuweilen auch langatmigen Ausführungen des Vaters, durch die der Typus des halbdialogischen Lehrgesprächs eine interessante Variation erfährt.20 Bei dieser Entgegnung handelt es sich um eine Generalabrechnung des Sohnes mit den Ratschlägen und der Lebensweise seines Vaters. Das Faktum an sich ist in der normvermittelnden Literatur des Mittelalters schon ungewöhnlich genug; eine völlig unerwartete Wende nimmt jene Entgegnung aber, wenn der Sohn seinem Vater angebliche Weltverfallenheit und die Vernachlässigung christlicher Tugenden vorwirft: Vater, ich bin ein kint, doch sihe ich wol, daz disiu werlt ein goukel ist. ir vreude erlischet als ein kol, ir bestiu wunne wirt ein mist, ir trôst ist gar ein ungenist. si lât ir vriunde in swacher habe, des dû wol innen worden bist. dû hâst ie her gedienet ir: nû merke, waz ir trügeheit ze lône habe gegeben dir. (Str. 58) […] Vater, wîsem manne schône zimt, daz er tuo wol mit staeten siten. dâ bî ein tumber bilde nimt: daz würde vil lîhte sus vermiten. ein alter man mit tumben siten, der niht bedenket, waz er ist und waz got durch in hât erliten, der ist in tôren aht gemuot. ez ist ein lop vor allem lobe, der an dem ende rehte tuot. (Str. 60)

Es ist ein in mehrerer Hinsicht provokantes Verhalten, das die Figur des Sohnes hier an den Tag legt; dies vor allem auch deshalb, weil der Vater direkt zu Beginn seiner Ausführungen, also an sehr prominenter Stelle, just die vom Sohn eingeklagten christlichen Tugenden der Gottesliebe und der Heilsfürsorge angeführt hatte (Str.

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Winsbeke und Winsbekin, Halle 1888 (ATB 9), (2. Aufl. unter dem Titel Kleinere mhd. Lehrgedichte, Halle 1928); die derzeit aktuelle kritische Ausgabe des Leitzmann-Textes wurde bearbeitet von I. Reiffenstein: Leitzmann, Albert (Hrsg.), Winsbeckische Gedichte nebst Tirol und Fridebrant. Dritte, neubearbeitete Auflage von Ingo Reiffenstein, Tübingen 1962 (ATB 9). Es sind dies die Handschriften B, C, J, h und l; einen Sonderfall bildet k 2 (dazu s.u).

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2–5). Gleichwohl fordert der Sohn den Vater unvermittelt auf, ein Spital zur Armenpflege und -versorgung zu gründen und dort, in Abkehr von seinem bisherigen Weltleben, unverzüglich einzutreten, um Buße zu tun. Vater, mit urloube wil ich dir mîn herze entsliezen über al. ez enmac sich niht verheln bî mir: dû solt vür dîner sünden val legen ûf dîn eigen ein spitâl und solt dich selben ziehen drîn. ich var mit dir in vrîer wal. alle unser habe sul wir dar seln und vür der werlte trügeheit daz süeze himelrîche weln. (Str. 61)

Völlig zerknirscht und unter Tränen geht der zuvor absolut dominant, überlegen und selbstsicher wirkende Vater darauf ein, bereut in einer Art Beichte seine Sünden – von denen bislang nie die Rede gewesen war –, lässt seine Eigenleute frei und stiftet sein Vermögen für das vom Sohn geforderte Spital, in das er mit ihm zusammen schließlich eintritt. Got herre, dû weist wol, daz ich bin in sünden ein vertiefter man und daz mîn saelden vrîer sin noch staete riuwe nie gewan, sît ich mich sünden êrst versan. nû bin ich in mîn alter komen und ruofe dîne marter an und dîne tugent manicvalt, daz als dem schâcher mir geschehe, der spaeter riuwe nie engalt. (Str. 66) […] Von herzen in vergeben sî, die mir ie her getâten leit. mîn eigenliute ich lâze vrî, mîn huobengelt smal unde breit, daz man mir bûwete unde sneit vür eigen, des verzîhe ich mich. ich hânz ûf ein spitâl geleit: ez sol vürbaz der armen sîn. ich und mîn eingeborner sun zuo in uns wellen ziehen drîn. (Str. 80)

In der Forschung sind die harsche Entgegnung des Sohnes und die überraschende Reaktion des Vaters lange Zeit, und teilweise noch bis heute, als nachträgliche Erweiterung und insofern als ›unecht‹ bewertet worden. Bereits Moriz Haupt hatte in seiner Edition von 1845 die Entgegnung des Sohnes und die darauf folgende Beichte des Vaters als »einen frommen aber albernen anhang« bezeichnet, der nicht zum Gehalt

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der vorhergehenden Strophen passe.21 Seiner Meinung haben sich spätere Herausgeber und Wissenschaftler weitestgehend angeschlossen. Ihre Begründung findet bzw. fand jene Athetese zum einen in dem Umstand, dass der Winsbecke – allerdings durchaus gattungskonform, wie wir gesehen haben – ohnehin eine lockere Struktur aufweise, mithin für Ergänzungen offen sei. Zum anderen wurde geltend gemacht, dass die unvermittelte und unverschämt wirkende, in gewisser Weise den Vater gar der Lächerlichkeit preisgebende (vgl. Str. 64) Philippika des Sohnes auf den ersten Blick in keinem direkten Zusammenhang mit den Ausführungen des Vaters stehe, da sie auf dessen Argumentation nicht eingehe, sondern aus einer anderen Perspektive argumentiere.22 Keine Entgegnung des Sohnes mitsamt anschließender Zerknirschung des Vaters bieten allerdings von den umfangreicheren Manuskripten nur die relativ späte Hs. g (1430/40) sowie Hs. k, die Kolmarer Liederhandschrift (um 1460), die diesen Teil ohnehin auf ganz eigene Weise behandelt (dazu s.u.).23 Es ist damit durchaus denkbar, dass die längere, früher und häufiger überlieferte Fassung, die eine Entgegnung des Sohnes kennt, die ältere ist. Sicher belegen lässt sich das allerdings ebenso wenig wie die umgekehrte Auffassung. Man kann auch keine Aussagen darüber treffen, wie weit die beiden Teile entstehungsgeschichtlich auseinander oder wie eng sie beisammen liegen. Dass beide Teile einen gemeinsamen Verfasser haben, ist

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Haupt (Hrsg.), Der Winsbeke [Anm. 19], S. VIII. Im engeren Sinne philologische Gründe nennt Haupt für seine Entscheidung nicht. Ausschlaggebend dafür ist vielmehr ein psychologisierendes ‚Hineinfühlen‘ in die Absichten des Autors: »der dichter, der uns in dem ersten theile des gedichtes als ein verständiger mann erscheint, konnte unmöglich so etwas im sinne haben und den alten ritter seine lehren ganz umsonst aussprechen lassen«; ebd., S. IX. Haupt, der durchaus registriert hatte, dass fast alle nicht-fragmentarischen Handschriften die Entgegnung des Sohnes kennen, war sich in seinem Urteil aber anscheinend nicht völlig sicher. Sonst hätte er diesen Textteil wohl vollständig aus seiner Ausgabe verbannt, statt ihn mit durchlaufender Strophenzählung und ohne einen Neueinsatz oder einen Zusatz markierende Zwischenüberschrift (wie in den jüngeren Ausgaben), vielmehr nur mit einem Spatium zwischen Str. 56 und 57, in seine Edition zu integrieren. Einige Beispiele, in denen ein üblicherweise allein vom praeceptor geführtes, höchstens durch kurze, verständnissichernde Antworten des Schülers unterbrochenes Lehrgespräch eine unerwartete Wendung nimmt, sind aus der mittellateinischen Literatur bekannt (vgl. Haye, Lehrgedicht [Anm. 13], S. 232–235). Dort bezieht sich die Rebellion eines oder mehrerer Schüler aber auf die pädagogischen und didaktischen Fähigkeiten des Lehrers, die in Abrede gestellt oder eingeklagt werden. Didaxe und Auflehnung des educandus werden demnach hier als in einem direkten Zusammenhang stehend dargestellt. Auffällig bleibt freilich, dass alle bekannten Fragmente lediglich Strophen aus der normativen Rede des Vaters, also aus dem ersten Teil, überliefern. Ob es sich dabei um einen Zufall der Überlieferung handelt, oder ob daraus geschlossen werden kann, dass es eine größere Anzahl von Handschriften gegeben hat, die nur den ersten Teil enthielten, ist methodisch schlecht kontrollierbar; vgl. dazu auch Brüggen, Laienunterweisung [Anm. 12], S. 304–306.

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ebenfalls nicht völlig auszuschließen.24 Solange aber auf methodisch gesichertem Fundament stehende Entscheidungen darüber nicht getroffen werden können, sollte man am besten davon ausgehen, dass es sich um etwa gleich alte, aber eben nicht gleich lange Fassungen handelt. In jedem Fall dürfte es textkritisch eine hochproblematische Vorgehensweise sein, einen seit Beginn der Überlieferung in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Handschriften nachweisbaren, nicht unerheblichen Textbestandteil (immerhin ca. 30% des Gesamttextes) für unecht zu erklären, weil er dem Verständnis oder dem Empfinden eines Herausgebers oder Interpreten zuwiderläuft.25 Es sollte zuerst immer darum gehen, nach plausiblen Gründen für die handschriftlich überlieferte Textgestalt zu suchen. Im Fall des Winsbecken existieren sie durchaus. Erstens ist aus der mittelalterlichen Literatur ein Modell bekannt, das geeignet erscheint, die überraschende Entgegnung des Sohnes besser einordnen zu können, wenn sie die überwiegend auf adelig-weltliche Herrschaftssicherung ausgerichteten Lehren des Vaters mit dezidiert religiös-christlichen Argumenten kontert, ja sie sogar konterkariert. Es handelt sich um das literarische Muster des ›puer senex‹, der sich – auf das Vorbild des zwölfjährigen Jesus im Tempel rekurrierend – seinen Lehrern als überlegen erweist, weil er von Gott besonders inspiriert und mit Weisheit ausgestattet ist, die seinem Alter eigentlich nicht zukommt.26 Nach diesem Muster funktionieren zahlreiche hagiographische Werke, aber auch höfische Texte wie z.B. der Gregorius oder, übertragen auf eine ›puella seneca‹, der Arme Heinrich. In profanisierter Form könnte auch Gottfried in seinem Tristan bei jenem Modell Anleihen genommen haben. Im Winsbecken tritt das literarische Muster des ›puer senex‹ sicher nicht in aller Deutlichkeit hervor. Wenn dort der Vater aus der Figurenperspektive auf die frappie24

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Mit Blick auf die divergierende Vater- und Sohnesrede macht J. Bumke darauf aufmerksam, dass »auch in anderen didaktischen Werken des Mittelalters […] ein und dieselbe Sache einmal positiv und einmal negativ dargestellt« werde, eine Aufspaltung der beiden Teile auf unterschiedliche Verfasser hält er deshalb nicht für zwingend notwendig; Bumke, Joachim, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 20004, S. 333f. In der jüngeren Forschung ist jene editorische Entscheidung dann auch verschiedentlich, mit freilich divergierenden Begründungen, kritisiert worden. So hält Behr, ›Der werden lop‹ [Anm. 12], nur die längere Fassung für durch die Überlieferung gedeckt und versucht entsprechend, den beiden divergierenden Teilen der Vater- und der Sohnesrede ein harmonisierendes Gesamtkonzept zu unterlegen. Dagegen wendet sich Brüggen, Laienunterweisung [Anm. 12], S. 298–306; in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit den Thesen von Behr zeichnet sie den problematischen Gang der Winsbecke-Editionen sowie der entsprechenden Forschung nach und plädiert schließlich für zwei unterschiedliche Fassungen. Rasmussen, Fathers [Anm. 12], kritisiert die Entscheidung der Winsbecke-Herausgeber aus feministischer Perspektive. Ihrer Meinung nach resultiert sie aus dem patriarchalischen Denken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, das den scheinbar unmotivierten Widerspruch des Sohnes nicht habe nachvollziehen können. Anders Behr, ›Der werden lop‹ [Anm. 12], S. 386f., der den Sohn nach dem biblischen Muster des ›pauper spiritu‹, des ›Armen im Geiste‹ (Matth. 5,3), modelliert sieht.

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renden, für sein Alter höchst ungewöhnlichen Ausführungen seines Sohnes über die Negierung des weltlichen Lebens zugunsten einer Vorsorge für das ewige Seelenheil mit den Worten reagiert: Sun, die rede ûz dem herzen dîn / gesprochen hât ein wîser geist (Str. 62,1f.), scheint jenes Muster aber doch eingespielt und funktionalisiert zu werden. Ein Zweites kommt hinzu. Erst durch die barsche Entgegnung des Sohnes gewinnt der Winsbecke an Komplexität, wird er zu einem problemhaltigen und damit wohl auch zu einem noch interessanteren Text.27 Zwei gleichberechtigte normative Diskurse, personalisiert durch die Figur des Vaters und die des Sohnes, werden sichtbar. Der in sich stimmigen und anerkannten Norm einer ethisch vorbildlichen adeliglaikalen Lebensführung, wie sie der Vater in seinen Ratschlägen gezeichnet hat, wird die ebenso stimmige und anerkannte Norm eines ethisch ebenso vorbildlichen, aber dezidiert christlich-laikalen Lebensentwurfs gegenübergestellt, wie der Sohn ihn vorstellt. Dadurch entsteht eine Spannung, die, obschon der Text dies auf der histoireEbene durch den Sinneswandel des Vaters vorzugeben versucht, auf der Ebene des discours nicht so leicht aufzulösen ist. Die Stimmen konkurrieren miteinander. In seiner vollständigen, die Redeanteile beider Figuren umfassenden Gestalt – und nur in dieser – kann der Winsbecke daher als ein im Bachtinschen Sinn dialogischer Text bezeichnet werden. Dabei lassen sich die unterschiedlichen handschriftlichen Ausprägungen des Winsbecken auf diese Dialogizität durchaus ein. Je nachdem, wie die Entgegnung des ›puer senex‹ akzentuiert wird, verschieben sich die Grenzen der ethischen Spannungsfelder und damit auch diejenigen der durch den Text evozierten Normen. In den umfangreichsten Fassungen (Hs. C, J und h) scheinen die christlich-laikalen Normen über die adelig-laikalen zu dominieren, wenn der Vater schließlich, wie die letzte Strophe (Str. 80) dies schildert, auf seine Herrschaft verzichtet, mit seinem Vermögen ein Spital stiftet und dort selbst zusammen mit seinem Sohn eintritt.28 Jene programmatische Strophe, in der diese letzte Konsequenz gezogen wird, findet sich allerdings nicht in Hs. B (Weingartner Hs.). Ebenso sucht man dort die meisten

27

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Mit Gadamer argumentierend, könnte man erst das einen gänzlich unerwarteten Verlauf nehmende Gespräch zwischen Vater und Sohn als »eigentliches Gespräch« bezeichnen: »[…] je eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die Führung desselben in dem Willen des einen oder anderen Partners. So ist das eigentliche Gespräch niemals das, was wir führen wollten. Vielmehr ist es im allgemeinen richtiger zu sagen, daß wir in ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, daß wir uns in ein Gespräch verwickeln. […] Was bei einem Gespräch ›herauskommt‹, weiß keiner vorher.« Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 3., erweiterte Auflage, Tübingen 1972, S. 361. Im 12. und 13. Jahrhundert ist ein solches Verhalten für Adelige durchaus nachweisbar. Der berühmteste Fall dürfte Bernhard von Clairvaux sein, der mit einem großen Teil seiner Verwandtschaft in das Kloster Cîteaux eintrat; aus germanistischer Perspektive wird man an Otto von Botenlauben denken.

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der teilweise drastischen Selbstanklagen des Vaters vergeblich, denn seine Beichtrede, die durch den von gleicher Schreiberhand stammenden Randeintrag Des vatter l[ere] ze sinem svn [hat] ende hie vom restlichen Text abgesetzt wird, umfasst in Hs. B lediglich 4 Strophen (Str. 65 und 77–79) statt der 15 Strophen der längsten Fassungen. Der Redaktor der Weingartner Handschrift hat also die Figur des Vaters partiell entlastet, dadurch zugleich aber auch die christlich-laikalen Diskursanteile zurückgedrängt. Ein ähnliches Ziel hatte vermutlich der Redaktor der Hs. l, wenn er die letzten Strophen (Str. 77, 78 und evtl. 80) durch die singuläre Überschrift wie der son bichtet einleitet und so die Asymmetrie zwischen dem moralisch überlegen scheinenden ›puer senex‹ und dem völlig diskreditierten Vater ein wenig abbaut, damit jedoch auch die normativen Grenzen verschiebt. Wieder einen anderen Weg geht die Kolmarer Liederhandschrift, in der der Winsbecke mit einem weitgehend identischen, in einigen Punkten aber doch charakteristisch variierenden Strophenbestand gleich zweimal, und zwar an unterschiedlichen Stellen des voluminösen Kodex, überliefert ist (Hs k1 und k2).29 Trotzdem handelt es sich nicht um eine simple Doppelung, sondern jeweils um interessante Textvariationen. Denn während k1 die überraschende Antwort des Sohnes auf die Ausführungen des Vaters schlichtweg unterdrückt, den Vater also völlig exkulpiert und mithin positiviert, stellt k2 die Entgegnung des Sohnes an den Anfang des Textes und fügt dann – beginnend mit Sun, geistlich leb in eren hab (Str. 6,1) – geschickt jene Strophen aus den umfangreichen Lehren des Vaters ein, die eine christliche Lebensführung thematisieren. Der christlich-laikale Diskurs wird so zu gleichen Teilen auf Vater und Sohn verteilt. Die restlichen, weltlichen Themen gewidmeten Ermahnungen der Vaterfigur erscheinen in k2 im Anschluss unter der Überschrift Ein ander lere des vatters. Die Beichte des Vaters, sein Entschluss zur Weltentsagung und zum Eintritt in das Spital sind in k1 wie in k2 hingegen durch die Überschrift XV lieder in dem selben done vom vorhergehenden Teil abgetrennt und bilden ein eigenes Segment. Adelig-ritterliche und christlich-religiöse Normen erscheinen in den Winsbecke-Fassungen der Kolmarer Liederhandschrift somit als selbstständige Partien, die beide ihren genuinen Wert besitzen und beide in der grußwyse des tugenthafften schreibers verfasst sind, wie der Autor des Winsbecke-Komplexes dort bezeichnet wird.30 Aus dem Gegeneinander 29

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Zur Kolmarer Handschrift vgl. Brunner, Horst: Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1975 (MTU 54), S. 67–171; Petzsch, Christoph, Die Kolmarer Liederhandschrift. Entstehung und Geschichte, München 1978; Baldzuhn, Michael, Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift, Tübingen 2002 (MTU 120); der Winsbecke wird dort allerdings nicht behandelt. Vgl. auch das Faksimile der Kolmarer Liederhandschrift: Müller, Ulrich / Spechtler, Franz Viktor / Brunner, Horst (Hrsg.), Die Kolmarer Liederhandschrift der Bayerischen Staatsbibliothek München (cgm 4997), 2 Bde., Göppingen 1976 (Litterae 35). Bezogen auf die Gesamtanlage des Kodex sind k1 und k2 verbunden durch die Überschrift von k2: in der grußwyse[:] des suones antwort vff des vaters lere, die er vor vnd nach hat getan dem sone.

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der Diskurse ist so ein Nebeneinander geworden. Wieder eine andere Möglichkeit akzentuiert der Redaktor der Hs. g, jener (abgesehen vom Sonderfall k1) einzigen umfangreicheren Handschrift, die keine Entgegnung des Sohnes und die daraus resultierende zerknirschte Reaktion des Vaters kennt. Eine Konfrontation der normativen Diskurse entfällt damit gänzlich, der christlich-laikale Diskurs wird zugunsten des adelig-laikalen schlichtweg unterdrückt, wobei allerdings nicht vergessen werden darf, dass auch der Vater seine ethischen Lehren mit religiösen und kirchlichen Themen beginnen lässt. Der Grund für die ›Emendation‹ der Entgegnung des Sohnes wird darin zu suchen sein, dass Fassung g, die überdies durch einige Plus- und Minusstrophen sowie durch erhebliche Strophenumstellungen gekennzeichnet ist, der additivreihenden Strophenfolge des im Kodex unmittelbar vorausgehenden Freidank-Corpus angeglichen wurde, das ebenfalls keine Entgegnung auf die vorgebrachten Lehren bietet. Der offene, Freidanks Bescheidenheit adäquate Charakter von Fassung g manifestiert sich überdies in der Auslassung der letzten Strophe des ersten Teils, die in den anderen Winsbecke-Handschriften mit den Worten Sun, ich will dir nû niht mêre sagen. / der mâze ein zil gestôzen sî (Str. 56,1f.) einsetzt und somit eine abschließende Quintessenz der väterlichen Moraldidaxe bietet.31 Wohl nicht nur, aber auch die im Winsbecken verhandelten, teilweise kontrastierenden, teilweise ineinander verschränkten normativen Diskurse könnten dazu beigetragen haben, dass dieser Text, im Unterschied zu manchen anderen lehrhaften Werken, eine intensive und lang anhaltende Rezeption fand. Beinahe jede der erhaltenen Handschriften beteiligt sich an der Diskussion, wenn neue Möglichkeiten der Strophenverbindung erprobt und so die normativen Valenzen jeweils anders beleuchtet werden. Bezeichnend für die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten des Winsbecken ist nicht zuletzt auch die an den Handschriften beobachtbare Kontextualisierung, die eine differierende Mitüberlieferung dokumentiert. In der ältesten, allerdings nur fragmentarisch überlieferten Handschrift (Fr. E, Krakau, Bibl. Jagiellonska, Berol. mgq 1532; letztes Viertel 13. Jh.) steht der Winsbecke in geistlich-hagiographischen Zusammenhängen. Denn aus demselben Kodex stammen Reinbots von Durne Georg und Hartmanns Gregorius, beide ebenfalls fragmentarisch. In einer Sammelhandschrift geistlichen Inhalts, die vielleicht für ein Nonnenkloster angefertigt wurde, wird der Winsbecke auch in Hs. K (Basel, Universitätsbibl., Cod. B XI 8; Anfang 14. Jh.) überliefert. Sie bietet allerdings nur eine Kurzfassung und

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Schon dem ersten Herausgeber Haupt war aufgefallen, dass in Hs. g nicht nur die Entgegnung des Sohnes und die Beichte des Vaters fehlen, sondern gleichfalls die letzten Strophen der normativen Ausführungen des Vaters; danach stehen zwei unbeschriebene Blätter, bevor die Winsbeckin, ebenfalls ohne die Schlussstrophen, folgt. Seine Erklärung dafür ist heute allerdings nur noch partiell nachvollziehbar: »das gedicht ist in g nach unvollkommener erinnerung aufgeschrieben oder einer am ende unvollständigen handschrift entnommen und die leeren blätter sind vielleicht frei gelassen um den schluss nachtragen zu können.« Haupt (Hrsg.), Winsbeke [Anm. 19], S. VIII.

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enthält die Strophen 1–4, 28 und 56 sowie, an anderer Stelle, eine weitere, geistlich kontrafazierte Strophe. In didaktisch-lehrhaftem Kontext, u.a. mit Freidanks Bescheidenheit, erscheint der Winsbecke hingegen, wie gesehen, in Hs. g (Gotha, Forschungsbibl., Cod. Chart. B 53; um 1430/40) sowie in Hs. l (Rom, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Rossiano 708; Mitte 15. Jh.), in der dem Winsbecken der Lucidarius vorausgeht. Die Vergesellschaftung mit Nibelungenlied und Klage in Hs. J (Berlin, Staatsbibl., mgf 474; um 1300) und Hs. h (Berlin, Staatsbibl., mgf 681; 1450/55; Abschrift von J) verdankt sich eventuell der strophischen Form; nur in J und h geht allen Strophen des Winsbecken eine jeweils den Inhalt zusammenfassende Überschrift voraus; daneben ist vielleicht aber auch an eine übergreifende Programmatik zu denken.32 In lyrischen Kontexten, oft mit Leichs oder Sangspruchdichtung vergesellschaftet, erscheint der Winsbecke in Hs. B (Stuttgart, Landesbibl., Cod. HB XIII 1; 1. Viertel 14. Jh.), in Hs. C (Heidelberg, Universitätsbibl., Cpg 848; 1305/1340), in Hs. k, der Kolmarer Liederhandschrift, dort zudem mit Melodie-Überlieferung (München, Staatsbibl., Cgm 4997; um 1460), im verlorenen Münsteraner Fragment (Gräfl. Galensches Archiv, R 11; 14. Jh.), in dem der Winsbecke mit dem Wartburgkrieg zusammen überliefert ist,33 sowie, als Kurzfassung, in Hs. w, der Wiener Leichhandschrift (ÖNB, Cod. 2701; Mitte 14. Jh.), dort mit Notenlinien, in die aber keine Melodie eingetragen wurde. Mit Melodie wird die erste Strophe des Winsbecken ebenfalls in einer von ca. 1615 datierenden Handschrift (Weimar, Thüring. Landesbibl., Fol. 421/32) überliefert, die im Umkreis der Nürnberger Meistersinger Gesellschaft entstand und kurze Exzerpte der Kolmarer Liederhandschrift bietet.34 Unterstrichen wird die Attraktivität und Bekanntheit des Winsbecken überdies durch die Kontrafakturen, die der Text fand. In fast allen Handschriften wird er gefolgt von einem, strophisch genau gleich gebauten, ›weiblichen‹ Pendant, der Winsbeckin, in der eine Mutter ihre Tochter belehrt. Thematisch differiert das weibliche Lehrgespräch allerdings signifikant vom männlichen. Statt Herrschaftsverhalten und/oder religiösen Diskursen stehen hier die, beim Winsbecken marginalen, Themen Sexualität, Minne und Ehe im Zentrum. Verhaltensnormen für Männer und Frauen werden also ganz unterschiedlich modelliert, was der Genderforschung schon längst aufgefallen ist und zu einschlägigen Analysen geführt hat.35 Auch strukturell differie32

33

34 35

Vgl. dazu Trokhimenko, Olga V., On the Dignity of Women: The ‚Ethical Reading‘ of ›Winsbeckin‹ in mgf 474, Staatsbibliothek zu Berlin-Preussischer Kulturbesitz, in: JEGP 107/2008, S. 490–505. Für den Winsbecken ist eine sangliche Aufführung mit verteilten Rollen, ähnlich wie beim Wartburgkrieg, vorstellbar; vgl. dazu Müller, Ulrich, Aufführungsversuche zur mittelhochdeutschen Sangvers-Epik: ›Titurel‹, ›Wartburgkrieg‹, ›Winsbeck‹ und ›Parzival‹. Ein Erfahrungsbericht über die Zusammenarbeit mit den Musikern Reinhold Wiedenmann und Osvaldo Parisi, in: Kühn, Ingrid / Lerchner, Gotthard (Hrsg.), »Von wyssheit würt der Mensch geert …«. Festschrift für Manfred Lemmer zum 65. Geburtstag, Frankfurt/M. 1993, S. 87–103. Vgl. zu dieser Handschrift Brunner, Die alten Meister [Anm. 29], S. 84–130. Vgl. Ehlert, Trude, Die Frau als Arznei. Zum Bild der Frau in hochmittelalterlicher deutscher Lehrdichtung, in: ZfdPh, 105/1986, S. 42–62; Barth, Susanne, Jungfrauenzucht. Literatur-

Der Winsbecke zwischen Didaxe und Diskussion

317

ren beide Texte. Während die väterlichen Lehren, lateinischen wie volkssprachigen Mustern entsprechend, zunächst ohne Erwiderung des educandus vorgetragen werden, entwickelt sich zwischen Mutter und Tochter sofort ein, teilweise hitziger Dialog, der in einigen Passagen eines gewissen Humors nicht entbehrt. Auch dieses Zwiegespräch folgt einem literarischen Modell. Da für den ›weiblichen‹ Typus des Lehrgesprächs offenbar kein traditionelles, in der Latinität bzw. im Schulunterricht gründendes literarisches Modell existierte, griff man hier auf das aus der volkssprachigen Romanliteratur vertraute, ebenfalls die Themen Liebe, Ehe, Sexualität behandelnde Muster des Mutter-Tochter-Dialogs zurück, wie er sich etwa im Eneasroman oder zu Beginn des Nibelungenlieds findet. Lassen sich in der Winsbeckin schon gewisse Ansätze eines komischen, aber auch widerständigen Potenzials ausmachen, das in der durch die Handschriften immer ermöglichten Zusammenschau mit dem Winsbecken Ann-Marie Rasmussen zufolge geeignet erscheint, die Ernsthaftigkeit auch der väterlichen Lehren zu erschüttern, gilt das erst recht für die Parodie des Winsbecken, von der einige Strophen durch zwei Fragmente überliefert werden (Fr. W, Fr. P).36 Hier sind die auf eine ethisch und moralisch vorbildliche Lebensführung zielenden Normen des Winsbecken vollends unterminiert und konterkariert, so etwa, wenn das Leben im Wirtshaus statt der gefährlichen Turnierteilnahmen gepriesen oder statt kluger Zurückhaltung ungefragtes Dazwischenschwätzen als optimales Verhalten für einen guten Ratgeber genannt wird. Zusammenfassend kann man konstatieren, dass sich der Winsbecke sicherlich auch als didaktischer Text, als literarische Vermittlung ethischer Normen unterschiedlicher Provenienz lesen lässt. Ebenfalls können die Kontrafakturen, sowohl die grotesk verzerrte Negativdidaxe der Parodie als auch die Einübung geschlechtsspezifischer Normen in der Winsbeckin, als systemstabilisierendes Verhaltensregulativ verstanden werden. Insofern haben wir es beim Winsbecke-Komplex nicht etwa mit ›leerer Lehre‹ zu tun. Allerdings schöpft eine solche Rezeptionshaltung das literarische Potenzial und die diskursiven Valenzen insbesondere des Ausgangstextes, also des Winsbecken, nicht vollständig aus. Eine Rezeption als reine Didaxe wäre eine reduktionistische, die aber im Mittelalter (siehe etwa Hs. g) immerhin einige Anhänger gefunden zu haben scheint; in der Neuzeit dann allerdings sehr viele. Den relati-

36

wissenschaftliche und pädagogische Studien zur Mädchenerziehungsliteratur zwischen 1200 und 1600, Stuttgart 1994, bes. S. 75–84; Rasmussen, Ann Marie, Bist du begehrt, so bist du wert. Magische und höfische Mitgift für die Töchter, in: Kraft, Helga / Liebs, Elke (Hrsg.), Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur, Stuttgart, Weimar 1993, S. 7–33; dies.: Mothers and Daughters in Medieval German Literature, Syracuse / New York 1997, bes. S. 136–159; Trokhimenko, ›Gedanken‹ [Anm. 12]; dies., Dignity [Anm. 32]. Brüggen, Elke, Minne im Dialog. Die ›Winsbeckin‹, in: Lähnemann, Henrike / Linden, Sandra (Hrsg.), Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2009, S. 223–238. Vgl. Hofmeister, Wernfried, Literarische Provokation im Mittelalter am Beispiel der ›Winsbecke-Parodie‹, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, 22/1991, S. 1–24.

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ven Erfolg dieses Textes, etwa die Aufnahme in bedeutende Lyriksammlungen wie die Manessische oder die Weingartner Handschrift, die beide wohlgemerkt die Entgegnung des Sohnes und die Beichte des Vaters wie auch die Kontrafaktur durch die Winsbeckin kennen, kann eine solche Rezeptionsweise jedoch nur unzureichend erklären. Mit Blick auf die leider nur fragmentarisch erhaltene Kopenhagener Handschrift (Fr. W), die sowohl Strophen aus dem Bestand des Winsbecken als auch solche aus der Winsbeckin und ebenfalls Strophen aus der Winsbecke-Parodie umfasst,37 die also den gesamten, in Teilen widerstreitenden Komplex (wenn man etwa an die Parodie und den Ausgangstext denkt) in einer Handschrift vereinigt, wäre zudem zu überlegen, ob nicht auch in der Präsentation und im literarischen Durchspielen mehrerer Varianten unterschiedlicher normativer Diskurse ein gewisser Reiz bestanden haben könnte. Schließlich sind der Entwurf und das Durchspielen unkonventioneller, durchaus auch verquerer oder dilemmatischer Konstellationen genretypisch für weite Teile der mittelalterlichen Lyrik; solchen Entwürfen begegnen wir im Minnesang wie in der Spruchdichtung. Nichts anderes aber führt gleichfalls der Winsbecke vor. Es werden zwei partiell konfligierende ethische Normen präsentiert und diskutiert, die beide sozial sanktioniert sind. Das ist kein ganz unbekanntes Thema in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts. Man denke etwa an Wolframs Parzival, in dem Artusgesellschaft und Gralgesellschaft divergierende, teilweise aber auch kongruierende Normen repräsentieren, oder auch an das Räsonieren darüber, wie man zer welte solte leben, um êre und varnde guot zusammen mit gotes hulde […] in einen schrîn zu bringen, in Walthers Reichsklage (L 8,4).38 Der Winsbecke könnte beinahe als an Vater und Sohn (in vertauschten Rollen) vorgeführte, szenische Umsetzung der Introspektionen des Sprecher-Ichs aus der Reichsklage gelten. Wie hier gotes hulde als überlegen, als der zweier übergulde bezeichnet wird, dominiert dort, zumindest in den meisten Handschriften, der christliche Diskurs nach den Entgegnungen des Sohnes. Aber werden dadurch die vom Vater zuvor vertretenen ethischen Normen, die ja durchaus dezidiert christliche Anteile enthielten, völlig außer Kraft gesetzt? Gerade auch vor dem anfangs erwähnten Hintergrund einer doppelten, innerweltlichen wie metaphysischen Normbegründung,39 die mittelalterliche wie neuzeitliche Theologen beschäftigte, bliebe das zu diskutieren. Doch genau damit ist wohl eines der wesentlichen Ziele jenes Textes erreicht, denn der Winsbecke scheint eher Anstöße zur Normendiskussion bieten zu wollen, als nur normative Didaxe zu betreiben. 37 38

39

Vgl. dazu Rosenfeld, Hans-Friedrich, Zu Winsbeke, Winsbekin und Winsbekenparodie, in: ZfdA, 67/1930, S. 109–122. Ranawake, Silvia (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Gedichte. 11. Auflage auf der Grundlage der Ausgabe von Hermann Paul hrsg. von Silvia Ranawake mit einem Melodieanhang von Horst Brunner. Teil 1: Der Spruchdichter, Tübingen 1997 (ATB 1), S. 3. Von einer doppelten Begründung der Regeln des menschlichen Zusammenlebens auf einem nah verwandten Feld mittelalterlicher Normativität, nämlich dem der geltenden Gesetze und der Gesetzgebung, geht bereits Isidor von Sevilla in seinen Etymologiae (V,2,1f.) aus; den Hinweis darauf verdanke ich Nikolaus Henkel.

III.

Norm und Antinorm / Literarische Transgressionen und die Konstruktion von Gegenwelten

Elizabeth A. Andersen (Newcastle upon Tyne)

Die Norm des Komischen im Pfaffen Amis

I. In der Germanistik wird Strickers Der Pfaffe Amis allgemein als erster »Schwankroman« bezeichnet.1 Neu ist, dass einzelne Schwankgeschichten durch die Figur eines Protagonisten, des Pfaffen Amis, zumindest locker zusammengehalten werden. Dieser Zyklus von Schwänken orientiert sich an keiner literarischen Norm, er folgt keinem »Gesetz der Gattung«,2 sondern stellt »ein neues, bisher unbekanntes literarisches Genre« dar.3 Man hat auf die volkssprachliche Herkunft einzelner Schwänke hingewiesen4 und als Vorläufer des gesamten Werkes den Reinhart Fuchs5 namhaft gemacht; im Rahmen der lateinischen Literatur hat man vor allem den Unibos6 als Parallele angeführt. Trotzdem wird Der Pfaffe Amis als ein Werk ›sui generis‹ anerkannt.7 Helmut Brall bemerkt: 8 »Der Pfaffe Amis nimmt auch gattungsgeschichtlich eine denkwürdige Zwischenstellung ein. Er ist in einem Bereich angesiedelt, der nicht höfisch, aber auch nicht eindeutig sati1

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Der Terminus »Schwankroman« stammt von Fischer, Hanns, Zur Gattungsform des ›Pfaffen Amis‹, in: ZfdA, 88/1957–58, S. 291–299. Vgl. dazu Linke, Hansjürgen, Der Dichter und die gute alte Zeit. Der Stricker über Schwierigkeiten des Dichtens und des Dichters im 13. Jahrhundert, in: Euphorion, 71/1977, S. 98–105, hier S. 99, Anm. 2, und auch Röcke, Werner, Schwankroman, in: Killy, 14/1993, S. 356. Vgl. Boor, Helmut de, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. Erster Teil 1250–1350, in: Boor, Helmut de / Newald, Richard, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. III/1, München 1974 4, S. 233. Honemann, Volker, Unibos und Amis, in: Grubmüller, Klaus / Johnson, L. Peter / Steinhoff, Hans-Hugo (Hrsg.), Kleinere Erzählformen im Mittelalter, Paderborn, München, Wien u.a. 1988 (Schriften der Universität-Gesamthochschule Paderborn. Reihe Sprachund Literaturwissenschaft 10), S. 67–82, S. 70. Fischer, Zur Gattungsform [Anm. 1], S. 299. Linke, Der Dichter [Anm. 1], S. 99, Anm. 2. Honemann, Unibos [Anm. 3], S. 70. Wailes, Stephen L., Studien zur Kleindichtung des Stricker, Berlin 1981 (Philologische Studien und Quellen 104), S. 214. Brall, Helmut, »Wahrlich, die Pfaffen sind schlimmer als der Teufel!« Zur Entstehung der deutschen Schwankdichtung im 13. Jahrhundert, in: Euphorion, 94/2000, S. 319–334, hier S. 332.

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Elisabeth A. Andersen

risch, der nicht geistlich, aber auch nicht kirchenkritisch, der nicht belehrend, aber auch nicht durchgehend belustigend genannt werden kann.«

Die Aussage dieses kleinepischen Werkes9 wird sehr gegensätzlich interpretiert. Sabine Böhm hat die Skala der verschiedenen Ansätze folgendermaßen zusammengefasst:10 »Der A MIS wurde interpretiert als: religiöse Satire, als biographische Allegorie, als soziale Allegorie, als gesellschaftskritische Satire, als Symbol des gesunden Menschenverstandes, als Allegorie menschlicher Unzulänglichkeit, als literarischer Ausdruck einer geschichtlichen Situation, als Parodie des höfischen Romans und als Allegorie der Form.«

Böhm selbst liest den Pfaffen Amis »als Parodie gegen den Strich«.11 Die Aussage des Pfaffen Amis mag somit ambivalent sein. Zu diesem Schluss kam Ursula Peters schon vor dreißig Jahren: »Die Sonderstellung dieses Textes in gattungsgeschichtlicher Hinsicht, vor allem aber die ambivalenten Kommentare des Autors zu dem list-Handeln des Helden erlauben es m.E. nicht, die inhaltliche Dominante des Texts zu ermitteln und damit auch die mögliche Wirkungsabsicht des Autors zu erschließen.«12

Unbestritten ist hingegen der komische Effekt des Werks, selbst bei Autoren, die es, wie Helmut Brall, als »nicht durchgehend belustigend« einschätzen. Die Dominante des Textes liegt in seiner Komik – wenn man nämlich mit einer weiten Definition das Wesen des Komischen als das erklärt, was der Erwartung widerspricht oder von der Norm abweicht,13 dann lässt sich die wiederholte Normverletzung im Pfaffen Amis auf ihre komische Wirkung untersuchen. Dabei kann man auf Komiktheorien des 20. Jahrhunderts zurückgreifen. Diese lassen sich in drei Gruppen einteilen, die auch für das Verständnis des Pfaffen Amis hilfreich sind: Überlegenheits-, Entlastungs- und Inkongruenztheorien.14 Im Zusammenhang dieser Untersuchung werden insbeson9

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Die Handschrift R, Staatsbibliothek zu Berlin, Preussischer Kulturbesitz, Mgf 1062, bietet die vollständigste Version und hat in der Edition von Kamihara, K[in‘ichi] (Hrsg.), Des Strickers Pfaffe Amis, Göppingen 1978 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 233), einen Umfang von 2510 Versen. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. Böhm, Sabine, Der Stricker – Ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerkes, Frankfurt/M. (u.a.) 1995 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 1530), S. 211. Böhm, Dichterprofil [Anm. 10], S. 228–233; Zitat auf S. 228. Peters, Ursula, Stadt, ›Bürgertum‹ und Literatur im 13. Jahrhundert. Probleme einer sozialgeschichtlichen Deutung des ›Pfaffen Amis‹, in: LiLi, 7/1977, S. 109–126, hier S. 122; vgl. Wailes, Stephen L., The Ambivalence of Der Stricker’s ›Der Pfaffe Amis‹, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, 90/1998, S. 148–160, der die unterschiedlichen Interpretationen auflistet (S. 158, Anm. 2). Vgl. Kablitz, Andreas, Komik, Komisch, in: RLW, 2/2000, S. 289. Müller, Beate, Komik und Komiktheorien, in: Nünning, Ansgar (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar, 2004, S. 331.

Die Norm des Komischen im Pfaffen Amis

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dere die Überlegenheits- und Inkongruenztheorien in Anschlag gebracht, um das Komische im Pfaffen Amis zu erhellen. Grundlegend für diese Theoriengruppen ist Henri Bergsons Essay über das Lachen, der eine Art von Deklinationsschema des Komischen bietet. Auf ihn soll deshalb auch im Folgenden zurückgegriffen werden, um die Norm des Komischen im Text herauszustellen.15

II. »Unser Lachen ist immer das Lachen einer Gruppe«, lautet eine der Hauptthesen Bergsons, und weiter: »hinter dem Lachen steckt bei aller scheinbaren Offenheit immer ein heimliches Einverständnis, ich möchte fast sagen eine Verschwörung mit anderen wirklichen oder imaginären Lachern«.16 Im Pfaffen Amis wird bereits im Prolog eine Kommunikationsgemeinschaft zwischen dem Erzähler und seinem Publikum begründet. Der Erzähler spricht seine Zuhörer direkt an (V. 21; V. 39).17 Sowohl die komischen als auch die verwandten satirischen und parodistischen Züge dieses Schwankromans verlangen ein Publikum, das in der Lage ist, das Missverhältnis von Form und Inhalt, die Ungereimtheit von Schein und Sein und die Abweichung von der Norm wahrzunehmen, also ein Publikum, das sich aufgrund seines privilegierten Wissens ein Urteil über den Text bilden kann. Der Prolog bietet dem Autor die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit seines Publikums auf Hauptanliegen des Textes zu lenken. Im Prolog zum Pfaffen Amis beginnt der Stricker mit einer konventionellen ›laudatio temporis acti‹,18 in der er den gegenwärtigen sittlichen Verfall bejammert; den Zuhörern werden die ethischen Normen des höfischen Romans – ere, milte, triuwe, vrumekheit, warheit, zuht, güete, hochgemüete und reht (V. 23–35) – vergegenwärtigt und gleichzeitig entzogen. Der eigentliche Grund der zeitgenössischen Malaise besteht im triegen (V. 38). In diesem herauf-

15

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Bergson, Henri, Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, aus dem Französischen von Roswitha Plancherel-Walter, Nachwort von Karsten Witte, Darmstadt 1988. Vgl. Köppe, Walter, Komik im ›Pfaffen Amis‹, in: Wolfram-Studien, 7/1982, S. 144–153. Köppe zitiert Bergson aber nur beiläufig. Bergson, Das Lachen [Anm. 15], S. 15f. Nur noch an drei weiteren Stellen adressiert der Erzähler die Zuhörer direkt: V. 1317; V. 1406; V. 1833. Zum Prolog des Pfaffen Amis vgl. Linke, ›Der Dichter [Anm. 1]; Ragotzky, Hedda, Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers, Tübingen 1981 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1), S. 141–149; Wailes, Studien zur Kleindichtung [Anm. 7], S. 215–222; Röcke, Werner, Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans, München 1987, S. 43–60; Kalkofen, Rupert, Der Priesterbetrug als Weltklugheit. Eine philologisch-hermeneutische Interpretation des ›Pfaffen Amis‹, Würzburg 1989, S.104–124.

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Elisabeth A. Andersen

beschworenen ›mundus perversus‹ stellt nun der Stricker seinen Protagonisten als einen Anti-Helden vor, mit der erstaunlichen Behauptung, dass er der erste man wære / der liegen und triegen an vienc (V. 40f.). Durch diesen aitiologischen Anspruch wird Amis in der neuen Gattungsform des Schwankromans als Archetyp vorgeführt.19 Sein Wesen wird also durch den Betrug bestimmt. Daher identifiziert ihn Irmgard Meiners als einen »Schelm«.20 Diese Bezeichnung fängt aber nicht sein volles Wesen ein. Der englische Ausdruck ›trickster‹21 trifft es besser, da er die Momente ›Betrug‹ und ›Spiel‹ verbindet; im Laufe des Texts verfährt Amis bei seinen betrügerischen Handlungen nämlich durchaus spielerisch. Betrug ist konstitutiv für den Pfaffen Amis. Ein Vergleich mit den positiv bewerteten Triebkräften des höfischen Romans lässt die Bedeutung dieses archetypischen Anspruchs stark hervortreten: Im Prolog zu seinem Tristanroman beschreibt Gottfried von Straßburg Tristan und Isolde als vollkommene Liebende, im Prolog zu Hartmanns von Aue Iwein wird Artus als Vorbild der êre gepriesen.22 Im Prolog zum Pfaffen Amis wird der Protagonist als der erfolgreichste ›trickster‹ vorgestellt, dessen wille vür sich gienc, / daz er niht widersatzes vant (V. 42f.). Erst an zweiter Stelle erfahren wir, dass er Pfaffe ist, der buoche ein wise man (V. 47) und außerordentlich großzügig (V. 50f.). Amis ist von Natur aus ein ›trickster‹, der zufällig Pfaffe ist. Die Eigenschaften des Anti-Helden Amis, sein liegen und triegen sowie seine miltekeit, werden im Prolog sachlich aufgelistet. Man muss allerdings beachten, dass Amis in den Schwankepisoden nur dreimal explizit als triegaere bezeichnet wird: zweimal in der Episode Das brennende Tuch – vom betroffenen Ritter (V. 1071) und vom Erzähler (V. 1094) – und einmal in der Episode vom Maurer als Bischof – vom Erzähler (V. 1719). Ansonsten bewahrt der Erzähler fast den ganzen Text hindurch eine eher neutrale Einstellung zu seinem Anti-Helden. Lediglich in V. 491f. wird Amis nach seiner Kirchweihpredigt die Sünde der ›superbia‹ vorgeworfen: Do der phaffe riche wart, / do gewan er solhe hohvart, [...].23 Die Forschung ist immer wieder darauf 19 20

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Vgl. Brall, »Wahrlich, die Pfaffen« [Anm. 8], S. 333. Meiners, Irmgard, Schelm und Dümmling in Erzählungen des deutschen Mittelalters, München 1967 (MTU 20), S. 51–54. Spiewok, Wolfgang, Parodie und Satire im ›Pfaff Amis‹ des Stricker, in: Parodie und Satire in der Literatur des Mittelalters, Greifswald 1989 (Deutsche Literatur des Mittelalters 5), S. 5–15, bezeichnet den Pfaffen Amis als »den ersten Schelmenroman deutscher Sprache« (S. 5). Williams, Alison, Tricksters and Pranksters. Roguery in French and German Literature of the Middle Ages and the Renaissance, Amsterdam, Atlanta GA 2000 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 49); zur Herkunft und zum Charakter des ›tricksters‹ vgl. S. 1–21. Ganz, Peter (Hrsg.), Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach der Ausgabe von Reinhold Bechstein, Wiesbaden 1987 (Deutsche Klassiker des Mittelalters 4), V. 101–242; Cramer, Thomas (Hrsg.), Hartmann von Aue, Iwein. Urtext und Übersetzung, Berlin, New York 1981, V. 1–30. Christoph Fasbender hat darauf hingewiesen, dass diese Negativwertung des Protagonisten in der Handschrift Heidelberg, UB: cpg 341, fehlt. Diese Änderung steht jedoch im

Die Norm des Komischen im Pfaffen Amis

325

zurückgekommen, dass der Erzähler hier »das einzige negative Urteil« über seinen Protagonisten fälle.24 Im Text teilt der Erzähler also sein Wissen über das, was Amis zum Handeln motiviert, mit seinen Zuhörern, aber es liegt ihm fern, ihnen eine moralische Beurteilung aufzudrängen. Der Akzent des Textes liegt eher auf der Torheit der Opfer Amis’ als auf dessen verwerflichem Handeln.

III. Herbert Kolb behauptet, dass die Anfangsepisode des Schwankromans »eine Geschichte eigener Art« sei, die »sich in einigen ihrer Hauptmerkmale« von den anderen unterscheide.25 Damit mag er Recht haben, aber seine weitere Folgerung, dass diese Episode keine Funktion im Erzählganzen habe und ohne Zweck und Folgen sei,26 lässt sich so wohl nicht halten. In dieser ersten Episode der Schwankreihe, Amis und der Bischof,27 wird dem Publikum gezeigt, wie Amis’ wesentliche Identität zum Vorschein kommt. In seiner Wut auf Amis wegen dessen übermäßiger Freigebigkeit fungiert der Bischof als ein Katalysator. Amis’ Weigerung, dem Bischof mehr als Gastfreundschaft anzubieten, führt dazu, dass er im Hinblick auf seine Eignung als Pfarrer examiniert wird. Es folgt eine Reihe von fünf Fragen (V. 103–180), die in Spekulationen der mittelalterlichen Theologie wurzeln und die einem Pfarrer, der der buoche ein wise man (V. 47) sei, wohl vertraut sein sollten. Diese fünf Fragen, die ihrer Natur nach unbeantwortbar sind 28 – zum Wassergehalt des Meeres, zur Zahl der Tage seit Adams Zeiten, zur Lokalisierung der Weltmitte, zur Entfernung zwischen Himmel und Erde sowie zur Ausdehnung des Himmels –, werden in rascher Folge gestellt und sind refrainartig mit der Drohung durchsetzt, dass die Pfarrstelle entzogen werde (V. 108; V. 137; V. 160;

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26 27 28

Zusammenhang einer generellen Tendenz, des Schreibers ß die ›hôhvart‹-Stellen zu verändern. Vgl. Fasbender, Christoph, Hochvart im ›Armen Heinrich‹, im ›Pfaffen Amis‹ und im ›Reinhart Fuchs‹. Versuch über redaktionelle Tendenzen im Cpg 341, in: ZfdA, 128/1999, S. 394–408, hier S. 401. – Zur Überlieferung des Pfaffen Amis siehe u.a. Kamihara, K[in‘ichi], Einleitung, in: Pfaffe Amis [Anm. 9], S. 1–35, hier S.1–23, und Schilling, Michael (Hrsg.), Nachwort, in: ders. (Hrsg.), Der Stricker, Der Pfaffe Amis. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Heidelberger Handschrift cpg 341, Stuttgart 1994 (RUB 658), S. 177–206, hier S. 180–187. Könneker, Barbara, Strickers ›Pfaffe Amis‹ und das Volksbuch von ›Ulenspiegel‹, in Euphorion, 64/1970, S. 242–280, hier S. 252. Kolb, Herbert, Auf der Suche nach dem Pfaffen Amis, in: Ebenbauer, Alfred / Knapp, Fritz Peter / Krämer, Peter (Hrsg.), Strukturen und Interpretationen. Studien zur deutschen Philologie. Festschrift für Blanka Horacek, Wien, Stuttgart 1974, S. 189–211, hier S. 193. Kolb, Auf der Suche [Anm. 25], S. 194. Die Titel der Schwänke sind aus der Edition Schillings [Anm. 23] übernommen. Vgl. Kolb, Auf der Suche [Anm. 25], S. 194.

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V. 166; V. 180). Die ebenso schnell aufeinander folgenden Scheinantworten Amis’, die das Absurde an den Fragen des Bischofs hervorheben, entstammen aber nicht Amis’ theologischem Wissen, sondern seinem Mutterwitz.29 Der gesunde Menschenverstand ist schon lange von der Forschung als eine kennzeichnende Eigenschaft des Pfaffen Amis hervorgehoben worden – so z.B. von Hanns Fischer: »Sie ist keine theoretische Bücherweisheit, sondern praktische (Lebens-) Klugheit, gesunder Menschenverstand«.30 Amis’ Weigerung, auf die Fragen des Bischofs einzugehen, also ihm in den tradierten Denkmustern der theologischen Spekulation zu folgen, führt zu komischer Inkongruenz im Nebeneinander zweier grundverschiedener Denkebenen. Der Versuch des Bischofs, Amis durch scholastische Fragen zu überlisten, schlägt fehl. Er ist den schlagfertigen Antworten Amis’ nicht gewachsen und damit bloßgestellt. Dem flexiblen gesunden Menschenverstand gegenüber wirkt das starre und schematische theologische Denken lächerlich. In seinem Kapitel über Charakterkomik erklärt Bergson: »Der Komik liegt eine Versteifung zugrunde, die bewirkt, dass jemand stur seinen Weg verfolgt«, und weiter, dass der gesunde Menschenverstand die Fähigkeit ist, »sich ständig anzupassen und die eigenen Vorstellungen von einem Gegenstand zu ändern, sobald der Gegenstand sich ändert. Es ist eine Beweglichkeit der Intelligenz«.31 Das Komische an dem Missverhältnis des Dialogs zwischen Bischof und Amis wird durch das Wortspiel von wis und wisheit hervorgehoben: Nach den schlagfertigen Paraden auf seine Fragen lobt der Bischof die wisheit (V. 152; V. 162) des Pfaffen Amis, der als der buoche ein wise man (V. 47) eingeführt wurde. Der Bischof gibt die scholastischen Prüfungen als zwecklos auf und versucht, Amis auf anderem Gebiet zu schlagen. Er stellt ihm eine letzte Aufgabe: Der Bischof ist bereit, die Antworten Amis’ anzuerkennen und ihm seine Pfarrstelle nicht zu entziehen, wenn Amis einem Esel das Lesen beibringe (V. 195–198).32 Mit der Voraussicht, die im Laufe des Werkes immer deutlicher sein Kennzeichen wird, akzeptiert

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Vgl. Meiners, Schelm und Dümmling [Anm. 20], S. 151: »An den Antworten des Âmis fällt auf, dass er witzige Lösungen aus Märchen und Rätselbüchern, die einer Schwankfigur wohl anstünden, ebenso verschmäht wie die Angaben der buoche«. Zu Amis’ Abweichung von tradierten Antworten vgl. auch Röcke, Freude am Bösen [Anm. 18], S. 56. Fischer, Zur Gattungsform [Anm. 1], S. 294. Vgl. Rosenhagen, Gustav, Der Pfaffe Amis des Strickers, in: Merker, Paul / Stammler, Wolfgang (Hrsg.), Vom Werden des deutschen Geistes. Festgabe Gustav Ehrismann zum 8. Okt. 1925 dargebracht von Freunden und Schülern, Berlin, Leipzig 1925, S. 149–158; de Boor, Literatur im späten Mittelalter [Anm. 2], S. 238; Meiners, Schelm und Dümmling [Anm. 20], S. 47–54 und 147–159; Wehrli, Max, Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter, Stuttgart 19973, S. 544. Bergson, Das Lachen [Anm. 15], S. 118 und 116f. Zum Motiv dieses weit verbreiteten Schwanks vgl. Kamihara (Hrsg.), Pfaffe Amis [Anm. 9], S. 142, Anm. zu V. 221–224, Röcke, Freude am Bösen [Anm. 18], S. 305, Anm. 104. In diesem Zusammenhang deutet Brall, »Wahrlich, die Pfaffen« [Anm. 8], S. 330, auf die kirchlich organisierten mittelalterlichen Narrenfeste hin.

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Amis die Herausforderung. Er bringt die Situation unter seine Kontrolle, indem er für sein künftiges Handeln eine neue normative Bedingung setzt. In diesem Kontext wird wieder von wisheit gesprochen: der phaffe sprach: »ir wizzet wol, swer ein kint leren sol, unz man im wisheit müeze jehen, daz enmac nimmer e geschehen, er muoz leren zweinzec jar: da von weiz ich vür war, geler ich einen esel wol in drizec jaren als ich sol, sit er sprechen nine kan, da muoz es iu genüegen an.« (V. 207–216)

Als der Bischof kommt, um den Fortschritt des Esels zu überprüfen, gelingt es Amis, den Bischof von seinem Lehrerfolg zu überzeugen. In einem hintergründigen Wortspiel auf lesen erfahren wir: wær ein korn dar inne gewesen, / daz het er [der Esel] ouch uz gelesen (V. 285f.). Man mag sich vielleicht Gedanken machen, warum der Bischof sich mit dem mutmaßlichen Fortschritt des Esels zufrieden gibt (V. 303–305). Man wird nicht annehmen wollen, dass er an den Lernerfolg des Esels glaubt, schließlich ist er gebildet und selbst listig. Seine ›Zufriedenheit‹ erklärt sich vielmehr aus der strukturellen Notwendigkeit des Schwanks: Die Episode hat nichts Weiteres anzubieten und muss eilig zum Schluss kommen. Lakonisch-ironisch verabschiedet der Erzähler den Bischof aus der Geschichte, indem er berichtet, wie Gott den Pfaffen Amis durch den Tod des Bischofs rettete, so dass Amis den Esel nicht mehr lehren musste (V. 306– 309). Dennoch wird eine kausale Verbindung zu den folgenden Schwänken hergestellt, indem erzählt wird, wie die liute glauben, dass es Amis tatsächlich gelungen sei, dem Esel das Lesen beizubringen. Die Gastfreundschaft Amis’ wird durch den Zustrom von bewundernden Besuchern überlastet, und er muss ausziehen, um Gelder für den Unterhalt seines Hauses zu finden. Dieses Motiv der Freigebigkeit als positive Legitimation von Amis’ Bösartigkeiten wird zwar in den drei folgenden Schwankepisoden zitiert,33 dann aber nicht weiter verfolgt. Hinter der Freude am Schwankhaften verschwindet die positive Bewertung von Amis’ Handeln. In der Bischof-Episode handelte Amis aus der Defensive. Er schuldete dem Bischof als Vorgesetztem Gehorsamkeit und reagierte auf dessen Angriff dementsprechend. Mit dem Tod des Bischofs ist Amis von dieser Bindung befreit. Der Zwänge seines Standes entbunden, hat er eine anarchische Autonomie gewonnen.34 Er geht in die Offensive, um Geld für den Unterhalt seines gastfreundlichen Haushalts zu erwerben. Von nun an agiert er, seiner Natur gemäß, vornehmlich als ›trickster‹; das wird 33 34

V. 468–472; V. 737–742; V. 910–913. Vgl. Röcke, Freude am Bösen [Anm. 18], S. 60.

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signalisiert durch den Bericht des Erzählers, dass Amis sich mit dem Zubehör dreier ›Personae‹ – als wandernder Prediger, als Maler und als Arzt – auf den Weg macht.35 Das Herausstellen der wesentlichen Identität Amis’ als ›trickster‹ in dieser Episode bestimmt die Dynamik der folgenden Schwänke. In seinem Essay über das Komische identifiziert Bergson die Wiederholung als »eine der gebräuchlichsten Verfahrensweisen der klassischen Komödie«, und für das zeitgenössische Lustspiel behauptet er: »Eine der bekanntesten Spielarten besteht darin, dass eine bestimmte Personengruppe von Akt zu Akt durch die verschiedensten Milieus geführt wird, wobei unter immer neuen Umständen eine immer gleiche Serie von symmetrisch sich entsprechenden Ereignissen oder Missgeschicken ausgelöst wird.«36 Hier lässt sich eine strukturelle Parallele zwischen den von Bergson herausgestellten Merkmalen des Lustspiels und dem Pfaffen Amis ziehen: In jeder Schwankepisode ist es die wiederholte Anfälligkeit für Amis’ Listen, die die Art der Geschichte prägt. Der Schwank hat im Grunde genommen das Bauschema des Witzes,37 und in diesem Zusammenhang ähnelt die Reihe der Schwankepisoden einer Serie von Witzen, die von der Fixierung auf eine bestimmte Eigenschaft abhängen, wie etwa den sprichwörtlichen schottischen Geiz oder die Dummheit der Ostfriesen. »Die komische Gestalt ist ein Typ«, behauptet Bergson und führt aus: »Das Lustspiel schildert Charaktere, denen wir schon begegnet sind und noch begegnen werden. Es registriert Ähnlichkeiten. Es will uns Typen vor Augen führen. Es wird im Bedarfsfall sogar neue Typen schaffen. Das unterscheidet es von den anderen Kunstgattungen«.38 Was Bergson von Typen im Lustspiel behauptet, gilt gleichermaßen für den Pfaffen Amis als Charaktertyp. Im Schwankzyklus ist er die einzige Figur, die einen Eigennamen trägt. Aber dieser kommt nur ein einziges Mal, nämlich in V. 931, allein vor; in den übrigen Fällen wird er durchweg in der Formel der pfaffe Amis verwendet. Ansonsten wird Amis einfach als pfaffe bezeichnet oder, wenn er eine ›Persona‹ annimmt, als arzat oder meister.39 Alle anderen Figuren werden nur durch ihren Stand bezeichnet, also der bischof, die vrouwen, die ritter, der kunec, der gebur, der herzog usw. Diese Identifikation nach sozialem Stand ermöglicht den Zuhörern eine kritische Distanz zur Handlung. Nicht die einzelnen Figuren sind primär von

35 36 37 38 39

Zu Amis als quaestuarius und zum traditionellen kirchlichen Verbot weltlicher Berufe für Geistliche siehe Wailes, Studien zur Kleindichtung [Anm. 7], S. 230–239. Bergson, Das Lachen [Anm. 15], S. 53 u. S. 64. Fromm, Hans, Komik und Humor in der Dichtung des deutschen Mittelalters, in: DVjs, 36/1962, S. 321–339, hier S. 329. Bergson, Das Lachen [Anm. 15], S. 97 u. 106. Amis wird in Die unsichtbaren Bilder als meister bezeichnet: V. 504, 532, 611, 647, 685, 693, 718, 732, 886, 891, und gleichfalls in Der Schwank von der Messe: V. 1421 u. 1498, wo er auch als Amis der schaffaere auftaucht: V. 1503. In Die Heilung der Kranken tritt er als arzat auf: V. 348, 813, 824, 921, und in der Maurer als Bischof-Episode wird er Amis der triegaere genannt: V. 1719.

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Interesse, sondern eher ihre Identität als Repräsentanten eines gewissen Standes und die Art, wie sie sich dementsprechend an standesgemäßen Normen orientieren. Das Lachen, so stellt Bergson fest, ist »eine wahre soziale Züchtigung«. Er behauptet, dass eine Korrektur nur nützen kann, wenn »eine möglichst große Anzahl Leute auf einmal betroffen wird. Aus diesem Grund bewegt sich die komische Betrachtungsweise instinktiv auf das Allgemeine hin«.40 In der Darstellung des ›mundus perversus‹ im Pfaffen Amis wird kein sozialer Stand vom Stricker ausgespart. Beim Gang durch die Ständepyramide sind alle – die Geistlichen wie die Laien, die Adligen wie die Nicht-Adligen – für die Listen des Pfaffen Amis auf verschiedene Art anfällig.41

IV. In seinem Essay behauptet Bergson, dass die Komik sich »an den reinen Intellekt«. wendet.42 Im Pfaffen Amis werden die Zuhörer dank der Durchschaubarkeit der Listen dazu eingeladen, die schlaue Arbeitsweise des Pfaffen Amis zu würdigen. In der Episode vom Edelsteinhändler z. B. bereitet der Erzähler die Zuhörer darauf vor, dass er die Funktionsweise des Schwanks aufdecken wird: er het ouch liste gedaht / der ich iu schiere wil verjehen (V. 2074f.). Diese Arbeitsweise wird vielleicht am klarsten in der Episode Amis als Wahrsager dargestellt; sie wirkt als eine Schablone – es gibt keine Handlung, sondern nur einen Bericht über die Vorbereitungen Amis’: Es wird erzählt, wie Amis einen kneht in die nächste Nachbarschaft schickt, um alles über seine möglichen Opfer herauszufinden: wie lange der Gastgeber mit seiner Frau verheiratet sei, wie oft er nach Rom gepilgert sei, wie die Väter und Mütter geheißen hätten (V. 1241– 1288). Amis ist, so wird kommentiert, kündic als ein tahs (V. 1264). Der Erfolg Amis’ liegt in seiner Fähigkeit, die Verletzbarkeit seiner Opfer herauszufinden, Druck auf den schwachen Punkt auszuüben, die Reaktion auf den Druck vorauszusehen und seinen Nutzen daraus zu ziehen. Die Folge der Schwankepisoden in den vorhandenen Handschriften variiert,43 doch überliefern alle drei vollständigen Handschriften die gleiche Reihenfolge der auf die Bischof-Episode folgenden Episoden: Die Kirchweihpredigt, Die unsichtbaren Bilder und Die Heilung der Kranken. Die Zusammengehörigkeit dieser Episoden hat bereits Hanns Fischer in seinem Aufsatz zur Gattungsform des Pfaffen Amis wahrgenommen; er teilte die Episoden nach Art des begangenen Betrugs in drei Gruppen auf: in Wortbetrug, Tatbetrug und Gewaltbetrug und ordnete die so benannten Episoden

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Bergson, Das Lachen [Anm. 15], S. 90 u. 109. Vgl. Ragotzky, Gattungserneuerung [Anm. 18], S. 159; Honemann, Unibos [Anm. 3], S. 80. Bergson, Das Lachen [Anm. 15], S. 15. Kamihara, Einleitung, [Anm. 9], S. 1; Schilling, Nachwort [Anm. 23], S. 183–185.

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der ersten Gruppe zu.44 Was diese drei Episoden noch enger zusammenbindet und auch an die Bischof-Episode koppelt, ist die Androhung eines Verlusts. In der BischofEpisode wird Amis mit dem Entzug seiner Pfarrstelle bedroht, in der Kirchweihpredigt laufen die vrouwen Gefahr, ihre êre zu verlieren, in Die unsichtbaren Bilder droht ebenfalls ein Ehrverlust und für die Vasallen des Königs zusätzlich der Verlust ihrer Lehen, und in der Heilung der Kranken werden die kranken magen und man des Herzogs von Lutringen mit dem Verlust ihres Lebens bedroht. Die durch ihren Eigennutz motivierten Opfer in diesen Episoden sind bereitwillige Komplizen bei dem Betrug des Amis.45 Die Aufdeckung der Verwicklung in ihren eigenen Betrug erhöht den Grad der Freude oder, vielleicht besser, Schadenfreude der Zuhörer, die alles aus der Perspektive distanzierter Überlegenheit betrachten können. »Die Komik […]«, sagt Bergson, »wendet sich an den reinen Intellekt; das Lachen verträgt sich nicht mit dem Gemüt. Ein Fehler kann noch so leicht sein, wenn man ihn mir so darstellt, daß er meine Sympathie oder meine Furcht oder mein Mitleid erregt, dann vergeht mir das Lachen«.46 In der Kirchweihpredigt, den unsichtbaren Bildern und der Heilung der Kranken büßen die vrouwen, der künic ze Karlingen zusammen mit seinen rittern und die magen und man des herzogs von Lutringen durch ihren Eigennutz das Mitleid der Zuhörer ein. Diese Suspendierung des Mitleids wird durch das widerwillige Anerkennen der Schlauheit Amis’ seitens der Opfer verstärkt: si sprachen alle, Amis / der wær der liste harte wis (V. 931f.).47 Die Opfer sind bei ihrem Betrug ertappt worden, und die implizite Folgerung daraus ist, dass das, was ihnen passiert, ihnen zu Recht geschieht. In diesen Episoden wird die Zwangsläufigkeit der Ereignisfolge den Opfern selbst bewusst. In den sechs folgenden Episoden, die nach dem Prinzip funktionieren, daß der Protagonist auf einfältige Personen trifft, ist dies anders: Die Opfer in Der auferstandene Hahn, Das brennende Tuch, Die Fische im Brunnen, Amis als Wahrsager, Die Wunderheilung des Blinden und Lahmen sowie in Die Messe sind alle alwære und durchschauen nicht, was ihnen geschieht. Sie sind nicht mitwissende Komplizen wie die früheren Opfer, sondern sie werden als dumm, als einfältig, als alwære dargestellt. Es ist ihre Bereitwilligkeit, an Wunder zu glauben, die sie für Amis’ List anfällig macht. Wiese der Erzähler uns auf das Ausmaß der Wirkung von Amis’ Betrug hin, liefe er Gefahr, das Mitleid der Zuhörer zu wecken und somit die Freude an der List zu beeinträchtigen. Aus diesem Grund läßt der Stricker den Erzähler nur einmal und beiläufig die Folgen von Amis’ Listen erwähnen. In Amis als Wahrsager wird nämlich von den Opfern erzählt: daz si geloubten ane wan, swaz er spræche, ez wære war,

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Fischer, Zur Gattungsform [Anm. 1], S. 293. Williams, Tricksters and Pranksters [Anm. 21], S. 65. Bergson, Das Lachen [Anm. 15], S. 92. Vgl. auch V. 803f.

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und ahten denne niht ein har uf ir guot und uf ir leben und begunden im also vil geben daz ez in schatte zehen jar. (V. 1276–81)

Die letzten zwei Schwankepisoden, Der Maurer als Bischof und Der Edelsteinhändler, sind wesentlich umfangreicher als die anderen und dementsprechend komplexer.48 Es steht mehr auf dem Spiel: das Gewinnpotenzial für Amis ist größer, das Schadenspotenzial für die Opfer ebenso. In Der Maurer als Bischof büßt der Kaufmann das Mitleid der Zuhörer dadurch ein, dass seine Waage falsch geeicht ist. Auch das Eingeständnis der eigenen Dummheit vonseiten des alwæren Franken: ich bin ein tor als got wol weiz, / daz ich mir durch ein geheiz / so grozen schaden han getan (V. 2017–19) wirkt mitleidsverhindernd, denn sein Leiden lässt sich als selbstverschuldet einstufen. In Der Edelsteinhändler wird der Wirkung von Amis’ List auf seine Opfer mehr Platz als in den anderen Schwänken eingeräumt. Der Listbericht beansprucht zwei Drittel der Schwankerzählung. Nach seiner Rückfahrt nach England sagt der Erzähler: wie der koufman genas / und welhe not er muose doln, / daz wære schädelich verholn (V. 2204– 06). Was der Erzähler mit schädelich verholn meint, ist nicht eindeutig. Sollen die Zuhörer Freude an den Leiden des Edelsteinhändlers haben, oder sollen sie das Ausmaß der Wirkung von Amis’ List zur Kenntnis nehmen? Der Erzähler spricht beiläufig vom arme[n] koufman (V. 2371). Dagegen aber wirkt die herzlose Reaktion der Frau des Edelsteinhändlers komisch; sie beschäftigt eher der materielle Verlust als das Leiden ihres Mannes: do si in so blozen sitzen sach, do twanc si der ungemach nach den sehs hundert marken me, daz si in vragte michels e ob er daz silber hæte, danne wer im ditz tæte. (V. 2433–38)

Die Unterminierung eines beginnenden Mitgefühls vonseiten der Zuhörer wird auch durch die Reaktion des Edelsteinhändlers selbst verstärkt: Am meisten, so wird erzählt, ärgert ihn, dass er den Arzt habe bezahlen müssen (V. 2465–72).

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Der Maurer als Bischof umfasst 495 Verse und Der Edelsteinhändler 429 Verse. Der Umfang der anderen zehn Episoden reicht von 27 Versen (Wunderheilung des Blinden und Lahmen) bis zu 313 Versen (Die unsichtbaren Bilder).

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V. Der Schwankzyklus des Pfaffen Amis wird abrupt mit einem kurzgefassten Epilog beschlossen, in dem die Motivation und die Wirkung des Pfaffen Amis sogar positiv bewertet werden – mit welchem Grad an »hintergründige[r] Ironie« muss offenbleiben.49 Die längst vergessene Freigebigkeit wird in Erinnerung gerufen, und die Zuhörer werden aufgefordert, ihn dafür zu loben: dar umbe sul wir prisen / den phaffen Amisen (V. 2479f.). Weiter erfährt das Publikum, dass Amis die anarchische Autonomie, die er nach dem Tod seines Bischofs für sich beansprucht hat, aufgibt. Der ›trickster‹ weicht dem Pfaffen, und Amis tritt in ein zisterziensisches Kloster ein.50 Er steht der Klostergemeinschaft zu Diensten, und damit verläuft die Welt wieder in gewohnten Bahnen. Den Mönchen kommt Amis’ Weltklugheit zugute: mit guot und mit rate / bezzert er daz kloster also / daz sin die münche wurden vro (V. 2498–2500). Er wird Abt des Klosters, und es wird den Zuhörern kommentarlos versichert, dass Amis daz ewige leben / nach disem libe wart gegeben (V. 2509f.). Auch wenn das selige Ende Amis’ unkommentiert bleibt, lädt der Werkzusammenhang zu einem positiven Fazit ein – bzw. zum Lachen. Der Pfaffe Amis bietet keine moralische Lehre, sondern eine eigengesetzliche Norm des Komischen, die sich gegen didaktische Normierungsansprüche stellt. »Das Lachen«, behauptet Bergson, ist »ein Korrektiv«.51 Im Zusammenhang des Pfaffen Amis heißt das: ein Korrektiv gegen Wundersucht, kirchliche Missstände, Torheit der Menschen und professionellen Betrug der Kaufleute.

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Vgl. Bumke, Joachim, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 20004 (dtv 30778), S. 295: »Die List des Pfaffen Amis deckt diese Defekte auf; seine eigene Unmoral wird nicht zum Thema gemacht, im Gegenteil, er wird als Vorbild der Freigebigkeit gefeiert und erringt zuletzt das ewige Leben. Diese hintergründige Ironie prägt das Werk«. In Schillings Edition [Anm. 23] (nach der Handschrift H – Universitätsbibliothek Heidelberg, Cpg 341) heißt es: da begonde er ane got keren, / daz er die leute verswur (V. 2262f.). Aber in Kamiharas Edition [Anm. 9] (nach der Handschrift R, Staatsbibliothek zu Berlin, Preussischer Kulturbesitz, Mgf 1062) ist der Epilog kohärenter, insofern als das Leitmotiv des Lügens, das im Prolog als Kennzeichen von Amis’ Charakter angekündigt war, wieder hervorgehoben wird, obwohl diesmal Amis dem Lügen abschwört: do begunde in got bekeren, / daz er die lüge verswuor (V. 2490f.). Bergson, Das Lachen [Anm. 15], S. 123.

Monika Schausten (Köln)

Poetik der Interferenz Zum Problem einer Universalisierung höfischer Normen in Heinrich Wittenwilers Ring am Beispiel der Neidhart-Rezeption Als Werk ›sui generis‹ gilt der mediävistischen Forschung der Ring des urkundlich gleich fünfmal bezeugten Konstanzer Advokaten und späteren Hofmeisters am dortigen Bischofshof Heinrich Wittenwiler. Mit dieser Kennzeichnung deutet sie bereits auf Probleme einer eindeutigen gattungstypologischen Situierung des, wie Christoph Huber es formuliert hat, wohl »geniale[n] und einzelgängerische[n]«1 Werkes hin, Probleme, vor die der mit Eckart Conrad Lutz auf die Zeit um 1408/1410 zu datierende Text, der handschriftlich bekanntlich nur als Unikat vorliegt, von jeher seine wissenschaftlichen Leser und Leserinnen gestellt hat.2 Die im Prolog des Werkes zunächst dem Buch allein zugeschriebene Kommunikationsabsicht, der welte lauff, also den Gang der gesamten Welt, zur Darstellung zu bringen und darüber aufklären zu wollen, was man tuon und lassen schol,3 lässt zwar gerade im formulierten Anspruch auf die Verbreitung enzyklopädischen Wissens sowie in der Aussicht auf ein umfassendes Verhaltensmodell durchaus auch im Ring das in der Forschung häufig konstatierte Beharrungsvermögen des im Spätmittelalter überaus populären lehrhaften Schrifttums erkennen.4 Doch auch wenn Wittenwiler eine Rubrizierung des Epos in den Kontext didaktischer Summen hier zunächst nahelegt, entzieht sich der Text zugleich einer arglosen Situierung in diesen literarischen Traditionszusammenhang.5 Denn seinen »Summencharakter«,6 den Lauf der Welt, erzeugt das groß angelegte 1

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Huber, Christoph, ›der werlde ring‹ und ›was man tuon und lassen schol‹. Gattungskontinuität und Innovation in moraldidaktischen Summen: Thomasin von Zerklaere – Hugo von Trimberg – Heinrich Wittenwiler, in: Haug, Walter (Hrsg.), Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 187–212, hier S. 189. Die Forschung ist sich über die besondere Position des Ring im literarhistorischen Kontext des frühen 15. Jahrhunderts einig, vgl. dazu Riha, Ortrun, Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers ›Ring‹ 1851–1988, Würzburg 1990, hier S. 54: Über die völlige Neuartigkeit der Dichtung herrsche Konsens in der Forschung. Dies sei der eigentümlichen Mischung lehrhafter und komischer Schreibweisen geschuldet. Ich zitiere den Ring nach folgender Ausgabe: Brunner, Horst (Hrsg.), Heinrich Wittenwiler, Der Ring, Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Edmund Wießner ins Neuhochdeutsche übersetzt, Stuttgart 1991 (RUB 8749), hier V. 11f. Vgl. Huber, ›der werlde ring‹ [Anm. 1], S. 187. Vgl. nochmals ebd., S. 189. Ebd., S. 195.

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und komplexe Epos nicht zuletzt über die wohl strukturell-formal vor dem Hintergrund der Fastnacht7 sowie ereignisgeschichtlich im Kontext der Appenzeller Bauernkriege8 erfolgte modifizierende Adaptation einer im 14. Jahrhundert entstandenen Erzählung, die in zwei Fassungen von der Bauernhochzeit Metzens erzählt,9 einer Hochzeit, die den Bauern entgleitet, indem das Mahl zur Fressorgie ausartet und der Tanz zu gewalttätigen Auseinandersetzungen beträchtlichen Ausmaßes führt, als deren Resultat am Schluss immerhin auch Tote zu beklagen sind. Aber nur der zweite Teil von Wittenwilers Text entspricht dem epischen Geschehen dieser Vorlagen, die die dreigeteilte Struktur des Ring gleichwohl inspiriert haben:10 Denn vorgeschaltet ist ihm ein einleitender Teil, der ausführlich von der »umständliche[n]«11 Werbung des Bertschi Triefnas um Mätzli Rührenzumpf berichtet, und nachgeordnet wird dem Hochzeitsgeschehen eine gegenüber der Vorlage ausführlichere Darstellung eines aus dem Fest resultierenden Kriegsgeschehens, aus dem allein der Held Bertschi als Überlebender seines Dorfes Lappenhausen hervorgeht, der sich aufgrund der Ereignisse schließlich aus der Welt als Einsiedler zurückzieht. Diesen schwankhaften Plot konfrontiert Wittenwilers Text programmatisch mit wesentlichen Konstituenten didaktischer Literatur. Zu diesen gehört zunächst die selbstbewusste Inszenierung eines impliziten Autors im Prolog, eines textuellen ›Ichs‹, das seine Funktionen für die nachfolgende Erzählung jenseits der eingesetzten Erzählerstimme profiliert.12 Dieses ›Ich‹ unterstellt sich zwar zunächst gemeinsam mit seinem Publikum den gelehrten Anweisungen des Buches,13 konturiert aber sodann sich selbst immer deutlicher als dessen Urheber und damit als die entscheidende Instanz des Textes, eine Instanz, die schließlich selbstbewusst zu erkennen gibt, die Gestalt 7

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Zu den Bezügen des Rings und seiner Struktur zur Fastnacht vgl. Lutz, Eckart Conrad, ›Spiritualis fornicatio‹. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ›Ring‹, Sigmaringen 1990 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen. NF 32), und Huber, ›der werlde ring‹ [Anm. 1], S. 190. Zur großen Bedeutung der Appenzeller für die politischen Entwicklungen im Bodenseeraum vgl. zusammenfassend Riha, Die Forschung [Anm. 2], S. 244; Lutz, ›Spiritualis fornicatio‹ [Anm. 7], S. 173ff., vermutet daran anknüpfend überdies, dass mit den Bauern auch auf die Zünftler angespielt werde, die Zugang zum Konstanzer Rat erhalten hatten. Zu Datierung und Fassungen des sog. Bauernhochzeitsschwankes vgl. Brunner, Horst, Nachwort, in: Wittenwiler, Der Ring [Anm. 3], S. 653–675, hier S. 666f. Zum Problem einer Zuordnung der beiden Erzählungen zu den epischen Kleinformen Märe oder Schwank vgl. Ziegeler, Hans-Joachim, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen, München 1985 (MTU 87), S. 418–438. Zur Struktur der Ring-Dichtung vgl. Brunner, Nachwort [Anm. 9], S. 667. Ebd. Zum impliziten Autor vgl. Booth, Wayne C., The Rhetoric of Fiction, 2. Aufl., Chicago, London 1983, S. 73. Wittenwiler, Der Ring [Anm. 3], hier V. 8–12: Ein puoch, daz ist DER RING genant / (Mit einem edeln stain bechlait), / Wan es ze ring umb uns beschait / Der welte lauff und lert auch wol, / Was man tuon und lassen schol.

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des Werkes ebenso zu verantworten wie die Wirkung des Entfalteten auf seine Leser. All dies dokumentiert der Prolog schon an der Stelle, wo der implizite Autor mit Genauigkeit die Aufteilung des Epos in die genannten drei Teile sowie deren didaktische Implikationen benennt, als da wären: ›Anleitung zum Stechen und Turnieren im Kontext einer Brautwerbung‹,14 sodann – besonders hervorgehoben – ›angemessenes Verhalten in der Welt‹ und schließlich ›Anweisungen zum Verhalten in Zeiten des Krieges‹.15 Diese Ausführungen konkretisieren die ihnen vorausgehende Allegorese des Rings und damit desjenigen Gegenstandes, dessen Name das Buch trägt. Genauer: Der Ring selbst signifiziert die zirkuläre Struktur des erzählten Weltlaufs, sein Stein indes steht für die Kontextualisierung des Geschehens im Rahmen seiner Lehrhaftigkeit – wie der Stein den Ring schmückt, so versieht dieser didaktische Kontext das epische Geschehen mit einer zusätzlichen, eben normgebenden Ebene. Beide textuellen Ebenen sowie auch die besondere Art ihrer Verschränkung aber verdanken sich der Instanz des impliziten Autors als ihrem Urheber. Dieser Zusammenhang wird nicht zuletzt durch die bekannte Miniatur der als autornah geltenden Handschrift16 auch bildlich in Szene gesetzt, korreliert sie doch in der Initiale D ganz programmatisch Autor und Ring. Das Bild adaptiert und modifiziert wohl einen gängigen ikonographischen Typus geistlich-weltlich gelehrter Autorpräsentation, wie er häufig auch im Rahmen volkssprachiger Überlieferung gebräuchlich war: Nicht allein die grüne Tracht weist den Mann als Gelehrten aus,17 sondern wohl vor allem der Anspruch auf christliche Unterweisung und weltliche Lebenslehre, der im Typus stets besonders durch die prononcierte Zeigegeste hervorgehoben wird.18 Während indes die geläufige Ikonographie des gelehrten Autors die14

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Die didaktischen Ziele, die der implizite Autor hier benennt, lassen durchaus berechtigt einen Traditionalismus des spätmittelalterlichen Autors erkennen, vgl. dazu besonders: Sayin, Sârâ, Grenzüberschreitungen und Übergänge, Matbaa 2000, S. 244: »Man ist erstaunt, dass unsere Welt- und Lebenslehre, noch dazu in einer Epoche unaufhaltsamen Niedergangs des Rittertums und der ritterlichen Traditionen, nichts anderes zu bieten weiß, als ein Drittel des Umfangs einer ständisch höfischen Lebensform zu widmen, die im Absterben begriffen war und über deren geringe Aktualität kein Leser im Unklaren sein konnte.« Wittenwiler, Der Ring [Anm. 3], V. 17–28. Zur Handschrift (München, Bayerische Staatsbibliothek: cgm 9300; früher Meiningen, Staatsarchiv: Hs. 502), die der »Entstehung des Werkes nahe« steht, vgl. Huber, ›der werlde ring‹ [Anm. 1], S. 193. So Brunner, Nachwort [Anm. 9], S. 653. Zum Bildtypus gelehrter Autorpräsentation vgl. genauer Peters, Ursula, Digitus argumentalis. Autorbilder als Signatur von Lehr-Auctoritas in der mittelalterlichen Liedüberlieferung, in: Bickenbach, Matthias / Klappert, Annina / Pompe, Hedwig (Hrsg.), Manus loquens. Medium der Geste – Gesten der Medien, Köln 2003 (Mediologie 7), S. 31–65, hier S. 38: »Eingangsbilder, die sich als Autorbilder verstehen lassen, die zumindest das Thema Autorschaft suggerieren, setzen […] häufig die verschiedensten Zeige- und Demonstrationsgesten ein, oft in Verbindung mit einem Buch beziehungsweise einem Schriftband, aber auch als eher generelle Zeichen für gelehrte Unterweisung. […] Indem Autorbilder nicht nur im

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Monika Schausten

sen häufig demonstrativ auf ein Buch deuten lässt, setzt der Miniator der Meininger Handschrift – entsprechend den Prologaussagen – den Akzent etwas anders, indem er seinen gelehrten Autor auf einen Ring mit einem Stein deuten lässt, den dieser in der Hand hält. Der Ring ist das Buch, der Autor hält ihn in der Hand, er ist sein Eigentümer und zugleich mit seiner Deutungshoheit versehen. Das darunter gemalte Wappen identifiziert man zudem als das der Toggenburger Familie Wittenwiler, so dass der Gelehrte im Bild in einen direkten Zusammenhang mit dem historischen Autor des nachfolgenden Textes gebracht wird:19 So weit, so gut. Doch trotz aller auffälligen Rekurse auf tradierte exordialtopische Versatzstücke didaktischer Literatur und bildliche Darstellungsformen bleibt die im Prolog angekündigte textuelle Kompilation zweier extrem divergierender Gattungen zu einer einzigen gerade auch vor dem Hintergrund bereits existenter unterweisender Literatur in der Volkssprache ungewöhnlich. Selbst wenn man bedenkt, dass Kompilationen heterogener Schreibweisen für die didaktischen Summen, aber auch für die Romanliteratur des Mittelalters durchaus üblich sind,20 treibt der Autor des Ring ein interessantes Vexierspiel21 mit der Autor-Leser-Konstellation, wie sie die Tradition der seit dem Hochmittelalter reich überlieferten großdidaktischen Summen bezeugt. Die »klassisch-didaktischen Positionsbestimmungen«, von denen Huber im Hinblick auf den Entwurf der Relation von implizitem Autor und Leser bei Thomasin gesprochen hat,22 der diese als eine Beziehung zwischen einem gelehrten, über die Tugendlehre souverän verfügenden »Lehrer-Ich«23 und seinen lernbedürftigen Schülern konkretisiert, finden sich im Ring in dieser Weise nicht mehr. Das Lehrer-Ich Thomasins setzt der Prolog programmatisch als die entscheidende Kontrollinstanz, die über die Vermittlung von Tugenden eine soziale (Feudal-)Ordnung zu garantieren verspricht.24

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lateinischen Kontext, sondern auch in der volkssprachigen Überlieferung von vornherein diesen Anspruch signalisieren, eröffnen sie auch im Umkreis volkssprachiger Literatur den folgenden Texten einen besonderen Raum autoritativer Gelehrsamkeit.« Zur Miniatur siehe Brunner, Nachwort [Anm. 9], S. 653. Zur Intertextualität lehrhafter Literatur vgl. bes. Boesch, Bruno, Lehrhafte Literatur. Lehre in der Dichtung und Lehrdichtung im deutschen Mittelalter, Berlin 1977 (Grundlagen der Germanistik 21), S. 7, sowie auch Huber, ›der werlde ring‹ [Anm. 1], S. 190 und 196. Terminus bei Röcke, Werner, Das Lachen, die Schrift und die Gewalt. Zur Literarisierung didaktischen Schreibens in Wittenwilers ›Ring‹, in: JOWG, 8/1994–95, S. 259–282, hier S. 262. Röcke bezeichnet indes Wittenwilers textuelle Strategie insgesamt als Vexierspiel von »Lehre, Nicht-mehr-schönen-Künsten und Lachen«, während der Terminus hier für die unterschiedlichen Referenzebenen derjenigen Rekurse steht, die Heinrich in seinem Prolog auf die didaktischen Summen entwirft. Deren Schreibweisen werden bei Heinrich – eben wie ein Bild durch einen Vexierspiegel – mehrfach gebrochen. Huber, ›der werlde ring‹ [Anm. 1], S. 204. Ebd. Zur Eindeutigkeit didaktischen Sprechens vgl. auch Röcke, Das Lachen [Anm. 21], S. 260: Didaktisches Sprechen gehe von »festen Überzeugungen und Regeln des Denkens und

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So heißt es im Welschen Gast:25 nu ist zît daz ich sagen wil waz vrümkeit und waz zuht sî und waz tugende unde wî beidiu wîp unde man, swerz von im selben niht enkan, ze guoten dingen komen sol. (V. 24–29)

Es ist die auctoritas des impliziten Autors, die seine Rede selbst erschafft und die zugleich dezidiert bestimmte Lektüremodi des Textes als verpflichtend ausweist. So sehr der Ring Wittenwilers sich in der Konstruktion seiner normgebenden auctoritas auch auf diese Tradition der Inszenierung von Autorschaft bezieht, so rätselhaft und uneindeutig fällt doch die Selbstpräsentation des impliziten Autors bereits im Prolog aus. Darüber, wer hier wen und zu welchem Zweck belehrt, sowie über die damit verbundene Frage nach der Funktion der imaginierten Bauernwelt in diesem didaktischen Kontext herrscht aus diesem Grunde große Unstimmigkeit in der gegenwärtigen Debatte um diesen ungewöhnlichen Text:26 Wie geht, so lautet die bislang dominierende Frage an den Ring, der im Prolog formulierte »Anspruch auf enzyklopädische Belehrung und ein umfassendes Verhaltensmodell« zusammen mit der rahmenden bäuerlichen Schwankhandlung, die »alle Lehren zu denunzieren scheint«?27 Die zwei konträren Erklärungsversuche, die die mediävistische Forschung bislang in Anschlag zu bringen suchte, lassen sich bei näherem Hinsehen als Produkt jener Leserlenkung erläutern, die der implizite Autor des Ring im Hinblick auf mögliche Lektüremodi seines Textes im Prolog vornimmt: Die anfängliche im Kontext der didaktischen Referenztexte zu beobachtende Betonung des lehrhaften Charakters des Textes, der durchaus eingelöst wird in einem umfassenden Lehrprogramm, das sich in seiner Gesamtheit gar zu einem »Laiendoktrinal« fügt,28 leitet solche Lektüren, die den Ring überwiegend als Vermittlungsinstanz unumstößlicher Lehrwahrheiten von »sozialer und religiöser Dignität«29 verstanden wissen wollen und die, wie Eckart Conrad Lutz, allegorisierende Textverfahren der Narration herausarbeiten, um genau

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Handelns aus«; es wiederhole »das ohnehin schon Gewußte« und fordere »zu seiner Realisierung auf«. Ich zitiere Thomasin nach folgender Ausgabe: Rückert, Heinrich (Hrsg.), Thomasin von Zirclaria, Der wälsche Gast, mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann, Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke). So auch Huber, ›der werlde ring‹ [Anm. 1], S. 207: Die Auffassungen der Literaturwissenschaftler über das Werk gingen »diametral auseinander«. Ebd., S. 189. So Ruh, Kurt, Ein Laiendoktrinal in Unterhaltung verpackt. Wittenwilers ›Ring‹, in: Grenzmann, Ludger / Stackmann, Karl (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), S. 344–354. Huber, ›der werlde ring‹ [Anm. 1], S. 209.

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diese Sinnebene als diejenige auszuweisen, die allein eine alle übrigen Aspekte integrierende und bestimmende Funktion im Text Wittenwilers für sich beanspruchen könne.30 Im Gegensatz dazu finden sich Stimmen, die im Hinblick auf die im Ring adaptierte literarische Welt des Schwankes vermuten, bei Wittenwiler gehe es gerade um einen destruierenden Umgang mit tradierten Normen, und die deshalb den Text als »Sinndekomposition«31 beschreiben, zuweilen auch als Parodie didaktischer Literatur.32 Auch diese Lektüre kann sich auf die Konstruktion der Kommunikationssituation zwischen implizitem Autor und Leser im Prolog beziehen: Denn Heinrich begründet die Inserierung der gpauren in sein didaktisches Unternehmen gerade damit, dass eben diese eine Lektüre jenseits aller lebensweltlich relevanten Handlungsanweisungen und Formen von Erbauung ermöglicht, einen Modus der Rezeption, die der implizite Autor durchaus auch für legitim hält: Secht es aver ichts hie inn, Das weder nutz noch tagalt pring, So mügt irs haben für ein mär, Sprach Hainrich Wittenweilär.33 (V. 49–52)

Vielleicht ist es gerade die in Anlehnung an die Tradition didaktischer Literatur inszenierte vermeintliche Schlichtheit, mit der der implizite Autor des Ring diese divergierenden Rezeptionsanweisungen im Prolog vorträgt, die zunächst darüber hinwegtäuscht, dass dem Text des Wittenwiler bereits an dieser Stelle eine einsinnige Konturierung des Verhältnisses von belehrendem Autor und zu belehrendem Leser fehlt. Geradezu paradox stehen sich hier die sprachliche Klarheit und Einfachheit der Anweisungen an die Leser und die diesen Anweisungen zugeordneten stark voneinander divergierenden Lektürevorschriften gegenüber. Dass der Prolog die z.B. bei Thomasin wenig problematisierte Kommunikationssituation der Gattung hier intensiv zu reflektieren scheint, davon zeugt auch eine weitere Information, die die Mög-

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Lutz, ›Spiritualis fornicatio‹ [Anm. 7], S. 224. Huber, ›der werlde ring‹ [Anm. 1], S. 209. Zu dieser Interpretationsrichtung gehören z.B. Haug, Walter, Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers ›Ring‹, in: ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1997, S. 312–331, sowie Bachorski, Hans-Jürgen, ›Der Ring‹: Dialogisierung, Entdifferenzierung, Karnevalisierung, in: JOWG, 8/1994–95, S. 239–258. Zum Begriff mär bei Wittenwiler als Werkbezeichnung, als Hinweis auf eine Erzählung, und zu den Forschungsdebatten um diesen Begriff in seinem Verhältnis zu nutz und tagalt vgl. Jürgens-Lochthove, Kristina, Heinrich Wittenwilers ›Ring‹ im Kontext hochhöfischer Epik, Göppingen 1980 (GAG 296), S. 53ff. Entscheidend ist für die Autorin der Gedanke, dass nutz und tagalt den pragmatischen Aspekt der Werkrezeption betreffen und auf die Horazsche Formel von »prodesse et delectare« verwiesen, während mär übergeordnet als Werkbezeichnung fungiere (S. 55). Lutz, ›Spiritualis fornicatio‹ [Anm. 7], S. 347, meint, mär sei als Terminus für »Weltentwurf«, »Darstellung der Welt« verwendet.

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lichkeit einer eindeutigen Lektüre des Epos vorspiegelt34 und zugleich bereits auf die verstörende Mehrsinnigkeit des nachfolgend Berichteten deutet: Der Autor informiert sein Publikum über die roten und grünen Linien, die dem Manuskript an seinen Rändern beigefügt sind, um die lehrhaften und unterhaltenden Partien voneinander unterscheiden zu können: Die rot die ist dem ernst gemain, / Die grüen ertzaigt uns törpelleben (V. 40f.).35 Doch auch die Striche als sichtbare Spuren eines die Textrezeption lenkenden Autors im Manuskript vermögen die Komplexität der nachfolgenden Erzählung nicht in Schach zu halten, sondern sind im Gegenteil wohl eher strategisch eingesetzte Mittel einer für den Ring generell konstitutiven produktiven Leserirritation.36 Es zeigt sich, dass Wittenwiler bereits im Prolog die Relation von Text und Normativität explizit zum Gegenstand macht. Die bei Thomasin vorgenommene Konkretion dieser Relation im Verhältnis eines gelehrten impliziten Autors und eines zu belehrenden Publikums wird hier auf mehreren Ebenen des Schrifttextes problematisiert. Im Unterschied zur berühmten Summe des Hochmittelalters lösen die divergierenden Lektüreanweisungen sowie auch die Hinweise auf die farbigen Markierungen und deren vermeintlich ordnende Kraft das auktoriale und autoritär über die Textimplikationen verfügende ›Ich‹ des Ring in vier Haltungen auf: die eines Empfängers der vom Ring produzierten Lehranweisungen, die traditionelle eines gelehrten Vermittlers von Lehrinhalten, die des Schöpfers unterhaltender zotiger Begebenheiten und schließlich die eines die Rezeption seinen Lesern überlassenden neutralen Beobachters. Damit aber ist dem Ring von vornherein eine Ebene eingezogen, welche die Inszenierung einer gelehrten Autorinstanz didaktischer Literatur auf ihre Funktion hin reflektiert. Wie – so fragt sich auch die Forschung – liest man einen Text, dessen spärliche Lektüreanweisungen verwirren und dessen impliziter Autor das schwierige Geschäft der Lehre im Folgenden – über die Dissoziation impliziter Autorschaft im Prolog hinausgehend – gar noch gerne seinen Figuren selbst überlässt, die überdeutlich als Narren und Bauern gekennzeichnet sind?37 Der Text stellt damit, so eine in

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So auch Bachorski, ›Der Ring‹ [Anm. 32], S. 253: »Mit der Farbenlinie gibt er [Wittenwiler, M.S.] im Prolog ein Versprechen, das eine aufs Deutlichste und Einfachste differenzierte Welt verspricht.« Die Farbigkeit der Linien stiftet – denkt man an die Autorminiatur – sofort Verwirrung beim Leser des Manuskriptes: Gilt das Grün der Kleidung des Autors als Zeichen seiner Gelehrsamkeit, so ist die Farbe im fortlaufenden Manuskript als Zeichen für die Dörperwelt gewählt. Die rote Farbe des Steins, der in der Miniatur auf dem Ring sitzt, steht auch, was die Linien angeht, für den Ernst. Zur irritierenden Semantik besonders auch der grünen Farbe der Autorminiatur vgl. bes. auch Bachorski, ›Der Ring‹ [Anm. 32], S. 253. So besonders prononciert Röcke, Das Lachen [Anm. 21], S. 262; Huber, ›der werlde ring‹ [Anm. 1], S. 210, spricht von einer Verunsicherung der Leser. Dies ist die leitende Frage in der Ring-Forschung. Vgl. z.B. Kokott, Hartmut, Ordnung und Chaos. Strukturierungen im ›Ring‹ Heinrich Wittenwilers, in: Bovenschen, Silvia / Frey, Winfried / Fuchs, Stephan u.a. (Hrsg.), Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut

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der Forschung zu Recht vertretene Auffassung, gerade in seiner Referenz auf tradierte didaktische Formen die Bedingungen von Unterweisung und Normgebung in einem Autor-Lernenden-Verhältnis selbst zur Disposition.38 Diese Bedingungen werden indes nicht allein in der häufig konzedierten »Diskrepanz zwischen gegebener Lehre und konkreter Handlungssituation«39 reflektiert; vielmehr konfrontiert der Ring seine Leser, so meine Vermutung, in seinem ersten Teil vor allem mit einem komplexen Fragedickicht, dessen thematischer Kern freilich grundsätzlich um den Zusammenhang von Normierungsprozessen und gesellschaftlicher Ordnung zentriert bleibt. Der Text stellt, so meine These, im Anschluss an die Erprobung didaktischer Autorschaftskonzepte und ihrer möglichen sozialen Funktionen im Prolog die Frage nach der Relation von gesellschaftlicher Normierung und Weltordnung, genauer: die Frage nach einer Übertragbarkeit spezifisch höfischer Normativität auf Repräsentanten unterer Stände, die Frage also nach den Aussichten einer mittels Verhaltenslehren zu leistenden erfolgreichen Überführung des ordo naturalis in einen höfisch konturierten ordo civilis, die grundlegend dahinter stehende Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur mithin,40 die alle didaktischen Formen prägt, und schließlich auch die Frage nach eigentümlichen Interferenzen zwischen dem zivilisatorischen Anspruch höfischer Normativität und denjenigen Formen von Gewalttätigkeit, die belehrenden Akten selbst implizit sind. Er tut dies in seinem ersten Teil in epischen Konkretionen der im Prolog entworfenen impliziten Autor-Leser-Relationen, die im Folgenden zu entfalten sein werden. Denn schon lange bevor mit Nabelreiber eine wohl nicht eben vertrauenswürdige Gelehrtenfigur die Bühne der Ring-Dichtung betritt41 und unserem Helden Bertschi die angemessene Form der Liebe zu vermitteln sucht, überträgt sein Autor die auctoritas der Normvermittlung auf diversifizierte Spielfiguren.42

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Brackert zum 65. Geburtstag, Berlin, New York 1997, S. 73–84, hier S. 73: Der Ring habe sich bisher jeder »einsträngigen Deutung entzogen«, und zwar durch sein »Oszillieren zwischen rigider Didaxe und überbordender Komik, zwischen hämischer Schadenfreude und entsetztem Grauen«. So besonders Mühlherr, Anna, Gelehrtheit und Autorität des Dichters: Heinrich von Mügeln, Sebastian Brant und Heinrich Wittenwiler, in: Haug (Hrsg.), Mittelalter [Anm. 1], S. 213– 236, hier S. 235: Die Gelehrtheit des Dichters werde im Ring als Sujet wichtig. Mühlherr, Gelehrtheit und Autorität [Anm. 38], S. 228. So auch Röcke, Das Lachen [Anm. 21], S. 265. Vgl. dazu Bachorski, ›Der Ring‹ [Anm. 32], S. 254, der auf die sexuelle Konnotation des Namens ›Nabelreiber‹ hinweist. Vgl. dazu Huber, ›der werlde ring‹ [Anm. 1], S. 209, der zu Recht betont, dass es dieses Verfahren nicht zulasse, die Spielfiguren als positive Sprachrohre des Autors zu identifizieren. Zur Forschungsgeschichte einer Identifizierung Nabelreibers mit dem historischen Wittenwiler sowie zur zunehmenden Infragestellung dieser Ineinssetzung von Autor und literarischer Figur vgl. bes. Schulz-Grobert, Jürgen, ›Autor in fabula‹. Selbstreferentielle Figurenprofile im ›Ring‹ Heinrich Wittenwilers, in: JOWG, 8/1994–95, S. 13–26. Vgl. dazu auch Mühlherr, Gelehrtheit und Autorität [Anm. 38], hier S. 214: Der Dichter entziehe

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Diese Konkretion, die den impliziten Autor als normgebende Instanz, abgesehen von den diesem zugeschriebenen farblichen Markierungen am Rand des Textes, vollständig suspendiert, ist inversiv auf das angekündigte Verfahren bezogen, den »ernsten Dingen« das »Geschrei der Bauern« zu Zwecken der Unterhaltung beizumischen, verhält es sich doch hier zunächst gerade umgekehrt.43 Dass im ersten Teil des Ring Bauern zu Protagonisten des epischen Geschehens avancieren, ist nicht allein der epischen Vorlage geschuldet, sondern lässt sich darüber hinaus auch als Replik auf didaktische und epische Formen hochhöfischer Literatur verstehen. Im Prolog wird der Rekurs auf diese Formen explizit, insofern hier eine Definition des Landmanns gegeben wird, die sich deutlich von den Einlassungen zur bäuerlichen Sphäre, wie sie in anderen Texten der Gattung erfolgt, unterscheidet. Der implizite Autor schlägt vor, denjenigen für einen Bauern zu halten, Der unrecht lept und läppisch tuot, nicht einer, der aus weisem gfert / Sich mit trewer arbait nert (V. 44–46). Wittenwiler zitiert mit dem Hinweis auf ein als ›bäuerlich‹ zu verurteilendes, törichtes Handeln einerseits einen gängigen Topos adeliger Selbstdarstellung. Dieser wird verwendet, um das Höfische als Ideal aristokratischen Verhaltens gerade in Abgrenzung zu einem affektgesteuerten ›bäuerlichen‹ zu konturieren: 44 bi zuht die edeln man ie kande: / unzuht ist noch gebeurische schande, heißt es etwa im Jüngling Konrads von Haslau.45 Von dieser Begriffsverwendung des Bäuerlichen als Synonym für triebgesteuertes, unzivilisiertes Verhalten grenzt Wittenwiler andererseits den real tätigen und arbeitsamen Bauern ab. Wer in diesen einleitenden Bemerkungen indes zunächst den Versuch erkennt, den Stand der Bauern ein Stück weit von der negativen Reputation zu befreien, die nicht zuletzt auch Formen höfischer Literatur ihm zugeschrieben hatten, sieht sich im Blick auf das nachfolgend einsetzende epische Geschehen jedoch sofort eines Besseren belehrt. Denn hier stehen mit den Einwohnern von Lappenhausen Figuren im Mittelpunkt, die als Vertreter einer dörflichen, ländlichen Sphäre gekennzeichnet sind und deren überaus törichtes Verhalten die geschilderten Ereignisse bestimmt. Was die Prologaussagen gedanklich trennen, führt das epische Geschehen also sogleich wieder zusammen: Vertreter bäuerlichen Lebens werden durch ihr groteskes Verhalten dem Lachen der Leserschaft preisgegeben. Dies geschieht nicht allein durch Wittenwilers Referenz auf das bekannte Dörpermilieu Neidhartscher Prägung,46 sondern auch

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sich als »deutende und urteilende Autorität« und S. 228: alle Didaxe sei, sofern sie nicht über die Handlung getragen sei, »erzählten Figuren in den Mund gelegt«. So auch Sayin, Grenzüberschreitungen [Anm. 14], S. 246. Zur Funktion des ›bäuerlichen‹ als Kontrastfolie zum ›höfischen‹ Verhalten in didaktischer und erzählender Literatur des Mittelalters vgl. bes. Wenzel, Horst, Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 18f. Tauber, Walter (Hrsg.), Konrad von Haslau, Der Jüngling. Nach der Heidelberger Handschrift Hs. Cpg. 341 mit den Lesarten der Leipziger Hs. 946 und der Kalocsaer Hs. (Cod. Bodmer 72), Tübingen 1984 (ATB 97), V. 5f. Wittenwilers Dichtungseingang scheint mir primär Werken der Neidharttradition geschuldet zu sein. Anders als Lutz, ›Spiritualis fornicatio‹ [Anm. 7], S. 315, der behauptet,

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durch die Übernahme einer literarischen Technik, die einen im Kontext höfischer Minnelyrik entwickelten sozialen Normierungsprozess an dörpern erprobt. Dies geschieht in Neidharts Liedern bekanntlich durch die als Riuwentaler ausgestaltete Sängerfigur, die ihr Autor in den Sommerliedern als erfolgreichen Verführer bei dörflichen Lustbarkeiten imaginiert und in den Winterliedern als »unterlegenen Rivalen anmaßender Bauernkerle bei der Werbung um eine Dorfschöne«.47 Gerade in diesen Liedern verfehlt der zivilisierende Anspruch der Liebeswerbung im hohen Sang seine Wirkung; der in einigen Formen des Minnesangs z.B. im Konzept einer Dienstminne aufgehobene ordo civilis zerschellt an der an den dörpern exemplifizierten Naturordnung. Das bei Neidhart mit Bachtin zu konstatierende Verfahren einer Karnevalisierung höfischen Sangs ist komisch – die über die Transposition ins ländliche Milieu erzeugte »Profanierung«48 des zivilisatorischen Anspruchs der zitierten Gattung erzeugt wohl vor allem ein Verlachen der dörperlichen Gesellschaft,49 doch geraten bereits hier beide in den Liedern anzitierte Positionen ins Wanken und erzeugen jenes »Kipp-Phänomen«, das für Wolfgang Iser Voraussetzung des Komischen ist.50 Wittenwiler übernimmt zunächst von Neidhart die Technik der Komik erzeugenden Konfrontation einer im höfischen Minnesang vorgeprägten höfischen Verhaltensregulierung im Kontext des Liebeswerbens mit einem bei ihm hier wohl deutlich sozial – und nicht nur abstrakt als bäuerlich – gekennzeichneten Kontext.51 Aller-

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der erste Teil des Werkes sei eine Kompilation aus Schwank, aus den in Iob 30,1–8 und in Ecl 7, 3.5 »gezeichneten Lebensbilder[n]« sowie aus Ausschnitten der eigenen Welt Wittenwilers, ist die Episode in meinen Augen durch die Adaptation einer literarisch überaus populären Tradition geprägt, die über den Autornamen Neidhart auch explizit namhaft gemacht wird. Zur Adaptation der Neidhartliteratur bei Wittenwiler vgl. außerdem besonders: Knühl, Birgit, Die Komik in Heinrich Wittenwilers ›Ring‹ im Vergleich zu den Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts, Göppingen 1981 (GAG 332), S. 83. Zur spezifischen Rekurrenz auf Neidhart als »Spiel mit literarischen Mustern« im Ring vgl. besonders Händl, Claudia, ›Hofieren mit Stechen und Turnieren‹. Zur Funktion Neidharts beim Bauernturnier in Heinrich Wittenwilers ›Ring‹, in: ZfdPh, 110/1991, S. 98–112, hier S. 110. Bachtin, Michail, Probleme der Poetik Dostoevskijs, übers. v. A. Schramm, München 1971, S. 136–138. Ähnlich argumentiert Händl, ›Hofieren mit Stechen und Turnieren‹ [Anm. 47], S. 110. Iser, Wolfgang, Das Komische: ein Kipp-Phänomen, in: Preisendanz, Wolfgang / Warning, Rainer (Hrsg.), Das Komische, München 1976 (Poetik und Hermeneutik 7), S. 398–402. Riha, Die Forschung [Anm. 2], S. 241, macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Definition des Bauern als desjenigen, der aus weisem gfert / Sich mit trewer arbeit nert (V. 45f.), im Prolog in dieser Form nicht die Kontur der Bauern im epischen Geschehen bestimmt. Vielmehr ist Lutz, ›Spiritualis fornicatio‹ [Anm. 7], S. 25, zuzustimmen, der die Beschreibung der Bauern im Ring zu Recht in den historischen Kontext der Appenzeller Bauernkriege rückt. Im Hinweis auf die später entstandenen Beschreibungen der »Schwyzer« durch Felix Hemmerli in seinem Liber de nobilitate betont Lutz, dass schon Wittenwiler, ähnlich wie Hemmerli nach ihm, in seinen Bauern »die Perversion der Ordnung dieser Welt« gerade in Bezug auf die Definition der gpauren im Prolog habe vorführen wollen. Im

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dings geht er anders vor: Er vereint die höfische und die bäuerliche Position in seiner Protagonistenfigur Bertschi und suspendiert so zunächst die Außenperspektive auf die ländliche Gemeinschaft, die in den Liedern Neidharts durch die Ausgestaltung des Sänger-Ichs garantiert ist. Bertschi stellt der Erzähler einerseits als Bauern vor, ihn durch das Epitheton ›Esel‹ sogleich diffamierend (V. 59), andererseits konturiert er ihn im Kontext höfischer Literatur, wenn er Bertschi als degen säuberleich und stoltz kennzeichnet und zudem erwähnt, dass alle anderen ihn als junkherr ansprechen mussten (V. 68). In großer Diskrepanz zu seiner bäuerlichen Umgebung steht besonders der höfische Zuschnitt seines Liebesbegehrens: Bertschi trägt, so der Erzähler, trotz zahlreicher Avancen nur eine in seinem Herzen (V. 73), die er selten ie vergas (V. 100) und für die er sogar zu sterben bereit ist (V. 102). Und so resultiert dieses Begehren dann auch im hofieren / Mit stechen und turnieren (V. 103f.). Während bei Neidhart die Dissoziation höfisch-zivilisierter von dörflich-naturhafter Welt auch als Differenz zwischen dem Riuwentaler und den dörpern konstruiert ist,52 integriert Wittenwiler die beiden konträren Positionen also zunächst in seiner Protagonistenfigur.53 Um das Aufeinanderprallen eines feudaladeligen Verhaltenscodexes der Liebeswerbung mit der Naturordnung eines bäuerlichen Milieus in der Figur des Bertschi sowie dessen Folgen für die Dorfgemeinschaft in Lappenhausen näherhin kommentierend perspektivieren zu können, bedient sich Wittenwiler weiter der Profilierung Neidharts als einer literarischen Figur, wie sie besonders für die Gattung der Spiele sowie die mit dieser intertextuell verbundenen Schwankliteratur in der NeidhartNachfolge charakteristisch ist.54 Indem er die gesamte literarische Neidhart-Tradition

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Gegensatz zu den im Prolog gekennzeichneten Bauern, die sich »aus weiser Einsicht von redlicher Arbeit« ernährten, ist es wohl die »Bedrohung des süddeutschen Adels durch die alle Grenzen überschreitende Macht der Bürger und Bauern«, sind es wohl die die ständische Ordnung gefährdenden Appenzeller seiner Zeit, die die literarische Kontur der Bauernfiguren im epischen Geschehen – gerade in ihrer Differenz zum Bild des arbeitsamen und weisen Bauern im Prolog – bestimmen (S. 25). Die Erzählhandlung diffamiert die Figur des Bauern systematisch als eine solche, die – wie es bereits im Prolog als Alternative zur positiven Definition der Bauern geschieht – unreht lept und läppisch tuot (V. 44). Vgl. dazu Sowinski, Bernhard, Wittenwilers ›Ring‹ und die Neidharttradition, in: JOWG, 8/1994–95, S. 3–11, hier S. 5. Zur typischen Ambivalenz zwischen Ritter und dörpern bei Neidhart sowie zur Tradition diffamierender literarischer Bauerndarstellung in der Literatur des Mittelalters vgl. auch Andreànszky, Arpad Stephan, Topos und Funktion. Probleme der literarischen Transformation in Heinrich Wittenwilers ›Ring‹, Bonn 1977 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 66), S. 53ff. Ähnlich auch Keller, Johannes, Vorschule der Sexualität: Die Werbung Bertschis um Mätzli in Heinrich Wittenwilers ›Ring‹, in: Haas, Alois M. / Kasten, Ingrid (Hrsg.), Schwierige Frauen – schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters, Bern [u.a.] 1999, S. 153–174, hier S. 158. Sowinski, Wittenwilers ›Ring‹ [Anm. 52], S. 3, vermutet, dass die dramatische Umsetzung womöglich der epischen Schwankliteratur vorausgegangen sei, dass mithin die fiktiven

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aufruft, macht er sein Werk indes nicht allein als Spiel für literarisch Gebildete kenntlich.55 Denn diesem Spiel eignet im Ring eine besondere Dynamik. Mit der Neidhartfigur wird der Dichtung ein ganz besonderes Autor-Figuren-Verhältnis implementiert, in dem die im Prolog hergestellte Relation von implizitem Autor und Leser, wie sie für didaktische Schreibweisen konstitutiv ist, reflektierbar wird, und zwar im epischen Geschehen selbst. Wittenwiler rekurriert hierfür auf die prominente Umcodierung des Autornamens ›Neidhart‹, der im späten Mittelalter in zahlreichen Texten selbst zu einer literarischen Figur gerinnt.56 Dieses Spiel mit dem berühmten Autornamen in erzählenden Texten und Spielen ist deshalb reizvoll, weil die mit dem Namen assoziierte Autorschaft der Figur latent präsent bleibt. So vor allem im berühmten Veilchenschwank, der sowohl die Schwanksammlung Neithart Fuchs eröffnet57 als auch programmatisch die Geschehnisse des Großen Neidhartspiels einleitet. Ähnlich wie im Veilchenschwank wird auch im Beichtschwank,58 zu dem der Ring eine explizite intertextuelle Verbindung unterhält und den Wittenwiler nur aus dem Neithart Fuchs oder aus dem Großen Neidhartspiel kennen konnte,59 das für das Literarische übliche Verhältnis von Autor und Figuren zum Teil auf den Kopf gestellt. Der Schwank, der erzählt, wie der als Mönch verkleidete Neidhart den über ihn erbosten Dörpern die Beichte abnimmt60 und zugleich die Aufdeckung seiner Identität fürchtet, imaginiert wie das bekannte epische Geschehen des Veilchenschwankes eine Situation, in der nicht der Autor souverän über die Figuren verfügt, sondern in der mit

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Auseinandersetzungen zwischen der Neidhartfigur und seinen bäurischen Gegenspielern in einer dramatisierenden Umcodierung von Dialogliedern ihren Anfang genommen haben könnten. Anders hingegen Simon, Eckehard, ›Neidhartspiele‹, in: VL2 6/1987, Sp. 893–898, hier Sp. 894: »Stoffgrundlage der ›N.‹ sind die von den Nachahmern Neidharts in Liedfassungen gedichteten Schwänke […], die zum Teil bereits in der 2. Hälfte des 13. Jh.s entstanden.« So Händl, ›Hofieren mit Stechen und Turnieren‹ [Anm. 47], S. 110. Zur literarischen Nachwirkung des Neidhartschen Œuvres vgl. bes. Beyschlag, Siegfried, ›Neidhart und Neidhartianer‹, in: VL2 6/1987, Sp. 871–893, bes. Sp. 886. Neithart Fuchs, in: Bobertag, Felix (Hrsg.), Narrenbuch. Der Pfarrer vom Kalenberg, Peter Leu, Neithart Fuchs, Salomon und Markolf, Bruder Rausch, Berlin, Stuttgart 1884 (Deutsche National-Litteratur 11), ND Darmstadt 1964, S. 141–292, hier S. 153–162. Ebd., S. 174–180. Vgl. Händl, ›Hofieren mit Stechen und Turnieren‹ [Anm. 47], S. 104f., sowie Sowinski, Wittenwilers ›Ring‹ [Anm. 52], S. 8. Zur epischen und dramatischen Neidhartrezeption im späten Mittelalter sowie besonders zur möglichen älteren Form einer dramatischen Umsetzung »der fiktiven Auseinandersetzung zwischen dem Ritter Neidhart und seinen bäurischen Gegenspielern« vgl. ebenfalls Sowinski, Wittenwilers ›Ring‹ [Anm. 52], S. 3. Simon, Eckart, Neidhart Plays as Shrovetide Plays: Twelve Additional Documented Performances, in: Germanic Review, 52/1977, S. 87–98, hält die Landschaft um den Bodensee im ausgehenden 14. Jahrhundert für einen frühen Verbreitungsraum von Neidharttexten, und zwar wegen der schwäbischen Sprachspuren im St. Pauler Neidhartspiel, wegen früher bildlicher Darstellungen des Veilchenschwanks in Dießenhofen und Winterthur. Neithart Fuchs, in: Bobertag (Hrsg.), Narrenbuch [Anm. 57], S. 174–180.

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dem Gedanken gespielt wird, die Figuren verfügten über ihren Autor. Er kommentiert – so könnte man sagen – mithin die ansonsten selten hinterfragte hierarchische Relation von Autor und Werk und spielt mit dem Gedanken einer Suspendierung auktorialer Kontrolle über die Figuren. Genau hier knüpft nun Wittenwiler mit seiner Adaptation der Neidhartfigur an. Denn die Absicht der Werbung des Helden Bertschi aus Lappenhausen um die hässliche Mätzli ist, so meine Vermutung, in der epischen Konstruktion dieser Episode Anlass dafür, die spezifischen Modi der Beachtung von Regularien höfischen Liebeswerbens durch eine bäuerliche Gemeinschaft zu problematisieren. Episch konkretisiert ist dies in je verschiedenen Konfigurationen des Verhältnisses, das der Ring zwischen Neidhart und den bäuerlichen Kämpfern, die alle an der Werbung des Protagonisten beteiligt sind, in immer neuen Anläufen mit und gegen die Tradition der Neidhartliteratur entwirft. Sehr sorgfältig konstruiert Wittenwiler die Neidhartfigur in modifizierendem Zugriff auf ihre bekannte literarische Rezeption. Im Ring eignet Neidhart sowohl eine Innen- als auch eine Außenperspektive auf das bäuerliche Turniervorhaben, in dem er von vornherein eine Rolle spielt: Wie im Großen Neidhartspiel61 und im Beichtschwank wird er den Lesern ausdrücklich als Feind aller dörper vorgestellt; 62 inspiriert von Schwänken und Spielen ist auch die Kennzeichnung Neidharts als ritter chluog,63 anders indes als in dramatischen und epischen Vorlagen ist im Ring eine durchgängige Überlegenheit Neidharts gegenüber den bäuerlichen Figuren erzählt: 64 61

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Das Große Neidhartspiel, in: Margetts, John (Hrsg.), Neidhartspiele, Graz 1982 (Wiener Neudrucke 7), S. 17–110, hier S. 44, V. 892–895. Entzelman, der Bauer, der Neidhart das Veilchen gestohlen hat, sagt über Neidhart: Jr heren ich sag euch das / Umb den neyd vnd umb den has / Den der Neythart zu uns trait / Des dunckt er sich wol gemait […]. Zum Inhalt und besonders zur Datierung des umfangreichsten komischen Schauspiels des Mittelalters auf die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts vgl. besonders Simon, ›Neidhartspiele‹ [Anm. 54], hier Sp. 895. So im Neithart Fuchs, in: Bobertag (Hrsg.), Narrenbuch [Anm. 57], S. 177, V. 739f., wo es von den Bauern heißt: si sprachen: wer her Neithart iecz zelande, / so wolt wir rechen an im unser schande. Zur Kontur Neidharts im Großen Neidhartspiel vgl. Hirschberg, Dagmar / Ortmann, Christa / Ragotzky, Hedda, ›törpel‹, ›gpauren‹ und ›der welte lauff‹. Zum Problem der Bestimmung närrischer Lehre in Wittenwilers ›Ring‹, in: JOWG, 8/1994–95, S. 201–219, hier S. 203: Im Großen Neidhartspiel werde Neidhart »in geradezu heilsgeschichtlichem Ausmaß zum Instrument der Rache und Strafe« für den Ordnungsbruch der Bauern. Die explizite Kennzeichnung Neidharts als Ritter gehört zu den spätmittelalterlichen Stereotypen der Figur besonders in den Spielen. Im St. Pauler Neidhartspiel, das für Sowinski, Wittenwilers ›Ring‹ [Anm. 52], S. 4, eines derjenigen Zeugnisse für die »frühe und aktive Verbreitungspraxis« von Neidhartliteratur im Bodenseeraum schon des 14. Jahrhunderts ist, wird her Nithart als der vest ritter her Nithart vorgestellt: vgl. Das St. Pauler Neidhartspiel, in: Margetts (Hrsg.), Neidhartspiele [Anm. 61], S. 11–16, hier V. 8. Im Großen Neidhartspiel wird der Hass der Bauern gegenüber Neidhart, der ihnen viel Kummer bereitet habe, explizit hervorgehoben, vgl. Das Große Neidhartspiel, in: Margetts (Hrsg.), Neidhartspiele [Anm. 61], S. 45, V. 909–914.

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Entgegen den Vorläufertexten sind Möglichkeiten der Überlistung hier exklusiv der Neidhartfigur, deren Emblem der Fuchsschwanz ist,65 vorbehalten, die Bauern streben zwar eine Überwindung Neidharts im Kampf an, scheitern aber an der Gewitztheit ihres Gegenübers. Diese deutliche Tendenz der Neithartrezeption bei Wittenwiler bestätigt auch die Auslassung des besonders bekannten Veilchenschwankes im Ring. Im Anschluss an die literarische Tradition inseriert Wittenwiler seinem Werk eine eindimensionale Figur, reduziert er doch die Komplexität, die Neidhart als literarische Figur in Schwänken und Spielen besitzt. Wittenwiler betont am Beispiel seiner Neidhartfigur vor allem wieder jene ständische Differenzierung der Figuren in Ritter und Bauern,66 wie sie in den Märenfassungen von Metzens Hochzeit gerade nicht verankert ist, ist doch die Beschränkung auf ein bäuerliches, kulturfernes Milieu und Figurenarsenal für die stoffliche Grundlage des Ring kennzeichnend.67 Im Ring garantiert indes allein die Neidhartfigur, die gegenüber den Spielen nicht im Verbund mit anderen Rittern,68 sondern allein und ohne jede Preisgabe ihrer Identität gegen die Bauern vorgeht, eine kommentierende Außenperspektive auf das ›höfische‹ Werbungsgeschehen um Bertschi und Mätzli. Dabei sind es die Konkretionen dieses Ansinnens im Ring, auf die es hier zunächst ankommen muss. Denn anders als in den verschiedenen Formen der auf Neidhart rekurrierenden literarischen Tradition konstruiert Wittenwiler – und zwar trotz der parodistischen Momente, die das Geschehen um Neidhart und die Bauern natürlich auch im Ring aufweist – wohl besonders die Dissoziation einer höfisch-adeligen und einer ländlich-bäuerlichen Welt im Kontext einer didaktischen Form. D.h., die Absicht einer über ein Turniergeschehen mit Dignität zu versehenen Werbung eines Bauern wird nicht allein – wie in einigen Liedern Neidharts – als unzulässige Imitationssucht gekennzeichnet,69 noch auch brandmarkt die Erzählung – wie im Veilchenschwank und in den Spielen – Versuche der Bauern, den höfischen Minnedienst Neidharts für eine adelige Dame zu unterminieren. Wenn Wittenwiler seinem Protagonisten die Absicht der Werbung um Mätzli in den Mund legt, dann ist diese im Rahmen lehrhafter Literatur bereits als feste Regel formuliert:

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Zur Neidhart-Legende des späten Mittelalters, deren literarische Endform »die in Augsburg zwischen 1491 und 1500 gedruckte Liederkompilation des später ›Neidhart Fuchs‹ genannten Werkes« darstellt, vgl. bes. Beyschlag, ›Neidhart und Neidhartianer‹ [Anm. 56], bes. Sp. 883f. So auch Haug, Idealität [Anm. 32], S. 325. So schon Sowinski, Wittenwilers ›Ring‹ [Anm. 52], S. 6f. Im Großen Neidhartspiel kämpft Neidhart im Verbund anderer Ritter gegen die Bauern: vgl. Großes Neidhartspiel, in: Margetts (Hrsg.), Neidhartspiele [Anm. 61], S. 46, V. 936ff., in dem einer der Ritter Neidhart zu ihrem Anführer deklariert. Vgl. dazu Sowinski, Wittenwilers ›Ring‹ [Anm. 52], S. 5, Anm. 8, mit zahlreichen Beispielen aus Neidharts Liedern, und Riha, Die Forschung [Anm. 2], S. 242f.

Poetik der Interferenz

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›Und gieng es an daz leben mein, Es muoss halt sein ghofieret, Gestochen und gturnieret! Ist, daz uns niemant gtar bestan, So raitin wir enander an!‹ (V. 194–198)

Das Verfahren einer Ausweitung eines exklusiv auf die höfische Sphäre begrenzten Spezialdiskurses der Minnewerbung auf ein ländliches Milieu, das der gesamten Neidhartrezeption eigen ist, erfährt hier eine entscheidende Modellierung. In der Rede des Bertschi – seinem »es muss halt hofiert werden« – imaginiert Wittenwiler eine dörfliche Gemeinschaft, für die eine unreflektierte Verbindlichkeit höfischer Regeln der Liebeswerbung schlicht behauptet wird. Die sehr eigene Integration der literarischen Neidharttradition in eine didaktische Summe dient in der Entfaltung des epischen Geschehens einem gedanklichen Experiment. Dieses imaginiert, um mit Jürgen Link zu sprechen, bereits auf dieser historischen Stufe eine Interferenz von Normativität und Normalität in der Literatur.70 Denn die Möglichkeit einer Universalisierung primär höfischer Distinktionsmerkmale stellt der Ring in seinem erzählten Geschehen zur Disposition: Was wäre wenn? – so scheint Wittenwiler seine Leser fragen zu wollen – was wäre, wenn der normative Anspruch höfischen Liebeswerbens zum selbstverständlichen Orientierungsmaßstab auch anderer Stände mutierte? Denn das ist die Ausgangssituation: Bertschi weiß bereits, was zu tun ist: Stechen und Turnieren gehören zu einer erfolgreichen Werbung um eine Frau. Wittenwilers erster Teil entlarvt nun sukzessive dieses Wissen der Figur um die angemessene Form höfischen Turnierens als aufgesetzt, als begriffliches Wissen ohne Anschauung, denn Bertschi gibt sogleich eine Unsicherheit bezüglich der korrekten Anwendung der Regel zu erkennen. Genau in diesem Zusammenhang kommt im Ring die Neidhartfigur ins Spiel: zunächst als von den Bauern unerkannter Mitstreiter, sodann als Vorschriften erteilender Fremder, als Beichtvater und schließlich als sich dem selbst hergestellten Chaos vollständig entziehende Figur. Damit aber entwirft der erste Teil des Ring die Beziehung zwischen Neidhart und den Bauern in Analogie zu den im Prolog aufgeführten Konstellationen zwischen dem impliziten Autor und den Rezipierenden: Versuche einer ursprünglich höfischen Verhaltensregulierung im Kontext bäuerlichen Lebens werden über verschiedene Konfigurationen der Beziehung zwischen Neidhart und den Bauern durchgespielt. Überdies lässt der Text am Beispiel der Neidhartfigur sukzessive eine Verbindung von höfischer Normierung und gewalttätigen Verhaltensweisen erkennen, denn es sind nicht allein die unreflektierten Wissensbestände der Bauern um ein höfisches Werben, sondern auch die Anweisungen Neidharts an seine Gegenüber, die die bäuerliche Gemeinschaft bei ihren höfischen Turnierversuchen mehr und mehr in Chaos und Tod münden lassen. 70

Link, Jürgen, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Auflage, Göttingen 2006, hier vor allem S. 34.

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Bei der Konstruktion seines epischen Geschehens setzt Wittenwiler im Anschluss an die Neidharttradition auf eine Poetik der Interferenz. Die Integration der sich an den Namen des berühmten Autors knüpfenden literarischen Tradition in den Kontext didaktischen Schreibens ist auf die vollständige Dissoziation von Neidhart und den bäuerlichen Figuren gerichtet. Neidhart ist zunächst auf seine Funktion als literarische Figur beschränkt: Er ist unbekannter Mitkämpfer der dörper, als diese – der oben zitierten Vorgabe des Bertschi Folge leistend – gegeneinander kämpfen. Beim Kampf ist er den bäuerlichen Kontrahenten sogleich überlegen. Außer ihm landen alle in einem Bach. Dies verlangt nach einer Wiederherstellung von Ordnung, realisiert in der erzählten Reorganisation der Werbung. Diese wird nun im Modus der belehrenden Anweisung initiiert von Leckenspieß, dem Meier des Dorfes: ›Hört, ir herren alle, Ein red, die ich euch sagen wil! Wir chömend noch zuo guotem spil, Wolt ir volgen miner lere: Wir behalten noch die ere, Ist, daz wir stechen mit dem gast Und bindent uns ind sättel vast!‹ (V. 328–334)

Neidhart wird nun in die bekannte Position des Bauernfeindes verwiesen; zugleich aber tritt er zunehmend als die die weiteren Ereignisse maßgebend steuernde Instanz auf: zunächst eher verdeckt durch den sprachlichen Gestus von Provokationen, die strategisch eingesetzt sind, um die Gegner weiter in den aussichtslosen Kampf gegen ihn zu treiben.71 Denn Neidhart schürt bewusst die Kampfbereitschaft der Bauern, indem er vorgibt, große Furcht vor ihren Angriffen zu empfinden. Damit – so der Erzähler – erreicht er die von ihm gewünschte Reaktion der Dörper: Do man die red verhörret, I*r forht die was zerstörret. Küeneu hertzen seu gewunnen. (V. 371–373)

Überdeutlich profiliert der Text eine asymmetrische Relation zwischen Neidhart und den Dörpern: Seine physische Überlegenheit verwundert seine Gegner zunächst: ›Ich waiss nit‚wie dus kochest: Ich sich wol, daz du sochest Im sattel, so wir vallen. Die schand missvelt uns allen Und tuot uns in dem magen we.‹ (V. 379–383)

Während der von Neidhart angefachten Kämpfe entsteht ein Hass der Bauern auf den stets überlegenen Gegner:

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So auch Knühl, Die Komik [Anm. 46], S. 84.

Poetik der Interferenz

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›Jo‹, sprach Haintzo mit der gaiss, ›Er ahtet unser nit einn schaiss. Mich dunkt, er sei ein fuchs wild; Des zagel füert er an dem schilt.‹ (V. 642–645)

Die intellektuelle Überlegenheit Neidharts profiliert Wittenwiler weiter in je verschiedenen narrativen Konkretionen der Figur als normgebender Instanz der bäuerlichen Gemeinschaft. Es sind die Bauern selbst, die Neidhart nach ihrer umfassenden Niederlage nun die Kompetenz ihrer Unterweisung zuschreiben: ›Lieber herr von frömden landen, Behüetend uns vor bosen schanden! Vergebt uns unser bosshait! Sei reuwt uns ser und ist uns laid, Won wir nu, trun, enphinden wol, Ir seit des heiligen gaistes vol.‹ (662–667)

Im Rekurs auf den Beichtschwank avanciert die Figur hier zunächst zu ihrem geistlichen Mentor, eine Rolle, die Neidhart zunächst annimmt und der er sich im Sinne der Schwankvorlage erst später wieder zu entziehen sucht. Gezielt setzt er seine bäuerlichen Kontrahenten unter Druck: Ihre Sünde könne er ihnen nicht vergeben, solange sie nicht reuw und peicht und puoss erkennen ließen, die der sünder tuon muoss / Gäntzleich ane falschechait (V. 676–678). Die Neidhartfigur erschafft sich hier also, analog zu dem in der didaktischen Literatur gängigen Verfahren einer Inszenierung der unterweisenden Autorfunktion, in der eigenen Rede eine neue Form von Autorität, und zwar als ›spiritus rector‹ der Figuren. Doch die Erwartung, dass durch diese Neudefinition der Beziehung Neidharts zu den dörperlichen Figuren eine soziale Befriedung herbeigeführt werden könnte, wird schnell enttäuscht. Denn Neidhart manipuliert die Bauern auch in seiner Funktion als Beichtvater. Als diese ihm freimütig ihre Sünden beichten, verfehlt er seine Funktion als Vergeber ihrer vermeintlichen Untaten und konfrontiert sie stattdessen mit der Schwere ihrer Vergehen, die durch ihn nicht erlassen werden könnten: Deiner sünd ist also vil, / Daz ich dich nit enledigen wil (V. 764f.) [»Deine Sünde ist so groß, dass ich dich von ihr nicht lossprechen will!«]. Auch im weiteren Verlauf des ersten Teils weist die Erzählung den Akt von Normsetzung und Ausführung von Regeln, der gemeinhin die gesellschaftliche Ordnung zu garantieren vermag, als willkürlichen aus, jetzt allerdings wieder in Bezug auf die zu vermittelnde Fertigkeit des adeligen Minnerittertums. Denn nun konturiert der Text Neidhart als Experten des Minneturniers und spielt damit wohl deutlich auf die literarhistorische Stellung des berühmten Minnesangautors an. Dies bezeugt besonders eine im Kommentar Wiessners unbemerkt gebliebene Selbstdarstellung der Neidhartfigur: ›Ich wil euch leren / Eigenleich mit gantzer trüw: / In dem spil pin ich nit nüw‹ (V. 877–879) [» ›Ich will es euch ehrlich und gründlich lehren: mir ist dies Spiel nicht neu!‹ «]. Sein Expertenwissen auf diesem Gebiet lässt die Erzählung auch dieses

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Mal die dörperlichen Figuren selbst erbitten. Der Werber Bertschi fragt seinen vormaligen Gegner dezidiert um Auskunft, ob er […] ›schüll hofieren Fürbas mit turnieren, Mit sagen und mit singen Und auch mit andern dingen.‹ (V. 838–841)

Im Gattungskontext der Minnelehren baut der Text nun Neidhart als Lehrer mit einem umfassenden Wissen um die Form des Minneturniers auf. Doch der Bauernfeind wird zugleich als mitstreitender Kämpfer konturiert; und mehr noch ist es sein durch Stroh verdeckter Eisenknüppel, der die Helden auf brutalste Weise niederstreckt: Daz schuoff her Neithartz pengellein, / Daz da strowin scholtet sein (V. 1180f.). Die von Neidhart selbst empfohlene Ordnung des Turniergeschehens, bei dem sich die Figuren zu zwei Mannschaften formieren sollten, endet in gewalthaften Auseinandersetzungen. Auch im Hinblick auf die Ausführung seines Expertenwissens also lässt der Text Wittenwilers Neidharts Unterweisung im Chaos münden, und auch an dieser Stelle endet die Umsetzung der vorgegebenen Verhaltensnormen in physischer Gewalt. Nach diesem wiederholten Debakel entlässt der Text Neidhart aus dem epischen Geschehen: Der gast der hiet sich hin getraben (V. 1253). Wittenwilers Text, so ließe sich abschließend festhalten, konstruiert in seinem einleitenden Teil gerade in der ihm eigenen Kompilation von Schwank- und Spielelementen mit Konstituenten didaktischer Literatur formal etwas grundlegend Neues. Die der literarischen Tradition entnommenen unterschiedlichen Facetten der Neidhartfigur, vor allem die ihr zugeschriebene Funktion als Unterweiser der Dörper in geistlichen und weltlichen Dingen, konkretisieren hier episch performativ verschiedene Relationierungen von normgebenden und normausführenden Instanzen. Hierin knüpft der Text des Wittenwiler auf ganz spezifische Art und Weise an die für didaktische Texte konstitutive Inszenierung impliziter Autorschaft als Lehrautorität an. Dabei ersetzen die der Neidhartfigur zugeschriebenen verschiedenen Facetten einer so definierten Autorschaft im ersten Teil die Präsenz eines stets kommentierenden und belehrenden ›Ich‹, wie sie anderen didaktischen Texten eignet. Anders aber als die assoziierten didaktischen Summen weist der Ring in seiner Frage nach den Möglichkeiten einer Universalisierung höfischer Normen ein Vertrauen auf das ordnende und Orientierung versichernde Potenzial einer gelehrten auctoritas zurück.72 Die auf verschiedene Figuren verteilte Aufforderung zum Minneturnier mündet in der Welt der Bauern in Chaos und Gewalt; der Text stellt die Transponierbarkeit höfischer Normen für die Welt der dörper in Abrede. Dies geschieht dezidiert im Anschluss an die

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Als »Gebrauchsethik für Männer und Frauen der Oberschicht«, wie der Welsche Gast Thomasins, taugt der Ring so unmittelbar eben gerade nicht, vgl. zu Thomasin Düwel, Klaus, Lesestoff für junge Adlige. Lektüreempfehlungen in einer Tugendlehre des 13. Jahrhunderts, in: Fabula, 32/1991, S. 67–93, hier S. 67.

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divergierenden Rezeptionsanweisungen des Prologs. Denn ganz gleich, ob man das Ganze nun als Ernst (ernst) oder Spaß (schimph) ansehen wolle, so lässt Wittenwiler die Alten als Augenzeugen des Turniers resümieren, noch nie habe man so böses Streiten gesehen, noch nie habe man einem Spaß mit einem solchen Schaden beigewohnt (V. 1188–1197). Im Rekurs auf didaktische und literarische Referenztexte entwickelt Wittenwiler eine poetologische Ebene, die jenseits des besonders von Lutz betonten grundlegend allegorischen Charakters des Werkes in Anschlag zu bringen wäre. Gerade der oben analysierte spezifische Umgang mit dem Minnesangautor und den Dörpern im Kontext lehrhafter Literatur lässt das Bestreben des Textes erkennen, über die assoziierten didaktischen Intertexte hinausgehend, weniger eine direkte Unterweisung seiner Rezipienten vornehmen zu wollen, als vielmehr das Regelwerk sowie die gesellschaftliche Funktion von Verhaltensregularien zu debattieren. Die bei Wittenwiler konsequent asymmetrisch konkretisierte Dissoziation von Neidhart und ›seinen‹ Figuren73 lässt erkennen, dass es im Text nicht mehr primär um die bloße Vermittlung höfisch-pragmatischer Verhaltensvorschriften zu gehen scheint, sondern vielmehr um die Frage danach, wie und unter welchen – nicht zuletzt sozialen – Bedingungen eine solche Vermittlung erfolgreich sein kann oder eben fehlschlagen muss. Dabei scheint es kein Zufall zu sein, dass der Text diese Reflexion über die Konstituenten lehrhafter Literatur gerade am Beispiel eines Autors unternimmt, der dem späten Mittelalter ja als das Paradebeispiel für eine grundlegende Konterkarierung der im traditionellen Minnesang vermittelten Norm des Frauendienstes galt. Am Beispiel der Neidhartfigur debattiert der Ring die Bedingungen sozialer Regulation durch die Vermittlung von Normen. Dabei geht es auch darum, auf die soziale Machtposition des Unterweisenden zu deuten: Der Akt des Normierens selbst gerinnt unter bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen zu einem zielgerichtet gewalttätigen. Denn auf der Ebene der Figuren verursachen nicht nur die anmaßende Aneignung höfischer Regularien durch die Bauern,74 sondern auch die lehrhaften Anweisungen der Neidhartfigur gewaltsame Auseinandersetzungen und soziales Chaos. Gerade am Beispiel der unterschiedlichen Figurationen lehrhafter Autorität, wie sie in immer neuen Anläufen durch die Konturen der Neidhartfigur repräsentiert werden, zeigt sich, dass Wittenwilers Ring die Imagination der bäuerlichen Welt wohl nicht allein dazu benutzt, durch die Diffamierung der Figuren eine inversive Didaxe höfi-

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So auch Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter [Anm. 9], S. 427: »Mit der Integration der Neidhart-Figur und mit dem Mehr an Informationen für den Leser gegenüber den Bauern erreicht Wittenwiler, daß die Bauern als homogene, töricht handelnde Gruppe erscheinen.« So die ereignisgeschichtlich kontextualisierende Lektüre von Lutz, ›Spiritualis fornicatio‹ [Anm. 7], S. 426: Die Bauern des Ring stellten sich selbst bloß, »die Usurpation der höfischen Formen« dominiere im Ring, allerdings desavouierten sich die Bauern durch diese Anmaßung selbst.

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scher Verhaltensvorschriften zu formulieren.75 Auch scheint der Text nicht gänzlich in jener Perspektive aufzugehen, auf die Walter Haug aufmerksam gemacht hat, dem die Neidhartfigur Wittenwilers in diesem Zusammenhang geradezu als literarhistorisches Signal einer Parodie ritterlicher Verhaltensformen gilt.76 Mag auch die Auflösung lehrhafter und anderer Schreibweisen durch Wittenwilers innovative Poetik der Interferenz77 einer solchen Lesart des Werkes Vorschub leisten, so verhindert diese indes keinesfalls die Profilierung eines eindeutig wertenden, historisch jedoch wenig fortschrittlichen, wenn nicht restaurativen Standpunktes,78 auch da nicht, wo Wittenwiler auf reflektierende Textinstanzen verzichtet: Denn die das epische Geschehen zunächst dominierende Frage nach der Möglichkeit einer Universalisierung höfischer Normen, nach den Möglichkeiten einer Teilhabe der Bauern an diesen Verhaltensregularien, weist sein erster Teil im Rekurs auf die literarisch vorgeprägte Szenerie einer an der Naturordnung ausgerichteten bäuerlichen Welt sehr entschieden zurück.79

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So argumentieren Hirschberg, Ortmann, Ragotzky, ›törpel‹, ›gpauren‹ und ›der welte lauff‹ [Anm. 62], S. 214: »Die Ausweitung des Bezeichnungsspektrums der gpauren expandiert die verkehrte Welt.« Haug, Idealität [Anm. 32], S. 325. Der Ring erzähle die Äußerlichkeit ritterlicher Verhaltensformen, hinter denen Leere, Anmaßung und Gewalt sichtbar würden. Hierin sieht die Forschung bis heute die entscheidende Leistung Wittenwilers, so z.B. Fürbeth, Frank, nutz, tagalt oder mär. Das wissensorganisierende Paradigma der ›philosophia practica‹ als literarisches Mittel der Sinnstiftung in Heinrich Wittenwilers ›Ring‹, in: DVjs, 76/2002, S. 497–541, hier S. 500. Anders Bachorski, ›Der Ring‹ [Anm. 32], S. 254. In der durch diese Zurückweisung indizierten ›Norm‹, die eine Nicht-Übertragbarkeit höfischer Regeln auf eine nicht-höfische Welt impliziert, sehe ich den entscheidenden Zusammenhang von Didaxe und Erzählhandlung, die mithin nicht, wie z.B. Röcke, Das Lachen [Anm. 21], S. 269, vermutet, voneinander unabhängig bleiben.

Karina Kellermann (Bonn)

Vom Spiel mit den Normen zur Normierung. Die narrative Konstruktion von Gegenwelten in Zeitklage und politischer Polemik des Spätmittelalters1

Von den lehrhaften Dichtungen stellen diejenigen, die durch Verkehrung der Norm auf der Darstellungsebene eine Negativdidaxe bieten, eine wichtige Gruppe und weisen zudem einen Unterhaltungswert auf, der oftmals noch die heutigen Rezipienten delektiert. Unter ihnen finden sich die gattungstypologisch nicht festgelegten Lügen- oder Unsinnsdichtungen, die »Sachverhalte, die so gar nicht bestehen können«, schildern und diese Unwahrheit offen markieren.2 Während diese nach Maßgabe ihrer didaktischen Absicht oder Unterhaltungsfunktion immer wieder in den Blick der Forschung geraten,3 gibt es eine Reihe von Liedern und Reimreden, die mit den Mitteln von Lüge und Verkehrung arbeiten und gleichwohl nicht erforscht, ja nicht einmal gesichtet worden sind. Es sind die Kleindichtungen der Zeitklage oder Zeitkritik, die politische oder religiöse Pervertierungen der Ordnung in polemischer Absicht aufgreifen, indem sie 1

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Für die anregende Diskussion nach meinem Vortrag danke ich allen Diskutanden der Tagung herzlich. Weiterführende Hinweise, die ich für die vorliegende Fassung aufnehmen konnte, erhielt ich von Michael Baldzuhn, Ricarda Bauschke, Mark Chinca, Burkhard Hasebrink, Franz-Josef Holznagel, Tim Jackson, Susanne Köbele, Almut Suerbaum. Köhler, Peter, Lügendichtung, in: RLW, 2/2000, S. 496–498, hier S. 496. Forschungen zur Lügen- und Unsinnsdichtung aus der germanistischen Mediävistik der letzten Jahre: Tervooren, Helmut, ›wan si suochen birn ûf den buochen‹. Zur Lyrik Heinrichs von Veldeke und zu seiner Stellung im deutschen Minnesang, in: Fritsch, Susanne / Spicker, Johannes (Hrsg.), Helmut Tervooren, Schoeniu wort mit süezeme sange. Philologische Schriften, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 159), S. 204–219; Kerth, Sonja, ›Twerher sanc‹. Adynata in Sangspruchdichtung und Minnesang, in: ZfdPh, 119/2000, S. 85–98; dies., Lügen haben Wachtelbeine. Überlegungen zur deutschen Unsinnsdichtung des Mittelalters, in: Klein, Dorothea (Hrsg.), Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner, Wiesbaden 2000, S. 267–289; Baldzuhn, Michael, Die Aufführung als Argument. Zur Funktionalisierung sängerischer Präsenz in Frauenlob GA XIII,5 und einigen verwandten Sangsprüchen, in: Haustein, Jens / Steinmetz, Ralf-Henning (Hrsg.), Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. Festschrift für Karl Stackmann zum 80. Geburtstag, Freiburg/ Schweiz 2002, S. 81–102; Kerth, Sonja, ›ich quam geriten in ein lant ûf einer blawen gense‹. Weltbetrachtung und Welterfahrung im Zerrspiegel mittelalterlicher Unsinnsdichtung, in: Wolfram-Studien, XX/2008, S. 415–434. Bei Kerth, Lügen, S. 268, Anm. 4, finden sich auch bibliographische Angaben zur älteren Forschung. Zur Lüge im Mittelalter generell vgl. auch das von Ulrich Ernst interdisziplinär zusammengestellte Zeitschriftenheft ‚Homo mendax’. Lüge als kulturelles Phänomen im Mittelalter, mit seinen lesenswerten Beiträgen und der klug zusammengestellten Auswahlbibliographie: Das Mittelalter, 9/2004, 2.

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mit erzählerischen Mitteln eine Gegenwelt aufbauen. Sie gelten als »weniger originell« und seien von »eher mentalitätsgeschichtlichem Interesse«.4 Wer so urteilt, verkennt, dass diese Texte mit ihrem Aufrufen und Verdrehen historisch-politischer Fakten eine zusätzliche Dimension der Normierung schaffen, die die didaktische Intention miteinschließt, aber in politisch-agitatorischer Absicht wie auch in literarästhetischer Finesse über sie hinausgeht. Meine Überlegungen fußen auf einem Korpus von insgesamt sieben Texten: Muskatbluts Lügenlied und seinem Widerruf,5 Michel Beheims Lügenlied in der Verkehrten Weise sowie seinem Lied gegen die Taboriten in der Hofweise,6 der anonymen satirischen Zeitklage Ich söllt von hübscher abenteür / Sagen,7 der anonymen Reimpaarrede König Wenzels Landfriede8 und einer weiteren fragmentarischen Reimrede Von den Reichsfürsten,9 die sich ebenfalls auf die schlechte Regierung Wenzels als deutschen König bezieht. In der folgenden Analyse konzentriere ich mich auf drei der sieben Texte.10

I. Ich beginne mit Michel Beheims neunstrophigem Lied in der Hofweise11, das in das Jahr 145412 und an den Prager Hof13 zu setzen und in vier Handschriften überliefert 4 5 6

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Kerth, Lügen [Anm. 3], S. 270. Groote, E[berhard] v[on] (Hrsg.), Lieder Muskatblut‘s, Cöln 1852, Nr. 62 u. 63. Gille, Hans / Spriewald, Ingeborg (Hrsg.), Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Hs. cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. cpg 312 und der Münchener Hs. cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften, 3 Bde., Berlin 1968–1972 (DTM 60. 64. 65/1 u. 2), Nr. 240 u. 310. Euling, K[arl], Eine Lügendichtung, in: ZfdPh, 22/1890, S. 317–320. Liliencron, Rochus von (Hrsg.), Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, 4 Bde., Leipzig 1865–1869, Neudruck Hildesheim 1966, Nr. 41. Diese Reimrede ist eventuell auf 1398 zu datieren. Ebd., Nr. 30. Als deutscher König regierte Wenzel von 1378 bis 1400, dem Jahr seiner Amtsenthebung. Er blieb noch bis zu seinem Tode 1419 als Wenzel IV. König von Böhmen. Es sind dies Beheims Lied gegen die Taboriten, zitiert nach Gille/Spriewald (Hrsg.), Gedichte [Anm. 6], Nr. 310, die anonyme satirische Zeitklage Ich söllt von hübscher abenteür / Sagen, zitiert nach Euling, Lügendichtung [Anm. 7], und Muskatbluts Lügenlied, zitiert nach Groote (Hrsg.), Lieder [Anm. 5], Nr. 62. Gille/Spriewald (Hrsg.), Gedichte [Anm. 6], Nr. 310. Die Versangaben des zitierten Liedes erfolgen ab jetzt im Fließtext in Klammern. Wir sind mit diesem Datum in der Spätphase der Hussitischen Bewegung, bereits nach dem Ende der Hussitenkriege. Vgl. Kerth, Sonja, ›Der landsfrid ist zerbrochen‹. Das Bild des Krieges in den politischen Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1997 (Imagines Medii Aevi 1), S. 132–134, die unter der Überschrift »Spätere Verweise auf die Hussiten« Michel Beheims Lieder Gille/Spriewald (Hrsg.), Gedichte [Anm. 6], 241, 309a,

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ist.13Gegenstand und nahezu einziges Thema ist die »spöttische Verteidigung der Taboriten«,14 d.i. eine besonders radikale Gruppierung der Hussiten. Zunächst die Textparaphrase: Die erste Strophe bietet die Eröffnung, dass die Taboriten im ganzen Römischen Reich als Glaubensfeinde gescholten würden, dabei seien sie doch überaus gottesfürchtig. Dies zu beweisen tritt der Ich-Sprecher in den folgenden Strophen an: ich traw es wal pehaben / das man in unrecht tut. (V. 13f.) Die Beweisführung zieht sich von der zweiten bis in die achte Strophe hin; ich liste hier die Argumente in der dargebotenen Reihenfolge auf und nummeriere sie, ohne die Strophen anzugeben, weil sie oft in der Weise eines Enjambements die Strophengrenzen überspielen. 1. Die Taboriten sind ihrem Meister Rokyzana15 ergebener als die orthodoxen Christen, die Katholiken – im Text werden sie durchgängig als die Römschen oder die Romer bezeichnet – dem Papst. Dafür stehen die Prager als Kronzeugen. 2. Sie sind keineswegs Ungläubige, haben sie doch zahlreichere Glaubensartikel als das ganze Römische Reich.16 3. Während die katholischen Laien das Sakrament nur in einer Gestalt (gemeint ist die Hostienkommunion) empfangen, nehmen die Ketzer es in zwei,

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309b und 310 nennt. Die erste Hochphase der publizistischen Beschäftigung mit der böhmischen Häresie lag in den ersten beiden Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts nach dem Konstanzer Konzil (1400–1419). Ab 1420 wird eine zweite Phase der Häresie-Literatur erkennbar, am 1. März 1420 hatte der Papst den Kreuzzug gegen die Hussiten ausgerufen. „Mit dem Beginn des offensiven militärischen Vorgehens der Hussiten seit 1427 beginnt der dritte Abschnitt der Auseinandersetzung in der politischen Lyrik.« (Hohmann, Stefan, Friedenskonzepte. Die Thematik des Friedens in der deutschsprachigen politischen Lyrik des Mittelalters, Köln, Weimar, Wien 1992 [Ordo 3], S. 314.) Das Lied ist durch die Überschrift an den Prager Hof König Ladislaus’ zu setzen, und zwar in die zweite Hälfte des Jahres; denn zuvor war Beheim noch im Dienst Herzog Albrechts, und am 24.11.1454 verließ der König Prag und kam bis zum Herbst 1457 nicht nach Böhmen. Vgl. Schanze, Frieder, Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs, Bd. 1, München, Zürich 1983 (MTU 82), S. 186f., Anm. 22. So lautet die Kurzcharakteristik in: RSM, 3/1986, S. 144.; Gille, Hans, Die historischen und politischen Gedichte Michel Beheims, Berlin 1910 (Palaestra 96), S. 102–105, subsumiert es unter »Gedichte über bestimmte politische Ereignisse« (Kapitelüberschrift auf S. 89), Müller, Ulrich, Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters, Göppingen 1974 (GAG 55/56), S. 253f., unter »politische Lyrik«, Schanze, Meisterliche Liedkunst [Anm. 13], S. 238, unter »politisch-aktuelle Lieder«. D.i. Magister Johannes von Rockyzan, einer der großen geistigen Führer des Hussitentums. Vgl. Gille, Die historischen und politischen Gedichte [Anm. 14], S. 103f.: »Wahrscheinlich hat Beheim hiermit die Prager Artikel im Auge, in denen die Hussiten 1420 in vier Hauptteilen ihre Anschauungen niederlegten.« Dort sind die Differenzen zu den katholischen Christen ausgewiesen: Es sind die freie Predigt des göttlichen Wortes auch ohne Auftrag, die rituelle Praxis des Abendmahls in beiderlei Gestalt für alle Gläubigen, der Verzicht der Geistlichkeit auf irdisches Gut und weltliche Herrschaft und das konsequente Einschreiten der Obrigkeiten gegen Todsünden, vor allem die Simonie und luxuria.

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womöglich bald in drei oder vier Gestalten zu sich.17 4. Der Vorwurf, sie achteten die Heiligen der Kirche nicht, ist ungerecht, denn alle können sehen, dass sie Hans Huss18 und Rokyzana sogar für heiliger halten als Gott. 5. Ein weiterer Vorwurf, den man gegen die Ketzer erhebt, ist nichts als üble Nachrede: Wenn man sagt, sie seien nicht religiös genug, ist das falsch, versehen sie doch schon die Neugeborenen mit der Kommunion in zweierlei Gestalt.19 So ernähren sich Alt und Jung täglich und ausschließlich von Göttern. 6. Ihre Gottesverehrung erstreckt sich auch auf den Umbau von Kirchen und Klöstern, sie trachten nach dem Messgerät, nach Kelchen und Monstranzen. Wenn sie derer habhaft werden, dann beschlagen sie damit Gürtel, Messer, Schwerter und benutzen auch Messgewänder, um daraus Kleidung zu schneidern. 7. Die Gebetshäuser20 sind gut besucht von gottesfürchtigen Leuten, als da sind Diebe, Mörder und Zuhälter. 8. Wie sollten die nicht fromm sein, die aus Kirchengut Abgaben einnehmen! 9. Ihre Mönchskutten und Messgewänder kann man in vielen Klöstern sehen, das sind Helm, Harnisch und Kettenpanzer.21 10. Sie haben so manchen Heiligen geschaffen, indem sie Menschen von der Erde in den Himmel expediert haben.22 11. Das letzte Motiv ist weniger ein neues Argument der Beweisführung als vielmehr ein Resümee und der Versuch einer politischen Anbindung an die Hussitenkriege, die 1454 nahezu zwanzig Jahre zurücklagen: In Prag und Tabor23 17

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Die Laienkommunion in Gestalt von Brot und Wein war eine der Hauptforderungen der in Prag beheimateten hussitischen Bewegung und brachte ihren Anhängern den Namen ‚Utraquisten’ ein. D.i. Jan Hus, * um 1370, † 6.7.1415 (als Ketzer verbrannt). Direkt nach seinem Tod schloss sich der tschechische Adel zum ›Hussitenbund‹ zusammen. Der ironische Angriff gilt der Kinderkommunion. Dass hier petheuser anstelle von kirchen eingesetzt wird, also ein Begriff, der auch die Tempel und Gebetshäuser nichtchristlicher Religionen einschließt, könnte ein gezielter Hinweis auf die Häresie sein. Hier ist die gewaltsame Säkularisation von Kirchen- und Klostergut angesprochen, die von den radikalen Hussiten, den Taboriten, betrieben wurde und auch die Zerstörung von Kirchenschmuck und Priesterornat einschloss. Gemeint ist der Märtyrertod der in den Hussitenkriegen gefallenen rechtgläubigen Christen. Damit erinnert Beheim an den kreuzzugsähnlichen Status dieser Religionskriege. Der 1. Heerzug gegen die Hussiten wurde von König Sigmund am 1.3.1420 ausgerufen. Am 14.8.1431 fanden mit der Flucht des Kreuzheers vor den Hussiten in der Schlacht bei Taus die Hussitenkriege ein unrühmliches Ende. Die Taboriten hatten eine Stadt und Festung mit dem Namen Tabor südlich von Prag gegründet. Sie lehnten im Unterschied zu den gemäßigten Utraquisten alle dem reinen Schriftprinzip widersprechenden kirchlichen Einrichtungen wie Ablass, Heiligen- und Reliquienkult, die gesamte Hierarchie und das Ordenswesen ab. Ab 1426 gaben die Taboriten ihre defensive Haltung auf und gingen in die Offensive mit großen militärischen Erfolgen. Erst 1434, nach dem Übereinkommen zwischen Katholiken und gemäßigten Hussiten, wurden sie, die die Übereinkunft nicht mittragen wollten, vernichtend geschlagen. 1436 waren dann die Hussitenkriege endgültig beendet und Sigmund konnte als böhmischer König in Prag einziehen.

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halten sie ihre Gottesdienste ab zu Vogelgesang24 und Büchsenklang. Dafür preist man sie zu Pfingsten auf dem Eis, und die Stummen im Lande singen ihr Lob. Nach diesen Adynata schließt das Lied mit den Initialen M und P, der Autorsignatur Michel Pehaims. Beheim rekurriert in dieser Ketzersatire, seiner vielleicht schärfsten Polemik, die er gegen die Hussiten verfasst hat, nicht auf den Topos der verkehrten Welt, sondern verwendet andere Gestaltungsmittel. Auf der Darstellungsebene wird keine Inversion betrieben. Die literarische Technik ist eine andere: Der Dichter bezieht sich auf die Verdikte der päpstlichen Bullen, die den Häretikern vorwerfen, zentrale Glaubensregeln und -riten zu negieren; und er pervertiert diese Negation. Worin besteht die sprachliche Machart, die poetische Technik? Die Referenz des poetischen Textes auf die angesprochenen Sachverhalte entspricht der von Signifikant und Signifikat im einfachsten Sinne. Beheim sagt ›Messgerät‹ und meint ›Messgerät‹, er sagt ›Sakrament‹ und meint ›Sakrament‹, er sagt ›Gottesdienst‹ und meint ›Gottesdienst‹ etc. Seine Rede ist keine metaphorische, sie bezeichnet die realen Signifikate. Jeder Zeitgenosse sah sie vor sich. Um die poetische Technik exakter benennen zu können, muss man mit feineren linguistischen Kategorien arbeiten, die Signifikate noch kleinteiliger aufschließen. Dann aber erhellt: Die Denotate bleiben in der Tat stabil, aber die Konnotate verändern sich. Diese Veränderung zielt ab auf Religionskritik und Ketzersatire. Die Denotation von ›Mönchskutte/Messgewand‹, die konstante begriffliche Grundbedeutung, erhält eine ungewöhnliche Konnotation: die ursprüngliche Bedeutung von geistlichem Habit wird zunächst aufgerufen, dann aber im Kontext der satirischen Rede überschritten hin zur Konnotation ›Kampfgewand‹, zur Rüstung im bewaffneten Religionskrieg. Hier in diesem Lied Michel Beheims kommt noch eine weitere Technik hinzu, die mit der spezifischen Qualität von Normen arbeitet: Der Dichter fingiert eine über das Übliche hinausgehende Erfüllung der Kultnormen. Das aber heißt: die Normen werden gebrochen. Wenn wir davon ausgehen, dass eine erfüllte Norm das Ideal ist, dann liegt der Normbruch in der Nichterfüllung der Norm, aber ebenso in der Übererfüllung: eine übererfüllte Norm sprengt die Norm, pervertiert sie. Genau dies geschieht hier in Beheims Lied anhand des Leitmotivs der extremen Gottesnähe der Taboriten. Somit ist der Büchsendonner kein Kriegslärm, sondern Begleitmusik des Gottesdienstes, die Rüstung ist ein Mönchsgewand, die Plünderung von Kirchen und der Missbrauch von Kirchengut stehen im Dienst einer besonders innigen Religiosität, und die Einführung des Laienkelches wie auch die zahlenmäßige Erhöhung der Glaubensartikel sind keine Sakrilegien, sondern Formen gesteigerter Gottesnähe. Das offizielle Anathema gegen die Hussiten ist Autor wie 24

Hier wird angespielt auf die Tiermetapher, die sich aus dem Namen ›Hus‹ herleitet, der im Tschechischen »Gans« bedeutet. Folglich können die ›Hussiten‹ in spätmittelalterlichen Texten als ›Gänse‹ etikettiert und diffamiert werden, wie es oft und gern geschieht, so auch in dem berühmten Lied Oswalds von Wolkenstein. Vgl. Klein, Karl Kurt (Hrsg.), Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, 3. Aufl. Tübingen 1987 (ATB 55), Nr. 27.

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Publikum bekannt, wird aber in der hier vollzogenen Auslegung radikal entleert. Der Anklage entschwindet ihr Gegenstand.25 Wie wird der Rezipient nun in die Lage versetzt, die Satire zu erkennen? Auf der Ebene des Textes gelingt die Entschlüsselung der satirischen Botschaft immer dann leicht, wenn historische Namen, notorische Glaubensregeln, konkrete Ereignisse und Schauplätze genannt werden, also allgemein Bekanntes abgerufen wird. Der Leser der Handschriften erhält zusätzliche Hilfen; in drei von vier Handschriften steht das Lied unter der Überschrift ein widereffen von den keczern in bzw. zu pehaim. Was aber heißt widereffen? Der Bedeutungsradius reicht von »repetieren« über »replizieren« zu »widersprechen«, »rächen«, das althochdeutsche avarôn kann zudem auch »jemanden nachahmen«, »jemandes Abbild sein« heißen.26 Bei Michel Beheim, der das Wort als substantivierten Infinitiv in den Überschriften seiner Lieder offenbar programmatisch einsetzt, bezeichnet es immer eine parodistische Dichtung.27 Damit sind bereits in der Überschrift sowohl das Thema als auch der Gegenstand der Satire – die Ketzer in Böhmen – markiert. In der Heidelberger Handschrift Cpg 334 heißt es weiter: das macht ich ach ze praug aber haimlich. Dieser Titelzusatz bringt eine neue Dimension, denn er hebt auf das Geschäft des Publizisten ab, etwas ›öffentlich‹ zu machen, das Beheim hier – denn bei diesem Ich im Paratext28 scheint mir die Zuordnung zum 25

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Gegen das einschränkende Urteil von Kerth, Das Bild des Krieges [Anm. 12], S. 133: »Es handelt sich um den einzigen Text [Beheims, K.K.], der intensiv darauf [auf die religiösen Inhalte des Hussitismus, K.K.] eingeht – wenn auch in Form eines Lügengedichts«, möchte ich konstatieren: Die in eine ironische Verteidigung pervertierten Vorwürfe verstärken die normative Wucht der Aussage. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 3, Leipzig 1862, Sp. 32: für efern, efferen oder wider efferen (ahd. avarôn) werden als Bedeutungen u.a. »replicare, widersprechen, zanken« genannt; Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer, zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner, 3 Bde., Stuttgart 1992, Bd. 1, Sp. 106, führt unter dem Lemma avern, ävern, äfern folgende Bedeutungen auf: »wiederholen«, »eine Sache gehässig wieder vorbringen, sie tadeln, rächen«; Karg-Gasterstädt, Elisabeth / Frings, Theodor (Hrsg.), Althochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1, Berlin 1968, Sp. 699f., nennt als Bedeutungen von avarôn und gi-avarôn neben »wiederholen«, »erneuern« auch »jmdn. nachahmen«. widereffen wird von Beheim zweimal in Liedüberschriften gebraucht, und zwar jedes Mal im Zusammenhang mit verkehrter, ›lügenhafter‹ Rede. Neben dem hier besprochenen Lied hat Beheims Lügenlied in der Verkehrten Weise (Gille/Spriewald [Hrsg.], Gedichte [Anm. 6], Nr. 240) in der Heidelberger Handschrift Cpg 334 die Überschrift lugen und wider effen. Gille, Die historischen und politischen Gedichte [Anm. 14], S. 200, spricht von einer »Dichtgattung […], der es auf Parodie ankam. […] Diese Gattung hatte die feste Technik des Lügenspruches, von der nicht abgewichen werden durfte«. Ich übernehme die von Genette an erzählenden Texten entwickelte Begrifflichkeit. »Paratext« meint die verschiedenen Begleittexte zum literarischen Werk wie Titel, Überschriften, Vorworte, Anmerkungen, Gattungsangaben etc. Auf die weitere Binnendifferenzierung in »Peritext« und »Epitext« verzichte ich in diesem Zusammenhang. Vgl. Genette,

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Autor nicht nur möglich, sondern angeraten – in sein Gegenteil verkehrt. Was soll das bedeuten? Es steht doch über einem Lied, das wirken will, also Öffentlichkeit erheischt, und wohl auch tatsächlich gewirkt hat – zumindest nach Ausweis der vier Handschriften. Es bieten sich verschiedene Deutungen an. Da Prag das Zentrum der hussitischen Bewegung war, wäre eine Deutung plausibel, die den Produktionsprozess fokussiert: Das Dichten musste in der Heimlichkeit geschehen,29 damit die öffentliche Wirkung erzielt werden konnte. Somit wäre dieser Autorzusatz ein Hinweis auf die Brisanz der Botschaft und die Gefährdung des Publizisten Michel Beheim sowie seinen Mut. Eine andere Deutungsmöglichkeit betrifft allein den Inhalt des Liedes, das angeschlagene Thema ›Häresie‹. Die Ketzer sind nach mittelalterlicher Vorstellung immer diejenigen, die heimlich und im Verborgenen agieren, das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Sie sind die Dunkelmänner avant la lettre. So können ›Heimlichkeit‹ und ›Finsternis‹ in der didaktischen Literatur regelrecht zu Synonymen für ›Häresie‹ werden. Schon der Spruchdichter Freidank kontrastiert Orthodoxie und Häresie mit den Metaphern des Lichts und der Finsternis: Swer Kristes lêre welle sagen, / der sol sîn lêre zu liehte tragen: / sô muoz der ketzer lêre sîn / in winkeln unde in vinsterîn. / hie sol man erkennen bî, / wie ir lêre geschaffen sî.30 Und bei Hugo von Trimberg liest man über die Ketzer: Sô man si lestern und schenden / Unsern gelouben heimlîche / Siht und etswenne offenlîche.31 Ich vermag keiner der beiden Deutungen den Vorzug zu geben, meine sogar, sie könnten in einem sinnvollen Ergänzungsverhältnis zueinander stehen: Warum sollte Michel Beheim nicht mit dem Programmwort haimlich sowohl sein Produktionsverfahren bezeichnen und damit ex negativo das Anliegen des Publizisten evozieren als auch mit dem paratextuellen Hinweis sogleich das brisante Liedthema, die Häresie, anklingen lassen für diejenigen, die die Handschrift in den Händen halten? Aus dem komplementären Verhältnis entspringt eine weitere Verkehrung: Der Dichter muss aus Angst vor der Macht der Häretiker sich selber benehmen wie ein lichtscheuer Ketzer.

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Gérard, Paratexte. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Honig, Frankfurt, New York 1989. In einem anderen, an König Ladislaus gerichteten, Lied (Gille/Spriewald [Hrsg.], Gedichte [Anm. 6], Nr. 309a) vermeidet Beheim ebenfalls explizit Öffentlichkeit; es ist überschrieben: Dis ist ain peispel, macht ich meinem hern kung Lasslau ze Prag in Peham und sagt van den keczern. wann ich nit affenlich vor in tarst singen, dar umb macht ich es in peispel weis und sie musten es denoch hörn. Gille, Die historischen und politischen Gedichte [Anm. 14], S. 106, vermerkt dazu, »daß er seine Hussitenfeindschaft am böhmischen Hofe doch nicht offen zeigen darf.« Bezzenberger, H[einrich] E[rnst] (Hrsg.), Freidankes Bescheidenheit, Halle 1872, V. 25, 13–18. Ehrismann, Gustav (Hrsg.), Der Renner von Hugo von Trimberg, Bd. 3, Tübingen 1909, V. 24350–52. Für beide Textbelege bedanke ich mich bei Tim Jackson.

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II. Es folgt eine wegen ihrer Schluss-Signatur früher Hans Rosenplüt zugeschriebene Reimrede, die von Euling 1890 unter dem Etikett Lügendichtung ediert wurde. Initium: Ich söllt von hübscher abenteür / Sagen.32 Der anonyme Dichter entwirft einen ›mundus inversus‹, wie wir ihn aus vielen derartigen Dichtungen kennen,33 mit Adynata aus dem Bereich der Natur (V. 19: Feuer wird durch Wasser nicht zum Erlöschen gebracht), anthropomorphen Inszenierungen (V. 5f.: ein Schweizer Spieß und eine Hellebarde tanzen), komischen Verkehrungen aus der Heldensage (V. 23f.: Dietrich von Bern tjostiert mit einer Heuschrecke), um nach 24 Versen mit der in der Reimpublizistik notorischen Ankündigung einer Neuigkeit (V. 25: Ich wil eüch neüe mer hie sagen) ein politisches Ereignis aufzurufen, nämlich: Die schweiczer hatt er all erschlagen / Der edel fürst von osterreich (V. 26f.).34 Diese Aussage, der Fürst von Österreich habe die Schweizer unterworfen, bleibt die einzige aktuelle Nachricht der Lügendichtung und wirkt wie eine Zäsur. Sie markiert eine Wende, mit der der Dichter zu einem neuen Schauplatz überleitet. Die Fürsten haben den Landfrieden durchgesetzt (V. 31–37), alle Stände verhalten sich gemäß dem ›ordo‹, sie kennen keine Simonie, erheben weder Steuern noch Zoll, mit einem Wort: die Jagd nach dem Pfennig ist abgeblasen. In den zwischenmenschlichen Beziehungen steht alles zum Besten: Neid und Hass sind verschwunden, die Jungen lieben und achten die Alten (V. 61–66), die Juden haben sich taufen lassen (V. 67–71). Dieser Mittelteil der Reimrede, der von V. 31 bis V. 71 reicht, präsentiert eine von den ersten 30 Versen differente Inszenierung der verkehrten Welt: hier, im zweiten Teil, liegt der Fokus auf der gesellschaftlichen Ordnung. Der Dichter bietet mit den Mitteln eines hyperbolischen Zeitlobs eine invertierte Zeitklage, um dann wieder 32 33

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Euling, Lügendichtung [Anm. 7]. Die Versangaben der zitierten Reimrede erfolgen ab jetzt im Fließtext in Klammern. Es gibt kaum Forschung und keine plausiblen Datierungsversuche zu dieser auf Bl. 410– 413 der Hs. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum: Cod. 5339a, eingetragenen Reimpaardichtung. Sie fehlt noch bei Müller-Fraureuth, Carl, Die deutschen Lügendichtungen bis auf Münchhausen, Halle 1881, Nachdruck Hildesheim 1965, und findet keine Erwähnung im RSM, wohl aber im VL (Holtorf, Arne, Lügenreden, in: VL2 , 5/1985, Sp. 1039–1044, hier Sp. 1043). Kurz angesprochen wird die Lügendichtung in den Aufsätzen von Westphal-Wihl, Sarah, Quodlibets. Introduction to a Middle High German Genre, in: Heinen, Hubert / Henderson, Ingeborg, Genres in Medieval German Literature, Göppingen 1986 (GAG 439), S. 157–174, hier S. 169f., Kerth, Lügen [Anm. 3], S. 279f., und dies., Weltbetrachtung [Anm. 3], S. 428f. Nach dem Prinzip der Inversion, das konsequent die ganze Dichtung bestimmt, muss es sich um ein Ereignis der bewegten österreichisch-schweizerischen Geschichte handeln, bei dem ein österreichischer Fürst eine schwere Niederlage erlitt. Davon gibt es viele. Infrage kommen der Habsburger Herzog Albrecht III. († 1395), der den Eidgenossen bei Näfels 1388 unterlag, sein Bruder Rudolf IV. († 1365) und deren Vater Albrecht II. der Weise († 1358), der 1353–55 den Zürichkrieg führte.

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zurückzuschwenken in die zuvor geschilderte verkehrte Welt des ganzen Kosmos. Dieser dritte Teil (ab V. 72) erfährt eine Steigerung durch die Wahrheitsbezeugung des Ich-Sprechers, der seine Aussagen bekräftigt und legitimiert mittels einer ›autobiographischen‹ Versicherung: Ich war an die 100 Jahre lang Papst in Schottenland, wo Silber und Gold unbewacht auf der Straße lagen und es Speis’ und Trank im Überfluss gab. Dies gab ich grundlos auf, was man mir als Dummheit vorhielt (kürzende Paraphrase der Verse 82 bis 98).35 Mit einer weiteren Reihe mehr oder weniger bekannter Adynata aus dem Motivkreis der verkehrten Welt mündet die Rede ein in einen sechsversigen Epilog, der eine ironische Beglaubigung des Gesagten bietet: Ob ymant sprech ich hett gelogen / Ich hab nit brif noch sigel dapei / Wie es das ewangelio sei / Damit ich die kunst bewer / Das ist nit war vnd ist kein mer / Sagt vns der schnepperer (V. 126–131). Die Struktur der Reimpaardichtung ist in ihrer Dreiteiligkeit leicht zu durchschauen: Der durch Adynata inszenierte ›mundus inversus‹ erfährt nach der Schlüsselformel, nun sei eine Neuigkeit zu verkünden, eine Wendung ins historisch Konkrete. Es folgt ein Zeitlob, dessen Ironie sich dem Rezipienten aufgrund des Kontextes sofort erschließt.36 Das Enkomion ruft Werte auf, die als verwirklicht vorgestellt werden. Die Normkonformität der Akteure ist für den Textsinn deswegen so wichtig, weil die Werte den Normen die Orientierung geben: keine Norm ohne Wert. Der Leser/Hörer wird – eingestimmt durch den ›mundus inversus‹ – sofort und eigenständig die Verkehrung vornehmen und das Gesagte als Zeitklage lesen oder hören, bis ab V. 72 der dritte Teil der Rede von der verkehrten Welt einsetzt, der seine Interpretation bestätigt. Indem der Ich-Erzähler nun auch noch zu einer Figur der verrückten Welt wird – narratologisch gesprochen als homodiegetischer Erzähler auftritt –, wird der Rezipient wiederum gewarnt, dem zuvor Erzählten Glauben zu schenken. Die Schlussverse tun dann ein Übriges, die Lügendichtung zu komplettieren. Halten wir fest: Die invertierte Zeitklage, d.h. die Zeitklage im Gewand der Lügendichtung, beschlossen mit einer ironischen Beglaubigung, steht in puncto Unterhaltungsfaktor wie auch in puncto Durchschlagskraft deutlich über ihrer traditionellen Schwester,

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Motive des Schlaraffenlandes sind gern gebrauchte Adynata in mittelalterlichen Texten, die eine verkehrte Welt aufrufen. Sie sind topographisch nicht festgelegt und werden in dieser Reimrede an schottenland angebunden. Das ›Schlaraffenland‹ wird erst 1494 von Sebastian Brant entdeckt. Vgl. Ott, Norbert H., Schlaraffenland, in: LMa, 7/2002, Sp. 1478. Westphal-Wihl, Quodlibets [Anm. 33], S. 170, kommentiert die narrativen Mittel wie folgt: »The improbability of the narrator’s claims in the forty-six-line encomium […] suggests that we are still within the framework of a lying poem, even though we have moved beyond the norms of the quodlibet genre«; vgl. auch Holtorf, Lügenreden [Anm. 33], Sp. 1043: »Zwischen ein- und ausleitende konventionelle Adynata ist hier plötzlich eine ideale Welt hineingelogen worden […]. Das formale Kennzeichen dieser Gattung, das sonst zur Erzielung eines phantastischen bis grotesken Effektes verwendet wird, ist hier zum wirkungsvollen Mittel gemacht worden, um die Gebrechen der Zeit anzuklagen.«

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der affirmativen Zeitklage. Der groteske Kontrast zwischen literarisiertem Idealzustand und erfahrener Wirklichkeit wird vom Rezipienten als komisch erfahren und goutiert.

III. Mein drittes Beispiel ist ein siebenstrophiges Lied Muskatbluts,37 das auf 1420/21 datiert wird und in vier Handschriften überliefert ist.38 Zunächst präsentiert das Lied sich als Zeitlob. Die soziale und ständische, die religiöse und geistliche, die wirtschaftliche wie auch die rechtliche Ordnung ist perfekt. Auf den ersten Blick ist ein ›mundus inversus‹ nicht zu erkennen. Ich gehe das Lied einmal durch: In der ersten Strophe berichtet Muskatblut, dass Simonie und Hoffart im Klerus keine Basis mehr haben (V. 8–12) und auch der Wucher ausgestorben ist (V. 13f.). Die zweite Strophe nimmt diese positive Nachricht auf und potenziert sie: Wer Wucherzinsen erhoben hat, zahlt alles zurück. Seitdem sind die Fürsten reich geworden (V. 16–18). Geiz und Habgier sind aus der Welt verschwunden (V. 19f.). Mönche und Nonnen leben den klösterlichen Gelübden entsprechend und verbringen ihr Leben mit Gebet und Buße (V. 22–29). Ein drastisches Bild unterstreicht die Einhaltung des Keuschheitsgelübdes durch die Klosterfrauen: die nonnen dragen nymmer kint (V. 24). Die klösterliche Gemeinschaft führt auf dem direkten Weg ins Himmelreich, was Muskatblut zu dem Ausruf verleitet: wer ich geleert / dar in queme ich ger*nnen (V. 29f.). Die dritte Strophe ist den Fürsten und ihren Rechts- und Schutzfunktionen gewidmet, denen sie auf vorbildliche Weise nachkommen: Sie achten nicht auf Schmeichelei und Lügen (V. 32f.), sie halten die Hand über ihre Untertanen, wenn diese betrogen oder mit Gewalt verfolgt werden (V. 35–39). Sie erpressen keine ungebührlichen Abgaben oder Dienstleistungen, son-

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Groote (Hrsg.), Lieder [Anm. 5], Nr. 62. Die Versangaben des zitierten Liedes erfolgen ab jetzt im Fließtext in Klammern. Zu Muskatbluts Lügenlied (Groote 62) gehört der Widerruf (Groote [Anm. 5], Nr. 63); beide sind im Hofton gedichtet. Eine ausführliche Interpretation von Groote 62 mit einer kurzen Analyse auch von Groote 63 habe ich bereits 2005 vorgelegt; dies war mein erster Versuch zu den ›Lügendichtungen‹, damals mit dem Schwerpunkt auf narratologischen und sprachphilosophischen Fragen. Vgl. Verf., ›ach Musgapluot / wie seer hastu gelogen!‹ Lügendichtung als Zeitkritik, in: Laude, Corinna / Schindler-Horst, Ellen (Hrsg.), List, Lüge, Täuschung, Bielefeld 2005 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52), S. 334–346. Vgl. RSM, 4/1988, S. 388f. Das RSM kennzeichnet das Lied als »Satirisches Zeit- und Ständelob« (S. 388); Veltman, Anton, Die politischen Gedichte Muskatbluts, Diss. Bonn 1902, S. 17 und S. 31, subsumiert das Lied unter »Zeitgedichte«, Müller, Untersuchungen [Anm. 14], S. 211–213, unter »politische Lyrik«, Schanze, Meisterliche Liedkunst [Anm. 13], S. 171 und S. 173, unter »moraldidaktische Lieder«.

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dern den rechten dinst nemens z* zinst (V. 41). Vorbildlich halten sie Gericht, so dass Friede im Land herrscht. Ritter und Knappen, von denen die vierte Strophe handelt, leben friedlich und demütig, ganz entsprechend ihrem ›ordo‹ (V. 46–48). Weder Raub noch Krieg noch Fehde haben Raum (V. 49–53), Unkeuschheit und Ehebruch sind verschwunden (V. 56f.). Dem Adel erlaubt das die Konzentration auf das reine Vergnügen, das er in Turnieren auszuleben vermag (V. 58–60). Die Judikative erhält eine ganze Strophe: Die Richter und ihre Ehefrauen sind zu Heiligen geworden, ihre Kinder zu Engeln (V. 61–66). Die Richter sind unbestechlich (V. 68), sprechen Recht ohne Ansehen des Standes – man richt dem herren als dem knecht (V. 69) – und vermeiden jegliche Rechtsbeugung (V. 71f.). Der Gerichtsschreiber erledigt seine Aufgabe um Gottes Lohn (V. 73–75). Die sechste Strophe setzt ein mit einem Lob der Handwerker, die keinem Anlass zur Klage geben, denn sie halten Maß und Gewicht ein (V. 76–80). In der Mitte dieser Strophe verändert sich die Thematik; der Dichter wechselt nun zur Reichspolitik und nimmt ihren Protagonisten, König Sigmund, ins Visier. Dieser verhalte sich wahrhaft königlich: Er habe die Hussiten aus Böhmen vertrieben (V. 82–85), Venedig eingenommen sowie Friaul und Aquileja aufgrund weiser Ratschläge gewonnen (V. 88f.), zudem sei er in Rom zum Kaiser gekrönt worden (V. 86f.). Die siebte Strophe resümiert: Die Herrschaft ist stark, die Bauern sind treu und redlich, unrechter Besitz ist verpönt. Frauen und Mädchen sind schamhaft, wohlerzogen und gottesfürchtig (V. 97–99), die Bäume tragen Frucht (V. 100). Offenbar ist das Goldene Zeitalter angebrochen, die Stände leben untereinander friedlich und gottgefällig. Diesen idealen Zustand der perfekten Ordnung, der die gute Herrschaft ebenso einschließt wie die rechte Vorsorge für das Seelenheil, die Beachtung der Gebote und das Streben nach den Tugenden, gestalten die Dichter gemeinhin als Projektion zurück in die Vergangenheit oder voraus in die Zukunft: als ›laudatio temporis acti‹ oder als Utopie. Muskatblut aber hat die Vision ins Präsens gesetzt, das Goldene Zeitalter hat von der Gegenwart Besitz ergriffen.39 Doch dieses Bild der Harmonie und der ungestörten Weltordnung strahlt nur unter Vernachlässigung einiger Textsignale so hell. Auf verschiedenen Textebenen sind Störfaktoren eingebaut. Einmal auf der Ebene des erzählten Geschehens, der Geschichte: 40 Im Verlauf des Liedes erweisen sich seine als Fakten vermittelten Aussagen über den Zustand der Welt als so allgemein, dass ihnen ein kritischer Zeitgenosse vielleicht nicht glauben wollte, sie aber auch nicht generell widerlegen konnte. Das ändert sich mit der sechsten Strophe. Hier, an der einzigen Stelle, an der Stadt-, Herrschafts- und Herrschernamen vorkommen, wird die Lüge radikal entlarvt: 1420/21 waren weder die Hussiten vertrieben, noch hatte König Sigmund die Kaiserkrone erhalten, noch 39 40

Hohmann, Friedenskonzepte [Anm. 12], S. 337, spricht von der »Utopie eines idealen Reiches«, die aber »in der Jetztzeit lokalisiert« sei. »Geschichte« als »histoire«, mit Genette, Gérard, Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, 2. Aufl. München 1998, S. 15f., verstanden als der narrative Inhalt des Textes.

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war Venedig besiegt und Friaul41 eingenommen.42 Wie in meinem ersten Beispiel, Michel Beheims Reimrede gegen die Taboriten, wird die Lüge spätestens dann unmissverständlich aufgedeckt, wenn politisch Konkretes verhandelt wird. Aufmerken lässt zum anderen der Rahmen des Liedes, die ersten sechs und die letzten drei Verse, die ich als nicht mehr zur Geschichte gehörenden Kommentar auffasse und deshalb beim ersten Durchgang durch den Text ausgespart habe. In den Eingangsversen spricht der Sänger von einer Last, die er allein nicht tragen könne; er bittet das Publikum um Unterstützung, wirbt – wörtlich – um Mittragende: Eyne burd ich hie lade uff mich / die ist zu swer; kom eyner her / der mir si heym hilff dragen (V. 1–3). Diese adhortative Eröffnungsformel bereitet den Hörer/Leser auf eine Klage oder eine Schelte vor, nicht aber auf einen Lobpreis der Verhältnisse. Die folgenden drei Verse – Daz wer mir noit daz ich die boit / gehalden möcht, obe es dan döcht, / daz ich nit wurde zurslagen (V. 4–6) – 43 übersetze ich in Anlehnung an Petzsch: 44 »Diese Unterstützung bräuchte ich dringend, damit ich den Einsatz im Spiel halten kann und es dazu kommt, dass ich nicht vernichtend geschlagen werde.« Mit der Übersetzung von boit als »Einsatz im Spiel« und nicht als »Vorschriften, Gebote« ist »die Vorstellung eines Glücksspieles mit dessen Risiko suggeriert[…]«45, ein Imaginationsraum, den Muskatblut am Ende des Liedes wieder aufruft. Die Dichtung schließt mit der Autorsignatur und dem Signal ›Lügendichtung‹: ach Musgapl*t / wie seer hastu gelogen (104f.). Im letzten Vers des Liedes präsentiert der Dichter dem Hörer/Leser die eindeutige Rezeptionsanweisung: Invertiere eine jede Aussage ins Gegenteil! Zu beachten ist nun nicht nur das Lügensignal, das in krassem Gegensatz zur Wahrheitsbeteuerung von V. 79 (fur war ich sage) steht. Zu beachten sind auch die Verse 101– 104, die die Wende einleiten: […] zwar alle list / vom rechten wirt bedrogen. / das beste ich uch noch sagen wil, daz man daz spil / nit fryen d*t. – »List und Lüge werden von der Wahrheit betrogen. Das Beste zum Schluss: Das Spiel wird nicht umworben.« Bereits hier, auf der Grenze von Geschichte und Autorkommentar, ist das Signal der

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Zur Identifizierung der topographischen Bezeichnungen vgl. die Erläuterungen in der Ausgabe mit Übersetzung von: Kiepe, Eva / Kiepe, Hansjürgen (Hrsg.), Gedichte 1300– 1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge, München 1972 (Epochen der deutschen Lyrik 2), S. 206–209, hier S. 209. König Sigmund scheiterte in den Hussitenkriegen. Die Kaiserkrönung 1433 bereitete er durch das Basler Konzil vor, auf dem die vier Artikel der Hussiten in abgeschwächter Form bestätigt wurden: ein Sieg für die gemäßigten Hussiten. Kiepe/Kiepe (Hrsg.), Gedichte [Anm. 41], S. 206, übersetzen: »Das hätte ich nötig, um die Vorschriften einzuhalten – vielleicht führte das dann dazu, daß ich keine Prügel bekäme«. Eine ähnliche Tendenz hat auch die Textparaphrase im RSM, 4/1988, S. 388. Petzsch, Christoph, Muskatblüt Nr. 62 und Michel Beheim Nr. 250. Zum uneigentlichen Sprechen im Spätmittelalter, in: Euphorion, 76/1982, S. 275–294, hier S. 280, übersetzt: »Wenn es denn richtig ist, daß ich nicht völlig unterliege, so wäre Voraussetzung dafür, daß ich den Spieleinsatz halten kann.« Ebd., S. 281.

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Umkehrung gesetzt: Wenn die Wahrheit die Lüge betrügt, sollte man aufhorchen. Im Kontext der Geschichte würde man eine Formulierung erwarten wie: Die Wahrheit siegt über die Lüge. Hier aber geht es um mehr: Wenn die Wahrheit die Lüge betrügt, treibt sie ein falsches Spiel. Sie bedient sich betrügerischer Mittel. Das heißt: Wer diese Botschaft nur als Teil der Geschichte von den goldenen Zuständen liest, hat die Komplexität der Aussage nicht verstanden. Denn Muskatblut hat ein Spiel mit der Wahrheit getrieben. Folglich ist die Wahrheit selbst keine verlässliche Größe mehr. Die Schlussformel ist nur noch die Bestätigung dieses Betruges: Alles ist Lüge. Deswegen ruft Muskatblut die anfangs inszenierte Situation des Spiels am Ende wieder auf. Mit dem Spiel bezeichnet er einerseits eine gesellschaftliche Verirrung, das Glücksspiel, andererseits sein literarisches Werk, das den Rezipienten narrt. Ich lese V. 103f. somit in doppelter Bedeutung: »Das Spiel ist nicht mehr beliebt« – auf der Ebene der Geschichte – und zweitens: »Das Spiel ist aus« – auf der Ebene des Kommentars.46 Sowohl die Inversion zum ›mundus inversus‹ als auch die Inversion einer Zeitklage zum Zeitlob etikettieren die mittelalterlichen Dichter als Lügendichtung. Dieses Etikett hat die Forschung ungeprüft übernommen. Der Begriff ist aber sowohl in Hinblick auf die Augustinische Lüge-Definition – mendacium est enuntiatio cum voluntate falsum enuntiandi47 – als auch in Hinblick auf die modernen sprachphilosophischen Lüge-Definitionen unzureichend. Ich zitiere hier zunächst die grundlegende Definition des Philosophen und Soziologen Georg Simmel: »Die Lüge fordert immer zwei

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An dieser Stelle sei das in Anm. 27 bereits erwähnte Lügenlied mit dem Titel lugen und wider effen Michel Beheims (Gille/Spriewald [Hrsg.], Gedichte [Anm. 6], Nr. 240) genannt. Es wurde von Beheim zweifellos in Kenntnis des Muskatblutschen Vorbilds gedichtet. – Zur unübersehbaren Ähnlichkeit zwischen den beiden Liedern Muskatbluts und Beheims vgl. Schanze, Meisterliche Liedkunst [Anm. 13], S. 240, und Hohmann, Friedenskonzepte [Anm. 12], S. 335, Anm. 243. – Beheim beginnt: Ir werden kristen, newe mer / wil ich euch machen offenber. / der turkisch kaiser und sein her / pegeren all des tffes. In zehn Strophen erfolgt ein satirisches Zeitlob anhand der hierarchisch geordneten Abfolge der Stände, bis die Geschichte mit unverbrüchlichen Zeichen der verkehrten Welt schließt. In den letzten sechs Versen treibt Beheim in ähnlicher Weise wie Muskatblut ein Verwirrspiel mit dem Rezipienten. Er setzt zwar nicht auf den Begriff des Spiels wie Muskatblut, aber er inszeniert es, wenn er die Wahrheit des Gesagten beteuert, ohne eine extratextuelle Referenz für diese Wahrheit anbieten zu können, und er tut das wie Muskatblut außerhalb der Geschichte, extradiegetisch: wann es ist alles wol glauplich, / als war, sam ichs hie sing und sprich (V. 140f.) Eine solche Referenz ist aber als Wahrheitsgarantie unbrauchbar und wird dann auch schon im nächsten Satz zur Lüge erklärt: ir hern, ver zeihent mir, wann ich / han euch ser angelagen. (V. 142f.) Ob diese Behauptung, alles sei erlogen, nun wahrer ist, vermag der Leser/Hörer nicht zu entscheiden. Nicht nur die narrativen Elemente der Geschichte, auch die extradiegetischen Erzählerinformationen haben sich als wenig tragfähig erwiesen. Aurelius Augustinus: De mendacio, in: Migne, Jacques Paul (Hrsg.), Patrologia Latina 40, Cap. IV, col. 490.

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Vorstellungsreihen: eine, die der Lügner für die wahre hält, und eine davon abweichende, die er im Bewußtsein des Belogenen erzeugen will.«48 Auch die sprachphilosophische Definition, die Simone Dietz in Anknüpfung an Searles Sprechakttheorie vorgelegt hat, ist da ganz entschieden: »Eine Lüge ist eine Behauptung, die mit der heimlichen Absicht zur Unwahrheit geäußert wird und die als nicht-deklarierte Handlung zweiter Ordnung verdeckten sekundären Absichten dient. Die Behauptung als Sprechakt erster Ordnung wird nach bestimmten Regeln für verdeckte, übergeordnete Handlungsabsichten eingesetzt.«49 Es ist leicht einzusehen, dass die vorgestellten literarischen Texte weder Augustins noch einer modernen Lügendefinition entsprechen, denn den Dichtungen fehlt es an heimlicher oder verdeckter Absicht. Der mittelalterliche Dichter deklariert seine Behauptung als Lüge, begibt sich gerade aus der Deckung des Lügners und reißt somit die Barriere zwischen Handlung erster und zweiter Ordnung nieder. Warum? Weil die Verkehrung sein poetisches Prinzip ist, mit dem er delektieren möchte. Lügendichtungen sind also Dichtungen, die nützen und erfreuen wollen durch erfundene Geschichten, die sich nicht einmal dem Regulativ des Wahrscheinlichen fügen. Deshalb scheint mir, wie ich früher schon im Blick auf Muskatbluts Lügenlied vorgeführt habe,50 die von Harald Weinrich auf die Frage »Kann Sprache die Gedanken verbergen« gegebene Antwort an dieser Stelle hilfreich, die besagt: »Augustin sah eine Lüge als gegeben an, wenn eine Täuschungsabsicht hinter dem Lügensatz steht. Die Linguistik sieht demgegenüber eine Lüge als gegeben an, wenn hinter dem (gesagten) Lügensatz ein (ungesagter) Wahrheitssatz steht, der von jenem kontradiktorisch, d.h. um das Assertionsmorphem ja/nein, abweicht.«51 Weinrichs These wird von Linguisten, Literaturwissenschaftlern wie Sprachphilosophen mit Recht als zu eindimensional abgelehnt, weil sie weder das Changieren der Lüge zwischen neutraler Handlung und moralischer Wertung noch die Möglichkeit subjektiver Wahrheit mitbedenkt. Zwar ist Weinrichs Diktum für eine Lügentheorie nicht hinreichend, weil die Lüge als komplexes Gebilde sich nicht darin erschöpft, die Negation der Wahrheit zu sein, aber es trifft ins Zentrum der mit der Technik der Inversion arbeitenden Dichtungen. Diese sind in der Tat nach dem Prinzip der nur durch das Assertionsmorphem ja/nein unterschiedenen Sätze gebaut: Setzt man vor die lobenden Aussagen der Zeit oder der Religiosität der Hussiten ein Minuszeichen oder ein ›Nein‹, erhält man die wahre Aussage. In diesem Sinne handelt es sich bei den sogenannten Lügendichtungen um

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Simmel, Georg, Zur Psychologie der Lüge, in: Dahme, Heinz-Jürgen / Frisby, David P. (Hrsg.), Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900, Frankfurt/M. 1992 (stw 805) (Rammstedt, Otthein [Hrsg.], Georg Simmel. Gesamtausgabe 5), S. 406–419, hier S. 409. Dietz, Simone, Der Wert der Lüge. Über das Verhältnis von Sprache und Moral, Paderborn 2002, S. 114. Vgl. Verf., Lügendichtung [Anm. 37], S. 342–346. Weinrich, Harald, Linguistik der Lüge, Heidelberg 1966, S. 40.

Vom Spiel mit den Normen zur Normierung

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invertierte Zeitklagen, die vom Zuhörer durch Verkehrung der Aussage erst aufgerufen werden müssen. Was verbindet die auf Kontradiktion, auf Antithetik, auf das Gegenüber von Wahrheit und Unwahrheit angelegten Dichtungen und unterscheidet sie von den traditionellen Lügen- und Unsinnsdichtungen? Während Letztere »auf der Darstellung unglaubwürdiger, in der empirischen Wirklichkeit ausgeschlossener Sachverhalte beruhen und […] die Irrealität ihrer Fiktion augenzwinkernd signalisieren«,52 reflektieren die invertierten Zeitklagen über Normen, die gelten sollten und dennoch überall gebrochen oder missachtet werden. Sie konstruieren probeweise die ideale Erfüllung oder sogar wie im ersten Beispieltext die Übererfüllung, um einen Kontrast zur erfahrenen Welt herzustellen, der grotesk wirkt und Komik erzeugt. Sie tun es allerdings nicht mit revolutionärem Anspruch, sondern um die alten ehrwürdigen, aber bedrohten Normen zu restituieren. Aber sie leisten auf einer anderen Ebene Neues: In dem Augenblick, in dem der Dichter den Zeitbezug herstellt, ein historisches Ereignis aufruft, nicht beim ›mundus inversus‹ oder der Zeitklage in ihrer allgemeinsten Form stehenbleibt, wird das Problem der Beglaubigung akut. Und da wechselt er das Lager; nun ist er nicht mehr der fabulierende Dichter, sondern gesellt sich dem Publizisten zu, von dem er die Formeln der Wahrheitsbeglaubigung,53 der Zeugenschaft,54des Verkündens neuer und unerhörter Dinge55 ausborgt. Er maskiert sich als Publizist, der die Wahrheit ans Licht bringt, Verborgenes offenbar macht. Aber er irritiert den Leser/Hörer, denn er täuscht dessen Erwartung: Nicht Wahres und Aktuelles wird erzählt, sondern Unwahres, das den Leser mit Macht dazu bringen will, sich selbst auf die Suche nach den allseits bekannten, nun aber bedrohten Werten und Normen zu begeben.

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Köhler, Lügendichtung [Anm. 2], S. 496. Groote (Hrsg.), Lieder [Anm. 5], Nr. 62, V. 79: fur war ich sage. Gille/Spriewald (Hrsg.), Gedichte [Anm. 6], Nr. 310, V. 21f.: frag dy Prager. / mit den ich daz pewer. Groote (Hrsg.), Lieder [Anm. 5], Nr. 62, V. 13: hörent nuwe mer, V. 61: Hört fremde mer; Euling, Lügendichtung [Anm. 7], V. 25: Ich wil eüch neüe mer hie sagen.

IV.

Modellierungen des Normativen

Christoph Huber (Tübingen)

Normproblematik im frühen Minnesang bis Heinrich von Morungen

Die volkssprachliche Literatur, die im 12. Jahrhundert unter dem Mäzenat einer laikalen höfischen Adelsgesellschaft eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte erlebte, wurde von der Literaturwissenschaft unter wechselnden Prämissen auf diese Trägerschicht rückbezogen: als mehr oder weniger bewusster Spiegel dieser Gesellschaft, als Interpretament ihres Selbstverständnisses, als wirksamer Faktor in den Auseinandersetzungen um die Macht bestimmter Schichten oder Parteien. Dabei ging es um Werte und Normen dieser historischen Gesellschaft, die in der Literatur zum Ausdruck kamen, propagiert oder diskutiert wurden, im Prozess höfischer Kommunikation aber ihren angestammten Platz in der außerliterarischen Welt besetzten. Die Minnesangforschung war ein spezieller Schauplatz, auf dem sich die Theorien tummelten, die sozialgeschichtlichen, die in neomarxistischen Denkbahnen an Interessenkonflikten politischer Klassen ansetzten,1 später die psychohistorischen und genderorientierten, die den Minnesang als Zeugnis kollektiver Mentalitäten interpretierten, oft mit kritischem oder anklagendem Tenor.2 Diese Positionen sind teils deutlich überholt, teils noch im Umlauf. Ich suche in meinem Beitrag einen Standpunkt zu markieren, der grundsätzlich v o r einer direkten Korrelierung von Normierungen innerhalb des Textes zu außertextlichen Welten 1

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Das sozialgeschichtliche Paradigma wurde für den deutschen Minnesang durch einen Aufsatz Erich Köhlers als Forschungsthema relevant: Köhler, Erich, Vergleichende soziologische Betrachtungen zum romanischen und deutschen Minnesang, in: Borck, Karl-Heinz / Henß, Rudolf (Hrsg.), Der Berliner Germanistentag 1968. Vorträge und Berichte, Heidelberg 1970, S. 61–76. Modifikationen bei Kaiser, Gert, Minnesang – Ritterideal – Ministerialität, in: Wenzel, Horst (Hrsg.), Adelsherrschaft und Literatur, Bern, Frankfurt/M., Las Vegas 1980 (Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 6), S. 181–208, wieder in: Fromm, Hans (Hrsg.), Der Deutsche Minnesang II. Aufsätze zu seiner Erforschung, Bd. 2, Darmstadt 1985 (Wege der Forschung 608), S. 160–184. In dem Sammelband weitere Beiträge zur Diskussion. Müller, Ulrich, Die Ideologie der Hohen Minne: Eine ekklesiogene Kollektivneurose? Überlegungen und Thesen zum Minnesang, in: ders. (Hrsg.), Minne ist ein swaerez spil. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter, Göppingen 1986 (GAG 440), S. 283–315. – ders., Männerphantasien eines mittelalterlichen Herren. Ulrich von Lichtenstein und sein ›Frauendienst‹, in: Kornbichler, Thomas / Maaz, Wolfgang (Hrsg.), Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehungen, Tübingen 1995 (Forum Psychohistorie 4), S. 27–50.

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Christoph Huber

liegt. Forschungsgeschichtlich setze ich an bei dem schwierigen und nur schwach rezipierten Aufsatz von Hugo Kuhn, Determinanten der Minne von 1977.3 Der Begriff »Determinanten« verweist auf die Determiniertheit von Literatur durch gesellschaftliche Vorgaben, die Kuhn durch die Stichwörter »höfisch« oder »feudalistisch« anzeigt und in dem Aufsatz in zahlreichen Details und Überlegungen zu den mittelalterlichen Sozialsystemen mustert. Im engeren Fokus stehen mit dem Verhältnis von Herrschaft und Dienstbarkeit soziologische Kategorien und entsprechende literaturtheoretische Widerspiegelungs- und (Wunsch-)Identifikationsmodelle zur Debatte, die damals die Diskussion bewegten und tendenziell auf deterministische Geschichtskonstruktionen zuliefen. Gegen diese Determinanten macht Kuhn Aspekte literarischer Eigengesetzlichkeit geltend; ich vermeide den Ausdruck ›Autonomie‹, da eine radikale Eigengesetzlichkeit von Literatur theoretisch in die Sackgasse führt. Kuhn beobachtet erstens »die freie Konkurrenz der ›artistischen‹ Kompetenz, eine Interaktion von Meisterschaft und Schülerschaft« (S. 85). Für den Lyriker, sei er »Geburtsaristokrat« oder »Berufsmeister«, heißt das: »Als Minnesänger ist er nicht ›Standesdichter‹, er ist ›Artist‹ « (S. 87). Dieser Wettbewerb mag, vor allem bei den Berufsliteraten, in der Lebenswelt so abgekoppelt nicht gewesen sein, aber er löst doch plausibel vom Überlebenskampf des Berufssängers eine eigene Ebene ab. Mit seinen Beobachtungen zu Meisterschaft und Konkurrenz skizziert Kuhn implizit bereits Umrisse eines literarischen »Feldes«, wie es später Bourdieu theoretisch ausgearbeitet hat.4 Zweitens löst Kuhn das feudale Paradigma von Herrschaft und Dienst, das den Minnesang strukturiert, aus dem unmittelbaren sozialgeschichtlichen Bezug. Das Herrin-Knecht-Verhältnis verschiebt sich in einer Liebesanthropologie, welche die Herrschaftsverhältnisse von Mann und Frau zur Disposition stellt und zu »Gegenseitigkeit der Lust« und »Partnerschaft des Liebesaktes« tendiert (S. 92), was aber als lyrische Konstruktion seinerseits Kunstcharakter hat. Kuhn formuliert das auf seine manieriert-kondensierte, aber ungemein anregende Weise so: »Der Minnesang huldigt dem Lust-Wertprinzip frowe, und zwar nicht als realem sozialem Rang (im Interaktionsmodell der Herrschaft), sondern als höchstem ›artistischem‹ Wert-Prinzip (im Interaktionsmodell der Meisterschaft). Denn eine so weitreichende inhaltliche Sanktionierung der höfischen Liebeskunst kann nicht unmittelbar aus artistischer Gebrauchs-Brillanz entstehen, sondern nur sekundär aus meisterlicher Wert-Auffüllung der Artistik.« (S. 93) 3

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Kuhn, Hugo, Determinanten der Minne, in: Haubrichs, Wolfgang (Hrsg.), Höfische Dichtung oder Literatur im Feudalismus?, Göttingen 1977 (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 26), S. 83–94. Zur mediävistischen Rezeption Bourdieus vgl. den Sammelband von Peters, Ursula (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23). Dort Wolf, Gerhard, Verborgene Kalküle. Pierre Bourdieus ›Reflexive Anthropologie‹, Erecs und Iweins Habitus und die ›Conditio humana‹ des Interpreten, S. 215–244; Chinca, Marc / Young, Christopher, Literary theory and literary field in the German romance c. 1200, S. 612–644.

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Der entscheidende, von Kuhn zugespitzt formulierte Gedanke scheint mir hier zu sein: Zwischen Realitätsspiegelung oder Identifikationsangeboten schaltet sich eine Ebene ein, auf der Literatur als Artefakt entsteht und in einer Art Freiraum sozusagen über artistische Verfahren Wertzuschreibungen betreibt und der Literaturgesellschaft zur Disposition stellt. Nimmt man diesen Standpunkt ein, der von der Arbeit am Material und den Vorgaben der Gattung ausgeht, kann man leichter und entspannter die diffusen Bindungen der Hofkunst an gesellschaftliche Vorgaben in den Blick nehmen: die schwer zu taxierende ständische Gemengelage, die komplexen Aufführungsbedingungen, die kaum zu rekonstruierenden Mechanismen von Beeinflussung und rezeptiver Aufnahme von Dichtung. Ich werde im Folgenden verschiedene Ansätze literarisch konditionierter Normbildung im Minnesangcorpus aufgreifen und versuchen, sie in eine chronologische Reihe zu bringen. Beim frühen Minnesang gehe ich aus von den differierenden Gattungstypen Sangspruch und Minnelied, die mit ihren unterschiedlichen Diskursregeln jede Art von Normbildung präjudizieren. Das Nebeneinander und der Umschlag zwischen den Codes setzt deren simultane Präsenz voraus, die vom Publikum wahrgenommen und auf ein variierendes Normangebot bezogen werden musste. Eine systematisch komplexe Art der Normkonstruktion erreicht in einem weiteren Schritt die subjektive Minnekanzone, die das Paradox kultiviert – das ist bekannt, muss aber in Bezug auf die Normproblematik expliziert werden. Ich illustriere und strukturiere diese Verhältnisse exemplarisch an dem konsequent und radikal an der Hohen Minne ausgerichteten Œuvre Heinrichs von Morungen. Dieses geschlossene und gewissermaßen hermetische Modell subjektiver Wertsetzung steht aber nicht isoliert da. Der Diskurs Hoher Minne trifft im Minnelied auf andere Diskurse von starker Gültigkeit und bemüht sich neben der Vereinnahmung von Sprachregelungen um Absetzung. Nur in einem Ausblick wird schließlich die systematisch wichtige Konstellation anzureißen sein, die in einem i n t e r n differenzierten Liebesdiskurs Normkonzepte gegeneinander führt. Das setzt ein weiter fortgeschrittenes Stadium der Gattungsgeschichte voraus, greift aber auch auf die frühen Ausgangsbedingungen zurück.

1. Früher Minnesang: Sangspruch und Minnelied als diverse und komplementäre Codes der Normkonstitution Sangspruch und Minnelied bilden seit den Anfängen der Überlieferung unterschiedliche lyrische Codes aus, die sich vor allem im Ansatz der Sprecherrollen, typischen Aussagemustern und poetischen Techniken unterscheiden, auch wenn sie, besonders in der Frühzeit, zu Übergangs- und Mischphänomenen tendieren.5 Jüngere Untersu5

Zur Abgrenzung der Gattungen Spruch und Lied vgl. Tervooren, Helmut, Sangspruchdichtung, Stuttgart, Weimar 1995 (Sammlung Metzler 293), S. 81–89. – Brem, Karin, Gat-

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chungen haben den Aufbau einer Sprecher-Figura differenziert, mit deren Hilfe es dem Dichter als wanderndem Berufsliteraten gelingt, bei seinem Publikum überhaupt erst anzukommen, dieses für seine lehrhaften Botschaften zu gewinnen und bei erfolgreicher Kommunikation materielle Gratifikation einzuheimsen (Baltzer, Brem).6 Als literarische Strategien dienen der Figura-Konstruktion die Berufungen auf das allgemein Verbürgte, von denen sich eine Ratgeberstimme absetzt, mitunter schon als personalisiertes Sprecher-Ich. In der Gattungsentwicklung führen diese Formationen der Sprecherstimme auf die groß angelegten Rollen-Inszenierungen zu, die Walther von der Vogelweide eindrucksvoll in Szene setzt. Der Spruchsänger stilisiert sich hier zur überdimensionalen Autorität und setzt deren Erscheinungsbilder als Markenzeichen persönlicher Dichterkompetenz ein. Anders beruft sich das Sprecher-Ich des Minneliedes auf Liebeserfahrungen, die es als Einzelner macht und für die es als Einzelner einsteht, auch dann, wenn diese geltenden Normierungen zuwiderlaufen. Sangspruch-Ich und Minnelied-Ich vertreten also Normen, die sich in ihrer Legitimierung fundamental unterscheiden. Das bleibt auch in den Übergangsformen virulent, die mit verschiedenen Ich-Rollen operieren und spielen.7 Die Abspaltung einer Minnenorm von der allgemeinen Norm beschreibt ein Minnespruch Meinlohs von Sevelingen, dessen Œuvre (BC) eine Mischung von spruchhaften und liedhaften Sprecherrollen aufweist,8 die sich durch übereinstimmende Situationsbezüge wie um eine gemeinsame Persona mit ihrer Liebesgeschichte gruppieren. Meinloh bedient sich des Spruchgestus, wenn er doziert:

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tungsinterferenzen im Bereich von Minnesang und Sangspruchdichtung des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts, Berlin 2003 (Studium litterarum 5), dort Forschungsdiskussion. Brem kommt zu dem Ergebnis, dass keines der Kriterien der älteren Diskussion eine klare Gattungsabgrenzung tragen könne (S. 40), und schlägt als neue Differenzierungskriterien Interaktionsform und Aufführung vor (S. 41–65). Vgl. unten Anm. 6. Baltzer, Ulrich, Strategien der Persuasion in den Sangsprüchen Walthers von der Vogelweide, in: ZfdA, 120/1991, S. 119–139; Brem, Karin, ›Herger‹/Spervogel. Die ältere Sangspruchdichtung im Spannungsfeld von Konsenszwang und Profilierung, Konformität und Autorität, in: Brunner, Horst / Tervooren, Helmut (Hrsg.), Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung. ZfdPh, 119/2000, Sonderheft, S. 10–37. Mit der Implikation des Sprechers in ein fiktionales Minneverhältnis scheint mir ein trennscharfes Unterscheidungskriterium gegeben zu sein, nach dem sich die MinneliedPersona von den spruchhaften Sprecherrollen trennen lässt, auch wenn sie sich in einem Lied überlagern. Werden etwa ein gnomischer Sprechgestus oder die Ratgeberrolle mit der des Liebenden kombiniert, liegen Überschichtungen vor, mit denen das Minnelied bewusst und auf raffinierte Weise experimentiert. Weitere nicht trennscharfe formale Gattungskriterien lassen sich dieser Unterscheidung zuordnen. Brem, Gattungsinterferenzen [Anm. 5], S. 97–101; Huber, Christoph, Spruchhaftes im Minnelied des Donauraums. Budapester Fragment, Meinloh und spätere Traditionen, in: Pfau, Christine / Slámová, Kristýna (Hrsg.), Deutsche Literatur und Sprache im Donauraum, Olomouc 2006 (Olmützer Schriften zur deutschen Sprach- und Literaturgeschichte 2), S. 143–157.

Normproblematik im frühen Minnesang bis Heinrich von Morungen Ez mac niht heizen minne, diu liute werdent sîn inne unstaetiu vriuntschaft wan sol ze liebe gâhen: (MF38 I, 4, 1–4 / MF 12,14–21) 9

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der lange wirbet umbe ein wîp. und wirt zervüeret dur nît. machet wankeln muot. daz ist vür die merkaere guot.

Das, was ›Minne‹ heißt und offensichtlich einen Wert bedeutet,10 löst sich auf oder verschiebt sich bei (zu) langer Werbung, weil die Gesellschaft das Geheimnis entdeckt und die Verbindung gefährdet. Der dritte Vers koppelt auf komplizierte, aber ausreichend deutliche Weise Außenansicht und Innennorm: »Unbeständige Liebschaft erzeugt wankelmütige Gesinnung.« Das erste unstaete kann sich im Strophenkontext nur auf eine Verunsicherung von außen beziehen, die bewirkt, dass auch die Einstellung der Liebenden zueinander ins Wanken kommt.11 Andererseits erzeugt die Täuschung der äußeren Minnefeinde im Inneren der Liebenden Tugenden: Der dâ wol helen kan, der hât der tugende alremeist (MF38 II, 1, 5 / MF 14, 22f.).12 Unter den Prämissen der Heimlichkeit und der Leidensbereitschaft des Minnedieners werden zwischen zwei Liebenden Tugenden, die bereits gesellschaftliche Akzeptanz haben, neu begründet, so die kiusche und die triuwe: Swer biderben dienet wîben, ich waene, unkiuschez herze wirt mit ganzen triuwen (MF38 I, 3, 5–7 / MF 12,9–13) 9

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die gebent alsus getânen solt.13 werden wîben niemer holt.

Die Sigle »MF38« verweist hier und im Folgenden auf die Ausgabe: Moser, Hugo / Tervooren, Helmut (Hrsg.), Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus. Bd. I, Texte. 38., erneut rev. Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988. Die ebenfalls notierte alte MF-Zählung soll den raschen Abgleich mit der älteren Forschung ermöglichen. Vgl. Huber, Christoph, Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob, München, Zürich 1977 (MTU 64), hier S. 95. Nicht überzeugend die Übersetzung von Schweikle: »Unentschlossene Freundschaft macht schwankenden Sinn.« (Schweikle, Günther [Hrsg.], Mittelhochdeutsche Minnelyrik. Bd. I. Frühe Minnelyrik, Stuttgart, Weimar 1993, hier S. 131). Im obigen Sinn verstehbar Margherita Kuhn: »Ungewissheit in der Liebe macht das Herz schwankend« (Kasten, Ingrid [Hrsg.], Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten, Übersetzungen von Margherita Kuhn, Frankfurt/M. 1995 [Bibliothek des Mittelalters 3], hier S. 57). Diese Formulierung geht in BC der zitierten Strophe I, 4 voraus, sie ist aber nur unter den gleichen normativen Voraussetzungen sinnvoll. So bezieht sich I, 4, 2 auf die Minnefeinde, nicht die Frauen. Die Umordnung im Vortrag nach I, 4 würde den Bezug vereindeutigen, doch sind auch andere vereindeutigende Anordnungen (eventuell nach nicht erhaltenen Strophen) denkbar. alsus getâner solt ist ein der Qualität biderbe entsprechender Lohn; ein »ebenso werthafter Lohn«.

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Das Meinloh-Corpus ist hier als frühes Zeugnis einer reflektierten prekären Normbildung bedeutsam. Die zitierten Minnespruch-Strophen können sich nicht auf einen ›consensus omnium‹ berufen, nur auf die Zustimmung einer Gruppe von Liebenden, die sich auf dieselbe Norm verpflichtet haben. Ein Sänger als Sprachrohr gesellschaftlicher Verhaltensregeln wie feudaler triuwe und moraltheologisch konformer kiusche könnte die Aufforderung zur Heimlichkeit und Täuschung in dieser Form nicht übernehmen. Dabei sind die Normabspaltung und die Entscheidung für die Innennorm14 hier nur möglich im Kontext anderer Strophen des Corpus. Die Minnespruchstrophen gehen von den in den liedhaften Ich-Strophen dargestellten Verhältnissen aus. Sie funktionieren in der Überblendung der Sprecherrollen von Ratgeber und Liebendem, wobei die letztere in einem Mischungsverhältnis die Situierung vorrangig determiniert. Als weitere Perspektive auf die gleiche Situation kommen neben der Botenrolle auch verschiedene Frauenstrophen hinzu, die von Minne als Wert und Tugend reden; der Frau wird es hier auch gestattet, ihre Bereitschaft zur körperlichen Hingabe auszusprechen.15 Ich stelle einen weiteren Befund daneben, den Ludger Lieb im Corpus Heinrichs von Veldeke als Gattungs-»Modulation« beschrieben hat.16 Überzeugend sondert Lieb spruchhafte und liedhafte Strophen, die in der BC-Überlieferung auch nach Gruppen getrennt auftreten.17 Bemerkenswert ist dabei, dass zum Teil fast dasselbe Wortmaterial einen Text der einen oder der anderen Gattung erzeugt. Vergegenwärtigen wir uns das an der Editionssynthese von Lied MF38 VI / MF 60, 13! Für die erste Strophe (BC 16) weist Lieb überzeugend die Einordnung als Frauenstrophe und den Minnesangkontext zurück. Als Spruchstrophe formuliert sie ein kollektives Freudeprogramm der blîdeschaft sunder riuwe (1, 1), aus dem sich gesellschaftliche Werte ableiten. Wer seine Lebensfreude mit êren, dem Konsens der Öffentlichkeit, fördern kann, der ist edel unde vruot (1, 5); zusammenfassend das Urteil: daz ist guot (1, 8) – es ist werthaft, es gilt als Norm. Die tongleiche Strophe BC

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Zur Entgegensetzung von Außennormen und Innennormen in der Gottfried von Straßburg-Forschung (im Anschluss an Dietmar Mieth) vgl. Schnell, Rüdiger, Suche nach Wahrheit. Gottfrieds ›Tristan und Isold‹ als erkenntniskritischer Roman, Tübingen 1992 (Hermaea N. F. 67), hier S. 28–37. I, 7 u. 8; bes. II, 2. Die Männerstrophe III sagt, dass die Erfüllung noch aussteht. Als weitere Varianten der Normierungsperspektiven sind einzubeziehen: die Erweiterung des Sprecherspektrums durch Boten- und Frauenrolle oder auch unterschiedlich eingestellte Ich-Sprecher. Sie würden es ermöglichen, auch den frühen Minnesang (Kürenberger) in den vorliegenden Entwurf einzubinden. Lieb, Ludger, Modulationen. Sangspruch und Minnesang bei Heinrich von Veldeke, in: Brunner/Tervooren (Hrsg.), Neue Forschungen [Anm. 6], S. 38–49. Minnelied BC 1–14; Sangspruch 15–24; dann Tanzlieder 25–28 und Mischungen 29–48; vgl. Lieb, Modulationen [Anm. 16], S. 42–48. Die Anordnung innerhalb der Gruppen ist wohlüberlegt, zum ›concatenatio‹-Prinzip S. 43f.; zu einer thematisch antithetischen Anordnung der Spruchstrophen S. 48.

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40 (MF38 VI, 2) gibt sich durch ihren anderen Aufgesang als Minnelied zu erkennen. Die schöne Dame, die den Sänger zum Singen motiviert, soll ihn davon zu sprechen lehren, dass [oder als Objektsatz ›wovon‹] er seinen Sinn nicht abwenden kann.18 Dieses Sprechen folgt dann in Worten wie oben, aber als Preis der Dame selbst: S î ist edel unde vruot (2, 5; Sperrung Chr. H.); d.h., die Dame ist der Wert! Die Dame ist also Motivation und Inhalt des Liedes. Der anschließende Refraintext kann sich nur auf diesen Wert zurückwenden.19 Zwar mag sich die Freudemehrung mit êren auf die Zustimmung der Gesellschaft beziehen, doch geht dabei die Wertbegründung von der Instanz der Dame aus, welche die Gefühle und das Sprechen des Sängers beherrscht, nicht von einem gesellschaftlichen Urteil. Lieb bezeichnet die spruch- und die liedhafte Aussage als zwei Seiten einer Medaille und als Kippfigur, die auf situationsverschiedene Verwendungen der Gattungsregister und auf unterschiedliche Konzepte hinausläuft. Einem Wertesystem des Hofklerus, das mit seinem Freudeprogramm auch die Liebessphäre einbezieht, stellt er die provenzalisch-nordfranzösische Minnekonzeption gegenüber, die auch die Ambivalenz von Freude- und Leiderfahrung zulässt. In unserem Zusammenhang kommt es weniger auf die Herkunft der Konzepte an als auf die notwendig unterschiedliche Normbegründung durch den Rekurs auf die Gesellschaft oder die Erfahrung eines liebenden Ich-Sprechers, bei dem programmatisch die ambivalenten Züge einfließen. Eine Verteilung der Codes und Konzepte auf verschiedene Publikumsgruppen, wie Lieb dies vorschlägt, ist möglich. Ebenso plausibel aber ist es, den Umgang mit verschiedenen Codes der Wertzuschreibung beim gleichen Publikum anzunehmen, welches den Wechsel vollziehen kann. Hier könnte man etwa verschiedene Vortragssituationen ansetzen. Ein Vortrag der Strophen hintereinander, wie ihn die Ausgabe von Des Minnesangs Frühling (gegen die BC-Reihung) suggeriert, würde das Gattungs-Switching gerade zum Thema machen und die Normdifferenz zuspitzen – ein eher unwahrscheinlicher Sonderfall.20 18 19

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MF38 VI, 2, 2–4/MF 60, 22–24: si sol mich sprechen lêren, / dar abe, daz ich mînen muot / niht wol kan gekêren. Sî ist edel unde vruot. / swer mit êren / kan gemêren / sîne blîdeschaft, daz ist guot (MF38 VI, 2, 5–8/MF 60, 25–28). Lieb, Modulationen [Anm. 16], S. 42, erwägt vorsichtig auch den Bezug von Sî (2, 5) auf blîdeschaft (2, 8), was syntaktisch möglich, aber für die Gedankenfolge kaum plausibel ist. Eine Kombination von Spruch- und Liedtypus bietet auch Veldekes Lied MF38 XII / MF 61, 33. Die einleitende Spruchstrophe (MF38 XII, 1 = BC 21) greift hier gerade das französische Minnedienstprogramm auf: Swer ze der minne ist sô vruot, / daz er der minne dienen kan, / und er durch minne pîne tuot usw. (1, 1–3), das hier bereits unangefochten die Norm vertritt. Trotzdem unterscheidet sich dann die Sicht der Ich-Rede in BC 22: Ich minne die schoenen sunder danc (2, 1). Zur Herleitung der Norm heißt es hier: Von m i n n e kumet uns allez guot (1, 5) (Sperrung Chr. H..). Es ist bei diesen Code-Wechseln schwierig, ein bestimmtes Konzept des Autors Veldeke von rechter Minne herauszuschälen. Vorgängig für die Normkonstitution sind die Codes, mit denen der Sänger operiert und das Publikum vertraut sein muss.

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2. Die subjektive Minnekanzone. Wertparadoxie als Programm Eine Zuspitzung der Problematik lyrischer Wertsetzung erfolgt, wenn der Sänger des Minneliedes einen subjektiven Weltstandpunkt einnimmt, was sich in ausgeprägter Form im Hohen Sang durchsetzt.21 D.h., der Text entwirft vom Zentrum eines Ich aus, das in Bezug auf die geliebte Person seine Perspektive auf die umgebende Welt definiert, auch eine subjektive Wertordnung. Ich verstehe also im Folgenden Subjektivität nicht als Eigenschaft der Person, die subjektiv ist und sich damit von der Allgemeinheit absetzen will, sondern als eine Form des Weltbezugs, die von Personen eingenommen wird und auch als Rolle agiert werden kann.22 Es ist dann kein Problem, vom Weltbezug her einen Wertbezug (des Einzelnen) mit potenziell allgemein verbindlichem Normanspruch zu konstruieren. Eine subjektive Weltsicht des Verliebten formuliert in wünschenswerter Direktheit das Lied MF38 IV / MF 125,19 Heinrichs von Morungen, das bekannte Freudelied mit dem Einsatz In sô hôher swebender wunne. Der Sänger fühlt sich durch ein hoffnungsspendendes Wort der Geliebten in solche Hochstimmung versetzt, dass er sich wie körperlich um diese schwebend eine eigene Welt erschafft: Swaz ich wunneclîches schouwe, daz spile gegen der wunne, die ich hân. luft und erde, walt und ouwe suln die zît der vröide mîn enpfân. (MF38 IV, 2, 1–4 / MF 125, 26–29)

Die Freude der äußeren Welt möge auf die Freude des Sängers ausstrahlen, mehr noch: Was er als Freude erblickt, ist bereits eine Projektion seines Inneren; er selbst will der ganzen Welt mit ihren naturalen Sphären seine eigene innere Jahreszeit (die zît der vröide mîn) mitteilen. Er erschafft sich so als Reflex seines Zustands einen Frühling der Liebe, eine subjektive Ordnung der Natur.23 Was hier am Lustprinzip vorgeführt wird, gilt nicht weniger für die Wertordnung. Die Dialektik von gesellschaftlicher und subjektiver Wertsetzung formuliert in sym-

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Grubmüller, Klaus, Ich als Rolle. ›Subjektivität‹ als höfische Kategorie im Minnesang?, in: Kaiser, Gert / Müller, Jan-Dirk (Hrsg.), Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3.–5. November 1983), Düsseldorf 1986, S. 387–408; Huber, Christoph, Ich – Du – Welt. Figurationen des Subjektiven im Minnesang, in: Baisch, Martin / Haufe, Hendrikje / Sieber, Andrea (Hrsg.), Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, Königstein/Taunus 2005, S. 16–33. Vgl. Grubmüller, Ich als Rolle [Anm. 21]. Vgl. MF38 IV, 3, 5/MF 125, 37: Das Wort der Dame bewirkt, dass mir ein wunne entspranc; diese fließt in Form von Tränen alsam ein tou (3, 6) aus den Augen. Gepriesen werden so in MF38 IV: diu süeze stunde, […] diu zît, der werde tac (4, 1f.), die sich aus dem Wort der Dame herleiten.

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metrischen Wendungen Morungens Preislied (MF38 I / MF 122, 1): Si ist ze allen êren ein wîp wol erkant, / schoener gebaerde, mit zühten gemeit. Während die erste Strophe das Bild der Dame in der Optik des gesellschaftlichen Ansehens ausmalt und folgendermaßen zusammenfasst: des man ir jêt, / si ist aller wîbe ein krône (I, 1, 8f.), dreht die zweite Strophe sofort die Perspektive um: Diz lop beginnet vil vrouwen versmân, / daz ich die mîne vür alle andriu wîp / hân zeiner krône gesetzet sô hô (I, 2, 1–3). Der vorausgehende Preis in der allgemeinen êre-Perspektive wird jetzt als literarische Setzung des Sängers auf der Basis seiner Minne-Beziehung ausgewiesen. Des muoz ich in ir genâden belîben, / gebiutet si sô, / m î n liebest vor allen wîben (2, 7–9; Sperrung Chr. H.). Seine Dringlichkeit und provozierende Ausschließlichkeit erhält dieser Wert erst in der personalen Sicht. So wechseln die Blickrichtungen in diesem Lied (das für andere stehen kann) mehrmals, es ist aber klar, dass die Dialektik von gesellschaftlicher und subjektiver Wertsetzung ihre entscheidende und nicht hintergehbare Voraussetzung in der Subjektposition findet, aus der heraus gesprochen wird. Das gilt, auch wenn der Subjektposition eine objektive Seite der Welt gegenübersteht, sei es in den gesellschaftlichen Bedingungen, sei es in einer dem Liebhaber der Hohen Minne nicht verfügbaren Autonomie der Dame. Die vom subjektiven Weltstandpunkt getätigte Wertzuschreibung ist eine labile Konstruktion und läuft unvermeidlich auf dialektische Denkfiguren zu, auf die Erzeugung von Ambivalenzen und Paradoxien. Seit wann in der Minnesangtradition diese Qualität erreicht wird, lässt sich nur durch genaues Hinsehen auf das Einzellied sagen. Zu Morungen können wir festhalten: Aus den Prämissen eines gefährdeten subjektiven Weltstandpunktes resultieren hier die Sprachprobleme, das Mitteilungsdilemma, das Hin und Her zwischen Nicht-sprechen-können und Trotzdem-sprechen-müssen. Aus der strukturellen Wertgefährdung entwickelt sich der merkwürdige Schuldkomplex, der in Lied MF38 III / MF 124,32 Het ich tugende niht sô vil von ir vernomen die Normorientierung an der tugendhaften und gleichzeitig sich verweigernden Dame unterminiert: solde aber ieman an im selben schuldic sîn, sô het ich mich selben selbe erslagen, Dô ichs in mîn herze nam und ich sî vil gerne sach – noch gerner danne ich solde –, und ich des niht mîden wolde, in hôhte ir lop, swâ manz vor mir sprach. (MF38 III, 2, 3–9 / MF 125, 3–9)

(Selbstauslöschung) (aufgrund freier Wahl!) (Lustfaktor) (Konflikt mit Außennorm) (freie Wahl, bez. Singen) (konform mit Außennorm)

Der Wert wird im Gesang literarisch bestätigt entsprechend dem Urteil der Gesellschaft, aber aufgrund der Wertentscheidung des isolierten Subjekts, das damit Gefahr läuft, sich selbst zu vernichten. Das Wechselverhältnis zwischen dem Bezug auf das Gegenüber und der Ich-Konstruktion verschiebt sich zuungunsten des Ich. Von dieser Wertverunsicherung mit existenzieller Dimension spricht auch das Elbenlied (MF38 V / MF 126, 8). Es stilisiert die präpotente Geliebte zum dämoni-

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schen Wesen und spricht ihr darauf alle Qualitäten zu, wie sie die Minnesangsprache aus dem höfischen Preis-Repertoire aufzubieten hat. Aber die Wirkung auf das Subjekt ist katastrophal ambivalent: Und ir hôher muot und ir schoene und ir werdecheit und daz wunder, daz man von ir tugenden seit, daz wirt mir vil übel – oder lîhte guot? (MF38 V, 3, 5–8 / MF 126, 28–31)

Grundsätzlicher lässt sich das axiologische Dilemma des subjektiven Standpunkts kaum auf den Nenner bringen. Das Subjekt arbeitet sich dabei an einer Positivierung von gesellschaftlicher, aber auch subjektiver Negation ab.

3. Die Wertparadoxie der subjektiven Minnekanzone im Kontakt mit konkurrierenden Diskursen Ich rekurriere an dieser Stelle auf den Diskursbegriff, um bestimmte Kontraste und Spannungen in der Ordnung der einschlägigen Texte besser sichtbar zu machen. In diesem Sinne ist Walter Haugs Überblick über die komplizierte Topographie der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Liebesdiskurse in seiner klärenden und ordnenden Leistung kaum zu überschätzen.24 Haug trennt den kirchlich-kanonistischen Diskurs mit der christlichen Sexualmoral im Zentrum, den feudalen Ehediskurs mit seiner Fixierung auf Fortpflanzung und Machterhalt und auch den philosophischen Diskurs mit der platonistischen Eros-Konzeption als dominanter Denkfigur von dem (von ihm so benannten) »höfisch literarischen« Diskurs. Diesen zieht er locker über die Gattungen Minnelied und Roman hinweg und sieht zu Recht in der Positivierung und Personalisierung sexueller Liebe zu einer Art autonomem Wert ein kulturgeschichtliches Novum. Die Sprach- und Denkordnung des subjektiven Minneliedes besetzt hier ein kleines Feld. Die Unterscheidungen der Felder höherer und niederer Ordnung sind hilfreich, auch wenn sich in den Texten selbst die Einteilungen kreuzen und durchschichten, sie können gerade unter dieser Voraussetzung klärend zu unseren Überlegungen beitragen. Im Anschluss an die beobachtete subjektiv-partnerbezogene Normorientierung des Minnelieds können wir nun festhalten, dass dieser labile Diskurs mit differenzierter ausgearbeiteten, in ihrem Anspruch verbindlicheren und stabileren Sprech- und Lebensordnungen kurzgeschlossen wird. Eine wesentliche Voraussetzung dieser interdiskursiven Korrelierung verschiedener Ordnungen hat Rainer Warning als 24

Haug, Walter, Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Berlin, New York 2004 (Wolfgang Stammler Gastprofessur. Vorträge 10).

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»konnotative Ausbeutung« in der Begrifflichkeit des Minnesangs beschrieben.25 Das gilt für das feudale Dienstmodell, das für den Hohen Sang die konstruktiven Stichwörter und Argumente liefert, aber im erotischen Kontext völlig umgestülpt wird. Es gilt auch für die religiöse Normierung von sexueller Liebe, welche durch die Vereinnahmung des Religiösen erst Gestalt und Dignität gewinnt. Neben dieser grundlegenden Auffüllung und Bereicherung des literarischen Liebesdiskurses durch semantische Attribuierung lässt sich, wie ich meine, die Korrelation auch in der Gegenrichtung beobachten. Dem Minnesystem ursprünglich fremde Diskursordnungen werden auch zitiert mit dem Ziel, sie fernzuhalten, zu zeigen, dass sie in ihren Konsequenzen gerade nicht greifen und ins Leere laufen. In dieser Funktion kann die subjektive Normkonstruktion des hohen Minneliedes den klerikalen Liebesdiskurs einspielen, wofür oft Stichworte und kurze Anspielungen genügen. Die Reden von Sünde und sündigen und die Gottesapostrophen des Minneliedes sind häufig von einer so penetranten Uneigentlichkeit, dass sie die Geltung dieser Grundordnungen eher zu untergraben als positiv zu zitieren scheinen. Ein Beispiel: Morungens sogenanntes Venuslied (MF38 XXII / MF 138, 17) bereitet das Spiel mit der antikisierenden Transzendenz in der ersten Strophe so vor, dass es als Erstes die Norm feudaler Macht außer Kraft setzt. Der Sänger nennt sich so an sî verdâht (das Leitwort des ver-dâht-Seins ist offensichtlich auch verstehbar als Umkehrung gültiger Denkregeln), daz ich ein künicrîche / vür ir minne niht ennemen wolde, und zwar nach Rechtsformen der Erbteilung, ob ich teilen unde weln solde (1, 6–8). Von dem, der das missbilligt, heißt es mit überspannter geistlicher Konnotation, der sündet sich (2, 2). Nach den magischen Auftritten der Dame als Venus und der Beteuerung einer schillernden höfischen Idealität kommt in der 5. Strophe eine so irritierende geistliche ›revocatio‹ zu Wort, dass sie abenteuerliche philologische Konjekturen auf den Plan gerufen hat.26 Im einzigen Überlieferungszeugen C heißt es: Wê, waz rede ich? jâ ist mîn geloube boese und ist wider got. wan bite ich in des, daz er mich hinnen loese? ez was ê mîn spot. (MF38 XXII, 5, 1–4 / MF 139, 11–14)

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Warning, Rainer: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors, in: Cormeau, Christoph (Hrsg.), Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, Stuttgart 1979, S. 120–159. – Warning distanziert sich von den sozialgeschichtlichen Rastern, ohne die gesellschaftlich performative Dimension des Minneliedes auszuschalten. Dabei geht er auf den Fiktionalitätsstatus der Texte ein. Zu Kuhns MeisterschaftThese vgl. S. 128–156; die Überlegungen zur »konnotativen Ausbeutung« finden sich auf den Seiten 138–144, die Exemplifizierung am Freudelied Wilhelms IX. auf den Seiten 144–156. Im Apparat II von MF38 XXII, 5 zu V. 4 (S. 268).

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Ob nun der Sänger ernstlich widerruft oder nicht, der Rest der Strophe verläuft zweifellos außerhalb orthodoxer Bahnen. Der Dichter bezeichnet im antikisierenden Horizont sein Lied ästhetisch verklärend als Schwanengesang27 und spielt dann mit den Folgen. Nach seinem Tod kann dieses Lied nicht mehr den von der Dame versagten Liebeserfolg bringen, aber in der Rezeption könnte sich wenigstens die gesellschaftliche Zustimmung zu seinem Leidensweg, d.h. die Durchsetzung der paradoxen Liebesordnung, als Norm durchsetzen.28 waz ob mir mîn sanc daz lîhte noch erwirbet, swâ man mînen kumber sagt ze maere, daz man mir erbunne [»mich beneidete um …«] mîner swaere. (MF38 XXII, 5, 6–8 / MF 139, 16–18)

Wir sind also denkbar fern von einer religiösen Umkehr.29 Die geistliche Lebensordnung wird nur bemüht, um den personalen Liebesdiskurs abzuheben und an ihr normativ aufzurichten. Dieser Funktion ordnen sich auch die Kreuzlieder zu, die wie schon bei Friedrich von Hausen Frauen- und Gottesdienst ohne Lösung gegeneinander antreten lassen. Das ist aber ein eigenes Thema, das an dieser Stelle beiseitebleiben muss.30 Es sei noch angefügt, dass der Zusammenstoß heterogener Norm-Diskurse an verschiedenen Strukturstellen des Liedes angesiedelt sein kann und bis hinein in den Kern der Minneparadoxie selbst führt. Aus Reinmars Preislied (MF38 XIV / MF 165, 10) wird eine dilemmatische Alternative oft zitiert:31 Zwei dinc hân ich mir vür geleit, diu strîtent mit gedanken in dem herzen mîn: ob ich ir hôhen wirdekeit mit mînen willen wolte lâzen minre sîn,

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Einleitung des Abgesangs: Ich tuon sam der swan [C swal], der singet, swenne er stirbet (5, 5). Vgl. das Schwanen-Motiv im romanischen Minnesang bei Cercamon und Peirol, lateinisch in den Carmina Burana 103 u. 116. – Vgl. Kasten (Hrsg.), Deutsche Lyrik [Anm. 11], Kommentar, S. 628. Klassisch antik bei Ovid, vgl. Heinisch, Klaus H., Antike Bildungselemente im frühen deutschen Minnesang, Diss. Bonn 1934, hier S. 75–84. Jan-Dirk Müller betont in diesem Lied die Abwendung vom geläufigen Rezeptionsmodell des Minnesangs, welches die Liebesklage für die Schöpfung gesellschaftlicher Freude funktionalisiert. Müller, Jan-Dirk, Beneidenswerter ›kumber‹, in: DVjs, 82/2008, S. 220– 236. Eine vergleichbare Allusion auf das Sündigen und die entsprechende Diskursabgleichung finden sich in Lied MF38 VII Ez ist site der nahtegal (Strophe 4 und 6). – In unserer Interpretationsrichtung lassen sich auch die Denkspiele zum Lieben nach dem Tode lesen. Braun, Manuel, Autonomisierungstendenzen im Minnesang vor 1200. Das Beispiel der Kreuzlieder, in: Kellner, Beate / Strohschneider, Peter / Wenzel, Franziska (Hrsg.), Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter, Berlin 2005, S. 1–28. Vgl. Haug, Die höfische Liebe [Anm. 24], S. 46ff.

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Oder ob ich daz welle, daz si groezer sî und sî vil saelic wîp bestê mîn und aller manne vrî. (MF38 XIV, 4, 1–6 / MF 165, 37–166,3)

Die Alternative ist im Grunde nicht echt, denn die Erniedrigung der Dame denunziert sich als Lösung bereits in der Formulierung ihrer Möglichkeit. Die gegensätzlichen Positionen laufen auf eine Erhöhung der Frau durch Abstinenz von allen Männerkontakten hinaus, die nur als Variante des kirchlichen Liebesdiskurses und seines Jungfräulichkeitsideals zu verorten ist. Reinmar montiert diese Norm in das höfische Frauenbild, um daran seine Version des Minnewertparadoxes zu entwickeln. Es liegt der Strophe also eine ›ausbeutende‹ Vereinnahmung des Fremddiskurses zugrunde, aber die Problematisierung der Norm ist im gleichen Atemzug als Distanzierung und Stärkung der neuen innerliterarischen Wertsetzung erkennbar. Die Antithese bleibt schließlich doch als Dilemma stehen, von dem der Sänger im Aufrichtigkeits-Gestus bekennt: siu tuont mir beide wê (4, 7). Eine vierte Konstellation konkurrierender Normbildungen sei zuletzt nur in Form einer Präteritio angeführt. Sie gehört zum Thema und müsste an den Texten entwickelt, literarhistorisch verortet und systematisch differenziert werden. Im schwierigen Feld von Diskursen und Subdiskursen entzündet sich eine Konkurrenz normativer Entwürfe auch unterhalb des höfisch-literarischen Daches zwischen diversen Liebesauffassungen mit ihren normativen Ansprüchen. Es ist auf dieser Stufe der Interdiskursivität eine mehr oder weniger fortgeschrittene Gattungsentwicklung und die Verfügbarkeit differenter lyrischer Register vorauszusetzen. Ein kritisches Stadium der Normkonkurrenz ist sicher bei Berufslyrikern wie Hartmann von Aue und besonders Walther von der Vogelweide erreicht. Durch intertextuelle Anreicherung – das hat Ricarda Bauschke für die Walther-Reinmar-Beziehung analytisch auf den aktuellen Stand gebracht32 – wird hier eine Balance zwischen ästhetischem Spiel mit divergenten Gattungsregistern und einem personalen Bekenntnis inszeniert, das im Grunde als solches eines der der Register bereitstellt. Als weiteres Register meldet sich in Walthers theoretischem Minnelied auch der sangspruchhafte Typus wieder an.33 Normen unterschiedlicher Reichweite und Legitimierung treten nebeneinander auf und beleuchten sich wechselseitig. Das Minnelied profitiert von den Bezügen im Leerraum dazwischen: Neidhart am Horizont. Formales Spiel, das den Wert suspendiert,34 32 33

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Bauschke, Ricarda, Die »Reinmar-Lieder« Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung, Heidelberg 1999 (GRM Beiheft 15). Gute Beobachtungen dazu finden sich im Lyrik-Kapitel der Literaturgeschichte von Johnson, L. Peter, Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70 – 1220/30), Tübingen 1999 (Heinzle, Joachim [Hrsg.], Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 2, Vom hohen zum späten Mittelalter, Teil 1), S. 214–217. Siehe auch Brem, Gattungsinterferenzen [Anm. 5], S. 367–370. Vgl. den Beitrag von Markus Stock in diesem Band sowie ders., Das volle Wort – Sprachklang im späten Minnesang. Gottfried von Neifen, ›Wir suln aber schône enpfâhen‹ (KLD Lied 3), in: Hausmann, Albrecht (Hrsg.), Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von

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oder Normierungen jenseits der subjektiven Paradoxie35 liegen in der weiteren Minnesanggeschichte in der Luft. Ich resümiere: Das Minnelied hat, was ich zuerst etwas zögerlich in den Titel gesetzt habe, tatsächlich ein Normproblem. Es besteht aber weniger in den schwierigen Verhältnissen zu den außertextlich gültigen Lebensordnungen als in der reflektierten literarischen Konstruktion von Normativität. Hugo Kuhn hat darauf verwiesen, als er die Wertkonstitution eines Lust-Wertprinzips als primär artistisch und innerhalb der Gattung kompetitiv kennzeichnete. Sozialgeschichtliche Mentalitäten und kollektive Wunschbilder kommen in dieser ästhetisch konstruktiven Gattung nur gebrochen und vermittelt über Rollenentwürfe, fiktionale Techniken und semantische Operationen zum Zug. Dabei geht es um reflektierte und bewusst polyphon inszenierte Normbildung, um Widerspruchsvolles nebeneinander, um normative Umbesetzungen und, in den avancierten Texten, um eine »ästhetische Wertauffüllung« (Kuhn), die an der Plausibilierung des normativ noch Ausgegrenzten arbeitet.

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Minnesang und antiker Lyrik, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), S. 185–202, hier bes. S. 200–202. Huber, Christoph, Wege aus der Liebesparadoxie. Zum Minnesang Heinrichs von Mügeln im Blick auf Konrad von Würzburg, in: Zywietz, Michael (Hrsg.), Gattungen und Formen des europäischen Liedes vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Internationale Tagung 9.–12. Dezember 2001 in Münster, Münster u.a. 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 8), S. 89–109.

Markus Stock (Toronto)

Autorität und Intensität Normierung und volles Wort bei Gottfried von Neifen und Rudolf von Ems

I. Im 12. Jahrhundert etabliert sich in der deutschen Literatur mit der Gattung des Minnesangs ein Diskussionsfeld, auf dem die vielgestaltige Form höfischer Liebe immer neu inszeniert, akzentuiert und verhandelt wird.1 Als wichtige Äußerungsform tritt dabei die Minnekanzone hervor, in der neben der Liebeswerbung die Reflexion des liebenden Ich über seinen Zustand als dienender, aber von der Dame nicht erhörter Liebender zentral ist. In diesem Feld werden Normen des Liebens diskutiert, soviel lässt sich wohl allgemein festhalten, auch wenn nicht bekannt ist, welchen Status das Gesagte in Relation zum adligen Sozialverhalten hat. In der Tendenz ist diese Lyrik nicht als didaktisch oder gar mimetisch aufzufassen,2 sondern als Beitrag zu einer gemeinschaftlich vollzogenen, kulturell distinguierenden Praxis. Wie das genau ausgesehen hat, ist unklar, sicherlich könnte aber ein multidisziplinärer Ansatz, vor allem unter Einbindung der musikwissenschaftlichen Aufführungsforschung,3 und 1

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Die Gattung prägen eher die offene Verhandlung von Minnemodellen, »die Vielfalt der Aspekte« und die »Fülle von Möglichkeiten« als das Postulat fester Minnepositionen; s. Mertens, Volker, Autor, Text und Performanz. Überlegungen zu den Liedern Walthers von der Vogelweide, in: Dauven-van Knippenberg, Carla / Birkhan, Helmut (Hrsg.), ›sô wold ich in fröiden singen‹. Festschrift für Anthonius H. Touber, Amsterdam, Atlanta 1995 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 43/44), S. 379–397, hier S. 383–386 (Zit. S. 386), und, für den minnebezogenen Sangspruch, Egidi, Margreth, Höfische Liebe: Entwürfe der Sangspruchdichtung. Literarische Verfahrensweisen von Reinmar von Zweter bis Frauenlob, Heidelberg 2002 (GRM Beiheft 17). Vgl. Bumke, Joachim, Liebe und Ehebruch in der höfischen Gesellschaft, in: Krohn, Rüdiger (Hrsg.), Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, München 1983, S. 25–46; Hausmann, Albrecht, Die ›vröide‹ und ihre Zeit. Zur performativen Funktion der Inszenierung von Gegenwart im hohen Minnesang, in: Hausmann, Albrecht (Hrsg.), Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), S. 165–184. An Mahnungen dazu hat es von musikwissenschaftlicher Seite nicht gefehlt; z.B. Binkley, Thomas, Rez. Mahon, James W., The Music of Early Minnesang, in: Speculum, 67/1992, S. 723–725, hier 723: »I must say to my colleagues in Germanic studies, do consider the music, do contemplate reception of the imagined (or real) sound of performed song, do permit the verses to speak with yet another language, that of music.« Zu den Wechselwir-

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Markus Stock

die verstärkte Auswertung bildlicher Quellen4 noch weiteren Aufschluss liefern. In der engeren germanistischen Performanzdebatte lassen sich jedenfalls gewisse Ermüdungserscheinungen registrieren, da ihr die empirischen Grundlagen weitgehend fehlen.5 So findet man Spuren von Resignation: Als »fashionable yet often quite sclerotic«6 hat Michael Curschmann vor einigen Jahren das germanistische Konzept von Performanz als einem Hauptmodus mittelalterlicher literarischer Produktion und Rezeption charakterisiert. Wie aber immer die Situation der Sozialform Minnesang zu modellieren wäre, es besteht kein Zweifel daran, dass sie, selbst im kleinsten Kreis, als gesungene Lyrik (oder auch nur: als zum Sang bestimmte und als solche imaginierte Lyrik) gemeinschaftsstiftend und gleichzeitig abgrenzend war. In beidem, dem Verbindenden nach innen und dem Exklusiv-Ständischen, kommt das normative Element vor allem zum Tragen, wobei Minnesang ein kleiner Teil eines viel größeren Apparats adligen Distinktionsverhaltens ist: Hochmittelalterliche höfische Kultur und höfische Liebe bedeutete, so die These von James Schultz, das Höfische zu lieben, ›Aristophilia‹,7 also distinguierende Liebe des ständisch Distinktiven. Die Autorität, die hinter jeder Normsetzung steht, stehen muss, ist aber in dieser Kultur und speziell in Minnesang und Spruchdichtung überraschenderweise nicht unbedingt an die soziale Stellung des Sprechers bzw. Sängers gebunden: Vom höchsten Adligen bis zum sozial marginalisierten Fahrenden kann jeder, anscheinend mit gleicher Autorität, über Minne singen. Autoritätsstiftend scheint der Vortragsort zu

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kungen von Wort und Klang jetzt Diehr, Achim, Literatur und Musik im Mittelalter. Eine Einführung, Berlin 2004; Kandler, Johannes, ›Gedoene ân wort daz ist ein tôter galm‹. Studien zur Wechselwirkung von Wort und Ton in einstimmigen Gesängen des hohen und späten Mittelalters, Wiesbaden 2005 (Elementa musicae 5); zum Verhältnis von Manuskript, Notation und Klang Mertens, Volker, Visualizing Performance? Music, Word, and Manuscript, in: Starkey, Kathryn / Wenzel, Horst (Hrsg.), Visual Culture and the German Middle Ages, New York, Basingstoke 2005, S. 135–158. Dies fordert etwa Curschmann, Michael, Rez. Dobozy, Maria, Re-Membering the Present: The German Poet-Minstrel in Cultural Context, in: Speculum, 81/2006, S. 1181–1183, hier S. 1183; zum Bildmaterial s. Tammen, Björn R., Musik und Bild im Chorraum mittelalterlicher Kirchen 1100–1500, Berlin 2000 (geistliche Musik), und Lustig, Monika / Tammen, Björn R. (Hrsg.), Ikonographische Zeugnisse zu Musikinstrumenten in Mitteleuropa, Michaelstein 2000 (Michaelsteiner Konferenzberichte 58). Die Probleme werden in der Debatte zwischen Jan-Dirk Müller und Albrecht Hausmann angesprochen; s. Müller, Jan-Dirk, Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar, in: Bloh, Ute von / Schulz, Armin (Hrsg.), Müller, Jan-Dirk, Minnesang und Literaturtheorie, Tübingen 2001, S. 209–231; Hausmann, Albrecht, Wer spricht? Strategien der Sprecherkonstituierung im Spannungsfeld zwischen Sangspruchdichtung und Minnesang, in: Egidi, Margreth / Mertens, Volker / Miedema, Nine (Hrsg.), Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder, Frankfurt/M. 2004, S. 25–43. Curschmann, Rez. Re-Membering [Anm. 4], S. 1183. Schultz, James, Courtly Love, the Love of Courtliness, and the History of Sexuality, Chicago, London 2006, S. 79–98.

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sein, der Hof, in dessen Rahmen auch ein Fahrender geachteter Minnesänger sein kann, trotz seiner sozial unter Umständen prekären Stellung, welche von Maria Dobozy noch einmal an historischen Quellen vorgeführt wurde.8 Autoritätsstiftend ist aber auch die Meisterschaft. Das hat Hugo Kuhn hervorgehoben, als er die artistische Meisterschaft als standesunabhängiges Distinktionsmerkmal beschrieben hat.9 Es wäre aber wohl ein Missverständnis, darin eine Autonomisierungstendenz des literarischen Diskurses zu sehen, der sich von ständischen Gegebenheiten unabhängig mache: dagegen spricht schon die prägende Rahmenfunktion der Institution Fürstenhof. Es ist diese Rahmenfunktion, die vor allem das Attribut ›höfisch‹ begründet: der Hof als konkreter Ort des Kulturvollzugs10 und als Sinnform, in der auch unwahrscheinlichste Ausprägungen des neuen Liebesverständnisses stabilisiert werden konnten und die Meisterschaft des Minnesangs zum distinguierenden Faktor erhoben werden konnte. Diese neue Sinnform, die in der Liebe zum Höfischen gründete, lässt sich eigentlich nur als kontrafaktisch denken und wird daher beständig mit der »Notwendigkeit sinnhaft-selbstreferentieller (autopoietischer) Reproduktion«11 konfrontiert gewesen sein, die nur durch Ausbildung sinnimmanenter Generalisierungen gewährleistet werden konnte: solche Generalisierungen sind die Leid-, Schmerz- und Dienstsemantik des Minnesangs und auch die enge Verbindung des ›Höfischseins‹ mit einer spezifischen und komplexen Semantik ›höfischer‹ Liebe. Der Wert solcher Normierung für die höfische Kultur lässt sich unter Rückgriff auf Niklas Luhmanns allgemeine Beobachtung zu sozialen Systemen genauer fassen: Die Funktion von Normierung besteht laut Luhmann darin, »Generalisierungen abzustützen, wo sie riskant und enttäuschungsanfällig werden. […] Sie wird in Anspruch genommen, und Normen werden entwickelt in dem Maße, als kontrafaktisch behauptenswerte Generalisierungen benötigt werden.«12 Die volkssprachliche höfische Literatur hatte Anteil an diesen Generalisierungen und den sie stützenden Normierungen, und zwar sowohl explizit-definitorisch wie auch als Diskurs, in dem die latent-selbstregulativen Prozesse offenbart, idealisiert, affirmiert, reflektiert und (mitunter polyphon) diskutiert wurden. Die Kulturteilnehmer banden sich an die kontrafaktischen Generalisierungen der höfischen Kultur, und die höfische Literatur bildete eigene Techniken aus, um der Normierung dieser

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Dobozy, Maria, Re-Membering the Present. The German Poet-Minstrel in Cultural Context, Turnhout 2005 (Disputatio 6), S. 3–195. Kuhn, Hugo, Determinanten der Minne, in: Walliczek, Wolfgang (Hrsg.), Kuhn, Hugo, Liebe und Gesellschaft, Stuttgart 1980, S. 52–59. Zum Begriff des Vollzugs s. Kuhn, Hugo, Zur Deutung der künstlerischen Form des Mittelalters, in: ders., Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 1–14. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 6. Aufl., Frankfurt/M. 1996, S. 444. Ebd.

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riskanten Generalisierungen Autorität zu verleihen: bestimmte Rollen oder »Posen«13, bestimmte Erzählerhaltungen und bestimmte rhetorische Techniken. Entscheidend in der präsentischen höfischen Kultur dürfte gewesen sein, dass eine anwesende Person für diese Normierung buchstäblich ›einstand‹, mit ihrer Stimme und körperlichen Präsenz. Die Vokalkunst Minnesang erfährt daher – trotz der oben angesprochenen Ermüdungserscheinungen – aus mediengeschichtlicher Perspektive eine immer größere Forschungskonjunktur: nicht nur als performative Kunst im Sinne von Vortragskunst, sondern auch als performative Kunst, in der die Stimme ein Medium ist, das »Präsenzeffekte« erzeugt, aber gleichwohl selbstverständlich auch an das wichtigste semiotische System höfischer Kultur, die Sprache und ihre »Sinneffekte«, angebunden bleibt.14 So ist Minnesang höfisches Zusammenspiel von körperlicher Präsenz und Zeichenhandeln in Sprache und anderen semiotischen Systemen. Zu Recht sieht man zunehmend in diesem Zusammenspiel von Körperlichkeit sowie Sinneswahrnehmung auf der einen Seite und Sinnstiftung sowie -deutung auf der anderen eine Grundbedingung mittelalterlicher höfischer Literatur.15 Die zentrale Frage dieses Beitrags zielt also auf die Generalisierungen höfischer Kultur, wie sie im Minnesang ›vollzogen‹ werden. Dabei geht es mir genauer um das Zusammenspiel von Körperlichkeit auf der einen und Sinndeutung auf der anderen Seite, und im Zusammenhang mit Körperlichkeit speziell um den in der Aufführung erzeugten Klang der Stimme und seine Wirkung. Zwar liegt die musikalische Aufführungspraxis weitgehend im Dunkeln, aber der überlieferte Text weist auf dominante rhetorische Techniken hin, die sich im Hinblick auf diesen entscheidenden Zusammenhang nutzbar machen lassen. Die Frage ist schlicht, aber methodisch problematisch: Ist die Autorität des Minnesangs, mit der er seine Generalisierungen abstützt, auch an Sprachklangeffekte gebunden? Ich führe damit Gedanken fort, die darauf zielen, den sogenannten formalistischen späteren Minnesang, vor allem das Korpus Gottfrieds von Neifen in der Manessischen Liederhandschrift, neu zu bewerten.

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Haferland, Harald, Minnesang als Posenrhetorik, in: Hausmann/Logemann/Rode (Hrsg.), Text und Handeln [Anm. 2], S. 65–105. Zu »Präsenzeffekt« und »Sinneffekt« s. Gumbrecht, Hans Ulrich, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt/M. 2004, S. 111–154, bes. S. 127f. Gumbrecht, ebd., S. 127, spricht von einem »Oszillieren zwischen Präsenzeffekten und Sinneffekten«; s. auch Lechtermann, Christina, Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 191); laut Largier, Niklaus, Die Kunst des Begehrens. Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese, München 2007, S. 175 Anm. 48, ist diese Oszillation »für das Verständnis mittelalterlicher Spiritualität und Ästhetik – gerade auch unter dem Aspekt der longue durée – von grundlegender Bedeutung«.

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II. Thematisch beziehen sich die Minnelieder Gottfrieds von Neifen auf das gerade erwähnte Diskussionsfeld höfischer Liebe. Während andere Korpora des 13. Jahrhunderts weitere Diskurs- und Gattungstraditionen einbeziehen und neue stiften, verbleibt die überwiegende Zahl der Lieder Gottfrieds thematisch im Konventionellen. Hervorgehoben und zunehmend in ihrer Bedeutung gewürdigt wird Neifens formale Kunst: bereits Kuhns Minnesangs Wende hat zu dieser vergleichsweise wertfreien Einschätzung beigetragen.16 Franz Josef Worstbrock, Thomas Cramer und Burghart Wachinger haben diesen Weg weiter beschritten.17 Als formalistisch und inhaltsarm gelten Gottfrieds Lieder freilich weiter, mit allen impliziten Werturteilen, die eine solche Qualifikation mit sich bringt. Der Überlieferungsbefund allerdings weist Gottfrieds Lieder wenigstens für einen bestimmten Rezipientenkreis als wertvoll aus; der Befund scheint damit einer ästhetischen Einstellung nicht zu entsprechen, welche die Abweichung vom Erwartbaren höher wertet als die Iteration und Intensivierung des Bekannten. So ist Vorsicht geboten, was Urteile über dieses Korpus angeht, das zudem prägend für die formalistische Spielart des späteren Minnesangs war. Gottfried von Neifen ist zwar fast ausschließlich in der Manessischen Liederhandschrift überliefert, das Korpus, 190 Strophen in 51 Liedern und Liedfragmenten, ist aber bedeutend, noch bedeutender, wenn man das von Gisela Kornrumpf und FranzJosef Holznagel beschriebene ursprüngliche Kernstück der Sammlung besieht, wo trotz Blattverlusts mehr als die Hälfte der Strophen unter Gottfried von Neifen fallen.18 Es ist gleichgültig, ob man diesen ›Kern‹ als selbständige Sammlung oder als erste Schicht der Überlieferung begreift:19 der Befund macht deutlich, dass ein besonderes Interesse an Liedern bestand, die man unter Gottfrieds von Neifen Namen stellen konnte. Die Wirkung zeigt sich auch in den vielen teils anonymen Nachahmungen (man muss nur oberflächlich die Anonyma in KLD durchsehen, um

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Kuhn, Hugo, Minnesangs Wende, 2., vermehrte Aufl., Tübingen 1967 (Hermaea N.F. 1). Worstbrock, Franz Josef, Lied VI des Wilden Alexander, in: PBB, 118/1996, S. 183–204; Cramer, Thomas, Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik, Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 148); Wachinger, Burghart (Hrsg.), Lyrik des späten Mittelalters. Höhepunkte deutscher Lieddichtung aus zwei Jahrhunderten, Frankfurt/M. 2006 (Bibliothek des Mittelalters 22), S. 693f. Kornrumpf, Gisela, Die Anfänge der Manessischen Liederhandschrift, in: Honemann, Volker / Palmer, Nigel F. (Hrsg.), Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen 1988, S. 279–296; Holznagel, Franz-Josef, Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik, Tübingen, Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 32), S. 170, weist auf die »sehr großzügig eingetragenen Lieder Gottfrieds von Neifen« hin und vermutet, dass ursprünglich vielleicht noch mehr Blätter zum Eintragen weiterer Neifen-Lieder freigehalten wurden (ebd., S. 166). Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit [Anm. 18], S. 170.

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dies zu erkennen20), und so ist es wahrscheinlich, dass im Rahmen des unbedingten Autorprinzips der Manessischen Liederhandschrift unter Umständen auch anonyme, typkonforme Lieder dem Gottfried-Korpus zugeschlagen wurden. Wenn ich in der Folge also von den Liedern Gottfrieds von Neifen spreche, dann meine ich immer das Gottfried-Korpus, ohne ein emphatisches Autorkonzept. Ein charakteristischer Zug dieses formalistischen späteren Minnesangs ist, dass er stärker als andere Minnelieder die klangliche Wirkung, die stimmliche Dimension auszuspielen scheint. Ich knüpfe hier an Überlegungen an, die ich in Fortentwicklung von Thesen Hugo Kuhns und Paul Zumthors zur Vokalität der Lieder Gottfrieds von Neifen, am Beispiel seines Liedes Wir suln aber schône enpfâhen (KLD Lied 3), formuliert habe.21 Ein wichtiges Charakteristikum dieser Spielart des späteren Minnesangs besteht darin, dass sie zentrale Generalisierungen nicht im Rahmen minnesängerischer ›Subjektivität‹22 aushandelt. Fundament ihrer Sinnstiftung ist vielmehr die Montage von konventionellen Begriffen. Mit Kuhn kann man im durch Binnenreime und andere sprachkünstlerische Mittel hervorgehobenen Leitwort selbst das Sinnfundament der Neifenschen Liedkunst sehen.23 Zwei Aspekte dieser Kunst ließen sich vor allem von dieser grundsätzlichen Beobachtung ausgehend stärker beleuchten, beide gleichermaßen lohnend. Zum einen treibt die Wortkunst der Neifen-Lieder diese dem »Diesseits der Hermeneutik« zu.24 Wortwiederholung und Klangeffekt scheinen auf Effekte des Präsentischen zu zielen, auf eine Form der Rezeption, in der Unmittelbarkeitseffekte und ästhetisches Intensitätserleben gegenüber dem hermeneutisch-verstehenden Entschlüsseln dominieren.25 Die fundierende Wortkunst kann so zum scheinbar unmittelbaren Ausdruck 20

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Kraus, Carl (Hrsg.), Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, Bd. I, Text, 2. Aufl. durchgesehen von Kornrumpf, Gisela, Bd. II, Kommentar, besorgt von Kuhn, Hugo, 2. Aufl. durchgesehen von Kornrumpf, Gisela, Tübingen 1978 (zit. KLD), Bd. I, S. 264 (Namenlos: El), S. 279–291 (Namenlos: n, p und s). Stock, Markus, Das volle Wort: Sprachklang im späteren Minnesang. Gottfried von Neifen, ›Wir suln aber schône enpfâhen‹ (KLD Lied 3), in: Hausmann (Hrsg.), Text und Handeln [Anm. 2], S. 185–202; Kuhn, Minnesangs Wende [Anm. 16]; Zumthor, Paul, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, aus dem Französischen von Klaus Thieme, München 1994 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 18); s. auch ders., La lettre et la voix. De la littérature médiévale, Paris 1987. Hausmann, Albrecht, Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen/Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), S. 181, zum ›subjektiven‹ Ethos des Reinmarschen Minnesangs. Kuhn, Minnesangs Wende [Anm. 16]. Gumbrecht, Diesseits [Anm. 14]. Die Intensität des ästhetischen Erlebens wird als Kategorie in der Mediävistik zunehmend gewürdigt; neben Gumbrecht, Diesseits [Anm. 14], Lechtermann, Berührt werden [Anm. 15], Largier, Kunst [Anm. 15], s. auch Waltenberger, Michael, ›Diß ist ein red als hundert‹. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede ›Der rote Mund‹, in: Wenzel, Horst / Jaeger, C. Stephen (Hrsg.), Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen

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von Gefühl selbst werden, erschließbar etwa im Schmerzausdruck in einigen Liedern Gottfrieds von Neifen.26 Ein zweiter Aspekt ist die autoritätsstützende Funktion dieser Wortkunst. Darum soll es im Folgenden gehen. Mit Bedacht habe ich dabei ein Lied Neifens ausgewählt (KLD Lied 23), in dem sich mehrere Modi durchaus konventioneller Strategien der Autoritätsstützung nachweisen lassen, nämlich nicht nur die gerade umrissene Formkunst, sondern auch die in Minnesang und minnebezogenem Sangspruch etablierte Sänger-Rolle, die Autorität durch Weltwissen und Präsentationsmeisterschaft erzeugt.27 Auch der für Neifen typische, konventionelle Natureingang lässt sich in dieser Perspektive neu betrachten. Der Text folgt der Manessischen Liederhandschrift (C) und ist normalisiert. In der weiterhin dringend revisionsbedürftigen Ausgabe des späteren Minnesangs, KLD, ist die Anordnung der Strophen verändert: Carl von Kraus hat die drei letzten Strophen vorgezogen. Er begründet das mit einer angeblich klareren inhaltlichen Struktur und der Vermutung, dass diese drei Strophen nachgetragen worden seien, eigentlich aber zwischen Strophe I und II des überlieferten Liedes gehörten.28 Diese These beruht auf der Beobachtung, dass Nachträge für C nicht unüblich sind und dass nachgetragene Strophen nicht notwendig ans Ende des bereits eingetragenen Liedes gehören. Immer können solche identifizierten Nachträge auch Zeugnis einer durch Mouvance verursachten Fassungsvarianz sein. Es gibt hier allerdings gar keinen Grund, an Nachträge zu denken. Graphische Signale, die darauf hindeuten könnten, etwa in Schriftbild oder Fleuronné-Organisation, gibt es nicht. Die deutliche inhaltliche und rhetorische Zäsur zwischen Strophe III und IV reicht ebenfalls nicht aus, eine Umstellung zu begründen, denn sie würde genauso für eine Struktur des Liedes sprechen, wie es in C überliefert ist. Die inhaltlichen Argumente sind aufgrund der losen Verknüpfung der Strophen nicht ausreichend, um eine Umstellung gegen die Überlieferung zu begründen. Vor allem aber spricht dagegen, dass im Gottfried-Korpus regelmäßig nur Platz für Nachträge gelassen wurde, um auf eine Strophenzahl von Fünf zu kommen, nicht aber für Ergänzungen, die, wie hier, zu einem sechsstrophigen Lied führen würden. Daher scheint ein Nachtrag wenig wahrscheinlich.29

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Bildern und Texten, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 248–274. Waltenberger (S. 253 Anm. 9) beobachtet in dieser Wendung zu Recht die Gefahr der ›Substantialisierung‹ und ›Subjektivierung‹, die Gumbrecht in seinem Buch selbst durch den betont autobiographisch-subjektiven Duktus gleichzeitig eingestehe und auffange. In Gottfrieds von Neifen Seht an die heide (KLD Lied 20) etwa nehmen wunde und wunt Leitwortcharakter an, so dass minnesängerischer Schmerz, der lange wernde pîn (III, 20), über Wortwiederholung als dauernd erneuert dargestellt und klanglich betont wird. Dazu Egidi, Höfische Liebe [Anm. 1]. KLD II [Anm. 20], S. 119. Ähnlich bereits de Jong, Cornelia Maria, Gottfried von Neifen. Neuausgabe seiner Lieder und literarhistorische Abhandlung über seine Stellung in der mittelhochdeutschen Literatur, Amsterdam 1923, S. 192, die, genau wie vorher Haupt, die Ordnung von C beibehält;

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Allerdings ist die sechsstrophige Form für das Neifen-Korpus unüblich; in der Tat ist dies das einzige unter Gottfried von Neifen überlieferte sechsstrophige Lied. Gottfried von Neifen: Nu siht man aber die heide val (C 96–101; KLD Lied 23) I (C 96; KLD 1) Nu siht man aber die heide val, nu siht man valwen grüenen walt. nu hœrt man niht der kleinen voglîn singen, diu sint geswigen überal: ir stimme diu was manicvalt. die nahtegal, die wil der winter twingen. der nôt klage ich und dâ bî mîne swære, die mir diu herzeliebe tuot. dâ von sô bin ich ungemuot. nu ist si doch guot, diu liebe unwandelbære. I, 4 die C; vber al C; 10 v gestrichen vor nu C.

II (C 97; KLD 5) Wâ wart ie herzen mê sô wol, dan dâ zwei sendiu herzen sint einmüetic nâch der süezen minne willen? si sint sô tougen fröiden vol, doch machet si diu minne blint, si kan in beiden herzeleit wol stillen. si fröiwent sich besamen und niht besunder. swâ herzeliep bî liebe lît, daz wunnebernde fröide gît, dast âne strît, dâ tuo diu minne ein wunder. III (C 98; KLD 6) Sît daz diu minne wunder kan, warumbe tuot si wunder niht an mir und an der minneclîchen süezen? nû bin ich doch ir dienestman, swie man mich in dien sorgen siht. daz mac diu minneclîche mir wol büezen. vil hêriu minne, twinc die fröidenrîche, daz si niht gar in wunnen swebe, ê daz si mir ir hulde gebe. die wîle ich lebe, ich diene ir eigenlîche.

Haupt, Moriz (Hrsg.), Die Lieder Gottfrieds von Neifen, Leipzig 1851. Beide greifen allerdings in den Wortlaut ein; so bleibt nur der Weg zurück zur Handschrift.

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IV (C 99; KLD 2) Wâ wart ie mündelîn sô rôt, wart ie baz gestalter lîp? wâ wurden ie sô frœlîch stêndiu ougen, diu mich hânt brâht in grôze nôt? genâde, minneclîchez wîp, ach hete ich iuwer süeze minne tougen! nu wizzent, daz ich gerne bî iuch wære. genâde, rôsevarwer munt, wan machest dû mich niht gesunt? sprich zeiner stunt: »ich wil dir büezen swære.« IV, 3 wrden C.

V (C 100; KLD 3) Nu lache, daz ich frô bestê, nu lache, daz mir werde wol, vil rôter munt, nu lache lachelîche, nu lache, daz mîn leit zergê, so wirde ich sender fröiden vol. nu lache, daz mir ungemüete entwîche, nu lache, daz mîn sendiu sorge swinde, nu lache mich ein wênic an, sît ich dir niht entwenken kan, ich sender man, sît ich dich lieplîch finde. V, 9 entwenchen verbessert aus entwichen, wobei -ch- stehenblieb (KLD).

VI (C 101; KLD 4) Einmüetic dast ein lieplîch wort, einmüetic dast der minne gir, einmüetic sendiu herzen fröide lêret, einmüetic dast der liebe ein hort, swie doch diu minneclîche mir mit wîbes güete selten fröide mêret. einmüetic mange süeze fröide machet, einmüetic fröit ze maniger stunt, einmüetic dast ein lieplîch funt, swâ rôter munt gegen liebe lieplîch lachet. VI, 2 dast (KLD)] das C; 4 liebi C; 7 fruede C.

Die formale Vernetzung des Liedes ist sehr deutlich: grammatische Reime, Leitworte und Wortwiederholungen sind durchaus, vor allem in den Strophen V und VI, dominant. Das Lied weist eine Grundspannung zwischen dieser Formalkunst und einer

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vergleichsweise einfachen argumentativen Struktur auf. Im überlieferten Lied lassen sich drei Abschnitte ausmachen, in denen Unterschiede in den rhetorischen Sinnstiftungstechniken deutlich werden. Auch sind sie geprägt durch unterschiedliche, addierte Strategien der Autoritätssicherung. Der Natureingang ist generisches Element der Lyrik Neifens. Aufgrund seiner Konventionalität wird er oft übergangen, zumal er nicht – wie in den Liedern Burkharts von Hohenfels und Ulrichs von Winterstetten – zusätzliche poetologischgelehrte Dimensionen aufweist.30 Doch gerade in seiner beinahe austauschbaren schematisch-generischen Form transportiert der Natureingang bei Neifen normative Generalisierungen. Hugo Kuhn erklärt diese Funktion in Minnesangs Wende, indem er betont, »daß die Minne nun, mit der neuen Voranstellung des Natureingangs, selber wieder ›objektiver‹ gesehen ist, wie in der Frühzeit, allgemeinen Stimmungslagen zugeordnet – nicht mehr in die ›persönliche‹ Leistung der Konvention isoliert wie in der klassischen Entwicklung. Daß der Natureingang – nachdem er bei Hartmann, Reinmar, Morungen zurückgetreten war – im 13. Jahrhundert so plötzlich wieder da ist und sogleich fast zum Gesetz wird – das zu verstehen, braucht es also keine weit hergeholten Parallelen. Es liegt im Zuge der allgemeinen Objektivierung der mittelalterlichen Form um diese Zeit.«31

Jahreszeitentopoi im Minnesang weisen, so Ludger Lieb, ein eigenes »Verbindlichkeitspotential« auf und werden als »habituelle Legitimation« eingesetzt.32 Hier liegt auch der normative Kern des Neifenschen Natureingangs. Der Eingang von Neifens Nu siht man aber die heide val beschwört den drohenden Wintereinbruch, der – auch dies konventionell – als Verlust von visuellen (val, valwen) und klanglichen Frühlingszeichen beschrieben wird. Dem Wintereinbruch entspricht die Liebesnot des Ich. Das Verstummen der Vögel, das Erinnern an ihre vielfältigen Stimmen, bereitet aber gleichzeitig der Formkunst der späteren Strophen (IV–VI) die Bühne: der Sänger singt nicht nur vom Klangverlust, sondern seine stimme füllt die Leere. Die Beschreibung der ›objektiven‹, von der Allgemeinheit erfahrbaren Jahreszeit findet ihre ›objektive‹ Entgegnung im Klang der Stimme, der in der Formkunst der späteren Strophen seine exuberante Steigerung erhält. Es ist deutlich, dass diese für Neifen charakteristische Verbindung der formalen Wortkunst

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Zu Burkhart von Hohenfels s. Fechter, Werner, Lateinische Dichtkunst und deutsches Mittelalter. Forschungen über Ausdrucksmittel, poetische Technik und Stil mittelhochdeutscher Dichtungen, Berlin 1964 (Philologische Studien und Quellen 23), S. 90–106; präzisierend dazu die Rezension von Worstbrock, Franz Josef, in: AfdA, 76/1965, S. 160–167, hier S. 163f.; zu Ulrich von Winterstetten s. Cramer, Waz hilfet [Anm. 17], S. 159–188. Kuhn, Minnesangs Wende [Anm. 16], S. 74. Lieb, Ludger, Der Jahreszeitentopos im ›frühen‹ deutschen Minnesang. Eine Studie zur Macht des Topos und zur Institutionalisierung der höfischen Literatur, in: Schirren, Thomas / Ueding, Gert, Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000, S. 121–142, hier S. 141.

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und des Natureingangs mehr ist als formalistische Kombinatorik: diese Verbindung unterstreicht die allgemeine Gültigkeit des Gesagten und stützt die Autorisierung des Liedes. Doch auch mit den eher spruchhaften Strophen II und III steht der Natureingang in Verbindung. Strophe II weist eine minnebezogene Regel als allgemein gültig aus. Die Regel wird in Strophe III in Werbungsrhetorik überführt: Wenn diese Minneregel für alle gilt, so das Argument, warum dann nicht für den dienenden Sänger? Auch der spruchhafte Gestus dieser nächsten Strophen bezieht Autorität aus der Konvention. Im Spruchdichtergestus wird die behauptenswerte Generalisierung formuliert, die sodann, wenngleich nur kurzzeitig, auf den eigenen Fall angewendet wird. Das ist aber kein Übergang zu einem subjektiven Liebesentwurf, sondern selbst diese Anwendung auf den ›eigenen‹ Fall hat in der Formulierung der Dienstbereitschaft nichts Spezielles – Minnesangkonvention auch hier. Im Verlauf des Liedes nimmt die Formkunst stark zu,33 und es ist vielleicht nicht zu hoch gegriffen, wenn man in dieser Zunahme eine rhetorische Strategie sieht. In II fällt zum ersten Mal das Wort, das im späteren Abschnitt des Liedes zum Leitwort wird: einmüetic. In diesem spruchartigen Teil des Liedes ist es zunächst Signalwort in einem Diskussions- und Werbungszusammenhang: Dass zur Minne zwei gehören, etwa bei Walther von der Vogelweide sorgsam entwickelte Position in einer Minnedefinition oder zumindest Position in einem Werbungszusammenhang, wird hier in einem Wort, einmüetic, konstatiert. Es scheint unbezweifelbar, dass Walthers Position im Hintergrund dieses Liedes steht. Bezieht man aber den letzten Teil des Liedes ein, dann werden die Unterschiede der formalen Technik schnell offenbar. Bei Gottfried von Neifen entsteht aufgrund dieser Technik ein völlig anderer semantischer Effekt. Das Wort selbst, nicht die Argumentation, steht im Mittelpunkt. Einmüetic wird in II, 3 – durch das Enjambement stark betont – eingeführt. Es hat Leitwortcharakter für die letzte und entscheidende Strophe (VI) und wird dort nicht nur durch die anaphorische Wiederholung, sondern auch durch die dadurch entstehende Spannung zum Endreim stark betont. Die erwünschte Minnevorstellung wird also nicht in ihrem Sinn durch ein Ich reflexiv für das Publikum erschlossen, wie das etwa im Minnesang Reinmars der Fall ist.34 Den Zugriff auf die zentralen Generalisierungen des minnesängerischen Liebesentwurfs leistet die Montage von konventionellen Ausdrücken mit gegebener, stabiler, ›objektiver‹ Bedeutung. In diesem Verfahren wird nicht an den zentralen Themen gearbeitet, und diese werden nicht dynamisch ausge-

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Zu beobachten ist eine allgemein starke Zunahme der Anaphern und Wiederholungsfiguren in IV–VI; durch Wortresponsionen sind zudem verbunden II–III (wunder), IV–V (munt) und V–VI (lieplîch); Wiederholungen schaffen auch Vernetzungen über die Abschnitte hinweg: Wâ wart am Anfang von II und IV; nu-Anaphern in I und V; Reim(wort)responsionen in I, 7/11 und IV, 7/11, dasselbe in IV, 8–10 und VI, 8–10. Hausmann, Reinmar der Alte als Autor [Anm. 22].

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handelt. An die Stelle der Reflexion tritt die fundierende Kraft des Wortes selbst; an anderem Ort habe ich das als das »volle Wort« des späteren Minnesangs bezeichnet.35 Wie verhält sich dies zum normativen Gehalt dieses Minnesangs? Wenn wir diese Kunst als performative begreifen, dann kann zwar die stetige Wiederholung gleicher Inhalte und Inhaltsbrocken zu einer semantischen Entleerung führen, würde aber in der sich stetig erneuernden Praxis des Vortrags nicht unbedingt an kultureller Signifikanz verlieren.36 Sicherlich aber ließe die Iteration thematischer Muster das Gottfried-Korpus am normativen Kern des etablierten Minnesangs teilhaben. Die Situation dieser Texte im Vortrag des Liedes vor einem kleineren oder größeren Publikum, der gemeinschaftliche Vollzug, die Art, in der die Texte über Lexik und Symbolik Anschluss finden an adlige Praxis, all dies sorgt für eine Übersteigung von textueller Sinnkonstitution hin zu einem allgemeineren adligen Kultur- und Selbstentwurf, in dem Minne als höfische ›ars‹ kulturelle Valenz genießt. Ich würde nicht unbedingt davon ausgehen, dass das vermehrte Auftreten von Gegensang, dörperlichem Sang und anderen Anti-Veranstaltungen ein Anzeichen für einen Bankrott der Gattung selbst ist. Wiederholung und Klischeehaftigkeit, die man Gottfrieds Liedern sicher zuschreiben kann, scheinen eher die kulturelle Virulenz des Musters zu untermauern als zu widerlegen. Daneben wird immer wieder der lächelnde weibliche Mund betont. Er nimmt inhaltlich eine zentrale Stellung ein und wird durch die Leitworttechnik auch formal hervorgehoben. Seine Erwähnung ist konventionelles Element der lateinischen und deutschen Liebeslyrik des Mittelalters.37 Bei Neifen ist er Kennmarke und verkörpertes Zentrum der Liebeskonzeption. Die Konzentration auf den roten Mund ist bei ihm zudem eine Art Markenzeichen38, das, wie ein Lied des Talers belegt, auch von Dichterkollegen rezipiert wurde.39 Selbstverständlich lauert in dieser Konzentration auf den Mund die Transgression; das ist kein Spezifikum der Neifenschen Lyrik, 35

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Stock, Das volle Wort [Anm. 21]. Mit dem Begriff einer »Poetik der Wiederholung« nähert sich Ludger Lieb ähnlichen Fragen; Lieb, Ludger, Eine Poetik der Wiederholung. Regeln und Funktionen der Minnerede, in: Peters, Ursula (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1400, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 506–528, hier S. 515. Wie Lieb herausstellt, sollen in Minnereden die Rezipienten »jenseits von hermeneutischer Arbeit […] vom Klang vertrauter und sinnverheißender Worte fasziniert werden.« Mithilfe »der entsemantisierenden Wiederholungsfunktion« soll »die Macht und Kraft der Minne selbst« erfahrbar gemacht werden. S. dazu auch Liebs Studie zur »Poetik der Wiederholung« in Minnereden [Anm. 35]. Zum roten Mund und der Kunst der Übertreibung s. Köbele, Susanne, Die Kunst der Übertreibung. Hyperbolik und Ironie in spätmittelalterlichen Minnereden, in: Lieb, Ludger / Neudeck, Otto (Hrsg.), Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden, Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte N.F. 40), S. 19–44. Ebd., S. 28. Der Taler, Lied SM 3, in: Schiendorfer, Max (Hrsg.), Die Schweizer Minnesänger, nach der Ausgabe von Karl Bartsch, Bd. I, Tübingen 1990, S. 277f.

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sondern der deutschen und lateinischen Liebeslyrik des Mittelalters inhärent. Denn allen Sublimationstheorien ist entgegenzuhalten, dass Berührung, Kuss, Vereinigung im Hintergrund aller erotischer Literatur stehen. Daher drängt sich der lächelnde und damit Zustimmung anzeigende Mund der Dame, der zudem noch an erwünschter erotischer Handlung beteiligt sein kann, als zentraler Beschreibungs- und Zielpunkt geradezu auf. Aus dem konventionellen Automatismus wird auch dieses Motiv durch die Kraft des Wortes geholt: die iterierte Aufforderung zum Lächeln und verbalen Huldbeweis ist ja nicht nur rhetorische Persuasionsstrategie in der Liebeswerbung, sondern dient auch der Intensivierung des Klangeindrucks. Gilt hier aber: sinnlich wahrnehmbare Klangintensität und normative Autorität sind äquivalent? Eine Art von Steigerung der ohnehin für den Minnesang geltenden Regel, dass in der minnesängerischen Liebeskonzeption Sangkompetenz und Liebeskompetenz in eins fallen? Wäre dem so, läge hier die hauptsächliche methodische Herausforderung der Lieder, aber wohl auch eine Art Leitsignatur des späteren formalistischen Minnesangs.

III. Vielleicht hilft es, wenn man in dieser Sprachkunst nicht so sehr eine gattungsinhärente Eigenheit als vielmehr einen gattungsübergreifenden »mode« erkennt, um Alastair Fowlers Dichotomie aufzugreifen, die er in seinen Kinds of Literature formuliert hat.40 Dies scheint grundsätzlich möglich, da die Epik parallele, fürs 13. Jahrhundert als stiltypisch angesehene Verfahren aufweist. Ließe sich eine poetische Funktion formalistischer Klangintensität im narrativen Zusammenhang eines epischen Textes ermitteln und ließe sich diese Funktion auf eine normative Ordnung der Erzählwelt beziehen, dann hätte man zumindest ein Hilfsargument, mit dem man die an Gottfried von Neifen entwickelte Ausgangsthese abstützen könnte. Dies lässt sich etwa am Guoten Gêrhart von Rudolf von Ems zeigen, besonders an der Passage über die Vereinigung der Königstochter Erene mit dem ihr ursprünglich als Ehepartner zugedachten Willehalm von England.41 Hier droht ja ein Normenkonflikt: Der Sohn des guoten Gêrhart, der junge Gêrhart, sollte die von seinem 40 41

Fowler, Alastair, Kinds of Literature. An Introduction to the Theory of Genres and Modes, Cambridge/Mass. 1982, S. 106–111. Zitiert wird nach Asher, John (Hrsg.), Rudolf von Ems, Der guote Gêrhart, 2. revidierte Aufl., Tübingen 1971 (ATB 56). Es geht mir hier nur um dieses Detail; umfassendere Deutungen zum Text in Bezug auf Effekte der Stimme bei Lechtermann, Berührt werden [Anm. 15], S. 78–107, mit weiterer Literatur. Die betreffende Textpartie diskutiert auch Schulz, Monika, Eherechtsdiskurse. Studien zu ›König Rother‹, ›Partonopier und Meliur‹, ›Arabel‹, ›Der guote Gêrhart‹, ›Der Ring‹, Heidelberg 2005, aber nur in Bezug auf eherechtliche Dimensionen, die in meiner Argumentation keine Rolle spielen.

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Vater gerettete Erene eigentlich zur Frau bekommen. Zunächst ist diese Konstellation Prüfstein der moralischen Integrität des Protagonisten, der seinen Sohn davon überzeugt, die älteren Rechte zu ehren, was dieser nach einem Protestmonolog auch tut. Der Text bestätigt diese moralische Wahl, indem er durch ein hohes Maß an Sprachkunst die Zusammengehörigkeit von Erene und Willehalm untermalt. Er arbeitet daran, diese auch sprachlich und über die teilweise konventionalisierte Metaphorik zu untermauern (nicht zuletzt durch stilistische Annäherung an Gottfrieds von Straßburg Liebessprache). Dies ist eine Technik, die man beinahe als Rudolfs von Ems Autorsignatur lesen kann: Wahrheit braucht die ihr angemessene Sprachschönheit. Dies lässt sich nicht nur für den Guoten Gêrhart, sondern etwa auch für Rudolfs Alexander nachweisen. Es ist deutlich, dass Rudolf von Ems in diesem Punkt Gottfrieds von Straßburg Sprachtechnik sehr genau verstanden hat. 42 Zunächst ist die Vereinigung des Paares im Guoten Gêrhart eine Angelegenheit der beiden Liebenden, und die Gesellschaft tritt zurück. Bis in den Wortlaut hinein wird die Bindung mit der Vereinigungssprache des Tristan beschworen: 43

4735

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Sî begunden beide weinen. von zwein lîben einen kund in diu liebe machen: mit lieplîchen sachen wurden beide lîp ein lîp, ein wîp ein man, ein man ein wîp, ein sin ein muot, ein einic ein, ein lîp ein lieb, ein herze an zwein, ein minne und ein geselleschaft. (Der guote Gêrhart, V. 4733–41)

Fast direkt danach aber, und das ist sehr wichtig in unserem Zusammenhang, findet sich eine stilistisch dichte Passage (V. 4821–59), voller Wortwiederholungen, die – ganz ähnlich wie bei Neifen – ihr Zentrum im Leitwort senede findet, das in Spannung zum Endreimprinzip häufig wiederholt wird:

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Die edlen sendenære fuogten sende swære mit jâmer senden smerzen manigem senenden herzen, daz nâch liebe sende sich. ir senen was sô minneclich daz maniges herzen sendiu suht von jâmer dulte vreuden fluht durch ir zweier senden gruoz.

Zur Gottfried-Rezeption Rudolfs s. Wachinger, Burghart, Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert, in: Harms, Wolfgang / Johnson, L. Peter (Hrsg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters, Berlin 1975, S. 56–92. Zu diesen Figuren der Liebeseinheit s. Hasebrink, Burkhart, ›ein einic ein‹. Zur Darstellbarkeit der Liebeseinheit in mittelhochdeutscher Literatur, in: PBB, 124/2002, S. 442–465.

Autorität und Intensität 4830

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von senenne sich senen muoz swer von sender stætekeit sende süeze swære treit. ir senen im senen brâhte, swer senelîch gedâhte an daz lieb des herzen sîn: dem gab ir senen senden pîn. ir sender gruoz vil nâhen dranc in manigen senden gedanc, der sich nâch liebe sente. ir senen minne wente. von sender minnen sender pîn tet an sumlîchen triuwe schîn. der herzeliebes liebe jach und ir zweier triuwe sach, der nam in sînen gedanc den minneclîchen umbevanc, den süezen kus, den senften druc, der lieben minne snellen vluc diu mit sender liebe grôz in ir beider herze schôz. ir jâmer und ir minne enzunde manige sinne, die sêre muosten brinnen nâch liebe in senden sinnen, die von minne wâren wunt. ir verlust und vreudenfunt weinde manic werder lîp, hübsche ritter, stolziu wîp und ander manic werder man. (Der guote Gêrhart, V. 4821–59)

Dies bleibt, wie bereits die erste zitierte Passage, ein genauer Rekurs auf Gottfried von Straßburg; schon die Bezeichnung Die edlen sendenære (V. 4821) belegt dies. Es ist aber auch ein Kommentar zum Tristan, eine Szene, die Gemeinschaftshandeln beschreibt, so etwas wie eine Illustration des im Tristan-Prolog ausgeführten Konzepts der Rezeptionsgemeinschaft der edelen herzen. Die edlen sendenære bewirken die gemeinschaftliche Rührung der höfischen Gesellschaft, besonders deutlich am Ende der Passage, wo diese Übertragung in die höfische Gesellschaft, vor allem auf die selbst Liebenden, stattfindet: ir jâmer und ir minne / enzunde manige sinne […]. / ir verlust und vreudenfunt / weinde manic werder lîp, / hübsche ritter, stolziu wîp / und ander manic werder man (V. 4851–59). Ich fasse also meine sehr geraffte Argumentation an diesem Punkt zusammen: Rudolf von Ems nutzt Sprachklang zur Intensivierung des Hörerlebnisses. Dies ist ganz an Gottfrieds von Straßburg Liebessprache ausgerichtet, übersteigert das Prinzip aber in der zuletzt besprochenen Passage, wo in einundzwanzig Versen (V. 4821–41) dreiundzwanzigmal senede und grammatisch-etymologische Variationen vorkommen. Diese Leitwort-

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technik dient hier dazu, den gemeinschaftlichen, vereinigten Vollzug in der höfischen Gesellschaft anzuzeigen. Gleichzeitig legitimiert sie die in der Situation prekäre Liebesverbindung: Schönheit der beschriebenen Körper und Schönheit der beschreibenden Sprache untermauern die ›Wahrheit‹ dieser Bindung. Diese Sprachkunst findet nur beim ›richtigen‹ Paar und nie beim Paar Gerhart und Erene Anwendung.

IV. Diese Weisen der Intensivierung sind sicher in der Literatur des 12. und frühen 13. Jahrhunderts vorgezeichnet; allerdings sind sie in der späteren höfischen Epik und Lyrik auffällig gehäuft. Hermeneutische Techniken der Sinnsuche können sie nur schwer fassen, worin sich forschungsgeschichtlich ein Grund für die vergleichsweise ratlose Behandlung dieser Lieder und Passagen sehen lässt. Vielleicht gibt ja die derzeitige Diskussion um Medialität und Effekte der Präsenz dem sprachlichen Klangornament einen neuen Platz. Ansätze dazu finden sich in Christina Lechtermanns Berührt werden, wenngleich nur als Ausblick. Am Ende ihres Buches spricht die Autorin von einer spezifischen »Konturierung von Präsenz« in der höfischen Literatur: »Sie ginge auf das Hervortreten von Spielformen sprachlichen Ornats heraus und würde die Momente der Intensivierung bezeichnen, die durch sprachliche Ornamente, Digressionen, durch Abweichungen von der Regelpoetik, durch Wort- oder Motivverschlingung erreicht werden können.«44 Dabei ist sicherlich von historisch unterschiedlichem Umgang mit diesem Potenzial auszugehen: Meine These ist, dass das intensivierende Ornament fundierendes Element einer genreübersteigenden späthöfischen Poetik ist. Die Autorität des literarischen Sprechens wird hierbei nicht auf vergleichsweise stabiler und textübergreifender (›extensiver‹) Grundlage erzeugt – sei es mittels der argumentativen Stringenz des Liedentwurfs des Reinmarschen oder Waltherschen Minnesangs, sei es mittels der Stabilität korrelativer, auf textübergreifende Wiederholungen aufbauender (›symbolischer‹) Erzählstrukturen. Vielmehr beruht sie auf punktuell (›intensiv‹) eingesetztem und nicht selten übertriebenem Sprachschmuck und digressivem inhaltlichen Ornament. Diese haben die Potenz, und damit greife ich eine allgemeinere Beobachtung von Niklaus Largier auf, »Momente absorbierender sinnlicher Gegenwart« zu erzeugen, »obwohl der Ausgangspunkt absorbierender sinnlicher Gegenwart – scheinbar paradox – nie sinnliche Unmittelbarkeit, sondern immer den Durchgang durch den Text, die Bilder, die exemplarischen Szenen meint, der uns der alltäglichen naiven Empirie entfremdet und Intensität erst möglich macht.«45 Diese aus der Spannung von Präsenzeffekten und Sinnstiftungsaktivitäten geborene Intensität ist die Grundlage der Autorität des Wortes in den Sprachornamenten späthöfischer Texte. 44 45

Lechtermann, Berührt werden [Anm. 15], S. 194. Largier, Kunst [Anm. 15], S. 65, in Anschluss an Gumbrecht, Diesseits [Anm. 14].

Annette Volfing (Oxford)

Wunne in paradîse Zur Definition von wîp in der Spruchdichtung und der meisterlichen Liedkunst

Im Parzival Wolframs von Eschenbach beginnt der Erzähler das dritte Buch mit einem heftigen Ausruf, durch den er sein Unbehagen über die große Bandbreite des Begriffs wîp ausdrückt: Ez machet trûric mir den lîp, daz alsô mangiu heizet wîp. (116,5f.)1

Die Funktion dieser Aussage erklärt sich aus den Ereignissen der Erzählung: Um die triuwe der Mutter des Helden, Herzeloydes, zu preisen – und möglicherweise, um einer eventuellen Kritik an ihrer eher exzentrischen Auffassung von Kindererziehung vorzubeugen –, versucht der Erzähler, zwischen den hervorragenden Tugenden dieser einzigartigen Protagonistin und der moralischen Unzulänglichkeit anderer Frauen einen Gegensatz zu konstruieren. Obwohl also dieser Ausbruch im Wesentlichen eine Klage über den Lauf der Welt darstellt (weil er unterstreicht, dass es neben den guten auch schlechte Frauen gibt), ist er als Sprachkritik formuliert, bemängelt der Erzähler doch genau genommen nicht die Existenz unzuverlässiger Frauen, sondern eher, dass der Begriff wîp alle über einen Kamm schert. Kurz gesagt: wîp (und andere geläufige Substantive) werden insofern problematisch, als sie eine große Anzahl von Personen (oder Gegenständen) bezeichnen können, die sich weitgehend voneinander unterscheiden. In einem narrativen Kontext mögen Ausdrücke dieser Art eine Präzisierung in Form von Subkategorien erforderlich machen: man denke an den huote-Exkurs im Tristan Gottfrieds von Straßburg, der mit den sich möglicherweise überschneidenden Subkategorien der ›virago‹, der reinen und der gesegneten Frau, arbeitet.2 Viele mittelhochdeutsche Texte problematisieren in ähnlicher Weise die Referenzbreite gewisser Substantive, die Wortbedeutung und Wirklichkeit auseinanderklaffen lässt. Die

1

2

Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8/1–2). Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Bd. 2, 3., durchgesehene Aufl., Stuttgart 1984 (RUB 4472), V. 17967–18093. Zu den drei Subkategorien von Frauen siehe Volfing, Annette, Gottfried’s ›huote‹-Excursus (›Tristan‹ 17817–18114), in: Medium Aevum, 67/1998, S. 85–103.

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Annette Volfing

Bedeutungsart, die hier zum Problem wird, ist in der Regel nicht die enge Primärdefinition, sondern die Anhäufung sekundärer Assoziationen eines gegebenen Begriffes. Laut Wolframs Erzähler bedeutet wîp so z.B. nicht nur »weiblicher Mensch«, sondern verfügt auch über gewisse ethische Implikationen: wîpheit, dîn ordenlîcher site, dem vert und fuor ie triwe mite. (116,13f.)

Die Existenz weiblicher Menschen, die diesen ethischen Anforderungen nicht entsprechen, wird so zu einem linguistischen wie sozialen Problem. Erwägungen dieser Art werden häufig rhetorisch oder gar poetologisch instrumentalisiert, wenn ein Sprecher zunächst auf präskriptive Aspekte eines Substantives hinweist, dann über das Missverhältnis von Sprache und Realität sinniert und schließlich die Möglichkeit eines kohärenten Diskurses unter diesen Umständen infrage stellt. Im Minnesang bemüht sich die Sprecherinstanz Walthers von der Vogelweide in Saget mir ieman, waz ist minne? etwa darum, Liebe als eine beglückende Erfahrung zu definieren, nur um dann festzustellen, dass ihr die Worte fehlen, das tatsächliche Wesen der Minne zu beschreiben.3 Walthers berühmte Unterscheidung zwischen wîp und vrowe arbeitet auf ganz ähnliche Weise mit der Hypothese, dass dem ersten Begriff doch eine moralische Dimension eignen müsse, und wirft die paradoxe Möglichkeit auf, ein Individuum sei aufgrund seines Körpers als wîp, aufgrund seiner moralischen Unzulänglichkeiten jedoch als unwîp zu beschreiben.4

3

4

Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, hrsg. von Christoph Cormeau mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner nach der Ausgabe von Karl Lachmann, Berlin, New York 1996, Nr. 44 (L. 69,1). Walther von der Vogelweide 25.IV.5f. (L. 49,3f.): Under frowen sint unwîp, / under wîben sint si tiure. Zum Einfluss dieser Gegenüberstellung von wîp und frowe auf die spätere mittelhochdeutsche Lyrik (besonders bei Frauenlob) siehe Ludwig, Erika, Wip und frouwe. Geschichte der Worte und Begriffe in der Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts, Stuttgart, Berlin 1937 (Tübinger germanistische Arbeiten 24); Wachinger, Burghart, Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, München 1973 (MTU 42), S. 188–246; Bertau, Karl, Zum wîp-frowe-Streit, in: GRM, 59/1978, S. 225–232; Stackmann, Karl, Frauenlob und Wolfram von Eschenbach, in: Gärtner, Kurt / Heinzle, Joachim (Hrsg.), Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag, Tübingen 1989, S. 75–84, bes. S. 80–82; Kellner, Beate, ›Vindelse‹. Konturen von Autorschaft in Frauenlobs ›Selbstrühmung‹ und im ›wip-vrowe‹-Streit, in: Andersen, Elizabeth / Haustein, Jens / Simon, Anne u.a. (Hrsg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter, XIV. Anglo-German Colloquium (Meißen 1995), Tübingen 1998, S. 255–276; Egidi, Margreth, Höfische Liebe: Entwürfe der Sangspruchdichtung. Literarische Verfahrensweisen von Reinmar von Zweter bis Frauenlob, Heidelberg 2002 (GRM Beiheft 17), S. 245–337. Zum philologischen Hintergrund siehe auch Kochskämper, Birgit, ›Frau‹ und ›Mann‹ im Althochdeutschen, Frankfurt/M. 1999 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 37), welche die Semantik von magad, magatîn, thiorna, jungfrouwa, itis, frouwa, herra, quena und wîb untersucht.

Zur Definition von wîp in der Spruchdichtung

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Dieser Aufsatz untersucht die Funktion präskriptiver Definitionen bei der Formulierung von Geschlechternormen innerhalb der Spruchdichtung, die zusammen mit ihrer ›Nachfolgerin‹, der meisterlichen Liedkunst, das Genre der mittelhochdeutschen Literatur darstellt, das formal am stärksten der Didaxe verpflichtet ist. Gezeigt werden soll, dass der normative Diskurs durch seine Strukturierung weibliche Unzulänglichkeit nicht nur als moralisches Problem darstellt, sondern auch als linguistische Anomalie: Obwohl besagte Spruchdichter selten so weit gehen wie Alanus ab Insulis, der in seinem De planctu naturae sexuelle Laster als Verstöße gegen die Regel der Grammatik darstellt,5 kritisieren sie ›schlechtes‹ Verhalten nicht nur aufgrund seiner praktischen Konsequenzen, sondern auch weil damit die Sinnhaftigkeit der Sprache selbst unterminiert wird, auf der alle literarische Kommunikation gründet. Es ist zu untersuchen, inwieweit Spruchdichter bei ihren Definitionsansätzen dazu neigen, implizite oder explizite Gegensätze zu wîp zu entwerfen und eine dementsprechende Nomenklatur zu entwickeln. Das geschieht in einem Dreischritt. Der erste Teil betrachtet die didaktischen Implikationen des einfachen Gegensatzes ›gute Frau‹ – ›schlechte Frau‹. Während die Vorstellung einer ›guten Frau‹ als Tautologie angesehen wird, dient im Fall der ›schlechten Frau‹ das Adjektiv dazu, den Gegenstand zu eliminieren, den es beschreiben sollte: Eine ›schlechte Frau‹ ist im wirklichen und wörtlichen Sinne ein unwîp,6 und die Sprecherinstanzen geben dem Mann zahlreiche Ratschläge zum erfolgreichen Umgang mit diesem anstößigen Phänomen. Während sich bei oberflächlicher Betrachtung Parallelen zu dem emotionalen Sperrfeuer, wie es uns mehrfach im Minnesang begegnet, zu finden scheinen, sind Ton und Kontext dieser Ratschläge jedoch recht unterschiedlich. Der zweite Teil setzt der Negierung des Begriffes wîpheit Versuche entgegen, externe Gegensätze zu wîp auszu5

6

Häring, Nicolaus M. (Hrsg.), Alain de Lille, De planctu Naturae, in: Studii Medievali, Ser. 3, 19.2/1978, S. 797–879. Vgl. Ziolkowski, Jan, Alan of Lille’s Grammar of Sex The Meaning of Grammar to a Twelfth-Century Intellectual, Cambridge/Mass. 1985 (The Medieval Academy of America. Speculum Anniversary Monographs 10). Obwohl der Terminus unwîp öfter benutzt wird, um Weiblichkeit zu negieren, findet sich auch die Form unvrouwe in einer Strophe (möglicherweise von Rumelant), die im Kontext von Frauenlobs wîp/vrowe-Debatte überliefert ist: Stackmann, Karl / Bertau, Karl (Hrsg.), Frauenlob (Heinrich von Meißen), Leichs, Sangsprüche, Lieder, 2 Teile, Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Kl. 3. Folge 119–120), V.107.G.7: Unvrouwen unde unwib ist vil. Zur Autorschaft dieser Strophe siehe Wachinger, Sängerkrieg [Anm. 4], S. 210, und Egidi, Höfische Liebe [Anm. 4], S. 298–300. Ein vergleichbares Wortspiel (femme/infemme, wobei infemme sowohl »infam« als auch »unweiblich« bedeutet) wird in der französischen Literatur benutzt, um die Ent-frauung von Frauen auszudrücken. Siehe z.B. die Anschuldigung gegen La Belle Dame sans Mercy 473–475 (Alain Chartier, Baudet Herenc, Achille Caulier, Le Cycle de ›La Belle Dame sans Mercy‹, Édition bilingue établie, traduite, présentée et annotée par David F. Hult et Joan E. McRae, Paris 2003 [Champion Classiques, Moyen Âge 8]): Encore ceste fiere femme, / Plaine de malice et rudesse, / Et qui doibt estre dicte infemme […]. Ich bin Helen Swift dankbar dafür, dass sie mich auf dieses Beispiel aufmerksam gemacht hat.

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Annette Volfing

machen. Sprüche, die Schlaglichter auf die Gegensätzlichkeit von Frauen und Männern werfen, führen unweigerlich zur Frage nach der Transgression der Geschlechterrollen, wenn – und in dem Maße als – ›schlechtes‹ und ›maskulines‹ wîp kongruieren. Darüber hinaus steht die Vorstellung, beide Geschlechter seien je das natürliche Pendant des anderen, in einer gewissen Spannung zur Sichtweise der Frau als einer sekundären, abgeleiteten Substanz.7 Wie ich im Hinblick auf Frauenlob zeigen werde, hat die Figur Adams (welcher der neuen, aus seiner Rippe geschaffenen Kreatur einen Namen gibt) Implikationen nicht nur für Geschlechterbeziehungen, sondern auch für den Geschlechterdiskurs. Der dritte und letzte Teil wird sich mit der Analyse zweier strophischer Streitgedichte befassen, die eine ganz besondere Sorte ›Mann‹ als den natürlichen Gegenspieler des wîp im Allgemeinen präsentieren, nämlich den Priester. Den gemeinsamen Nenner bei diesen verschiedenen Textbeispielen bildet die bewusst konstruierte Werthaftigkeit von Geschlechtsnormen, wobei das Bedürfnis, Frauen zu diskursivieren und sprachlich festzulegen, deutlich hervortritt.

I. Die Vorliebe der Spruchdichter für Definition und Kategorisierung ist keineswegs auf das Thema wîp beschränkt. Ir vrouwen, scheidet man von man, der Beginn eines Spruches Reinmars von Zweter (Nr. 38), legt die Notwendigkeit nahe, eine Taxonomie für Männer zu entwickeln, die es den Frauen ermöglicht, zwischen den zuverlässigen und den unzuverlässigen zu unterscheiden.8 Wie Christoph Huber in seiner Analyse von namen-Denken und namen-Motivik in mittelhochdeutscher Spruchdichtung zeigt, lässt sich die grundlegende Diskrepanz zwischen Sprache und Realität auch anhand der verschiedenen sozialen und ständischen Kategorien (wie herre, ritter und pfaffe) illustrieren.9 Bei vielen damit bezeichneten Männern fehlt leider die in den Kategorien implizierte moralische Komponente in der Realität. Der Allgemeinplatz, dass die Rüstung allein noch keinen Ritter macht, ist ein grundlegendes Motiv des Artusromans, etwa in Hartmanns Iwein, in dem die Unzulänglichkeit von Kalogrenants Definition von Ritterschaft im Lauf der Erzählung immer deutlicher wird.10 7 8

9 10

Kochskämper, ›Frau‹ und ›Mann‹ [Anm. 4], S. 184, betont, dass wîb im Althochdeutschen sowohl die »Antithese zum Mann« als auch eine Art menschlichen »Sonderfall« impliziert. Roethe, Gustav (Hrsg.), Die Gedichte Reinmars von Zweter, Leipzig 1887. Auch Walther 25.III.5–8 (L. 48,29–32) empfiehlt den Frauen, die Männer individuell zu beurteilen, genauso wie die Männer es bei Frauen tun: Schieden uns diu wîp als ê, / daz och si sich liezen scheiden, / daz gefrumt uns iemer mê, / mannen unde wîben beiden. Huber, Christoph, Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob, München 1977 (MTU 64), S. 40–45. Hartmann von Aue, Iwein, hrsg. von Ludwig Wolf nach dem Text von Georg Friedrich Benecke und Karl Lachmann, Berlin 19687, V. 530–537.

Zur Definition von wîp in der Spruchdichtung

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Doch während niemand abstreitet, dass männliches Rollenverhalten in bestimmten Fällen Anlass zu näherer Betrachtung gibt oder dass es sich bei Maskulinität selbst um ein soziales oder literarisches Konstrukt handeln könnte, ist es doch recht selten, dass ein Autor den Versuch unternimmt, das gesamte männliche Geschlecht in der Art von übertrieben wertender und präskriptiver Definition zu fassen, wie sie gewöhnlich den Frauen vorbehalten ist. Dies ist nur eine Erscheinungsform der fundamentalen Asymmetrie, welche die Formulierung geschlechtsspezifischer Normen in der mittelalterlichen Literatur charakterisiert:11 Während ›mann‹ dazu neigte, Männer als absolut vollwertige, eigenständige und eigenbestimmte Vertreter der Spezies Mensch anzusehen, betrachtete – und daraus folgend: ermahnte und beurteilte – ›mann‹ Frauen fast immer relativ zu ihrer Interaktion mit Männern.12 Gelegentlich finden sich Anzeichen einer scheinbaren Symmetrie, so wenn ein Friedrich von Sonnenburg-Spruch beteuert: Zuht und maze stent den vrouwen unde mannen wol (33,1),13 oder wenn Reinmars Sprecherinstanz sich dazu berufen fühlt, beide Geschlechter getrennt zum Thema Minne zu belehren (37,1: Ich wil iuch lêren,

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Die Literatur zu mittelalterlichen Geschlechterkonventionen ist umfangreich. Siehe besonders die Aufsätze in: Bennewitz, Ingrid / Tervooren, Helmut (Hrsg.), Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters, Internationales Kolloquium der Oswald von WolkensteinGesellschaft und der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, Xanten 1997, Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9); und in: Gaebel, Ulrike / Kartschoke, Erika (Hrsg.), Böse Frauen – gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Trier 2001 (Literatur, Imagination, Realität 28). Siehe auch Bennewitz, Ingrid, Vrowe / maget / ubeles wîp. Alterität und Modernität mittelalterlicher Frauenbilder in der zeitgenössischen Rezeption, in: Bachinger, Katrina [u.a.] (Hrsg.), Feministische Wissenschaft, Methoden und Perspektiven, Beiträge zur 2. Salzburger Frauenringvorlesung, Stuttgart 1990 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 243), S. 121–144; Brinker-von der Heyde, Claudia, ›Ez ist ein rehtez wîphere‹. Amazonen in mittelalterlicher Dichtung, in: PBB, 119/1997, S. 399–424; Schnyder, Mireille, ›manlich sprach daz wîp‹. Die Einsamkeit Gyburcs in Wolframs ›Willehalm‹, in: Brinker-von der Heyde, Claudia / Largier, Niklaus (Hrsg.), Homo medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift für Alois Maria Haas zum 65. Geburtstag, Bern u.a. 1999, S. 507–520; Backes, Martina, Weder man noch wîp? Maskerade und Geschlechtertausch in der mittelalterlichen Literatur, in: Cheauré, Elisabeth (Hrsg.), Geschlechterkonstruktion in Sprache, Literatur und Gesellschaft, Gedenkschrift für Gisela Schoenthal, Freiburg/Br. 2002 (Saecula Spiritalia, Sonderband), S. 25–43; Weichelsbaumer, Ruth, Der konstruierte Mann. Repräsentation, Aktion und Disziplinierung in der didaktischen Literatur des Mittelalters, Münster 2003 (Bamberger Studien zum Mittelalter 2). Lloyd, Genevieve, The Man of Reason. ›Male‹ and ›Female‹ in Western Philosophy, Pittsburgh 1984, S. 30: »Man ›by himself alone‹ is the image of God, just as fully and completely as when he and the woman are joined together into one. Whereas woman, in so far as she is assigned as a helpmate, can be said to be the image of God only together with her husband.« Masser, Achim (Hrsg.), Die Sprüche Friedrichs von Sonnenburg, Tübingen 1979 (ATB 86).

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werdiu wîp; 51,1: Nû wil ich lêren ouch die man). Die illusorische Natur dieser Symmetrie wird jedoch deutlich, wenn die Sprecherinstanz die Ratschläge an die Männer nach kürzester Zeit aufhören lässt, während ihr Angebot an wîp-gerechten Betrachtungen und Ermahnungen schier unerschöpflich scheint.14 Ein weiteres Beispiel von Geschlechterasymmetrie zeigt sich, wenn man Reinmars von Zweter bekannten Spruch über den idealen Mann (Nr. 99f.) mit der ›femininen‹ Version vergleicht, die von einem späteren anonymen Dichter stammt. Reinmars Mann hat die körperlichen Charakteristika verschiedener Tiere,15 von denen jedes einzelne eine Eigenschaft symbolisiert, die in der Welt allgemein anerkannt und geschätzt wird und sich nicht etwa auf die erotische Domäne beschränkt oder darauf, wie dieser Mann mit Frauen interagiert.16 Im Gegensatz dazu finden sich in der ›femininen‹ Version des Spruches nur wenige der ursprünglichen Tiere oder Qualitäten. Einige Veränderungen basieren auf ästhetischen Erwägungen: Obwohl selbst Reinmars Mann bei einer wörtlichen Umsetzung der Tiervergleiche mit seinem Kranichhals, den Schweineohren und Bärenfüßen grotesk aussähe, scheinen in einem weiblichen Kontext Bilder Cundrieartiger Missgeburten unerwünscht. Die Wildheit oder Gefährlichkeit der Tiere wird deutlich reduziert: Die Frau hat anstelle der Bärenfüße Ponyhufe, und das Herz eines Löwen wird durch das einer Turteltaube ersetzt. Am auffallendsten ist die Substitution der Schweineohren durch Hasenohren: czwei hazen oren, daz si gar vorchtig kegen unkuscheit si (302b, 6).17

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Suchensinn 8,27–30 (Pflug, Emil [Hrsg.], Suchensinn und seine Dichtungen, Breslau 1908 [Germanistische Abhandlungen 32], Nachdruck Hildesheim, New York 1977) spielt mit dem fingierten Einwand einer Frau, die darauf besteht, dass auch die Männer belehrt werden müssten: Die red erhôrt ein sælig wîp. / sie sprach: ›du strâfest frauwen lîp, / ô Suochensin, durch leitvertrîp / nu strâf auch mannes bilde […].‹ Die Sprecherinstanz geht aber nicht auf diesen Wunsch ein. Der ideale Mann besitzt die Augen eines Straußes, den Nacken eines Kranichs, Schweineohren, ein Löwenherz, eine Hand wie die eines Adlers, die andere wie die eines Greifs und, zu guter Letzt, Bärenfüße. Vgl. Gerhardt, Christoph, Reinmar von Zweters ›Idealer Mann‹ (Roethe Nr. 99/100), in: PBB, 109/1987, S. 51–84 und 222–251; Michael Curschmann, Facies peccatorum – Vir bonus: Bild-Text-Formel zwischen Hochmittelalter und früher Neuzeit, in: Füssel, Stephan / Knape, Joachim (Hrsg.), Poesis et Pictura. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Handschriften und alten Drucken. Festschrift für Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1989 (Saecula Spiritalia, Sonderband), S. 157–189. Zur Annahme, dass Frauen exklusiv um ihre Beziehung zu Männern besorgt sind, siehe auch die den Winsbecke- und Winsbeckin-Dialogen zugrunde liegende Asymmetrie: Der Junge wird von seinem Vater in die Ritterethik eingewiesen, das Mädchen in die Minne. Leitzmann, Albert (Hrsg.), Winsbeckische Gedichte nebst Tirol und Fridebrant. Dritte, neubearbeitete Auflage von Ingo Reiffenstein, Tübingen 1962 (ATB 9). In Anbetracht der sprichwörtlichen Promiskuität von Hasen ist es vielleicht eher unwahrscheinlich, dass Hasenohren dem beabsichtigten allegorischen Zweck dienen. Vgl. Kemp, W[olfgang], Hase, in: Kirschbaum, Engelbert (Hrsg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Rom 1970, Sp. 221–225 (hier Sp. 221).

Zur Definition von wîp in der Spruchdichtung

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Die Standardposition der literarischen Gattung ist, dass Verhaltensregeln allgemein moralischen und sozialen Inhalts auf männliche Adressaten zugeschnitten sind, während Frauen bevorzugt erotische oder hauswirtschaftliche Ratschläge erteilt werden. Dieses Ungleichgewicht wird dadurch verstärkt, dass die Sprecherinstanz immer männlich konstruiert ist und dadurch Elemente zweier verschiedener Rollen auf sich vereinen kann, nämlich der des emotionell betroffenen Bewerbers aus dem Minnesang und der (vorherrschenden) Rolle des über den Dingen stehenden, abgeklärten Moralisten, dessen Ausprägung sich an der Weisheitsliteratur des Alten Testaments orientiert. Die inhärent evaluative Haltung der Sprecherinstanz sorgt dafür, dass sich in der Spruchdichtung nur selten Texte finden, die eine echte Vielfalt innerhalb des weiblichen Geschlechts imaginieren. Stattdessen arbeiten viele Spruchdichter mit strukturierten Taxonomien, die Frauen, zumindest was ihre Lebenserfahrung angeht, ein nur geringes Maß akzeptabler Abweichungen zubilligen. Frauenlobs idiosynkratische Trias von maget (für eine Jungfrau), wîp oder mittel-sie (für eine ›deflorata‹) und vrowe (für eine Mutter) ist hierfür zweifelsohne das bekannteste Beispiel,18 obwohl auch Suchensinn den Unterschied zwischen der Jungfrau und der verheirateten Frau thematisiert.19 Frauenlobs Position in der schon damals nicht neuen wîp/vrowe-Debatte signalisiert ebenfalls seine Bereitwilligkeit, anzuerkennen, dass im Hinblick auf das weibliche Geschlecht womöglich komplexere konzeptuelle und linguistische Hierarchien anzuwenden seien.20 Die meisten Sprüche, die sich mit der Geschlechterthematik befassen, ignorieren jedoch die graduellen Übergänge zwischen den verschiedenen Frauentypen zugunsten einer absoluten und festumrissenen Polarisation, welche die bewertende Etikettierung und die Zuordnung didaktischer Imperative erleichtert.21 Definitionen sind ein besonders wirksames Instrument zur Übermittlung solcher Imperative. Die Lektion ist zuweilen transparent, so wenn der Meißner zum ehelichen Gehorsam ermahnt (ein wiblich wib irs mannes willen billich tůt)22 oder wenn er ex negativo argumentiert, dass ein wîp eine Person sei, die sich nicht wie ein unwîp verhält: So heizent wib dar umme wib, daz sie sich schamen aller unwiblicher dinge.23 Selbst scheinbar nicht-programmatische Definitionen haben jedoch mitunter einen didaktischen Haken, wie die Definition des Kanzlers vom wîp als wunne in paradîse 18 19

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Frauenlob V, 102–104. In Suchensinns Lied 6 beklagt sich eine Jungfrau bei der Sprecherinstanz darüber, dass sie wîp zu viel Aufmerksamkeit schenke, Jungfrauen jedoch nicht genug. Suchensinns Lied 21 besteht aus einer Debatte zwischen einer Jungfrau und einer verheirateten Frau mit Kind. Frauenlob V, 102–113. Hübner, Gert, Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ›Geblümten Rede‹, Tübingen, Basel 2000 (Bibliotheca Germanica), S. 280, diskutiert »die Nähe zwischen normativen (ist gut / schlecht) und deontischen (du sollst / sollst nicht) Aussagen«. Objartel, Georg (Hrsg.), Der Meißner der Jenaer Liederhandschrift, Berlin 1977 (Philologische Studien und Quellen 85), II,9,10. Der Meißner XVII,1,8.

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illustriert.24 Auf den ersten Blick erscheint diese Art von übertriebenem Lob, das seine Wurzeln eindeutig in den Traditionen des Minnesanges hat, weit entfernt vom offen frauenfeindlichen Ton, der so charakteristisch für die satirische lateinische Literatur des Mittelalters ist.25 Doch die Formulierung von Perfektion als Norm für das gesamte weibliche Geschlecht dient nur dazu, frauenfeindlichen Kommentaren den Weg zu bereiten, wenn Frauen den hohen Ansprüchen nicht gerecht werden. Die hohe Erwartungshaltung, die der Kanzler mit seiner etymologischen Definition schafft, ist typisch für die gesamte Gattung. Während Eva Willms sogar den Minnesang für ein Werkzeug zur »Domestizierung der Frau« hält,26 ist das Ausmaß der emotionalen Distanz des Sprechers jedenfalls direkt proportional zum explizit normativen Anspruch des Diskurses: Der dozierende Sprecher tendiert besonders dazu, die Subordination der Frau zu betonen – und dies öfter im Ehe- als im Minnedienstkontext.27 Aggressive Phantasien lassen sich sicherlich auch im Minnesang finden (man erinnere sich nur an Walthers sumerlaten-

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Kraus, Carl von (Hrsg.), Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, Bd. I, Text, 2. Aufl. durchgesehen von Gisela Kornrumpf, Bd. II, Kommentar, besorgt von Kuhn, Hugo, 2. Aufl. durchgesehen von Gisela Kornrumpf, Tübingen 1978 (zit. KLD), 28,VI,3,10: Wîp, dîn name ist wunne in paradîse. Siehe Frauenlobs Verarbeitung der Definition: Frauenlob III, 22,1–4: Wip schribet sich mit drin buchstaben: / w wunne wil zu diute haben, / i irdisch in im hat begraben, / p paradis gesprochen; V, 102,11: den namen Wunne Irdisch Paradis ich von schulden nenne; VIII, 17, 7f.: ›wip‹, süzer nam: / wunne, irdisch paradis. Vgl. auch V, 104: sus wib von Wippeone quam. Diese Ableitung vom Namen des Mädchenschänders Wippeon bezieht sich speziell auf die sexuelle Erfahrung von Frauenlobs mittel-sie. Als Beispiel für offensichtliche Misogynie siehe die folgende Aufzählung von Definitionen von mulier aus der lateinischen Übersetzung des Lebens des griechischen Mönches Secundus: Quid est mulier? Hominis confusio / insaturabilis bestia / continua sollicitudo […] / indesinens pugna / cotidianum damnum / domus tempestas / sollicitudinis impedimentum / viri incontinentis naufregium / adulterii vas / pretiosum proelium / animal pessimum / pondus gravissimum / aspis insanabilis / humanum manicipium; zitiert nach Hilka, Alfons, Das Leben und die Sentenzen des Philosophen Secundus des Schweigsamen in der altfranzösischen Literatur nebst kritischer Ausgabe der lateinischen Übersetzung des Willelmus Medicus, Abtes von Saint-Denis, Breslau 1910 (Sonderabdruck aus dem 88. Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur), S. 17. Für weitere Beispiele von Misogynie in der lateinischen satirischen Tradition siehe Blamires, Alcuin, Woman Defamed and Woman Defended. An Anthology of Medieval Texts, Oxford 1992, S. 99–129. Willms, Eva, Liebeslied und Sangeslust. Untersuchungen zur deutschen Liebeslyrik des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts, München 1990 (MTU 94), S. 233. Hübner, Lobblumen [Anm. 21], S. 297, erläutert ebenfalls, inwiefern sich Frauenpreis (sowohl in Spruchdichtung als auch in Minnesang) dazu anbietet, das »normative Ideal« zu formulieren. Zum Thema Ehe in der Spruchdichtung siehe Dallapiazza, Michael, minne, hûsêre und das ehlich leben. Zur Konstitution bürgerlicher Lebensmuster in spätmittelalterlichen und frühhumanistischen Didaktiken, Frankfurt/M., Bern 1981 (Europäische Hochschulschriften 1.455), S. 52–70.

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Lied),28 aber der dozierende Sprecher der Spruchdichtung unterscheidet sich vom frustrierten Minnediener insofern, als er Gewalt nicht so sehr als eine subjektive Reaktion auf das Verhalten einer speziellen Frau präsentiert, sondern eher als eine pragmatische Lösung des allgemeinen Problems des ›übelen wîbes‹: ich wil dich, guot man, lêren, wie dîn meisterschaft ir an gesigt. Dû solt dir dîne güete lân entslîfen unt solt nâch einem grôzen knütel grîfen: den soltû ir zem rugge mezzen ie baz unt baz nâch dîner craft […]. (Reinmar 105,6–10)

Muskatblüt ist noch direkter in seinen Ratschlägen zur Behandlung aufsässiger Ehefrauen. Lied 77 ist vollends den Vorteilen der häuslichen Gewalt gewidmet, z.B.: slach si als man den esel důt

so wirt si gůt. (77,28)29

Auf den Punkt gebracht: Der Ärger des Minnedieners, der sich gegen eine einzelne Frau richtet, die ihn schlecht behandelt, wird durch eine prinzipielle Ablehnung aller Frauen ersetzt, die, indem sie ›übel‹ sind, nicht nur soziale und ethische Strukturen unterminieren, sondern auch die vermeintlich naturgegebenen Kategorien, die in der Sprache festgesetzt sind. Spruchdichtung und Meistergesang arbeiten dementsprechend mit einer starken Polarisierung in ihrer Darstellung von Frauen, ohne Rücksicht darauf, auf welcher Seite der Scheidelinie zwischen Gut und Böse sie sich befinden: Frauen verdienen entweder maßlosen Preis oder brutalste Züchtigung. Dies erlaubt der Sprecherinstanz den schnellen Wechsel zwischen devotem Minnedienstdiskurs und einer eher robusten Eheberatung. In Reinmars Fall ist der Ratschlag, den grôzen knütel einzusetzen, in dem gleichen Fraun-Ehren-Ton gehalten, in dem auch die Jungfrau (Nr. 1–18) und die vom Sprecher auserwählte Dame (Nr. 24–29) gepriesen werden.30 Auf ähnliche Weise scheint sich auch Suchensinns Sprecherinstanz seiner Verehrung für das weibliche Geschlecht wie der Strenge seines Tadels zu rühmen. Während bei Reinmar und Muskatblüt lediglich anderen Männern die körperliche Bestrafung tadelnswerter Ehefrauen empfohlen wird, geht Suchensinns Sprecherinstanz weiter:

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Walther von der Vogelweide, Nr. 49 (L. 72,31). Groote, Eberhard von (Hrsg.), Die Lieder Muscatblüts, Köln 1852. Vgl. auch Muskatblüt 77,56f.: Spricht si gik gak ber ir den nak, / Nit man saltu si nennen. Zur Liebesgeschichte, die sich in den Strophen 24–29 entwickelt, und zur allgemeinen Geschlechterbeziehung im Fraun-Ehren-Ton siehe Dietmar Peil, ›Wîbes minne ist rehter hort‹. Die Beziehung zwischen den Geschlechtern im Spannungsfeld von Minnesang und Spruchdichtung bei Reinmar von Zweter, in: Schilling, Michael / Strohschneider, Peter (Hrsg.), Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, Heidelberg 1996, S. 179–207. Zum Verhältnis von Minnesang und Spruchdichtung im Allgemeinen siehe Egidi, Höfische Liebe [Anm. 4], bes. S. 37–50.

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Indem er seine Zunge zur Zuchtrute erklärt,31 nimmt er selbst die Rolle des Strafenden an. Ein iglîch wîp hab sorg durch wîbes güete. Mînr zungen gert die strâfet hart Vil manig stolze frauwen zart. (8,9–11)

Das Lied selbst wird zu dem, was es thematisiert: es handelt von Strafe, und es i s t die Strafe.32 Dieser Selbststilisierung der Sprecherinstanz geht ein kurzes Tier-bîspel voraus, das darlegt, wie der Gewinn körperlicher Züchtigung nicht nur dem Opfer zukomme, sondern auch den Frauen im Publikum – genauso wie ein Tier sein Verhalten dem Herrn gegenüber modifiziert, nachdem es gesehen hat, wie dieser ein anderes Tier schlägt, so ziehen auch gute Frauen einen Nutzen aus den literarischen Prügeln für ihre unzulänglichen Geschlechtsgenossinnen:33 Ein edler lewe ân missetât die natûre in hertzen hât, wan sîn meister vor im stât und slecht ein hündlîn sêre, zehant der lewe im vorchten tuot, dasz im betrüebet wirt sîn muot. disz bîspil merckent, wîbe guot, und volgent rechter lêre. (8,1–8)

Dieses bîspel ist aufschlussreich, da es mit zwei Gegensatzpaaren arbeitet. Der erste Gegensatz ist der zwischen der guten und der schlechten Frau (dem Löwen und dem Hündchen); obwohl der fundamentale Unterschied zwischen diesen beiden dadurch unterstrichen wird, dass sie von verschiedenen Tiergattungen repräsentiert werden,

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Vgl. Is. 11,4: Et percutiet terram virga oris sui, und den englischen Ausdruck ›a tongue-lashing‹. Nahrung findet sich gleichermaßen häufig als selbstreferentielle textuelle Metapher – d.h., der Text hat Nahrung zum Thema, stellt aber auch metaphorisch für das Publikum ein Festessen dar. Zu diesem Topos siehe Volfing, Annette, ›Ich hab gemacht vnd geben ein wirtschafft on eßnn vnd trincken‹. Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana, in: McLelland, Nicola / Schiewer, Hans-Jochen / Schmitt, Stefanie (Hrsg.), Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium (Hofgeismar 2003), Tübingen 2007, S. 365–381. Man beachte den inszenierten Zwischenruf aus dem weiblichen Publikum in Lied 7,48 (›ach Suochensin, du singst sô hart von frauwen!‹) und die Selbstrechtfertigung der Sprecherinstanz, die besagt, dass die guten Frauen sich Angriffe auf die schlechten nicht zu Herzen nehmen sollten, da sie doch völlig unterschiedlich seien: doch gêt esz reine wîp nit an, / ob ich die argen strâfen kan (7,49f.). In einem späteren Lied spekuliert die Sprecherinstanz über den Eindruck, den seine kritischen Kommentare auf die weiblichen Zuhörer machen könnten: Mich wundert, wan ich vor iuch stân / und hât iur kein die sach getân, / wie mag sie iender freuden hân? / sie muosz ir doch gedencken: / ›zwar dîn gesanc der meinet mich.‹ (12,40–44).

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sind sie doch beide Tiere und werden so in einem sekundären Gegensatz zum menschlichen Status des Herrn gesehen. Dies charakterisiert die problematische Beziehung zwischen den beiden Gegensatzpaaren (gut/schlecht und männlich/weiblich), die ich nun als zweiten Punkt betrachten werde.

II. Die Beschäftigung mit dem Problem der Frau, die nicht ihres Namens würdig ist, reflektiert ein implizites Bewusstsein der Notwendigkeit, eine Definition von ›Frau‹ zu finden. Formallogisch betrachtet haben Substantive, die sich auf konkrete Objekte beziehen, kein Gegenteil und bieten sich daher auch nicht zur Negation durch die für Adjektive und abstrakte Nomina übliche Partikel »un-« an: Man spricht ja normalerweise nicht von »Untischen«, »Unäpfeln« oder »Unhunden«.34 Im Deutschen kann zwar bei gewissen Konkreta, die einen höheren Anteil an normativen Inhalten haben, die Voranstellung von »un-« dazu dienen, starke Kritik auszudrücken (wie bei »Unmensch«, »Untier«, »Unding«): Ein »Unmensch« z.B. ist immer noch ein (sehr schlechter) Mensch, und unwîp könnte ebenfalls einfach als ein »schlechtes wîp« verstanden werden, was formallogisch unproblematisch wäre. Dennoch spielt besonders die wîp/frowe-Debatte, so wie sie bei Walther formuliert wird (48.IV.5f.: Under frowen sint unwîp, / under wîben sint si tiure), ausgerechnet mit der morphologischen Zweideutigkeit der Partikel »un-«: Die Pointe dieser Zeilen liegt in der Behauptung, ein Mensch könne nicht gleichzeitig als wîp und als unwîp bezeichnet werden. Wenn man unwîp aber tatsächlich als das Gegenteil von wîp versteht, wird diese Wortbildung formallogisch sinnlos – oder, besser gesagt, sie ist in der Theorie so weit und unspezifisch, dass sie ihren Sinn verliert, denn wie soll man sich diesen Gegensatz zur Frau konkret vorstellen? Wie die Tradition des Streitgedichtes deutlich macht, arbeitet die Literatur in der Praxis jedoch häufig mit Gegensatzpaaren: Sommer und Winter, Öl und Wasser, ritter und pfaffe sowie natürlich Mann und Frau. Nicht alle formulieren einen logischen Gegensatz, doch erlauben sie es, kontrastierende Positionen formal gegeneinander auszuspielen.35 Die Mann/Frau-Grenze ist demzufolge äußerst relevant zur Bestimmung der grundlegend wichtigeren gute Frau-/schlechte Frau-Demarkations-

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Vgl. Strawson, Peter F., Subject and Predicate in Logic and Grammar, London 1974, bes. S. 6: »We can coherently enrich our logic with what we may call negative and compound (e.g. disjunctive or conjunctive) predicate-terms, but there is no strictly parallel way in which we can coherently enrich our logic with negative or compound subject-terms.« Für einen Überblick über die Gattung des Streitgedichts siehe Walther, Hans, Das Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters, München 1920 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 5,2).

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linie. Es gibt jedoch noch zwei prinzipielle Überlegungen, welche die Beziehung zwischen diesen Grenzen kompliziert gestalten. Die erste Schwierigkeit ist die Frage, inwieweit Geschlechterrollen Verhandlungssache sind. Wie zu erwarten ist, zeigt sich die Gattung generell konservativ gegenüber dem, was als naturgegeben empfunden wird,36 mit zahlreichen Hinweisen auf die parallelen Schreckensbilder von Mannweibern und weibischen Männern.37 Obgleich die Begriffe unwîp und man, beide kontrastierend zu wîp gebraucht, keine Synonyme darstellen, steht eine Frau, die sich wie ein Mann verhält, im Verdacht, ein unwîp zu sein. »Unmännliche«, effeminierte Männer ziehen ähnlich starke Kritik auf sich, so wenn Reinmar von Zweter die modernen Nachfahren Adams unter seiner männlichen Zuhörerschaft, die sich von ihren Frauen dominieren lassen, verunglimpft: ir mannet! lât vrôn Êven wîben! (101,9).38 Die Anspielung auf die Unzulänglichkeit der Frauen (die in der Erwähnung Evas implizit ist) verleiht dem Argument, beide Geschlechter sollten doch bei ihren naturgegebenen Verhaltensmustern bleiben, eine gewisse Asymmetrie. Während es sicherlich negativ für einen Mann ist, sich wie eine Frau zu verhalten, ist es bis zu einem gewissen Punkt für eine Frau positiv, männliche Verhaltenszüge anzunehmen (was das frühchristliche Ideal der Virago zeigt). Angesichts der allgemeinen Identifikation des Mannweibs mit einer schlechten Frau ist dieses Argument aber nur vorsichtig einsetzbar. Man könnte in der Tat argumentieren, das Paradox der weiblichen Existenz liege darin, dass, während von der Frau vorgeblich Perfektion verlangt wird, Inferiorität und Imperfektion ebenso normative Vorgaben für sie sind, und das in einem Maß, das jeden ernsthaften Versuch, die geschlechtsspezifische Begrenztheit zu überwinden, zur inhärenten Transgression macht. Unbehagen bei der Idee, Perfektion könnte jemals weiblich sein, ist nicht auf die Gattung der Spruchdichtung beschränkt und findet sich, wie etwa bei Meister Eckhart, sogar in Bezug auf Maria: […] daz wort âvê bediutet stêtikeit, unde stêtikeit bediutet einen man. Der ist ein man, der in sînem muote niht gewandelt noch beweget wirt. Dar umbe, swenne ein wîp in ir muote nicht gewandelt würde, sô were si ein man unde niht ein wîp. Die beide hâte Marîâ. Si was ein wîp nâch dem nidersten teil irs ûzern menschen und ist got in got mit got nâch dem obersten teil irs

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Vgl. Der Meißner II,9,6: her si der man, sie si daz wib, daz v)get wol; VI,6,7: Man, wes manlich, wib, halt wibliche zucht. Der diesbezügliche ›locus classicus‹ ist Walther von der Vogelweide 54,X,1f. (L. 80,19f.): Unmâze, nim dich beider an / manlîchiu wîp, wîplîch man. Vgl. auch Bruder Wernher (Schönbach, Anton Emanuel [Hrsg.], Die Sprüche des Bruder Wernher [Beiträge zur Erklärung altdeutscher Dichtwerke I und II], in: Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 148/1904, S. 1–9, und 150/1905, S. 1–106), der sich gleichermaßen mit dem Problem des wîbîn man wie des mennîn wîp (Nr. 18) beschäftigt und davor warnt, daz ûz dem manne werde ein wîp und ûz dem wîbe ein man (68,7). Siehe auch Der Meißner II,9,11–13: Wie stunde, daz ein wib worde uz dem manne, / unde úz dem wibe ein man? men spreche danne: / ›her weichelinc, ir sit ein man mit wibes můt.‹

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geistes. Und in dem sinne mügent alle menschen Marîâ sîn also, daz daz wort âvê zuo uns allen in der wârheit mac gesprochen werden.39

Während Eckhart nicht so weit geht, Maria als Virago oder gar als »Mann« zu beschreiben, ist er doch darauf bedacht, ihre Weiblichkeit von ihrer Mustergültigkeit zu dissoziieren. In der mystischen Literatur ist es nicht unüblich, gender-Rollen völlig vom biologischen Schicksal abzukoppeln, mindestens auf der allegorischen Ebene: So kann z.B. die Tochter in der Eckhart-Legende behaupten, sie sei niht ein maget noch ein wîp noch ein man noch ein frowe noch ein witwe noch ein juncfrowe noch ein herre noch ein dierne noch ein kneht, sondern nur ein dinc als ein ander dinc.40 Der von Caroline Walker Bynum untersuchte Topos von Jesus als Mutter dient als weiteres Beispiel für die Konstruiertheit von gender-Rollen in der geistlichen Literatur.41 In der Sangspruchdichtung wird die Anerkennung dieser Konstruiertheit zwar nicht so direkt und zugespitzt formuliert, dennoch deuten gerade die eben erwähnten Ableitungen von Verben (mannen, wîben) und Adjektiven (wîbîn, mennîn) aus den relevanten Substantiven darauf hin, dass gender-Rollen zu einem gewissen Grad einer Wahl offenstehen: Man ist nicht nur als Mann oder Frau geboren, sondern man entscheidet sich dafür (oder dagegen), sich dem angeborenen Geschlecht gemäß zu verhalten. Die zweite Schwierigkeit bezüglich der Idee, der Mann bilde das diametrale Gegenstück zur Frau, liegt im zweiten Schöpfungsbericht begründet, nach dem Eva aus einer Rippe des Mannes erschaffen wurde. Aus dieser Perspektive stellt Eva keinen ›Nicht-Mann‹ oder ›Un-Mann‹ dar, sondern vielmehr die weibliche Version eines Mannes, eine ›Männin‹. Dieser Begriff wird von unterschiedlichen morphologischen Konstruktionen bestätigt. Angesichts der Tatsache, dass Adam auch mit dem Beginn der menschlichen Sprache assoziiert wird, bietet die Betrachtung von Adam und Eva als archetypischen Vertretern ihres jeweiligen Geschlechtes einen vielversprechenden Spielraum für die Erforschung des Nexus zwischen der Stellung der Sprache und der Stellung der Frau. Dieser Assoziationskomplex findet seinen Ausdruck besonders deutlich in Frauenlobs Spruch V, 103, in dem Adam die Prägung zweier ungebräuchlicher Bezeichnun39

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Meister Eckhart, Predigt CVI, in: Pfeiffer, Franz (Hrsg.), Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Bd. 2, Meister Eckhart, Leipzig 1857, Nachdruck Aalen 1962, S. 346,9–17. Diese Stelle erörtert Mossman, Stephen, Piety and Thought in Fourteenth-Century Germany. The Works of Marquard von Lindau OFM (d. 1392), Diss. masch. Oxford 2007, S. 247. Meister Eckharts Tochter = Spruch 69 in: Pfeiffer (Hrsg.), Deutsche Mystiker, Bd. 2 [Anm. 39], S. 625. Die Tochter begründet ihre Aussage mit der Erklärung, die auf die normativen Aspekte der erwähnten Nomina hinweist: wêr ich ein maget, sô stüende ich in miner êrsten unschulde; wêr ich denne ein wîp, sô gebêre ich daz êwige wort âne underlâz in mîner sêle; wêr ich denne ein man, sô hête ich ein kreftigez widerstân wider alle gebresten (S. 625,15–18). Vgl. auch Gal. 3,28: Non est Iudaeus, neque Graecus: non est servus, neque liber: non est masculus, neque femina. Omnes enim vos unum estis in Christo Iesu. Bynum, Caroline Walker, Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley 1982.

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gen zugeschrieben wird: mennin und weichelmuot. Diese ungewohnten Begriffe basieren etymologisch auf lateinischen Termini, die im zweiten Schöpfungsbericht der Genesis vorkommen. Insofern, als die Frau vom Mann abstammt, ist es möglich, sie als mennin (in Anlehnung an Gn 2,23: haec vocabitur virago, quoniam de viro sumpta est) zu beschreiben; insofern, als sie über eine ausgeprägt weibliche Psychologie verfügt, wiederum als weichelmuot, eine Bezeichnung, die eine etymologische Beziehung von mulier und molleus (»weich«) voraussetzt. Mennin und weichelmuot korrespondieren mit maget und wip, den ersten beiden Elementen von Frauenlobs charakteristischer Typologie, während das dritte Element (vrowe) ohne einen vergleichbaren Rückgriff auf die Etymologie aus dem Lateinischen erklärt wird. Adam, ez wart von gote ein ebenbilde fin der forme din. dir was nicht wol aleine, uz dins rippes beine zilte er ein sie nach dir gestalt, diz gab dir der reine. du, man, ›mennin‹ ez nach dir hiez, nicht anders ich ez nenne. Adam, sit gebe du allen dingen sunder namen, wilde unde zamen. wie nantestu din rippe? saget mir daz din lippe? sprich: ›ja, ich nante sie weichelmut‹. der was do din sippe. ›sit nante ich ez gebererin‹. der man sin schate erkenne. Mennor der erste was genant, dem diutisch rede got tete bekant. er sprach zuhant: ›vro-we, din bant, manlichez, wirde ein vollez lant, din we uns hie heil, selde vant.‹ wa durch, von wem wib wart genant,

daz weiz ich wol, wa, wenne.

Dieser Spruch ist darauf angelegt, Frauenlobs triadische Typologie durch den Rückgriff auf zwei verschiedene linguistische Autoritäten, Adam und Mennor, zu untermauern. Von diesen zweien ist Adam offenbar der Wichtigere, stellt er doch den Ursprung sowohl der Frau selbst als auch der Begriffe dar, die sie benennen. Der Spruch baut auf das Bewusstsein, dass Adams Originalsprache – ob Hebräisch oder etwa Lateinisch – 42 sicherlich nicht Deutsch war. Die deutschsprachigen Apostro42

Obwohl Rupert von Deutz, Commentarium in Genesim II,33, PL 167, Sp. 281, erwähnt, dass Adam hebräisch spricht, benutzt er doch lateinische Begriffe, um zu illustrieren, wie Adam Dinge aufgrund ihrer Eigenschaften benennt (z.B. porcus [»Schwein«] abgeleitet von spurcus [»Schmutz«]). Vgl. Borst, Arno, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Bd. 2, Teil 2, Stuttgart 1959, S. 648. Man beachte, dass laut Frauenlob auch Christus hebräisch spricht: Got sprach zu siner muter jüdisch, latin nicht (V,112,7).

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phen an Adam vonseiten der Sprecherinstanz weisen somit eine gewisse Ironie auf: Selbst wenn Adam noch am Leben wäre, könnte er den an ihn gerichteten Worten nicht folgen, und so muss die Sprecherinstanz Adam im Wesentlichen die Antworten auf die ihm gestellten Fragen soufflieren (sprich: ›ja, ich nante sie weichelmut‹). Während die Volkssprachen im Kontrast zu den drei göttlich sanktionierten, kanonischen Sprachen generell als sekundär oder abhängig betrachtet wurden, vollzieht dieser Spruch den wagemutigen Schritt, für die deutsche Sprache göttlichen Ursprung zu postulieren und sich auf eine zweite mythische Autoritätsperson zu berufen, um die Dissemination dieser Sprache zu beleuchten. Die logische Schlussfolgerung ist daher, dass nicht Adam, sondern der deutschsprachige Mennor als Garant für die Normativität von Frauenlobs Nomenklatur auftritt. Die Identität dieser Autorität bleibt unbekannt. Wenn der Name Mennor in der Tat von Frauenlob in Anlehnung an man erfunden worden ist (wie Stackmann vermutet),43 bildet das Wortspiel ein unverkennbares Indiz dafür, dass die Strophe bewusst Deutsch als Männer/Mennor-Sprache kennzeichnet und dadurch implizit seine Funktion als Mittel der Diskursivierung der Frau hervorhebt: Während der Mann deutlich als sprechendes Subjekt hervortritt, bleibt die Frau Gesprächsgegenstand, nicht Gesprächspartner.

III. Bei diesem grundsätzlichen Mangel an Dialogizität zwischen den Geschlechtern ist es kaum überraschend, dass die Vorstellung von man als Gegenteil von wîp nur selten formal in einem Streitgedicht in Szene gesetzt wird.44 Dieser Sachverhalt ist auch schon im Hinblick auf die Tatsache begreiflich, dass die beiden Geschlechter für eine echte Debatte um den höheren Status generell nicht als zureichend gleichrangig empfunden werden. Konkurrenzkämpfe zwischen den beiden Geschlechtern sind nur in einigen, klar umrissenen Kontexten sinnvoll, wie z.B. in Ulrich von Liechtensteins Frauenbuch, in dem ein Ritter und eine Dame darüber streiten, welches der beiden Geschlechter die größere Verantwortung für den Verfall der höfischen Werte trägt.45 43 44

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Stackmann, Karl, Stellenkommentar zu VII, *7 in: ders./Bertau (Hrsg.), Frauenlob [Anm. 6], Bd. 2, S. 873. Weibliche Personifikationen sind manchmal ziemlich aggressiv in ihrem Anspruch auf wirde; da sie aber meistens anderen weiblichen Personifikationen gegenübergestellt werden (z.B. Frauenlob IV, Minne und Werlt; Heinrich von Mügeln, Der meide kranz, in: Stackmann, Karl [Hrsg.], Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln, Zweite Abteilung, Berlin 2003 [DTM 84], S. 47–203), steht die gender-Thematik nicht im Vordergrund und die Auseinandersetzungen sind nicht von erotischer Spannung gekennzeichnet. Ulrich von Liechtenstein, Das Frauenbuch, Mittelhochdeutsch – Neuhochdeutsch, hrsg., übersetzt und kommentiert von Christopher Young, Stuttgart 2003 (RUB 18290). Walthers Lied Die hêrren jehent, wan sul den frowen (Nr. 22; L. 44,35) schneidet dasselbe

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Ein anderer dieser spezifischen Kontexte ist die Heilsgeschichte, wo die Beiträge der Frauen (repräsentiert durch Maria) und die der Männer (repräsentiert durch die Figur eines Priesters) manchmal gegeneinander abgewogen werden. Zwei strophige Streitgedichte, die diese spezielle Gegenüberstellung thematisieren, sind Suchensinns Lied 1 und der sogenannte Krieg von Würzburg.46 In Suchensinns Lied eröffnet eine weibliche Stimme den Disput mit einer direkten Herausforderung an den Priester: Dîn wirde hâstu von mir gar (1,10).47 Der Priester protestiert und weist u.a. auf seine Rolle bei der Eucharistie hin. In ihrer Entgegnung beruft sich die Frau auf die Fähigkeit der Frauen, neues Leben in die Welt zu bringen. Nicht nur war es eine Frau, Maria, die Christus geboren habe, auch er, der Priester, würde nicht existieren, wäre er nicht von einer Frau geboren worden: kein mess gesprochen sî / wîplîche frucht die sî dabî (1,57f.).48 Nachdem beide Parteien ihre Sicht der Dinge dargelegt haben, entscheidet Suchensinns Sprecherinstanz (die den gleichen Namen wie der Dichter trägt) im Sinne der Frau. Der Text gibt keinen Hinweis auf die Identität dieser streitbaren Frau. Auf einer Ebene ist sie nicht mit Maria identisch, sondern einfach eine Figur, der Suchensinn auf seiner Wanderschaft ûf einen anger wît (1,1) begegnet. Obwohl sich die Frau jedoch von Maria durch den Gebrauch der dritten Person abgrenzt,49 identifiziert sie sich so stark mit dem ganzen weiblichen Geschlecht, dass Marias Beitrag zur Heilsgeschichte effektiv ihr eigener wird. In dem Maß, in dem ihr Diskurs die Grenzen

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Thema an wie Das Frauenbuch, obwohl es nie zum direkten Dialog zwischen den Geschlechtern kommt. Siehe Ranawake, Silvia, ›der manne muot – der wîbe site‹. Zur Minnedidaxe Walthers von der Vogelweide und Ulrichs von Liechtenstein, in: Müller, Jan-Dirk / Worstbrock, Franz Josef (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck, Stuttgart 1989, S. 177–196. Dasselbe Lied betont auch die Abtrennung sowohl von Priestern wie von Frauen von der vom männlichen Laien vertretenen Norm. Diese beiden Kategorien bedürfen angeblich weiterer Unterscheidung: Sich crenkent frowen unde pfaffen, / daz si sich nicht scheiden lânt (22. IV.1f.; L. 4527f.). Zu dieser Stelle siehe Huber, Wort [Anm. 9], S. 34. Der Krieg von Würzburg, in: Bartsch, Karl (Hrsg.), Meisterlieder der Kolmarer Handschrift, Stuttgart 1862, Nachdruck Hildesheim 1962 (Bibliothek des Litterarischen Vereins 68), LXI, S. 351–362. Der Topos, dass das Priestertum, wie auch alle anderen guten und tugendsamen Dinge im Leben, von der Existenz der Frau abhinge, wird von Frauenlob bereits angedeutet. Vgl. VII,37,7: Wadurch ist pfaffen künne?, die Antwort hierauf wird in VII,37,18f., gegeben: wip, reine frucht, daz weist du wol: / durch dinen lip ist alle güte gefieret. Ein ähnliches Argument, dass nämlich auch Jungfrauen von Müttern zur Welt gebracht werden, wird in Lied 21,69–72 vorgebracht. Hier beansprucht die verheiratete Frau Vorrang vor der Jungfrau mit der Begründung: […] ich bin bereit / ein muoter aller cristenheit / und ein ursprunc und ein stam / aller reinen juncfraun nam. Man beachte ein ähnliches Argument, das zum Lobpreis der Minne in einem anonymen Lied im Korpus des Kanzlers angewandt wird (KLD 28, XVII,5,1–3): Kein heilig wart sô heilig nie, / kein profêt nie sô wise, / er sî doch von der minne hie. Z.B. 1,35: kiuschlîch truog in die maget sunder smerzen.

Zur Definition von wîp in der Spruchdichtung

417

zwischen den Termini maget, wîp und ich verwischt, wird es ihr möglich, theologisch gewagte Ansprüche zu erheben, wie etwa: […] ich bins ein leitvertrîp des hœchsten gots gehiure. ich bin ein ursprinc cristenlîches glauben. (1,7–9)

Und obwohl sie den Priester anfänglich mit ihrer fruchtbaren Sexualität beinahe herauszufordern scheint, trägt der mariologische Rahmen, auf den sich das Argument der Frau stützt, dazu bei, diesen potenziell provozierenden Aspekt ihrer Selbstdarstellung zu neutralisieren. Im Krieg von Würzburg dagegen werden die Kontrahenten als ›Frauenlob‹ und ›Regenbogen‹ identifiziert, die Standardwidersacher aus dem wîp-vrowe-Streit. Regenbogen präsentiert diesen Disput als metaphorisches Turnier: Bistuz her Gâwân, sô bin ichz her Parzifâl. / Lâ sehen wer under uns ersinge hie den Grâl (50f.). Wie von einem Kampf zwischen Gawan und Parzifal nicht anders zu erwarten ist, endet er unentschieden. Allem Anschein nach geht es hier um die Frage nach der relativen wirde von Frauen und Männern im Allgemeinen. Die vorgebrachten Argumente sind fast identisch mit denen in Suchensinns Lied,50 und so wird die Thematik gleichfalls im Grunde auf eine Gegenüberstellung von Frauen und Priestern reduziert. Die Implikation ist, dass das Priestertum die Essenz der Maskulinität darstellt – oder vielleicht einfach, dass der Mann erst in der Priesterrolle, die ihm den geschlechtlichen Umgang mit Frauen verbietet und für die es kein weibliches Äquivalent gibt, den wahren Gegenpol zum wîp verkörpert.51 Sicherlich hat keines der beiden Streitgedichte die Hierarchisierung durchschnittlicher Menschen, die sich in einer sexuellen Beziehung befinden, zum Thema. Ironischerweise sind die beiden Figuren, die zum jeweils prominentesten und markantesten Vertreter ihres Geschlechts gekürt werden (Maria für 50

51

Trotz einiger Hinweise auf Männer, die ein weltliches Leben führen (z.B. 108), fällt es ›Regenbogen‹ offensichtlich leichter, für eine männliche Vorrangstellung zu plädieren, indem er auf die Rolle hinweist, die der Priester bei der Eucharistie spielt: wâ wart ie wîp ûf erden ie sô wunnesan / die gotes wandelunge getorste rüeren an? (166f.). Um dies zu überbieten, beruft sich ›Frauenlob‹ auf Marias Beitrag zur Heilsgeschichte: Waz wær die messe und aller priester segen, / wær got von himel zir her abe niht enkomen / und het den tôt, die martel niht an sich genomen? / ez brâht uns freuden vil und dar zuo grôzen fromen. / daz erwarp uns ein reine maget, mit lobe sol wir ir pflegen (178–182). Dieses Maß an Separation spiegelt sich selbst in der Morphologie wider. Wie schon erwähnt, dient im Fall von man und mennin das Suffi x –in dazu, einen Eindruck von Äquivalenz und Parallelität zu erwecken, welcher der Vorstellung vom Mann als dem diametralen Gegenstück zur Frau entgegenläuft. Jede Äquivalenz ist unmöglich, wenn es sich bei besagtem Mann um einen Priester handelt: Obwohl die Termini pfäffin oder pfaffenweib existieren, kann natürlich keine Rede davon sein, dass man sich hierbei einen weiblichen Priester vorgestellt hätte. Pfäffin beschreibt lediglich einen unerlaubten weiblichen Sexualpartner des Priesters (Muskatblüt 98,28; vgl. Muskatblüt 98,39: du pfaffen weib).

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Annette Volfing

die Frauen und der Priester für die Männer), aufgrund ihres zölibatären Lebensstiles zugleich die untypischsten. Im Übrigen lässt sich der Schritt, wîpheit durch Rückgriff auf Maria zu definieren, als ein extremes Beispiel für eine Tendenz verstehen, die bereits in der Formulierung wunne in paradîse latent zu spüren ist, nämlich Frauen zum Straucheln zu bringen, indem Perfektion als Norm gesetzt wird. Trotz ihrer Unterschiede in Formulierung und Inszenierung unterstreichen beide Streitgedichte das Prinzip, dass die Definition und Kategorisierung des weiblichen Geschlechts eine fundamental männliche Aufgabe ist und dass denen, die diese Definition konstruieren, mehr Gewicht zukommt als denen, die definiert werden. Im Krieg von Würzburg steht die Konfliktdynamik zwischen den beiden männlichen Kontrahenten im Mittelpunkt und nicht der eigentliche Aufbau ihrer Argumentation. In ähnlicher Weise ist auch Suchensinns Lied, trotz des offensichtlichen Ungestüms der weiblichen Kontrahentin, frei von jedem echten Konflikt zwischen männlicher und weiblicher Perspektive. Im Mittelpunkt dieses Liedes steht nicht der Sieg der Frau, sondern die exekutive Rolle Suchensinns als Richter, der den Ausgang bestimmt.52 Die Tatsache, dass die Argumente der Frau an anderer Stelle in Suchensinns Korpus wiederverwertet werden, und zwar von der Stimme der Sprecherinstanz selbst,53 untergräbt die Illusion eines weiblichen Sieges oder auch nur einer weiblichen Perspektive. Indem es das Recht einer männlichen Sprecherinstanz auf Bewertung und Kategorisierung des weiblichen Geschlechts bekräftigt, ist Suchensinns Lied völlig repräsentativ für eine Gattung, in der es letztendlich um die Konstruktion von literarischer und linguistischer Autorität geht. Diese zwei Streitgedichte teilen mit den vorher behandelten Sprüchen und Liedern die Tendenz, das Thema wîp als abstraktes, linguistisches Problem zu behandeln – fast als Fallstudie zur Erforschung des grundsätzlich schiefen Verhältnisses zwischen der Unzulänglichkeit der vom Sündenfall geprägten Welt und den in der (gottgegebenen?) Sprache eingebauten Wertnormen. Natürlich gibt es Sprüche, die sich ›nur‹ damit befassen, einige konkrete Anweisungen an Frauen zu formulieren (z.B. Frauen sollen gehorsam oder keusch oder schweigsam sein). In vielen Fällen ist der Rückgriff auf das alltägliche Leben aber sehr vage konzipiert: Es geht diesen Dichtern nicht darum, Frauen tatsächlich über ihre ehelichen und gesellschaftlichen Pflichten zu belehren. Stattdessen tritt ein diskursives Spiel mit Gegensätzen, Negationen und Neologismen in den Vordergrund, das nicht nur die Konstruiertheit von gender-Rollen anerkennt, sondern auch ihre poetologischen Implikationen.

52 53

Lied 1,61: Ô Suochensin, den krieg solt du verslichten. Lied 11,18–24 vergleicht z.B. weibliche Fruchtbarkeit mit der Schöpfergewalt Gottes: ze gote glîch ich reine wîp, / in den sich bildet menschen lîp, / sie wirken frucht durch leitvertrîp, / die nieman in vergiltet. / ein mâler mâlt ein bild, dasz kan nit kôsen, / sô mâlet ein wîp lieplîch zart / ein frucht in ires hertzen gart. In Lied 2,31 drängt die Sprecherinstanz den (abwesenden) Priester dazu, seine eigene Unzulänglichkeit anzuerkennen: dâ von, priester, lâsz dînen strît.

V.

Normativität und Medialität: Die Verhandlung von Normen im Horizont von Retextualisierungsund Rezeptionsvorgängen

Stefanie Schmitt (Kassel)

Zwischen Heilsgeschichte und höfischer Literatur Erzählen von der Kindheit Jesu beim Priester Wernher und bei Konrad von Fußesbrunnen

Nikolaus Henkel hat vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass das »herkömmliche Modell der Literaturgeschichtsschreibung«, in dem »die Zeit um 1200 geprägt [ist] vom höfischen Minnesang, von den Romanen Hartmanns, Wolframs und Gottfrieds und von der Buchwerdung der Heldendichtung im Nibelungenlied«,1 nicht genügend berücksichtigt, dass zur Literatur dieser Zeit ebenso religiöses Erzählen in längeren und kürzeren legendarischen Dichtungen und biblisch-apokryphen Erzählungen gehöre.2 Seiner Ansicht nach steht fest, dass »man diese religiöse Erzählwelt abgrenzen muss von der nahezu zeitgleich sich etablierenden des höfischen Romans«.3 Wählt man den Stoff als Einteilungskriterium, trifft das sicherlich zu; es bleibt jedoch zu untersuchen, ob sich die religiösen Dichtungen auch unter dem Gesichtspunkt der Erzählweise grundsätzlich von der gleichzeitig entstehenden weltlichen Epik unterscheiden. Dieser Frage möchte ich anhand der Maria des Priesters Wernher und der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen nachgehen; zwei Dichtungen also, die nach Henkels Einteilung der »religiöse[n] Erzählwelt«4 zugehören. Dafür werde ich die beiden mittelhochdeutschen Dichtungen ausgehend von der Verkündigungsszene einander gegenüberstellen5 und dabei auch ihr Verhältnis zum apokryphen Pseudo1

2 3 4 5

Henkel, Nikolaus, Religiöses Erzählen um 1200 im Kontext höfischer Literatur. Priester Wernher, Konrad von Fußesbrunnen, Konrad von Heimesfurt, in: Jackson, Timothy R. / Palmer, Nigel F. / Suerbaum, Almut (Hrsg.), Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter, Internationales Symposium, Roscrea 1994, Tübingen 1996, S. 1–21, hier S. 1. Ebd., S. 20f. Ebd., S. 20. Ebd. Wernhers Maria liegt uns in den beiden Bearbeitungen der Handschriften A und D vor, deren Verhältnis zu Wernhers Text nicht genau zu bestimmen ist. Wesles Versuch, aus den Fragmenten ein ›Original‹ zu rekonstruieren, hat zu keinem tragfähigen Ergebnis geführt (vgl. Pretzel, Ulrich, Werner, Pfaffe, in: VL1, 4/1953, Sp. 901–910). Ich lege hier den Text von D zugrunde, der zwischen dem in A genannten Entstehungsdatum der Dichtung 1172 (A, V. 4810f.) und der Entstehung der Handschrift D im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts entstanden sein muss (vgl. Schneider, Karin, Gotische Schriften in deutscher Sprache I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Bd. 1, Wiesbaden 1987, S. 81–84; Henkel, Religiöses Erzählen [Anm. 1], S. 7). Textausgabe: Wesle, Carl (Hrsg.), Priester Wernher, Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen, 2. Aufl. besorgt durch Hans Fromm, Tübingen 1969

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Stefanie Schmitt

Matthäus-Evangelium berücksichtigen, das beiden in verschiedenen Fassungen als Vorlage gedient hat: für die Maria ist eine Quelle mit der Textform A oder P bzw. eine Kontamination beider anzunehmen, wie sie in einer süddeutschen Handschriftengruppe vorliegt; der Kindheit Jesu liegt eine Fassung zugrunde, die neben den Kindheitswundern auch die Schächerepisode bereits zweiteilig und ausführlich enthalten hat.6 Maßgeblich sind diese Vorlagen jedoch nur für das stoffliche Material, für die Unterschiede in der erzählerischen Ausgestaltung sind hier keine Erklärungen zu finden. Außer der ›Norm‹ der Vorlage, der sich sowohl der Priester Wernher wie auch Konrad von Fußesbrunnen in ihren Vorlagenberufungen verpflichtet zeigen,7 muss es also andere Faktoren geben, die sich auf die Dichtungen auswirken. Individueller Gestaltungswille der Verfasser ist es unter den Bedingungen heteronomer vormoderner Literatur sicher nur zu einem kleinen Teil.

I. Als Ausgangspunkt wähle ich die Verkündigungsszene. Das Lukasevangelium berichtet Folgendes: et ingressus angelus ad eam [Maria, St.Sch.] dixit have gratia plena Dominus tecum benedicta tu in mulieribus / quae cum vidisset turbata est in sermone eius et cogitabat qualis esset ista salutatio / et ait angelus ei ne timeas Maria invenisti enim gratiam apud Deum / ecce concipies in utero et paries filium et vocabis nomen eius Iesum / hic erit magnus et Filius Altissimi vocabitur et dabit illi Dominus Deus sedem David patris eius / et regnabit in domo Iacob in aeternum et regni eius non erit finis / dixit autem Maria ad angelum quomodo fiet istud quoniam

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(ATB 26). Für die Kindheit Jesu benutze ich die kritische Textausgabe: Fromm, Hans / Grubmüller, Klaus (Hrsg.), Konrad von Fußesbrunnen, Die Kindheit Jesu, Berlin / New York 1973. Zu den Quellen der Maria Gärtner, Kurt, Priester Wernher, in: VL2 , 10/1999, Sp. 903– 915, hier Sp. 909–911; Gijsel, Jan, Die Quelle von Priester Wernhers ›Driu liet von der maget‹, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 215/1978, S. 250– 255; zum Verhältnis zur Quelle Fromm, Hans, Untersuchungen zum Marienleben des Priesters Wernher, Turku 1955, S. 41–65. Zur Quelle der Kindheit Jesu Fromm, Hans, Konrad von Fußesbrunnen, in: VL2 , 5/1985, Sp. 172–175, hier Sp. 173f.; Ukena-Best, Elke, ›Domine, memento mei‹ – ›herre, nû erbarme dich‹. Die Lebensgeschichte des rechten Schächers in Konrads von Fußesbrunnen ›Kindheit Jesu‹ zwischen lateinischer Quelle, lateinischer Adaptation und deutscher Prosaauflösung, in: Walz, Dorothea (Hrsg.), Scripturus vitam. Lateinische Biographie von der Antike bis in die Gegenwart. Festgabe für Walter Berschin zum 65. Geburtstag, Heidelberg 2002, S. 185–206, hier S. 187; Masser, Achim, Bibel, Apokryphen und Legenden. Geburt und Kindheit Jesu in der religiösen Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1969, S. 83–87. Wesle (Hrsg.), Priester Wernher, Maria [Anm. 5], V. 83–140 u. 1242–49; Fromm/Grubmüller (Hrsg.), Konrad von Fußesbrunnen, Die Kindheit Jesu [Anm. 5], V. 3005–12.

Zwischen Heilsgeschichte und höfischer Literatur

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virum non cognosco / et respondens angelus dixit ei Spiritus Sanctus superveniet in te et virtus Altissimi obumbrabit tibi ideoque et quod nascetur sanctum vocabitur Filius Dei / […] / dixit autem Maria ecce ancilla Domini fiat mihi secundum verbum tuum et discessit ab illa angelus. (Lc 1,28–38)

Der Engel besucht Maria einmal. Auf den Gruß des Engels reagiert sie mit Erschrecken, auf die Verkündigungsbotschaft selbst mit Zweifeln an der Möglichkeit einer Schwangerschaft, die der Engel ausräumt. Im Pseudo-Matthäusevangelium wird von zwei Besuchen des Engels bei Maria erzählt: IX 1 Altera autem die Maria dum staret iuxta fontem ut urceolum impleret, apparuit ei angelus et dixit ei: Beata es, Maria, quoniam in mente tua deo habitaculum praeparasti. Ecce ueniet lux de caelo ut in te habitet et per te uniuerso mundo resplendeat. Item tertio die dum operaretur purpuram digitis suis, ingressus est ad eam iuuenis cuius pulchritudo non potuit enarrari. Hunc uidens Maria expauit et contremuit. Cui ille ait: Noli timere, Maria, inuenisti gratiam ante deum. Ecce concipies et paries regem qui imperat non solum in terra sed et in caelis et regnabit in saecula saeculorum.8

Die beiden Besuche des Engels bei Maria werden minimal räumlich verortet: der erste findet draußen am Brunnen statt, der zweite, wie schon im Lukasevangelium, drinnen (der Engel tritt zu ihr e i n), während sie Purpurstoff webt. Den größten Raum nehmen die in direkter Rede wiedergegebenen Verkündigungsworte des Engels ein. Erst beim zweiten Besuch wird Marias Reaktion erwähnt: sie erschrickt über die unbeschreibliche Schönheit des Engels (und nicht, wie im Lukasevangelium, über den Gruß); dieser Schrecken drückt sich körperlich in Zittern und Erbleichen aus. Die beiden deutschen Bearbeitungen unterscheiden sich sowohl von den lateinischen Texten wie auch voneinander beträchtlich. Während der Priester Wernher die Verkündigung als ein Stück Heilsgeschichte mit dem Ziel geistlicher Belehrung und Unterweisung erzählt, gestaltet Konrad von Fußesbrunnen sie zu einer in sich geschlossenen Szene aus. Im Vergleich zu den Berichten in der Bibel und in den Apokryphen wird die Verkündigungsszene in der Maria erheblich erweitert. Die erste Begegnung Marias mit dem Engel am Brunnen wird als Zusammentreffen zweier Lichtgestalten inszeniert: Maria wird als kamer des waren sůnne (V. 2321) und aller trivwen liehtuaz (V. 2326) apostrophiert, der Engel ist lvter sam daz glas (V. 2328). Durch die metaphorische Ausdrucksweise werden die Protagonisten gleichsam mit einem sprachlichen Heiligenschein versehen. Die in indirekter Rede wiedergegebene Botschaft des Engels an Maria bleibt geheimnisvoll:

8

Libri de nativitate Mariae. Psevdo-Matthaei evangelivm. Textvs et commentarivs cvra Jan Gijsel, Turnhout 1997 (Corpus christianorum, Series Apocryphorum 9), S. 377–379.

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Stefanie Schmitt ein engel lvter sam daz glas, mit grozer gute beuangen, der chom zu ir gegangen 4 bat sie wesen ân leide: gnade, fr " de 4 wêide wolte got mit ir geben 4 daz ewîge leben aller werlte: daz scholte sie gl " ben. er saget ir uon den gotes t " gen, daz ir schiere chome ein lieht, daz lange in der vinster niht mæhte sin uerborgen: sie wære div alle sorgen mit der barmunge ole linden begunde 4 senften wôle; sie wære div die ellenden wider heim scholte senden zu ir rehtem uaterlande, danne sie mit der sunden bande komen uon des tieuils rate. (V. 2328–47)

Maria solle ohne Kummer sein, denn Gott wolle durch sie Freude und ewiges Leben geben, ihr werde ein Licht erscheinen, das nicht mehr länger im Dunkeln verborgen bleiben könne, und sie könne mit dem Öl der Barmherzigkeit Kummer verringern und die Sünder heimführen. Neu ist im Vergleich zum apokryphen Evangelium die Formulierung von Marias Rolle für die Erlösung der Sünder.9 Maria reagiert auf die rätselhafte Mitteilung, nach der der Engel sich sofort nach Art eines Versteckspiels unter Kindern verbirgt (V. 2354f.), mit Neugier und dem Wunsch nach einem zweiten Besuch des Engels. Sie hätte aller gerniste / der rede gehoret me (V. 2348f.) und verstünde gern die tiefere Bedeutung der Worte, über die sie intensiv nachdenkt und um deren weitere Erschließung sie den Himmelsboten im Falle eines zweiten Besuchs bäte: des [über das Verschwinden des Engels, St. Schm.] began sie wnderen sere unde iedoh des dinges mere daz er hete ir furgeleit uon der chumftigen warheit. div rede duhte sie ze tîef, ir herze darunder nien slîef: sie gedahte waz er meinete, 4 daz erz baz bescheinete, des wolte sie in gerne biten,

9

Marias Rolle als Mittlerin für die Erlösung der Gläubigen ist in D stärker ausgeprägt als in A, wo nur gesagt wird, dass Maria durch das Öl der Barmherzigkeit von allem Kummer befreit sei (A, V. 2054–62).

Zwischen Heilsgeschichte und höfischer Literatur

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so er nah sinen siten anderstunt zu ir kame, daz sie sin ein ende uernæme. (V. 2357–68)

Bevor der zweite Besuch des Engels der Protagonistin die Bedeutung der rede offenbart, wendet sich der Erzähler mit einer Apostrophe an die Rezipienten und ruft sie zu einer angemessenen Rezeptionshaltung auf: nu m*get ir aller gernest mit liebe 4 willigen oren die svzzen rede horen 4 daz aller beste mære daz deheinem sundære ie wart gechundet, sit Adam was uerschundet. (V. 2370–76)

Er setzt dann wieder mit einer räumlichen Verortung der Handlung in Nazareth in Galiläa ein,10 unterbricht das Erzählen jedoch gleich wieder und hebt in einem Einschub die heilsgeschichtliche Tragweite des Erzählten heraus: Gott wolle sich der Menschen gnädig erbarmen und die Macht des Teufels brechen und habe deshalb den Engel Gabriel als seinen Boten auf die Erde gesandt (V. 2383–95). Erst dann folgt der zweite Besuch des Engels bei der mit Seidenspinnen beschäftigten Maria in der Kammer. Gegenüber dem Pseudo-Matthäusevangelium wird er um einen die Verkündigungsbotschaft erläuternden Dialog zwischen Maria und dem Engel nach dem Vorbild des Lukasevangeliums (Lc 1,34–38) erweitert.11 Im Vergleich zu den Vorlagen stellt der mittelhochdeutsche Text die Wirkung, die der Besuch des Engels auf Maria hat, detaillierter und dramatischer dar. Maria fängt vor Schreck nicht nur an zu zittern und wird blass; der unbeschreibliche göttliche Glanz Gabriels blendet sie so, dass sie die Besinnung verliert und die Handarbeit loslässt: also michel was der glast den der engelische gast uon gotes " gen brahte, daz div maget sih uberdahte, 4 daz werch daz sie da worhte daz lie sie uon grozer uorhte slifen uz den handen: des poten sie niht erchande. (V. 2407–14)

Der Gruß des Engels und die ihr rätselhafte Verkündigungsbotschaft lösen in ihr Nachdenklichkeit und Verzagtheit aus:

10 11

Lc 1,26. Vgl. Fromm, Untersuchungen [Anm. 6], S. 47.

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Stefanie Schmitt Div maget begunde denchen, div ovgen nider senchen; sie nam ez in ir ahte, wie daz werden mæhte, 4 wie dem gruzsal wære. trurik stunt div gewære. (V. 2431–36)

Auf ihren Einwand, dass eine Schwangerschaft aufgrund ihrer Jungfernschaft unmöglich sei, erläutert ihr der Engel, sie werde allein durch die Macht Gottes und den Heiligen Geist schwanger, wie es von jeher vorbestimmt sei (V. 2463–80). Maria fügt sich daraufhin gläubig in die ihr zugewiesene Rolle im Heilsgeschehen:12 ›got gnade mir, der gůte. als ich dih herre hore iehen, also můze mir geschehen [...].‹ (V. 2488–90)

Es folgt ein längerer, gut 130 Verse umfassender Einschub, der noch einmal die heilsgeschichtliche Bedeutung des Geschehens entfaltet. An Maria erfülle sich die von den Propheten geweissagte Menschwerdung Gottes und damit die Erlösung der Menschheit vom Sündenfall: Die herren der alten e waren ir wnskente me denne lebens oder libes, wand sie des eristen wibes val scholt undervahen: die gnade sie uor sahen. des gerten sie ie der suzzen, daz got ruhte grůzzen die werlte mit ir geburte 4 mit des kindes geinwrte. (V. 2555–64)

Heilsgeschichte läuft also nicht nur nach dem vorgegebenen göttlichen Plan ab, sie erweist sich durch den typologischen Bezug zwischen Eva und Maria auch in sich als geordnet und sinntragend. Am Ende des Abschnitts steht eine gebetsähnliche Reflexion über Maria als Mittlerin für den auf Erlösung hoffenden Sünder (V. 2620–34).13 Charakteristisch für die Verkündigungsszene in der Maria ist der den Text strukturierende Wechsel zwischen erzählenden und unter heilsgeschichtlichem Blickwinkel deutenden Abschnitten. Die im Vergleich detailliertere Beschreibung von Marias Reaktionen auf die Botschaften Gabriels in den erzählenden Passagen führt dazu, dass ihr Innenleben ein größeres Gewicht erhält als in den Vorlagen. Im Vordergrund steht dabei ihr Nachdenken über die tiefere Bedeutung der Verkündigungsbotschaft 12 13

Vgl. ebd., S. 54. In der Maria A (V. 2295–2308) ist der Gebetsduktus stärker ausgeprägt.

Zwischen Heilsgeschichte und höfischer Literatur

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und des Geschehens insgesamt. Für die Rezipienten leisten die deutenden Abschnitte eine solche Sinnerschließung im heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Hier liegt das eigentliche Ziel der Maria; auch wenn die Protagonistin im Vergleich zu den Vorlagen in Ansätzen eine Tiefendimension als Figur bekommt, bleibt die Handlung ein Faktengerüst mit geringem Eigenwert. Dazu trägt nicht zuletzt bei, dass der Erzählfluss im Interesse der Sinnerschließung immer wieder unterbrochen wird. Einen ganz anderen Charakter erhält die Verkündigungsszene bei Konrad von Fußesbrunnen. Er konzentriert sich gerade auf die Handlung und verzichtet auf ausdrückliche theologische Ausdeutung. Die erste Begegnung am Brunnen erwähnt er in elf Versen (V. 196–206) nur kurz und betont vor allem, dass Maria allein (alterseine, V. 198) gewesen sei, als ihr Botschaft und Gruß überbracht worden seien. Der englische Gruß selbst wird nur anzitiert, weil ihn ohnehin noch alle kennten (V. 203–206); eine Reaktion Marias wird nicht erwähnt. Wesentlich mehr Aufmerksamkeit richtet der Verfasser auf die zweite Begegnung mit dem Himmelsboten, deren nähere Umstände er ausführt: Marias Aufenthalt in der Kemenate wird damit motiviert, dass sie sich, mit einer kostbaren, für den Tempel bestimmten Handarbeit aus Seide und Gold beschäftigt, geistlicher Betrachtung hingeben wolle; um ungestört zu bleiben, schließe sie sich ein (V. 209–222). Ihre Vorkehrungen schützen sie jedoch nicht vor dem Eindringen eines überaus schönen und strahlenden Engels. Konrad begründet auch die Furcht näher, die der Anblick des ungebetenen Besuchers in ihr auslöst und sie die Wirkarbeit vergessen lässt: Ursache ist nicht nur der von ihm ausgehende übergroße Glanz wie im Pseudo-Matthäusevangelium und in der Maria, sondern die Annahme, es handle sich bei der schönen Gestalt um einen Mann: vil sêre si daz siune verdrôz, / wan si wânde ez wær ein man (V. 230f.). Die Begegnung selbst gestaltet Konrad von Fußesbrunnen ähnlich wie der Priester Wernher nach dem Vorbild des Lukasevangeliums als Zwiegespräch. Der Engel beruhigt Maria zunächst und verkündet ihr die frohe Botschaft, dass sie von Gott dazu bestimmt sei, einen Sohn namens Emanuel zu gebären. Auf ihre Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Verkündigung, weil sie nie mannes teil gewan / unt solher dinge nie began, / dâ von ich chint solde tragen (V. 244–246), erläutert ihr der Engel, dass sie durch den Heiligen Geist und durch die Kraft Gottes schwanger werden solle und von einem zur Mutter auserkoren sei, der mensch unde got (V. 255) sei. Daraufhin fügt sich Maria bereitwillig in den göttlichen Plan: si sprach: ›nû werde sîn gebot an mir als du hâst geseit: ich bin sîn diu unt vil bereit. mich dunchet des niht ze vil, des er mit mir beginnen wil.‹ (V. 256–260)

Nach dem Abschied des Engels bleibt Maria wieder allein zurück und bewahrt die Worte, den Gruß und den Segen in ihrem Inneren:

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Stefanie Schmitt der worte si eines niht vergaz, want si vil guoter sinne wielt. in ir herzen si behielt die rede, den gruoz, den segen. (V. 264–267)

Konrad konzentriert sich auf die erzählerische Gestaltung der Verkündigungsszene. Stärker als in den Vorlagen und auch stärker als in der Maria steht bei ihm Maria als Protagonistin im Vordergrund. Indem er Begründungen für ihr Handeln einführt, arbeitet er ihr Innenleben heraus: sie schließt sich in der Kammer ein, um nicht gestört zu werden, und behält das Erlebte, das zunächst nur sie als von Gott Auserwählte etwas angeht, ausdrücklich für sich. Für die tiefere Bedeutung der Worte des Engels und des Geschehens interessiert sie sich nicht. Indem die Abgeschlossenheit von Marias Kammer hervorgehoben wird, erscheint die kleine Szene auch räumlich deutlicher strukturiert, denn es tritt der Kontrast zwischen der ersten Begegnung draußen am Brunnen, im potenziell öffentlichen Raum, und der zweiten, gleichsam ›privaten‹ in der Kemenate stärker hervor. Man könnte sogar von einer sukzessiven ›Verinnerlichung‹ von der Begegnung am Brunnen über die in der Kemenate bis hin zum Verschließen der Worte des Engels in Marias Herzen sprechen. Konrads Verkündigung unterscheidet sich von seiner Vorlage, aber auch von der der Maria also vor allem in der Personenregie: er profiliert Maria als Protagonistin und richtet den Blick immer wieder kurz auf ihr Innenleben, wenn er Begründungen für ihr Verhalten einführt. Er erzählt eine in sich geschlossene und räumlich gegliederte Szene, die durch den Wechsel von Marias Alleinsein mit den beiden Begegnungen mit dem Engel klar strukturiert ist. Auf eine Ausdeutung des Geschehens verzichtet er; sie liegt nicht in seinem Interesse.

II. Die sehr unterschiedlichen Intentionen, die der Priester Wernher und Konrad von Fußesbrunnen mit ihren Dichtungen verfolgen, lassen sich nicht nur an der Verkündigung studieren. Dass es dem Priester Wernher darum geht, die Bedeutung des Lebens Marias und Jesu in der Heilsgeschichte verständlich zu machen, stellt er in seinem Marienleben immer wieder heraus.14 Auch wenn er gegenüber der Vorlage Erweiterungen einführt und sich, wie oben herausgearbeitet, z.B. im Dialog zwischen Maria und dem Engel sowie in der Beschreibung von Marias Reaktionen auf die Begegnungen mit dem Gottesboten stärker auf seine Figuren konzentriert, bleibt die

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Vgl. Masser, Achim, Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters, Berlin 1976 (Grundlagen der Germanistik 19), S. 93.

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Handlung bei ihm weitgehend ein erzählerisch nicht ausgestaltetes Faktengerüst. Die häufig erwähnte »seelische Einfühlungskraft Wernhers«15, für die Annas Trauer über ihre Kinderlosigkeit (V. 473–588) und Josephs Bestürzung über Marias Schwangerschaft (V. 3009–48) angeführt werden, bleibt punktuell auf den Ausdruck von Emotionen beschränkt. Im Zentrum steht bei ihm etwas anderes: »Wernher arbeitet die heilsgeschichtliche Bedeutung, den Sinn des einzelnen Geschehens im grossen Plan des Erlösungswerkes heraus. Das Ereignis selbst tritt in der Darstellung fast in den Hintergrund.«16

In der Maria wird immer wieder betont, dass in dem Geschehen das Wirken Gottes sichtbar werde, z.B. beim Kniefall von Ochs und Esel vor der Krippe mit dem Christuskind:17 do stunt ein esel 4 ein rint; daz keiserliche kint daz erkanten sie bediv: got der gab in under div einen uerstantlichen můt, 4 der sin wart in so gůt. sie vîelen nider an diu knîe: daz gescah dauor nîe. (V. 4015–22)18

Ähnlich wie in der Verkündigungsszene hebt der Erzähler auch an anderen Stellen hervor, dass sich in dem Geschehen alttestamentliche Prophezeiung erfülle, so etwa mehrfach in Bezug auf Jesu Geburt in einer Höhle in Bethlehem: daz enchom niht uon geschihte daz sie in alrihte in dem vinsteren hol scholte růwen so wol: di Christes predigære die heten uor manigem iare uor gescriben 4 gesaget, wie div muter v@ maget also scholte gebern unde uns des herren gewern,

15

16 17 18

Fromm, Untersuchungen [Anm. 6], S. 56. Vgl. Steinhäuser, Paul, Wernhers Marienleben in seinem Verhältnisse zum ›Liber de infantia sanctae Mariae et Christi salvatoris‹ nebst e. metrischen Angange, Berlin 1890, S. 21–23. Fromm, Untersuchungen [Anm. 6], S. 48 u. 62–64. Vgl. Masser, Bibel- und Legendenepik [Anm. 14], S. 93. Vgl. auch Wesle (Hrsg.), Priester Wernher, ›Maria‹ [Anm. 5], V. 3656–86: Marias Vision als Ausstattung mit geheimem Wissen durch Gott. Vgl. Psevdo-Matthaei evangelivm [Anm. 8], XIV.

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Stefanie Schmitt der ze uoget wrde gezalt fur des tieuels gewalt. (V. 3827–38)19

Auch der Engel, der Joseph nach dem Tod des Herodes zur Rückkehr aus dem Exil auffordert, bezieht sich auf die Weissagung, dass das Heil der Christen von Judäa ausgehen solle: 4 wîzze daz der heilige Christ, swaz uon ime gescriben ist, daz wil er in Judea began! da erhebet sih sunder wân daz heil der christenheit, als ez uor ist gewîssæit, 4 als er hat geheizzen. (V. 5001–07)

Auch unter typologischem Blickwinkel wird das Geschehen in der Maria perspektiviert: Christus erlöst die Menschen von der Sünde, die durch Adam und Eva in die Welt gekommen sei (hier in der Aufforderung des Engels an die Hirten zum Aufbruch nach Bethlehem):20 er [Gott, St.Sch.] hat an sih enpfangen daz bild siner hantgetat durh den uaterlichen rat, daz er die werlt alle erlose uon dem ualle, den der eriste menniske tet uz der wnneklichen stet in ditze chlagliche tal. nu ist div schulde 4 der ual Adames gar uerchorn; [...]. (V. 4055–64)

Dem Ziel geistlicher Unterweisung der Rezipienten verdankt sich auch der an einigen Stellen gleichnishafte Rededuktus; z.B. wird die von Gott vorgesehene und durch einen allgemeinen Frieden vorbereitete Ankunft Christi mit der Reife des Weins verglichen: michel reht was daz, do er nahwendik was, daz stæter fride wrde, und die schalklichen burde abe musen slifen. diu rebe began do rifen da wir den wintruben scholten abe chluben, 19 20

Vgl. auch Wesle (Hrsg.), Priester Wernher, ›Maria‹ [Anm. 5], V. 3610–12, 3812–16 u. 4069–71; weitere Stellen bei Fromm, Untersuchungen [Anm. 6], S. 48. Vgl. auch Wesle (Hrsg.), Priester Wernher, ›Maria‹ [Anm. 5], V. 141–146.

Zwischen Heilsgeschichte und höfischer Literatur

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danne uns flôz daz wîzzot daz den ewigen tot zefuret 4 gnade tůt: daz ist daz sin here blut. (V. 3575–86)

An einigen Stellen wird die Paränese auch explizit ausgeführt, wenn etwa der von Gott aufgrund seiner Sünden zu einem qualvollen Ende verdammte Herodes als ›exemplum‹ des Sünders gedeutet wird: Also můz ez allen den ergen die got wellent widersten unt siner ordinunge. dise warnunge diu ist iv uor gezellet, ob ir genesen wellet, daz ir die werlte schîvhet diu hinze helle zivhet, vnt fliehet irdisken hort durh daz gotes wort, daz ane zwiuel gestat, so himel vnt erde zergat. (V. 5025–36)

Diese theologisch erläuternde Erzählweise ist Konrads Kindheit Jesu fremd;21 sein Schwerpunkt liegt auf der erzählerischen Ausgestaltung der Handlung. Sein Interesse am Erzählen wird auch an der Ausgestaltung der Wundertaten des Jesuskindes (Längung des verschnittenen Holzes, Erweckung des toten Spielkameraden u.a.) zu lebendigen kleinen Episoden deutlich;22 in der Maria A werden sie nur aufgezählt. 23 Gekennzeichnet ist seine Erzählweise insgesamt durch eine verstärkte Profilierung der Figuren und ihres ›Innenlebens‹, durch die erzählerische Gestaltung in sich geschlossener kleiner Szenen, die mit Atmosphäre erzeugenden Details ausgeschmückt werden, und durch Ansätze zur räumlichen Strukturierung der Handlung. Am stärksten ausgeprägt – aber eben nicht darauf beschränkt24 – sind diese Charakteristika in der gut ein Viertel des Textumfangs einnehmenden Episode vom guten Schächer: Es wird erzählt, wie die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten in die 21

22 23

24

Vgl. Masser, Bibel- und Legendenepik [Anm. 14], S. 96, der bei Konrad eine fehlende »innere[] Auseinandersetzung mit dem religiösen Stoff« konstatiert und ihm die Fähigkeit dazu abspricht. Vgl. Fromm/Grubmüller (Hrsg.), Konrad von Fußesbrunnen, ›Die Kindheit Jesu‹ [Anm. 5], V. 2563–2940. In der Maria A [Anm. 5], V. 4469–4548, werden die Wunder Christi (Heilung von Kranken, Auferweckung von Toten, Speisewunder etc.) summarisch aufgezählt. Henkel, Religiöses Erzählen [Anm. 1], S. 5, erwägt, dass die nur in A erhaltene Passage mit Christi Wirken und Wundertaten »vielleicht nachträglich zugefügt[]« sein könnte; in diesem Sinne auch schon Masser, Bibel- und Legendenepik [Anm. 14], S. 90. Anders Fromm, Konrad von Fußesbrunnen [Anm. 6], Sp. 174.

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Stefanie Schmitt

Hände von Räubern fällt, überraschend bei einem der Schächer in perfektem höfischem Ambiente gastfreundlich aufgenommen wird und dort auch bei der Rückkehr aus Ägypten noch einmal einkehrt. 25 Ich konzentriere mich hier auf Beispiele, für die ein direkter Vergleich mit der Maria möglich ist. Die Heilige Familie wird bei Konrad ganz selbstverständlich immer wieder in einen Personenverband eingebunden. In Bethlehem wird ihr z.B. die Hilfe ihrer Verwandten zuteil (was durch die Abstammung von dort motiviert sein könnte): Salomê und Zelonî, die Josef als Hebammen zu Maria bittet, sind seine in der Stadt ansässigen mâge (V. 775); sieben Tage nach der Geburt wird Maria von ihren friunt (V. 1130) von ihrem Platz vor der Höhle außerhalb der Stadt nach Bethlehem hineingebracht und versorgt: nu châmen ir friunt genuoge dar unt nâmen si schône in ir phlege unt fuorten si mit in after wege ze Bethlehêm in die stat. (V. 1130–33)

Selbstverständlich findet auch Jesu Beschneidung im Kreis der Verwandten statt (V. 1134–39). Selbst auf die Flucht nach Ägypten begibt sich die Heilige Familie bei Konrad nicht allein, sondern in Begleitung von Knechten und einer Magd: Jôsêp als er die rede [die Aufforderung des Engels zur Flucht] vernam, die frouwen er zuo im nam mit dem lieben chinde unt ander sîn gesinde; des was niht mêre, als man uns saget, wan drî chneht unt ein maget. (V. 1325–30)26

Auch auf Details der Ausstattung richtet Konrad immer wieder sein Augenmerk: so sorgt Josef dafür, dass Maria in der Geburtshöhle so gut wie möglich mit Bettwäsche versorgt ist und dass alles Überflüssige herausgeräumt wird (V. 763–771); die Hebammen bringen für Maria und sich Verpflegung mit (V. 785–788); nach der Darbringung im Tempel wird betont, wie sich alle um die bestmögliche Versorgung des Jesuskindes in der Wiege bemühen: uber unt under wart gebreit gewæte rein unde wîz. diu muoter hêt sîn grôzen vlîz. wie si sîn sô phlæge, daz ez schôn unt sanfte læge, daz tet si doch vil lîhte,

25 26

Vgl. die ausführliche Analyse von Ukena-Best, Lebensgeschichte des rechten Schächers [Anm. 6]. Im Pseudo-Matthäusevangelium werden die drei Diener und die Dienerin erst etwas später, bei der Rast in einer Höhle, erwähnt (Psevdo-Matthaei evangelivm [Anm. 8], XVIII,1).

Zwischen Heilsgeschichte und höfischer Literatur

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wan ez wâren ie gedîhte die engel bî ir herren unt liezen im niht werren. (V. 1198–1206)

Ähnlich wie in der Verkündigungsszene, wenn Maria sich einschließt, um nicht gestört zu werden, hängen auch sonst häufig kleine Ansätze zur Raumregie und der Versuch, das Handeln der Personen zu motivieren, zusammen. So lässt Maria sich nach drei Tagen mit dem Kind vor der Höhle eine Lagerstatt schaffen, damit die vielen Besucher, für die es in der Höhle zu eng ist, sie besser sehen können:27 nû bat sie ir betten her fur durch der liute gemach; ob si ieman gerne sach, daz si sich den wol sehen lie. (V. 1060–63)

Das öffentliche Interesse an Maria und dem Kind erfordert einen für alle sichtbaren Aufenthaltsort.

III. Der Maria wie der Kindheit Jesu hat die Forschung bescheinigt, vom höfischen Erzählen beeinflusst zu sein. Für die Maria hat man hervorgehoben, dass sie sprachlich und stilistisch auf die frühhöfische Literatur vorausweise.28 Die lexikalische und stilistische Nähe der Kindheit Jesu zu Hartmann ist seit langem Allgemeingut der Forschung;29 Elke Ukena-Best hat zuletzt an der Schächerepisode gezeigt, wie der »religiöse[] Stoff für ein höfisches Publikum aufbereitet« werde, indem »Erzählmittel der höfischen Epik« eingesetzt würden.30

27 28 29

30

Vgl. Masser, Bibel [Anm. 6], S. 180. Vgl. Fromm, Untersuchungen [Anm. 6], S. 102–104, 111–114 u.ö.; Gärtner, Priester Wernher [Anm. 6], Sp. 912. Vgl. Gombert, Albertus, De tribus carminibus theotiscis. Commentatio philologica, Diss. Halle/S. 1861; besprochen und durch zusätzliche Belege erweitert von Bartsch, Karl, Konrad von Fußesbrunnen und Konrad von Heimesfurt, in: Germania, 8/1863, S. 307–330; Fromm, Konrad von Fußesbrunnen [Anm. 6], Sp. 174f. Ukena-Best, Lebensgeschichte des rechten Schächers [Anm. 6], S. 188. »Zu nennen sind hier Darbietungsverfahren wie etwa die kunstvolle Beschreibung von Örtlichkeiten, Personen und Gegenständen nach rhetorischen Mustern, die Akzentuierung und Veranschaulichung zentraler Handlungspartien durch vorgangsentfaltende Dialogisierung und szenische Umsetzung mit längeren Figurenreden, die Darstellung der psychologischen Dimension bei der Figurengestaltung mit Begründung von Handlungs- und Verhaltensweisen aus dem Seelenzustand der Handlungsträger oder die Gestaltung von Sinnbezügen

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Stefanie Schmitt

Das lässt sich nur bestätigen; es zeigt sich jedoch, dass eine Kategorie wie ›Höfisierung‹ nur begrenzt aussagekräftig ist, wenn es darum geht, die Spezifika der beiden mittelhochdeutschen Dichtungen auf der Grundlage des apokryphen Pseudo-Matthäusevangeliums zu erfassen. Entscheidender als der Nachweis einer, wie im Falle der Maria, punktuellen oder, wie bei der Kindheit Jesu, tiefer greifenden Beeinflussung durch die Erzählweise der höfischen Literatur ist die jeweils zugrunde liegende Bestimmung der Aufgabe von Literatur. Der Priester Wernher interessiert sich für die Bedeutung des Geschehens und will mit seiner Dichtung dazu beitragen, den Sinn von Geschichte und d.h. im Mittelalter immer: von Heilsgeschichte zu erschließen. In diesem Sinne knüpft er an die Erzählweise frühmittelalterlicher Literatur an31 – auch wenn er in Sprache und Stil, in Ansätzen auch in der Figurengestaltung näher am höfischen denn am frühmittelalterlichen Erzählen steht. In Konrads von Fußesbrunnen Freude an der erzählerischen Gestaltung des Geschehens hingegen wird die Aufgabe des Erzählens ganz anders bestimmt: er möchte das Handeln der Akteure in ihrer Welt begreifbar machen. Dafür muss er eine (Erzähl-)Welt ausgestalten, in der diese als handelnde Figuren begriffen werden können. Dies ist die Erzählweise, die sich seit Heinrich von Veldeke und Hartmann von Aue im höfischen Roman etabliert hat. Diese veränderte Bestimmung der Auffassung von Literatur macht erst eigentlich Konrads Nähe zum höfischen Erzählen aus. Das wirkt sich vor allem auf die folgenden drei Bereiche aus: 1. Personenregie: Konrad stellt in viel stärkerem Maß als der Priester Wernher die Akteure in den Mittelpunkt und verleiht ihnen in Ansätzen ein ›Innenleben‹, indem er ihre Gedanken und Gefühle beschreibt und im Zusammenhang damit auch ihr Handeln motiviert. Er zeigt sie auch immer wieder in einem sozialen Umfeld. Beim Priester Wernher bleiben die Figuren in der Hauptsache ›Rädchen‹ im göttlichen Heilsplan, auch wenn er an einzelnen Stellen ihre Gedanken und Gefühle berücksichtigt. 2. Raumregie: In der Kindheit Jesu lassen sich vor allem in der Unterscheidung von Innen- und Außenräumen (Brunnen vs. Kemenate; Geburtshöhle vs. Lagerstatt am Weg) Ansätze zur räumlichen Strukturierung der Handlung erkennen; in der Maria spielt das keine Rolle. 3. Erzählen in Szenen: Konrad schafft erzählerisch in sich geschlossene und strukturierte Szenen, die er mit Atmosphäre und Ambiente versieht. Für den Priester Wernher bleibt die Handlung ein Faktengerüst, an das sich theologische Deutung und Heilslehre anknüpfen lässt. Die Nähe der Kindheit Jesu zur höfischen Epik belegt auch die Überlieferung. Während die Maria stets im »adliger Literaturpflege zuzuordnenden Andachts- und

31

zwischen Personen, Aktionen und Schauplätzen, die den Bedeutungsgehalt des epischen Geschehens tragen« (ebd.). Vgl. Hellgardt, Ernst, Frühmittelhochdeutsche Literatur, in: RLW, 1/1997, S. 636–640, hier S. 637.

Zwischen Heilsgeschichte und höfischer Literatur

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Erbauungsbuch« tradiert ist,32 wird Konrads Dichtung in C (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 74) und dem Fragment L (Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1021, bis zum 19. Jahrhundert Teil des Cod. 857 der St. Galler Stiftsbibliothek) auch mit höfischer Erzählliteratur vergesellschaftet: »Die in C und L vorliegende Überlieferung gemeinsam mit erzählenden Werken weltlicher Literatur bezeichnet die Einbeziehung religiöser Erzählungen in den Benutzungsrahmen höfischer Geselligkeit und adlig orientierter Sammeltätigkeit.«33

Die Kindheit Jesu ist also ein Beispiel dafür, dass die Grenzen zwischen einer durch legendarische und biblisch-apokryphe Dichtungen vertretenen »religiöse[n] Erzählwelt«34 und der des höfischen Romans doch nicht so streng zu ziehen sind, wie es die von Henkel (und vielfach auch sonst) als Ordnungskriterium herangezogene Dichotomie zwischen religiöser und weltlicher Literatur suggeriert. Die Kindheit Jesu ist dem Stoff nach fraglos eine religiöse Dichtung, in ihrer Bestimmung der Funktion von Literatur und ihrer Erzählweise steht sie jedoch aufseiten der (weltlichen) höfischen Epik.

32

33

34

Henkel, Religiöses Erzählen [Anm. 1], S. 8: »Überblickt man die genannten Überlieferungszeugen von Wernhers Maria, dann fallen als äußerliche Merkmale auf: das relativ kleine Format der Bücher von 14–18 cm Höhe und ca. 11 cm Breite sowie die Einrichtung der Buchseite, einspaltig und in der seit den 40er Jahren veraltenden Notierung in durchgeschriebenen Versen. Außerdem ist, abgesehen vom Corpus A und soweit sonst erkennbar, Wernhers Werk hier stets alleine, als Einzeltext, überliefert. Damit verwandt als Überlieferungstyp ist das Corpus A, ein einheitlich gestaltetes ›Marienbuch‹.« Henkel, Religiöses Erzählen [Anm. 1], S. 19. Zur Überlieferung der Kindheit Jesu ebd., S. 10; Fromm, Hans / Grubmüller, Klaus, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Konrad von Fußesbrunnen, ›Die Kindheit Jesu‹ [Anm. 5], S. 1–70, hier S. 9–12. Henkel, Religiöses Erzählen [Anm. 1], S. 20.

Henrike Lähnemann (Newcastle upon Tyne)

Also do du ok Andachtsanweisungen in den Medinger Orationalien1

›Andachtsanweisung‹ ist kein eingeführter Begriff in der Normativitätsdiskussion; er ist hier gewählt, um eine Form von Normentransfer zu charakterisieren, die ein Schlüsselelement in den Orationalien der Medinger Nonnen ist. Der Terminus der ›Andacht‹, wie er in ›Andachtstext‹ bzw. ›Andachtsbild‹ verwendet wird, ist der Forschung zunehmend problematisch geworden,2 aber die Medinger Handschriften erlauben zumindest für den norddeutschen Raum und den Umkreis der Nonnenklöster eine konkrete zeitgenössische Wortbestimmung. So spricht die Rubrik zur Lesung des Johannesprologs in der Weihnachtsmesse von ›Andacht‹ in einem Zusammenhang, der gleich auch den Bereich der Anweisungen deutlich werden lässt: Wanme singhet: »Verbum caro factum est« (Jo 1,14) […] We is nv stenen van herten, dede nicht beweghet werde van dessen soten worden: gode sone is minsche worden. Darumme, leve minsche, b u g h e d i k n i m i t g h a n s e r a n d a c h t d i n e s h e r t e n unde danke gode der groten leve, de he to vns ghehat heft, dar em bet was in usem armote, wen he in alle der ere de he hadde in dem hemmelrike, dat he dar des minschen enberen scholde.3

1

2

3

Dieser Aufsatz ist Teil eines längerfristigen Projekts zu den Medinger Handschriften. Auf der Projektseite http://research.ncl.ac.uk/medingen (Stand: 19.04.2009) werden die Handschriften, geordnet nach den von Lipphardt eingeführten Siglen (die sich auf die Aufbewahrungsorte beziehen), nach ihrem liturgischen Repertoire erschlossen. Dort ist auch die im Folgenden zitierte Spezialliteratur zu den Medinger Handschriften verzeichnet und in pdf-Dokumenten zugänglich. Die Webpage soll auf die Dauer Transkriptionen und Abbildungen aller aus Medingen überlieferten Handschriften enthalten. In einer großen Konjunktur des Themas ›Andachtsbild‹ in den 1980er Jahren (mit ausführlicher Literatur Belting, Hans, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter, Berlin 1981) wurden die vielfältigen Typen entwickelt, die immer stärker auch den sozialen Charakter des Andachtsbilds betonen, seine Überschneidung mit anderen Funktionstypen (vgl. etwa zum Typus ›lehrhafte Bildtafeln‹ Slenczka, Ruth, Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Kirchen, Köln 1998 [pictura et poesis 10]), und damit zum umgangssprachlichen Gebrauch des Terminus ›Andacht‹ stärker in Spannung treten und auch die Gattungsgrenzen aufbrechen. Das Wort ›Anweisung‹ verwende ich hier als praktische Konkretion der als schwache Form der Regulierung verstandenen ›Norm‹. GO [Gotha, Landes- und Forschungsbibliothek, Ms. Memb. II. 84], f. 21v. Vgl. Schipke, Renate, Die Maugérard-Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha, Gotha 1972 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 15), S. 64–67. Die Handschriften werden nach der Siglenliste [vgl. Anm. 1] zitiert. Wenn nicht anders angegeben, sind die Zitate

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Henrike Lähnemann

Die Aufforderung zum Niederknien mit der »ganzen Andacht deines Herzens« ist als Reaktion auf das in der Messe vergegenwärtigte Heilsgeschehen gefordert. An die Aufforderung zur kniefälligen Andacht schließt sich eine Schilderung der Geburtsszene nach den Revelationes Birgittas von Schweden an, die mit Marias Gebet endet, das genau als Vorbild dieser Handlung gezeichnet wird: Und dar na v a l s e u p e r e k n i m i t g r o t e r w e r d i c h e i t unde gaf sik an ere bed; eren rughe kerde se to der krubben, ere antlat kerde se up to dem hemmele in dat ostene, unde ere andacht was in dem hemmele.4

Der andächtige Kniefall bei der lateinischen liturgischen Lesung aus dem Johannesprolog ermöglicht den Nachvollzug des Ursprungsgeschehens; die Beugung vor dem Altar während der Messe stellt eine direkte Verbindung mit Marias Handeln dar und synchronisiert die liturgische Zeit mit der Heilszeit. Die Andachtsanweisung erzeugt so in der inneren Vorstellung ein sichtbares Parallelgeschehen zur Zeichenhandlung der Messe. Der Andachtsanweisung kommt damit eine zentrale Funktion in den Medinger Orationalien5 zu, die einen besonderen Handschriftentypus darstellen. Die Oratio-

4

5

eigene Transkriptionen nach den Handschriften. Die Interpunktion wurde hinzugefügt, die u/v/w- und i/j-Schreibung normalisiert; erklärende Stellennachweise und hervorhebende Sperrungen wurden ergänzt. GO, f. 22r. Der vollständige Text der Weihnachtsbetrachtung ist jetzt publiziert bei Andersen, Elizabeth, Das Kind sehen: Die Visualisierung der Geburt Christi in Mystik und Meditation, in: Bauschke, Ricarda / Coxon, Sebastian / Jones, Martin H. (Hrsg.), Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009, Berlin 2011, S. 290–310, hier S. 304–310. Parallel dazu ist die Andachtsanweisung zur Rubrik der ersten Weihnachtsmesse formuliert: a n b e d e dat leue kindeken m i t a n d a c h t d i n e s h e r t e n , s i n g h e vp dem seydenspele diner sele vnde s p r i k : »Ghelouet sistu ihesu crist dat du hute boren bist van eyner maghet, dat js war, des vrowet sik alle de hemmlsche scar. kryol(eis)«, W2 [Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Ms. Extrav. 300,1], f. 32v/33r, zitiert nach Lipphardt, Walther, Die liturgische Funktion deutscher Kirchenlieder in den Klöstern niedersächsischer Zisterzienserinnen des Mittelalters, in: Zeitschrift für katholische Theologie, 94/1972, S. 158–198, hier S. 177, abgebildet als Tafel III in Lipphardt, Walther, Zwei neu aufgefundene Nonnengebetbücher aus der Lüneburger Heide als Quelle niederdeutscher Kirchenlieder des Mittelalters, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie, 14/1969, S. 124–129. Das angeführte Lied Gelobet seist du, Jesu Christ ist eine deutsche Weiterentwicklung der lateinischen Sequenz Grates nunc omnes, in die es eingeschoben wird. Sie stellt eine komplementierende Vollzugsform des gleichen Andachtsaktes dar, vgl. dazu Lähnemann, Henrike, ›An dessen bom wil ik stighen.‹ Die Ikonographie des Wichmannsburger Antependiums im Kontext der Medinger Handschriften, in: Oxford German Studies, 34/2005, S. 19–46. Lipphardt, Walther, Niederdeutsche Reimgedichte und Lieder des 14. Jahrhunderts in den mittelalterlichen Orationalien der Zisterzienserinnen von Medingen, in: Niederdeutsches Jahrbuch, 95/1972, S. 66–131. In dem ersten Aufsatz zum Thema war die Rede von »Nonnengebetbüchern« (Lipphardt, Walther, Zwei neu aufgefundene Nonnengebetbücher aus der

Andachtsanweisungen in den Medinger Orationalien

439

nalien entstehen innerhalb wenig mehr als einer Generation zwischen 1479 (der Reform des Klosters) und der lutherischen Reform. In ihnen verbinden sich lateinische Liturgie und teils lateinische, teils niederdeutsche Hymnik, die oft auch mit Notenschrift versehen ist, mit einem wiederkehrenden Bestand an Betrachtungen, Meditationen und Gebeten, die in einigen der Handschriften vorwiegend lateinisch, in anderen vorwiegend niederdeutsch formuliert werden. Wie aus Besitzvermerken, Gebetsanliegen und Schreibnotizen geschlossen werden kann, produzierte eine große Gruppe von Schreiberinnen die vorwiegend lateinischen Handschriften meist zum Gebrauch einzelner Nonnen im Medinger Konvent, die vorwiegend niederdeutschen Handschriften dagegen häufig für verwandte Patrizierinnen in Lüneburg. Diese Arbeit in zwei Sprachen bedeutet, dass für viele der Meditationen, Hymnen und Gebete Parallelversionen auf Lateinisch und Niederdeutsch bestehen. Auch die Andachtsanweisungen werden nahezu identisch für die geistlichen und weltlichen Frauen formuliert. Diese Andachtsanweisungen lassen sich als Teil des Reformprozesses lesen, der durch die Neuordnung des Klosterlebens 1479 einsetzte. Von den Nonnen wird die Reform als Rückkehr zur ›norma vivendi‹ der Benediktsregel betrachtet. Ein erster Teil beschäftigt sich darum mit der Klosterreform als Rahmenwerk von Regelbefolgung und Handschriftenproduktion, ein zweiter Teil betrachtet die Orationalien als ein komplexes Medium der Normvermittlung im Zusammenspiel von Wort, Bild und Musik.

I Das evangelische Damenstift Medingen zeigt heute von seinem mittelalterlichen Erbe als Zisterzienserinnenkonvent nur noch das gotische Brauhaus; der Rest der Gebäude brannte Ende des 18. Jahrhunderts ab. Das Archiv ist weitgehend verloren, aber wenige Jahre zuvor dokumentierte der örtliche Pfarrer umfangreich die Kloster-

Lüneburger Heide als Quelle niederdeutscher Kirchenlieder des Mittelalters, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie, 14/1969, S. 124–129), in dem leider nie publizierten Manuskript für den Zentralen Handschriftenkatalog des Deutschen Kirchenlieds neutral von »Handschriften« (Lipphardt, Walther, Handschriften aus Medingen 1290–1550, in: Zentraler Handschriftenkatalog des Deutschen Kirchenlieds, 1. Serie, 1971 abgeschlossen). Alle Aufsätze von Lipphardt sind in seinem posthum erschienenen Artikel für das Verfasserlexikon nachgewiesen: Lipphardt, Walther, ›Medinger Gebetbücher‹, in: VL2 , 6/1987, Sp. 275–280; dazu mit Korrekturen und neuerer Literatur der Artikel ›Medinger Gebetbücher‹ [Nachtr.], VL2, 11/2003, Sp. 983.

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Henrike Lähnemann

geschichte und schloss in seinen ›Bericht‹ Kupferstiche nach den 15 Tafeln ein, die 1499 aufgehängt wurden, ein wichtiges Bild-Text-Zeugnis für die Reform.6 Die Geschichte geht von der Gründungslegende bis zum 9. Dezember 1494, als concorditer & canonice von den Nonnen die erste Priorin nach der Reform, Margarete Puffen, zur Äbtissin gewählt und eingeführt wurde. Die letzte Tafel zeigt die thronende Äbtissin mit dem knienden Propst und drei Nonnen, die den neu geschaffenen Äbtissinnenstab bringen lassen. Aus ihrer Sicht ist das lateinische Abschlussgedicht gesprochen, in dem gelobt wird, wie Margareta Puffen nos Cristi ancillas sanctam reformacionem & observanciam edocebat und die Blumen der wahren Religion und Reform ausgestreut habe.7 Für die Vorstellung davon, was reformacio und damit auch Normierung eigentlich bedeutet, ist aber das vorletzte Bild in der Serie, das die Klosterreform von 1479 zeigt, noch aufschlussreicher. Während die letzte Tafel mit dem lateinischen Gedicht in der Wir-Form schließt, ist hier, wie auf allen anderen Tafeln, ein zweisprachiger Bericht beigefügt, der laut Lyßmann unterhalb der Bilder auf den Tafeln stand. In lateinischer und niederdeut-

6

7

Die Inschriften der Lüneburger Klöster. Ebstorf, Isenhagen, Lüne, Medingen, Wienhausen, gesammelt und bearbeitet von Sabine Wehking, Wiesbaden 2009 (Die deutschen Inschriften 76, Göttinger Reihe Bd. 13). Abdruck und Übersetzung der Tafeln auf S. 125–137. Der Text der Bildtafeln ist außerdem zusammen mit den erhaltenen Resten abgedruckt im Urkundenbuch des Klosters Medingen, bearbeitet von Joachim Homeyer, für den Druck vorbereitet von Karin Gieschen, mit einem Index der Personen und Orte von Uwe Ohainski, Hannover 2006 (Lüneburger Urkundenbuch Abt. 10, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 233). Zugrunde liegt in beiden Fällen: »Anhang der funfzehn Tafeln, in welchen die vornehmste Begebenheiten unsers Closters von dessen Stifftung an, bis auf das Jahr 1449 [sic! recte: 1499] kürtzlich verfasset sind«, in: Lyßmann, Johann Ludolf, Historische Nachricht von dem Ursprunge, Anwachs und Schicksalen des im Lüneburgischen Herzogthum belegenen Closters Meding […] bis auf das Jahr 1769 fortgesetzt, Halle 1772. Der Band, der im Folgenden als ›Bericht‹ bezeichnet wird, ist samt den Tafeln auf der Webseite des Medingen-Projekts [Anm. 1] einsehbar. Vere religionis et reformacionis sparsit flores / Et reprobavit omnes errores. Übersetzung des gesamten Textes bei Lyßmann [Anm. 6]: »Im Jahr Christi 1494 ist die Ehrwürdige Fr. Margareta, die erste Priörin seit der Haußhaltungs=Reformation, einhellig und regelmäßig zur Abbatißin erwählet, und am Tage der Empfängniß der gebenedeyten Jfr. Mariä eingesegnet und eingeführet worden. Dieselbe hat nun uns Mägde Christi mit aller Sanftmuth und Frömmigkeit die heil. Reformation und Ordens=Observanz gelehret, und dem Laster alles eigenthümlichen Besitzes vorgebauet. Sie hat das rechte Closter=Leben und die Ordens=Reformation in Gang gebracht, und alle dawider streitende Irrthümer abgethan. Alle löbliche Thaten ihrer Vorfahrinnen hat sie in ihrem Wandel noch herrlicher vorgestellet, und gleichsam als ein Engel Gottes unter uns gewandelt, auch niehmahls aufgehöret Tag und Nacht für uns zu arbeiten.« Zu der tendenziösen Übersetzung von Lyßmann vgl. Lähnemann, Henrike, Widerstand im Geist der Reform. Der ›Nonnenkrieg‹ in Medingen 1524–1554 [Vortrag, gehalten in Antwerpen, Dezember 2011, erscheint in: Polzer, Markus / Schepen, Kees (Hrsg.), The Northern Experience.]

Andachtsanweisungen in den Medinger Orationalien

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Darstellung der Klosterreform von 1479 auf Tafel 14 der im Äbtissinnenhaus 1499 unter Propst Ulrich von Bülow und Äbtissin Margareta Puffen aufgehängten 15 Tafelgemälde

scher Prosa wird die Bedeutung dieses Blicks in das Refektorium erläutert, die das gemeinsame Mahl als Zeichen der erneuerten Regeltreue des Konvents zeigt. Betont wird im Text zuerst die zügige Durchführung der Reform: An Mariä Lichtmess, dem 2. Februar, beginnt der Hildesheimer Bischof, der auch für das Verdener Stift zuständig ist, das Reformwerk, und bereits am Freitag vor Mittfasten, dem 17. März, ete wy uth enen grapen. Links steht entsprechend die Mater Celleraria, die mit einem Holzlöffel die Suppe kostet, während rechts die Conuersa in dem grapen, dem enormen Kessel, der den Eintopf enthält, rührt. Diese Schnelligkeit erfährt göttliche Approbation. Die Äpfel werden einen Monat früher reif und sind bereits zu Mariä Himmelfahrt, am 15. August, eingelagert. Der evangelische Pfarrer Lyßmann merkt in seinen Aufzeichnungen dazu an: »Was von dieser Reformation in der Natur zu halten, stelle zu des Geneigten Lesers Nachdenken, unterdessen ist gewiß, daß von dieser Zeit an, da absonderlich die Schließung des Closters zugleich von neuem mit größter Strenge beobachtet wurde, die hiesigen Conventualinnen ein recht strenges und von der Welt ganz abgesondertes Leben geführet haben.«8 Ein Ablassbrief von 1481, in dem alle Frauen aufgeführt werden,

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Lyßmann, ›Bericht‹ [Anm. 6], S. 70.

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belegt, dass sich damals 71 Nonnen, 14 puellae coronatae, also zum Klosterleben bestimmte junge Mädchen, und 12 Konversenschwestern im Kloster aufhielten. Im Bild wird damit vorgeführt, was durch die neue Regelbefolgung gerade den Blicken entzogen wurde. Die Tafeln wurden im Äbtissinnenhaus aufgehängt, das der einzige Ort war, der nach der strengen Durchführung der Klausur Besucherinnen zugänglich war. Während vor der Reform die Praxis herrschte, dass jede Nonne ihr eigenes Süppchen kochte bzw. sich von Familienangehörigen aus Lüneburg mit Speise versorgen ließ und Laienschwestern als persönliche Mägde einstellte, ist dieser Teil des Klosterlebens nun den Blicken der weltlichen Frauen ebenso wie der Laienbrüder und -schwestern entzogen. Das gottgefällige Leben im Kloster muss ihnen darum im Bild vorgeführt werden, samt der neuen Tracht, die in den Bildbeischriften (wytte cappen) ebenso wie in dem Grabmal der ersten Äbtissin dezidiert festgehalten wird. Umgekehrt verschafft die Reform den Laien einen anderen Zugang zu dem geistlichen Leben hinter den Klostermauern – denn jetzt erst beginnt die Handschriftenproduktion, die nicht nur den Eigenbedarf des Klosters oder der einzelnen Nonnen deckt, sondern auch dezidiert für Laien bestimmt ist. Darauf zielt die zweite Hälfte des ›Berichts‹ ab, die die wichtige Rolle des Propstes Tylemann von Bavenstedt dabei beschreibt, den einmal in Gang gesetzten Reformprozess nachhaltig wirksam zu machen; er ist überdimensional ins Bild gestellt, über dem Löwenwappen, das ihm Herzog Otto von Braunschweig-Lüneburg für seine Verdienste verliehen hat, und das auch als Signum in ›Reformprodukten‹ des Klosters auftaucht. Über seine Rolle wird gesagt: Er dede groten vlith und vorderde de reformacien un vorkoffte syn vederlicke erve un gaff dat by dat Closter. he gaff ock VI sangboke de leth he scriven tho hyldensem dar he bördich uth was.

Aus den bei Lyßmann abgedruckten Archivalien lässt sich präzisieren, dass Tylemann von Bavenstedt außer den Neuaufträgen von liturgischen Handschriften aus Hildesheim durch die Schreibmeisterin auch die Zisterzienserordensregeln abschreiben ließ, außerdem legendas sanctorum vitas patrum, und dass er verfügte, dass die jüngste Konventualin daraus und aus weiteren Handschriften bei Tisch vorzulesen habe, wie sie es hier klein neben der Priorissa hinter einem überdimensionalen Lesepult sitzend tut.9 Die Medinger Erneuerung ist eingebunden in die sich über das ganze norddeutsche Gebiet ausbreitende Bursfelder Reformwelle, vor allem aber in die spezifisch

9

Lyßmann, ›Bericht‹ [Anm. 6], S. 71: »Wie nun also die gemeine Speisung in unserm Closter völlig eingeführet war, ließ der Hr. Probst von Bavenstedt durch die Closterlehrmeisterin die Cistercienserordensreguln, und durch seinen obersten Vicarium etliche legendas sanctorum vitas patrum und andere geistliche Tractätgen zusammen schreiben, zu dem Ende, daß allemal unter der Mahlzeit ein Stück daraus öffentlich vorgelesen werden sollte, welches den jüngsten Conventualinnen aufgetragen ward, die es auch eine lange Zeit hindurch allemal nach der Ordnung, wie dieselbe sie traf, verrichtet haben.«

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Lüneburger Erneuerung, wie die Beteiligung des Benediktinerabts des Michaelisklosters Lüneburg und der enge Austausch vor allem mit Lüne und Ebstorf zeigt. Zur praktischen Umsetzung der Reform kamen aus zwei benachbarten Zisterzen, Wienhausen und Derneburg, Äbtissinnen und einige Schwestern. Auf die Besonderheit des Austauschs zwischen den norddeutschen Frauenklöstern und den hohen Stand der lateinischen Bildung Ende des 15. Jahrhunderts hat Eva Schlotheuber in letzter Zeit nachdrücklich hingewiesen.10 Die Bildungsverläufe in den norddeutschen Frauenklöstern unterscheiden sich grundsätzlich von den weit besser erforschten und dokumentierten süddeutschen. Hier war die innerkonventuale Latinität nie völlig abgebrochen; das Gebot des Lateinstudiums wurde von den Reformen des späten 15. Jahrhunderts nur wieder ins Gedächtnis gerufen, während in Süddeutschland sich die Andachtsliteratur der Frauenklöster seit zwei Jahrhunderten weitgehend in die Volkssprache verlagert hatte. Aus dem Benediktinerinnenkloster Lüne sind aus der Zeit zwischen 1480 und 1540 ca. 1500 lateinische Briefe der Nonnen erhalten, die zeigen, dass nicht nur die ›Funktionsträgerinnen‹ ein vorzügliches Latein schrieben. Aus Ebstorf haben sich zahlreiche Beispiele für eine besondere schulische Textsorte erhalten: ›Dictamina‹ sind kurze lateinische Schreibübungen zu Alltagsbegebenheiten im Kloster, an die mit der Wendung ›rememorarbar‹ (»das hat mich daran erinnert«) jeweils eine Reflexion oder Moral geknüpft ist. Das Motto des Buchs über Klostereintritt und Bildung enthält auch eine Anweisung zur Andacht: Salutis ad preludium sit artis nobis studium wolan die scryft vorstan quo sine stat in ocio claustralis heu devocio nicht lesen is ovel dan.11 10

11

Schlotheuber, Eva, Ebstorf und seine Schülerinnen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Eisermann, Falk / Schlotheuber, Eva / Honemann, Volker (Hrsg.), Studien und Texte zur literarischen und materiellen Kultur der Frauenklöster im späten Mittelalter. Ergebnisse eines Arbeitsgesprächs in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 24.–26. Febr. 1999, Leiden 2004 (Studies in Medieval and Reformation Thought 99), S. 169–221; dies., Klostereintritt und Bildung. Die Lebenswelt der Nonnen im späten Mittelalter. Mit einer Edition des ›Konventstagebuchs‹ einer Zisterzienserin von Heilig-Kreuz bei Braunschweig (1484– 1507), Tübingen 2004 (Spätmittelalter und Reformation N.R. 24). Vgl. zur Bursfelder Reform auch Collins, David, Bursfelders, Humanists, and the Rhetoric of Sainthood: The Late Medieval vitae of Saint Benno, in: Revue bénédictine, 111/2001, S. 508–556. Inzwischen hat sie außerdem die über zweihundert lateinischen und niederdeutschen Briefe des frühen 16. Jahrhunderts aus Kloster Lüne aufgearbeitet; vgl. demnächst: Andersen, Elizabeth / Lähnemann, Henrike (Hrsg.), Northern German Mysticism from the 13th to the 15th Century. Das Gedicht ist herausgegeben von Henrici, Emil, Funde in Braunschweigs Bibliotheken und Archiven VII. Nonnengelübde aus Wöltingerode, in: Braunschweigisches Magazin, 14/1908, S. 57; zitiert von Rüthing, Heinrich, Die mittelalterliche Bibliothek des Zisterzi-

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Die claustralis devotio, eine vom Klosterreformimpuls getragene Frömmigkeitspraxis, geht also mit Bildung einher, die sich in den Konventen unterschiedlich zeigte und sich in Medingen in der Handschriftenproduktion äußerte, und zwar einer Produktion, die durch die Auftragsarbeiten über die Klostermauern hinaus wirkte und das Text- und Gedankengut der Reform einem weiteren Rezipientenkreis zugänglich machte.

II Die Normvermittlung in den Orationalien wird bereits sichtbar in zwei Handschriften aus Medingen, die gerade keine Orationalien sind, sondern die Quellen dieser verschiedenen sangboke, die zeigen, wie das Material aussah, das als Vorbild und Grundlage diente und die Nonnen in den Stand setzte, gleich mit der neuen Liturgie zu beginnen. Die erste der beiden ist ein jetzt in Hamburg liegender Psalter, Grundhandschrift des Klosterlebens schlechthin, der wohl aus dem Erfurter Raum stammte. Er wurde für den Medinger Gebrauch buchstäblich umfrisiert: der Schleier, den die Nonne auf dem Kopf trägt, ist auf Papier gemalt und hinter das Blatt geklebt, um die neue Tracht zu zeigen, den spitzen Schleier mit dem roten Kreuz, der sogenannten corona. Diese erneuerte Tracht wird in den Medinger Handschriften nicht nur bildlich gezeigt, sondern auch theologisch begründet: ik dreghe an dem hovede min en rot siden crucelin. dar an schal ik dechdich sin dat he allene min leveken si.12

Diese Beschreibung der Corona ist Teil eines Lobpreises des himmlischen Bräutigams, der wieder mit einem Festessen verbunden ist: diesmal ist es zum Pfingstmittagessen, dass die sponsa angewiesen wird, ein geistliches Essensverständnis mit innerem Jubel zu verbinden: Epulare cum sponso et dic in mentali jubilo quasi gloriando. Die Andachtsanweisung sichert hier, dass die Christusbeziehung in der Praxis ständig präsent bleibt, in Essen und Kleidung. Die zweite ›umgebaute‹ Handschrift, die direkt mit der Reform in Zusammenhang steht, ist eine jetzt in Oxford aufbewahrte liturgische Handschrift aus Medingen, die

12

enserklosters Wöltingerode, in: Zisterziensische Spiritualität. Theologische Grundlagen, funktionale Voraussetzungen und bildhafte Ausprägungen im Mittelalter [1. Himmeroder Kolloquium ], bearb. von Clemens Kasper und Klaus Schreiner, St. Ottilien 1994 (Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige, Ergänzungsband 34), S. 189–216; vgl. auch Schlotheuber, Klostereintritt und Bildung [Anm. 10], S. 268. LO1 [London, Guildhall Library, Ms. 1366], f. 88.

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ein Manual für den Medinger Propst enthält. Über ein Drittel der Blätter, darunter die gesamten ersten drei Lagen, sind, wie alte Lagenziffern zeigen, auseinandergeschnitten, neu arrangiert, auf Falze montiert, teilweise zusammengeklebt, angestückelt, und zusätzliche Gebete sind aufgenäht. Teile des Textes sind radiert, neue Anschlüsse sind über die Seiten hinweg geschrieben. Neue Texte sind vor allem ausführlichere liturgische Anweisungen, teilweise auch Alternativversionen. So wird die Weihe der Palmwedel zuerst nach dem Gebrauch der Diözese Verden, dann nach dem der Zisterzienser referiert.13 Zur Karzeit wird darauf hingewiesen, dass in Medingen wie bei den Zisterziensern zwischen Gründonnerstag und Karsamstag Ratschen statt Glocken verwendet werden,14 und orgelspielende Nonnen signalisieren dann entsprechend in den Marginalien der am reichsten mit Marginalilluminationen ausgestatteten Medinger Handschrift den Beginn des Osterfestes.15 Weitere liturgische Anweisungen regeln, wann der Propst zum Nonnenchor aufsteigt und wie die Weihehandlungen vorgenommen werden, vor allem aber finden sich detaillierte Angaben für die Aufführungspraxis der Gesänge. Die Hymnen, die für die liturgischen Anlässe gebraucht werden, sind mit Choralnotation und Angaben versehen. Es wird angegeben, wann die virgines singen und wann der prepositus und an welchen Punkten der Sequenzen volkssprachliche Leisen vom populus als Refrains eingeflochten werden. Damit ist eine theologische Begründung für die Ausweitung des geistlichen Wirkens in die Volkssprache verbunden. Zur Osternacht heißt es, dass Propst und Beichtvater des Klosters nach der Errichtung des Kreuzes dreimal feierlich im Wechsel mit dem Priester das Surrexit dominus de sepulcro singen, dann das Victime paschali laudes, und dass die Laien darauf mit der Leise Christ ist erstanden antworten, denn Gregorius der Große habe gesagt, dass bei der fleischlichen Auferstehung Christi auch keine fleischliche Zunge schweigen solle.16 Dieses Diktum wird wieder in den Marginalien 13

Explicit secundum ordinarium verdensem. Sequitur benedictio secundum ordinem Cisterciensem (O2, f. 11r). Explicit benedictio ramorum secundum ordinarium verdensem. Sequitur benedictio in ordinem Cisterciense consueta (O2, f. 24r). Es wird auch auf das Verdener Ordinarium hingewiesen (O2, f. 49r). Eine Edition der Handschrift durch Ulrike Hascher-Burger und Henrike Lähnemann ist geplant.

14

Nota ab hoc vespertina cene domini vsque in vigilia pasce ad officium misse non pulsetur campana in ecclesia sed nec in horologio secundum ordinem cisterciense sed omnia lignea campana pulsentur (O2, f. 29r).

15

HI1 [Hildesheim, Dombibliothek, Ms. J 29], f. 44r. Vgl. überdies die Abbildung für das Ende des Ostertags, f. 119r. Vgl. zu der Abbildung und dem Begleittext Lähnemann, Henrike, Per organa. Musikalische Unterweisung in Handschriften der Lüneburger Klöster, in: Lähnemann, Henrike / Linden, Sandra (Hrsg.), Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der Literatur des deutschen Mittelalters, Berlin 2009, S. 397–412. Open Access: urn:nbn:de:hebis:30:3-234466. Homilia XXI zum Ostersonntag: Dat loquendi ausum ipsa etiam resurrectionis Domini-

16

cae tanta solemnitas, quia et indignum valde est ut eo die laudes debitas taceat lingua carnis, quo videlicet die caro resurrexit auctoris (PL 76, 1170). Vgl. dazu die Ausführungen im Medinger Handbuch: Deinde Victime paschali laudes. laycis laudem canentibus Crist

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der Orationalien aufgenommen – die Illustration der Hildesheimer Handschrift zeigt den Papst mit seinem Spruch Non enim fas est ut ea die lingua carnis taceat. Darüber steht die im Orationale im Gegensatz zum liturgischen Handbuch in voller Länge zitierte Leise Christ is vpstande van siner marter alle des scholle we alle vro sin got de wel vnse trost sin Kyrioleis.17

Diese Wiedergabe, die auch die musikalische Notation auf den gesamten Leisentext ausweitet, ist eine Besonderheit der Medinger Orationalien, die sie als musikhistorisches Dokument interessant macht. Wichtiger im Zusammenhang der Andachtsanweisungen ist die Einbindung dieser volkssprachlichen Hymnik in lateinisch-theologische Begründungszusammenhänge, indem die Zweisprachigkeit gerechtfertigt wird: Darum werde bei der Sequenz mit dem volkssprachigen Refrain abgewechselt (in sequencia populorum laudibus alternatur), weil bei der Auferstehung Christi sich Menschliches und Göttliches vereint habe; der Doppelnatur Christi wird mit dem mehrsprachigen Lob, das alle Geschlechter und Stände – omnis sexus et gradus – umfasse, adäquat geantwortet. Gerade der Vergleich der Medinger liturgischen Handschrift O2 mit der entsprechenden Stelle in den Orationalien macht deutlich, was den Charakter dieser Handschriftengruppe ausmacht und welche Rolle dabei Andachtsanweisungen spielen. In dem Handbuch, das in Medingen für den Propst nach der Klosterreform adaptiert wurde, werden die liturgischen Rahmenbedingungen vorgegeben: Es ist die Verbindung von lokalem Gebrauch, hier des Verdener Stifts, mit der zisterziensischen Liturgie, in der bereits die Einbeziehung des populus vorgesehen war. Aber das Interesse liegt auf der Seite des Klerus, der danach sein sakramentales Handeln ausrichtet; so sind nur die Textteile, die vom Priester und Propst zu singen sind, voll ausgeschrieben und musikalisch notiert. Die Orationalien erlauben einen Einblick in die andere Seite des liturgischen Vollzugs: wie die Nonnen und, ihnen folgend, Laien durch liturgische Kehrverse und Lieder am Gottesdienst partizipieren konnten. Die Orationalien bieten aber mehr als das: sie gestalten ein ganzes Parallelgeschehen. So wird zum einen die Passage zum Christ ist erstanden weiter ausgeführt mit hymnischen Elementen, Gebeten und Ausrufen. Es beginnt bei dem gleichen Ausgangspunkt, der Sequenz Victime paschali laudes, die mit dem Zitat Dic nobis Maria, quid vidisti in via? von Anfang an ein Schlüsseltext für die Verbindung von Liturgie und is. quia indignum valde est ut dicit gregorius. quod eo die Laudes debitas taceat lingua carnis quo videlicet die caro resurrexit auctoris (O2, f. 48v). 17

In der Hildesheimer Handschrift wird die Marginalfigur des Gregorius mit Namen bezeichnet und die Stelle noch weiter ausgeführt; mit der Doppelnatur Christi wird der Wechselgesang zwischen Klerikern und Laien begründet (HI1, f. 40r).

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Schauspiel war. Es wird referiert, dass die Gemeinde dazu der Anweisung des Gregorius folgt: So offert dat volk dem pasche cruce und bekennen sik, dat se mit synem duren blode vorloset syn.18 In dieses ›Offertorium‹ soll die Adressatin mit einem metaphorischen Opferpfennig einsteigen, wie die Andachtsanweisung ausführt: Offere du eme ok den penning des ynnigen bedes und der danck-segginge – im Lateinischen wird an das denarium-Opfer noch eine weitere Anweisung ausgeführt, die Hymne Gloria tibi domine qui surrexisti hodie zu lesen.19 Es wird dann die volkssprachige Leise nicht nur referiert, sondern auch in ihrer Bedeutung erklärt: So moge we wol vrolick syn, wan wy den trost godes hebben so kan vns nicht bed syn bzw. in der parallelen lateinischen Version: O dulce carmen! O mellifluum verbum »god wel unse trost syn«! Wen wij den hebben so enbeghere wy nicht mer wy behoven ock nicht mer, ergo consolamini in hijs verbis. Die Andachtsanweisung hebt hier die faktische Beteiligung am liturgischen Geschehen auf eine weitere Ebene und erlaubt damit den Frauen, die den Gottesdienst nur von der Nonnenempore oder, als Laien, vom Kirchenschiff aus verfolgen konnten, einen unmittelbaren Zugang zum zentralen Geschehen. Dabei fragt sich, wer in den Andachtsanweisungen wen anweist. In den niederdeutschen Handschriften wird meist die innige sele angeredet, die sich als devota anima auch in den lateinischen Handschriften findet, dort ergänzt durch die den Nonnen vorbehaltene Anrede sponsa. An einigen Stellen kommt es da zu einem direkten Dialog zwischen sponsus und sponsa, bei dem Christus als Gesprächspartner sichtbar wird. Aber meist ist die fordernde Instanz eine abstrakte, die gerade in den deutschen Handschriften unspezifisch bleibt. In der oben zitierten Gothaer Handschrift, die für die Frau des Lüneburger Bürgermeisters Heinrich Tobinck geschrieben wurde, ließe sich die durchgehaltene Anrede als Stimme der anonymen Medinger Schreiberin verstehen, die bei dem Übersetzen der klösterlichen Andachtsformeln und -floskeln ins Volkssprachige auch für den Vollzug dieser Andacht zuständig würde. Aber der gleiche hymnisch fordernde Ton findet sich in den lateinischen Handschriften, wo sich Schreiberin und Leserin nicht auseinanderdividieren lassen, sondern davon auszugehen ist, dass besonders die Heiligenorationalien, die jeweils den spezifischen Wahlapostel der Nonne an den Anfang der Gebetssammlung stellen, von jeder Nonne für den eigenen Gebrauch geschrieben wurden. Die Oxforder Osterhandschrift etwa fordert, nachdem die Ostermesse vorbei ist und der Chor das O vere digna hostia gesungen hat, die Leserin zur analogen Andacht auf, die aber innerlich geschehen soll:

18 19

B1 [Berlin, Staatsbibliothek, Ms. germ. oct. 48], f. 58v. O1 [Oxford, Bodleian Library, Ms. lat. lit. f. 4], f. 71v. Vgl. dazu Palmer, Nigel F., Blockbooks, Woodcut and Metalcut Single Sheets, in: Coates, Alan / Dixon, Helen / Dondi, Cristina u.a. (Ed.), A Catalogue of Books Printed in the Fifteenth Century now in the Bodleian Library, Oxford 2005, S. 1–50, hier S. 44f.

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Clama et tu c u m d e v o c i o n e i n t i m a e x u l t a et lauda quia magnus in medio tui sanctus Israhel quem oculis cordis contemplare et in amplexus anime tue astringe et d i c d e v o t o c o r d e . 20

Während bei dem Weihnachtsbeispiel die Andacht Marias das Handlungsmodell für die Andachtsanweisung vorgab, ist es hier der äußere liturgische Vollzug. Das sind die beiden Hauptübertragungsmodelle für die Andachtsanweisungen der Medinger Orationalien: entweder wird zum Nachvollzug einer biblischen Handlung aufgefordert oder zu einer inneren Umsetzung eines hör- und sichtbaren liturgischen Geschehens. Beides verbindet sich dadurch, dass die biblischen Andachtsmodelle ihren festen liturgischen Platz haben, wie im Anfangsbeispiel der Vortrag der Stelle aus dem Johannesprolog. So beginnt ein Abschnitt nach der Ostersonntagsmesse mit einer Rubrik, die auffordert, na dem eddelen, soten middaghe ein Salve, festa dies zu lesen.21 Von dort geht der Text übergangslos in eine Anrede an die innighe sele über, die auf ihrem Gang zum festlich gedeckten Mittagstisch ist. Sie wird daran erinnert, dass sie eigentlich von Essen zu Essen gehe, denn bei der Ostermesse wurde sie an der paschetafel gespeist. Da ist es nur natürlich, danach na den seden der werlde mit Freunden spazieren zu gehen. Es folgt ein Verdauungsspaziergang im Garten in Galyleam, dat is in de kerken, bei dem das Hohelied reichlich Dialogmaterial beisteuert. Der Text folgt den beiden Spaziergängern zum Mittagessen. Dort wünscht dat leveken seinen Anteil am Festschmaus, indem es sich zitiert, nämlich seine Reden bei einer der Erscheinungen vor den Jüngern in Jerusalem, die nach der Emmausgeschichte bei Lukas berichtet wird. Diese Szene wird dann in einer ›Als-ob‹-Konstruktion auf die Gegenwart der innighen sele übertragen: Danne eschet he van groter vroude de spise van di, a l s e h e v a n s i n e n l e u e n a p o s t e l e n d e d e , do he an desseme hoghe-loueden daghe des auendes spade to ium quam in beslotener dore vnde sede: ›Vrede si mit iw!‹ vnde anbles ium sinen hilghen gheyst vnde sede: ›Hebbe iu wat, dat me eten mach?‹ Do brochten se vore en del van deme bratvische vnde honnichseem.

Es ist die Lesung am Osterdienstag, die hier schon in die Ostersonntagsfeier hineinzitiert wird: Christus tritt unter die Jünger mit dem Friedensgruß Pax vobis; sie glauben, einen Geist vor sich zu haben. Um seine Leiblichkeit zu beweisen, zeigt er Hände

20 21

O1, f. 140v. Zitiert nach Mante, Axel, Ein niederdeutsches Gebetbuch aus der 2. Hälfte des XIV. Jahrhunderts (Bistumsarchiv Trier, Nr. 528), Lund 1960 (Lunder germanistische Forschungen 33), S. 118f. Achten hat nachgewiesen, dass die beiden Trierer Handschriften, ebenso wie alle anderen Orationalien, erst nach der Klosterreform 1479 entstanden sind (Achten, Gerard, De Gebedenboeken van de Cistercienserinnenkloosters Medingen en Wienhausen, in: Miscellanea Neerlandica, 3/1987, Opstellen voor Dr. Jan Deschamps ter Gelegenheid van zijn zeventigste verjaardag, S. 173–188).

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und Füße und bittet um Essen: habetis hic aliquid quod manducetur. Sie bieten ihm gebratenen Fisch und Honig an (Lc 24,42). Die referierten direkten Reden werden damit als gegenwärtig hörbar – und daraus erwächst die Aufforderung, jetzt in der Szene den Part der Jünger zu übernehmen und wie sie zu reagieren: A l s o d o d u o k n v ! Wente he heft di dallinghe spiset mit sineme hilghen lichamme in deme werden Sacramente. S p i s e d u e n e n v w e d d e r m i t d i n e m e i n n i ghen bede vnde sprik: O here Ihesu Christe, eddele segheuechter des dodes! Ik offere di en del des bratuisches […] 22

Es folgt eine Allegorese in Gebetsform: die Bratfische werden zum Gebet, mit dem Christus gespeist wird; es wird ausgelegt, warum es nur eine pars pisci, ein del des bratuisches ist, der Jesus angeboten wird – weil die Sprecherin nicht vermag, Christus für sein gesamtes Leiden zu danken; es folgt dann der Honigseim, der Jesus als dem suten ymmen-stok angeboten wird. Zugleich ist es aber auch eine halbbiblische typologische Übertragung, bei der die Jünger den Typus für die Nonnen abgeben. Diese Überblendung von biblischer Geschichte und kirchlicher Gegenwart auf einer allegorischen Gebetsebene ist das, was sich durch die Andachtsanweisungen in den Orationalien im liturgischen Jahr entfaltet. Besonders in der Osterzeit scheint die Grenze zwischen ›historischen‹ und ›imaginierten‹ Erscheinungen des Auferstandenen fast zu verschwinden: Es ist an desseme hogheloueden daghe, dass sich Christus zeigt, ob nun zur Zeit der Apostel in Galiläa oder zur Zeit der Reform im Medinger Kloster. Und es ist an den Leserinnen der Orationalien, aktiv diese Grenze zu überwinden, dem also do du ok zu folgen. Zusammenfassend lassen sich zwei Punkte hervorheben: der Zusammenhang von Reformprozess und Andachtsanweisung und die sinnliche Dimension des Andachtsvollzugs, der durch die Anweisungen erreicht wird. Der erste Punkt, die Rückbindung an den Reformprozess, wird in O2, dem Manual für den Medinger Propst, deutlich: Es enthält außer den erwähnten erneuerten liturgischen Texten und Anweisungen auf zusätzlichen Seiten am Ende ein lateinisches Rituale für die Aufnahme von puellae coronatae und niederdeutsche Statuta et conswetudines in observando vitam corporis. Darin sind Anweisungen für die Laienbrüder und -schwestern des Klosters enthalten, etwa das Verbot, ungenehmigte Besuche in Lüneburg zu machen.23 Die 22 23

Mante, Niederdeutsches Gebetbuch [Anm. 21], S. 121. Abgedruckt bei Homeyer, Joachim, Statuten für Konversen des Klosters Medingen. Mit Vorbemerkungen zu ihrer Bedeutung für die Struktur von Konvent und Kloster, in: ders., Kloster Medingen 1788–1988. 200 Jahre Neubau. Kleine Beiträge zum Jubiläum, Uelzen 1988, S. 30–38 (der volle Text ist online verfügbar auf http://research.ncl.ac.uk/medingen). Der erste Paragraph handelt allgemein vom Gehorsam gegenüber dem Propst, aber schon im zweiten Abschnitt wird es sehr detailliert praktisch, wenn das Tragen von zweifarbig rotgrün unterschnittenem Tuch und von Schmiedeknöpfen aus Silber an Kapuzen oder Gewändern verboten wird.

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niederdeutschen Statuten bieten zusammen mit den liturgischen Bestimmungen für die Nonnen quasi ein Kompendium der äußeren Seite der Normierungen der Reform; die Orationalien transformieren diese Vorgaben von der Lebens- zur Andachtspraxis. Für den zweiten Punkt, die sinnliche Dimension dieser Andachtspraxis, lässt sich reiches Material bei den Erscheinungen Christi in der Osterzeit finden. Das kann bis zu Formen des Re-enactment führen. In einer Marginalillustration der fast alle 15 Erscheinungen Christi enthaltenden Hildesheimer Handschrift zur Erscheinung Christi am See Tiberias (Jo 21,12) ist Petrus vor Eifer schon ins Wasser gesprungen und ruft: dominus est; Christus selbst hat den Bratfisch zubereitet, zu dem er die Apostel einlädt: Venite, prandete mecum. Im Text auf der darüberliegenden Seite wird die Szene als bekannt vorausgesetzt, nicht weiter referiert, sondern in einem Übertragungsprozess direkt die sponsa Christi aufgefordert, beim Ostermahl Christus Fisch und Honig zu offerieren: Tu ergo offer illi piscem assum et fauum mellis, gracias agendo.24 Auf der linken Seite illustriert eine Gruppe von Laien mit Eierkörben die Fürbitte für die Laienschwestern, die das Ostermahl gekocht haben.25 Die Andachtsanweisungen sind also Teil des ›Translationsprozesses‹ von den biblischen Figuren, die eine ›norma vivendi‹ vorgeben, zu den Leserinnen und ihrem unmittelbaren Umfeld, dem reformierten Kloster. Die Anweisungsimperative sind dem geschilderten biblischen Geschehen nachläufig. Das Gebet und Handeln ist Antwort auf ein vorgängiges Heilsgeschehen. Die Emmaus-Szene ist darum auch eine Schlüsselszene für die Nonnen: die Erkenntnis Christi entsteht dadurch, dass er die Schrift öffnet und sich im Brotbrechen zu erkennen gibt. Dieser Übertragungsprozess kann immer enger geführt werden, bis es zur direkten Begegnung kommt, wie in einer weiteren Marginalillustration der Hildesheimer Handschrift, bei der eine Medinger Nonne in der Hortulanus-Ikonographie vor Christus kniet. Sie hält als Schriftband das Gebet, das ihr in der lateinischen Version der Osterandacht empfohlen wurde, das Gloria tibi domine. In der Oxforder Handschrift wird dies weiter ausgeführt, wenn empfohlen wird, nach sieben Gloria tibi in die Bitte der EmmausJünger (Lc 24,29) einzustimmen, bis die Präsenz Christi erreicht ist: Mane mecum resurgens domine cum tua gracia cum tua misericordia usque dum te cognoscam facie ad 24

25

HI1, f. 109v. Zu der Bedeutung der Erscheinungen Christi nach Ostern für den Andachtsprozess der Nonnen vgl. Lähnemann, Henrike, Die Erscheinungen Christi nach Ostern in Medinger Handschriften, in: Dauven-van Knippenberg, Carla / Herberichs, Cornelia / Kiening, Christian (Hrsg.), Medialität im späten Mittelalter, Zürich 2009 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 10), S. 189–202, und Lähnemann, Henrike, Der Auferstandene im Dialog mit den Frauen. Die Erscheinungen Christi in den Andachtsbüchern des Klosters Medingen, in: Koldau, Linda Maria (Hrsg.), Passion und Ostern in den Lüneburger Klöstern. Bericht des VIII. Ebstorfer Kolloquiums, Kloster Ebstorf, 25.–29. März 2009, S. 105–134. HI1, f. 110r. Die gleiche Darstellung findet sich in O1, f. 148v; dort ist als Gegenüber zur Speisung der Nonnen durch die Laienbrüder die Speisung Benedikts durch den Presbyter gezeigt.

Andachtsanweisungen in den Medinger Orationalien

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faciem.26 Im Bild wird der Brückenschlag vom Lesen des Orationale in den unmittelbaren Dialog vorgeführt. Im andachtsvollen Knien überspringt die Nonne die Distanz von der Nonnenempore zum Altar, und es kommt zur unmittelbaren Begegnung. Wenn die Nonne der Andachtsanweisung folgt und wie die biblischen Vorbilder handelt, verhält auch Christus sich wie in der biblischen Vorbildhandlung und erscheint am Ostertag. Die Andachtsanweisungen können damit als innere Seite der Observanz bestimmt werden – und als deren positives Gegenstück, das in den Bildern der Orationalien genauso praktisch vor Augen geführt wird wie die Beschränkungen: der strengen Klausur steht in den Orationalien der Spazierraum Galiläas gegenüber, dem Eintopf aus dem grapen der Bratfisch mit dem Honigseim. Die Handschriftenproduktion der Medinger Reform synthetisiert die Grundnorm von ›ora et labora‹ im Akt des Schreibens der Andachtsanweisungen.

26

O1, f. 166r.

Martina Backes (Fribourg)

Erzählen und Belehren Zur narrativen Umsetzung und graphischen Visualisierung von Normen in Jörg Wickrams Nachbarroman

Langweilig, banal, für die Leser eine Zumutung – das Urteil, das frühe Germanisten über Wickrams vorletzten Roman fällten, in dem, wie etwa Wilhelm Scherer bissig bemerkte, »Philisterschicksale durch drei Generationen hin, mit großer Selbstgefälligkeit geschildert«1 würden, lässt an vernichtender Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Doch was den Literaturwissenschaftlern des ausgehenden 19. Jahrhunderts von der Warte der höfischen Ästhetik hochmittelalterlicher Romane aus als Mangel erschien, sicherte dem Buch rund 100 Jahre später in einer sozialgeschichtlich ausgerichteten Germanistik gerade verstärktes Interesse: die innovative Prosaform, die urbanen Themen und vor allem die bürgerliche Herkunft des Autors. Als »[…] der erste namentlich bekannte Bürgerliche, der für ein bürgerliches Publikum über spezifisch bürgerliches Leben und bürgerliche Anschauungen Prosaerzählungen in deutscher Sprache schreibt«,2 zog Wickram unweigerlich die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich, und sein Nachbarroman galt in Überblicksdarstellungen zur Geschichte des frühen Prosaromans nun als »[…] gut komponierte[r], interessant erzählte[r] Roman«, der »[…] den Leser durch anschaulich und detailliert erzählte Handlung spannend unterhält«.3 Es ist im Folgenden nicht meine Absicht, die Diskussion über die inhaltlichen und ästhetischen Stärken und Schwächen dieses in der Vergangenheit äußerst ambi-

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2 3

Scherer, Wilhelm, Die Anfänge des deutschen Prosaromans und Jörg Wickram von Colmar, Straßburg 1877, S. 43. Einen allgemeinen Überblick über die ältere Wickram-Forschung bietet Wåghäll, Elisabeth, Georg Wickram – Stand der Forschung, in: Daphnis, 24/1995, S. 491–540. Zur Bewertung des Nachbarromans siehe vor allem Müller, Jan-Dirk, Frühbürgerliche Privatheit und altständische Gemeinschaft. Zu Jörg Wickrams Historie ›Von Gůten und Bœsen Nachbaurn‹, in: IASL, 5/1980, S. 1–32; Kartschoke, Dieter, ›Bald bracht Phebus seinen Wagen‹ … Gattungsgeschichtliche Überlegungen zu Jörg Wickrams ›Nachbarn‹-Roman, in: Daphnis, 11/1982, S. 717–741, sowie zuletzt Wolf, Gerhard, Gattungsvermischung in Wickrams ›Von Gůten und Bœsen Nachbaurn‹, in: Müller, Maria E. / Mecklenburg, Michael (Hrsg.), Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung, Frankfurt/M., Berlin, Bern u.a. 2007, S. 293–311. Jacobi, Reinhold, Jörg Wickrams Romane. Interpretation unter besonderer Berücksichtigung der zeitgenössischen Erzählprosa, Diss. Bonn 1970, S. 373. Ertzdorff, Xenja von, Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland, Darmstadt 1989, S. 125.

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valent bewerteten Romans neu aufzurollen. Ich verfolge vielmehr ausgehend vom Tagungsthema »Text und Normativität« ein ganz eigenes Frageinteresse, das, soweit ich die Wickram-Forschung überblicke, bislang noch nie Gegenstand einer detaillierten Untersuchung war. Es geht mir bei der Frage nach den Strategien, die Wickram einsetzt, um die erfolgreiche Vermittlung von Normen in seinem Werk sicherzustellen, nämlich nicht nur um textimmanente narrative Strukturen und explizite Leserlenkung, sondern auch um die graphische, materielle Präsentation des Textes in den frühen Druckausgaben, d.h. um Bedeutung und Funktion des gewählten Layouts. Warum aber bietet sich Wickrams umstrittener Nachbarroman für eine solche Fragestellung besonders an? Die frühneuhochdeutschen Prosaromane, zu denen Wickrams Nachbarroman in den literaturgeschichtlichen Darstellungen gezählt wird – ob zu Recht, wird später noch zu überlegen sein –, diskutieren die Probleme sozialen Handelns nicht nur in einer neuen Form, sondern in einigen Fällen auch anhand neuer Inhalte.4 So wird etwa zunehmend das komplexe Leben in der Stadt Gegenstand literarischer Texte, und dies nirgendwo deutlicher als in Jörg Wickrams Roman Von gůten und bœsen Nachbaurn, der 1556 in Straßburg zum ersten Mal im Druck erscheint.5 Die neuen Ordnungsmuster, die der Roman für das in der zeitgeschichtlichen Realität von wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen verunsicherte Zusammenleben in der städtischen Gemeinschaft entwirft, werden allerdings nicht nur in Handlung aufgelöst exemplarisch an den Geschicken verschiedener Generationen zweier Familien vorgeführt. Neben die narrative Umsetzung tritt vielmehr an zahlreichen Stellen des Romans eine sentenzhaft knappe Verdichtung der als verbindlich propagierten Normen, die graphisch hervorgehoben in die Lesefläche der jeweiligen Druckseite eingeschoben wird und damit in der materiellen Realisierung des Textes bereits optisch ihr eigenes Recht beansprucht. Im Folgenden möchte ich dieses Verfahren, das offensichtlich an traditionelle Strategien der Textglossierung und -kommentierung anknüpft, diese jedoch sowohl textsortenspezifisch (Roman) als auch medial (Druck) innovativ nutzbar macht, vorstellen. Dabei sollen Fragen nach der je eigenen Funktion von erzählerischer Umsetzung und den durch das Layout herausgehobenen Kommentaren ebenso untersucht werden wie Übereinstimmung und Differenzen beider Strategien. Um den Kontext zu skizzieren, seien zunächst jedoch einige allgemeine Bemerkungen zu Wickram und seinem Roman Von gůten und bœsen Nachbaurn vorausgeschickt.

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Siehe den instruktiven Überblick bei Müller, Jan-Dirk, Volksbuch / Prosaroman im 15./16. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung, in: IASL, 1985, Sonderheft 1, S. 1–128. Zu den Drucken und den erhaltenen Exemplaren siehe VD 16, W 2424 und W 2425 sowie das Nachwort in der Werkausgabe: Roloff, Hans-Gert (Hrsg.), Wickram, Georg, Sämtliche Werke, Bd. 4. Von gůten und bœsen Nachbaurn, Berlin 1969 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 10), S. 193–200.

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Die urkundlichen Nachrichten über Jörg Wickram sind schmal, und so sind Geburts- und Todesdatum nur ungefähr bekannt.6 Wickram wird um 1505 als unehelicher Sohn eines angesehenen Colmarer Ratsherrn geboren. Der Makel der illegitimen Geburt verhindert, dass er eine ähnlich erfolgreiche städtische Karriere wie sein Vater einschlagen kann. Als der Vater ihm 1546 ein Haus vererbt, erhält er zwar das Colmarer Bürgerrecht, doch erreicht er beruflich nur das untergeordnete Amt eines Ratsdieners. Erst in den letzten Lebensjahren ist er ab 1554 als Stadtschreiber von Burkheim, einem kleinen Flecken am Kaiserstuhl, bezeugt. Vor 1562 muss er gestorben sein. Trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – seiner offenbar ein Leben lang nicht ganz einfachen persönlichen Position innerhalb der städtischen Gesellschaft hat sich Wickram bereits früh kulturell in Colmar engagiert, wo er im Auftrag der Stadt ab 1531 mit Erfolg zunächst fremde Dramen, u.a. von Pamphilius Gengenbach, inszeniert und aufführt, später dann auch eigene Stücke auf die Bühne bringt.7 Er beginnt also mit einer Gattung, die wie kaum eine andere an die urbane Öffentlichkeit gebunden ist und damit besonders geeignet erscheint, im Rahmen der öffentlichen Aufführungen normativ auf die kollektive städtische Identität einzuwirken, sei es mithilfe positiver Vorbildfiguren in den geistlichen Spielen oder als Negativdidaxe in den Narrenreigen. 1546, dem Jahr, in dem er das Bürgerrecht erwirbt, bemüht sich Wickram außerdem um die Gründung einer Meistersingerschule in der Stadt. In diesem Zusammenhang erwirbt er eine der heute berühmtesten Liedersammlungen, die jetzt in München aufbewahrte Kolmarer Liederhandschrift (cgm 4997), und legt selbst eine Sammlung von Liedern, u.a. von Hans Sachs, an (cgm 4998). Eigene Meisterlieder aus seiner Feder sind nicht erhalten. Aus der gleichen Zeit stammt seine Bearbeitung der mittelhochdeutschen Fassung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halberstadt, für deren Druck er außerdem eigene Holzschnitte entwirft.8 Zu den erfolgreichsten Werken Wickrams zählen die kurzen Schwankgeschichten des Rollwagenbüchleins, das, wie die Widmungsvorrede ausdrücklich festhält, allein von guoter kurtzweil wegen geschrieben ist und bis Anfang des 17. Jahrhunderts mindestens 17 Auflagen erzielt. Wie wenig Wickram sich in seinem Schreiben auf eine Textsorte 6

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Siehe zum Folgenden vor allem Kleinschmidt, Erich, Jörg Wickram, in: Füssel, Stephan (Hrsg.), Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk, Berlin 1993, S. 494–511. Zu den lange von der Forschung vernachlässigten frühen Stücken siehe jetzt Eming, Jutta, Die performativen Anfänge. Georg Wickrams ›Kleine Spiele‹, in: Müller/Mecklenburg (Hrsg.), Vergessene Texte – Verstellte Blicke [Anm. 1], S. 41–55. Zur großen Bedeutung der Bilder in den Werken Wickrams siehe zuletzt die Beiträge von Anna Schreurs (Ein ›selbgewachsner Moler‹ illustriert die Malerbibel. Wickrams Holzschnitte zu Ovids ›Metamorphosen‹, S. 169–183), Wolfgang Neuber (Prekäre Theologie. Textsemantik und Bildsemantisierung am Beispiel von Wickrams erstem Bild seiner ›Metamorphosen‹, S. 185–197) und Hubertus Fischer (Wickrams Bilderwelt. Vorläufige Bemerkungen, S. 199– 214) im Tagungsband Vergessene Texte – Verstellte Blicke [Anm. 1].

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festlegen mochte, zeigt am deutlichsten die zur gleichen Zeit entstandene didaktische Erzählung Der irr reitende Pilger, ein Text, in dem Wickram mit verschiedenen Gattungen spielt.9 Den Platz in den Literaturgeschichten sichern ihm jedoch vor allem seine fünf Romane, die den Anfang des neuzeitlichen Prosaromans in Deutschland markieren, weniger wegen ihrer Machart und ihres Inhalts, als zunächst vor allem aufgrund der Tatsache, dass Wickram zwar aus der Tradition schöpft, nicht aber, wie die Mehrzahl der Prosaromanautoren vor ihm, vorhandene Vorlagen retextualisiert. Er bearbeitet oder übersetzt nicht, sondern verfasst neue Geschichten. Während die meisten dieser Romane noch im adligen Milieu angesiedelt sind, ist der Nachbarroman der erste Roman, der ganz im nichtadligen, städtisch-handwerklichen Bereich spielt. Er galt deshalb als besonders innovativ und modern, ohne dass er allerdings, sieht man von Müllers wichtigem Aufsatz ab, detaillierte Beachtung in der Forschung gefunden hätte.10 Entstanden ist der Roman als vorletztes Werk Wickrams 1556. Erzählt werden die Schicksale zweier befreundeter Handwerker- bzw. Kaufmannsfamilien, die als Goldschmiede und Edelsteinhändler in Antwerpen, später in Lissabon leben. Zwar spielte die Stadt als Schauplatz auch bereits in früheren Romanen eine Rolle, erinnert sei etwa an die Rolle Londons im Fortunatus, doch bestimmt der städtische Hintergrund dort nur einzelne Episoden. In Wickrams Nachbarroman geht es jedoch ausdrücklich um Probleme des Sozialverhaltens in der Stadt, d.h., der Roman reagiert offensichtlich auf Irritationen, Probleme, Veränderungen, die sich in der durch aufstrebende Städte geprägten Region des Oberrheins besonders bemerkbar machten. Dass Wickram in seinem Nachbarroman nicht nur erzählen, sondern explizit auch und vor allem belehren möchte, zeigt sich bereits im Titel: Von Gůten und Bœsen Nachbaurn. Wie ein reicher Kauffmann aus Probant in das Künigreich Portugal zohe / wie es ihm nachmals auff dem Mer mit einem hispanischen krancken Kauffman ergangen ist. […]. Auch wie sich ein junger gesel auff der Wanderschafft halten sol […]. (S. 1)

Die ausführliche Inhaltsangabe deutet an, dass im Folgenden die konkrete Geschichte zweier Kaufleute verwoben ist mit allgemeinen Direktiven, wie sich ein junger Handwerksgeselle auf Reisen verhalten soll. Die Erzählung versteht sich – anders als die Geschichten des Rollwagenbüchleins – also nicht nur als kurtzweyl, sondern gewissermaßen als didaktischer Schaukasten von Handlungs- und Verhaltensmodellen, die der Leser für sein eigenes Leben übernehmen soll. Um die erfolgreiche Vermittlung

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Zum »experimentellen Status« dieses lange kaum beachteten Werks siehe zuletzt Baisch, Martin, Jörg Wickram begegnet sich selbst. Autorschaft, Wissen und Wiederholung im ›Irr reitenden Pilger‹, in: Müller/Mecklenburg (Hrsg.), Vergessene Texte – Verstellte Blicke [Anm. 1], S. 246–260. Siehe Müller, Frühbürgerliche Privatheit [Anm. 1], sowie zuletzt Wolf, Gattungsvermischung [Anm. 1].

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dieser narrativ vermittelten Normen sicherzustellen, hat Wickram verschiedene Strategien benutzt. Zum einen hat er seinem Roman gleichsam als Leseanleitung zwei Vorreden vorausgeschickt, die an den Erzählintentionen des Autors keinerlei Zweifel lassen sollen. Die erste dieser Vorreden beinhaltet einen Widmungsbrief an den Colmarer Goldschmied Caspar Hanschelo.11 Dieser wird in der Anrede zwar als »kunstliebhabend« tituliert, doch zielt Wickrams Widmung nicht wie die anderer Prosaromane auf eine hochgestellte Persönlichkeit, die der Publikation als Mäzen Reputation verleihen soll. Hanschelo ist Goldschmied, wie die Hauptfiguren des Romans, er hat Söhne wie sie, und der Roman ist geschrieben, um ihm Ratschläge zu geben, wie man die kinder / so sie anheben zů erwachsen / zůr ehr Gottes sol aufferziehen / demnach zů handtwercken anfueren / und so man die wandren schicken wil / wie man in ein underricht geben sol / […] (S. 6). Indem Wickram im Widmungsbrief sein Buch als Geschenk an den ehemaligen Colmarer Nachbarn präsentiert, führt er damit auch bereits auf dieser Ebene ein Modell und Vorbild guter Nachbarschaft vor, wie der Roman selbst es dann am Beispiel der fiktiven Figurenhandlung exemplarisch darstellen wird. Selbstverständlich soll aber nicht nur der angesprochene Freund als exemplarischer Leser seine eigene Lebenswelt im Buch wiederfinden, sondern auch die übrigen, anonymen Leser. An sie wendet sich Wickram in einer zweiten Vorrede, Von gůter Nachbaurschafft / zům Leser, die die eigentliche Rezeptions- und Leseanleitung für den Roman enthält. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die zeitgenössische Erfahrung der Isolation des Einzelnen in der Stadt, in der es, offenbar anders als früher, keinerlei gute Nachbarschaft und damit keine Solidarität mehr gibt. Wickram beginnt seine Vorrede mit einer Schilderung dieser idealisierten Vergangenheit, in der das gemeinschaftliche öffentliche Leben in der Stadt noch intakt war und der Umgang miteinander nicht von egoistischen Motiven geprägt wurde, sondern von freuntschafft und liebe. Der Roman will den Unterschied schildern zwischen dem Modell der guten Nachbarschaft, wie es für die Vergangenheit als intakt beschworen wird, und einer Gesellschaft von Schmarotzern und Egoisten, die für die Gegenwart als typisch angesehen wird. Dass es um mehr geht als um eine wertfreie, nüchterne Schilderung der Verhältnisse, lässt sich auch der Vorrede entnehmen, in der Wickram explizit die Absicht seines Romans vertritt, richtiges Verhalten normativ zu vermitteln. Begründet wird diese nun aber nicht wie in der Widmung an den Freund mit der persönlichen Situation eines Vaters mit heranwachsenden Kindern. Wichtiger erscheint Wickram hier der Verweis auf die grundsätzlich mangelhafte institutionelle zeitgenössische Erziehungs- und Bildungssituation. Da die für die Bildung zuständigen Lehrmeister versagen, die den Kindern nur noch isolierte Fertigkeiten beibringen, ohne aus einem umfassenden Erziehungs- oder Bildungsauftrag heraus zu handeln, laufen die Kinder 11

Hanschelo ist 1543 im Colmarer Bürgerverzeichnis als Goldschmied mit einem Haus in der Schedelgasse bezeugt und gehörte derselben Zunft an wie Wickram. Siehe Müller, Frühbürgerliche Privatheit [Anm. 1], S. 9, Anm. 27.

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dahin wie das liebe vieh und werdend […] doch gar keiner mores / zucht noch geberdiger sitten / […] underwisen (S. 9f.). Jan-Dirk Müller hat darauf hingewiesen, dass dieses Anliegen Wickrams vor dem Hintergrund der allgemeinen zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Erziehungsinhalte und die Institutionalisierung der Bildung zu sehen ist.12 Allerdings sollte es trotz vielfacher Bemühungen noch bis 1598 dauern, bis etwa in Straßburg durch die reformatorische Kirchenordnung die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde. Wickrams Roman erhebt den Anspruch, in die beschriebene Lücke zu springen, und führt die Literatur als Schule des Lebens vor, Ersatz für die verloren gegangene umfassende Bildung des Einzelnen durch ein intaktes soziales Umfeld.13 Die fiktiven Figuren des Romans ersetzen demnach die realen Vorbilder, die gegenwärtig die umfassende Werte- und Verhaltenserziehung aufgrund der misslichen sozialen Lage nicht (mehr) zu leisten vermögen. Diese Ersatzfunktion erklärt nun auch die Wahl des gesellschaftlichen Milieus, in dem die Romanhandlung angesiedelt ist. Um Identifikation und Lernen zu erleichtern, entstammen die Romanfiguren dem gleichen städtisch-handwerklichen Milieu wie Wickrams potentielle bzw. anvisierte Leser.14 Indem der Roman im Verlauf der geschilderten Familiengenerationen eine für moderne Leser durchaus ermüdende Anzahl von Wiederholungen ähnlicher Handlungs- und Kommunikationssituationen bietet, wird das gewünschte Verhalten bzw. die angemessene kommunikative Kompetenz nicht nur vorgeführt, sondern gewissermaßen beim Lesen eingeübt.15 Wie eingangs erwähnt, hat Wickram nun aber nicht nur die Erzählung selbst sowie die einführenden Vorreden dazu benutzt, seine Vorstellungen von einem gelingenden Gemeinschaftsleben zu vermitteln, sondern er hat auch das Layout der Drucke für diese Zwecke und Gebrauchsinteressen eingesetzt. Wenn auch das Interesse der deutschsprachigen Mediävistik an Fragen der mise en page und mise en texte im Bereich der mittelalterlichen Manuskriptkultur in den letzten Jahren gewachsen ist, so hinkt die deutsche buchgeschichtliche Forschung bislang doch immer noch solchen Forschungsansätzen hinterher, die man im romanischen und angelsächsischen Bereich bereits seit geraumer Zeit mit großem Gewinn verfolgt. Unternehmungen, die etwa den französischen Gesamtdarstellungen L’Apparition du

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Siehe Müller, Frühbürgerliche Privatheit [Anm. 1], S. 4–9. Inwieweit Wickrams eigene Erfahrungen für eine solche Konzeption eine Rolle spielten, wäre zu überlegen. Offenbar war er auf vielen Gebieten Autodidakt, da ihm eine institutionelle höhere Bildung vermutlich aufgrund der unehelichen Geburt verwehrt geblieben war. Dass es bei der Wahl des städtischen Schauplatzes und der »bürgerlichen« Figuren um ein »wirkungspoetisches Konzept« und nicht um »Nachahmungstheorie« geht, hat bereits Müller ausdrücklich festgehalten (Frühbürgerliche Privatheit, [Anm. 1], S. 9). Vgl. Solbach, Andreas, Wiederholungen als literarische Technik bei Jörg Wickram, in: Simpliciana, 18/1996, S. 181–194.

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livre16 bzw. Histoire de l’ édition française17 oder Mise en page et mise en texte du livre manuscrit18 vergleichbar wären, fehlen für den deutschsprachigen Raum noch immer. Dies gilt trotz wichtiger Einzeluntersuchungen nicht nur für die Handschriften, sondern ebenso für das erste Jahrhundert des Buchdrucks. Dabei erscheint es nicht nur interessant, welche volkssprachlichen Texte in den Druck gelangen, sondern auch, wie sie sich in einer Zeit, in der die mündliche Vermittlung mehr und mehr hinter der Leserezeption zurücktritt, zunehmend als Lesetexte, d.h. für den visuellen Zugriff, präsentieren.19 Die beiden 1556 und 1557 in Straßburg erschienenen Ausgaben des Nachbarromans, die ein kleines handliches Format von ca. 18,5 x 14 cm aufweisen, sind beide mit einer Reihe von gedruckten Randbemerkungen versehen, um die es mir im Folgenden geht. Damit sei nicht ausgeschlossen, dass nicht auch andere Elemente des Drucks wie etwa die Überschriften und die 32 Holzschnitte wichtige Kommentarfunktionen bzw. Aufgaben der Lesersteuerung übernehmen. Doch gilt mein Interesse an dieser Stelle zunächst den Randbemerkungen, da sie bislang in der Forschung kaum Beachtung gefunden haben. Offenbar las man über das nicht zum ›eigentlichen‹ Text gehörende marginale Beiwerk gern hinweg, zumal ältere Editionen die Kommentare auch in die Anmerkungen verbannten und damit keinen Eindruck von der tatsächlichen Organisation des Textes auf der Druckseite vermittelten. Diese Randkommentare finden sich über den ganzen Roman hinweg verstreut jeweils entweder am rechten Rand der Blattvorderseiten bzw. am linken Rand der verso-Seiten. Sie sind wie der Haupttext in schwarzer Farbe gedruckt, farblich also nicht zusätzlich hervorgehoben (siehe Abb.).20 16 17 18

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Febvre, Lucien / Martin, Henri-Jean, L’Apparition du livre, Paris 1958. Martin, Henri-Jean / Chartier, Roger (Hrsg.), Histoire de l’ édition française, Bd. 1–4, Paris 1982–86. Martin, Henri-Jean / Vezin, Jean (Hrsg.), Mise en page et mise en texte du livre manuscrit, Paris 1990. Vgl. auch Martin, Henri-Jean, La naissance du livre moderne (XIVe –XVIIe siècles). Mise en page et mise en texte du livre français, Paris 2000. Zur grundsätzlichen Bedeutung der Aufbereitung und Präsentation des Textes für eine Leserezeption siehe u.a. Stackmann, Karl, Die Bedeutung des Beiwerks für die Bestimmung der Gebrauchssituation vorlutherischer deutscher Bibeln, in: Milde, Wolfgang / Schuder, Werner (Hrsg.), De captu lectoris. Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert, dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken, Berlin, New York 1988, S. 273–288; Genette, Gérard, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/M. 1989, sowie die Beiträge des von Eckart Conrad Lutz, Martina Backes und Stefan Matter herausgegebenen Tagungsbandes Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, Zürich 2010 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 11). Rote Farbe fand nur auf dem Titelblatt Verwendung. Ich habe für meine Untersuchungen das Exemplar der Bibliothèque Municipal de Colmar (A 23478) benutzt. Ich danke der Bayerischen Staatsbibliothek München für die freundliche Überlassung von Abbildungen aus dem dortigen Exemplar (Res/4 P.o.germ 213 tg), die ich zum Vergleich heranziehen

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Jörg Wickram, Von Guten und Bösen Nachbaurn. Straßburg 1556, Bl. 55v–56r (Bayerische Staatsbibliothek München, Res/4 P. o. germ. 213 tg)

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Die Verteilung ist unregelmäßig, viele Seiten bleiben ohne Randbemerkung, auf anderen findet sich eine Häufung von bis zu drei Kommentaren. Eine Markierung von narrativen Wendepunkten oder besonders ›dramatischen‹ Punkten der Handlung scheint nicht angestrebt. Der erste Kommentar findet sich gleich zu Beginn des ersten Romankapitels auf Bl. Bijr (2r), die letzten Randmerkungen stehen auf Bl. Tv (69v). Die letzten rund 30 Seiten und damit die letzten 13 Kapitel des 50 Kapitel umfassenden Romans bleiben somit ohne Kommentar. Warum das Verfahren gegen Ende aufgegeben wurde, ist unklar.21 Schaut man sich die einzelnen Randbemerkungen an, so erscheinen sie hinsichtlich Umfang und Inhalt sehr uneinheitlich. Die kürzesten Randnotizen dienen lediglich der Hervorhebung von im Text benutzten Bibelstellen. So wird auf Bl. Ciijv bzw. C4r auf das Buch Hiob bzw. auf David im 2. Buch der Könige verwiesen. Beide biblischen Figuren dienen innerhalb der Handlung als schœn Exempel (S. 23), mit deren Hilfe das Romangeschehen noch einmal verdeutlicht und unterstrichen wird. Die Herausrückung der Stellenangaben, die sich auch im Text finden, d.h. sachlich eigentlich nicht notwendig sind, mochte das Nachschlagen der entsprechenden Bibelstellen erleichtern, betonte aber vor allem, wie sehr das geschilderte Verhalten der Romanfiguren an dieser Stelle christlichen Normen entsprach, und legitimierte damit zusätzlich ihren Vorbildcharakter. Andere Bemerkungen dienen der Erklärung von Dingen, die den Lesern möglicherweise unbekannt waren. Als der junge Lasarus seiner Geliebten Amelie einen Brief schreibt und emphatisch davon schwärmt, die Göttin Pallas Athene habe sie mit iren lieblichen brüsten und honig suesser milch geseugt und ernert (S. 108), wird dies am Rand mit den Worten erläutert: Pallas die Goettin / ist ein sundere künstliche wirckerinn gewesen / Darumb Lasarus setzt / sie hab sein junckfraw mit der honig suessen milch künstlicher arbeit getrenckt. Auch um die besondere Aufmerksamkeit der Leser auf bestimmte Textpassagen zu lenken, werden die Randbemerkungen eingesetzt; so heißt es z.B. an einer Stelle, in der es um den Gehorsam geht, den Kinder ihren Eltern schulden, am Rand unmissverständlich: Hie mercke auff du ungezogne jugent (S. 108). Da Wickram im Roman selbst das Geschehen vielfach mit Hilfe von Sprichwörtern und Sentenzen kommentiert und damit die geschilderte konkrete Handlung an allgemeines proverbielles Wissen anknüpft, wundert es nicht, dass sich auch in den Randkommentaren ein solches Sprichwort findet: Während in der Erzählhandlung Cassandra ihrer Tochter erklärt, dass man als Hausfrau ein strenges Augenmerk auf

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konnte. Das Münchner Exemplar ist inzwischen auch digitalisiert zugänglich (www.digitale-sammlungen.de). Die ungleiche Verteilung erinnert an ähnliche Phänomene bei der Illustrierung mittelalterlicher Handschriften. Auch dort nimmt die Dichte der Bebilderung gegen Ende häufig deutlich ab und wird die Strategie, den Text mithilfe der Miniaturen zu gliedern und zu kommentieren, aus meist ungeklärten Gründen aufgegeben.

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das eigene Gesinde haben muss und die Mägde abends nicht allein im Haus lassen sollte, bringt der Randkommentar das angesprochene Problem griffig und pointiert im Sprichwort auf den Punkt: Wann die katz aus dem haus ist / haben die meus ein freyen dantz (S. 132). Formuliert das Sprichwort die vermittelte Lehre allgemein, so wendet sich eine Reihe von Kommentaren ganz explizit mit konkreten Ratschlägen an den Leser. Hie mercke das man die jugent nit zů boeser geselschafft solle gwenen […] beginnt die erste Randbemerkung, die dann allerdings doch das sprichwörtliche Wissen zur Erklärung und Bekräftigung der Lehre noch nachschiebt: die leus wachsen sunst geren von ihn selb inn den beltzen / man darff sie nit hinein setzen (S. 13). Hie lern die rechten frünt erkennen / die in angst und not gar nit weichen […] (S. 18) – mit diesen Worten nimmt ein anderer Randkommentar im Verlauf des 2. Kapitels das Grundthema der Unterscheidung zwischen guten und falschen Freunden auf, das bereits die Vorrede angesprochen hatte und das auch die Kopfzeilen der Seiten den ganzen Druck hindurch präsent halten. Vielfach dienen die Randbemerkungen schließlich auch dem Zweck, die Exemplarizität des Erzählten zu betonen und die bereits in der Vorrede beschworenen Beziehungen zur eigenen Lebenswirklichkeit der Leser zu verdeutlichen. Als die Hochzeit zwischen Richardus und seiner Braut Cassandra im fernen Lissabon geschildert wird, erwähnt der Text zwar die guten Speisen und Getränke, die zum Fest gehörten, bemüht sich aber zu versichern, dass es trotz des reichlichen Angebots keinerlei Betrunkene gegeben hätte, sondern alle mit züchten / unnd grosser dancksagung gefeiert hätten: Also pfleg man auch im Teutsch land bey den hochzeiten / abstinentz zu halten (S. 43) heißt es am Rand, wobei dieser Kommentar deutlich die Ironie aufnimmt, mit der der Erzähler bereits im Text selbst bissig die fein[en] und hoflich[en] Sitten markiert, die er als Augenzeuge selbst auf den Reichstagen beobachtet habe, wo […] sie ein ander haefen / und schüßlen / auff den koepffen entzwey geschlagen / mueßt auch einer spitz ohren gehabt haben / der ein vatter unser von einem gehoert / Aber gůt starck lantzknechtisch schwuer / die ein namen hatten (S. 43). Ähnlich auch der resignierende Kommentar zum Verhalten der Bediensteten: Gott woel das unser gesind nit also geartet sey / aber ich sorg […] / es hab den brauch auch zům theil an in (S. 132). Diese letzte Randbemerkung lässt erkennen, dass der den Leseprozess lenkende Ich-Erzähler nicht nur dort in der Geschichte präsent ist, wo er durch Bemerkungen und Einschübe, häufig auch durch in die Romanerzählung ›eingeflickte‹ Verweise auf ähnliche, ihm selbst widerfahrene ›wahre‹ Begebenheiten, Urteil und Haltung seiner Leser steuert; vielmehr ist er mit Hilfe des gewählten Seitenlayouts auch optisch als kommentierende Instanz gegenwärtig. Allen gewählten Vermittlungsverfahren ist gemeinsam, dass sie nicht darauf abzielen, etwa durch Infragestellen des bislang als Wissen Geglaubten Erkenntnisprozesse auszulösen, sondern Normen plakativ zu propagieren. Das vorbildliche Verhalten der Romanfiguren soll nicht reflektiert, sondern imitiert werden.

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Bleibt am Ende die Frage, wer für die Konzeption des Druck-Layouts verantwortlich war: der Autor Wickram oder der Verleger Hans Knobloch d.J., in dessen Straßburger Offizin beide Drucke erschienen. Eingriffe des Druckers in den Text, etwa die Einteilung in Kapitel und das Setzen von Überschriften, waren keine Seltenheit, und da zu Knoblochs Verlagsprogramm vor allem gelehrte lateinische Werke gehörten, konnte er problemlos mit dem Verfahren der Textkommentierung und –glossierung vertraut sein. Überdies muss auffallen, dass auch die beiden anderen bei Knobloch erschienenen Werke Wickrams, Der Irr reitende Pilger und Die sieben Hauptlaster, ein ähnliches Layout aufweisen, während die in anderen Offizinen gedruckten Romane Wickrams von Kommentaren und Randbemerkungen frei sind. Trotzdem scheint es mir naheliegender, den Grund für das verwendete Layout nicht in der Druckwerkstatt, sondern in der Textsorte zu suchen, der Wickrams Nachbarroman auf diese Weise zugeordnet wurde. Indem der Text vorführt, dass, wer der vorgegebenen Lehre folgt, belohnt, wer zuwiderhandelt, bestraft wird, und indem er die aus den konkreten Geschehnissen ablesbare Lehre in vielfacher Weise in Form proverbiellen Wissens verallgemeinert festhält, folgt er gängigen Schemata der didaktischen Exempelliteratur. Damit aber scheint es kein Zufall zu sein, dass er auch vom Layout her den beiden oben genannten Werken Wickrams nähersteht als seinen übrigen Romanen. Ob die zeitgenössischen Leser das Werk allerdings tatsächlich in diesem Sinn als Verhaltenskompendium benutzt haben, wissen wir nicht. Die Besitzer des Colmarer Exemplars, mit dem ich gearbeitet habe, ordneten es weder im Sinne Wickrams als Erziehungsbuch noch im Sinne neuzeitlicher Literaturgeschichte als Roman ein, sondern banden es – wohl wegen der zahlreichen beschriebenen Reisen der Hauptfiguren – mit Itinerarien ins Heilige Land zusammen.22

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Einem eingeklebten Zettel zufolge stammt das Colmarer Exemplar aus der Adelsbibliothek der elsässischen Rappoltsteiner (Ribeaupierre). Allerdings lässt sich nicht mehr ermitteln, wann es in ihren Besitz gelangte. Der ursprüngliche Sammelcodex enthielt außer Wickrams Druck »les récits des voyages en terre sainte et outre-mer«.

Jan Cölln (Rostock)

Normativität unter den Bedingungen der Kontingenz Humanistische Perspektiven auf Fortuna

»Kontingent ist, was auch anders möglich ist« und so, wie es sich dann realisiert, nicht notwendigerweise sein muss. So fasst Michael Makropoulos in seinem Essay Modernität und Kontingenz (1997) die zahlreichen Begriffsbestimmungen von Kontingenz seit Aristoteles prägnant zusammen.1 »Zufällig ist […] ein Ereignis nämlich gerade dann, wenn es zwar […] in diesem ›Spielraum der Möglichkeiten‹ eintritt, sein Eintreten aber im Unterschied zum entscheidungsgenerierten und damit begründbaren Handeln als grundlos erklärt wird.«2 So scheinen sich Ereignisse oft plötzlich und in nicht erwarteter Weise zu vollziehen, ohne dass der Mensch in seinem Sinne Einfluss darauf nehmen kann. Das den Menschen umgebende Geschehen, das sich für ihn nicht nach vorhersagbaren Regeln vollzieht und sich erst recht nicht danach richtet, wie tugendhaft man sich verhält, wird von ihm als kontingent wahrgenommen resp. dafür erklärt. Kontingenz ist daher zu Recht als »Reflexionsprodukt« bezeichnet worden, das als solches »mit dem Selbst- und Weltbild einer Gesellschaft korrespondiert.«3 Darstellungen von Fortuna als Göttin oder Königin fassen solche Reflexionsprodukte 1

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Makropoulos, Michael, Modernität und Kontingenz, München 1997, S. 13. Vgl. zuletzt ders., Kontingenz. Aspekte einer theoretischen Semantik der Moderne, in: Archives Européennes de Sociologie, 45/2004, S. 369–399. Seine Überlegungen basieren auf Bubner, Rüdiger, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, Frankfurt/M. 1984 (stw 463); dort siehe insbesondere S. 25–50. Zu ›Kontingenz‹ und ›Zufall‹ vgl.: Brugger, Walter / Hoering, Walter, Kontingenz, in: HWPh, 4/1976, Sp. 1027–1038; Hoffmann, Arnd / Knebel, Sven K. / Kranz, Margarita u.a., Zufall, in: HWPh, 12/2004, Sp. 1408–1424. Makropoulos, Modernität [Anm. 1], S. 15. Ebd., S. 14. – Spezifisch neuzeitlich seien Kontingenzauffassungen dann, wenn sie nicht nur einzelnen Handlungen zugrunde gelegt werden, sondern auch der gesamte menschliche Handlungsraum und damit der Möglichkeitshorizont, in Bezug auf den gehandelt wird, für kontingent erklärt wird (S. 22). Dies gelte nicht für ein Weltbild, das an einer göttlichen Ordnung wenn schon nicht in den Niederungen des Diesseits, dann aber wenigstens doch auf der Ebene des Kosmos festhält, wie es im Mittelalter und für sehr lange Zeit auch in der Frühen Neuzeit der Fall sei. Makropoulos’ Thesen zur Epochenspezifi k von Mittelalter und Früher Neuzeit überzeugen mich nicht, da er sich vor allem auf Konstrukte von Blumenberg, Foucault und Luhmann stützt und seine kulturhistorische Argumentation sehr verallgemeinert und stark verkürzt. Unter dem Dach des Gottvertrauens auf ein himmlisches Jenseits können sich der Möglichkeitsraum und damit auch seine Horizonte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit je nach Erfahrungsperspektive (Stadt-

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Jan Cölln

Abb. 1: Carmina Burana, Clm. 4660, fol. 1r, Meyer-Landrut, Fortuna [Anm. 4], S. 55

Normativität unter den Bedingungen der Kontingenz

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in begreifbare Bildelemente und literarische Metaphern, um das Unvorhergesehene als Herausforderung für den Menschen darstellbar zu machen. Im Folgenden behandele ich zwei Beispiele, die auf recht unterschiedliche Weise humanistische Perspektiven auf Kontingenz deutlich machen: Enea Silvio Piccolominis Somnium Fortunæ (1444) in der Übersetzung von Niklas von Wyle (1468) und Petrarcas De remediis utriusque fortunæ (1366) in der Übersetzung von Peter Stahel und Georg Spalatin (1532). Die Dimensionen des Unkalkulierbaren weiten sich aus, werden kaum noch durch christliche Providenzvorstellungen gezähmt und stellen darum umso mehr eine Herausforderung an den Moralphilosophen dar, es mit Hilfe von ethischen Normen zu bewältigen. Um die jeweiligen Charakteristika beider Perspektiven auf Fortuna beschreiben zu können, skizziere ich an einigen bekannten Bilddarstellungen zunächst die wichtigsten Grundmuster der Bildfeldtradition, die auch in den Texten literarische Metaphern für Kontingenz generieren.4 Das Bild von Fortuna in den Carmina Burana,5 die am Rad der Macht oder des Reichtums dreht, wie es in den bekannten hochmittelalterlichen Bilddarstellungen zum Ausdruck kommt, symbolisiert vor allem die Vergänglichkeit irdischer Güter – hier der höchsten weltlichen Macht. Die Laufwege des Rades bleiben aber vorhersagbar, da sich die Drehung in der Regel rechts herum vollzieht, so dass das Bildmedium das Geschehen als voraussehbar erscheinen lässt. Dass dies durchaus intentional in der Ästhetik dieses Bildtyps angelegt ist, machen die Bildelemente deutlich, die das Geschehen Fortunas von vornherein moralisch bewerten: Die Einfassung des Fortuna-Rades in ein Petruskreuz macht augenscheinlich, dass das irdische Geschehen letztlich von göttlicher Providenz dominiert ist. Die spezifische Verwendung gerade des Petruskreuzes lässt zudem vermuten, dass hier der Hoffart der Macht die Demut Petri entgegengesetzt wird.6 Als Petrus gekreuzigt werden sollte, bestand er darauf,

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kultur und Technikentwicklung, Handlungsreisen und Entdeckung neuer Welten; neue Gelehrsamkeit und Erschließung neuer Denkarchive) beträchtlich erweitern. Wenn nicht anders angegeben, stammen die Abbildungen aus Meyer-Landrut, Ehrengard, Fortuna. Die Göttin des Glücks im Wandel der Zeiten, München, Berlin 1997. Zu dem Thema gibt es eine reiche Einführungsliteratur, aus der ich nur drei neuere Beiträge hervorhebe, die auch die ältere Literatur enthalten: Haug, Walter, O Fortuna. Eine historischsemantische Skizze zur Einführung, in: Haug, Walter / Wachinger, Burghart (Hrsg.), Fortuna, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 15), S. 1–22; Kern, Peter, Fortuna, Occasio, Saelde: Glücksvorstellungen in Texten und Bildzeugnissen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Waseda-Blätter, 14/2007, S. 129–152; Müller, Jan-Dirk, Fortuna, in: Schneider, Almut / Neumann, Michael (Hrsg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Zwischen Mittelalter und Neuzeit, Regensburg 2005, S. 144–167. Vgl. aber auch: Kajanto, Iiro [Übers. J. Engemann], Fortuna, in: RAC, 8/1972, Sp. 182–197; Kern, Manfred, Fortuna, in: Kern, Manfred u.a., Lexikon der antiken Gestalten, Berlin, New York 2003, S. 255–258; Miranda, Elisa, Fortuna, in: EM, 5/1987, Sp. 1–6. Meyer-Landrut, Fortuna [Anm. 4], S. 55. Diese Überlegung verdanke ich Franz-Josef Holznagel, Rostock. Dem Petruskreuz schenken die bisherigen Bildinterpreten keine Beachtung. Vgl. Diemer, Peter / Diemer, Doro-

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Abb. 2: Berg der Weisen, Marmormosaik im Dom von Siena, Entwurf Pinturicchios (1504); Meyer-Landrut, Fortuna [Anm. 4], S. 149

Abb. 3: Nicoletto da Modena, Fortuna des Meeres, Kupferstich (1500/1512); Meyer-Landrut, Fortuna [Anm. 4], S. 148

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dass dies kopfüber geschehen müsse, damit er sich nicht die Nachfolge Christi anmaße. In dieser Weise begleiten viele Bilder vom Rad der Fortuna Kotexte ihrer Bewältigung – sei es durch Providenzüberzeugung, sei es durch den christlichen Zeigefinger der ›vanitas‹-Moral. In Spätmittelalter und Früher Neuzeit kommen Bildvorstellungen hinzu,7 die auf antiken Traditionen beruhen und die die Darstellung der Kontingenzerfahrung des Menschen betonen: 8 Pinturicchios Berg der Weisen9 – sein Entwurf zum Marmormosaik im Dom von Siena wird auf das Jahr 1504 datiert – zeigt eine Fortuna mit dem Segel, die mit einem Bein den gebrochenen Mast eines kleinen Schiffs ersetzt und mit dem anderen Bein auf einer Kugel balanciert. Dieser Bildtyp der ›Fortuna maris‹ legt den Akzent auf das Ausgeliefertsein des Menschen, der den einander widerstrebenden Kräften der von ihm nicht beherrschbaren Natur die Hoffnung auf Fortuna entgegensetzt. Gleichzeitig bildet Pinturicchio in dem Mosaik auch den Bildtyp der verführerischen, nackten Fortuna mit wehenden Haaren auf der Kugel ab – gerade in der Verbindung mit dem Meer vermutlich eine explizite Anspielung auf Botticellis Aphrodite. Dieses vor allem in der Renaissance wiederbelebte Bild der Göttin Fortuna, die mit wehenden Haaren auf einer Kugel balanciert, setzt vor allem die unbeständige Schnelligkeit des in seinem Verlauf nicht mehr kalkulierbaren, aber verführerischen Geschehens ins Bild, das im nächsten Moment nicht mehr verfügbar sein kann. Während der mittelalterlichen Providenz-Gewissheit und der daraus resultierenden ›vanitas‹-Ethik die Statik des Fortuna-Rades entspricht, suchen neue Fortuna-Bildtypen die Dynamik des kontingenten Geschehensablaufs zu inszenieren. Wie Pinturicchio kombiniert auch Nicoletto da Modena10 beide Bildvorstellungen in seiner Fortuna des Meeres (Florenz 1500/1512), ersetzt aber das Segel durch ein zum Fragezeichen aufgeblähtes Tuch und lässt seine Fortuna auf einer Kugel – ersichtlich eine Weltkugel – und auf einem Steuerruder balancieren. Der Haarschopf der Figur, die den Wind symbolisiert, weht entgegengesetzt zu den langen, vorne zu einem kleinen Schopf gebundenen Haaren der Meeresgöttin. Wo Fortuna auf Weltkugel und Steuerruder balanciert, ist das Meer aufgewühlt. Der zum Himmel gerich-

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8 9 10

thee, Die Illustrationen der Handschrift, in: Vollmann, Benedikt Konrad (Hrsg.), Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer, Frankfurt/M. 1987 (Bibliothek des Mittelalters 13), S. 1289–1298, hier S. 1290f. [mit Angaben zu älterer Literatur]; Haug, Walter, O Fortuna [Anm. 4], S. 1. Kern, Fortuna [Anm. 4], hat in seinem Aufsatz gezeigt, dass es vereinzelt bereits im Hochmittelalter Texte gibt, die diejenigen antiken Vorstellungen enthalten, die erst durch die Renaissance zur herrschenden Bildvorstellung im Fortuna-Diskurs gemacht werden. Vgl. dazu auch Holländer, Hans, Die Kugel der Fortuna, in: Fichte, Joerg O. (Hrsg.), Providentia – Fatum – Fortuna, Berlin 1996 (Das Mittelalter 1.1), S. 149–167. Meyer-Landrut, Fortuna [Anm. 4], S. 149. Ebd., S. 148.

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Abb. 4: Ulrich von Hutten, Dialogi (1520), Titelbild; BSB München Res. 4 Opp. 90, I, 9

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tete Zeigefinger Fortunas verweist den Betrachter auf keinerlei Gewissheit versprechende göttliche Instanz im Bild selbst. In manchen Bilddarstellungen11 wird das Haar der Fortuna in Anlehnung an die römische Göttin Occasio, die am Hinterkopf kahl ist, so präsentiert, dass es in einem Schopf von der Stirn weg weht. Die Gelegenheit, sein Glück beim Schopfe zu packen, verfliegt im nächsten Augenblick. Die wehenden Gewänder der Bildfiguren vermitteln den Eindruck der Schnelligkeit des Geschehens. Typisch für die komplexen Möglichkeiten der Bilddarstellungen in der Frühen Neuzeit ist der Synkretismus von Attributen aus Bildtraditionen unterschiedlicher Herkunft, wie das Titelblatt zu Huttens Dialogi (Mainz: Johann Schöffer 1520)12 eindrucksvoll zeigt. Der erste Dialog der lateinischen Sammlung, der den Titel Fortuna trägt, ist Anlass für das Titelbild.13 Es zeigt unter einem Vollmond14 eine nackte Fortuna, die auf einer Kugel läuft. Sie hat die Augen verbunden, wie Iustitia, ihr Tuch und ihre langen Ringellocken wehen nach vorne weg, während zwei Winde in den beiden rechten Bildecken in entgegengesetzte Richtungen blasen. Es bleibt unkalkulierbar, in welche Richtung sich die Figur in Windeseile bewegen wird. Fortuna trägt in ihrer Linken ein mit Früchten und Getreide gefülltes Füllhorn wie Demeter und verspricht damit Reichtümer, weist aber zugleich mit der rechten Hand in einer volkstümlichen Geste auf ein Rad, das an einer Kurbel von einer Hand aus den Wolken über der Sonne gedreht wird. Die Geste bezeichnet, dass jemand – derjenige, der auf eine mit göttlicher Gerechtigkeit gelenkte Fortuna vertraut? – zum Esel gemacht wird.15 Es sieht so aus, als ob das mittelalterliche Glücksrad – und damit auch die

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Vgl. Fortuna / occasio, Fresko (spätes 15. Jh.), Mantua, Palazzo Ducale; Meyer-Landrut, Fortuna [Anm. 4], S. 155. Siehe auch CB 16, I 3f. (Vollmann [Anm. 6], S. 48). Im lateinischen Mittelalter leben diese antiken Bilder ohne nennenswerte Traditionsunterbrechung fort. Laub, Peter (Hrsg.), Ulrich von Hutten. Ritter, Humanist, Publizist 1488–1523. Katalog des Landes Hessen anläßlich des 500. Geburtstages, Kassel 1988, S. 272 (Kat.-Nr. 4.20). Ulrich von Hutten, Fortuna, in: Böcking, Eduard (Hrsg.), Ulrichs von Hutten Schriften, Bd. 4, Gespräche, Leipzig 1861 (Neudruck Aalen 1963), S. 75–100; eine Übersetzung ist erschienen in: Treu, Martin (Hrsg.), Ulrich von Hutten, Die Schule des Tyrannen. Lateinische Schriften, Darmstadt 1996, S. 26–54 [S. 323–328 Kommentar]. Zu diesem Text, der nicht in Huttens eigene Übersetzung seiner Dialogsammlung aufgenommen ist, gibt es keine neuere Interpretation, die dieser durch ebenso lukianischen Witz wie humanistischen Gehalt ausgezeichnete Text sehr wohl verdiente. Am ausführlichsten äußert sich Gewerstock, Olga, Lucian und Hutten. Zur Geschichte des Dialogs im 16. Jahrhundert, Berlin 1924 (Germanische Studien 31), S. 77–89. Mit dieser Deutung nehme ich einen Hinweis von Peter Kern, Bonn, auf. CB 17, I 1–4 (Vollmann [Anm. 6], S. 48) fasst die Veränderlichkeit der Fortuna in den Bildvergleich zum Mond, der im Gegensatz zur Sonne jeden Tag eine andere Gestalt hat. Hutten stellt sich mit diesem Detail vielleicht in eine Tradition mit Sebastian Brant; direkte Zitate konnten aber nicht nachgewiesen werden. Zur Redewendung ›jemandem einen Esel bohren/stechen‹ und der dazugehörigen Handgeste vgl. Art. Esel, in: Deutsches

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Vorstellung, dass das Glücksgeschehen letztlich doch providentiell gelenkt sei – durch die Renaissance-Fortuna regelrecht aus dem Bild gedrängt werde. Diesen Bildeindruck verstärken die in griechischen Lettern wiedergegebenen Zitate aus einer Spruchsammlung, die im Humanismus Menander zugewiesen worden ist.16 Typographie und humanistische Autorität bilden den Rahmen für die Ablösung der mittelalterlichen Bildtradition durch die Antikearchive der Renaissance. Die Eindeutigkeit der aus christlicher Ethik motivierten Fortuna-Vorstellung wird in Huttens Titelblatt an den Bildrand gedrängt durch eine Vielfalt einander widersprechender und entgegengesetzter Bildmotive, die den Betrachter mit der Unklarheit der möglichen Geschehensabläufe konfrontiert. Diese neue Darstellbarkeit des Zufallsgeschehens im Bild als Kontingenzerfahrung des Betrachters im modernen terminologischen Sinn gibt den Raum für intellektuelle Strategien der Kompensation, die die Herausforderung der Kontingenz annehmen, ihr aber mit neuen Konzeptionen von Wertvorstellungen und Normsetzungen begegnen. Solche Strategien arbeiten sich umso intensiver an dieser Verschränkung von Normativität und Kontingenz ab, je mehr in besonderer Weise das Kontingente betont wird. Dies scheint mir in Bildern und Texten der Fall zu sein, die an humanistischen Traditionen der Renaissance teilhaben. Belegen sollen das jetzt meine Analysen von Enea Silvio Piccolominis Somnium Fortunæ (1444)17 in der Übersetzung von Niklas von Wyle (1468) und Petrarcas De remediis utriusque fortunæ (1366) in der Übersetzung von Stahel/Spalatin (1532).

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Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 3, Leipzig 1862 [Nachdruck: München 1991], Sp. 1143–1148, hier Sp. 1146 [Eintrag 5 c)]; Röhrich, Lutz, Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Basel, Wien 1991, Bd. 1, S. 397f. Vgl. Hans Holländers Deutung der Fortuna-Darstellung auf dem Titelblatt zu Carolus Bovillus’ Liber de Sapiente (Paris und Amiens 1510/1511), in: Holländer, Kugel [Anm. 8], S. 149f. – Jäkel, Siegfried (Hrsg.), Menandri Sententiæ, Leipzig 1964 (Bibliotheca Teubneriana), Nr. 341 [Meineke, 247] und Nr. 637 [Meineke, 462]. Die erste Ausgabe unter dem Titel Γνωμαι μονοστιχοι erschien Florenz 1494. Treu übersetzt: »Mit Gott zu kämpfen schrickt Fortuna selbst zurück« und »Fortuna kämpft mit allen Klugen ja im Bund.« (Treu [Anm. 13], S. 26) Zu Menander vgl. Vogt-Spira, Gregor, Dramaturgie des Zufalls. Tyche und Handeln in der Komödie Menanders, München 1992 (Zetemata 88); zur Semantik von Tyche: S. 19–74. Zu Enea Silvio Piccolomini vgl. Worstbrock, Franz Josef, Eneas Silvio Piccolomini, in: VL2 , 7/1989, Sp. 634–669, und Helmrath, Johannes, ›Vestigia Aeneae imitari‹. Enea Silvio Piccolomini als »Apostel« des Humanismus. Formen und Wege seiner Diffusion, in: Helmrath, Johannes / Muhlack, Ulrich / Walther, Gerrit (Hrsg.), Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, S. 99–141.

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I. Als Piccolomini am 26. Juni 1444 seinen wenig später unter dem Titel Somnium Fortunæ bekannt werdenden Brief an Prokop von Rabenstein schreibt, beginnt er mit folgender Überlegung; ich zitiere aus der 12. Translatze des Niklas von Wyle:18 Der vergangen nachte vor vnd ee Ich entschlief hab Ich mit mir selbs vil von dinen wegen geredt vnd wunder gehabt daz diner zucht vnd tugend nit gebürlich eer n ch st te gegeben werden. Danne die wyle in dir erschinet adel vnd fromkait, so mag Ich nit erkennen warumbe du nit vnder den vordersten gesetzet vnd gehalten werdest söllest. Vnd darumbe so schuldiget ich das gelücke, das da wirt geloubet sin, ain vsgeberin eeren vnd g *tes; vnd krieget deshalb erzürnt vil mit mir selbs wider das selb gelücke, vmb daz es die g *ten menschen so oft niderdruckt vnd die bösen erhebet […]. (232,33 – 233,6)

Die Worte niderdruckt und erhebet 19 machen deutlich, dass hinter der Überlegung das Bild vom Rad der Fortuna steht. Das Problem, auf das Piccolomini hier aber den Akzent legt, ist das Gefühl, es dürfe zwischen Tugendhaftigkeit – zucht vnd tugend; adel vnd fromkait – und öffentlichem Ansehen – nit gebürlich eer n ch st te; vnder den vordersten gesetzet vnd gehalten – kein Missverhältnis bestehen. Dass das aber gerade bei seinem Freund Prokop von Rabenstein der Fall sei, legt der Autor der Göttin Fortuna zur Last, die doch allgemein für die vsgeberin eeren vnd g *tes gehalten wird. Hier entfernt sich Piccolomini von der bekannten mittelalterlichen Bildvorstellung, nach der Fortuna auch die Urheberin des Unheils, z.B. des Sturzes vom Herrscherthron, sein kann. Er aktualisiert mit seiner Formulierung das antike Bild von der Göttin Fortuna mit dem Füllhorn, deren Glücksgüter aber willkürlich verteilt werden, da die römische Göttin in der Regel blind ist wie Amor oder Iustitia. Piccolominis Fortuna herrscht als freigebige Königin in einer Burg, die allerdings nur für wenige ›Glückliche‹ den Zutritt über heruntergelassene Kettenbrücken erlaubt und in einem irdischen Lustparadies, in dem für diejenigen, die sich ihr unterwerfen und ihr huldigen, Bäche von Milch und Wein fließen (234,14 – 235,6), ihre Glücksgüter austeilt. Später wird sie auf ihrem Thron mit großen, aber oft geschlossenen Augen und mit von Wachs verstopften Ohren dargestellt, die in ihrer linken Hand

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Niklas von Wyle, 12. Translatze, in: Keller, Adelbert von (Hrsg.), Translationen von Niclas von Wyle, Stuttgart 1861 (Bibliothek des Litterarischen Vereins 57), Nachdruck Hildesheim 1967, S. 231–247. Die Zeichensetzung der Zitate konnte aus typographischen Gründen nicht übernommen werden. Zu dem Text vgl. die Ausführungen von Schmitz, Claudia, Rebellion und Bändigung der Lust. Dialogische Inszenierung konkurrierender Konzepte vom glücklichen Leben (1460–1540), Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 88), S. 84–89. Die Perspektive meiner Fragestellung wird in dieser Arbeit kaum berührt. Im lateinischen Text des Enea Silvio Piccolomini heißt es viros premeret bonos, extolleret malos (Wolkan, Rudolf [Hrsg.], Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, I. Abteilung: Briefe aus der Laienzeit [1431–1445], Bd. 1, Privatbriefe, Wien 1909 [Fontes rerum austriacarum II 61], S. 343).

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eine Rute, in ihrer rechten Hand aber zahlreiche Glücksgüter vom öffentlichen Ansehen bis zu Speis und Trank hält (240,9 ff.). Die Darstellung dieser zwayerlay angesichten (240,10)20 ist im Text insgesamt fast ausschließlich zugunsten der positiven Glücksgüter eingeschränkt. Negativ wirkt diese höfische Herrin allein durch den Entzug ihrer Gunst. Dass Piccolomini Bildvorstellungen literarisch verarbeitet, die aus dem Archiv der Renaissance-Humanisten stammen, macht auch die Anekdote vom kleinen Alfonso, König von Aragon, deutlich, den Piccolomini in seinem Traum die wehenden Haare der Glücksgöttin ergreifen und so lange an ihnen ziehen lässt, bis Fortuna ihm ihr Angesicht zuwendet und ihm künftig Gutes verspricht (243,14–35). Audentis fortuna iuvat – »den Mutigen steht Fortuna bei« – aus Vergils Aeneis (X 284) wird in humanistischen Texten immer wieder zitiert, um gegen die Verzagtheit zu argumentieren und dazu aufzurufen, dass man sein Glück wie die römische Göttin Occasio beherzt beim Schopfe packen muss, wenn man von Fortuna begünstigt werden will.21 Neben diesem Synkretismus von Bildelementen unterschiedlicher Herkunft steht aber auch ein Nebeneinander von Personifikation und Abstraktion. Bei Piccolomini heißt es: accusavi ergo fortunam, que […] creditur dispensatrix, pluraque in eam stomachatus dixi, ut que viros premeret bonos […]. (343; Unterstreichungen, JC.) In der lateinischen Grammatik kann er bei der Femininform von fortuna bleiben und die Personifikation damit konsequent durchhalten. Niklas von Wyle aber wechselt das grammatische Geschlecht: Vnd darumbe so schuldiget ich das gelücke, das da wirt geloubet sin, ain vsgeberin eeren vnd g *tes; vnd krieget deshalb erzürnt vil mit mir selbs wider das selb gelücke, vmb daz es die g *ten menschen so oft niderdruckt […]. (233,2–6) In der deutschen Sprache erfordert das Neutrum des Wortes ›Glück‹, von der weiblichen Personifikation abzuweichen. So will ich die Stelle also auch nicht überbewerten. Gleichwohl ist diese sprachliche Wendung eine auch für den Autor Niklas von Wyle willkommene Möglichkeit, die aus der nicht-christlichen Antike stammende Tradition der Personifikation mit dem weniger mythischen Konzept vom Glück als etwas Abstraktem zu verbinden. In dem Einleitungsbrief 22 an seine Gönnerin, die Pfalzgrä-

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Den zwayerlay angesichten entspricht ein eigener Bildtypus: Appuhn-Radtke, Sibylle, Fortuna Bifrons. Zu einem mittelalterlichen Bildtyp und dessen Nachleben in der Ikonographie Albrecht Dürers, in: Fichte (Hrsg.), Providentia [Anm. 8], S. 129–148. Bei Vergil ruft das allerdings an dieser Stelle der dem Untergang geweihte Turnus seinen Soldaten zu, um Aeneas mit seinem Heer nicht erfolgreich an der latinischen Küste bei der Tibermündung landen zu lassen. Die Sentenz bewahrheitet sich also bei Vergil nicht. Niklas von Wyle begründet die schriftliche Fassung seiner Übersetzung folgendermaßen: Enea Silvio Piccolomini hat seinen Traum über Fortuna in costlichem latin beschriben (232,2) und Niklas von Wyle hat die Geschichte, wie er in seiner Vorrede schreibt, vor einigen Jahren seiner Gönnerin Mechthild, Pfalzgräfin vom Rhein und Erzherzogin von Österreich, während einer Badekur muntlich in tütscher zungen (als vil ich des in gedechtnüsz behalten hatt) üwer durlüchtikait sagt vnd vszlait (232,4–6). Damals seien viele weitere Kurgäste dazugekommen, um die Geschichte zu hören. Da Mechthild nun wieder dort sei,

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fin Mechthild, zur Zeit der Abfassung des Textes 1468 bereits Witwe des umstrittenen Erzherzogs Albrecht VI., formuliert er gleich zu Beginn, dass es Fortuna als Göttin gar nicht wirklich gebe: lactantius firmianus schribt das gelücke an im selbs nützit sin, noch das dar für geachtet werden söllen, daz es syge ainches lebendigen wesens, dwyle das (als die natürlichen maister sagent) allain ist z *fallender dingen ain schnelle vnuerwänte geschichte. (231,6–10)

Glück ist »das schnelle unerwartete Geschehen oder Eintreten zufälliger Ereignisse« – eine wörtliche Übersetzung aus Laktanz’ Divinae Institutiones (3, 29, 1), wo es heißt: accidentium rerum subitus atque inopinatus eventus.23 Fortuna als ain göttin oder ain küngin das leben habende vnd die gantzen welt regierende vnd darjnne grosz vnd vil vermugende (231,14–16) sei stattdessen eine literarische Personifikation der antiken Poeten. Gelücke als nicht kalkulierbares Element menschlicher Erfahrung, damit als abstraktes Phänomen, stellt Niklas von Wyle neben die weiterhin geltende kommunikative Verwendung der Personifikation des Zufalls als Göttin Fortuna. Welche Beobachtungen im Reich der Fortuna schildert der Autor Piccolomini und in welcher Weise trägt der erzählte Traum nun zu einer Lösung des eingangs benannten Problems bei, dass Tugenden und Verdienste eines Mannes nicht notwendigerweise mit öffentlichem Ansehen belohnt werden? Der Träumende wird von seinem Freund Maffeo Vegio aus Lodi (1401–1459) durch die Burg der Königin geführt und nach und nach davon überzeugt, dass Fortuna auch für die Tugendhaften – ob Gelehrte oder mächtige Herrscher – Gutes bewirke (235,25–28; 237,16–19). Dabei werden nach humanistischer Manier Exempel aus der antiken Geschichte und der politischen Gegenwart besprochen. Piccolomini legt Vegio auch die Behauptung in den Mund, dass wir den adel vnser geburt durc hkain [sic] tugend sunder allain durch fale vnd schickung des gelückes 5berkomen t *nt. (238,7–9) Die Brisanz dieses Satzes wird allerdings nicht diskutiert, sondern durch ›vanitas mundi‹-Vorstellungen wieder entschärft.24 Denn wen Fortuna nicht mit Glücksgütern bedenkt, der dürfe nicht

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habe er den selben tr " me vsz dem gemelten latine dem b *chstaben nach in ain besser tütsch gebrcht, danne Ich den vor hab muntlich können sagen (232,15–17). Brandt, Samuel / Laubmann, Georg (Hrsg.), L. Caeli Firmiani Lactanti opera omnia, Bd. 1, Divinae institutiones et epitome divinarum institutionum, Prag, Wien, Leipzig 1890 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 19), S. 267–271, hier S. 267, 16–19. Das gesamte Zitat lautet: fortuna ergo per se nihil est: nec sit habendum est, tamquam sit in aliquo sensu, siquidem fortuna est accidentium rerum subitus atque inopinatus eventus. Laktanz zieht am Ende den christlichen Schluss, dass es sich bei der heidnischen Gottheit Fortuna um eine Gestalt des Teufels handeln müsse, die die Heiden ohne christlichen Glauben nicht haben erkennen können. Berufung auf und Abweichung von Laktanz sind für den Humanisten Niklas von Wyle gleichermaßen signifikant. Dem Adenlichem vrsprung / vnd herkommen widmet Petrarca das umfangreiche 16. Kapitel des I. Buchs von De remediis utriusque fortunæ (Steyner 1532, Fol. C 5r – C 6v = XVIIr – XVIIIv).

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zürnen, da der Mensch ja nicht geboren werde, um Reichtümer zu besitzen. Die Menschen seien auf dieser Welt schließlich nur fremd geste vnd bilgri (238,16), so dass sie durch wercke der tugend Ir künftig haimant (238,16f.) – das Jenseits – im Blick haben sollten, statt nach Glücksgütern zu streben. Der Text unterscheidet zudem explizit semantisch zwischen dem allgemeinen Gebrauch des Wortes seligkait (240,38), die Fortuna ohne Rücksicht auf tugenden vnd fromkait (240,37f.) im Diesseits spenden kann, und – unter Berufung auf Juvenal! – dem gelehrten Gebrauch des Wortes seligkait, die kainen bösen menschen teilhaftig werde (241,24f.).25 Geradezu radikale Auffassungen von der völligen Abhängigkeit alles Irdischen vom Zufall – hier die soziale Ordnung zwischen Adel und Nicht-Adel – werden kompensiert durch kanonische Verhaltensnormen christlicher Ethik – zum Teil im paganen antiken Gewand. Strebt man aber nach Glücksgütern im weltlichen Leben, dann müsse man sich Fortuna stets unterwerfen, ihr huldigen und mit kühner Entschlossenheit schnell handeln. [M]it türstikait mit frefel vnnd mit w gen werden diejenigen von ihr profitieren, die ihre Gebote mit sterckerm vnd grosserm gemüt trait vnnd lydet. Aber [d]em zagen vnnd klainmütigen gibt sie nichts (247,6–9). Weisheitsideale der besonnenen Mäßigung, des klugen Abwägens und der Beratung mit gelehrten Weisen führen nicht zu der Gunst Fortunas. Sie macht allerdings eine Ausnahme: Friedrich den III.26 liebe Fortuna heftiger als Venus ihren Adonis, so dass sie allein ihn begünstigt, obwohl er ihr nicht huldigen wolle (242,4–27). Mit diesem Detail weist der Text auf dessen Sohn, auf Maximilian I., voraus, der seinen außergewöhnlichen Status im Theuerdanck (1517) bekanntlich gerade auch durch den Aspekt der ›fortuna stabilis‹ in die Memoria einschreibt. Weder Piccolomini noch sein Übersetzer Niklas von Wyle geben irgendwelche Anweisungen, wie diese Stelle auszulegen sei, geschweige denn Empfehlungen, wie man sich zu verhalten habe. Es bleibt dem Hörer oder Leser überlassen, ob er von Fortuna begünstigte Werte pflegen will und damit den Normen Fortunas folgt oder ob er sich mit antiken oder christlichen Moralvorstellungen davon überzeugen lassen will, dass die Glücksgüter der Fortuna für seine seligkait irrelevant sind. Die Strategie des Textes eröffnet eine Alternative, die dem Menschen durch die Entscheidungsmöglichkeit ein Stück seiner Selbstmächtigkeit gegenüber der Erfahrung von Kontingenz zurückgibt.

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Im Text von Enea Silvio Piccolomini steht jeweils eine Form des Wortes felicitas (Wolkan [Anm. 19], I 1, 348, 31 / 349, 7). Für Piccolomini ist er 1444 noch König – er bezeichnet ihn in huldigender Voraussicht als herus tuus Fridericus caesar (Wolkan [Anm. 19], 349,19) –, für Niklas von Wyle ist der 1452 zum Kaiser gekrönte Friedrich III. bereits herre kaiser (242,4).

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II. Peter Stahels und Georg Spalatins erste deutsche Gesamtübersetzung von Petrarcas Dialog-Traktat De remediis utriusque fortunæ (1366),27 das in der Frühen Neuzeit zu seinen bedeutendsten Werken gezählt wurde und aus dem schon Niklas von Wyle ein kleines Kapitel übersetzte,28 war bereits 1521 fertiggestellt, aber Heinrich Steyner gab sie mit den großartigen, von niemandem Geringerem als Sebastian Brant († 1521) betreuten Drucken des sogenannten Petrarca-Meisters erst 1532 heraus.29 Petrarca 27

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Über den langen Zeitraum der Entstehung des Werkes, dessen Widmungsträger zwei Jahre nach dem Abschluss der ersten Fassung von 1360 gestorben ist, vgl. Dotti, Ugo, Vita di Petrarca, Bari 1992 (Biblioteca Universale Laterza), S. 292–300. De remediis gehört sicher zu den am weitesten verbreiteten lateinischen Texten eines Humanisten und ist gleichzeitig wohl einer der am wenigsten erforschten, so dass es nicht einmal eine vollständige kritische, geschweige denn eine kommentierte Gesamtausgabe gibt. Eine Auswahlausgabe mit wertvoller Einleitung und Kommentar bietet: Schottlaender, Rudolf (Hrsg.), Francesco Petrarcha, De Remediis utriusque fortunæ. Zweisprachige Ausgabe in Auswahl. Bibliographie von Eckhard Keßler. Mit den zugehörigen Abbildungen aus der deutschen Ausgabe Augsburg 1532, München 1975 (Humanistische Bibliothek. Reihe II: Texte 18). Ein schwer erhältliches Reprint (Ridgewood 1965) existiert von folgender Ausgabe: Francisci Petrarchae florentini, Philosophi, Oratoris, & Poetae clarissimi […] Opera quae extant omnia […]. Bd. 1, Basel: Henricus Petri 1554 [De remediis: S. 1–254]. Die einzige ausführlichere Arbeit über Petrarcas Fortuna-Buch ist immer noch: Heitmann, Klaus, Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, Köln, Graz 1958 (Studi italiani 1). In zahlreichen Aspekten setzt sich die moderne Forschung von Heitmann ab: Worstbrock, Franz Josef, Petrarcas ›De remediis utriusque fortunæ‹. Textstruktur und frühneuzeitliche deutsche Rezeption, in: Aurnhammer, Achim (Hrsg.), Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik, Tübingen 2006, S. 39–57; vgl. Dietl, Cora, Das wandelbare Gesicht der Fortuna – Petrarcas ›De remediis utriusque fortunæ‹ in deutschen Übersetzungen, in: JOWG, 16/2007, S. 395–412. Zu den Übersetzungen vor Stahel und Spalatin vgl. Knape, Joachim, Die ältesten deutschen Übersetzungen von Petrarcas ›Glücksbuch‹. Texte und Untersuchungen, Bamberg 1986 (Gratia 15), und Dietl, Gesicht der Fortuna [Anm. 27]; zur Rezeption von Petrarcas lateinischen Texten in Deutschland vgl. Geiss, Jürgen, Zentren der Petrarca-Rezeption in Deutschland (um 1470–1525). Rezeptionsgeschichtliche Studien und Katalog der lateinischen Drucküberlieferung, Wiesbaden 2002. Lemmer, Manfred (Hrsg.), Franciscus Petrarcha, ›Von der Artzney bayder Glück / des g *ten und widerwertigen‹, Augsburg: Heynrich Steyner 1532 [Leipzig 1983]. Heinrich Steyner hatte das Buchprojekt von den 1527 Bankrott machenden Verlegern Grimm und Wirsung übernommen (vgl. Worstbrock, Petrarcas ›De remediis‹ [Anm. 27], S. 40–43). Er schreibt in seiner Vorrede, dass die Illustrationen nach visierlicher angebung des Hochgelerten Doctors Sebastiani Brandt seligen (Fol. IIIr) hergestellt worden seien. Von Brant, der die erste deutsche Gesamtausgabe der lateinischen Werke Petrarcas 1496 bei Johann Amerbach in Basel herausgab, stammt auch eine kleine gereimte Vorrede (Fol. IIIv). Zu dem Petrarca-Meister und Brants Anteil an den Holzschnitten vgl. Scheidig, Walther, Die Holzschnitte des Petrarca-Meisters zu Petrarcas Werk ›Von der Artzney bayder Glück / des g *ten und widerwertigen‹ (Augsburg 1532), Berlin 1955, S. 1–32. Die verschiedenen Versuche, den Künstler zu

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Abb. 5: Petrarcha, Von der Artzney, Heinrich Steyner (1532) [Anm. 29], Buch I, Titelblatt

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Abb. 6: Petrarcha, Von der Artzney, Heinrich Steyner (1532) [Anm. 29], Buch II, Titelblatt

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und sein Illustrator komponieren ein Mosaik von literarischen Metaphern und Bildelementen aus unterschiedlichen ikonographischen Traditionen. Petrarcas Strategien der Kompensation von Kontingenzerfahrung konzentrieren sich auf die Affekte und die Vernunftbegabtheit des Menschen. Ich argumentiere in zwei Schritten, indem ich zuerst die Leistung der Bilder und Metaphern der Texte für die Kontingenzerfahrung analysiere und dann die intellektuellen Strategien der Kontingenzbewältigung beschreibe: 1.) Sowohl die Holzschnitte als auch Petrarcas literarische Metaphern weisen einen Synkretismus von Bildvorstellungen auf. Das Titelbild zeigt zunächst das aus dem Mittelalter bekannte Rad der Fortuna: Oben auf dem Rad verteidigt ein Herrscher mit dem Reichsapfel seine Stellung mit schwingendem Schwert und mit Fußtritten gegen den emporklimmenden Fürsten, der durch seine turbanartige Kopfbedeckung Türkengefahr symbolisiert. Vermischt wird diese Bildtradition mit der Schiffsmetapher: In den Ecken des Rechtecks blasen die vier Winde gleichzeitig mit großer Kraft auf das Rad. So erscheint es für den Betrachter kontingent, in welche Richtung sich das Rad drehen wird. Es gibt somit keine Gewissheit, dass es keinen türkischen Herrscher auf der Höhe des Glücksrades geben wird. Das bezeugt auch das Titelblatt des zweiten Buches, da sich das Rad anders als in der Bildtradition nicht nach rechts dreht. Im Gegensatz zum nach oben strebenden Türkenherrscher auf dem ersten Titelbild klammert sich hier ein zu Boden gerichteter König an die linke Seite des Rades. Der Betrachter weiß, dass es ihm nichts nützen wird, dass er seine Krone an seinem Hals angekettet hat. Hier ist kein türkischer Herrscher mehr abgebildet.30 Die dichte und unruhige Bildkomposition – die Gewänder der Fürsten flattern im Wind – vermittelt die Schnelligkeit des Geschehens. Auffällig an dieser Bildkomposition ist zudem das Fehlen der Glücksgöttin selbst.31 Das bestätigt auch ein späteres Bildzitat: Bilder der Renaissance-Tradition

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31

identifizieren, resümiert Scheidig, S. 22, nüchtern: »So muß es weiterhin bei der nur durch ihre Holzschnitte fest umrissenen Künstlerpersönlichkeit bleiben, von der sich biographisch nicht mehr sagen läßt, als daß sie zwischen 1516 und 1522 in Augsburg, fast ausschließlich für die Verleger Grimm und Wirsung, gearbeitet hat.« Vgl. auch Lemmer, S. 195–204, mit Anmerkungen S. 207–209, und Rapp, Hans-Joachim, Die Illustrationen zu Francesco Petrarca, ›Von der Artzney bayder Glueck des guten und widerwertigen‹ (Augsburg 1532), in: Wallraf-Richartz Jahrbuch, 45/1984, S. 59–112. Vgl. Dietl, Gesicht der Fortuna [Anm. 27], S. 401–404. Sie deutet den Rückenwind hinter dem obersten Herrscher des ersten Titelbildes als Zeichen der »überirdischen Unterstützung einer gerechten Sache« (S. 401). Da die Winde aber von allen Seiten mit gleicher Kraft wehen, ist auch das keine Garantie der Bildinszenierung für den Erfolg gegen den aufstrebenden Türkenherrscher. Die Laufrichtung des Rades bleibt für den Betrachter unbestimmbar. In jedem Fall aber wird es sich drehen. Vgl. die Bildbeschreibung bei Scheidig, Holzschnitte [Anm. 29], S. 35f. und 189f. – Scheidig misst allerdings weder dem Fehlen der Göttin Fortuna noch der unterschiedlichen Laufrichtung der Räder auf den Abbildungen irgendeine Bedeutung bei.

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stellen Fortuna besonders gerne auf der Kugel dar. Häufig steht sie dabei mit beiden Beinen auf unsicherem Grund, wie z.B. im Mosaik des Doms von Siena nach dem Entwurf von Pinturicchio (1504) oder in Marc Antonio Raimondis Kupferstich Die herkulische Tugend züchtigt die lasterhafte Fortuna aus dem frühen 16. Jahrhundert, wo Fortuna gleich auf zwei Kugeln abgebildet ist.32 Der Petrarca-Meister setzt dagegen einen wagemutigen Glückssucher an die Stelle Fortunas auf die Kugeln über festem Grund und Meeresgrund.33 Unter den insgesamt 261 Holzschnitten zeigt nur eine einzige Abbildung zum 90. Kapitel des ersten Buches (Fol. CVv = S iiiv), das die Selbstzufriedenheit thematisiert, eine Fortuna-Personifikation:34 Regungslos – Gewänder und Haare vermitteln keinerlei Dynamik – verharrt sie mit verbundenen Augen an der Kurbel eines Rades, die ihre Hände bereits ergriffen haben. Nicht die hier auffällig starre Fortuna also, sondern allein vier Vögel im Sturzflug versinnbildlichen dem Betrachter, dass es mit der selbstzufriedenen Haltung des gekrönten Esels auf der Höhe des Rades bald ein Ende haben wird. Diese fast vollständige Abwesenheit der bildlichen Personifikation von Kontingenz korrespondiert mit Petrarcas Konzeption seines Dialog-Traktats:35 In den beiden Büchern führt sapientia – in Stahel/Spalatins Übersetzung Vernunfft – ein Streitgespräch: im ersten Buch zunächst mit den Affekten Freud vnd Hoffnung, die den Menschen im Zustand des Glücks bewegen, dann im 2. Buch mit den Affekten Schmertz vnd Forcht, die den Menschen bewegen, wenn er meint, dass ihm das Glück fehle. Die Argumentation der Vernunft zielt jeweils auf die Beherrschung der Affekte: Demjenigen, der sich über sein Glück freut, empfiehlt sie Mäßigung, da es nie dauerhaft sei und jedes Übermaß Neider auf den Plan rufe und andere Nachteile mit sich ziehe; denjenigen, der sich darüber beklagt, dass er keine Glücksgüter erhalte, ermahnt sie zur selbsttätig entschlossenen Lebensführung: Zu erwarten, dass einem Glücksgüter geschenkt werden, führt weder zum Glück noch zu einem tugendhaften Leben. Aber nicht einmal die Affekte berufen sich auf Fortuna; sie erschöpfen sich im Konstatieren ihrer selbst. Fortuna als göttliche oder mythische Instanz existiert nicht, nur die Güter des Glücks und des Unglücks kommen und gehen, ohne dass dies vom Menschen gesteuert werden könnte. Zum größten Teil korrespondieren die Dialogkapitel inhaltlich miteinander, so dass im ersten Buch die Affekte zum Vorhandensein und im zweiten Buch an analoger Stelle die Affekte zum Fehlen eines bestimmten 32 33 34 35

Meyer-Landrut, Fortuna [Anm. 4], S. 142 und S. 149. Fol. A 3v. Zu den weit über Petrarcas Text hinausgehenden Bildelementen, die auf Vorstellungen mittelalterlicher Medizin basieren, vgl. Scheidig, Holzschnitte [Anm. 29], S. 44f. Vgl. Dietl, Gesicht der Fortuna [Anm. 27], S. 404–407. Sie weist zu Recht darauf hin, dass hier der Einfluss Brants am offensichtlichsten ist. Vgl. die moderne Diskussion dieser Konzeption bei Stierle, Karlheinz, Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München, Wien 2003, S. 222–227, und bei Worstbrock, Petrarcas ›De remediis‹ [Anm. 27], S. 45–48. Auch Dietl, Gesicht der Fortuna [Anm. 27], S. 400, formuliert: »[A]ls überirdische Mächte werden Schicksal und Glück abgelehnt.«

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Gutes besprochen werden. Dabei werden nun nahezu sämtliche Alltagserfahrungen und gerade auch der Besitz resp. das Fehlen von Tugenden des Menschen einbezogen, so dass man von der ›Ausweitung der Kontingenzzone‹ sprechen kann, die neben den zahlreichen Glücksgütern, der Schifffahrt und den Kriegshändeln auch die adelige Geburt (Kap. XVI), die Würde der Gelehrsamkeit (Kap. XLV), die Eltern (Kap. LXXXII/III), Papsttum (Kap. CVII), Seligkeit (ap. CVIII) und das ewige Leben (Kap. CXXII) enthält. Die Vernunft argumentiert jeweils dafür, dass die Affekte sich unter den Bedingungen der Unbeständigkeit der Natur auf nichts im diesseitigen Leben verlassen und nichts hoffen sollen.36 Der Anteil der Affekte am Dialog ist darauf begrenzt, dass sie sich in größtmöglicher Kürze meistens sogar mit den gleichen Worten wiederholt zum Ausdruck bringen. Die Vernunft dagegen erhält die Möglichkeit, auf immer neue Art ausführlich zu argumentieren. Diese Konzeption ist durchaus stimmig konstruiert, hat aber wegen der mangelnden Dynamik des Dialogs dazu geführt, dass man diesem Werk Petrarcas in der Neuzeit keinen hohen Wert zuerkannt hat.37 Stierle hat in seiner Deutung von einem »Undialog« gesprochen, der die Vernunft zum Teil in aporetische Argumentationen führe.38 Worstbrock charakterisiert Petrarcas ratio als rhetorisch und »Prinzip der […] Reflexion«. Der Dialog führe daher ein »Schauspiel der gespaltenen menschlichen Innerlichkeit« vor, in dem Affekte und Ratio permanent in einem »antagonistische[n] Verhältnis« stünden.39 Ich möchte mich dieser Sichtweise weitgehend anschließen, jedoch argumentieren, dass der implizite Rezipient des Dialoges durch die Fokussierung des Textes auf Petrarcas ratio zum Gebrauch seiner Vernunftbegabtheit aufgerufen wird. Das ohne Argumente töricht wirkende Festhalten der Affekte an ihren Gegenständen zielt genauso wie die Argumentationsvielfalt der Vernunft schon bei Petrarca in didaktischer Absicht auf den Leser. Zugleich schränkt diese Dialogkonzeption – dafür haben Stierle und Worstbrock überzeugend argumentiert – ein allzu optimistisches Vertrauen auf die Durchsetzungsfähigkeit der Vernunft ein.40 Dass Petrarca Dialoge wie das Secretum in ganz anderer Art gestaltet hat, spricht jedenfalls dafür, dass die Konzeption wohlkalkuliert ist. Allerdings dürfte gerade Steyners Prachtausgabe weniger als Traktat zum Durchlesen, sondern eher als Nachschlagewerk und Handbuch gedacht gewesen sein, das vermittels der ausführlichen Inhaltsregister zu den jeweiligen Büchern ein schnelles Auffinden einzelner Gegenstände der Affekte erlaubt. 36

37 38 39 40

Dietl, Gesicht der Fortuna [Anm. 27], S. 404, betont völlig zu Recht, dass dem gesamten Werk auch die christliche Maxime des Gottvertrauens eingeschrieben ist, die dem Menschen unter den Bedingungen der Kontingenz der Natur spirituellen Halt geben kann. Vgl. Worstbrock, Petrarcas ›De remediis‹ [Anm. 27], S. 46; auch er argumentiert dafür, diese Dialogkonzeption als »konsequente Form« zu verstehen. Stierle, Francesco Petrarca [Anm. 35], S. 223 und S. 225f. Worstbrock, Petrarcas ›De remediis‹ [Anm. 27], S. 46f. Soweit ich das überblicke, gelingt der Vernunft nur in einem einzigen Kapitel (I, 10), das der Tugend gewidmet ist, ein kurzfristiger Erfolg beim Affekt Freude.

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Auch in beiden an Reflexionen, gelehrten Exempeln und stilistischen Finessen reichen Vorreden ist nie die Rede von Fortuna als Göttin oder Königin: 41 So ich betracht die hendel / vnd die gelück der menschen / auch die vngewisen vnnd g hen bewegungen aller ding / find ich schier nichts schwechers / nichts vnr )wigers / dann das leben der menschen […]. (Fol. 2r)

Wie Niklas von Wyle reflektiert Petrarca die Geschicke des Menschen, die schnell und unkalkulierbar verlaufen. Ich verzichte hier darauf, die große Anzahl von Exempeln aus der antiken Geschichte und aus Petrarcas Gegenwart sowie aus der Naturgeschichte und aus unzähligen Büchern zu charakterisieren, die Petrarca in beiden Vorreden anführt. Die literarischen Metaphern sind bei ihm insbesondere in der ersten Vorrede in synkretistischer Vielfalt aus den Fortuna-Bildvorstellungen gewonnen, nun aber nicht als Bilder für eine göttliche oder mythische Instanz, sondern als Bilder für die Kontingenz des menschlichen Lebens gebraucht: a) Das menschliche Handeln wird mit dem Glücksrad verglichen, das vnns gleych als etwas grymmigs auff vnnd nyder würfft / vnnd als in ayn krayß vmbtreibet / vnnd treybet seyn affenspyl mit vnns (Fol. 2v). b) Die Menschen werden mit der Kugel verglichen, die der Zufall hin und her wirft: Wir machen vns selbs geschickt z * dysem spyl / das wyr geringklich / gleich wie eyn pal / hin vnd her werd geworffen (ebd.). c) Das menschliche Leben wird mit einem Schiff verglichen, das auf offenem Meer den Winden ausgesetzt ist: Wir sind thyer aines fast kurzen alters / vnnd vnendtlicher sorgenn / den vnwyssent ist / w llichem gestadt wir vnser schyff / oder w llichem radt wir vnser gem )th / sollen z * lenden (ebd.). Jeweils werden Metaphern, die in der Diskurstradition für die Versinnbildlichung der Glück und Unglück verteilenden Instanz gebräuchlich sind, auf den Menschen und sein Handeln bezogen, das der unberechenbaren Unbeständigkeit unterworfen ist. Nur eine Metapher für die Unsicherheit, in die sich der Mensch begibt, wenn er auf Glück vertraut, stammt, soweit ich sehe, nicht aus Fortuna-Bildvorstellungen. Petrarca beteuert, er und Azzo da Correggio, der Adressat seiner Vorrede, wüssten ir gar vil die an dem sail des Glücks / seind gehangen [und fährt mit der erneuten Verwendung der Rad-Metapher fort:] vnnd vil die inn grossem wollust haben gelebt / auch vil die mit grosser vngest)migkeit seindt vmbtriben wordenn / allso das wir nicht manglen der Exempel / weder der hinauff steigenden / noch der herab fallenden (Fol. 4v). 2.) In allen bisher angeführten Zitaten kommt ein Aspekt zum Ausdruck, der das eigentliche Zentrum von Petrarcas Ethik darstellt: Der Mensch macht sich selbst abhängig vom Glück und bedient sich dabei nicht der ihm allein von Gott verliehe41

Wieder ist einzuschränken, dass im lateinischen Text bei der Verwendung des Wortes fortuna nicht erkennbar ist, ob eine Personifikation oder ein Abstraktum gemeint ist. In der Übersetzung heißt es stets das gelück (oder ähnliche lexikalische Formen), nicht aber »Göttin« oder »Königin des Glücks«.

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nen Gaben seiner Natur, nämlich die ged chtnus / die verstentnus / die fürsichtigkait (Fol. 2r). Die Natur habe des Menschen Vernunftbegabtheit aber z * vnserem grossen schadenn verkeret, so dass die Menschen durch das gegenwertig gedruckt vnnd gepeynigt / vnnd durch das vergangen vnd künfftig ge ngstigt (ebd.) und damit zum unvernünftigen Spielball des Glücks werden. Es kommt also darauf an, sich seiner Verstandesfähigkeit richtig zu bedienen, damit einen die bescherten Glücksgüter nicht zum Toren machen oder fehlendes Glück zum bloß passiven Klagen verleitet. Es geht also auch Petrarca um die »Selbstmächtigkeit des Subjekts«.42 Bei dem in antiker Literatur gelehrten Autor verwundern daher auch die zahlreichen Anspielungen auf das nosce te ipsum vom Apollontempel zu Delphi nicht: sich selbst erkennen / vnnd was z * th *n not sey bewegen (Fol. B IIv = VIIIv) rät die Vernunft z.B. der Freude über rhetorische Kunstfertigkeit im 9. Kapitel des I. Buches. Zahlreiche Exempel aus der antiken Geschichte ebenso wie aus der Gegenwart, z.B. aus der Biographie Azzos, machten aber deutlich, dass nach solchen Maximen zu handeln keineswegs einfach sei: Aber das Glück / das da hatt ein grossenn thail (alls man sagt) des gewalts der menschllichenn sachenn / das hat dich geschickt inn ein meer das dieff vnnd vngest )m ist / von weltlichenn sorgenn vnnd gesch fftenn. (Fol. 3r) So lautet also auch Petrarcas ›Wahlspruch‹ seiner Ethik: sapere aude, / incipe! 43 Vor allem das II. Buch ist geprägt von den Imperativen der Vernunft, die den Affekt Schmerz z.B. folgendermaßen ermahnen: so ist doch nicht genuog ein s lchen willen z * haben / Man m *ß die begir vnnd senung haben / vnd es m *ß nicht ein messige / sondern ein grosse vnd merckliche senung seyn (Fol. Yy 6r = CXXXIIr). Es folgen die Aufforderungen [h]ab fleyß und so heb jetzo an und meyde die tragkait sowie normative Du solt-Sätze (ebd.). Solche Handlungsanweisungen gibt es in fast allen Kapiteln des II. Buches. Insbesondere in der ersten Vorrede, aber auch in den folgenden Kapiteln des I. und II. Buches benennt Petrarca drei Hilfsmittel, sich seiner Vernunftbegabtheit auch 42

43

Müller, Jan-Dirk, Die Fortuna des Fortunatus. Zur Auflösung mittelalterlicher Sinndeutung des Sinnlosen, in: Haug/Wachinger (Hrsg.), Fortuna [Anm. 4], S. 216–238, hier S. 231– 234. Müller sieht diesen Schritt aber erst mit dem Fortunatus und vor allem in Macchiavellis Principe vollzogen. Horaz Epistel I 2, 40f.: Dimidium facti, qui coepit, habet: sapere aude, / incipe! (Borzsák, Stephan [Hrsg.], Q. Horatii Flacci opera, Leipzig 1984 [Bibliotheca Teubneriana], S. 236.) In der Übersetzung Wielands: »Frisch angefangen ist schon halb getan. Was säumst Du? Wag’ es auf der Stelle w e i s e z u s e i n !« Fuhrmann, Manfred (Hrsg.), Christoph Martin Wieland, Übersetzung des Horaz, in: Christoph Martin Wieland, Werke in zwölf Bänden, Bd. 9, Frankfurt/M. 1986 (= Bibliothek der Klassiker 10), S. 78. – Im Rückgriff auf Horaz formuliert Petrarca damit bereits eine Moralauffassung, wie sie Kant über 400 Jahre später zu einem freilich ungleich moderneren System aufklärerischer Ethik weiterdenkt: »Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Kant, Immanuel, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Berlinische Monatszeitschrift, Dezember 1784), in: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.), Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Frankfurt/M. 1977 (Werkausgabe XI = stw 192), S. 53.

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in angemessener Weise zu bedienen: Bücher, eigenes Urteil und Erfahrung. Die Weisen vor allem natürlich aus der Antike vermögen mittels ihrer Bücher durch jhr g tlich verst ndtnus / vnnd allerhaylsameste vnnderweysung noch bey vns leben / bey vnns wonenn / mit vns redenn (Fol. 2v–3r): [A]lls dye gescheydenn vnnd wol erfarnen schyffleüt / erzaygenn sie vnns das gestatt der r *we / vnnd fürderen die lanngsamenn s gel vnnd schyff vnsers willens / vnnd regieren das kerr *der vnnser schwymmenden seel so krefftiglichenn vnnd so lang / biß sie vnser fürnemenn vnnd rath / der durch die betr )bnus / vnnd durch das vngewitter der yrrunng / lanng ist hin vnnd her geworffenn wordenn / lenden vnnd stellen an ein r )wiges gestadt. (Fol. 3r)

Diese Ruhe ist im Gegensatz zur Schnelligkeit und Wandelbarkeit der ›Fortuna maris‹ metaphorisiert, und die Bücher erscheinen als verlässlichere Segel als die, welche die Glücksgöttin bereitstellt. Freilich wäre Petrarca nicht der selbstbewusste Humanist, als der er bekannt ist, würde er nicht darauf bestehen, dass man nicht durch ein frembds vrteil vrteilen dürfe, denn, der vrteylt selbs nit / sondern vermelt das / das vor geurteilt ist (Fol. 3v). Das Gelesene muss geprüft und mit der Lebenserfahrung der Gegenwart korreliert werden, denn die lern +ng der vorfordern sol nit jrr den fleyß der nachku Aenden / sonder sol sein ein erweckung v @ ein hylff (Fol. 4r). In der 2. Vorrede distanziert Petrarca sich von allen Stellungnahmen zu Exempeln aus der Naturgeschichte, wenn ihm bißher sollichs z * erfaren gemangelt (Fol. a 5v). Petrarcas humanistische Maximen sind vor allem Reflexionsgebote, die den Menschen in die Lage versetzen sollen, die ihm von der Natur gegebenen Fähigkeiten zu nutzen, um sich gerade unter den Bedingungen der Kontingenz seine Entscheidungsfähigkeit und damit seine Handlungsmächtigkeit in einem allesumfassenden Raum nicht kalkulierbarer Möglichkeiten zu sichern. Es bleibt dies freilich der von Gott begrenzte DiesseitsRaum menschlicher Erfahrung und eine Selbstmächtigkeit, die sich letztlich allein der humanistisch gebildete Mensch erwerben kann und die in ständiger Auseinandersetzung mit den eigenen Affekten immer wieder neu erkämpft werden muss. Für diesen Humanismus aber wirbt Petrarca in seinem letzten großen Werk De remediis, das er dezidiert für ein größeres – freilich latein gebildetes – Publikum gedacht hat.44

44

Heitmann, Fortuna [Anm. 27], S. 11. Er belegt aus Seniles VIII, 3, dass Petrarca dieses letzte Werk ad vulgares sepius quam ad philosophos geschrieben habe.

Verzeichnis abgekürzt zitierter Periodika, Nachschlagewerke, Editionen und Textreihen

BMZ

Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854–1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefaßten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf. 4 Bde. und 1 Indexbd. Stuttgart 1990.

CCSL

Corpus Christianorum, Series Latina. Turnhout, seit 1953.

DTC

Dictionnaire de théologie catholique, contenant l’exposé des doctrines de la théologie catholique, leurs preuves et leur histoire. Commencé sous la direction de A[lfred] Vacant [et] E[ugène] Mangenot, continué sous celle de E[mile] Amann. Vol. I–XV. Paris 1903–1950. Tables générales par B[ernard] Loth et A[lbert] Michel. Vol. I–III. Paris 1951–1972.

DTM

Deutsche Texte des Mittelalters. Berlin, seit 1904.

DVjs

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Stuttgart, Weimar, seit 1923.

EM

Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich. Bisher 13 Bde. Berlin, New York 1977–2010.

GAG

Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Göppingen, seit 1968.

GRM

Germanisch-Romanische Monatsschrift. Heidelberg, seit 1909.

HrwG

Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hrsg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl und Matthias Laubscher, unter Mitarbeit von Günter Kehrer und Hans G. Kippenberg. 5 Bde. Stuttgart 1988– 2001.

HWPh

Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Unter Mitwirkung von mehr als 1500 Fachgelehrten. Völlig neu bearbeitete Ausgabe des ›Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‹ von Rudolf Eisler. 13 Bde. Basel 1971–2007.

IASL

Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Berlin, seit 1976.

JbIG

Jahrbuch für Internationale Germanistik. In Verbindung mit der Internationalen Vereinigung für Germanische Sprach- und Literaturwissenschaft. Bern, Frankfurt/M. u.a., seit 1969.

488

Abkürzungsverzeichnis

JOWG

Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft. Marbach/N., Frankfurt/M., Wiesbaden, seit 1980/1981.

Killy

Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Begründet von Walther Killy. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann. In Gemeinschaft mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann u.a. 12 Bde. und 1 Registerbd. 2., vollständig überarbeitete Aufl. Berlin, New York, seit 2008. [1. Aufl. 14 Bde. und 1 Registerbd. Gütersloh u.a. 1988–1993.]

KLD

Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl von Kraus. Bd. I: Text. Bd. II: Kommentar. Besorgt von Hugo Kuhn. 2. Aufl. durchgesehen von Gisela Kornrumpf. Tübingen 1978.

Lexer

Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer, zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872–1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner. 3 Bde. Stuttgart 1992.

LiLi

Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Göttingen, Stuttgart, Weimar, seit 1971.

LMa

Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von Robert Auty u.a. 9 Bde. und 1 Registerbd. München, Zürich 1980–1999.

MGG

Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 29 Bde. in 2 Teilen und 1 Supplementbd. Begründet von Friedrich Blume. Hrsg. von Ludwig Finscher. 2., neubearbeitete Ausgabe. Kassel u.a. 1994–2008.

MLR

The Modern Language Review. A Quarterly Journal Devoted to the Study of Medieval and Modern Literature and Philology. Leeds, seit 1905.

PBB

Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur [Paul-Braunes Beiträge]. Halle/S., Tübingen, seit 1874.

PL

Patrologia Latina. Patrologiae cursus completus sive bibliotheca universalis […]. Accurante J[acques]-P[aul] Migne. 217 Bde. und 4 Registerbde. Paris 1844–1865.

PMLA

Publications of the Modern Language Association of America. New York, seit 1884.

QF

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. Begründet von Bernhard ten Brink und Wilhelm Scherer. Straßburg 1874–1918. Neue Folge: Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Hrsg. von Stefan Sonderegger. Berlin, New York, seit 1958.

RAC

Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Begründet von Franz Joseph Dölger u.a. Hrsg. von Theodor Klauser, Ernst Dassmann u.a. 18 Bde. und 1 Registerbd. Stuttgart 1950–2000.

RLW

Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte (3., neubearbeitete Aufl.). Gemeinsam mit Georg Braungart u.a. hrsg. von Klaus Weimar, Harald Fricke und Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 1997–2003.

Abkürzungsverzeichnis

489

SM

Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearbeitet und hrsg. von Max Schiendorfer. Bd. I: Texte. Tübingen 1990.

VL

Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. 2., völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Kurt Ruh und Burghart Wachinger zusammen mit Gundolf Keil u.a. 10 Bde., 1 Nachtragsbd. und 3 Registerbde. Berlin, New York 1978–2008.

ZfdA

Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Stuttgart, seit 1876.

ZfdPh

Zeitschrift für deutsche Philologie. Berlin, seit 1869.

Annika Bostelmann

Autoren- und Werkregister

Abaelard, Petrus 299, 301 – Carmen ad Astrolabium 306 Adalbertus Samaritanus, Praecepta dictaminum 241 Alanus ab Insulis – De arte praedicandi 260 – De planctu naturae 403 – Liber parabolarum 35f. Albertanus von Brescia 258, 261 Albrecht von Halberstadt, Metamorphosen 23, 455 Alexiuslied 162 Althochdeutsches Gesprächsbüchlein 273 Amerbach, Johann 30 Ambrosius von Mailand 29 Andreas, Die väterlichen Lehren 307 Andreas Capellanus, De amore 261 Anselm von Canterbury 230 Appendix Vergiliana 37f. Aristoteles 205f., 301 – De interpretatione 208 Der arme Hartmann, Rede vom Glauben 95 Bilder-Ars moriendi 220, 227f. Augustinus, Aurelius 91 – Confessiones 206, 208 – De anima 205 – De doctrina christiana 207 – De civitate Dei 30 – De mendacio 253, 365f. – De musica 205, 211 – Enchiridion 230f. Basilius der Große, De libris antiquorum legendis 24 Beda Venerabilis, Historia Ecclesiastica gentis Anglorum 204

Beheim, Michel – Gille / Spriewald Nr. 240 354, 365 – Gille / Spriewald Nr. 310 10, 354–359, 364 Benedikt XII., Benedictus Dei 221 Bibel – Eph 5, 25–33 55 – Gal 3,28 413 – Gen 2, 23–25 54 – Gn 2,23 414 – Iac 3 261 – Lc 1, 28-38 422f. – Lc 1, 34–38 425, 427 – Lc 16, 13 185 – Lc 24, 29 450 – Mt 6, 24 185 – Mt 19, 3–9 55 – Prv 18, 21 261 – Sir 38, 16–24 58 Brandans Meerfahrt (›Reise‹-Fassung) 163 Brant, Sebastian 5, 13–48, 361, 477 – Additiones zu Steinhöwels Esopus 33 – Freydanck 5, 15, 33–36 – Narrenschiff 5, 15, 20, 22–26, 28–31, 33f., 37, 45 – Richterlich Klagspiegel 16 Brigitta von Schweden, Revelationes 438 Boccaccio, Giovanni 38 Burkhart von Hohenfels 394 Caccialupis, Johannes Baptista de 16 Carmina Burana 35, 382, 466f. Carmina Priapea 37–44, 46f. Cato 48 Catull 38, 47 Cercamon 382 Chartier, Alain, La Belle Dame sans Mercy 403

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Autoren- und Werkregister

Chrétien de Troyes 66 – Erec et Enide 71, 73, 162 – Perceval 170, 273f. – Yvain 71, 72, 163 Christ ist erstanden 445f. Cicero 22, 90, 256 – De officiis 260 – De oratore 303 Clemens V., Constitutiones 16 Decretalen 16 Dietmar von Aist 246 Disticha Catonis 32, 306f. Diodorus Siculus 28 Dürer, Albrecht 23 Meister Eckhart 412f. Elckerlijc 220, 222 Engelbert von Admont 261 Everyman 220, 222 Expositiones omnium titulorum legalium 16 Facetus Cum nihil utilius 32 Facetus Moribus et vita 32f. Fortunatus 456 Frauenlob 402–404, 407f., 413–416 – Stackmann / Bertau III, 22 408 – Stackmann / Bertau IV 415 – Stackmann / Bertau V, 102 408 – Stackmann / Bertau V, 102-104 407 – Stackmann / Bertau V, 102-113 407 – Stackmann / Bertau V, 103 413–415 – Stackmann / Bertau V, 104 408 – Stackmann / Bertau V, 107 403 – Stackmann / Bertau VII, 37 416 – Stackmann / Bertau VIII, 17 408 Freidank, Bescheidenheit 251–253, 257, 259f., 265, 267, 275, 306, 315f., 359 Friedrich von Hausen 382 Friedrich von Sonnenburg, Masser Nr. 33 405 Gengenbach, Pamphilius 455 Gerhard van Vliederhoven, Cordiale de quattuor novissimis 220 Gloria tibi domine qui surrexisti hodie 447, 450

Gottfried von Neifen 145, 388–398 – KLD 15, III 390 – KLD 15, XX 391 – KLD 15, XXIII 10, 391–397 Gottfried von Straßburg 274, 421 – Tristan 6, 82, 89, 95–97, 100, 105–141, 202, 208, 217, 312, 324, 398f., 401 Gratian, Decretum 16–18, 29 Gregor der Große 44, 261 Guarino de Verona 24 Hartmann von Aue 65–77, 118, 127f., 274, 383, 394, 421, 433f. – Der arme Heinrich 312 – Erec 5, 54, 57–59, 62, 66–69, 72–76, 89, 93, 97, 118f., 126, 129, 143f., 161–163, 243, 267–269, 276 – Gregorius 6, 143, 163–167, 312, 315 – Iwein 5, 53, 63f., 66, 69–76, 147–149, 163, 276, 324, 404 Heinrich, Reinhart Fuchs 321 Heinrich von Morungen 10, 373, 378–382, 394 – MF38 I 379 – MF38 III 379 – MF38 IV 378 – MF38 V 379f. – MF38 VII 382 – MF38 XXII 381f. Heinrich von Mügeln, Der meide kranz 415 Heinrich von Veldeke 10, 127f., 434 – Eneasroman 6, 23, 79, 81, 83–87, 91f., 94–103, 104, 266f., 317 – MF38 VI 376f. – MF38 XII 377 Helmut, Andreas 16 Hemmerli, Felix, Liber de nobilitate 342 Herbort von Fritzlar, Liet von Troye 265–267, 273, 275 Herodot 30 Horaz 338, 484 Hugo von St. Victor 261 Hugo von Trimberg, Der Renner 207, 210, 253, 255, 258f., 261, 269f., 275, 306, 359 Ich söllt von hübscher abenteür / Sagen 10, 354, 360–362

Autoren- und Werkregister Isidor von Sevilla 17 Jakob von Sarug 217 Jean de Blois, Le tournoiement d‘enfer 287 Johannes von Tepl, Der Ackermann 221 Johannes von Salisbury, Policraticus 22 Julius Victor 261 Juvenal 23, 30, 38, 47 Kaiserchronik 56 Der Kanzler 407f., 416 – KLD 28, VI, 3 407f. – KLD 28, XVII, 5 416 Karl und Elegast 95 Kasseler Glossen 273 König Rother 154 König Wenzels Landfriede 354 Pfaffe Konrad, Rolandslied 265 Konrad von Fußesbrunnen, Die Kindheit Jesu 11, 421–423, 427f., 432–435 Konrad von Haslau, Der Jüngling 8, 253, 256f., 265, 275, 291–296, 298, 300f., 306, 341 Konrad von Würzburg 199–216, 274 – Alexius 7, 200, 202f., 209, 212, 214f. – Engelhard 203 – Pantaleon 7, 200–204, 208, 209, 213–215 – Partonopier und Meliur 264 – Silvester 7, 200, 202–204, 209, 211, 213 – Trojanerkrieg 149–151, 160, 201, 204, 215, 263, 273 Der Krieg von Würzburg 416–418 Laktanz, Divinae Institutiones 475 Liber Sextus 16 Locher, Jakob, Stultifera navis 5, 15, 24–32, 45 Lucan, De bello civili 30 Lucidarius 316 Luther, Martin 11 – Sermon von der Bereitung zum Sterben 228 Der Magezoge 8, 296–301, 307 Margarita Decretalium 16

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Martial 38, 47 Matthäus von Vendôme, Ars versificatoria 89–93, 100, 121 Maximilian I., Theuerdanck 476 Medinger Orationalien 11f., 437–451 Meinloh von Sevelingen 10, 374–376 – MF38 I, 3 375 – MF38 I, 4 375 – MF38 II, 1 375 Der Meißner – Objartel Nr. II, 9 407, 412 – Objartel Nr. VI, 6 412 – Objartel Nr. XVII, 1 407 Muling, Johannes Adelphus 33 Münchner Eigengerichtsspiel 7, 217–231 Muskatblut 409, 417 – Groote Nr. 62 10, 354, 362–366 – Groote Nr. 63 354, 362 – Groote Nr. 77 409 – Groote Nr. 98 417 Mythographus Vaticanus II 38 Neidhart 9, 341–344, 347, 383 – Beichtschwank 345 Neidhart Fuchs 23, 344, 346 Neidhartspiel, Großes 344–346 Neidhartspiel, St. Pauler 344f. Nibelungenlied 23, 62, 95, 148, 316f., 421 Nibelungenklage 5, 60–62, 316 Nicoletto da Modena, Fortuna des Meeres 468f. Niklas von Wyle 12, 467, 472–477, 483 Oswald von Wolkenstein, Kl. 27 357 Otfried von Weißenburg, Evangelienbuch 100 Otto von Botenlauben 313 O vere digna hostia 447 Ovidius Naso, P. 23, 34, 38, 382 – Metamorphosen 23, 455 Peirol 382 Petrarca, Francesco – De remediis utriusque fortunæ 12, 467, 472, 475, 477–485 – Secretum 482 Pfeffel, Gottfried Konrad 305 Piccolomini, Enea Silvio, Somnum Fortunæ 12, 467, 472–476

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Autoren- und Werkregister

Pinturicchio, Berg der Weisen 468f. Platon 48 Plutarch, Über die Erziehung 24 Poggio Bracciolini, Gianfrancesco 23, 28 Prosa-Lancelot 7, 169–197 Proverbia Salomonis 307 Prudentius, Psychomachia 286f., 302 Pseudo-Matthäusevangelium 423, 425, 432 Raimondis, Marc Antonio, Die herkulische Tugend züchtigt die lasterhafte Fortuna 481 Reinbot von Durne, Der heilige Georg 315 Reinerus Alemannicus, Phagifacetus 32 Reinmar 10, 394, 400, 409 – MF38 XIV 382f. Reinmar von Zweter – Roethe Nr. 37 405 – Roethe Nr. 38 404 – Roethe Nr. 51 406 – Roethe Nr. 99 406 – Roethe Nr. 100 406 – Roethe Nr. 101 412 – Roethe Nr. 105 409 Riederer, Friedrich, Spiegel der wahren Rhetorik 20 Roman d‘Énéas 83, 86, 92, 94f. Rosenplüt, Hans 360 Rudolf von Ems – Alexander 398 – Der guote Gêrhart 11, 56, 276, 397–400 – Willehalm von Orlens 263f., 277 Rumelant 403 Rupert von Deutz, Commentarium in Genesim 414 Sachs, Hans 36 Sallust 23 Schobser, Hans 7, 218–220 Secundus 408 Seifried Helbling 8, 282–291, 292, 295f., 298, 300f. Servius 39 Seuse, Heinrich, Büchlein der ewigen Weisheit 229 Sidonius Apollinaris 84

Spalatin, Georg 12, 467, 472, 477, 481 Speculum artis bene moriendi 228 Stahel, Peter 12, 467, 472, 477, 481 Steinhöwel, Heinrich, Esopus 33 Straßburger Alexander 101–104 Der Stricker 280, 284 – Daniel von dem Blühenden Tal 276 – Der kluge Knecht 288 – Der Pfaffe Amis 9, 321–332 Suchensinn 406f., 409–411, 416–418 – Pflug Nr. 1 416–418 – Pflug Nr. 2 418 – Pflug Nr. 6 407 – Pflug Nr. 7 410 – Pflug Nr. 8 406, 409f. – Pflug Nr. 11 418 – Pflug Nr. 12 410 – Pflug Nr. 21 407, 416 Sueton 23 Surrexit dominus de sepulcro 445 Tacitus 23 Tengler, Ulrich, Laienspiegel 16, 19f. Thomas von Britannien 119, 134 Thomasin von Zerklære, Der Welsche Gast 143, 149, 151f., 253–258, 261f., 265, 267, 274, 277, 281, 336f., 339, 350 Thomas von Aquin 87f., 156 Tibull 47 Tirol und Fridebrant 257, 275, 307f. Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden 160f. Ulrich von Hutten, Dialogi 470–472 Ulrich von Liechtenstein – Frauenbuch 415f. – Frauendienst 95 Ulrich von Winterstetten 394 Unibos 321 Valla, Lorenzo 30 Vegio, Maffeo 37 Vergil 5, 15, 23, 37, 39, 46f. – Aeneis 37, 83, 93f., 474 – Eclogae 37 – Georgica 37 Victime paschali laudes 445f. Vie du pape Saint Grégoire 164

Autoren- und Werkregister Vintler, Hans, Pluemen der tugent 306 Von den Reichsfürsten 354 Vorauer Alexander 265 Walther von der Vogelweide 242, 246, 374, 383, 395, 400 – L 8,4 318 – L 44, 35 415f. – L 48, 5 411 – L 48,29 404 – L 49, 3f. 402 – L 69,1 402 – L 72,31 408f. – L 80,19 412 Wartburgkrieg 316 Die Weisheit Salomons 284 Bruder Wernher 412 Priester Wernher, Maria 11, 421–435 Wernher der Gartenære, Helmbrecht 254 Wickram, Jörg 23 – Der irr reitende Pilger 456, 463

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Die sieben Hauptlaster 463 Ritter Galmy 140 Rollwagenbüchlein 455f. Von guoten und bœsen Nachbaurn 12, 453–463 Wilhelm von Conches, Philosophia moralis 254 Willelmus Medicus 408 Der Winsbecke 8, 251–254, 256, 258, 265, 267, 275, 303–318, 406 Die Winsbeckin 253–256, 265, 275f., 316–318, 406 Wirnt von Grafenberg, Wigalois 263, 266 Wittenwiler, Heinrich, Der Ring 9, 333–352 Wolfram von Eschenbach 421 – Parzival 5, 8, 60f., 79, 81, 95–98, 109, 115, 153f., 170, 235–250, 270–274, 276, 318, 401f. – Willehalm 160, 271