Technische Mechanik: Band 2 Festigkeitslehre mit Maple-Anwendungen 9783486751000, 9783486735703

Das Buch behandelt die Mechanik der deformierbaren Körper und hat zum Ziel, bei Studierenden der Ingenieurwissenschaften

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German Pages 346 [347] Year 2013

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Technische Mechanik: Band 2 Festigkeitslehre mit Maple-Anwendungen
 9783486751000, 9783486735703

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Technische Mechanik 2 Festigkeitslehre mit Maple-Anwendungen von

Prof. Dr.-Ing. Friedrich U. Mathiak

Oldenbourg Verlag München

Prof. Dr.-Ing. Friedrich U. Mathiak lehrt seit 1994 Technische Mechanik und Bauinformatik an der Hochschule Neubrandenburg. Maple ist ein eingetragenes Warenzeichen der Waterloo Maple, Inc.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 143, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Dr. Gerhard Pappert Herstellung: Tina Bonertz Titelbild: Autor Einbandgestaltung: hauser lacour Gesamtherstellung: Grafik & Druck GmbH, München Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-73570-3 eISBN 978-3-486-75100-0

Vorwort Im zweiten Band meiner Vorlesungen zur Technischen Mechanik behandle ich die klassischen Themengebiete der Festigkeitslehre. Sie befasst sich mit der Aufgabe, die in einem Körper durch Beanspruchungen auftretenden Verformungen und Spannungen zu bestimmen. Die Festigkeitslehre bildet die Grundlage einer sicheren und wirtschaftlichen Bemessung von Bauteilen, etwa in den Ingenieurdisziplinen Maschinenbau, Fahrzeugbau, Luft- und Raumfahrt, Kerntechnik und Bauwesen. Die Größen Spannung, Verformung und Temperatur werden dabei in Materialgleichungen zusammengefasst, wobei wir uns auf den einfachsten Fall des Hookeschen Festkörpers beschränken, der den Rahmen der klassischen Elastizitätstheorie bildet. Die Einführung der Grundbegriffe zur Lösung von Randwertproblemen der Elastizitätstheorie erfolgt am Beispiel des Dehnstabes. In diesen Problemkreis fällt auch die Berechnung der Verformungen und Spannungen in Stäben von Pfahlrosten und Fachwerken. Für den geraden Dehnstab wird das zur nummerische Abarbeitung sehr effektive Reduktionsverfahren vorgestellt. Ausführlich wird die Theorie der Biegung von Balken nach Timoshenko und Bernoulli behandelt. Dabei wird auch auf den Kern des Querschnitts sowie den Balken mit veränderlichem Querschnitt eingegangen. Die erweiterte Kinematik des Timoshenko-Balkens erlaubt die Angabe Singulärer Lösungen, die beim Bernoulli-Balken nicht existieren. Auf Basis der Winklerschen Hypothese werden die Grundgleichungen des elastisch gebetteten Balkens nach Timoshenko und Bernoulli vorgestellt und deren Lösung an einigen Beispielen demonstriert. Der Berechnung der Schubspannungen aus Querkraft und Torsion kommt im Stahlleichtbau und im Stahlverbundbau eine besondere Bedeutung zu. Im Sinne der Deformationsmethode werden für beide Beanspruchungen Verfahren zur automatisierten Berechnung der Querschnittsverwölbungen, der Schubspannungen, der Wölbflächenmomente und des Schubmittelpunktes (Drillruhepunktes) dünnwandiger Querschnitte bereitgestellt. Das Buch schließt mit einem Abriss über einige Erscheinungen der Stabilitätsprobleme der Elastostatik (Verzweigungsprobleme, Durchschlagprobleme), wobei ich mich auf gerade prismatischen Stäbe und Stäbe mit linear veränderlichem Querschnitt unter Auflast und Eigengewicht beschränke. Für die allgemeine Zielsetzung gilt das im Vorwort zum ersten Band Gesagte. Von allen Naturwissenschaften ist die Mechanik am engsten mit der Mathematik verknüpft. Diese starke Einbettung der Mechanik in die Mathematik erschwert erfahrungsgemäß den Studie-

VI

Vorwort

renden den Zugang zur Mechanik. Die Lernenden müssen sich sowohl in die Denkformen der Physik als auch in die der Mathematik einfühlen, wenn sie mechanische Aufgaben erfolgreich lösen wollen. Hier können Computeralgebrasysteme (CAS) unterstützend wirken. Im Vergleich zur rein zahlenmäßigen Bearbeitung von Ingenieurproblemen, etwa durch die Methode der finiten Elemente (FEM), sind Computeralgebrasysteme in der Lage, analytische Lösungen zu liefern, mit deren Hilfe der Anwender grundlegende Einsichten in das vorliegende Problem erhält. Unterstützend wirkt hier die Möglichkeit der grafischen Aufbereitung des Problems und der abschließenden Darstellung der Ergebnisse. Rechenintensive und damit fehleranfällige Aufgaben lassen sich mittels Computerunterstützung behandeln. Ist das Problem einmal in der Sprache eines CAS abgelegt, dann können recht schnell, ohne großen Mehraufwand, Parameterstudien durchgeführt werden. Die Maple-Arbeitsblätter zum Buch können unter der Internet-Adresse http://www.oldenbourg-verlag.de/ und dort unter dem Namen des Autors oder des Buchtitels als Zusatzmaterial vom Verlagsserver heruntergeladen und in Verbindung mit dem jeweiligen Theorieteil des Buches interaktiv genutzt werden. Deren Inhalt gliedert sich in zwei Abschnitte. In einem einführenden Kompaktkurs werden dem Anwender in 11 Lektionen grundlegende Einsichten in das umfangreiche Programmsystem Maple vermittelt, wobei sich die Inhalte auf die Erfordernisse der hier behandelten Problemstellungen beschränken und einigen Studienanfängern als Auffrischung des Schulstoffs dienen können. Selbstverständlich ersetzen diese Lektionen kein Nutzerhandbuch. In diesem Zusammenhang wird auf die umfangreichen Dokumentationen http://www.maplesoft.com/documentation_center/ des Programmherstellers verwiesen. Maple selbst verfügt über eine ausgezeichnete HilfeFunktion. Eine Fülle von professionell erstellten Beispielen findet der Anwender unter http://www.maplesoft.com/applications/ Der zweite Teil enthält auf Maple-Arbeitsblättern im Worksheet Mode die Lösungen der im Buch aufgeführten Beispiele. Die dort bereitgestellten Maple-Prozeduren lassen sich für ähnlich gelagerte Aufgabenstellungen untereinander kombinieren. Bei einigen Beispielen werden die Eingabedaten aus Textdateien gelesen, die mit einem im Betriebssystem des Rechners enthaltenen Editor erzeugt, betrachtet und geändert werden können. Die Datenausgabe erfolgt entweder auf dem Bildschirm, oder die Berechnungsergebnisse werden in eine Datei geschrieben (Erweiterung .out) und im aktuellen Verzeichnis gespeichert. Weitere Informationen finden sich im Kap. 12. Das Lesen und Verstehen fertiger Quellcodes fördert bei den Studierenden das algorithmische Denken und die Technik des Programmierens, deshalb wurde auch hier wieder bewusst auf trickreiches Programmieren verzichtet. Zur Notationsweise ist noch anzumerken, dass in den symbolischen Darstellungen der Formeln die Vektoren, Matrizen und Tensoren fett gedruckt sind.

Neubrandenburg, im Februar 2013

Friedrich U. Mathiak

Inhalt Vorwort

V

1

Spannungen

1

1.1

Der Spannungszustand in einer beliebig gerichteten Schnittebene ............................ 6

1.2

Hauptnormalspannungen ............................................................................................ 8

1.3

Hauptschubspannungen ............................................................................................ 14

1.4

Der Spannungsdeviator ............................................................................................ 18

1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3

Der ebene Spannungszustand ................................................................................... 19 Transformation des ebenen Spannungszustandes hinsichtlich gedrehter Achsen .... 21 Hauptspannungen ..................................................................................................... 24 Der einachsige Spannungszustand ........................................................................... 32

2

Deformationsgeometrie

2.1 2.1.1

Polarzerlegung des Deformationsgradienten ............................................................ 40 Der Versor ................................................................................................................ 45

2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4

Verzerrungstensoren................................................................................................. 50 Geometrische Linearisierung.................................................................................... 54 Kompatibilitätsbedingungen .................................................................................... 58 Hauptdehnungen und Hauptrichtungen .................................................................... 61 Volumendilatation .................................................................................................... 62

3

Das Hookesche Werkstoffgesetz

3.1

Orthotropie ............................................................................................................... 69

3.2

Transversale Isotropie .............................................................................................. 70

3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3

Isotropie.................................................................................................................... 71 Temperaturdehnungen .............................................................................................. 73 Der ebene Spannungszustand ................................................................................... 74 Der ebene Verzerrungszustand ................................................................................. 75

4

Arbeit und Energie

4.1

Das Potenzial der Gewichtskraft .............................................................................. 80

4.2

Das Potenzial einer Federkraft ................................................................................. 81

4.3

Formänderungs- und Ergänzungsenergie ................................................................. 82

35

67

77

VIII

Inhalt

5

Der Dehnstab

87

5.1

Der Stab unter Einzelkraft, Linienkraftschüttung und Temperaturbeanspruchung .. 90

5.2

Das Reduktionsverfahren für den Dehnstab ............................................................. 93

5.3

Pfahlrostberechnung............................................................................................... 101

5.4 5.4.1

Fachwerke .............................................................................................................. 106 Hinweise zur programmtechnischen Umsetzung ................................................... 118

6

Balkenbiegung

6.1

Balkenschnittlasten ................................................................................................ 125

6.2

Das lokale Gleichgewicht ...................................................................................... 126

6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4

Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens .................................................. 128 Formänderungsenergie ........................................................................................... 133 Die gerade oder einachsige Biegung mit Normalkraft ........................................... 141 Singuläre Lösungen................................................................................................ 149 Automatisierte Schnittlasten- und Verformungsberechnung mit Maple ................ 156

6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.4.6 6.4.7 6.4.8

Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens ....................................................... 160 Die gerade oder einachsige Biegung mit Normalkraft ........................................... 165 Abschätzung der Schubspannungen ....................................................................... 172 Die Normalspannungen .......................................................................................... 179 Der Kern des Querschnitts ..................................................................................... 186 Querschnitte mit versagender Zugzone .................................................................. 192 Der Balken mit veränderlichem Querschnitt .......................................................... 195 Temperaturbeanspruchung ..................................................................................... 204 Biegung von Verbundquerschnitten ....................................................................... 207

7

Der elastisch gebettete Balken

7.1

Der elastisch gebettete Timoshenko-Balken .......................................................... 216

7.2

Der elastisch gebettete Bernoulli-Balken ............................................................... 223

8

Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

8.1 8.1.1

Dünnwandige offene Profile .................................................................................. 229 Der Schubmittelpunkt ............................................................................................ 235

8.2 8.2.1

Dünnwandige geschlossene Profile ........................................................................ 243 Automatisierte Berechnung der Schubspannungen aus Querkraft für dünnwandige Querschnitte ..................................................................................... 249

9

Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

9.1

Die Spannungsfunktion .......................................................................................... 264

9.2

Einzellige dünnwandige Hohlquerschnitte ............................................................. 274

125

215

229

257

Inhalt

IX

9.3 9.3.1 9.3.2

Mehrzellige dünnwandige Hohlquerschnitte .......................................................... 280 Drillruhepunkt und Wölbflächenmomente ............................................................. 282 Automatisierte Berechnung der Schubspannungen aus Torsion für dünnwandige geschlossene Querschnitte ...................................................................................... 284

9.4

Torsion dünnwandiger offener Querschnitte .......................................................... 288

10

Stabilitätsprobleme der Elastostatik

10.1

Verzweigungsprobleme .......................................................................................... 297

10.2

Durchschlagprobleme ............................................................................................. 303

10.3

Elastisches Knicken gerader Stäbe, Eigenwertprobleme ........................................ 306

10.4

Die Eulerschen Knickfälle...................................................................................... 310

10.5

Die allgemeine Knickgleichung ............................................................................. 314

10.6

Berücksichtigung des Eigengewichts ..................................................................... 317

10.7

Nummerische Behandlung der Eigenwertprobleme ............................................... 321

11

Literaturverzeichnis

325

12

Verzeichnis der Maple-Arbeitsblätter

327

Sachregister

293

331

1

Spannungen

In der Elastizitätstheorie hat der Begriff der Spannung für die Beanspruchung und damit für die sichere Auslegung der Tragwerke eine fundamentale Bedeutung. Für das Versagen von Bauteilen ist nämlich nicht etwa das Erreichen zu großer Verformungen verantwortlich, sondern ausschließlich das Überschreiten zulässiger Spannungen. Zur Ermittlung des Spannungszustandes muss die Fiktion vom starren Körper aufgegeben werden. Bei einem gedachten Schnitt1 durch einen Körper (Abb. 1.1) erscheinen dann an den Schnittufern flächenhaft verteilte Kräfte, die Spannungen2 genannt werden.

Abb. 1.1 Flächenelement A und Kraftvektor F

Die Spannung s(r,n) ist ein dem Flächenelement A mit dem Stellungsvektor n zugeordneter Einheitsvektor, der als Grenzwert F dF  A  0 A dA

s(r , n)  lim

definiert ist, wobei F der zur Fläche A i. Allg. schief gerichtete Kraftvektor ist. Der Spannungsvektor ist ein Vektor der Dimension: [s ] 

Masse Länge  ( Zeit )

2

, Einheit : kg m 1 s  2  N / m 2 .

Der Spannungszustand in einem Kontinuum hängt außer vom Punkt P (mit dem Ortsvektor r) auch noch von der geführten Schnittrichtung ab, die durch den Normaleneinheitsvektor n

1

Leonhard Euler, schweiz. Mathematiker, 17071783

2

Augustin Louis Baron Cauchy, franz. Mathematiker, 17891857

2

1 Spannungen

festgelegt ist. Der Spannungszustand am Punkt eines Kontinuums ist dann bekannt, wenn für drei unabhängige Schnittrichtungen durch diesen Punkt die zugeordneten Spannungsvektoren bekannt sind. Erst dann lassen sich die Spannungsvektoren für jede beliebige Schnittrichtung berechnen.

Abb. 1.2 Komponenten des Spannungsvektors sn

Die in Abb. 1.2 auf dem Flächenelement A senkrecht stehende Spannungskomponente des i. Allg. schräg im Raum liegenden Vektors sn, also s nn  (s n  n) n   nn n

mit

 nn  s n  n

wird Normalspannungsvektor genannt. Die Normalspannung  nn wird als positiv bezeichnet, wenn sie eine Zugspannung ist, entsprechend negativ, wenn es sich um eine Druckspannung handelt. Der Schubspannungsvektor s nt  (s n  t) t  nt t

mit

 nt  s n  t

und

t

s n  s nn s n  s nn

liegt in der Spurgeraden von A und der durch n und sn aufgespannten Ebene, womit t eindeutig festgelegt ist.

Abb. 1.3 Spannungsvektor s1 in einer Orthonormalbasis (ONB), Stellungsvektor e1

Stehen insbesondere die Schnittebenen senkrecht auf den kartesischen (x1,x2,x3)-Achsen, dann gilt (Abb. 1.3)

1 Spannungen

3

s1  11 e1  12 e 2  13 e 3 s 2   21 e1   22 e 2   23 e 3 s 3   31 e1   32 e 2   33 e 3 Die 9 Spannungen jk (j,k = 1,2,3) lassen sich in der quadratischen ( 3 3 )-Matrix

 11 12 S   21  22   31  32

13   23   33 

anordnen. Das ist die Matrix des Spannungstensors. In Abb. 1.4 ist der räumliche Spannungszustand an einem infinitesimalen Quader mit den Kantenlängen dx1,dx2,dx3 dargestellt, wobei in jeder der sechs Schnittebenen der dort herrschende Spannungsvektor in Richtung der Koordinatenachsen zerlegt wurde. An jeder Spannung bedeutet der erste Index die Koordinatenachse, die auf der betreffenden Schnittebene senkrecht steht, der zweite die Koordinatenachse, zu der die Spannung parallel ist. Der Spannungszustand in einem Körper ist i. Allg. an jeder Stelle ein anderer, womit die Spannungen  jk   jk ( x 1 , x 2 , x 3 ) (j,k = 1,2,3) im statischen Fall Funktionen des Ortes sind und jeweils ein skalares Feld bilden. Beim Fortschreiten um dx1, dx2, dx3 treten Zuwächse d  jk ( x 1 , x 2 , x 3 ) auf.

Abb. 1.4 Der räumliche Spannungszustand

Es soll nun gezeigt werden, dass die Koordinaten des Spannungstensors  jk ( j, k  1, 2,3) nicht alle unabhängig voneinander sind. Dazu betrachten wir das nach dem Schnittprinzip freigelegte Element in Abb. 1.5. Die am Element angreifenden Kräfte müssen im statischen Fall neben den Kraftgleichgewichtsbedingungen auch die Momentengleichgewichtsbedingungen erfüllen. Wir bilden dazu das Momentengleichgewicht bezogen auf den Punkt P um die x3-Achse und erhalten mit dV  dx 1 dx 2 dx 3 :

4

1 Spannungen dx dx dx dx 1  12  d12  dx 2 dx 3 1   21 dx 1 dx 3 2   21  d 21  dx 1 dx 3 2 2 2 2 2 1 1  (12  d12   21  d 21 ) dV. 2 2

0  12 dx 2 dx 3

1 2

1 2

Dividieren wir noch durch dV , dann verbleibt 0  12  d12   21  d 21 .

Abb. 1.5 Infinitesimales Element der Dicke dx3, Momentengleichgewicht bezüglich P um die x3-Achse

Vollziehen wir nun die Grenzübergänge dx1 , dx 2 , dx 3  0 , so müssen auch die Zuwächse in den Spannungen d12 und d 21 gegen null gehen, und es folgt 12   21 . Bilden wir auch das Momentengleichgewicht um die verbleibenden Achsen, dann erhalten wir zusammenfassend den Satz von den zugeordneten Schubspannungen: 12   21 , 13   31 ,  23   32 .

Damit reduziert sich die Anzahl der unbekannten Spannungen um 3 von 9 auf 6

 11 S   21   31

12  22  32

13   11  23   12  33   13

12  22  23

13   23   S T .  33 

Zur vollständigen Beschreibung des Spannungszustandes in einem Punkt eines deformierbaren Körpers sind demzufolge 6 Zahlenangaben erforderlich. Im Vergleich zum Vektor, bei dem im räumlichen Fall drei Zahlenangaben ausreichen, spricht man deshalb beim Spannungstensor von einer extensiven Größe zweiter Ordnung. Hinweis: Ein Beweis dieses Satzes gelingt in der Kinetik nicht. Nach Boltzmann1 wird deshalb die Symmetrie des Spannungstensors axiomatisch gefordert.

1

Ludwig Eduard Boltzmann, österr. Physiker, 18441906

1 Spannungen

5

Soll sich das Element in Abb. 1.4 in relativer Ruhe befinden, dann muss, neben dem Momentengleichgewicht, auch das Kraftgleichgewicht erfüllt sein. Wirkt auf das Element zusätzlich eine Volumenkraft f  [f1 f 2 f 3 ] T , etwa das Eigengewicht, das aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht dargestellt ist, dann liefert das Kraftgleichgewicht in x1-Richtung, wenn wir uns auf die linearen Zuwächse beschränken: (  11  11  d 11 ) dx 2 dx 3  (   21   21  d  21 ) dx 1 dx 3  (   31   31  d  31 ) dx 1 dx 2  f1 dx 1 dx 2 dx 3  0.

Nach Zusammenfassung verbleiben in der obigen Beziehung nur die Spannungszuwächse d 11 dx 2 dx 3  d  21 dx 1 dx 3  d  31 dx 1 dx 2  f1 dx 1 dx 2 dx 3  0 .

Unter Beachtung von d11 

 11  dx1 , d 21  21 dx 2 , d 31  31 dx 3 erhalten wir x1 x 2 x 3

nach Division mit dV  dx1 dx 2 dx 3 die lokale Kraftgleichgewichtsbedingung in x1Richtung:

11  21  31   f1  0 .  x 2 x 3 x 1

Entsprechende Rechnungen für die verbleibenden Achsen liefern zusammenfassend 11  21  31    f 1  0, x 1 x 2 x 3 12  22  32    f 2  0, x 1 x 2 x 3 13  23  33    f 3  0. x 1 x 2 x 3

Mit Einführung des Nabla1-Operators   ej

 , x j

(j = 1, 2, 3)

der einen symbolischen Vektor darstellt, können wir das lokale Kraftgleichgewicht auch kompakter in der Form  S   f  0  notieren, wobei der Operator  (Nabla links) die links stehenden Faktoren differenziert. Dieses gekoppelte partielle Differentialgleichungssystem reicht jedoch nicht aus, um den Spannungszustand in einem Körper zu bestimmen. Dazu sind weitere Gleichungen erforderlich, die über das Materialverhalten des Körpers Auskunft geben. 1

griech. nablás, Name eines Saiteninstruments

6

1 Spannungen

1.1

Der Spannungszustand in einer beliebig gerichteten Schnittebene

Zur Untersuchung des Spannungszustandes in einer beliebig gerichteten Schnittebene entnehmen wir dem Innern eines Körpers gedanklich ein infinitesimales Volumenelement in Form eines Tetraeders1 mit den Kantenlängen dx1, dx2, dx3 (Abb. 1.6).

Abb. 1.6 Infinitesimales Tetraederelement, Kraftgleichgewicht

Im Sinne des Schnittprinzips werden in den Flächenmittelpunkten der vier Schnittebenen, auf denen wir von einer konstanten Spannungsverteilung ausgehen dürfen, die infinitesimalen Kräfte -s1 dA1, -s2 dA2 und -s3 dA3 angebracht. Auf der Deckfläche des Tetraeders, deren Orientierung durch den nach außen gerichteten Normaleneinheitsvektor n  n 1 e1  n 2 e 2  n 3 e 3

|n| = 1

festgelegt wird, wirkt der noch unbekannte Spannungsvektor sn. Etwa vorhandene Volumenkräfte, beispielsweise das Eigengewicht, brauchen nicht berücksichtigt zu werden, da diese, wenn sich das Tetraeder auf den Konvergenzpunkt P zusammenzieht, gegenüber den Oberflächenkräften als von höherer Ordnung klein vernachlässigt werden können. Für die Spannungen gilt folgende Vorzeichenkonvention: Positive Spannungen zeigen an einem positiven (negativen) Schnittufer in positive (negative) Koordinatenrichtungen. Das Kraftgleichgewicht am Tetraederelement erfordert s n dA n  s1 dA1  s 2 dA 2  s 3 dA 3  0 ,

und für die Verhältnisse der Deckflächen untereinander gilt:

1

zu griech. hédra ›Sitz(fläche), Basis‹, ein Polyeder mit vier Ecken

1.1 Der Spannungszustand in einer beliebig gerichteten Schnittebene

7

dA1  dA n n 1 , dA 2  dA n n 2 , dA 3  dA n n 3 .

Damit folgt für das lokale Kraftgleichgewicht s n  s1 n 1  s 2 n 2  s 3 n 3  ( 11 e1  12 e 2  13 e 3 ) n 1  (  21 e1   22 e 2   23 e 3 ) n 2  (  31 e1   32 e 2   33 e 3 ) n 3

und eine Umsortierung liefert

s n  (11n1   21n 2   31n 3 ) e1  (12 n1   22 n 2   32 n 3 ) e 2  (13 n1   23 n 2   33 n 3 ) e 3            n1

 n 2

 n 3

oder s n   n1e1   n 2 e 2   n 3 e 3 .

Beachten wir noch die Symmetrie des Spannungstensors ( S  S T ), dann können wir symbolisch sn  S  n

schreiben. Ist also der Spannungstensor S am Punkt P eines Kontinuums bekannt, dann kann der Spannungsvektor sn für jede beliebige Schnittrichtung angegeben werden. Beispiel 1-1: Es soll eine Maple-Prozedur zur Verfügung gestellt werden, die bei Vorgabe der Matrix des symmetrischen Spannungstensors S den Spannungsvektor sn auf einer Schnittebene durch den Punkt P mit dem Normalenvektor n berechnet. Ferner werden der Normalspannungsvektor snn, die Normalspannung  nn , der Tangentenvektor t, der Schubspannungsvektor snt sowie die Schubspannung nt gesucht. Geg.:

1 3 2  1 1    S 3 4 1 , n 1   3 . 2 1 2 1

6 1 3 2 1 1  1      3 4 1  1  3 8 , Lösung: s n  S  n    3   3 5 2 1 2 1 s nn

6 1 1 1     19 19 3    s n  n  n  1 , nn  s n  n  8  1  , 3    3 9  5 1 1

8

1 Spannungen

 1  1 3  s n  s nn 1    5 , s nt  (s n  t) t  5 , t 9   s n  s nn 42    4  4

1.2

nt  s n  t 

14 . 3

Hauptnormalspannungen

Es kann noch die Frage gestellt werden, ob eine Schnittebene mit dem Stellungsvektor n  e H existiert, in der keine Schubspannungen auftreten. In diesem Fall besitzt die Matrix des Spannungstensors Diagonalgestalt und der Spannungsvektor s n  S  e H   e H ist dann ein Vielfaches des Normalenvektors e H . Das führt auf das Matrix-Eigenwertproblem

(S   1)  n  (S   1)  e H  0

(1: Matrix des Einheitstensors).

Dieses lineare, homogene Gleichungssystem besitzt bekanntlich nur dann eine nichttriviale Lösung, wenn die Determinante der charakteristischen Matrix

12 13  11     22    23  S -  1   12  13  23  33    verschwindet, wenn also det (S - 1)  0 gilt. Das führt auf die Eigenwertgleichung

λ3  J1λ 2  J 2λ  J 3  0 mit den Hauptinvarianten1

J1  11   22   33 2 2 J 2  11 22  11 33   22  33  (12  13   223 ) 2 2 J 3  11 22  33  21312  23  ( 22311  13  22  12  33 )  det(S).

besteht2. Die Hauptinvarianten lassen sich durch die Spur des Spannungstensors ausdrücken (Backhaus, 1983): J1  Sp(S), J 2 









1 2 1 Sp (S)  Sp(S 2 ) , J 3  Sp3 (S)  2Sp(S 3 )  3Sp(S 2 )Sp(S) . 2 6

1

Als Invarianten eines Tensors werden Größen bezeichnet, die bei einer Koordinatentransformation (Translation, Drehung) unverändert bleiben

2

Die Summe der Hauptdiagonalglieder einer Matrix A wird auch als Spur von A oder kurz Sp(A) bezeichnet

1.2 Hauptnormalspannungen

9

Aufgrund der Symmetrie von S erhalten wir aus der kubischen Eigenwertgleichung drei reelle Eigenwerte, die wir mittels der Cardanischen1 Formel berechnen (Bronstein & Semendjajew, 1973). Unter Beachtung der Hilfsgrößen 1 1 3 3 p   (J12  3J 2 ) , q   (2J13  9J1J 2  27 J 3 ) , u   q  q 2  p3 , v   q  q 2  p3 9 54

folgen die drei reellen Eigenwerte ( i 2  1 ) 1 J1  u  v , 3 1 1 i 2  H 3 ( u  v) , 2  J1  ( u  v )  3 2 2 1 1 i  3   3H  J1  ( u  v )  3 ( u  v) . 3 2 2 Dass die Eigenwerte einer symmetrischen Matrix tatsächlich reell sind, sehen wir wie folgt: Wir bemerken zunächst, dass auch reelle Polynome komplexe Nullstellen haben können, und damit eine reelle Matrix S auch komplexe Eigenwerte besitzen kann. Für eine reelle Matrix S kann deshalb neben   a  ib auch   a  ib ein Eigenwert sein, also  1  1H 

S eH   eH ,

SeH   eH .

Aus der Symmetrie von S folgt

( e H ) T  S  e H   ( e H ) T  e H  ( e H ) T  S  e H   (e H ) T  e H  ( e H ) T  e H   (e H ) T  e H . Wegen ( e H ) T  e H  ( e H ) T  e H ist    zu folgern, was nur für reelles  möglich ist. Zu jedem Eigenwert  j (j = 1,2,3) kann ein reeller Eigenvektor

e Hj  e Hj,1 e1  e Hj, 2 e 2  e Hj,3 e 3 berechnet werden. Dazu setzen wir nacheinander die Eigenwerte in die Eigenwertgleichung ein und erhalten jeweils die drei skalaren homogenen Gleichungen

( 11   j ) e Hj,1  12 e Hj, 2  13 e Hj, 3  0, 12 e Hj,1  (  22   j ) e Hj, 2   23 e Hj, 3  0, 13 e Hj,1   23 e Hj, 2  ( 33   j ) e Hj, 3  0.

1

Gerolamo Cardano, ital. Mathematiker, Arzt und Philosoph, 15011576

10

1 Spannungen

Wir ermitteln zunächst e Hj,1 und e Hj, 2 in Abhängigkeit von e Hj, 3 und erhalten

e Hj,1 ( j ) 

e Hj, 2 ( j ) 

( j   22 ) 13  12  23 2 ( j  11 )( j   22 )  12

( j  11 )  23  12 13 2 (  j  11 )( j   22 )  12

e Hj, 3  a j e Hj, 3 ,

e Hj, 3  b j e Hj, 3 ,

wobei wir zur Abkürzung

aj

( j   22 ) 13  12  23 2 ( j  11 )( j   22 )  12

, bj 

( j  11 )  23  12 13 2 ( j  11 )( j   22 )  12 2

2

2

gesetzt haben. Mit der Normierungsbedingung des Eigenvektors e Hj,1  e Hj, 2  e Hj, 3  1 folgt H 2 2 aus den obigen Gleichungen e j,3 ( j )  1/ 1  a j  b j und damit insgesamt:

e Hj,1 ( j )  

aj 1  a 2j  b 2j

, e Hj, 2 ( j )  

bj 1  a 2j  b 2j

, e Hj, 3 ( j )  

1 1  a 2j  b 2j

.

Plus- und Minuszeichen deuten an, dass neben e Hj auch -e Hj eine Hauptrichtung ist. Aufgrund der Symmetrie des Spannungstensors stehen die Eigenvektoren zu verschiedenen Eigenwerten senkrecht aufeinander. Den Beweis führen wir am Beispiel der Eigenvektoren e1H und e H 2 . Wir bilden zunächst

s1H  S  e1H  1 e1H ,

H H sH 2  S e2  2 e2 .

Multiplizieren wir die erste Gleichung von links mit e H 2 und die zweite ebenfalls von links mit e1H , dann erhalten wir H H H eH 2  S  e1  1 e 2  e1 ,

H H e1H  S  e H 2  1 e1  e 2 .

H H H Da S symmetrisch ist, gilt e H 2  S  e1  e1  S  e 2 . Ziehen wir nun beide Gleichungen vonei-

nander ab, dann folgt: 0  (1   2 ) e1H  e H 2 . Für 1   2 ist obige Gleichung nur für

e1H e H 2 0 erfüllt, was die Orthogonalität der Eigenvektoren e1H und e H 2 bedingt. Treten doppelte EiH H genwerte auf, etwa 1H   H 2   3 , dann sind alle Richtungen senkrecht zur Ebene von 1 H H H und  H 2 Hauptrichtungen. Existieren mit 1   2   3   0 drei gleiche Eigenwerte,

1.2 Hauptnormalspannungen

11

dann sind alle orthogonalen Richtungen Hauptrichtungen. Ein solcher Spannungszustand wird in einer ruhenden Flüssigkeit (mit 0 als Druckspannung) beobachtet, weshalb dieser Spannungszustand auch hydrostatischer Spannungszustand genannt wird. Ein nach den Hauptachsen e Hj orientierter Würfel (Abb. 1.7) wird nur durch Normalspannungen (Zug oder Druck) beansprucht.

Abb. 1.7 Nach den Hauptachsen orientierter Würfel, Hauptnormalspannungen

Der auf die Hauptachsen transformierte Spannungstensor erscheint dann in der Form1 S

1H

e1H

 e1H

 H 2

eH 2

 eH 2

  3H

e 3H

 e 3H

 1H   0  0 

0 H 2 0

0   0   3H  

und für die Invarianten folgt: H J1  1H   H 2   3  Sp (S ),

1 H H H H 2 2 J 2  1H  H 2  1  3   2  3  [Sp (S )  Sp (S )], 2 H J 3  1H  H   det( S ). 2 3 Hinweis: Maple liefert uns die drei Eigenwerte in einem Vektor (hier , und die den Eigenwerten zugeordneten Eigenvektoren erscheinen in einer ( 3 3 )-Matrix (hier 

 e1H,1  λ1   Λ   λ 2  , Φ  e1H, 2 e H  λ 3   1, 3

1

eH 2 ,1 nH 2, 2 eH 2,3

e 3H,1   e 3H, 2  . e 3H, 3  

Diese Darstellung wird auch Spektraldarstellung des Spannungstensors genannt

12

1 Spannungen

In der j-ten Spalte von  steht der Eigenvektor e Hj zum Eigenwert j. Die Eigenvektormatrix  ist aufgrund der Orthogonalität der Eigenvektoren eine orthogonale Matrix, für die Φ-1  ΦT gilt. Führen wir mit e H  Φ  v den neuen Vektor v ein, dann geht das ursprüngliche Eigenwertproblem (S   1)  e H  0 über in

(S  Φ   Φ)  v  (ΦT  S  Φ   1)  v  (T   1)  v  0 . Die Matrix T  Φ T  S  Φ  diag [1 ,  2 ,  3] ist eine Diagonalmatrix, auf deren Hauptdiagonale die Eigenwerte stehen. Wir wollen im Folgenden die Extremaleigenschaften der Hauptnormalspannungen  Hj nachweisen, die bei Vorgabe des am Punkte P wirkenden Spannungszustandes S nur noch Funktionen des Normalenvektors n  [ n 1 n 2 n 3 ] T sind. Das zeigen wir indirekt, indem wir unter Beachtung von nn (n)  (S  n)  n und der Nebenbedingung  (n)  n  n  1 (der Normalenvektor n hat die Länge 1) im Sinne von Lagrange1 die Funktion

L(n,  )   nn (n )   (n )  (S  n )  n -  (n  n  1)  11 n 12   22 n 22   33 n 32  2(12 n 1n 2  13 n 1n 3   23 n 2 n 3 )   ( n 12  n 22  n 32  1) bilden (Hahn, 1985), wobei  den Lagrangeschen Multiplikator bezeichnet. Notwendige Bedingung für das Vorliegen eines Extremwertes ist bekanntlich das Verschwinden der ersten Ableitung, hier also L / n  0 , wobei die Ableitung der skalaren Funktion L(n) der vektoriellen Variablen n durch den Vektor

L  L  n  n 1

L n 2

L   n 3 

T

dargestellt wird. Im Einzelnen erhalten wir

0   11 n 1  12 n 2  13 n 3   n 1  L     0  12 n 1   22 n 2   23 n 3   n 2   (S   1)  n  0 . n    0   13 n 1   23 n 2   33 n 3   n 3  Das ist aber wieder die bekannte Eigenwertgleichung zur Berechnung der Eigenwerte und Eigenvektoren von S. Wegen des stationären Verhaltens von L ist eine der Hauptnormalspannungen  Hj (j = 1,2,3) die kleinste (Minimalwert) und eine die größte (Maximalwert)

1

Joseph Louis de Lagrange, eigentlich Giuseppe Ludovico Lagrangia, frz. Mathematiker und Physiker italien. Herkunft, 17361813

1.2 Hauptnormalspannungen

13

für alle möglichen Schnittebenen durch den Punkt P auftretende Normalspannung. Die mittlere Hauptnormalspannung liefert einen Sattelpunkt von L. Beispiel 1-2: Gegeben ist der Spannungszustand aus Beispiel 1-1. Lösen Sie unter Einsatz von Maple folgende Aufgaben: 1. 2. 3.  5.

Aufstellen des charakteristischen Polynoms p() = det (S – 1) = 0, Berechnung der Invarianten J1, J2 und J3, Berechnung der drei reellen Eigenwerte und Eigenvektoren von S, Berechnung der Diagonalmatrix T  ΦT  S  Φ  diag[1,  2 , 3] , Zeigen Sie die Gültigkeit von S  Φ  Φ  T .

Lösung: Maple liefert uns: Zu 1.)

p()  3  72  15 .

Zu 3.)

0,130 0,535  1   1,341  0,835      Λ   2  1,679 , Φ  0,398  0,529 0,749  ,       0,838 0,390    3   6,662   0,381

Zu 2.) J1  7 , J 2  0 , J 3  15 .

Zu 4.) 0,398 0,381 1 3 2 0,835 0,130 0,535 0,835      T  Φ  S  Φ  0,130  0,529 0,838  3 4 1  0,398  0,529 0,749        0,749 0,390  2 1 2  0,381 0,838 0,390   0,535 0 0  1,341   0 1,679 0   0 0 6,662   T

Zu 5.)

0,130 0,535  1,120 0,219 3,564 1 3 2 0,835    S  Φ  3 4 1  0,398  0,529 0,749   0,533  0,889 4,993       2 1 2  0,381 0,838 0,390   0,511 1,408 2,600

0,219 3,564 0 0  1,120 0,130 0,535 1,341 0,835      0 1,679 0   0,533  0,889 4,993 . Φ  T  0,398  0,529 0,749        1,408 2,600 0 0 6,662   0,511 0,838 0,390   0,381

14

1 Spannungen

1.3

Hauptschubspannungen

Nach der Ermittlung der Hauptnormalspannungen und deren Richtungen kann nun nach denjenigen Richtungen n der Schnittebenen gefragt werden, in denen die Schubspannungen extremale Werte annehmen. Zur Beantwortung dieser Frage zerlegen wir den schräg aus der Ebene heraustretenden Spannungsvektor in Normal- und Tangentialrichtung (Abb. 1.2) und bilden  2nn   2nt  s n

2

 2nt  s n 2   2nn .

oder

Dieser Ausdruck soll extremal werden, also ein Minimum oder Maximum annehmen. Um im Folgenden zu einer übersichtlichen Darstellung der anfallenden Gleichungen zu kommen, beziehen wir uns auf das Hauptachsensystem. Mit  1H  S 0  0 

0 H 2 0

0   0  ,  3H  

H H H n  n 1H e1H  n H 2 e2  n 3 e3

 n 1H     n H 2 , n H   3

n 1,

folgt  1H  sn  S n   0  0 

und damit s n

 nn

2

0 H 2 0

0   n 1H   1H n 1H      H H 0   n H 2    2 n 2  H  H  H n H  n 3   3  3 3

H 2 H H 2  s n  s n  (1H n1H ) 2  ( H 2 n 2 )  (3 n 3 ) . Beachten wir außerdem

 1H n 1H   n 1H   H  H H H 2 H H 2 H H 2  s n  n   H 2 n 2    n 2   1 ( n 1 )   2 ( n 2 )   3 ( n 3 ) ,  H n H   n H   3 3  3

H 2 H H 2 H H 2 H H 2 H H 2 2 dann ist  2nt  (1H n 1H ) 2  ( H 2 n 2 )  (  3 n 3 )  [ 1 ( n 1 )   2 ( n 2 )   3 ( n 3 ) ] .

Multiplizieren wir in der obigen Beziehung die ersten drei Terme auf der rechten Seite mit 2 H 2 1  ( n 1H ) 2  ( n H 2 )  (n 3 ) ,

dann folgt nach Zusammenfassung 2 2 2 H H 2 2 2 H H 2 2 2  2nt ( n 1 , n 2 , n 3 )  (1H   H 2 ) n 1 n 2  ( 1   3 ) n 1 n 3  (  2   3 ) n 2 n 3 .

Gesucht wird nun unter der Nebenbedingung H H 2 H 2 H 2  ( n 1H , n H 2 , n 3 )  n  n  1  ( n1 )  ( n 2 )  (n 3 )  1  0

1.3 Hauptschubspannungen

15

derjenige Vektor n, für den die Schubspannungen extremal werden. Wir verwenden zur Lösung dieser Extremwertaufgabe wieder die Lagrangesche Multiplikatorenmethode und bilden dazu die Funktion H 2 H H H H H H L( n 1H , n H 2 , n 3 ,  )   nt ( n 1 , n 2 , n 3 )    ( n 1 , n 2 , n 3 ) .

Die Komponenten des Normalenvektors n und den Multiplikator  bestimmen wir aus der Forderung

L  L  n  n 1H

L n H 2

T

L    0, n 3H 

L 0. 

Das führt auf das nichtlineare Gleichungssystem 2 H 2 H H 2 H 2 n 1H [(1H   H 2 ) ( n 2 )  ( 1   3 ) ( n 3 )   ]  0 , H H 2 H 2 H H 2 H 2 nH 2 [(1   2 ) ( n 1 )  (  2   3 ) ( n 3 )   ]  0 , H 2 H 2 n 3H [(1H   3H ) 2 ( n 1H ) 2  ( H 2   3 ) (n 2 )  ]  0 , 2 H 2 ( n 1H ) 2  ( n H 2 )  (n 3 )  1  0 .

Maple liefert uns die Lösungen n1(1, 2)

 0 0 2  2  1 (1) H 2 1  , n 3, 4    1 ,  1  (  H  2  3 ) ,   2 2 2  1 1 

n1( ,22)  

n1( ,32)

  1 1  2  2  1 (2) 0 , 0 ,  2  ( 1H   3H ) 2 ,   n 3, 4 2   2   2  1 1 

  1 1  1 2  2  ( 3) 2 1 ,  3  ( 1H   H 1  , n 3, 4    2 ) ,   2 2 2  0  0 

Plus- und Minuszeichen zeigen jeweils an, dass neben n ( j) auch - n( j) eine Lösung ist. Abb. 1.8 zeigt die Verhältnisse für die Ebenen mit den Stellungsvektoren n1(,22) und n 3( 2, 4) .

16

1 Spannungen

Abb. 1.8 Hauptschubspannungsebenen

Wir beschränken uns auf die positiven Vorzeichen und stellen fest, dass die Normalenvektoren n1(1) , n1( 2) , n1(3) jetzt nicht mehr senkrecht aufeinander stehen, sondern untereinander einen Winkel von 60° bilden. Die Hauptschubspannungen wirken in Ebenen, die zu einer Hauptrichtung parallel liegen (beispielsweise der x H 2 -Achse in Abb. 1.8) und mit den beiden anderen einen Winkel von 45° einschließen. Abb. 1.8 zeigt rechts die vier Normalenvektoren n1(,22) und n 3( 2, 4) . Wir berechnen im Folgenden die Zustandsgrößen in den Flächen mit den Stellungsvektoren n1(1) , n1( 2) , n1(3) . Mit sn  S  n ,

s nn  (sn  n) n ,

t

s n  s nn , s n  s nn

 nn  sn  n ,

 nt  s n  t ,

erhalten wir exemplarisch für n  n1(j) (j = 1,2,3)

n1(1)

0  0  2  2  (1) 1)  1 , sn  22 , s(nn  2   2   33  1

n1( 2) 

n1(3)

0  0 2 (22  33 )   2 (22  33 )   (1) 1 , t  1 ,   4 2 22  33   1  1

1  11  1  1 2  2  2 (11  33 )   2 (11  33 )   0 , s(n2)  0 , s(nn2)  0 , t ( 2)  0 ,   2   2   4 2 11  33   1 33  1  1

0  11  2  2  (3)  1 , sn  22 , s(nn3)      2 2 1  0 

1  1 2 (11  22 )   2 (11  22 )   (3) 1 , t  1 .   4 2 11  22   0  0

Die zugehörigen Normalspannungen errechnen sich als Mittelwerte der Hauptnormalspannungen zu 1) (nn 

1 1 1 ( 22  33 ), (nn2)  (11  33 ), (nn3)  (11  22 ) , 2 2 2

und für die extremalen Werte der Schubspannungen ermitteln wir:

1.3 Hauptschubspannungen (nt1) 

17

1 1 1  22  33 , (nt2)  11  33 , (nt3)  11   22 . 2 2 2

Abb. 1.9 Mohrsche Spannungskreise (s.h. auch Beispiel 1-3)

Die gefundenen Ergebnisse lassen sich durch die in Abb. 1.9 skizzierten Mohrschen1 Spannungskreise veranschaulichen (Trostel R. , 1993). Sie werden gezeichnet, indem man um alle Normalspannungen (nnj) Kreise mit den Radien (ntj)  ( j) zeichnet, die den Hauptschubspannungen entsprechen. Es kann gezeigt werden, dass sämtliche Spannungszustände innerhalb und auf dem Rand der in Abb. 1.9 invers dargestellten Fläche liegen. Beispiel 1-3: Der Spannungszustand in einem Punkt ist gegeben durch die Matrix des Spannungstensors in Beispiel 1-1. Stellen sie eine Maple-Prozedur zur Verfügung, mit deren Hilfe die Hauptschubspannungen und deren Richtungen berechnet werden. Ermitteln Sie die den Hauptschubspannungen zugeordneten Normalspannungen. Stellen Sie die Mohrschen Spannungskreise grafisch dar. Lösungshinweise: Maple liefert uns die aus Beispiel 1-2 bekannten Eigenwerte und Eigenvektoren 0,130 0,535   0,835  1,34  Λ   1,68 , Φ   0,398  0,529 0,749  .     0,838 0,390   0,381  6,66 

Damit liegen auch die Richtungen der Hauptschubspannungsebenen fest, und wir zeigen die Berechnung der Zustandsgrößen für die Ebene mit dem Normalenvektor n1( 2) :

n1( 2 )

1

   0,835  0,535    0,212 2 (1) 2       ( 3) n n n    0,398  0,749    0,811 , 2 2     0,381 0,390   0,545





Christian Otto Mohr, deutscher Statiker und Bauingenieur, 18351918

18

1 Spannungen

3,311   0,564  0,969  3,876 s n  S  n   3,153 , s nn  (s n  n ) n   2,158 , t  0, 249 , s nt   0,995 , 1, 477   1, 450 0,007  0,027  σ nn  s n  n  2,66 σ nt  s n  t  4,00 .

Für die verbleibenden Richtungen n1(1) und n1(3) liefert Maple:

n1(1) : σ nn  4,17, σ nt  2,49 und n1(3) : σ nn  0,17, σ nt  1,51 . Mit diesen Werten können die Mohrschen Spannungskreise gezeichnet werden (Abb. 1.9).

1.4

Der Spannungsdeviator

Für Anwendungen in der höheren Elastizitäts- und Plastizitätstheorie erweist es sich als zweckmäßig, vom Spannungstensor S den hydrostatischen Spannungszustand

M S  0   0 K

0 M 0

0  0   M 

mit der Mittelspannung 1 1 1 1 H  M  ( 11   22   33 )  ( 1H   H 2   3 )  Sp (S )  J 1 3 3 3 3

abzuspalten. Damit können wir  11 S  12  13

12  22  23

13   M  23    0  33   0

0 M 0

0  11   M 0    12  M   13

12  22   M  23

13  23

    33   M 

oder kürzer

S  S K  S D  M 1  S D

(1: Einheitstensor)

schreiben. Für den von der Matrix des Kugeltensors SK abweichenden Deviatoranteil1 verbleibt dann

1

zu lat. deviare ›(vom Weg) abweichen‹

1.5 Der ebene Spannungszustand 11   M D K S  S  S   12  13

19 12

H  1   M   23    0    33   M  0 

13

 22   M  23

H 2

0  M 0

  0 . H 3   M   0

Ausgedrückt durch die Invarianten des Spannungstensors S erhalten wir nach (Backhaus, 1983) die Invarianten des Spannungsdeviators

J1D  0 ,

1 2 JD 2  J 2  J1 , 3

J 3D 

2 3 1 J1  J1J 2  J 3 . 27 3

Die Invariante J D 2 spielt eine wichtige Rolle bei der Formulierung von Werkstoffgesetzen in der Plastizitätstheorie. Wie der Spannungstensor S, so ist auch der Spannungsdeviator SD ein symmetrischer Tensor, und wir können alle bisher erzielten Ergebnisse der Eigenwertberechnung und Hauptachsentransformation auf den Spannungsdeviator übertragen. Da für den Kugeltensor jedes orthogonale Dreibein ein Hauptachsensystem darstellt, stimmen die Eigenvektoren von SD mit denjenigen von S überein, das gilt jedoch nicht für die Eigenwerte. Beispiel 1-4: Stellen Sie eine Maple-Prozedur zur Verfügung, mit deren Hilfe der Spannungstensor S in den Kugeltensor SK und den Deviator SD zerlegt wird. Berechnen Sie für den Spannungszustand S aus Beispiel 1-1: 1. 2. 3. 4. 5.

Die mittlere Normalspannung M, Den Kugeltensor SK, Den Deviator SD, Die drei Invarianten des Spannungsdeviators SD.

Lösung:

1 3 2  7 S  3 4 1  ,  M  ,   3 2 1 2 J1D  0 , J D2  

1.5

2  1 0 0 4 / 3 3 7 D   S  0 1 0 , S  3 5/3 0 ,    3 1  1 / 3 0 0 1  2 K

49 D 281 , J3  . 3 27

Der ebene Spannungszustand

Die Scheibe ist ein typischer Vertreter eines Flächentragwerkes, in der mit guter Näherung ein ebener Spannungszustand unterstellt werden kann. Hinsichtlich der Geometrie und der Belastung einer beispielsweise in der (x1,x2)-Ebene liegenden Scheibe werden folgende Voraussetzungen getroffen:

20

1 Spannungen

1. Die Scheibe ist dünn, 2. Es ist nur eine Belastung parallel zur Scheibenebene zulässig, 3. Die Belastung ist unabhängig von der x3-Richtung, 4. Die Oberflächen x 3   h / 2 der Scheibe sind lastfrei. Unter diesen Voraussetzungen können wir in näherungsweise von den in Abb. 1.10 skizzierten Spannungsverläufen ausgehen.

Abb. 1.10 Spannungsverläufe in einer dünnen Scheibe, ebener Spannungszustand

Die obigen Spannungsverläufe legen es nahe, in einer Scheibe einen ebenen Spannungszustand zu unterstellen, für den  j3  0 ( j  1,2,3) gilt. Von den verbleibenden Spannungen jk (j,k = 1,2) wird angenommen, dass sie sich über die Scheibendicke konstant verhalten. Sie hängen dann nicht mehr von der Koordinate x3 ab, und es gilt:  jk x 3

0

(j, k = 1, 2).

Abb. 1.11 Der ebene Spannungszustand an einem Scheibenelement der Dicke h

Von den statischen Grundgleichungen verbleiben die beiden partiellen Differenzialgleichungen

12  22 11 12  f 2  0,   f1  0,  x 2 x 1 x 1 x 2 und die Matrix des ebenen Spannungszustandes reduziert sich auf

1.5 Der ebene Spannungszustand  S  S T   11   21

21

12  .  22 

An einem Scheibenelement der (x1,x2)-Ebene treten dann nur noch die in Abb. 1.11 skizzierten Spannungen auf. Der Satz von den zugeordneten Schubspannungen liefert für den ebenen Fall  21  12 , womit noch drei unbekannte Funktionen 11 ( x 1 , x 2 ),  22 ( x 1 , x 2 ), 12 ( x 1 , x 2 )

zu bestimmen wären. Hängen die Spannungen nicht vom Ort ab, so heißt der Spannungszustand homogen, sonst inhomogen.

1.5.1

Transformation des ebenen Spannungszustandes hinsichtlich gedrehter Achsen

Sind an einem Punkt P die Spannungen 11, 22 und 12 bekannt, und sind diese hinsichtlich eines um den Winkel  gedrehten ( x 1 , x 2 ) -Koordinatensystems gesucht, dann können wir die dazu erforderlichen Transformationsgleichungen des ebenen Spannungszustand durch Bildung des Kraftgleichgewichts am infinitesimalen Dreieck der Dicke h in Abb. 1.12 ermitteln. Die Schnittrichtung ist durch den Stellungsvektor e x 1 festgelegt.

Abb. 1.12 Transformation des ebenen Spannungszustandes, Scheibendicke h

Wir notieren die Kraftgleichgewichtsbedingungen in Richtung der Achsen x 1 und x 2 . Setzen wir für die schräge Fläche dA  h ds , dann folgt das Kraftgleichgewicht in x 1 -Richtung:  1 1 dA  (11 dA cos ) cos   ( 22 dA sin ) sin   (12 dA cos ) sin   ( 21 dA sin ) cos   0

und entsprechend in x 2 -Richtung:  1 2 dA  ( 11 dA cos ) sin   (  22 dA sin ) cos   ( 12 dA cos ) cos   (  21 dA sin ) sin   0

22

1 Spannungen

Fassen wir diese Gleichungen zusammen, dann folgen nach Division mit dA  0 :  1 1  11 cos 2    22 sin 2   2 12 sin  cos ,  1 2   11 sin  cos    22 sin  cos   12 (cos 2   sin 2 ).

Es fehlt noch eine Beziehung für  22 , die wir jedoch sofort notieren können, wenn wir beachten, dass die zugehörige Richtung der x 2 -Achse gegenüber der x 1 -Richtung um /2 gedreht ist. Mit  22   1 1 (   / 2) und cos(   / 2)   sin  bzw. sin(   / 2)  cos  folgt dann  1 2   11 sin  cos    22 sin  cos   12 (cos 2   sin 2 ) .

Unter Berücksichtigung der trigonometrischen Beziehungen cos 2  

1 1 1 (1  cos 2) , sin 2   (1  cos 2) , sin  cos   sin 2 und 2 2 2

cos2   sin 2   cos 2 erhalten wir abschließend 11   22 11   22  cos 2  12 sin 2 2 2    22 11   22  2 2 ( )  11  cos 2  12 sin 2 2 2    22  1 2 ( )   11 sin 2  12 cos 2 2

 1 1 ( ) 

Die obigen Gleichungen beschreiben das Transformationsverhalten des ebenen Spannungszustandes am selben Punkt P, wenn ein ursprünglich nach den (x1,x2)-Kanten orientiertes Element um den Winkel  gedreht wird (Abb. 1.13).

Abb. 1.13 Der um den Winkel  gedrehte Spannungszustand

Diese Transformationsformeln sind identisch mit den in (Mathiak, 2012) hergeleiteten Flächenträgheitsmomenten. Sie gelten allgemein für ebene Tensoren. Den Transformationsformeln können noch die beiden wichtigen Invarianten

1.5 Der ebene Spannungszustand

23

2 I1   1 1   2 2 11   22  Sp (S ), I 2   1 1  2 2   21 2  11  22  12  det S ,

entnommen werden. Der ersten Invarianten entspricht die Summe der Hauptdiagonalglieder (Spur) des ebenen Spannungstensors und die zweite Invariante ist dessen Determinante. Führen wir die orthogonale Drehmatrix in der normierten Form cos   sin  Q()     sin  cos 

ein, dann erhalten wir die Matrix S () des gedrehten Spannungszustandes zu

S ()  QT()  S  Q()

und umgekehrt

S  Q  S  QT .

Für die Sonderfälle    und    / 2 errechnen wir:  1 0  Q(  )     1 ,  0  1

Q ( 

 0 1 ) , 2  1 0

  S (  )   11 12  S ( 

   )   22 2  12

12  S  22  12  11 

Im Fall kleiner Drehwinkel   1 können wir mit cos   1 und sin    näherungsweise

 1    1 0   0      Q lin ()    1 Ω 1 0 1   0     1 Ω schreiben, und bei Vernachlässigung der quadratischen Terme in folgt  22  11   212 . S lin ()  S     2 12   22  11

Beispiel 1-5: Stellen Sie eine Maple-Prozedur zur Verfügung, mit deren Hilfe die Drehtransformation des ebenen Spannungszustandes durchgeführt werden kann. Testen Sie die Prozedur mit dem Zahlenbeispiel:    30 , S  S T   11 12

12   60  15  .  22    15 30 

24

1 Spannungen

Lösung: Die Umrechnung in Bogenmaß ergibt den Drehwinkel   30   / 180  0,5236 , und cos   sin   0,866 0,500  damit ist Q()   .  cos  0,500 0,866   sin  Für den gedrehten Spannungszustand liefert uns Maple:  S   11  1 2

1.5.2

12   39,51  20, 49  .  QT S Q     22  50, 49    20, 49

Hauptspannungen

Wie wir gesehen haben, sind die Spannungen  1 1 , 22 und  1 2 Funktionen des Drehwinkels . Wir interessieren uns im Folgenden für denjenigen Winkel , für den die Schubspannung  1 2 verschwindet, also 12  0  

11   22 sin 2  12 cos 2 2

 tan 2 

212 . 11   22

Wegen tan 2  tan(2  ) existiert eine zweite Richtung, die gegenüber  um  / 2 gedreht ist. Ein mit diesen Winkeln gedrehtes Element unterliegt also einem reinen Normalspannungszustand. Für diese Drehwinkel werden außerdem die Normalspannungen extremal. Notwendige und hinreichende Bedingung für das Vorliegen eines Extremwertes ist nämlich das Verschwinden der ersten Ableitung, also 1.  1 1 = Extremum

d 1 1 d

0  (11   22 ) sin 2  212 cos 2

 tan 2 

212 11   22

 tan 2 

212 11   22

2.  22 = Extremum

d 2 2 d

(11   22 ) sin 2  212 cos 2

Die sich unter den Winkeln tan 2  tan(2*  n)  tan(2*  )  12 /(11   22 ) für den ersten Hauptwert n  1 der tan-Funktion einstellenden Spannungszustände werden Hauptnormalspannungszustände genannt. Die Richtungen der beiden Schnittebenen mit den Winkeln * und *   / 2 stehen senkrecht aufeinander und sind frei von Schubspannungen. Diesen Sachverhalt können, wir in Anlehnung an den dreidimensionalen Fall, mit n  e H auch symbolisch in der Form s n  S  e H   e H notieren. Das führt wieder auf das bekannte Matrizen-Eigenwertproblem (S   1)  e H  0 oder in Matrizenschreibweise

1.5 Der ebene Spannungszustand

25

12   e1H   0   11     .    22     e H  12 2   0 

Dieses homogene lineare Gleichungssystem besitzt nur dann eine nichttriviale Lösung e, wenn die Determinante der charakteristischen Matrix S -  1 verschwindet, wenn also die Eigenwertgleichung 2 2 (11   )( 22   )  12  2   (11   22 )  11 22  12  2  I1   I 2  0        I1  I2

besteht. Aufgrund der Symmetrie von S erhalten wir aus der quadratischen Eigenwertgleichung zwei reelle Eigenwerte 1 1 2  , I1  I12  4 I 2    11   22  ( 11   22 ) 2  412     2  2 1 1 2  ,   I1  I12  4 I 2    11   22  ( 11   22 ) 2  4 12   2  2 

 1  1H  2  H 2

die Hauptnormalspannungen genannt werden. Zu jedem Eigenwert kann ein reeller Eigenvektor berechnet werden. Dazu setzen wir nacheinander die Eigenwerte 1 und 2 in die Eigenwertgleichung ein: 1. Eigenvektor zum Eigenwert 1  1H : (S  1H 1)  e1H  0 oder

11  1H   12

12   e1H,1  0   .   yy  1H  e1H, 2  0 

Ausgeschrieben lautet dieses System, dessen Gleichungen linear abhängig sind: ( xx  1H ) e1H,1  12 e1H, 2  0, 12 e1H,1  ( 22  1H ) e1H, 2  0,

Aus diesem Gleichungssystem folgt der normierte Eigenvektor

e1H 

1H  11 2 ( 1H  11 ) 2  12

12 /( 1H  11 )   . 1  

2. Eigenvektor zum Eigenwert  2   H 2 : In gleicher Weise erhalten wir den normierten Eigenvektor zum 2. Eigenwert eH 2 

H 2  11 2 2 ( H 2  11 )  12

12 /(  H  2  11 )  . 1  

26

1 Spannungen

Die beiden Eigenvektoren legen die Richtungen des Hauptnormalspannungszustandes fest. Da neben dem Vektor e Hj auch - e Hj Eigenvektor ist, kann lediglich eine Richtung jedoch keine Orientierung der Hauptrichtungen angegeben werden. Wegen e1H e H 2  0 stehen die Eigenvektoren senkrecht aufeinander. Mit den normierten Eigenvektoren kann der Spannungstensor S auch in der Spektraldarstellung als Summe zweier dyadischer Produkte  1H H H S  1H e1H  e1H   H 2 e2  e2    0

0   H  2 

geschrieben werden. Sind die Eigenwerte des Tensors bekannt, dann können wir die Invarianten sehr komfortabel aus H H I1  1H   H 2 , I 2  1  2

berechnen. Den Eigenvektoren e1H und e H 2 entnehmen wir noch deren Neigungen gegenüber der positiven x1-Achse:

1  arctan

1H  11 , 12

 2  arctan

H 2  11 . 12

Fassen wir die Eigenvektoren spaltenweise in der orthogonalen Eigenvektormatrix  zusammen, also

eH Φ   1H,1 e1, 2

  1H eH 2 ,1 T , dann ist T  Φ  S  Φ    eH  0  2, 2 

0    diag [  1 ,  2 ] H 2  

eine Diagonalmatrix, auf deren Hauptdiagonale die Eigenwerte des Spannungstensors S stehen.

Abb. 1.14 Drehung aus dem Hauptspannungszustand um den Winkel 

Erfolgt die Drehung des Spannungszustandes mit dem Winkel  aus dem Hauptspannungszustand heraus (Abb. 1.14), dann lauten die Transformationsgesetze:

1.5 Der ebene Spannungszustand

27

1H   H H  H 2 2  1 cos 2 , 2 2 H  H H  H 2 2  22 ()  1  1 cos 2, 2 2 H  H 2  1 2 ()   1 sin 2. 2

 1 1 () 

Die Richtung der extremalen Schubspannung erhalten wir aus der letzten Gleichung mit sin 2 1 zu     / 4 . Diese extremalen Schubspannungen 1 H  1 2 (     / 4)  12   (1H   H 2 ) 2

werden Hauptschubspannungen genannt. Allerdings sind diese mit    / 4 festgelegten Schnittebenen nicht frei von Normalspannungen, vielmehr gilt:  1 1 (     / 4)   2 2 (     / 4 )   M 

1 H ( 1   H 2 ). 2

Beispiel 1-6:

An einem Punkt P einer Scheibe ist ein ebener Spannungszustand gegeben. Entwerfen Sie eine Maple-Prozedur, mit deren Hilfe die folgenden Aufgaben gelöst werden: 6. Aufstellen der Eigenwertgleichung und Berechnung der Eigenwerte, 7. Berechnung der Invarianten I1 und I2, 8. Berechnung der Hauptnormalspannungen und deren Richtungen, 9. Berechnung der Hauptschubspannungen und deren Richtungen, 10. Berechnung der Mittelspannung M, 11. Grafische Ausgabe der Hauptnormalspannungsrichtungen. Geg.: 11  56 N / mm 2 , 12  25 N / mm 2 ,  22  28 N / mm2 . Lösung: 25   56 25  56   2 , S - λ1   S   , detS - λ 1  (  56)(  28)  25  0 . 25 28  25 28       

Die Eigenwertgleichung liefert folgende Eigenwerte:

1  1H  62,88 N / mm 2 (Druck),

2  2  H 2  34,88 N / mm (Zug)

Die Invarianten der Spannungsmatrix lauten: 2 2 H H 2 4 I1  11   22  1H   H 2  28 N / mm , I 2  11 22  12  1  2  2193 N / mm .

28

1 Spannungen

Die normierten Eigenvektoren sind:  0,964  e1H   , 0, 265 

  0, 265 eH 2  .  0,964 

Die Richtungen der Eigenvektoren erhalten wir mit 1  arctan(0, 265 / 0,964)  15,38 , 2  1  90  105,38 .

Zur Berechnung des Hauptschubspannungszustandes ist das Element gegenüber dem Hauptnormalspannungszustand um   45 zu drehen. Damit ist 3  15,38  45  60,38 . Die 1 H 2 1   H 2  48,88 N / mm , und die 2 1 2  ( 1H   H 2 )  14,00 N / mm . 2

H betragsmäßig größte Schubspannung ist 12   max 

zugehörige Normalspannung errechnet sich zu  M

Abb. 1.15 Hauptachsentransformation des ebenen Spannungszustandes, alle Spannungen in N/mm2

Beispiel 1-7:

Abb. 1.16 Kragscheibe mit Rechteckvernetzung

In einer rechteckigen Scheibe der Breite b und Höhe h ist ein inhomogener Spannungszustand gegeben. Stellen Sie eine Maple-Prozedur zur Verfügung, die an den Element-

1.5 Der ebene Spannungszustand

29

Mittelpunkten P(x1,x2) die Hauptnormalspannungstrajektorien1 berechnet und diese grafisch darstellt. Dazu ist die Scheibe durch Rechteckelemente konstanter Breite x1 und Höhe x2 zu vernetzen. Die Anzahl der Elemente m und n in x1- bzw. x2-Richtung wird vom Benutzer gewählt. In den Elementmittelpunkten wird der dort herrschende ebene Spannungszustand auf Hauptachsen transformiert. Die Richtungen der Eigenvektoren ergeben das Trajektorienbild. Bei einem negativen Eigenwert liegt eine Hautdruckspannung vor, und die entsprechende Trajektorie ist rot darzustellen. Im Fall eines positiven Eigenwertes liegt eine Zugbeanspruchung vor, und die Trajektorie ist blau zu zeichnen. Die skalierte Länge der Trajektorie soll ein Maß für den Betrag der betreffenden Hauptnormalspannung sein. Geg.: x1,A  1, x1, E  13, x 2,A  1, x 2, E  6, m  10, n  6. F   1 , 11 ( x 1 , x 2 )  

12 x 1 x 2 bh 3

, 12 ( x 1 , x 2 )  

2 2F   2 x 2   1     ,  22 ( x 1 , x 2 )  0 . 3bh   h    

Hinweis: Der obige Spannungszustand stellt sich näherungsweise in einem schlanken Kragträger mit h / b  1 ein, der am linken Rand (Abb. 1.16) durch eine Einzelkraft F belastet ist.  Auch die Transformationsgleichungen des ebenen Spannungszustandes 11   22 11   22  cos 2   12 sin 2 , 2 2    22   11 sin 2   12 cos 2 , 2

1 1  12

erlauben eine geometrische Darstellung aller möglichen Spannungszustände an einem Punkt P eines belasteten Körpers in Form eines Mohrschen Spannungskreises. Mit  1 1   und

 1 2   gehen die obigen Gleichungen über in 11   22 11   22  cos 2   12 sin 2 , 2 2    22   11 sin 2   12 cos 2  . 2



Das Ziel der nachfolgenden Umformungen ist die Elimination des Drehwinkels . Dazu wird wie folgt vorgegangen:

1

Das sind diejenigen Linien, die in den betreffenden Punkten P(x1,x2) mit den beiden Hauptspannungsrichtungen zusammenfallen

30

1 Spannungen 2

2

  11      22   2 sin 2 2,  cos 2 2  12 ( 11   22 ) sin 2 cos 2  12    11    11 2 2     2

    22  2  2   11 cos 2 2.  sin 2 2  12 ( 11   22 ) sin 2 cos 2  12 2  

Die Addition der beiden obigen Gleichungen liefert:    22     11 2 

2

     22    2   11 2  

2

 2 .   12 

Die rechte Seite ist mit 11 , 22 und 12 eine bekannte Größe, die wir mit     22 r 2   11 2 

2

 2   12 

2 2 2 abkürzen. Wegen r  1 / 4[(11   22 )  4(11 22  12 )] ist der Radius r des Mohrschen        I1

I2

Spannungskreises ebenfalls eine Invariante. Setzen wir noch M 

1 (11   22 ) , 2

dann erhalten wir abschließend

   M 2   2  r 2 . Das ist die Gleichung des Mohrschen Spannungskreises für den ebenen Spannungszustand in der (,)-Ebene. Er besitzt die Mittelpunktslage (M, 0) und den Radius r.

Abb. 1.17 Der Mohrsche Spannungskreises für den ebenen Spannungszustand

1.5 Der ebene Spannungszustand

31

Sind die Spannungen 11 , 22 und 12 bekannt, dann kann der Mohrsche Spannungskreis unmittelbar konstruiert werden, allerdings ist zunächst ein geeigneter Spannungsmaßstab festzulegen. 1. Schritt:

Ausgehend von einem ()-Koordinatensystem werden die Normalspannungen 11 und 22 vorzeichengerecht auf der -Achse aufgetragen.

2. Schritt:

Die Schubspannung 12 wird ebenfalls vorzeichengerecht über 11 und dann in entgegengesetzter Richtung über 22 aufgetragen. Die so konstruierten Punkte Q und Q’ liegen auf dem Mohrschen Spannungskreis. Der Punkt Q heißt Spannungsbildpunkt.

3. Schritt:

Der noch fehlende dritte Punkt, der Mittelpunkt M des Mohrschen Spannungskreises, ergibt sich als Schnittpunkt der Verbindungslinie der Punkte Q und Q’ mit der -Achse. Damit liegt auch der Radius r des Kreises fest.

Jeder Punkt auf dem Mohrschen Spannungskreis entspricht einem gegenüber dem (x1,x2)Koordinatensystem gedrehten Spannungszustand an einem festen Punkt P des zweidimensionalen Kontinuums. Beim Ablesen der Drehwinkel ist darauf zu achten, dass beim Mohrschen Spannungskreis der doppelte Winkel, also 2, im Uhrzeigersinn, und damit mathematisch negativ, abgetragen wird (Abb. 1.17, rechts). Die Zahlenwerte der Hauptnormalspannungen 1H und  H 2 werden unter Beachtung des verwendeten Spannungsmaßstabes als Schnittpunkte des Mohrschen Spannungskreises mit der -Achse abgelesen.

Abb. 1.18 Sonderfälle des Mohrschen Spannungskreises

32

1 Spannungen

Wir wollen abschließend noch einige Sonderfälle des Mohrschen Spannungskreises betrachten. Abb. 1.18 a) zeigt ein Element, das mit 11 = 22 = 0 und 12 = 0 einem reinen Normalspannungszustand unterworfen ist. Mit M = 0 und r = 0 zieht sich der Spannungskreis auf den Punkt M zusammen. Der Hauptnormalspannungszustand hat demzufolge keine ausgezeichnete Richtung, d.h. jede Richtung ist mit  1 1   22  0 Hauptnormalspannungsrichtung. Schubspannungen treten nicht auf. Ein solcher Spannungszustand wird hydrostatischer Spannungszustand genannt. Das Element in Abb. 1.18 b) unterliegt mit 11   0 einer einachsigen Beanspruchung. Alle anderen Spannungen sind null. Ein solcher Spannungszustand tritt beispielsweise bei reiner Normalkraftbeanspruchung dünner Stäbe auf. Der Mittelpunkt des Mohrschen Spannungskreises liegt bei  M  0 / 2 . Da Schubspannungen 12 nicht auftreten, sind die Hauptnormalspannungen 1H   0 und  H 2  0 . Der Spannungskreis tangiert die -Achse. Die Hauptschubspannungen treten in Schnittebenen eines Elements auf, das gegenüber dem Ausgangszustand um 45° gedreht ist. Es ist max   0 / 2 . Abb. 1.18 c) zeigt ein Element, das mit 12 = 0 einem reinen Schubspannungszustand unterworfen ist. Wegen 11   22  0 ist M = 0, und der Mohrsche Spannungskreis hat Mittelpunktslage. Die Hauptnormalspannungen 1H   0 und  H 2    0 treten in Schnittebenen eines Elements auf, das gegenüber dem Ausgangszustand um 45° gedreht ist. Spannungszustände dieser Art finden wir beispielsweise in Elementen dünnwandiger Rohre, die einer reinen Torsionsbeanspruchung unterworfen sind. Beispiel 1-8: Entwerfen Sie eine Maple-Prozedur zur grafischen Ausgabe des Mohrschen Spannungskreises bei Vorgabe eines ebenen Spannungszustandes S. Betrachten Sie auch die Sonderfälle in Abb. 1.18.

1.5.3

Abb. 1.19

Der einachsige Spannungszustand

Einachsiger Spannungszustand in einem dünnen Stab

1.5 Der ebene Spannungszustand

33

In Bauteilen, die vorzugsweise auf Druck oder Zug beansprucht werden, kann näherungsweise ein einachsiger Spannungszustand unterstellt werden. Zu diesen Bauteilen gehören beispielsweise die Seile, Ketten und bei zentrischer Lasteinleitung auch die Stäbe. Der Stab in Abb. 1.19 wird durch eine Kraft F beansprucht, die in hinreichender Entfernung von der Lasteinleitungsstelle mit 11  F / A näherungsweise einen einachsigen Spannungszustand erzeugt. Spannungen 22 und 12 treten nicht auf. Wegen 12  0 ist die x1-Achse eine Hauptnormalspannungsachse. An einem Element, das unter dem Winkel  gegenüber dem Ausgangszustand gedreht wird, verbleiben wegen  22  0 die Spannungen (Abb. 1.20)  1 1 ( ) 

11   (1  cos 2),  2 2 ()  11 (1  cos 2),  1 2 ()   11 sin 2. 2 2 2

Abb. 1.20 Spannungsverteilung in einem Stab, gedachte Schnittführung unter dem Winkel 

Die extremalen Schubspannungen treten mit H  1 2 (     / 4)  12 

11 2

an einem Element auf, das um   45 gegenüber der Ausgangslage gedreht ist. Die die sem Drehwinkel zugeordnete Normalspannung ist  M  11 . 2

2

Deformationsgeometrie

Infolge einer Belastung wird ein realer Körper verformt. Dabei erleiden alle Körperpunkte des Kontinuums eine Verschiebung aus ihrer Bezugsplatzierung1, von der aus die Bewegung gemessen wird.

Abb. 2.1 Bewegung eines Körpers

Nach der Verschiebung befindet sich der Körper in der Momentanplatzierung. Bezugs- und Momentanplatzierung eines Punktes P sind durch den Verschiebungsvektor

u  xX miteinander verbunden, wobei es im Rahmen der hier behandelten Theorie kleiner Verformungen und kleiner erster Ableitungen der Verformungen gleichgültig ist, auf welchem Wege der Punkt P nach P´ gelangt. Der Bewegungssprung zwischen beiden Platzierungen wird als Deformation bezeichnet. Da i. Allg. jedem Punkt P ein anderer Verschiebungsvektor u zugeordnet ist, handelt es sich hierbei um ein Vektorfeld. Der Ortsvektor X legt in der Bezugsplatzierung die Lage des materiellen Teilchens P fest. Dieser Vektor ist für alle Zeiten t immer derselbe, weshalb die kartesischen Koordinaten Xi des Punktes P auch materielle Koordinaten genannt werden. Dagegen ändern sich während der Bewegung die kartesischen Koordinaten xi des Ortsvektors x eines materiellen Punktes P, darum werden diese Koordinaten auch räumliche Koordinaten genannt.

1

In der Bezugsplatzierung muss der kinematische Zustand des Körpers bekannt sein

36

2 Deformationsgeometrie

Die Beschreibung der Lageänderung eines Punktes P kann nun auf zwei grundlegend verschiedene Arten erfolgen. Bei der Lagrangeschen Betrachtungsweise ist ein Beobachter gewissermaßen mit dem Teilchen verbunden und registriert somit die relativen Änderungen infolge der Deformationsgeschichte. Der Ort des Teilchens in der Momentanplatzierung und seine Verschiebung sind dann gegeben durch x  x(X)

und

u  u(X) .

In der Eulerschen Darstellung befindet sich der Beobachter an dem festen Raumpunkt x und beobachtet das Schicksal eines dort vorbeikommenden Teilchens. Der Ortsvektor der Bezugsplatzierung und seine Verschiebung in Eulerscher Darstellung sind nun

X  X(x)

und

u  u(x) .

Die Lagrangesche Betrachtungsweise wird mit großem Erfolg in der Festkörpermechanik eingesetzt, da einerseits eine Bezugsplatzierung relativ einfach definiert werden kann und andererseits die Veränderlichkeit materieller Eigenschaften während des Deformationsprozesses mathematisch vorteilhaft durch partielle Ableitungen an den auftretenden Funktionen erfolgt. Es leuchtet sofort ein, dass die Verschiebung u eines einzelnen Körperpunktes P allein keinen Aufschluss über das lokale kinematische Verhalten geben kann, dazu ist vielmehr die Umgebung des Punktes P, etwa in Form von Linienelementen, in die Betrachtung mit einzubeziehen. Wir betrachten dazu das Linienelement dX in der Bezugsplatzierung, das infolge der Deformation in das Linienelement dx der Momentanplatzierung übergeht. Der Abb. 2.1 entnehmen wir x  Xu,

x  dx  X  dX  u  du ,

 dx  dX  du .

Der Zuwachs du ist das totale Differenzial der vektoriellen Feldfunktion u  du  (u   L )  dX , wobei wir den materiellen oder auch Lagrangeschen Nabla-Operator L 

 ej. X j

eingeführt haben. Damit folgt

 dx  dX  du  (1  u   L )  dX  (1  H )  dX . In der obigen Beziehung bezeichnet  H  u  L den Verschiebungsgradienten.

2 Deformationsgeometrie

37

Hinweis: Die Komponentenmatrix des dyadischen Produkts a  b ergibt sich als Matrixprodukt des Spaltenvektors a mit dem Zeilenvektor b als ( 3 3 )-Matrix zu

ab 

a1 a2 a3

b1 b2 a 1 b1 a 1 b 2 a 2 b1 a 2 b 2 a 3 b1 a 3 b 2

b3 a 1b 3 , a 2 b3 a 3b3

und in Matrizenschreibweise wir das dyadische Produkt in der Form a  b  ab T notiert. Der Tensor H besitzt in einer kartesischen Orthonormalbasis die Koeffizientenmatrix

 u 1,1  H   u 2 ,1  u 3,1 

u 1, 2 u 2, 2 u 3, 2

u 1, 3   u 2,3  , u 3, 3 

u i,k 

u i X k

(i,k = 1,2,3),

und kann gemäß H  E  Ω mit

 2u 1,1 1 1 T E  ( H  H )   u 1, 2  u 2 ,1 2 2  u 1, 3  u 3,1   0 1 1 T Ω  ( H  H )   u 2,1  u 1, 2 2 2  u 3,1  u 1, 3 

u 1, 2  u 2 ,1 2u 2, 2 u 2 , 3  u 3, 2 u 1, 2  u 2 ,1 0 u 3, 2  u 2 , 3

u 1, 3  u 3,1   u 2 , 3  u 3, 2  , 2u 3, 3  u 1,3  u 3,1   u 2 , 3  u 3, 2   0 

immer additiv in einen symmetrischen Teil E und einen antimetrischen Teil  zerlegt werden. Wegen det() = 0 ist die Matrix  singulär und besitzt deshalb keine Inverse. Führen wir den i. Allg. unsymmetrischen Deformationsgradienten F  1 H

mit

det F  0

ein, dann können wir auch kürzer dx  F  d X

schreiben. Wir wollen noch etwas näher auf den antimetrischen Tensor

 0 Ω    12   13

12 0   23

13   23  0 

eingehen, der mit

12  1/ 2 (u1, 2  u 2,1 ), 13  1/ 2 (u1,3  u 3,1 ), 23  1/ 2 (u 2,3  u 3, 2 ) ,

38

2 Deformationsgeometrie

lediglich drei unabhängige Komponenten besitzt, wie das auch bei einem räumlichen Vektor der Fall ist. In (Lagally, 1956) wird gezeigt, dass jedem Tensor 2. Stufe ein räumlicher Vektor zugeordnet werden kann, der nur vom antimetrischen Teil des Tensors abhängt. Um den Vektor Hx des Tensors H zu berechnen, ist dazu der Operator „  “ durch „  “ zu ersetzen, also

 H  u  L

  H x  u  L 

e1

e2

u1 u2  / X1  / X 2

 u 2 , 3  u 3, 2  e3   23    u 3   u 3,1  u 1, 3   2   13   12   / X 3  u 1, 2  u 2,1 

Setzen wir

   23  1    H x   13  , 2   12  dann können wir kürzer e1 Ω  dX    dX    23

e2 13

dX1

dX 2

e3  13 dX 3  12 dX 2   12    12 dX1   23 dX 3    13 dX1   23 dX 2  dX 3

schreiben. Es wird demzufolge das Skalarprodukt zwischen Matrix und Vektor durch das Kreuzprodukt zweier Vektoren ersetzt. Spezialisieren wir auf den ebenen Fall der (X1,X2)Ebene, dann verbleibt mit 13   23  0 : e1 Ω  dX  0

e2 0

dX1 dX 2

e3  dX 2    dX 2     12  12   dX1    21  dX1  .   dX 3 0  0 

Offensichtlich handelt es sich bei der obigen Abbildung um eine infinitesimale ebene Starrkörperdrehung (Abb. 2.2).

Abb. 2.2 Ebene Starrkörperdrehung um die X3-Achse

2 Deformationsgeometrie

39

Im Folgenden werden noch drei Sonderfälle betrachtet: 1. Besteht die Bewegung aus einer reinen Translation, so dass allen Punkten P derselbe Verschiebungsvektor u = u0 zugeordnet ist, dann gilt: H  0, F  1, E  Ω  0 . 2. Im Fall einer endlichen Starrkörperdrehung ändern sich weder Längen noch Winkel zwischen zwei beliebigen Linienelementen. Dreht beispielsweise der Körper um die 3-Achse mit dem Winkel 3, dann sind cos  3  1  sin  3 0  cos  3  sin  3 0    cos  3 0  , F   sin  3 H  F - 1   sin  3 cos  3  1 0  ,   0 0 0  0 0 1

0 0 cos  3  1 1  T E  (H  H )   0 cos  3  1 0  . 2  0 0 0  Für den antimetrischen Tensor  erhalten wir

 0 1 1 T T Ω  ( H  H )  ( F  F )  sin  3 2 2  0

 sin  3 0 0

0 0  . 0 

3. Die reine Dilatation1 ( > 0) sowie die reine Kompression ( < 0) sind durch den Kugeltensor H   1 gekennzeichnet. Damit folgen: F  (  1) 1, H  E  1, Ω  0 . Beispiel 2-1:

Abb. 2.3 a) Einfache Scherung, b) Reine Scherung

Stellen Sie eine Maple-Prozedur zur Verfügung, die bei einem vorgegebenen Verschiebungsfeld u folgende Größen berechnet: 1. Den Verschiebungsgradienten H 2. Den Deformationsgradienten F

1

zu lat. dilatare ›ausdehnen, erweitern‹

40

2 Deformationsgeometrie

3. Den symmetrischen Anteil (E) von H 4. Den antimetrischen Anteil () von H. Wenden Sie die Prozedur auf folgende Verschiebungsfelder an (Abb. 2.3): 1. Einfache Scherung: u 1   X 2 , u 2  0, u 3  0 , 2. Reine Scherung: u 1   X 2 , u 2   X1 , u 3  0 . Lösung: Wir beschränken uns hier auf den Fall der einfachen Scherung. Der Fall der reinen Scherung kann dem Maple-Arbeitsblatt zu diesem Kapitel entnommen werden. Außer u 1 / X 2  u 1, 2   sind für den Fall a) alle Ableitungen null. Damit folgen:

 / 2 0  0  0  / 2 0 1  0  0  0         H  0 0 0  , F   0 1 0  , E    / 2 0 0 , Ω     / 2 0 0  .  0  0  0 0 1  0 0 0  0 0  0 0 Der dem antimetrischen Tensor  zugeordnete Vektor  ergibt sich zu:   0 0   / 2 T . Wir untersuchen die Transformation der Kantenvektoren des Einheitswürfels: F  e1  e1 , F  e 2   e1  e 2 , F  e 3  e 3 .

Die Abbildung dx  F  dX stellt hier die einfache Scherung dar (Abb. 2.3), und der skalare Faktor  wird Scherzahl genannt.

2.1

Polarzerlegung des Deformationsgradienten

Wie in (Trostel R. , 1993) gezeigt wird, kann der Deformationsgradient F auf zwei Arten multiplikativ zerlegt werden: F  RU

F  VR .

und

In beiden Darstellungen bezeichnet R einen orthogonalen Tensor ( R T  R 1 ), der im Falle det F  0  det R  1 Versor genannt wird und die lokale reine Drehung beschreibt. Die Tensoren U (rechter Streckungstensor) und V (linker Streckungstensor) sind ein Maß für die lokale Deformation und stellen symmetrische Verzerrungstensoren dar. Beide Tensoren U und V besitzen jeweils eine positive Determinante. Mit dem rechten Cauchy-Green-Tensor C und dem linken Cauchy-Green-Tensor B folgen C  FT F  UT  RT  R  U  U2 T

T

T

B  F F  V R R V  V

2

U C ,

V  B .

2.1 Polarzerlegung des Deformationsgradienten

41

Es ist noch die Orthogonalität von R zu zeigen. Mit R  F  U -1 erhalten wir: R T  R  U -T  F T  F  U -1  U -1  U 2  U -1  1

 R T  R 1 .

Der Rechengang der Polarzerlegung für den in einer Orthonormalbasis gegeben Deformationsgradienten F stellt sich dann rezeptartig wie folgt dar: 1. 2. 3.

Berechnung der symmetrischen Tensoren C  F T  F und B  F  F T . Berechnung der Eigenwerte j von C und B aus ihrer gemeinsamen charakteristischen Gleichung. Die Wurzel der Eigenwerte von C und B sind die Eigenwerte von U und V. Berechnung der Eigenvektoren n und n von C und B. Diese sind gleich den Eigenvektoren von U und V. Damit liegen die Tensoren U und V vor: U  1 n1  n1   2 n 2  n 2   3 n 3  n 3 , V  1 n1  n1   2 n 2  n 2   3 n 3  n 3 .

4.

Es lässt sich ebenfalls ermitteln

U -1  5.

1 1 1 n1  n1  n 2  n 2  n3  n3 . 1 2 3

Der orthogonale Tensor R ergibt sich dann aus R  F  U -1  V 1  F .

Hinweis: Die Ausdrücke C und B sind als Matrizenfunktionen zu verstehen, zu deren Berechnung wir die Eigenwerte und Eigenvektoren der entsprechenden Tensoren benötigen. Maple stellt uns hierzu die Prozedur MatrixFunction zur Verfügung. Die lineare Abbildung x  F  X kann kinematisch als lokale homogene Verformung des deformierbaren Kontinuums gedeutet werden, bei der Geraden wieder in Geraden übergeführt werden, und ursprünglich parallele Linien auch nach der Deformation wieder parallel sind. Stellen wir den Vektor X  X1n1  X 2 n 2  X 3n 3

im Hauptachsensystem von U dar, dann ist mit F  1 n1  n1   2 n 2  n 2   3 n 2  n 3

x  F  X  1 X1 n1   2 X 2 n 2   3 X 3 n 2  X1 n1  X 2 n 2  X 3 n 2 .

42

2 Deformationsgeometrie

Abb. 2.4 Verformung eines Einheitswürfels, Streckung mit anschließender Drehung

Die Hauptachsen (Eigenvektoren) des rechten Streckungstensors U legen in der undeformierten Ausgangslage die Richtungen derjenigen orthogonalen Linienelemente fest, die infolge der Deformation extremale Streckungen erleiden. Ein Einheitswürfel mit den Kanten in den Richtungen von n1, n2, n3 wird infolge der Abbildung F  R  U zunächst durch U gestreckt und geht dann durch eine Drehung mit R über in einen Quader mit den Kanten 1 n1 ,  2 n 2 ,  3 n 3 (Abb. 2.4). Beispiel 2-2: Schreiben Sie eine Maple-Prozedur, mit deren Hilfe die Polarzerlegungen F  R  U  V  R durchgeführt werden. Die Komponenten der Matrix F werden in einer kartesischen Orthonormalbasis an die Prozedur zu übergeben. Im Einzelnen sind zu berechnen: 1. Die Matrizen C  F T  F , B  F  F T , U, V, R. 2. Die Eigenwerte und Eigenvektoren von U und V. 3. Führen Sie die Polarzerlegungen mit folgenden Deformationsgradienten durch: 1  0  1  0   1 0, 6 0        a) F  0 1 0  , b) F    1 0     , c) F  0 1, 2 0  . 0 0 1  0 0 1  0 0 1 

Der Fall a) wird einfache und der Fall b) reine Scherung genannt. Wir beschränken uns hier auf die Fälle b) und c). Der Fall a) kann dem Maple-Arbeitsblatt entnommen werden. Lösung zu b): Aufgrund der Symmetrie von F sind C und B identisch. Das gilt dann auch für U und V. Maple liefert uns: 1   2 2 0   T 2 C  B  F  F   2 1  0 .  0 0 1   Die Eigenwerte und Eigenvektoren von C und B erhalten wir zu:

2.1 Polarzerlegung des Deformationsgradienten

43

 (1   ) 2   1    1  1 0      (U) (C) ( C,B) ( C,B) 2 Λ     1   .   1 1 0 , Φ Λ   (1   )  ,  1   1  0 0 1     Die Wurzeln der Eigenwerte von C und B sind die Eigenwerte von U und V, und die Eigenvektoren von C und B sind gleich den Eigenvektoren von U und V. Rechter und linker Streckungstensor ergeben sich zu U  V  F , und für die Inverse von U folgt:

U

-1

 1 /(1   2 )   /(1   2 ) 0        /(1   2 ) 1 /(1   2 ) 0  ,  0 0 1  

R  FU

1

 F F

1

 1 0 0   0 1 0   1 .  0 0 1

Ein ursprünglich nach den Hauptachsen von U bzw. F orientiertes Element erfährt also eine reine Streckung (Abb. 2.5, rechts).

Abb. 2.5 Die reine Scherung ( > 0)

Lösung zu c):  1 0, 6 0  C  F T  F  0,6 1,8 0  ,  0 0 1 

1,36 0,72 0  B  F  F T  0,72 1, 44 0  .  0 0 1 

Eigenwerte und Eigenvektoren von C: Λ

(C)

0,679   2,121 ,  1 

Φ

(C)

  0,882  0, 472 0    0, 472  0,882 0  .  0 0 1

Eigenwerte und Eigenvektoren von B (Die Eigenwerte von B sind gleich den Eigenwerten von C):

44

0,679 Λ ( B )   2,121 ,  1 

2 Deformationsgeometrie

  0,726  0,687 0  Φ ( B)   0,687  0,726 0  ,  0 0 1

 0,824  Λ ( C )  Λ ( B )  1, 456  ,  1 

 1,096  0, 219 0     0, 219 0,804 0  ,  0 0 1

 0,965 0, 263 0  U  0, 263 1,316 0  ,  0 0 1

U

 1,123 0,316 0  V  0,316 1,158 0  ,  0 0 1

 0,965 0, 263 0  R  F  U 1    0, 263 0,965 0  .  0 0 1

-1

Abb. 2.6 Polarzerlegung des Deformationsgradienten F

Erfolgt die Abbildung in der Form F  R  U (Abb. 2.6), dann wird das Element zuerst mit U gestreckt und anschließend mit dem Winkel  gedreht. Lautet die Abbildung F  V  R , dann wird zuerst mit  gedreht und anschließend mit V gestreckt. Beispiel 2-3:

Für den Deformationsgradienten 0 0  1   0  F  (1   ) 1   0 1    0 0 1   

( 1     ),

und damit H  E   1 , ist eine Polarzerlegung vorzunehmen. Benutzen Sie dazu die in Beispiel 2-2 bereitgestellte Maple-Prozedur. Lösung: Wegen C  B  (1   ) 2 1 besitzen C und B die dreifachen reellen Eigenwerte ( A )  ( B)  1   2 . Maple liefert uns die Eigenvektormatrizen Φ ( A )  Φ ( B)  1 . Damit

2.1 Polarzerlegung des Deformationsgradienten

45

1 1 folgt für den orthogo1  nalen Drehtensor R  1 . Die Kontrolle zeigt: F  R  U  V  R .

sind die Streckungstensoren U  V  (1   ) 1  F . Mit U -1 

Hinweis: Der Deformationsgradient F  (1  ) 1 beschreibt für 1    0 eine Kompression und für   0 eine Dilatation des Kontinuums.

2.1.1

Der Versor

Versoren stellen eine spezielle Menge von Tensoren 2. Stufe dar, die im Zusammenhang mit Starrkörperdrehungen zum Einsatz kommen (Trostel R. , 1993). Hierbei handelt es sich um Transformationen der Form x  R  X , wobei an die Vektoren 3

X



3

Xi Ei 

i 1

3

 X  E i  E i

x

und

i 1



3

x i ei 

i 1

 x  e  e i

i

i 1

folgende Forderungen geknüpft werden: 1. Ihre Beträge und 2. ihre relative räumliche Orientierung sollen bei der Drehung erhalten bleiben. Damit ist unter Beachtung der ersten Forderung 3

x

3

 x  e e  X  E e i

i

i

i 1

i 1

i

   

3

e

i

i 1

  Ei   X  R  X .  

Der Versor R erscheint hier in der gemischten Darstellung 3

R

e

i

 Ei .

i 1

Andererseits ist 3

X

3

  X  E  E   x  e  E i

i 1

i

i

i 1

i

   

3

E i 1

i

  ei   x  R T  x .  

Damit folgen

X  R -1  x  R T  x  R T  R 1 , R  R T  1 . Weiterhin können wir folgende Sachverhalte feststellen:

R  R T  R 1  R  1  det (R  R T )  det R det R T  (det R) 2  det 1  1 . Die dritte Invariante ergibt sich somit zu det R  1 . Im Falle det R = +1 sprechen wir von einem Rechtssystem, und für det R  1 liegt ein Linkssystem vor. Soll also die relative

46

2 Deformationsgeometrie

räumliche Orientierung eines Rechtssystems erhalten bleiben, dann ist det R = +1 zu fordern. Tensoren mit den Eigenschaften R T  R 1 und det R  1 heißen Versoren. Demzufolge ist wegen 1  1T  11 der Einheitstensor ebenfalls ein Versor, der die identische Abbildung vermittelt. Wir sind noch an einer Komponentendarstellung des Versors interessiert. Dazu transformieren wir die gemischte Darstellung von R auf eine einheitliche Vektorbasis und setzen dazu den Einheitsvektor 3

Ei 

 E  e i

k

3

 ek



k 1

r

ik

ek ,

rik  cos  (E i , e k )

k 1

als Linearkombination der Einheitsvektoren ek an. Dann ist  r11 R ei  Ei  rik e i  e k   r21 i 1 i , k 1  r31 3



3



r12 r22 r32

r12  r23  r33 

. ei

Andererseits hätten wir auch den Einheitsvektor 3

ei 

 e i  E k E k

3



k 1

r

ki

Ek .

k 1

als Linearkombination der Einheitsvektoren Ek darstellen können, was zu  r11 R ei  Ei  rki E k  E i  rik E i  E k   r21 i 1 i , k 1 i 1, k  r31 3



3



3



r12 r22 r32

r12  r23  r33 

Ei

geführt hätte. Offensichtlich ergibt sich in beiden Basissystemen dieselbe Komponentendarstellung des Versors R. Wie wir oben gesehen haben, werden zur Aufstellung eines Versors die 9 Richtungskosinusse rik  cos  (E i , e k ) benötigt. Wichtiger für praktische Anwendungen ist dagegen die Aufstellung des Versors R bei Kenntnis der Drehachse und des Drehwinkels Abb. 2.7. Hat die Drehachse die Richtung des Einheitsvektors n, dann ist nach (Lagally, 1956): R  n  n  (1  n  n ) cos   n  1 sin   n 12  (1  n 12 ) cos  n 1 n 2 1  cos    n 3 sin  n 1 n 3 1  cos    n 2 sin    .   n 1 n 2 1  cos    n 3 sin  n 22  (1  n 22 ) cos  n 2 n 3 1  cos    n 1 sin    n n 1  cos    n sin  n n 1  cos    n sin  n 2  (1  n 2 ) cos   2 2 3 1 3 3  1 3 

In der obigen Beziehung bedeutet das Kreuzprodukt von n mit dem Einheitstensor 1

2.1 Polarzerlegung des Deformationsgradienten

47

n2   0  n3  n 1  n j e j  ek  ek  n j  jkm e m  e k   n 3 0  n1  ,    j, k 1 j,k,m 1   n 2 n1 0    jkm e m 3

3





und jkm steht für das dreifach indizierte Permutationssymbol1

 1   jkm   1  0 

falls jkm eine gerade Permutation von 1,2,3 ist , falls jkm eine ungerade Permutation von 1,2,3 ist , falls jkm keine Permutation von 1,2,3 ist.

Beispiele dazu sind:  312  1 ,  321  1 , 122  0 , und es gilt  ijk   kij   ikj   kji . Zur Berechnung des Permutationssymbols stellt Maple die Prozedur LeviCivita zur Verfügung.

Abb. 2.7 Starrkörperdrehung um eine Raumachse n mit dem Winkel 

Der Versor R besitzt die drei Hauptinvarianten R 1 (  )  Sp ( R )  1  2 cos  , R 2 ( ) 

1 [Sp 2 ( R )  Sp ( R 2 )]  1  2 cos  , 2

R 3  det R  1 .

Im Sonderfall der Drehung um die 3-Achse verbleibt wegen n 1  n 2  0 und n 3  1 : cos   sin  0  R   sin  cos  0  .  0 0 1

Für kleine Drehwinkel     1 und damit cos   1, sin    erhalten wir die linearisierte Form des Versors R (  , n )  1    n  1 .

1

Tullio Levi-Civita, italien. Mathematiker, 18731941

48

2 Deformationsgeometrie

Hinweis: Im Sonderfall der Drehung mit    spricht man von einer Umklappung oder auch Spiegelungsverformung, die für unsere Anwendungen ausgeschlossen sein soll, und es verbleibt der uneigentliche Versor R (    )  2n  n  1 . Sollen nun umgekehrt bei vorgegebenem Versor R die Drehachse in Richtung von n und der Drehwinkel  gefunden werden, dann benötigen wir dazu den Vektor des Tensors R, den wir mit Rx bezeichnen (Lagally, 1956). Wir erhalten ihn, indem wir in der Definition für den Versor R den Operator „  “ durch „  “ ersetzen, also R x  n  n  (1 x  n  n ) cos   ( n  1) x sin   (n  1) x sin   2n sin  .   0

Führen wir nun statt n den Drehvektor w  n tan( / 2) mit w  w  tan( / 2) ein, dann erhalten wir nach kurzer Rechnung sin  

2w 1 w 2

,

cos  

1 w 2 1 w 2

,

R1 

3 w2 1 w 2

,

Rx  

4w 1 w 2

,

und für den Drehvektor folgt w

Rx . 1 R 1

Der Einheitsvektor n in Richtung der Drehachse ergibt sich zu n

w w ,  w tan( / 2)

und der Drehvektor d kann dann in der Form d   n dargestellt werden. Für kleine Drehwinkel   1 gilt übrigens x  R  X  (1   n  1)  X  X   n  X , und damit x - X  u   n  X   d  X .

Beispiel 2-4: Schreiben Sie eine Maple-Prozedur, die bei Vorgabe der Drehachse in Richtung von n und des Drehwinkels  den Versor R  n  n  (1  n  n ) cos   n  1 sin  berechnet. Geg.: n T  1 / 3 1 1 1 (Raumdiagonale), : beliebig. Lösung: Maple liefert uns  1  2 cos  1  cos   3 sin  1  cos   3 sin    1 1  2 cos  1  cos   3 sin   . R  1  cos   3 sin  3 1  cos   3 sin  1  cos   3 sin  1  2 cos    

2.1 Polarzerlegung des Deformationsgradienten

49

Speziell für    / 2 ist  1 1  3 1  3   0,3333  0, 2440 0,9107   1 1 1  3    0,9107 0,3333  0, 2440  . R  1  3 3 1 3 1 3 1   0, 2440 0,9107 0,3333  

Beispiel 2-5: Entwerfen Sie eine Maple-Prozedur, mit deren Hilfe der Einheitsvektors n in Richtung der Drehachse, der Drehwinkel  sowie der Drehvektor d   n eines Versors berechnet werden können. 1. Wenden Sie die Prozedur auf den Tensor  1  4 8 1 R  8 4 1 9   4 7 4 

an. Prüfen Sie zunächst, ob es sich bei R tatsächlich um einen Versor handelt, und berechnen Sie neben n und  dessen drei Hauptinvarianten. 2. Berechnen Sie ferner n und  des Versors aus Beispiel 2-2. Lösung zu 1.: Es wird zunächst geprüft, ob R ein Versor ist. Maple liefert uns R  R T  1 und R 3  det R  1 . Damit ist R ein Versor. Die verbleibenden Hauptinvarianten von R 1  1 2  2 2 sind: R 1  Sp ( R )  1 , R 2  [Sp ( R )  Sp ( R )]  1 . Mit R x    2  folgen: 2 3  2  1  Rx 1 w 2 w 1  2w , cos    0.  w , sin   w  2 , w  w  1 , n   1 w 1 R1 3 1 w 2 1 w 2  2 



1     90 , Drehvektor: d   n   2  . 2 6  2 

Lösung zu 2.: Für den Versor aus Beispiel 2-2 liefert uns Maple den Drehwinkel   15, 26 und den Drehvektor d   n  0 0  0, 2663  .

50

2 Deformationsgeometrie

2.2

Verzerrungstensoren

In Abb. 2.8 sind zwei Linienelemente dXk und dXj in der Bezugsplatzierung gezeigt, die infolge der Deformation des Körpers in die Linienelemente dxk und dxj der Momentanplatzierung übergehen. In der Bezugsplatzierung schließen beide Elemente den Winkel jk und in der Momentanplatzierung den Winkel  jk ein.

Abb. 2.8 Längen- und Winkeländerungen materieller Linienelemente

Beide Elemente werden infolge des Deformationsprozesses ihre Längen und ihre relative Lage zueinander verändert haben. Um diese Sachverhalte aufzudecken, betrachten wir das Skalarprodukt der Linienelemente

dx j  F  dX j  F  n j L j ,

dx k  F  dX k  F  n k L k

und erhalten

dx j  dx k  d j d k cos  jk  (F  dX j )  (F  dX k )  n j  F T  F  n k dL j dL k . Insbesondere gilt für das Betragsquadrat von dxj 2

dx j  dx j  dx j  d 2j  n j  F T  F  n j dL2j . In der Theorie großer elastischer Verformungen finden verschiedene Verzerrungstensoren Verwendung, von denen hier einige genannt werden: 1.) Der rechte Streckungstensor, oder auch Richterscher1 Streckungstensor:

D (R)  U  C  F T  F  1  H  H T  H T  H . 2.) Der Greensche2 Verzerrungstensor: D(G ) 

1 2 1 ( U  1)  (C  1) . 2 2

1

Hans Richter, 19121978

2

George Green, engl. Mathematiker und Physiker, Autodidakt, 17931841

2.2 Verzerrungstensoren

51

3.) Der Dehnungstensor: D(E)  U  1 .

4.) Der Henckysche1 oder logarithmische Verzerrungstensor

D ( L )  ln U 

1 ln C . 2

Infolge des Terms H T  H sind alle oben aufgeführten Verzerrungstensoren nichtlinear in H, und somit auch in den Verschiebungen u, weshalb auch von geometrischer Nichtlinearität gesprochen wird. Die Verzerrungstensoren sind dimensionslos und lassen sich entweder durch F oder H ausdrücken. Beispielsweise erhalten wir für den Greenschen Verzerrungstensor D(G ) 

1 T 1 ( F  F  1)  ( H  H T  H T  H) , 2 2

und für den auf die Hauptachsen von U bezogenen logarithmischen Verzerrungstensor errechnen wir H H H D ( L )  ln 1 n1H  n1H  ln  2 n H 2  n 2  ln  3 n 3  n 3 ,

wobei gezeigt werden kann, dass die Eigenwerte j eines positiv definiten2 symmetrischen Tensors stets positiv sind. Die Verzerrungen lassen sich nicht nur durch den rechten Cauchy-Green-Tensor C oder durch den rechten Streckungstensor U beschreiben, sondern durch jeden anderen Tensor, der mit U durch eine invertierbare Funktion verknüpft ist. Eine spezielle durch (Seth, 1964) und (Hill, 1968) initiierte Familie von generalisierten Verzerrungstensoren bilden mit m  — die Tensoren E (mGen ) 

1 ( U m  1) m

E (0Gen )  ln U

m  0 oder m  0.

mit den wichtigen Spezialfällen m  2:

E (2Gen )  1 / 2 ( U 2  1) : Greenscher Verzerrungstensor

m  1:

E1( Gen )  U  1 :

Dehnungstensor

m  0:

E (0Gen )

Henckyscher Verzerrungstensor

 ln U :

1

Heinrich Hencky, deutsch. Bauingenieur, 18851951

2

Ein Tensor A heißt positive definit, wenn gilt x  A  x  0 für alle Vektoren x  0

52

2 Deformationsgeometrie

Damit liegen unendlich viele Verzerrungstensoren vor, die alle durch den rechten Streckungstensor U bzw. den Verschiebungsgradienten H festgelegt sind. Für alle gilt:    

Die Verzerrungstensoren sind symmetrisch. Die Verzerrungstensoren besitzen gleiche Eigenvektoren (sind also koaxial). In der Bezugsplatzierung sind die Verzerrungstensoren null. Im Falle von Starrkörperbewegungen sind die Verzerrungstensoren null.

Hinweis: Sind die Gesamtverzerrungen klein, dann kann zwischen den verschiedenen generalisierten Verzerrungsmaßen nicht mehr unterschieden werden. Beispiel 2-6: Es soll eine Maple-Prozedur entworfen werden, die bei Vorgabe des Deformationsgradienten F und des Parameters m der generalisierten Verzerrungen den zugehörigen Verzerrungstensor E (mGen) berechnet. Wenden Sie die Prozedur auf den Deformationsgradienten der einfachen Scherung aus Beispiel 2-1 mit der Scherzahl  = 0,6 und den Parametern m = {0,1,2} an. Lösung: Maple liefert uns

 0,9578 0, 2873 0   1 0, 6 0    F  0 1 0  , U  0, 2873 1,1302 0  ,  0 0 1  0 0 1

m = 2:

 0 0,3 0  0,3 0,18 0  (G )   E (Gen) D 2  ,  0 0 0 

m = 1:

E1(Gen)

m = 0:

  0,0850 0, 2832 0   0, 2832 0,0850 0  (L)   E (Gen) D 0  .  0 0 0 

D

(E)

  0,0422 0, 2873 0    0, 2873 0,1302 0  ,  0 0 0 

Der Greensche Verzerrungstensor D

(G )

 d 11   d 12  d 13

d 12 d 22 d 23

d 13  d 23  d 33 



2.2 Verzerrungstensoren

53

wird häufig bei nichtlinearen Ingenieurproblemen eingesetzt. In einer Orthonormalbasis besitzt dieser Verzerrungstensor folgende Komponenten:

d11  1 / 2 ( 2u 1,1  u 12,1  u 22 ,1  u 32,1 ) , d 22  1 / 2 ( 2u 2 , 2  u 12, 2  u 22, 2  u 32, 2 ) , d 33  1 / 2 ( 2u 3,3  u 12,3  u 22,3  u 32,3 ) , d12  1 / 2 ( u 1, 2  u 2,1  u1,1u 1, 2  u 2,1u 2, 2  u 3,1u 3, 2 ) , d13  1 / 2 ( u 1,3  u 3,1  u 1,1u 1,3  u 2,1u 2,3  u 3,1u 3,3 ) , d 23  1 / 2 ( u 2 ,3  u 3, 2  u 1, 2 u 1, 3  u 2 , 2 u 2 ,3  u 3, 2 u 3, 3 ) . Führen wir im Sinne von Cauchy1 die Dehnung

 jj 

d j  dL j dL j



d j dL j

1

ein, dann erhalten wir

 jj  n j  F T  F  n j  1

und

cos  jk 

n j  FT  F  nk (1   jj )(1   kk )

und mit F T  F  1  2D (G) können wir dafür auch

 jj  1  2d jj  1

und

cos  jk 

cos α jk  2d jk (1   jj )(1   kk )

schreiben.

Abb. 2.9 Anfänglich orthogonale Linienelemente, Schubverformung

1

Augustin Louis Baron Cauchy, frz. Mathematiker, 17891857

,

54

2 Deformationsgeometrie

Im Spezialfall anfänglich orthogonaler Linienelemente (Abb. 2.9) mit  jk   / 2 , und damit

cos  jk  0 , erhalten wir unter Beachtung von  jk   / 2   jk , cos  jk  sin  jk für jk die Beziehung sin  jk 

2d jk (1   jj )(1   kk )



2d jk (1  2 d jj )(1  2 d kk )

.

Die Größe jk wird Gleitung oder auch Scherung genannt, und das Indexpaar (j,k) zeigt an, dass es sich um die Winkeländerung in der (j,k)-Ebene handelt. Aufgrund der Symmetrie des Greenschen Verzerrungstensors gilt  jk   kj . Drücken wir die Komponenten des Greenschen Verzerrungstensors durch die Dehnungen jj und die Gleitwinkel jk anfänglich orthogonaler Linienelemente aus, dann erhalten wir

D(G ) 

11 ( 2  11 )  1 ( 1   11 )(1   22 ) sin  12 2  (1  11 )(1   33 ) sin  13

(1  11 )(1   22 ) sin  12  22 ( 2   22 ) (1   22 )(1   33 ) sin  23

(1  11 )(1   33 ) sin  13  (1   22 )(1   33 ) sin  23  .   33 ( 2   33 )

Im einachsigen Fall (hier der 1-Richtung) gilt für die Cauchy-Dehnung

11 

d 1 1 dL1

oder

d 1  11  1 . dL1

Logarithmieren wir die letzte Beziehung, dann folgt

1  ln (11  1)  1/ 2 ln (1  2 d11 ) , wobei mit  d  1  ln  1   dL1 

der in der Umformtechnik interessierende Umformgrad1 eingeführt wurde.

2.2.1

Geometrische Linearisierung

Die bisher notierten Zusammenhänge für die Dehnungen und Gleitungen sind hochgradig nichtlinear und bereiten hinsichtlich der praktischen Anwendung erhebliche Schwierigkeiten. Wir sind deshalb daran interessiert, diese Ausdrücke zu linearisieren. Können wir bei der Berechnung der Verzerrungen mit

1

Paul Ludwik, österr. Maschinenbauingenieur, 18781934

2.2 Verzerrungstensoren  H  u  L 

55 3

3

u i

 X i 1 k 1

 1

k

kleine Beträge der Verschiebungsableitungen unterstellen, was für die meisten ingenieurtechnischen Anwendungen der Fall ist, dann geht nach dem Streichen des nichtlinearen Terms H T  H der Greensche Verzerrungstensor über in den klassischen Verzerrungstensor E

 1 1  ( H  H T )  ( L  u  u   L ) . 2 2

Beachten wir ferner R  F  U 1  (1  H )  (1  H  H T  H T  H ) 1 / 2  (1  H )  (1  E )  O ( H )  1  Ω  O ( H )  1  Ω ,

dann müssen im Fall der geometrischen Linearisierung neben den Verzerrungen auch die Drehungen klein sein. Für den rechten Cauchy-Green-Tensor bedeutet die Linearisierung C  U 2  F T  F  1  H  H T  H T  H  1  2E

und damit U -1  1  E ,

U  1 E ,

Hinweis: Die Verwendung des linearen Verzerrungstensors E bietet erhebliche mathematische Vorteile, insbesondere gilt bei linearen Differenzialgleichungen das Superpositionsprinzip, das mit großem Erfolg in weiten Bereichen der Technischen Mechanik zum Einsatz kommt. Für die Matrixdarstellung des klassischen Verzerrungstensors erhalten wir

 u 1,1 1 / 2( u 1, 2  u 2 ,1 ) 1 / 2( u 1, 3  u 3,1 )   11 1 / 2  12 1 / 2  13     E u 2, 2 1 / 2( u 2 , 3  u 3, 2 )   1 / 2  12 1 / 2  23  ,  22 sym.  1 / 2  13 1 / 2  23 u 3, 3  33    auf dessen Hauptdiagonale die Dehnungen selbst und auf den Nebendiagonalen die halben Gleitungen stehen. Dass bei der Anwendung geometrisch linearisierter Verzerrungsmaße auch die Drehungen klein sein müssen, sehen wir wie folgt. Wir betrachten dazu das bereits behandelte Beispiel einer Starrkörperdrehung mit dem Winkel 3 um die X3-Achse. Dann ist

cos  3 F   sin  3  0

 sin  3 cos  3 0

0 0  , 1 

 C  FT F  1 ,

 D(G )  0 .

56

2 Deformationsgeometrie

Bei einer reinen Starrkörperdrehung dürfen keine Verzerrungen auftreten, was auch mit D ( G )  0 bestätigt wird. Beachten wir

cos  3  1  sin  3 0  cos  3  1 0  , H  F  1   sin  3  0 0 0  dann folgen 0 0  cos  3  1  0 cos  3  1 0  , E  0 0 0 

 0 Ω  sin  3  0

 sin  3 0 0

0 0  . 0 

Bei der Verwendung des klassischen Verzerrungstensors E als Verzerrungsmaß kann ein verzerrungsfreier Zustand näherungsweise nur unter der Bedingung  3  1 und damit cos 3  1 erreicht werden. Mit sin  3   3  1 sind dann auch die Drehungen klein. Hinweis: In (Backhaus, 1983) wird gezeigt, dass die Drehungsanteile in  dann verschwinden, wenn das Achsenkreuz die Drehung des materiellen Elementes mitmacht1. Der Verschiebungsgradient enthält dann nur noch (kleine) Verzerrungsanteile. Beispiel 2-7:

Abb. 2.10 Kreisförmig gebogener Stab, Radius R

Abb. 2.10 zeigt einen Stab, dessen ursprünglich gerade Achse in der (X1,X2)-Ebene kreisförmig mit dem Radius R gebogen wurde. Infolge der Biegung geht der Punkt P(X1,X2) von der gestreckten Bezugsplatzierung über in den Punkt P‘(x1,x2) der Momentanplatzierung. Der Abb. 2.10 entnehmen wir unter Beachtung von X1 = R und damit   X 1 / R :

1

auch als Updated-Lagrange-Formulierung bezeichnet

2.2 Verzerrungstensoren

 X1  X   X 2  ,  X 3 

57

( R  X 2 ) sin   x 1   X1  a  X 2 sin   b  X 2 cos    R  ( R  X 2 ) cos  . x   x 2     x 3   0   0 

Damit folgt der Verschiebungsvektor  u1  ( R  X 2 ) sin   X1  u  x  X   u 2    ( R  X 2 )(1  cos )  .  u 3   0  Die Komponenten des Verschiebungsgradienten errechnen wir zu u 1  (1  X 2 / R ) cos   1, X1

u 1   sin , X 2

u 2  (1  X 2 / R ) sin , X1

u 2  cos   1. X 2

Führen wir noch die dimensionslose Größe  2  X 2 / R ein, dann erhalten wir den Verschiebungsgradienten (1   2 ) cos   1  sin  0  H   (1   2 ) sin  cos   1 0  , 0 0 0  

(1   2 ) cos   1 (1   2 ) sin  0   sin  cos   1 0  H   0 0 0   T

sowie dessen symmetrischen bzw. antimetrischen Anteil 1    (1   2 ) cos   1  2  2 sin  0    1   2 sin  cos   1 0  , E 2     0 0 0   

1   0  ( 2   2 ) sin  0   2 1  0 0 . Ω   ( 2   2 ) sin  2    0 0 0   

Der symmetrische Anteil von H entspricht dem klassischen Verzerrungstensor E. Der Deformationsgradient F und der rechten Cauchy-Green-Tensor C folgen zu (1   2 ) cos   sin  0  F  H  1   (1   2 ) sin  cos  0  ,  0 0 0 

 (1   2 ) 2 0 0    C  FT F   0 1 0 .  0 0 1  

C besitzt bereits Diagonalgestalt, womit sich eine Transformation auf Hauptachsen zur Be-

rechnung von U  C erübrigt. Die Polarzerlegung F  R  U des Deformationsgradienten liefert unter der Voraussetzung ξ 2  1 :

58

2 Deformationsgeometrie

cos   sin  0  R   sin  cos  0  ,  0 0 1

1   2 0 0  0 1 0  , U    0 0 1

und der Versor R liegt bereits in Normalform vor. Durch die Abbildung dx  F  dX werden somit ursprünglich in Achsrichtung orientierte Stabelemente dX zunächst mit dem Faktor 1   2 gestreckt und anschließend mit dem Drehwinkel  um die 3-Achse gedreht. Der Greensche Verzerrungstensor

D(G )

  1  2  2 ( 2   2 ) 0 0 1  (C  1)   0 0 0   2  0 0 0  

besitzt mit d11  1 / 2  2 ( 2   2 ) nur eine von null verschiedene Komponente, aus der wir die Cauchy-Dehnung 11  1  2d11  1  1   2 ( 2   2 )  1   2   X 2 / R ermitteln. Ist

 2  1 , etwa bei einer dünnen Blattfeder, dann sind die Verzerrungen d11 und die CauchyDehnungen 11 klein. Für X2 < 0 werden ursprünglich parallel zur Stabachse liegende Fasern gedehnt und für X2 > 0 gestaucht. Die Stabachse bleibt mit X2 = 0 dehnungsfrei, sie wird deshalb auch neutrale Faser genannt. Im Fall d11  1 dürfen wir näherungsweise

11  1  2d11  1  d11  1 / 2 2 ( 2   2 )   2  1 / 2 22 setzen. Obwohl die Verzerrungen klein sind, ist wegen der großen Gesamtverformungen das Kriterium H   1 nicht erfüllt. Deshalb dürfen wir den Greenschen Verzerrungstensor D(G) nicht durch den klassischen Verzerrungstensor E ersetzen. Beispielsweise würde die Verwendung von E mit 11  (1   2 ) cos   1 bei einer Drehung des Stabelementes mit  = /2 zu einer Dehnung 11  1 führen, womit ein Element der ursprünglichen Länge dX1 nach der Verformung die Länge dx 1  0 hätte, was geometrisch keinen Sinn macht.

2.2.2

Kompatibilitätsbedingungen

Ist das Verschiebungsfeld u(X) gegeben, dann können in einer geometrisch linearen Theorie mit E

 1 1  ( H  H T )  ( L  u  u   L ) 2 2

die sechs unabhängigen Komponenten des klassischen Verzerrungstensors berechnet werden. Soll jedoch umgekehrt aus diesen sechs partiellen Differenzialgleichungen ein Verschiebungsfeld u(X) mit lediglich drei Komponenten integriert werden, dann stellt sich eine

2.2 Verzerrungstensoren

59

Überbestimmtheit ein, womit die sechs Komponenten des Verzerrungstensors nicht unabhängig voneinander sein können. Die Bedingungen, die die Verzerrungskomponenten erfüllen müssen, werden Kompatibilitätsbedingungen genannt. Wir gewinnen sie, indem wir aus der obigen Verzerrungs-Verschiebungsbeziehung auf der rechten Seite die Verschiebung u eliminieren (Lagally, 1956). Mathematisch erreichen wir das durch folgende Operation      1  L  E   L   L  ( L  u  u   L )   L , 2

aus der wegen  L   L  0 unter Beachtung einer rechtsorientierten Orthonormalbasis mit e1  e 2   e 2  e1  e 3 , e 2  e 3  e 1 , e 3  e 1  e 2

der symmetrische Inkompatibilitätstensor1   Ink E   L  E   L  0 

ε k  jkm  rp e m  e p X j X r

folgt. Die obige Beziehung ist in den Indizes m und p symmetrisch, womit nur sechs unab jk lauten die sechs hängige Gleichungen verbleiben. Mit der Abkürzung  jk , m  X  X m Komponenten des Inkompatibilitätstensors:

2 23, 23  33, 22   22,33 , 213,13  33,11  11,33 , 212,12   22,11  11, 22 , 33, 21  12,33  13, 23   23,31 , 13, 22   22,31   23, 21  12,32 ,  23,11  11,32  13,12  12,31 . Im ebenen Fall der (1,2)-Ebene verbleibt von den sechs Komponenten wegen 13   23   33  0 nur die Beziehung

212,12   22,11  11, 22 . Hinweis: Unter Beachtung von  ij  1 / 2 ( u i , j  u j,i ) , und damit  ij, k  1 / 2 ( u i , jk  u j,ik ) , können die Kompatibilitätsbedingungen auch durch die Verschiebungsableitungen ausgedrückt werden, die allerdings in dieser Form lediglich Identitäten darstellen, aus denen das Verschiebungsfeld u selbst nicht berechnet werden kann.

1

Adhémar Jean Claude Barré de Saint-Venant, frz. Ingenieur, Mathematiker und Physiker 17971886

60

2 Deformationsgeometrie

Beispiel 2-8: Ein ebener Verzerrungszustand ist gegeben durch:

11  X13  X12  X 32  X 2 (1  X1  X12 )  X 22 (1  a X1 ) ,  22  X13  X12  X 32  X 2 (b X1  c X12 )  X 22 (1  X1 ) , 12  b X1 X 2 .

Es soll geprüft werden, unter welchen Bedingungen dieser Verzerrungszustand die Kompatibilitätsbedingung 212,12   22,11  11, 22  0 erfüllt. Lösung: 212,12   22,11  11, 22  0  2( b  2)  2X1 (a  3)  2X 2 (c  3) . Das erfordert b  2, a  3, c  3 , und die Verzerrungen gehen damit über in: 11  X13  X12  X 32  X 2 (1  X1  X12 )  X 22 (1  3 X1 ) ,  22  X13  X12  X 32  X 2 (2 X1  3 X12 )  X 22 (1  X1 ) , 12  2 X1 X 2 .

Das ebene Verschiebungsfeld erhalten wir durch Integration folgender Differenzialgleichungen: u1 (X1 , X 2 )  11  X13  X12  X 32  X 2 (1  X1  X12 )  X 22 (1  3 X1 ) , X1 u 2 (X1 , X 2 )   22  X13  X12  X 32  X 2 (2 X1  3 X12 )  X 22 (1  X1 ) , X 2 1  u1 (X1 , X 2 ) u 2 (X1 , X 2 )      12  2 X1 X 2 . 2 X 2 X1 

Maple liefert uns:





1 4 1 3 1 4 1 1 1 X1  X1  X 2  1  3 X1  X 32  2  3 X1  X1 X 22  2 X13  3 X12  6X1  6C1 X 2  C 2 , 4 3 12 3 2 6 1 4 1 1 1 1 1 u 2   X1  1  6 X 2  X13  3X 22  2 X1  1 X12  X 32  3 X 22  3 C1 X1  X 42  X 32  C3 . 12 6 2 3 4 3

u1 









Damit ist das Verschiebungsfeld bis auf die Starrkörperverformungen u1*  C 2  C1X 2

und

u *2  C3  C1X1

festgelegt. Die Konstanten C2 und C3 beschreiben eine Starrkörperverschiebung, und den Termen C1X2 sowie –C1X1 entspricht eine Starrkörperdrehung um den Koordinatenursprung. Diese Starrkörperverformungen beeinflussen die Verzerrungen nicht. Im konkreten Fall werden die Konstanten aus den Lagerungsbedingungen des Körpers bestimmt.

2.2 Verzerrungstensoren

2.2.3

61

Hauptdehnungen und Hauptrichtungen

In völliger Analogie zu den Untersuchungen des Spannungszustandes in Kap. 1.2 lassen sich auch für den klassischen Verzerrungstensor E ausgezeichnete Richtungen finden, in denen nur Dehnungen aber keine Gleitungen auftreten. Dazu haben wir in den Transformationsformeln für die Spannungen S lediglich die Normalspannungen jj durch die Dehnungen jj und die Schubspannungen jk durch die halben Gleitwinkel jk/2 zu ersetzen. Für den ebenen Verzerrungszustand, der gegenüber dem Ausgangszustand um den Winkel  gedreht wird, bedeutet das    22 11   22  cos 2  12 sin 2,  1 1 ( )  11  2 2 2 11   22 11   22  12 cos 2  sin 2,  2 2 ( )   2 2 2    22  1  1 2 ( )   11 sin 2  12 cos 2. 2 2 2 Die Eigenwerte (Hauptdehnungen) und die Eigenvektoren (Hauptrichtungen) des klassischen Verzerrungstensors E ermitteln wir aus dem Matrizen-Eigenwertproblem

(E   1)  e H  0 . Die beiden reellen Eigenwerte (Hauptdehnungen) sind 1 2  , 11   22  ( 11   22 ) 2   12  2  1 2    11   22  ( 11   22 ) 2   12 ,  2 

 1  1H  2  H 2

Für die Eigenvektoren (Hauptrichtungen) erhalten wir e1H 

eH 2 

1H  11

(  12 / 2) /(1H  11 )   , 1  ( 1H  11 ) 2  (  12 / 2) 2  H 2  11

(  12 / 2) /( H  2  11 )  . H 2 2  1  (  2  11 )  (  12 / 2) 

Mit den normierten Eigenvektoren kann der planare Verzerrungstensor E auch in seiner Spektralform als Summe zweier dyadischer Produkte  1H H H E  1H e1H  e1H   H 2 e2  e2    0

0   H  2 

geschrieben werden, und für die Invarianten folgt H H I1  1H   H 2 , I 2  1  2 .

62

2 Deformationsgeometrie

Den Eigenvektoren e1H und e H 2 entnehmen wir noch deren Neigungen gegenüber der positiven 1-Achse:

1  arctan

2(1H 11 ) 2(  H 2  11 ) ,  2  arctan ,  12 12

(  12  0 ).

Die Richtungen der extremalen Gleitungen sind gegenüber dem Hauptdehnungszustand um den Winkel     / 4 gedreht und errechnen sich zu H  1 2 (    / 4)   12   (1H   H 2 ).

Allerdings sind diese Ebenen nicht frei von Dehnungen, vielmehr gilt  1 1 (     / 4)   2 2 (     / 4)   M 

2.2.4

1 H ( 1   H 2 ). 2

Volumendilatation

Das Volumen eines durch drei Vektoren a,b,c aufgespannten Parallelepipeds (Spat) ist durch den Betrag des Spatproduktes

a1 (a  b )  c  [a, b, c]  a 2

b1 b2

c1 c2

a3

b3

c3

gegeben. Der Betrag des aus dem Kreuzprodukt a  b resultierenden Vektors liefert den Flächeninhalt des durch a und b aufgespannten Parallelogramms und steht senkrecht zum Flächenelement. Der Betrag des Skalarproduktes von a  b mit c ist dann gleich dem Produkt aus Höhe und Grundfläche und somit identisch mit dem Volumen des Parallelepipeds.

Abb. 2.11 Lineare Verzerrung eines Quaders

Wird ein Körper gedehnt, etwa der Quader in Abb. 2.11, dann ändert sich i. Allg. sein Volumen. In der Bezugsplatzierung (Index 0) ist sein Volumen dV0  dX1 dX 2 dX 3 , welches in Folge der Verzerrung übergeht in das Volumen dv der Momentanplatzierung dv  F  dX1 , F  dX 2 , F  dX 3   dX1 dX 2 dX 3 det F  dV0 det F .

2.2 Verzerrungstensoren

63

Unter Beachtung des Satzes von der Erhaltung der Masse, also dm = 0 dV0 =  dv, ist

J  det F 

dv  0  dV0 

 dV0  J 1 dv .

Da mit einer Starrkörperdrehung keine Volumenänderung verbunden ist, kann zur Berechnung von J der Deformationsgradient F  1  H  1  E  Ω durch 1  E ersetzt werden. Unter der Voraussetzung kleiner Verzerrungen mit 3

E 

3

 

2 ik

 1

i 1 k 1

gilt dann näherungsweise

J  det F  det (1  E)  1  Sp(E) . Der Quotient aus der Volumenänderung dV  dv  dV0 und dem Ausgangsvolumen dV0 wird Volumendilatation genannt und mit  bezeichnet. ε

dv  dV 0 dv   1  J  1  Sp ( E ) . dV 0 dV 0

Damit erweist sich die linearisierte Volumendilatation näherungsweise als erste Invariante des klassischen Verzerrungstensors E. So wie der Spannungstensor additiv in zwei Teile zerlegt werden konnte (s.h. Kap. 1.4), kann auch der Verzerrungstensor

E  EK  E D in einen Kugelanteil EK und einen Deviator ED aufgegliedert werden. Mit Einführung der Mitteldehnung εM 

1 1 1 1 1 H ( 11   22   33 )  ( 1H   H 2   3 )  Sp ( E )  J 1   3 3 3 3 3

folgt für den Kugeltensor E

K

 M   M 1   0  0

0 M 0

0  0  ,  M 

der eine gleichförmige Dehnung in allen Richtungen beschreibt. Der Verzerrungsdeviator D

E  EE

K

 11   M   12  13

12 11   M  23

H   1   M   23    0  33   M   0 

13

0 H 2

 M 0

  0   3H   M   0

64

2 Deformationsgeometrie

besitzt die Invarianten

J1D  0 ,

1 2 JD 2  J 2  J1 , 3

J 3D 

2 3 1 J1  J1J 2  J 3 , 27 3

die hier durch die Invarianten von E ausgedrückt wurden. Da die erste Invariante des Verzerrungsdeviators verschwindet, wird von einer volumentreuen oder auch isochoren1 Verformung gesprochen, bei der sich lediglich die Gestalt verändert. Der Verzerrungsdeviator ED und der Verzerrungstensor E besitzen verschiedene Eigenwerte aber dieselben Eigenvektoren. Beispiel 2-9: Abb. 2.12 zeigt eine DMS-Rosette mit drei Gittern. Die Gitterrichtungen haben die Neigungen ,  und  gegenüber der x1-Achse. Bei einer 60°-Rosette sind beispielsweise das zweite und dritte Gitter unter 60° bzw. 120° gegenüber dem ersten Gitter geneigt. Die DMS-Rosette liefert in den drei unabhängigen Gitterrichtungen die Dehnungen auf der darunterliegenden Oberfläche eines Messobjekts. Entwerfen Sie eine Maple-Prozedur zur Berechnung folgender Größen: 1. Die Komponenten des ebenen Verzerrungstensors E. 2. Die Hauptdehnungen und ihre Richtungen. 3. Die linearisierte Flächendehnung. 4. Die Hauptgleitungen und ihre Richtungen. Geg.:   0 ,   60 ,   120 ,  0  10 4 , 1   0 ,  2   0 ,  3    0

Abb. 2.12 DMS-Rosette zur Dehnungsmessung, Messung in drei unabhängigen Richtungen ,  und 

Lösung: Zur Berechnung der drei unbekannten Komponenten 11, 22 und 12 des ebenen Verzerrungstensors E benutzen wir die Transformationsbeziehung  1 1 ( ) 

1

11   22 11   22   cos 2  12 sin 2 . 2 2 2

zu griech. chora ›Platz, Stelle‹, konstantes Volumen besitzend

2.2 Verzerrungstensoren

65

Aus den Messungen sind für jede Gitterrichtung die linken Seiten der obigen Gleichung bekannt. Wir erhalten das folgende lineare Gleichungssystem:

  0 :

1   0  11 ,

11   22 11   22  12   3, 2 4 4        120  2  / 3 :  3    0  11 22  11 22  12 3 . 2 4 4

  60   / 3 :

2  0 

1 4 Aus diesen drei Gleichungen ermitteln wir: 11   0 ,  22    0 ,  12  3  0 . In Matri3 3 zenschreibweise ist  1 E  0   2 / 3 3

2/3 3  . Maple liefert uns folgende Eigenwerte und Eigenvektoren von E:  1 / 3 

 H     0  Λ   1H    ,   2  5 / 3  0 

eH Φ   1H,1  e1, 2

  1/ 2 1/ 2 3  eH 2 ,1  . H  e 2 , 2  1 / 2 3 1 / 2 

Der Eigenvektormatrix  entnehmen wir die Hauptrichtungen  1/ 2 3  2       120,  2  arctan  1 / 2   1   30 . 1  arctan     1/ 2  3  1/ 2 3  6  

Ein in der Ausgangslage nach den Hauptrichtungen orientiertes Element bleibt infolge der Deformation frei von Gleitungen. Es wird nur gedehnt bzw. gestaucht (Abb. 2.13). Besitzt das Element in der Ausgangslage die Kantenlängen 1, dann sind die neuen Kantenlängen nach der Deformation 1   0 und 1  5 / 3 0 . Die linearisierte Flächendehnung errechnet sich zu   1H   H 2    0  5 / 3 0  2 / 3 0 . Der Flächeninhalt des deformierten Elementes ist also gegenüber dem Ausgangselement um 2 / 3  0 angewachsen, und das gilt aufgrund des invarianten Charakters von  für jede beliebige Orientierung des Elementes. Die Hauptgleitungsrichtungen sind gegenüber den Hauptdehnungsrichtungen um     / 4 H gedreht. Die zugehörigen Hauptgleitungen sind  1 2   12   ( 1H   H 2 )   8 / 3  0 . Das nach den Hauptgleitungsrichtungen orientierte Element hat die mittlere Dehnung  M  1 / 2(1H   H 2 )  1 / 3 0 .

66

Abb. 2.13 Hauptdehnungen und Hauptdehnungsrichtungen

2 Deformationsgeometrie

3

Das Hookesche Werkstoffgesetz

Nach der Einführung der beiden Begriffe Spannungen und Verzerrungen sind zwischen beiden Definition Beziehungen herzustellen, die vom verwendeten Material abhängen. Die Gleichungen, die die Verzerrungen und die Spannungen miteinander verknüpfen, werden Materialgleichungen oder auch kurz Stoffgleichungen genannt. Wir beschränken uns in den folgenden Untersuchungen auf feste Körper, die kleinen Verzerrungen und Verformungen ausgesetzt sind. Das Materialverhalten soll elastisch und das Stoffgesetz linear sein. Weiterhin wird die Existenz einer Formänderungsenergie unterstellt. Elastische Materialien mit diesen Eigenschaften werden hyperelastisch genannt (Trostel R. , 1993). Sind die Eigenschaften eines Körpers in allen Richtungen gleich, dann sprechen wir von Isotropie1. Ist das nicht der Fall, sind die Materialeigenschaften also richtungsabhängig, dann wird das Material anisotrop genannt.

S

C

Der allgemeine lineare Zusammenhang zwischen den Spannungen S und den linearisierten Verzerrungen E, folglich zwischen Tensoren 2. Stufe (Dyaden), wird durch die Abbildung  E

beschrieben. Der Tensor 4. Stufe

C



3



c ijk  i , j, k ,  1

ei  e j  e k  e

mit i. Allg. 3 4  81 Materialkonstanten, wird Steifigkeitstetrade (engl. stiffness tensor) genannt. Mit der Definition des Doppeltskalarproduktes zweier linearer Dyaden a  b  c  d  a  b : d  c  (a  d )(b  c )

ist dann 3

 jk 

c

k ,  1

ijk 

 k .

Für die Normalspannung 11 folgt beispielsweise unter Beachtung der Symmetrie von E

1

zu griech. isos ›gleich‹ und zu griech. tropos ›Drehung, Wendung‹

68

3 Das Hookesche Werkstoffgesetz 11  c1111 11  c1122  22  c1133  33  (c1121  c1112 )12  ( c1132  c1123 )  23  (c1131  c1113 )13 . 1 -

N

E

C

N

Zur Umkehrung des Werkstoffgesetzes benötigen wir die Nachgiebigkeitstetrade (engl. compliance tensor)  . Damit ist  S .

Die Tetraden C und N erweisen sich aufgrund der Symmetrie von S und E sowie der Existenz einer Formänderungsenergie als vollständig symmetrisch (Trostel R. , 1993), was

c ijk  c jik  c ijk  c jik  c kij  c kij  c kji zur Folge hat. Im allgemeinsten Fall des anisotropen Hookeschen Gesetzes wären somit 21 Materialkonstanten aus qualifizierenden Experimenten zu bestimmen. Fassen wir die Komponenten der symmetrischen Tensoren S und E in sechsdimensionalen Vektoren s und e zusammen, dann können wir das allgemeine anisotrope Hookesche Gesetz formal, wie in der FEM üblich1, auch als Matrix-Vektorprodukt s  Ce

darstellen. Darin sind c1111 c1122  11   11   11          c 2222   22   22   22          s   33  , e   33    33  , C     12   212    12     23   2 23    23          sym.  13   213    13 

c1133 c 2233 c 3333

c1112 c 2212 c 3312 c1212

c1123 c 2223 c 3323 c1223 c 2323

c1113  c 2213  c 3313  . c1213  c 2313   c1313 

Die symmetrische ( 6  6 )-Matrix C ist invertierbar und wird Materialmatrix genannt. Es fällt sofort auf, dass die Normalspannungen und die Gleitungen nicht entkoppelt sind, wie das bei isotropen Materialien der Fall ist. Spannungs- und Verzerrungstensor müssen demzufolge auch nicht koaxial sein, also gleiche Eigenvektoren aufweisen.

Abb. 3.1 Holzklotz in drei Versuchsanordnungen, Materialsymmetrie

1

diese Darstellung ist jedoch mathematisch nicht konsistent

3.1 Orthotropie

69

Besitzt das Material Symmetrien, etwa der Holzklotz in Abb. 3.1, der in Faserrichtung wesentlich steifer ist als quer dazu, dann kann die Anzahl der Werkstoffkonstanten noch weiter reduziert werden. In den Versuchsanordnungen a) und c) wird der Holzklotz in Faserrichtung beansprucht. Sein mechanisches Verhalten ist in beiden Anordnungen gleich und weicht von dem des Versuchs b) ab. Eine Drehung des Materials (oder auch der Belastung) um /2 lässt sich im Versuch feststellen, eine Drehung um 2/2 dagegen nicht. Das Material besitzt somit eine Symmetrie, die sich in der Materialmatrix wiederspiegeln muss. Wird jede Drehung im Versuch feststellbar, dann sprechen wir von einem triklinen Stoff, und ist keine Drehung feststellbar, dann besitzt der Stoff die höchstmöglich Symmetrie und wird isotrop genannt.

3.1

Orthotropie

Ein Spezialfall des allgemeinen anisotropen Materialverhaltens ist die orthogonale Anisotropie oder kurz Orthotropie. Dieses Material zeichnet sich dadurch aus, dass drei Vorzugsachsen (elastische Hauptachsen) experimentell aufgefunden werden können, die senkrecht aufeinander stehen. Wird ein solcher Körper belastet, dann bewirken Normalspannungen in Richtung der Hauptachsen Dehnungen und Schubspannungen führen zu Elementgleitungen. In diesem Fall besitzt das Stoffgesetz nur noch 9 unabhängige Materialkonstanten. Mit neuen technischen Konstanten, den Elastizitätsmoduln E 1 , E 2 , E 3 , den Querkontraktionszahlen  12 ,  13 ,  21 ,  23 ,  31 ,  32 und den Schubmoduln G 12 , G 23 , G 13 notieren wir für die Komponenten der Nachgiebigkeitsmatrix:

N O  (C O ) 1

 1 / E1   / E  21 1   / E   31 1     sym.

 12 / E 2 1/ E 2   32 / E 2

 13 / E 3   23 / E 3 1/ E 3

0 0 0 1 / G 12

0 0 0 0 1 / G 23

0  0  0  . 0  0   1 / G 13 

Die Symmetrie erfordert  12 / E 2    21 / E1 ,  13 / E 3    31 / E1 ,   23 / E 3    32 / E 2 .

Maple liefert uns durch Inversion die nach den elastischen Hauptachsen orientierte Materialmatrix  c1111 c1122  c 2222   CO       sym.

c1133 c 2233 c 3333

0 0 0 0  0 0 0  c1212 0 0 c 2323 0  c1313  0

0

70

3 Das Hookesche Werkstoffgesetz

mit c1111  c 2222 

E1 Z

o

E2 Zo

(1   23  32 ) , c1122   (1   13  31 ) , c 2233  

E1 Z

o

E2 Zo

(  12   13  32 ) , c1133   (  23   21  13 ) , c 3333 

E1 Zo E3 Zo

(  13   12  23 ) , (1   12  21 ) ,

c1212  G 12 , c 2323  G 23 , c1313  G 13 ,

wobei zur Abkürzung Z o  1  12  21  13  31   23  32  212  23  31 gesetzt wurde. Die Transformation auf ein beliebiges Koordinatensystem liefert eine vollbesetzte Materialmatrix.

3.2

Transversale Isotropie

Von transversaler Isotropie wird gesprochen, wenn sich das Material in Bezug auf eine Achse rotationssymmetrisch und in der dazu senkrechten Ebene isotrop verhält. Zu den Materialien, die eine transversale Isotropie aufweisen, gehören beispielsweise Holz, Kristalle, Gewebe, unidirektionale Faserverbundwerkstoffe und gewalztes Blech. Ist die 3-Achse eine solche Symmetrieachse, dann ergibt sich mit den oben eingeführten technischen Konstanten folgende Nachgiebigkeitsmatrix

N TI  (C TI ) -1

 1/ E  /E    / E  3 3     sym.

/E 1/ E  3 / E3

 3 / E3  3 / E3 1/ E 3

0 0 0 1/ G

0 0 0 0 1/ G 3

0  0  0  , 0  0   1 / G 3 

die mit E, E3, , 3 und G3 nur noch 5 unabhängige Materialkonstanten enthält. Die Konstante G  E /[ 2(1   )] wird Schubmodul genannt, sie lässt sich durch E und  ausdrücken. Maple liefert uns durch Inversion von NTI die Materialmatrix

C TI

c1111 c1122  c1111       sym.

c1133 c1133

0 0

0 0

c 3333

0 0 ( c1111  c1122 ) / 2 0 c 2323

    0 , 0   0  c 2323  0 0

3.3 Isotropie

71

mit c 1111  c 2222  c 1133  c 2233 

c1212 

E Z

TI

E Z TI

( E 3  E 32 ) , c 1122  E 3  3 (1   ) , c 3333 

E Z TI

E 32 Z TI

( E 3   E 32 ) ,

(1   2 )

E  G , c 2323  c1313  G 3 , 2(1   )

wobei zur Abkürzung Z TI  (1   )[ E 3 (1   )  2E 32 ] eingeführt wurde.

3.3

Isotropie

Ein isotropes Material zeigt in allen Richtungen gleiches Verhalten. Das bedeutet, dass die Richtungen der Hauptspannungen und Hauptverzerrungen zusammenfallen, Spannungs- und Verzerrungstensor sind also koaxial, und gleiche Hauptspannungen führen bei beliebig gedrehtem Material zu gleichen Dehnungen. Ein solches Material besitzt mit E und  nur noch zwei unabhängige Materialkonstanten. [E] 

Masse Länge  ( Zeit ) 2

, Einheit : kg m 1 s  2  N / m 2 .

Für die Nachgiebigkeitsmatrix folgt

N I  ( C I ) -1

0 0 0   1/ E   / E   / E   / E 1/ E   / E 0 0 0     / E   / E 1/ E 0 0 0   , 1/ G 0 0    1/ G 0    1 / G   sym.

und für die Materialmatrix erhalten wir   0 0 0  1      1   0 0 0       1  0 0 0 E I C  .  (1  2 ) / 2 0 0 (1   )(1  2 )     (1  2 ) / 2 0   (1  2 ) / 2  sym.

72

3 Das Hookesche Werkstoffgesetz

Lösen wir das isotrope Materialgesetz nach den Spannungen auf, dann erhalten wir die Komponenten E E [(1   )11   ( 22   33 )], 12  12  G  12 , (1   )(1  2 ) 1  E E  [(1   ) 22   ( 11   33 )],  23   23  G  23 , (1   )(1  2 ) 1  E E  [(1   )  33   (11   22 )], 13  13  G  13 . (1   )(1  2 ) 1 

11   22  33

Lösen wir nach den Verzerrungen auf, dann kommen 1 2 (1   ) 1 [ 11   (  22   33 )],  12  12  12 , E E G 1 2(1   ) 1  [  22   ( 11   33 )],  23   23   23 , E E G 1 2 (1   ) 1  [  33   ( 11   22 )],  13  13  13 . E E G

11   22  33

Eine andere Form der Darstellung des isotropen Hookeschen Gesetztes bekommen wir mit S

E    E Sp ( E) 1 1    1  2 

bzw.

E

1     S Sp (S ) 1 . E  1   

Darin bezeichnen

 11 12  22 S   sym.

13   23  ,  33 

 11 12  22 E   sym.

13   23   33 

die Matrizen von Spannungs- und klassischem Verzerrungstensor. Durch Spurbildung erhalten wir mit Sp(E)    11   22   33 sowie Sp(S)    11   22   33 und Sp(1)  3 : 

1   3  1  2   (11   22   33 ) .   E  1   E

Da erfahrungsgemäß positive Normalspannungen stets eine Volumenvergrößerung bewirken, kann die Querkontraktionszahl  (positive Werte vorausgesetzt) die Werte 0    1 / 2 annehmen. Der Wert   1 / 2 bedeutet mit   0 Volumenkonstanz, während für Baustahl und für die meisten metallischen Werkstoffe   1 / 3 angesetzt werden kann (Tab. 3.1).

3.3 Isotropie

3.3.1

73

Temperaturdehnungen

Erfährt ein zwängungsfrei gelagerter Körper aus isotropem Material eine gleichmäßige Temperaturänderung T , so verlängert oder verkürzt sich dieser nach allen Seiten gleichmäßig, ohne dass sich dabei die Winkel zwischen zwei beliebigen Linienelementen ändern. Gleitungen treten also nicht auf. Die Temperaturdehnungen T T 11   T22   33   T

sind den Verzerrungen aus einer mechanischen Beanspruchung hinzuzufügen, was zu den Gesamtverzerrungen E

1    1    E   S Sp (S ) 1   T 1  S Sp (S ) 1   T 1 .   E  1  E  1  1   

und der linearisierten Volumendehnung 

1  2   3 T E

führt. Darin bezeichnet  den linearen Wärmeausdehnungskoeffizienten, eine weitgehend von der Temperatur unabhängige zusätzliche Stoffkonstante, die ebenfalls aus Versuchen bestimmt werden muss. Lösen wir die Verzerrungen nach den Spannungen auf, dann erhalten wir S

E   1   E Sp ( E ) 1   T 1 . 1    1  2 1  2 

Wird beispielsweise ein allseits zwischen starren Wänden eingespannter würfelförmiger Körper aus isotropem Material um T erwärmt, dann resultieren daraus wegen E  0 die Spannungen S

E  T 1 , 1  2

die erhebliche Größenordnungen annehmen können und von den angrenzenden Bauteilen sicher aufgenommen werden müssen. Tab. 3.1 zeigt eine Zusammenstellung der Zahlenwerte der Materialkonstanten für einige isotrope Werkstoffe. Tab. 3.1 Zahlenwerte der Materialkonstanten E, G, v und  für einige Werkstoffe E [N/mm2]

G [N/mm2]





Stahl Kupfer Aluminium

5

2,10×10 1,30×105 0,75×105

5

0,80×10 0,47×105 0,28×105

0,30 0,33 0,33

12,0×10-6 16,8×10-6 23,9×10-6

Beton C12/15

0,26×105

0,11×105

0,20

(12,0-14,0) ×10-

Werkstoff

6

74

3 Das Hookesche Werkstoffgesetz

Verhält sich der Werkstoff auch hinsichtlich einer Temperaturänderung T anisotrop, dann ist der Wärmedehnungstensor T   T 1 des isotropen Falls durch den allgemeinen Wär3

medehnungstensor T 



jk T e j

 e k zu ersetzen (Raack, 1993).

j, k 1

3.3.2

Der ebene Spannungszustand

Wie bereits in Kap. 1.5 angeführt, kann ein ebener Spannungszustand näherungsweise in einer dünnen Scheibe unterstellt werden. In der (x1,x2)-Ebene galt  j3  0 (j = 1,2,3), und für den ebenen Spannungszustand (Index p) verbleiben somit

0  1 / E1  12 / E 2  11   11       O e p    22  , s p   22  , N p   1/ E 2 0  .  sym.  12   212  1 / G 12  Wegen  33  0 

E   1    33  ( 11   22   33 )   T   1   1  2 1  2 

ist allerdings  33  

 1  (11   22 )   T  0 , 1  1 

was E E [ 11   22  (1   ) T ],  22  [  22   11  (1   )  T ], 1 2 1 2 E  12  G  12 1 

11  12

liefert. In Tensorschreibweise lauten die obigen Gleichungen S ES 

E  1    Ep  Sp ( E p ) 1p   T 1p  .  1   1  1  

Lösen wir nach den Verzerrungen auf, dann kommt E ES 

 1   E   T 1p  . Sp  Sp (S p ) 1p   E  1  1  

3.3 Isotropie

3.3.3

75

Der ebene Verzerrungszustand

Bei einem ebenen Verzerrungszustand verschieben sich die materiellen Punkte vorwiegend parallel zu einer Ebene, etwa der (x1,x2)-Ebene. Damit ist u 3  0 und alle Ableitungen nach x3 verschwinden. Damit verbleiben

11 

u 1 , x 1

 22 

u 2 , x 2

12 

u1 u 2  . x 2 x 1

Ferner sind  13   23   33  0 .

Ein ebener Verzerrungszustand wird beispielsweise in einem langgestreckten Körper unterstellt, dessen Geometrie und Belastung in Längsrichtung nahezu konstant ist. Aus der Forderung  33  0 

1    E   33  ( 11   22   33 )   T  E  1  1  

folgt  33   ( 11   22 )  E T  0 .

Berücksichtigen wir diesen Sachverhalt, dann folgt 1  [ 11   (11   22 )   E  T ] , E 1   [ 22   ( 11   22 )   E  T ] , E

11   22

 12 

2(1   ) 1 12  12 . E G

Die Auflösung nach den Spannungen ergibt 11 

E    (1   )  11  ( 11   22 )   T  , 1    1  2 1  2 

 22 

E    (1   )   22  ( 11   22 )   T  ,  1   1  2 1  2 

12 

E 12  G 12 . 2(1  )

76

3 Das Hookesche Werkstoffgesetz

In Tensorschreibweise können wir auch kürzer





E EV 

1  S p   Sp (S p ) 1p   E T 1p , E

S EV 

 (1   ) E  ν   T 1 p  Ep  Sp ( E p ) 1p  1    1  2 1  2 

schreiben.

4

Arbeit und Energie

Unter Energie1 wird die Fähigkeit eines physikalischen Systems verstanden, Arbeit zu verrichten. Wird einem solchen System Arbeit zugeführt oder entzogen, so führt das zu einer Änderung seines Bewegungszustandes oder seiner Lage. Bei mechanischen Systemen wird deshalb zwischen Bewegungsenergie (kinetischer Energie) und der Lageenergie (potenzieller Energie) unterschieden. Bei elastischen Körpern tritt neben den beiden genannten Energieformen noch die Formänderungsenergie auf. Obwohl es sich hierbei um eine reine Rechengröße handelt, der keine physikalische Bedeutung zukommt, ist der Energiebegriff in der Technischen Mechanik von fundamentaler Bedeutung.

Abb. 4.1 Arbeit einer Kraft längs eines differenziellen Verschiebungsweges

Für die an einem starren Körper angreifende Kraft F, deren Angriffspunkt sich auf einer Bahnkurve C bewegt (Abb. 4.1), definieren wir die differenzielle äußere Arbeit

dWa  F (r )  dr  F dr cos   F dr cos  . Die skalare Größe dWa ist das Produkt aus der Kraftkomponente in Wegrichtung, also F cos  , und dem Betrag des Verschiebungszuwachse dr, wenn Kraft- und Wegrichtung momentan den Winkel  miteinander einschließen. Der Verschiebungszuwachs dr tangiert dabei an jeder Stelle r die Bahnkurve C. Auf dem endlichen Verschiebungsweg von r1 nach r2 verrichtet die Kraft dann die Arbeit Wa 

1



r2 r1

F ( r )  dr .

von griech. enérgeia ›wirkende Kraft‹

78

4 Arbeit und Energie

Die Arbeit kann sowohl positiv, negativ oder auch null sein. Die Definition wurde gerade so gewählt, dass für W > 0 die Kraft F an einem Körper positive Arbeit verrichtet, entsprechend wird für W < 0 negative Arbeit aufgewandt. Für F (r )  dr ist der differenzielle Arbeitsanteil Wa gleich null. ) Wa   Masse  ( Länge 2

2

( Zeit )

, Einheit kg m2 s-2 = Nm = J.

Das Joule1 ist die abgeleitete SI-Einheit der Größen Arbeit, Energie und Wärmemenge. In Anlehnung an die Arbeit einer Kraft definieren wir als differenzielle äußere Arbeit eines Kräftepaares mit dem Moment M() am Drehwinkel d dWa  M (  )  d .

Dreht sich der Körper mit dem Kräftepaar M von 1 nach 2, so wird die endliche Arbeit Wa 



2 1

M (  )  d

verrichtet. In beiden Fällen ist zur Auswertung der Integrale für die äußere Arbeiten Wa die explizite Angabe von r und  erforderlich, da sich die Vektoren F und M während der Bewegung nach Betrag, Richtung und Orientierung ändern können.

Abb. 4.2 Arbeit einer Kraft längs des Verschiebungsweges von (1) nach (2)

Wir sprechen in diesem Fall von Vektorfeldern. In einem stationären2 Kraftfeld ist F nur vom Ort r abhängig, in einem instationären Kraftfeld hängt F zusätzlich noch von der Zeit ab. Bewegt sich der Angriffspunkt der Kraft F vom Startpunkt 1 zum Endpunkt 2 auf den Wegen (a) bzw. (b), dann wird i. Allg.

W1(a2)  W1(b2)

1

James Prescott Joule, brit. Physiker, 18181889 (gesprochen: dschuul)

2

von lat. stationarius ›stillstehend‹, ›zum Standort gehörig‹

4 Arbeit und Energie

79

sein (Abb. 4.2). Ist jedoch die Arbeit vom Weg unabhängig, dann hängt sie nur vom Anfangs- und Endpunkt der Bahnkurve ab. Wir sprechen dann von einem konservativen1 oder auch energieerhaltenden Kraftfeld. Wegunabhängigkeit

W1(a2)  W1(b2)



oder

2

F  dr 

1( a )

1

 F  dr  0 2( b)

ist gegeben, wenn gilt:



Wa  F  dr  0 . C

Die Arbeit verschwindet demnach längs eines beliebigen geschlossenen Weges. Allgemein kann gezeigt werden, dass für ein Kraftfeld, das der obigen Bedingung genügt, ein Potenzial U(r) existieren muss, aus dem durch Gradientenbildung  U U U  F   grad U (r )   U (r )   e1  e2  e3     x x x 3  2  1

das Kraftfeld F selbst gewonnen werden kann. Beachten wir nämlich

 U U U   U (r )  dr   e1  e2  e 3   dx1e1  dx 2 e 2  dx 3e 3  x 2 x 3   x 1 U U U  dx1  dx 2  dx 3  dU x 1 x 2 x 3 dann stellt dieser Ausdruck ein totales Differenzial dar, und wir errechnen Wa1 2 



r2

r1

F ( r )  dr  



r2

r1

dU (r )  U (r1 )  U (r2 )  U1  U 2 .

Die Wegunabhängigkeit eines konservativen Kraftfeldes begründet sich aus dem Sachverhalt, dass die Arbeit allein aus der Potenzialdifferenz U1  U2 der Orte r1 und r2 gewonnen werden kann. Eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass sich ein Kraftfeld aus einem Potenzial U(r) ableiten lässt, ist

rot F    F     U  0 , was in einem kartesischen Bezugssystem

F1 F2  0,  x 2 x 1

F2 F3   0, x 3 x 2

erfordert.

1

zu lat. conservare ›bewahren‹, ›erhalten‹

F3 F1 0  x 1 x 3

80

4 Arbeit und Energie

4.1

Das Potenzial der Gewichtskraft

Wir untersuchen die von der Gewichtskraft G eines schweren Körpers geleistete Arbeit in einem homogenen Schwerefeld, wenn beispielsweise der Körper aus einer Höhe x 3(1) auf die Höhe x 3( 2 ) herabfällt (Abb. 4.3). Die Gewichtskraft hat in dem gewählten Koordinatensystem nur die Komponente G   Ge 3 . Dieses Kraftfeld genügt der Bedingung rot F  0 , da alle Ableitungen nach den Ortskoordinaten verschwinden. Mit dem Ortsvektordifferenzial dr  dx 1 e1  dx 2 e 2  dx 3 e 3 folgt zunächst dWa  G  dr   G dx 3 . Integrieren wir diesen Ausdruck längs des Verschiebungsweges von r1 nach r2, dann erhalten wir die dabei von der Gewichtskraft geleistete äußere Arbeit

Wa1 2 



r2

r1

G  dr  



r2

r1

G dx 3  



x 3( 2 ) x 3(1)

G dx 3  G ( x 3(1)  x 3( 2 ) )  U1  U 2  G h ,

die offensichtlich nur von der Differenz der x3-Koordinaten der beiden Endpunkte abhängt.

Abb. 4.3 Arbeit der Gewichtskraft G in einem homogenen Schwerefeld

Das Potenzial der Gewichtskraft folgt durch Komponentenvergleich aus

Ge 3 

U U U e1  e2  e3 x 3 x 2 x 1

G 

dU dx 3

 dU  G dx 3

zu U  G x 3  C1 . Damit ist U nur bis auf eine Konstante festgelegt, die beliebig wählbar ist. Setzen wir beispielsweise U ( x 3  x 3( 2 ) )  0  G x 3( 2 )  C1 , dann folgt mit C1  G x 3( 2 )

U  G ( x 3  x 3( 2 ) ) . Befindet sich der Schwerpunkt in der Höhe x 3  x 3(1) , dann hat der Körper mit der Gewichtskraft G bezüglich der Ebene x 3  x 3( 2 ) , die auch Nullniveau (NN) genannt wird, die Energie der Lage oder die potenzielle Energie

U  G ( x 3(1)  x 3( 2 ) )  G h .

4.2 Das Potenzial einer Federkraft

81

Beispielsweise besitzt ein Ziegelstein mit dem Gewicht G = 40 N, der sich auf einem 5 m hohen Gerüst befindet, und von dort dem Bauleiter auf den Kopf fallen könnte, bezüglich der Erdoberfläche (NN) die potenzielle Energie U  G h  200 Nm  200 J . Hinweis: Die potenzielle Energie eines schweren Körpers mit der Gewichtskraft G kann anschaulich gedeutet werden als diejenige Energie, die benötigt wird, um dessen Schwerpunkt S vom Nullniveau x 3( 2 ) um die Höhe h anzuheben. Sie ist positiv, wenn sich der Schwerpunkt mit der Koordinate x3 oberhalb des Nullniveaus befindet, null, wenn der Schwerpunkt im Nullniveau liegt und negativ, wenn er sich unterhalb desselben befindet.

4.2

Das Potenzial einer Federkraft

Abb. 4.4 Lineare Feder, Potenzial der Federkraft

Als weiteres Beispiel für ein konservatives Kraftfeld betrachten wir die äußere Kraft F  k ( x  x 0 ) e1 ,

die den Endpunkt einer linearen Schraubenfeder mit der Federkonstanten k aus der ungespannten Lage x0 in die verformte Lage x verbringt. Die Kraft F denken wir uns dabei unendlich langsam (quasistatisch) von null auf ihren Endwert aufgebracht, womit wir dann etwa vorhandene Trägheitskräfte vernachlässigen dürfen. Parallel dazu wachsen die Verformungen in der Feder bis zur aktuellen Lage (x-x0) an. Die Kraft F leistet dabei die äußere Arbeit Wa 



x xx0

F ( x ) dx 



x xx0

k ( x  x 0 ) dx 

1 k(x  x 0 ) 2 2

Infolge der äußeren Kraft F wird die Feder gespannt, in der sich als Reaktionskraft die innere Federkraft FF   F   k ( x  x 0 ) e1

einstellt, die dann die innere Arbeit

82

4 Arbeit und Energie Wi 



x

FF ( x ) dx  

x x0



1 k ( x  x 0 ) dx   k ( x  x 0 ) 2 xx0 2 x

leistet. Zur Berechnung des Potenzials der Federkraft beachten wir k(x  x 0 ) 

dU F dx



 U F  k ( x  x 0 ) dx  C1 

1 k x ( x  2 x 0 )  C1 . 2

Auch das Potenzial der Federkraft ist nur bis auf eine additive Konstante festgelegt. Normieren wir UF mit der Forderung U F ( x  x 0 )  0 , dann folgt C1  1 / 2 k x 02 und damit UF 

1 k(x  x 0 ) 2 . 2

Geometrisch stimmt das Potenzial der Federkraft mit der in Abb. 4.4 schraffierten Dreieckfläche unterhalb der linearen Kraft-Verschiebungskurve überein. Hinweis: Zu den Kräften, die sich nicht aus einem Potenzial ableiten lassen, gehören beispielsweise die geschwindigkeitsabhängigen Reibungskräfte, die dem Werkstoffgesetz R  f ( v)

v v

mit

f ( v)  0

genügen. Unter Beachtung von dr 

dr dt  v dt ist nämlich dt

v Wa  R  dr   f ( v )  v dt   f ( v ) v dt  0 , v







eine Arbeit, die immer negativ ist. Da diese Kräfte Arbeit zerstreuen, werden sie auch dissipative1 Kräfte genannt. Zur Berechnung der Arbeit einer dissipativen Kraft muss deshalb der vollständige Verschiebungszustand des Kraftangriffspunktes bekannt sein.

4.3

Formänderungs- und Ergänzungsenergie

Ausgehend von dem in Kap. 3.3.1 vorgestellten isotropen Material mit der Materialgleichung S(E, T ) 

E   E  1    1  2

E  1   T 1 , 1  2 

  Sp ( E ) ,

definieren wir mit der abkürzenden Schreibweise des Doppeltskalarproduktes

a  b   c  d : a  b :d  c : (a  d)(b  c) 1

zu lat. dissipare ›zerstreuen‹, ›verschwenden‹

4.3 Formänderungs- und Ergänzungsenergie

83

als spezifische (auf die Volumeneinheit bezogene) Formänderungsenergie



WS 

E 0

S  d E .

Die Integration, unter Beachtung des Stoffgesetzes, liefert E   E  E  E  2   T  . 2(1   )  1  2  1  2

WS 

Beziehen wir uns auf eine kartesische Basis, dann folgt aus der obigen Beziehung die explizite Darstellung WS 

E  2 1 2   2 2 ) ( 11   22   33 ) 2  11   222   33  (  12   223   31 2(1   )  2 1  2  E   T ( 11   22   33 ). 1  2

Für isotherme Prozesse (T = 0) wird WS auch als isotherme Formänderungsenergie bezeichnet. Fassen wir umgekehrt die Verzerrungen als Funktion der Spannungen und der Temperaturänderung auf, dann ist 1     E(S, T )  S  1   T 1 E  1    und WS* 



E 0

E  d S 

1     S  S   2    T  ,  2E  1  

  Sp (S ) ,

heißt spezifische Ergänzungsenergie, die im isothermen Fall auch als isotherme spezifische Ergänzungsenergie bezeichnet wird. Bei Bezugnahme auf eine kartesische Basis erhalten wir

WS* 

1   2   2 2 2 11   222   33  2( 12   223   31 ) (11   22   33 ) 2   2E  1     T ( 11   22   33 ).

Formänderungs- und Ergänzungsenergie haben Potenzialcharakter, denn aus den obigen Beziehungen folgen unmittelbar (Beweis durch Ausrechnen): WS   jj ,  jj

WS   jk ,   jk

WS*   jj ,  jj

WS*   jk .  jk

Ist der Körper speziell einem einachsigen Spannungs- und Deformationszustand unterworfen, etwa in x1-Richtung, dann verbleiben mit  = 0: WS 

E 2 1 2 11  E T 11 , WS*  11   T 11 . 2 2E

84

4 Arbeit und Energie

Bei einem isotropen Material sind im isothermen Fall die Maßzahlen für die spezifische Formänderungsenergie und die spezifische Ergänzungsenergie gleich. Hier gilt nämlich WS 

E 2 1 2 11  11  WS* . 2 2E

Verhält sich das Material dagegen nichtlinear elastisch, dann weichen isotherme Formänderungsenergie und Ergänzungsenergie voneinander ab. Ist im einachsigen Fall die Spannung  eine allgemeine Funktion von , also   () , dann definieren wir WS (  ) 



 0

(  ) d .

Fassen wir umgekehrt die Dehnungen als Funktion der Spannungen auf, also   () , dann ist WS* ( ) 



 0

(  ) d .

Mit einem Blick auf Abb. 4.5 wird deutlich, warum WS* () spezifische Ergänzungsenergie genannt wird. Sie ergänzt offensichtlich die spezifische Formänderungsenergie WS (  ) , die sich im eindimensionalen Fall geometrisch als der Flächeninhalt unterhalb der Kurve () interpretieren lässt, zu einem Rechteck der Größe WS ()  WS* ()    .

Abb. 4.5 Spezifische Formänderungs- und Ergänzungsenergie

In beiden Fällen ermitteln wir die Formänderungs- und Ergänzungsenergie eines Körpers mit dem Volumen V durch Integration der spezifischen Größen über das Gesamtvolumen W () 



(V)

WS (  ) dV ,

W * () 



(V)

WS* (  ) dV .

4.3 Formänderungs- und Ergänzungsenergie

85

Beispiel 4-1: Ein dünner Stab genügt dem nichtlinearen einachsigen Werkstoffgesetz  E  ()   0 tanh ()  0 ar tanh 0 E 0 , , 0  0 . Das Material zeigt im Zug- und Druckversuch gleiches mechanisch Verhalten. Für große Beträge der Dehnungen nähert sich  asymptotisch der Grenzspannung 0. Die Neigung der Tangente an die Spannungs-Dehnungskurve d (  ) E   tan  2 d cosh ( E /  0 )

ist ein Maß für die Steifigkeit des Materials. Für  = 0 ist  0  arctan E . Mit zunehmender Dehnung (oder Stauchung) verflacht die --Kurve, und das Material wird weicher. Für diesen Werkstoff sind die spezifische isotherme Formänderungsenergie WS (  ) und Ergänzungsenergie WS* () zu berechnen. Lösung: Die erforderlichen Integrationen können hier analytisch vorgenommen werden. WS (  ) 

WS* ()





 0



(  ) d   0



0



1  (  ) d  

 0



tanh(  ) d   

0

 02 E ln cosh E 0

,

 2     1     ln 1   ar tanh d  0  ar tanh 0  0 2    0 E  0  

   

Abb. 4.6 Spannungs-Dehnungskurve, Formänderungsenergie und Ergänzungsenergie (E = 100 0)

2 

 .  

86

4 Arbeit und Energie

Wie die rechte Grafik in Abb. 4.6 zeigt, sind aufgrund des nichtlinearen Werkstoffgesetzes die isotherme Formänderungsenergie WS (  ) und die Ergänzungsenergie WS* () nicht gleich.

5

Der Dehnstab

In dünnen Stäben wird mit guter Näherung ein einachsiger Spannungszustand unterstellt, und die Querdehnungen werden mit   0 vernachlässigt. Die Matrizen von Spannungs- und Verzerrungstensor haben jeweils nur noch eine Komponente. Ist x die Koordinate parallel zur Stabachsrichtung, dann verbleibt lediglich die Normalspannung  du ( x )  11  E (11   T )  E    T  . dx  

Elementgleitungen treten nicht auf. Die Funktion u(x) beschreibt die Verschiebung des Querschnitts A(x) in x-Richtung. Über die Querschnittshöhe wird an der festen Stelle x die Spannung 11 als konstant angenommen, womit die Normalkraft N ( x ) :



(A)

 du ( x )  11 ( x ) dA  11 ( x ) A ( x )  EA ( x )    T  dx  

berechnet werden kann. Das Produkt EA wird Dehnsteifigkeit genannt. [ EA ] 

Masse  Länge ( Zeit )

2

, Einheit: kg m s-2 = N.

Im statisch bestimmten Fall kann die Normalkraft N(x) aus dem Kraftgleichgewicht in xRichtung allein berechnet werden. Im statisch unbestimmten Fall gehen wir mit dN ( x ) d   du ( x )     T     n ( x ) EA ( x )  dx dx   dx 

auf die Differenzialgleichung zweiter Ordnung zur Bestimmung der Verschiebung u(x) über, wobei n(x) die eingeprägte Normalkraftschüttung bezeichnet. Die Integration der obigen Differenzialgleichung liefert



N( x )   n ( x ) dx  C1 u(x) 

N( x )

 EA(x) dx   T x  C

2

Die bei der Integration anfallenden Integrationskonstanten sind aus den Randbedingungen des Stabes zu bestimmen. Ist der Rand eingespannt, dann muss dort die Verschiebung ver-

88

5 Der Dehnstab

schwinden, und am freien Rand ist N = 0 zu fordern (s.h. (Mathiak, 2012), Kap. 7.2). Die Berechnung der Stammfunktionen überlassen wir Maple. Beispiel 5-1:

Abb. 5.1 Beidseitig eingespannter Dehnstab mit veränderlichem Querschnitt unter Temperaturbelastung T

Der in Abb. 5.1 skizzierte beidseitig eingespannte dünne Stab der Länge  mit linear veränderlicher Querschnittsfläche A(x) wird durch eine Temperaturänderung T gegenüber dem Aufstellzustand beansprucht. Gesucht werden die Verschiebungen u(x), die Dehnungen xx(x), die Spannungen xx(x) und die Normalkräfte N(x). Untersuchen Sie den Fall A 0  A1 . Geg.: A0, A1, E, , T. Lösung: Die Querschnittsfläche ist mit A ( x )  A 0  ( A1  A 0 )

x x   A 0 1    ,   



A 1  A 0 A1  1 A0 A0

linear über die Stablänge veränderlich. Unter Beachtung des Werkstoffgesetzes  du ( x )   xx  E ( xx   T )  E    T  geht die Normalkraft über in  dx  x  du ( x )   N ( x )   xx ( x ) A ( x )  EA 0 1      T  . dx    

Da eine Normalkraftschüttung n(x) nicht vorhanden ist, erfordert das lokale KraftgleichgedN ( x ) wicht:   n ( x )  0 . Das führt auf die gewöhnliche Differenzialgleichung 2. Ordnung dx für die Verschiebung u(x):

d  x  du ( x )     T    0 . Führen wir die dimensi EA 0  1    dx    dx  

onslose Variable   x /   dx  d ein, und beachten, dass der konstante Faktor EA0 gekürzt werden kann, dann geht die Differenzialgleichung über in ihre normierte Form

5 Der Dehnstab

89

u ( )  du (  )   d   1   0 wobei noch u ()  gesetzt wurde. Wir lösen diese  (1   )  T d   d   du (  )  Gleichung durch zweimalige Integration und erhalten in Schritten: (1   )  1  C1 ,  d  C1 C1 du (  ) ln(1   )    C 2 .   1 ,  u ()    d 1   Die beiden noch freien Konstanten werden aus den Randbedingungen des Stabes ermittelt:

u (  0)  0  C 2 und u (  1)  0 

C1  ln(1   )  1  C1   . Damit erhalten  ln(1  )

ln(1  ) 1   (1  )  O(2 ) . Die Reihenentwicklung ln(1   ) 2 zeigt, dass für den Stab mit konstantem Querschnitt ( = 0) keine Verschiebungen auftreten. Den Ort  * der betragsmäßig größten Verschiebung ermitteln wir aus der Beziehung

wir die Verschiebung u ()   

du ()  1 1  0  1  , womit die größte Verschiebung zu *  d (1  ) ln(1   ) ln(1   )  max u  u (  * ) 

  ln(1   )   ln / ln(1   )  1 1 23 3     2    O(4 )  ln(1   ) 8 16 576

berechnet wird (Abb. 5.2, links).

Abb. 5.2 Normierte Verschiebungen und Spannungen für verschiedene Werte 

Wir notieren noch die verbleibenden (normierten) Zustandsgrößen Dehnungen:

 xx 

 xx du  1   1   (1  2)  O(2 ) . T d (1  ) ln(1   ) 2

90

5 Der Dehnstab

 xx 

Spannungen:

 xx  1   xx  1    1  (1  2)  O(2 ) . E T (1  ) ln(1   ) 2

 1 N  1    O(2 ) .  2 EA 0  T ln(1  ) Die Lösung für den Stab mit konstantem Querschnitt entnehmen wir den entsprechenden Reihenentwicklungen: N

Normalkraft:

u ()  u ( x )  0 ,  xx  0 ,  xx   E T , N   EA 0  T .

5.1

Der Stab unter Einzelkraft, Linienkraftschüttung und Temperaturbeanspruchung

Als Vorbereitung zur automatischen Berechnung der Zustandsgrößen mittels einer MapleProzedur, betrachten wir den dünnen Stab in Abb. 5.3, dessen linkes Ende bei x = xA frei und dessen rechtes Ende bei x = xE eingespannt ist.

Abb. 5.3 Schnittkraft N(x) am rechts eingespannten Stab

Die bei einem gedachten Schnitt an der Stelle x auftretende Normalkraft N(x) hängt nur von der Belastung des Stabes links vom Schnitt ab. Als Belastung treten in Stabachsrichtung eine Einzelkraft F und eine Linienkraftschüttung n(x) auf. Wir notieren die durch diese Belastungen hervorgerufene Schnittkraft N(x): 1. Einzelkraft F an der Stelle x = xF: für x  x F 0 N(x)   für x  x F  F Ausgedrückt durch die Heaviside-Funktion (s.h. (Mathiak, 2012), Kap. 7.2) 0 H(x )   1

für x  0 für x  0

H( x )  1  H( x )

können wir diese Darstellung vereinheitlichen

5.1 Der Stab unter Einzelkraft, Linienkraftschüttung und Temperaturbeanspruchung

91

N(x )  F H( x  x F ) .

Bilden wir von dieser Funktion die Ableitung, dann liefert uns Maple dN ( x ) :  n ( x )   F Dirac ( x  x F ) . dx

Im Sinne der Distributionstheorie entspricht Dirac( x  x F ) der ersten Ableitung der Heaviside-Funktion. Die Einzelkraft F kann somit gedeutet werden als Grenzwert einer Linienkraft mit der Resultierenden F, deren Intervallbreite gegen null und Intensität nach unendlich geht. 2. Linienkraftschüttung n(u) auf dem Intervall [x, xr]:  0 für x  x   x  N ( x )   n ( u ) du für x   x  x r  u x  xr n ( u ) du für x  x r   u x

 

Auch diese stückweise definierte Funktion lässt sich mittels der Heaviside-Funktion für den gesamten Wertebereich von x vereinheitlichen N(x )  H(x  x  )



x ux

n ( u ) du  H ( x  x r )



xr ux

n ( u ) du .

Treten in Ingenieuranwendungen allgemeine Linienkraftschüttungen auf, dann können diese mit beliebiger Genauigkeit durch linear veränderliche Belastungen

n (u )  n  

nr  n (u  x  ) xr  x

angenähert werden. Die zur Berechnung der Normalkraft erforderlichen Integrationen dieser Funktion überlassen wir Maple. Ist der Stab statisch bestimmt gelagert, dann kann die aus der Lagerung resultierende Fesselkraft aus dem globalen Gleichgewicht allein berechnet werden, und die Normalkraft ist im gesamten System bekannt. Ist dagegen der Stab n-fach statisch unbestimmt gelagert, im Fall des beidseitig eingespannten Stabes ist beispielsweise n = 1, dann befinden sich in der obigen Gleichung für die Normalkraft N(x) noch n unbekannte Lagerreaktionsgrößen Xi (i = 1…n), mit denen Maple jedoch rechnen kann. Zur Bestimmung dieser statisch Unbestimmten benötigen wir die Verschiebungen u(x), die wir aus der gewöhnlichen Differenzialgleichung 1. Ordnung  xx 

du ( x ) N( x )    T ( x )  u ( x )  dx EA ( x )

 N( x )



  EA( x )   T( x )  dx  C .

berechnen. Die Auswertung des Integrals liefert die Stammfunktion

1

92

5 Der Dehnstab

u St ( x ) 

 N(x )



  EA( x )   T ( x )  dx .

Die noch freie Konstante C1 berechnen wir aus der Forderung, dass der Stab am rechten Ende bei x = xE eingespannt ist und damit dort die Verschiebung verschwinden muss, was u ( x  x E )  0  u St ( x  x E )  C1

 C1   u St ( x  x E )

erfordert. Damit haben wir abschließend für den statisch bestimmten Fall u ( x )  u St ( x )  u St ( x  x E ) .

Ist dagegen der Stab n-fach statisch unbestimmt gelagert, im Fall des beidseitig eingespannten Stabes ist n = 1, dann befinden sich in der obigen Gleichung für die Verschiebung u(x) noch n unbekannte Lagerreaktionsgrößen Xi (i = 1…n), zu deren Berechnung uns aber genau n homogene Verschiebungsrandbedingungen u ( x i )  u St ( x i )  u St ( x  x E )  0

(i  1 n )

zur Verfügung stehen. Dabei entsteht ein lineares inhomogenes Gleichungssystem für n unbekannte Reaktionskräfte, dessen Lösung wir Maple überlassen. Beispiel 5-2: Entwerfen Sie eine Maple-Prozedur zur Berechnung der Zustandsgrößen eines geraden Stabes. Im Einzelnen sind zu berechnen und grafisch auszugeben: 1. Die Normalkraft N(x), 2. Die Spannung xx(x), 3. Die Verschiebungen u(x). Testen Sie die Prozedur an den in Abb. 5.4 skizzierten Beispielen. Überprüfen Sie auch die Ergebnisse aus Beispiel 5-1.

Abb. 5.4 Der Stab unter Einzelkraftbelastung, Linienkraftschüttung und Temperaturbeanspruchung

5.2 Das Reduktionsverfahren für den Dehnstab Geg.:

93

F1 = 80 kN, F2 = 120 kN, n1 = 1,0 kN/cm, n2 = 0,5 kN/cm, 1 = 12×10-6 K-1, 2 = 6×10-6 K-1, T1 = 40 K, T2 = 25 K, A1 = 10,6 cm2, A2 = 7,57 cm2, A3 = 5,50 cm2, E1 = 2,1×104 kN/cm2, E2 = 1,0×104 kN/cm2, E3 = 0,8×104 kN/cm2.

5.2

Das Reduktionsverfahren für den Dehnstab

Dieses Verfahren, das auch als Verfahren der Übertragungsmatrizen bekannt ist, eignet sich vorzugsweise für unverzweigte Stabstrukturen (Kersten, 1982). Für diese Anwendungsfälle ist es der Methode der finiten Elemente (FEM) bezüglich der Eleganz in der Herleitung der Grundgleichungen sowie des zu leistenden Rechenaufwandes weit überlegen. Zum einen ist nämlich die Größe des letztlich zu lösenden Gleichungssystems von der Anzahl der Stabelemente unabhängig, zum anderen liefert das Reduktionsverfahren die analytische Lösung.

Abb. 5.5 Einteilung eines Durchlaufstabes in Teilfelder, das freigeschnittene Feld k

Die Herleitung des Verfahrens erfolgt in Schritten. Wir beginnen mit der Zerlegung des Lösungsgebietes in Teilfelder. Der Stab in Abb. 5.5 besteht aus zwei Feldern. Die Feldgrenzen sind die Stabenden und die Stützungen. Einzelkräfte werden nur an den Feldgrenzen eingeleitet, und Normalkraftschüttungen verlaufen zwischen den Feldgrenzen linear veränderlich. Die Temperaturdehnung k Tk soll feldweise konstant sein. Der Knoten 1 wird über Federn mit der Gesamtsteifigkeit c1 elastisch gestützt, und der Knoten 2 ist eingespannt, wohingegen der Knoten 0 verschieblich gelagert und durch die eingeprägte Kraft F0 belastet ist. Abb. 5.5 rechts zeigt das Feld k mit der Länge k, das unmittelbar rechts vom Knoten i und links vom Knoten k freigeschnitten wurde. An den Feldgrenzen treten die als Zugkräfte positiv definierten Normalkräfte Ni und Nk auf. Die zugeordneten Stabendverschiebungen sind mit ui und uk bezeichnet, die positiv in positiver x-Richtung eingeführt wurden. Als Feldgleichungen treten die bekannten inhomogenen Differenzialgleichungen

dN k ( x k )  n k ( x k ) dx k auf. Wir integrieren und erhalten

und

 du ( x )  N k ( x k )  E k A k ( x k )  k k   k Tk  dx k  

94

5 Der Dehnstab



N k ( x k )   n k ( x k ) dx k  C1  N k 0 ( x k )  C1 . Damit folgt durch Umstellung die Verschiebungsdifferenzialgleichung

N k 0 (x k ) du k ( x k ) 1 C1 .    k Tk  dx k E k A k (x k ) E k A k (x k ) Nochmalige Integration liefert die Verschiebung u k (x k ) 

 N k0 (x k )  1   k Tk  dx k  C1 dx k  C 2 . A ( x ) E A k k k k k (x k ) 

  E



Die beiden Konstanten C1 und C2 werden durch die Randwerte von N und u an der Stelle x k  0 ausgedrückt: N k ( x k  0 )  C1 ,

u k ( x k  0)  C 2 .

Mit den Abkürzungen



N k 0 ( x k )   n k ( x k ) dx k , u k 0 ( x k )  f k (x k ) 

E A k

1 k (x k )

 N k0 (x k )    k Tk  dx k , k k (x k ) 

  E A

dx k

folgt übersichtlicher in Matrizenschreibweise

 u k ( x k )  1 f k ( x k ) u k 0 ( x k )   u k ( 0)   N ( x )   0 1 N k 0 ( x k )    N k ( 0)   k k    1  0   1  0 1 oder symbolisch z k ( x k )  U k ( x k )  z k ( 0) .

Damit sind die Zustandsgrößen uk und Nk an der beliebigen Stelle xk des Feldes k durch die Randwerte an der Stelle xk = 0 ausgedrückt. Insbesondere gilt am rechten Rand des Stababschnitts  u k (  k )  1 f k (  k ) u k 0 (  k )   u k ( 0 )   N (  )   0 1 N k 0 (  k )    N k ( 0)   k k    1  0   1  0 1

5.2 Das Reduktionsverfahren für den Dehnstab

95

Die Matrix

1 f (  k ) u 0 (  k )  1 N 0 (  k )  , U k (  k )   0  0 0 1  die in der letzten Spalte die Lastglieder enthält, verknüpft die Zustandsgrößen u und N zu Anfang und Ende des Stababschnitts miteinander und wird Übertragungsmatrix genannt. Mit den Zustandsvektoren  u k ( 0)  z k (0)   N k (0)  ,  1 

 u k ( k )  z k (  k )   N k (  k )    1 

können wir auch kürzer z k ( k )  U k ( k )  z k (0)

schreiben. Die Auswertung der Integrale für die Stammfunktionen N k 0 ( x k ) , u k 0 ( x k ) bzw. f k ( x k ) überlassen wir Maple. Für konstante Systemwerte erhalten wir N k 0 (x k )  n k x k , u k 0 (x k )  

xk n k x 2k   k Tk x k , f k ( x k )  . EkAk EkAk 2

Abb. 5.6 Zustandsgrößen an der Feldgrenze des Knotens k

Im nächsten Schritt untersuchen wir den Übergang der Zustandsgrößen am Knoten k. Dort treffen die beiden benachbarten Felder k und k+1 zusammen. Die geometrische Kompatibilität in den Verschiebungen u am Knoten k erfordert (Abb. 5.6) u k  u k (  k )  u k 1 ( 0) .

Ferner müssen im statischen Fall die auf den Knoten k wirkenden Kräfte im Gleichgewicht sein. Dort wirken die Normalkraft Nk(k) aus dem links angrenzenden Feld k, die eingeprägte Einzelkraft Fk, die Federkraft FFk = ckuk sowie die Normalkraft Nk+1(0) aus dem rechts angrenzenden Feld k+1. Das Kraftgleichgewicht erfordert  N k (  k )  FFk  Fk  N k 1 ( 0)  0 .

96

5 Der Dehnstab

Fassen wir die Kompatibilitäts- und die Gleichgewichtsbedingung in Matrizenschreibweise zusammen, dann erhalten wir

 u k 1 ( 0)   1  N ( 0)    c  k 1   k  1   0

0 0   u k ( k )  1  Fk    N k (  k )  0 1   1 

Die Matrix 1 U Pk  c k  0

0 0  1  Fk  0 1 

wird Knotenmatrix genannt. Sie beschreibt den Sprung der Zustandsgrößen beim Übergang vom linken zum rechten Schnittufer des Knotens k. Mit den Zustandsvektoren  u k ( k )   u k 1 ( 0)    z k (  k )   N k (  k )  , z k 1 ( 0)   N k 1 ( 0)   1   1  können wir dann kürzer

z k 1 (0)  U Pk  z k ( k )  U Pk  U k ( k )  z k (0)  U k ( k )  z k (0) schreiben. Aus rechentechnischen Gründen werden am Knoten k die Matrizen U Pk und U k zu einer Matrix U k ( k ) 

U Pk

1  U k (  k )  c k  0

f k ( k ) u k 0 ( k )  1  c k f k ( k ) c k u k 0 (  k )  N k 0 (  k )  Fk   0 1

zusammengefasst. Für jeden Abschnitt eines aus n Teilstäben bestehenden Stabsystems können wir nun die Beziehungen z 2 ( 0 )  U1  z 1 ( 0 ) z 3 ( 0 )  U 2  z 2 ( 0 )  U 2  U1  z 1 ( 0 )  z n 1 (0)  U n  z n (0)  U n  U n 1  U 2  U1  z 1 (0)  U ges  z 1 (0)

notieren. Mit U ges  U n  U n 1  U 2  U1 folgt die zentrale Gleichung des Reduktionsverfahrens

z n 1 (0)  U ges  z1 (0) .

5.2 Das Reduktionsverfahren für den Dehnstab

97

Damit ist das Stabsystem in einer komplizierten Beziehung zu einem Einzelstab zusammengefasst. Randbedingungen treten nur noch an den Enden des Stabsystems auf. Für die nummerische Umsetzung des Verfahrens ist es sinnvoll, mit normierten Zustandsgrößen zu rechnen. Wir führen dazu die beliebig wählbaren Vergleichsgrößen c, Ec und Ac ein und bilden damit

u k  u *k  c , N k  N*k E c A c , k c  E c A c /  c , womit u *k und N *k jetzt dimensionslos sind, und wir erhalten  1 k c f k (  k )   1  0     0 0  

 u *k (  k )   *   N k ( k )   

1

u k 0 ( k )   c   u *k ( 0)   N k 0 ( k )   *   N k (0)  .  EcAc   1     1  

Mit den Zustandsvektoren  u *k ( 0)    z *k ( 0 )   N *k ( 0 )  ,  1   

 u *k (  k )    z *k (  k )   N *k (  k )    1   

können wir dann

z *k (  k )  U *k (  k )  z *k ( 0) schreiben. Führen wir die normierten Zustandsgrößen in die Sprungbedingung am Knoten k ein, dann erhalten wir  u *k 1 ( 0)   1  *    N k 1 ( 0)    c k / k c  1   0   

* 0 0   u k ( k )   *   1  Fk /( E c A c )    N k (  k )    1  0 1  

Mit den Zustandsvektoren  u *k 1 ( 0)   u *k (  k )      z *k (  k )   N *k (  k )  , z *k 1 ( 0)   N *k 1 ( 0 )   1   1     

können wir dann wieder kürzer

z *k 1 (0)  U *kP  z *k ( k )  U *kP  U *k ( k )  z k (0)  U *k ( k )  z *k (0)

98

5 Der Dehnstab

notieren. Die Zusammenfassung der Matrizen U*kP und U *k liefert   1  c * *P * U k ( k )  U k  U k ( k )   k k  c  0  

k c f k ( k ) 1  c k f k ( k ) 0

u k 0 ( k ) c c k u k 0 (  k )  N k 0 (  k )  Fk EcAc 1

    .    

Von Interesse sind noch die Randbedingungen (Abb. 5.7). Wir unterscheiden prinzipiell zwischen verschieblichen und unverschieblichen (eingespannten) Rändern. Ein verschieblicher Rand kann frei oder federnd gelagert sein und durch eine eingeprägte Kraft oder auch eine eingeprägte Verschiebung beansprucht werden. Abb. 5.7 zeigt einige Beispiele.

Abb. 5.7 Randbedingungen für den Dehnstab

Beispiel 5-3:

Abb. 5.8 Stabsystem mit elastisch gelagertem Knoten 1

Für das in Abb. 5.8 skizzierte Stabsystem sind folgende Systemwerte gegeben: Feld 1: 1 = 5 m, E1 = 2,1×104 kN/cm2, A1 = 7,75 cm2, Feld 2: 2 = 6 m, E2 = 1,0×104 kN/cm2, A2 = 16,6 cm2, n2 = 1,0 kN/cm, Knoten 0: F0 = 180 kN,

Knoten 1: c1 = 200 kN/cm.

Lösung: Aus rechentechnischen Gründen wird links vom Knoten 0 ein Feld 0 mit der Länge

0 = 0 eingeführt. Der Zustandsvektor z 0 (  0 )  A 0 1 T berücksichtigt einerseits mit der unbekannten Verschiebung A die Verschieblichkeit des linken Endes, und andererseits muss

5.2 Das Reduktionsverfahren für den Dehnstab

99

dort die Normalkraft verschwinden. Die für das Feld 0 maßgebende Matrix U 0 enthält nur die am linken Ende eingeprägte Kraft F0. Bei einer elastischen Lagerung dieses Randes wäre auch noch der Anteil aus der Rückstellkraft der Feder (Federkonstante c0) zu berücksichtigen. Damit haben wir

0  A   A  1 0 1 0 0  U 0  0 1  F0  und damit z 1 (0)  U 0  z 0 ( 0 )  0 1  F0    0     F0  . 0 0 0 0 1  1  1   1 Feld 1: Wegen der fehlenden Normalkraftschüttung sind N10 ( x 1 )  0 und u 10 ( x 1 )  0 . Es verbleibt lediglich f1 ( x1 ) 

 1 dx1  1 1  w 11 ( 1  x 1 /  1 ) . Die elastische E 1 A1 E 1 A1



Lagerung des Knotens 1 wird in der Knotenmatrix U1P berücksichtigt. Damit erhalten wir 1 w 1 1 0 1 w 1 0   1 0 0     P 1 0 , U1 (  1 )  0 1 0  , U1  c1 1 0 sowie U1 ( x 1 )   0 0 0 0 1   0 0 1  0 1  U1 (  1 ) 

U1P

w1 0 1   U1 (  1 )  c1 1  c1 w 1 0  .  0 0 1 

Feld 2: Dieses Feld wird durch eine konstante Normalkraftschüttung n2 beansprucht. Das hat



N 20 ( x 2 )   n 2 ( x 2 ) dx 2  n 2  2  2  g 2  2 u 20 ( x 2 ) 



g 2   n 2  2 ,  2  x 2 /  2 sowie

N 20 ( x 2 ) n 2 dx 2   2 2  22  h 2  22 E2A2 2E 2 A 2

zur Folge. Weiterhin gilt f 2 ( x 2 )  1 w 2  2  1 U 2 ( x 2 )  0 0 0 

1 w 2 U 2 (  2 )  0 1 0 0

2  2  w 2  2 . Damit haben wir E2A2

1 w 2 h 2  22    g 2  2  , U 2 ( 2 )  0 1 0 0 1  

h2  1 0 0   P g 2  , U 2  0 1 0   1 , 0 0 1  1 

h2  1  c1 w 2  g 2  , U ges  U 2  U1   c1  0 1 

w 1  w 2 (1  c1 w 2 ) h 2  1  c1 w 1 g 2  . 0 1 

100

5 Der Dehnstab

Mit dem Zustandsvektor z 3 (0)  0 B 1 T wird sichergestellt, dass der Knoten 3 eingespannt ist, und B bezeichnet die noch unbekannte Normalkraft am rechten Rand. Die Unbekannten A und B werden aus der Gleichung U ges  z1 (0)  z 3 (0)  0 bestimmt. Wir erhalten

(1  c1 w 2 ) A  F0 [ w 1  w 2 (1  c1 w 1 )  h 2 ] 0    0 c1A  F0 (1  c1 w 1 )  g 2  B    .   0 0

F  g 2 (1  c1 w 2 )  c1h 2 F0 [ w 1  w 2 (1  c1 w 1 )]  h 2 ,B 0 . Mit 1  c1 w 2 1  c1 w 2 den Werten des Beispiels sind: A  1,57 cm, B  578,60 kN . Damit folgen die Zustandsvektoren und Feldmatrizen Die Lösung ergibt: A 

 1,573  z 1 (0)  U 0  z 0 ( 0 )    180,0 ,  1 

1,573  0,5661    180,0 z1 ( x 1 )  U1 ( x 1 )  z 1 ( 0)      1

1,007  z 2 ( 0)  U1  z 1 ( 1 )   21, 40  ,  1 

1,007  0,077  2  1,084 22    z 2 ( x 2 )  U 2 ( x 2 )  z 2 ( 0)   21, 40  600,0  2    1  

Abb. 5.9 Zustandsgrößen

Die vom rechten Lager aufzunehmende Druckkraft ergibt sich zu R 2   B  578,60 kN . Beispiel 5-4:

Entwerfen Sie eine Maple-Prozedur zur Berechnung der Zustandsgrößen eines geraden Stabsystems nach dem Reduktionsverfahren. Im Einzelnen sind zu berechnen und grafisch auszugeben:

5.3 Pfahlrostberechnung

101

1. Die Normalkraft N(x), 2. Die Spannung xx(x), 3. Die Verschiebungen u(x). Testen Sie die Prozedur an den in Abb. 5.4 skizzierten Beispielen. Überprüfen Sie auch die Ergebnisse aus Beispiel 5-1 und Beispiel 5-3.

5.3

Pfahlrostberechnung

Pfahlroste sind eine spezielle Form der Tiefgründung. Sie bestehen aus einer Anzahl von Pfählen oder Pfahlgruppen, die an ihren Kopfpunkten durch eine Grundplatte verbunden sind und so zu einer gemeinsam tragenden Gründung herangezogen werden. Auf der Rostplatte wird dann das eigentliche Bauwerk errichtet. Früher wurden Holzpfähle verwendet, daher auch die Bezeichnung Pfahlrost. In Abb. 5.10 ist der Ausschnitt eines Pfahlrostes skizziert. Die Grundplatte wird als starr angenommen, und die Pfähle seien sämtlich aus Hookeschem Material gefertigt, deren Fußpunkte unverschieblich gelagert sind. Das Kräftesystem besteht aus einer im Punkt P angreifenden Kraft R und einem Moment M. Wenn wir von einer Querbelastung absehen, und eine drehbare Lagerung der Kopf- und Fußpunkte unterstellen, dann übertragen die Pfähle nur Normalkräfte (Zug oder Druck).

Abb. 5.10 Pfahlrost, Belastung durch eine resultierende Kraft R und ein resultierendes Moment M

Bezeichnet w0 die Verschiebung des Punktes P der Grundplatte und 0 den Vektor der Grundplattendrehung, dann kann bei Unterstellung kleiner Verformungen die Verschiebung des Kopfpunktes des Pfahles k nach Euler in der Form w k  w 0    (rk  rP )  w 0    x k ,

( x k  rk  rP ),

notiert werden. Die Pfahlneigungen werden durch die Einheitsvektoren ek festgelegt. Für die Komponente des Verschiebungsvektors wk in Richtung der Pfahlachse erhalten wir dann  k  w k  e k  w 0  e k  (   x k )  e k .

102

5 Der Dehnstab

Nach dem Hookeschen Gesetz gilt

k 

 k Nk  k EkAk

 Nk 

Ek Ak  k . k

Bezeichnet

ck 

Ek Ak k

die Steifigkeit des Pfahles mit dem Index k (Ek: Elastizitätsmodul, Ak: Querschnittsfläche, k: Pfahllänge), dann folgt für die Stabdruckkraft N k  c k  k  c k w 0  e k  (  x k )  e k  ,

und für die auf die Grundplatte ausgeübte Kraft ergibt sich nach dem Reaktionsprinzip S k   N k e k   c k w 0  e k  (   x k )  e k  e k .

Neben den Stabkräften Sk wirken im Punkt P eine äußere Kraft R und ein äußeres Moment M. Dieses System muss im Gleichgewicht sein, was bei einer Anzahl von n Pfählen n



n

x

Sk  R  0 ,

k 1

k

Sk  M  0

k 1

erfordert. Unter Beachtung von (w 0  e k ) e k  (e k  e k )  w 0 , [(  x k )  e k ]e k  [e k  ( x k  e k )]  

folgt nach kurzer Rechnung für das Kraftgleichgewicht n

c

k

(e k  e k )  w 0  [e k  ( x k  e k )]  

R.

k 1

Mit den Abkürzungen n

A



n

Ak 

k 1



ckek  ek  AT , B 

k 1

n



n

Bk 

k 1

c e

k k

 (x k  e k )

k 1

erscheint dann das Kraftgleichgewicht in der Form Aw0  B  R .

Beachten wir ferner x k  S k  c k x k  w 0  e k  (  x k )  e k  e k

 c k [(x k  e k )  e k ]  w 0  [(x k  e k )  (x k  e k )]  ,

5.3 Pfahlrostberechnung

103

dann folgt für das Momentengleichgewicht n

c

k

[(x k  e k )  e k ]  w 0  [(x k  e k )  (x k  e k )]    M ,

k 1

welches mit der Abkürzung n

C



n

Ck 

k 1

c

k (x k

 e k )  (x k  e k )  CT

k 1

übergeht in die Form

BT  w 0  C    M . Fassen wir das Kraft- und Momentengleichgewicht zu einer Gleichung zusammen, dann folgt das lineare Gleichungssystem Kx  b ,

wobei zur Abkürzung A K T B

B w  R  K T , x   0 , b     C   M 

gesetzt wurde. Sind aus dieser Beziehung w0 und  berechnet, dann können auch die Stabkräfte Sk ermittelt werden, womit das Problem als gelöst gelten kann. Ließe sich die Matrix B durch geeignete Wahl des Punktes P zum Verschwinden bringen, dann zerfiele die obige Gleichung in die beiden Vektorgleichungen A  w 0  R und C     . Eine alleinige Kraftbelastung in P hätte dann eine reine Translation und eine alleinige Momentenbelastung eine reine Drehung der starren Grundplatte zur Folge. In (Trostel R. , Beitrag zum Thema Pfahlrostberechnung, 1959, Heft 3) wird gezeigt, dass ein solcher Punkt, der auch elastischer Schwerpunkt genannt wird, im räumlichen Fall i. Allg. nicht existiert. Im Spezialfall des ebenen Rostes, etwa der (1,2)-Ebene, ist dagegen ein solcher Punkt immer zu finden, und die Steifigkeitsmatrix K reduziert sich auf eine symmetrische (3  3) -Matrix der Form A K T b

b , A  

n

A k 1

n

k

, b

b k 1

n

k

, 



k

.

k 1

Im Einzelnen sind  e2 A k  c k  k ,1  e k ,1e k , 2

e k ,1e k , 2  T   Ak , 2 e k , 2 

 e k ,1 ( x k ,1e k , 2  x k , 2 e k ,1 )  bk  ck  ,  e k , 2 ( x k ,1e k , 2  x k , 2 e k ,1 ) 

104

5 Der Dehnstab

und von der Matrix C verbleibt nur noch der Skalar

k 



n

c ( x k ,1e k , 2 k 1 k

 x k , 2 e k ,1 ) .

Beachten wir ferner x k  rk  rP  rk  rE (rE: Ortsvektor des elastischen Schwerpunkts), dann geht der Vektor bk über in  e k ,1 ( rk ,1e k , 2  rk , 2 e k ,1  rE ,1e k , 2  rE , 2 e k ,1 )  bk  ck  .  e k , 2 ( rk ,1e k , 2  rk , 2 e k ,1  rE ,1e k , 2  rE , 2 e k ,1 ) 

Die Koordinaten des elastischen Schwerpunktes rE bestimmen wir nun aus der Forderung

b



n

b k 1 k

0.

Mit den Abkürzungen

h11  z1 



n

c e e , k 1 k k ,1 k , 2



n

h12 

c e (r e k 1 k k ,1 k ,1 k , 2



n

c e2 k 1 k k ,1

 rk , 2 e k ,1 ) , z 2 

, h 21 



n

c e2 k 1 k k , 2



n

c e (r e k 1 k k , 2 k ,1 k , 2

, h 22   h 11 ,

 rk , 2 e k ,1 ) ,

führt das nach kurzer Rechnung auf das lineare Gleichungssystem  h 11 h  21 rE ,1 

 h 12   rE ,1   z1  . Die Lösungen sind    h 11   rE , 2   z 2  z1h 11  z 2 h 12 2 h 11

 h 12 h 21

, rE , 2 

z1h 21  z 2 h 11 2 h 11  h 12 h 21

.

Hinweis: Aus nummerischen Gründen wird empfohlen, mit einer normierten Verschiebung zu rechnen. Wir bilden dazu w 0  w *0  0 . Die Vergleichslänge  0  0 kann dabei beliebig gewählt werden. Damit erhalten wir nun folgendes Gleichungssystem K *  x *  b * , mit

 A K*   T  B / 0

 w *0  B/ 0   R/ 0  * * , b   2 , x   2. C/  0      M / 0 

5.3 Pfahlrostberechnung

105

Beispiel 5-5:

Abb. 5.11

Durch sieben Stäbe gestützte starre Platte

Fassen Sie die obigen Beziehungen zur Berechnung der Verschiebung w0 und der Verdrehung 0 einer starren Pfahlkopfplatte in einer Maple-Prozedur zusammen. Berechnen Sie damit die Stabkräfte des Systems in Abb. 5.11. Geben Sie Geometrie und Belastung grafisch aus. Geg.: a = 450 cm, R = 100 kN, M = 30 kNcm. Stäbe 1-6: E = 2,1 104 kN/cm2, A = 10,0 cm2. Stab 7: E = 1,8 104 kN/cm2, A = 5,0 cm2. Die formatierten Eingabedaten stehen in der Datei Beispiel_5_5.txt. Beispiel 5-6: Ändern Sie die Prozedur in Beispiel 5-5 so ab, dass damit allein ebene Pfahlroste berechnet werden können. Ermitteln Sie damit die Stabkräfte und die Lage des elastischen Schwerpunktes für die Systeme in Abb. 5.12. Geben Sie das System und die Belastung grafisch aus. Die formatierten Eingabedaten für das System I stehen in der Datei Beispiel_5_61.txt und für das System II in der Datei Beispiel_5_62.txt. Geg.: a = 500 cm, h = 400 cm, d =100 cm,  = 30°, F1 = 80 kN, F2 = 100 kN, M = 50 kNcm. Stäbe 1-3: E = 2,1 104 kN/cm2, A = 10,0 cm2, Stab 4: E = 0,8 104 kN/cm2, A = 5,0 cm2.

106

5 Der Dehnstab

Abb. 5.12 Ebene Pfahlroste, Berechnung der Stabkräfte und der elastischen Schwerpunkte

5.4

Fachwerke

In (Mathiak, 2012) wird gezeigt, wie die Stabkräfte eines statisch bestimmten Fachwerks (engl. truss) mittels der Gleichgewichtsbedingungen allein berechnet werden können. Bei innerlich und/oder äußerlich statisch unbestimmten Fachwerken reichen jedoch die Gleichgewichtsbedingungen allein nicht mehr aus, vielmehr sind nun zusätzlich die Verformungen, und damit verbunden gewisse Kompatibilitätsbedingungen, zu berücksichtigen. Wir beschränken uns beim Werkstoffgesetz wieder auf ein linear elastisches Material, was bedeutet, dass sämtliche Stäbe des Fachwerks nur im elastischen Bereich verformt werden dürfen; die Verformungen müssen also hinreichend klein sein. Wir verdeutlichen die weitere Vorgehensweise am bewusst einfach gewählten Beispiel des ebenen Fachwerks in Abb. 5.13. Für dieses Fachwerk sind die Stabkräfte und die Knotenverschiebungen unter den angegebenen äußeren Kräften zu berechnen. Wir benutzen im Folgenden die Terminologie der finiten Elemente Methode (FEM). Demzufolge stellt ein Fachwerkstab ein finites Element (engl. truss element, bar element) dar, welcher voraussetzungsgemäß nur Normalkräfte (Zug oder Druck) übertragen kann. Das erfordert äußere Kräfte, die ausschließlich über die Gelenke (engl. joints) eingetragen werden dürfen. Eine Belastung des Stabes durch Linienkräfte längs der Stabachse, die mit der Fachwerktheorie ebenfalls im Einklang steht, betrachten wir hier nicht.

5.4 Fachwerke

107

Abb. 5.13 Ebenes Fachwerk

Das dargestellte Fachwerk besitzt n = 3 Knoten und m = 3 Elemente. Zur geometrischen Beschreibung des Systems werden die kartesischen Koordinaten (x1,x2) eingeführt, deren Ursprung sinnvoll gewählt wird. Tab. 5.1 Knotendatei Knotennummer

x1-Koordinate [cm]

x2-Koordinate [cm]

1 2 3

0 540 270

0 0 468

Elementnummer

Anfangsknoten

Endknoten

1 2 3

1 1 2

2 3 3

Tab. 5.2 Elementdatei

In der Knotendatei (Tab. 5.1) werden jedem Knoten die globalen Koordinaten in einer einheitlichen Längeneinheit (hier cm) zugewiesen. Auf Basis der Knotendatei können bereits die Stablängen (i: Stabanfangsknoten, j: Stabendknoten)

  ( x1, j  x1,i ) 2  ( x 2, j  x 2,i ) 2 , und deren Winkellagen cos  

x 1, j  x 1,i

, sin  

x 2 , j  x 2 ,i

,   berechnet werden. Der Pfeil an der Elementbezeichnung in Abb. 5.13 soll die Orientierung des Elementes mit Anfangs- und Endpunkt anzeigen. Diese Informationen werden in der Elementdatei (Tab. 5.2) abgelegt.

108

5 Der Dehnstab

Zur Herleitung der allgemeinen Gleichungen auf Stabebene ist ein globales Koordinatensystem ungeeignet. Wir führen deshalb die lokalen Koordinaten X1 und X2 mit Ursprung im Stabanfangspunkt i derart ein, dass die X1-Achse mit der Stabachse des betrachteten Stabes zusammenfällt. Das lokale Koordinatensystem ist gegenüber dem globalen Koordinatensystem um den Winkel  gedreht (Abb. 5.14).

Abb. 5.14 Knotenverschiebungen, Transformation und Zuordnung

Abb. 5.15 Stabendkräfte, Transformation

An den Stabenden können nur Normalkräfte auftreten. Wir bezeichnen diese mit N i und N j (Abb. 5.15). Das Werkstoffgesetz für den Stab lautet: u j  ui Nj   E E .   A EA Damit ist N j  ( u j  u i ) , und das Kraftgleichgewicht erfordert  EA Ni  N j  0  Ni  N j   (u j  u i ) .  Die in lokalen Koordinaten formulierten Elementknotenverschiebungen und Stabendkräfte fassen wir in den Vektoren u i  u  u j 

und

N  n  i  N j 

5.4 Fachwerke

109

zusammen. Damit können wir die Stabendkräfte in der Form  N i  EA  1  1  u i       1  u j    1  N j 

oder auch symbolisch n  K u

mit der symmetrischen Elementsteifigkeitsmatrix K

EA  1  1      1 1

notieren. Ein Blick auf Abb. 5.13 zeigt, dass jeder Stab eine andere Lage in Bezug auf das globale Koordinatensystem besitzt. Um die Wichtung jedes einzelnen Stabes im Gesamtsystem zu erfassen, müssen die im lokalen Koordinatensystem formulierten Größen in das einheitliche globale Koordinatensystem transformiert werden. Bei einer Drehung des Koordinatensystems um den Winkel  folgt für die Stabendkräfte:

N i  N1,i cos   N 2,i sin , N j  N1, j cos   N 2 , j sin  . Mit den Abkürzungen c  cos , s  sin  erhalten wir damit in Matrizenschreibweise

 N1,i   N1,i   c   N    N i   c s 0 0   N 2 ,i   2 ,i    s         N1, j  0  N j  0 0 c s  N1, j       N 2 , j   N 2, j  0

0 0  N i    . c   N j   s

Da auch die Verschiebungen Vektorcharakter haben, gelten für diese dieselben Transformationsgesetze, also

 u 1,i   c  u 1,i  u      u i   c s 0 0   u 2 ,i   2 ,i    s    u     u 1, j  0    j  0 0 c s   u 1, j      u 2, j  0  u 2, j 

0 0  u i    . c  u j   s

Mit Einführung von

 u 1,i   N1,i   c 0 u  N   s 0  c s 0 0 2 ,i  2 ,i   , u n , T , TT     u 1, j   N1, j  0 c  0 0 c s        0 s   u 2, j   N 2, j 

110

5 Der Dehnstab

folgen die symbolischen Darstellungen

n  T  n  n  TT  n, u  T  u  u  TT  u . Wir transformieren nun das in lokalen Koordinaten formulierte Elastizitätsgesetz auf die globalen Koordinaten und erhalten in Schritten:

n  K  u  TT  n  TT  K  T  u  n  TT  K  T  u . Schreiben wir abkürzend

K  TT  K  T , dann lautet das Elastizitätsgesetz des Stabes in globalen Koordinaten K u  n .

Ausmultiplizieren liefert die symmetrische singuläre Elementsteifigkeitsmatrix in globalen Koordinaten  c2 s c  c2  EA  s2  sc K   c2  sym.

 s c   s2  sc   s 2 

det K = 0.

Dieses für eine konstante Dehnsteifigkeit EA hergeleitete Stabelement besitzt folgende Eigenschaften: 1. Die Verschiebungen verlaufen längs der Stabachse linear, 2. Die Dehnungen und Schnittkräfte sind über die Stablänge konstant. Denken wir uns im Elastizitätsgesetz K  u  n die Verschiebungen u vorgegeben, dann liefert die Multiplikation der Steifigkeitsmatrix mit diesen Verschiebungen die dazu erforderlichen Stabendkräfte n. Es lässt sich nun die Frage stellen, ob ausgezeichnete Stabendverschiebungen existieren, die zu Stabendkräften führen, die proportional zu diesen Richtungen sind, was K  u   u erfordert, oder (K - 1)  u  0 .

Für  = 0 (Stab in horizontaler Lage) liefert uns Maple folgende Eigenwerte (Zeilen 1-4 in  und Eigenvektoren (Spalten 1-4 in , die wegen der Symmetrie von K reell und untereinander orthogonal sind:

2  0 Λ , 0   0

1  0 Φ  1   0

0 0 0 1

1 0 1 0

0 1 , 0  0



EA . 

5.4 Fachwerke

111

Aus der linearen Algebra ist bekannt (Zurmühl & Falk, 1992), dass Eigenvektoren zu mehrfachen Eigenwerten nicht mehr eindeutig sind. Jede Linearkombination dieser Eigenvektoren stellt dann wieder ein Eigenvektor dar. Bilden wir aus der zweiten und vierten Spalte von  durch Addition und Subtraktion zwei neue Eigenvektoren zum Eigenwert  = 0, dann erhalten wir folgende Eigenvektormatrix

1  0 Φ  1   0

1 0 0  1 . 1 0  0 1

0 1 0 1

Die geometrische Bedeutung dieser Eigenwerte entnehmen wir der Abb. 5.16.

Abb. 5.16 Eigenformen des Dehnstabes ( = 0)

Der Eigenvektor zum 1. Eigenwert 1  2  beschreibt eine Stabdehnung. Die Eigenvektoren zum dreifachen Eigenwert  2   3   4  0 stellen Starrkörperbewegungen dar, die wegen K  u i  0 (i = 2,3,4) kräftefrei erfolgen. Dabei handelt es sich um zwei Translationen und eine Rotation. Um den Dehnstab in der Ebene kinematisch bestimmt zu lagern, müssen mindestens diese drei Starrkörperbewegungen unterbunden werden. Die allgemeine Verschiebung (ek: Eigenvektoren) 4

u

c e

k k

k 1

der Stabenden eines Elementes kann dann nur aus der Superposition der vier Eigenformen bestehen, wobei die ck beliebige reelle Konstanten bezeichnen (Entwicklungssatz). Im Einzelnen erhalten wir für die drei Fachwerkstäbe folgende Steifigkeitsmatrizen:

112

K (1) 

K ( 3) 

5 Der Dehnstab

(1)

E A

(1)

 (1)

E

( 3)



A

0 1  1  0 0   1  sym.

( 3)

( 3)

0 0  E ( 2) A ( 2) , K ( 2)  0  ( 2)  0

0, 250 0, 433  0, 250  0, 433  0,750  0, 433  0,750  ,  0, 250 0, 433   0,750  sym.

0, 433 0, 250  0, 433  0, 250   0 , 750 0 , 433 0 ,750   .  0, 250  0, 433   0,750   sym.

Die Elastizitätsgleichung für den Einzelstab ist nun für sämtliche Stäbe des Systems anzuschreiben. Wir erhalten

K (1)  u (1)  n (1) , K ( 2 )  u ( 2 )  n ( 2 ) , K ( 3)  u ( 3)  n ( 3) . Dieses Gleichungssystem lässt sich auch in Hypermatrixform darstellen: K (1) 0 0   u (1)   n (1)        ( 2) K 0   u ( 2 )   n ( 2 )  ,  0  0 0 K ( 3)   u ( 3)   n ( 3)         s u U

oder auch symbolisch U u  s .

Das obige Gleichungssystem berücksichtigt noch nicht die Systemeigenschaften des gekoppelten Systems. Dies kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die Gesamtsteifigkeitsmatrix U des freien unverbundenen Systems nur auf der Hauptdiagonale besetzt ist und somit alle Gleichungen entkoppelt sind. Im Fachwerk nach Abb. 5.13 sind aber die Einzelstäbe an den Knoten fest miteinander verbunden. Diese Tatsache wurde bisher noch nicht berücksichtigt.

Abb. 5.17 Geometrische Kompatibilität am Knoten 3

Wir betrachten als Ausgangspunkt für die folgenden Untersuchungen die geometrischen Verhältnisse am Knoten 3 (Abb. 5.17). Soll der Körperzusammenhang an diesem Knoten gewahrt bleiben, so muss die Knotenverschiebung v3 identisch sein mit den Stabendverschiebungen der angrenzenden Stäbe, also

5.4 Fachwerke

113

v 3  u (j2)  u (j3) . Ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Formulierung unseres Problems ist an dieser Stelle der Übergang von den Stabendverschiebungen u auf die Systemknotenverschiebungen v. Fassen wir sämtliche Knotenverschiebungen im Knotenverschiebungsvektor v  [ v1,1

v 2 ,1

v1, 2

v 2, 2

v1, 3

v 2 ,3 ]T

zusammen, dann kann die Kopplung der Knotenverschiebungen mit den Stabendverschiebungen wie folgt dargestellt werden  u 1(1,i)   (1)  1  u 2 ,i    (1)  0  u 1, j  0  u (1)    2 , j  0  u 1( ,2i )  1  ( 2)    u 2 ,i  0  ( 2 )   0  u 1, j    u ( 2 )  0  2, j    u 1(,3i)  0  ( 3)  0  u 2,i    u ( 3)  0  1, j  0  u ( 3)    2, j 

0 0 0 0 0 1 0 0 0 0  0 1 0 0 0  0 0 1 0 0   v1,1    0 0 0 0 0   v 2 ,1   1 0 0 0 0   v1, 2  ,   0 0 0 1 0  v 2, 2   0 0 0 0 1   v1, 3     0 1 0 0 0   v 2 , 3  0 0 1 0 0  0 0 0 1 0 0 0 0 0 1 

oder auch symbolisch u  Av .

Die Zuordnungsmatrix A hat lediglich Booleschen1 Charakter, denn sie liefert nur zwei Informationen, die mechanisch wie folgt gedeutet werden: 0: 1:

Kopplung zwischen Stabendpunkt und Knotenpunkt ist nicht vorhanden, Kopplung zwischen Stabendpunkt und Knotenpunkt ist vorhanden.

In der 5. und 6. Spalte der Matrix A erkennen wir die Kompatibilitätsbedingungen am Knoten 3, an dem die Elemente 2 und 3 zusammentreffen. Im nächsten Schritt soll der Einbau der äußeren eingeprägten Kräfte in das finite Gleichungssystem vorgenommen werden. Die an einem Fachwerkknoten angreifenden Kräfte lassen sich grundsätzlich in zwei Gruppen einteilen: 1

George Boole, brit. Mathematiker und Logiker, 18151864

114

5 Der Dehnstab

1. Die äußeren Kräfte, die als bekannt vorausgesetzt werden können, wenn es sich um eingeprägte Kräfte handelt. Unterliegt der Knoten jedoch gewissen Lagerungsbedingungen, so treten diese äußeren Kräfte als Reaktionskräfte auf, die zunächst unbekannt sind. 2. Die als Folge des Schnittprinzips auftretenden Stabendschnittkräfte. Wir betrachten zunächst den freien Knoten 3 des Systems, der also keinen Lagerungsbedingungen unterworfen ist. Neben der geometrischen Kompatibilität müssen selbstverständlich auch die Gleichgewichtsbedingungen erfüllt sein. Es leuchtet sofort ein, dass, wenn jeder Knoten für sich im Gleichgewicht ist, auch das Gesamtsystem im Gleichgewicht sein muss. Von den drei Gleichgewichtsbedingungen in der Ebene (zwei Kraft- und eine Momentengleichgewichtsbedingung) verbleiben an einem Knoten nur die beiden Kraftgleichgewichtsbedingungen, da das Momentengleichgewicht von vornherein erfüllt ist.

Abb. 5.18 Kraftgleichgewicht am Knoten 3

Abb. 5.18 zeigt den freigeschnittenen Knoten 3 mit dem dort herrschenden Kraftzustand. Nach dem Reaktionsprinzip wirken die Stabendkräfte in entgegengesetzter Richtung auf die Knoten, was durch ein Minuszeichen berücksichtigt wurde. Fassen wir die Stabendschnittkräfte am Knoten 3 im Vektor

p 3  n (j2)  n (j3) zusammen, so lautet das dortige Kraftgleichgewicht

p 3  P3! . Zur Formulierung des Kraftgleichgewichts an allen Knoten führen wir den Knotenkraftvektor p  [ p1,1

p 2,1

p1, 2

p 2, 2

p1, 3

p 2,3 ] T

ein, der mittels der Zuordnungsmatrix A (hier ohne Beweis) symbolisch in der Form

p  AT n notiert werden kann. Mit dem in globalen Koordinaten dargestellten Vektor der äußeren Knotenlasten

5.4 Fachwerke p !  [ P1!,1

115 P2! ,1

P1!, 2

P2! , 2

P1!,3

P2! , 3 ]T

können wir das Kraftgleichgewicht an sämtlichen Knoten des Systems schließlich wie folgt schreiben:

p  p!

oder

A T  n  p! .

Im nächsten Schritt erfolgt für das ungebundene System der Aufbau der Gesamtsteifigkeitsmatrix und der rechten Seite. Ausgehend von der Beziehung U  u  s erhalten wir durch den Übergang auf die Knotenverschiebungen:

AT  U  u  AT s  AT  U  A  v  AT s . Setzen wir abkürzend S  AT  U  A ,

p!  A T  n ,

dann kann das lineare Gleichungssystem zur Bestimmung der Knotenverschiebungen v in der kompakten Form

S  v  p! geschrieben werden. Für den Fall gleicher Dehnsteifigkeit aller Stäbe errechnen wir für unser Beispiel in Abb. 5.13 die folgende Steifigkeitsmatrix  1, 250   EA  S       sym.

0, 433 0,750

1

0  0, 250  0, 433 0  0, 433  0,750 1, 250  0, 433  0, 250 0, 433 .  0,750 0, 433  0,750 0,500 0  1,500 0

Die Steifigkeitsmatrix S des freien ungebundenen Systems ist singulär (det S = 0). Maple liefert uns für EA/ = 1 folgende Eigenwerte  und Eigenvektoren : 0  0    0  Λ   , 1,5  1,5    3,0 

 0, 289   0,500   0, 289 Φ  0,500   0,577  0 

0,571 0,088 0,500  0, 289  0,500  0,088  0,571  0, 289  0,500  0, 289  0,571 0,088  0,500  0, 289 0,500   0,088  0,571  0, 289 0,500  0, 289  . 0,571 0,088 0 0,577 0  0,088  0,571 0,577 0 0,577 

Es treten drei Null-Eigenwerte auf, deren zugehörige Eigenvektoren (Spalten 1-3 von ) die drei möglichen Starrkörperbewegungen (2 Translationen, eine Rotation) des freien ungebundenen Systems beschreiben. Mit  4   5  1,5 liegen ferner zwei gleiche Eigenwerte vor.

116

5 Der Dehnstab

Die Eigenvektoren zu den mehrfach auftretenden Eigenvektoren sind, wie bereits erwähnt, nicht eindeutig. Eindeutigkeit liegt allein beim Eigenwert  6  3 vor. Der zugehörige Eigenvektor beschreibt eine symmetrische Aufdehnung des freien Systems. Zur Ausschaltung der drei Starrkörperbewegungen müssen mindestens ebenso viele geometrische Zwangsbedingungen formuliert werden, was in unserem Beispiel durch das Festlager am Knoten 1 und durch das Gleitlager am Knoten 2 realisiert ist. Ersetzen wir die Lagersymbole in Abb. 5.13 durch Fesselstäbe, dann unterbinden diese auch genau drei Freiheitsgrade (Abb. 5.19), womit unser System statisch und kinematisch bestimmt ist. Zur nummerischen Simulation starrer Auflager ist den Fesselstäben eine sehr große Dehnsteifigkeit zuzuweisen.

Abb. 5.19 Fesselmodell

Als Folge der Fesselung des Körpers treten Reaktionskräfte auf, die zunächst unbekannt sind. Das System reagiert damit auf die vorgegebenen geometrischen Zwangsbedingungen. Treten in der Ebene weniger als 3 (im Raum weniger als 6) Reaktionskräfte auf, so handelt es sich um eine kinematisch unbestimmte (instabile) Lagerung. Es sind dann Bewegungen möglich, die in der Statik unerwünscht sind1. Für den Fall, dass mehr als 3 (im Raum mehr als 6) Reaktionskräfte auftreten, ist das System kinematisch bestimmt (stabil). Der Abb. 5.19 entnehmen wir die geometrischen Lagerungsbedingungen

v1,1  v 2,1  v 2, 2  0 . Diese homogenen Knotenverschiebungen sind also bekannt und müssen deshalb nicht mehr berechnet werden. Vom Knotenverschiebungsvektor verbleibt in unserem Beispiel v  [ v1,1

v 2 ,1

v1, 2

v 2, 2

v1, 3

v 2 , 3 ]T  [ 0 0 v1, 2

0 v1, 3

v 2,3 ]T .

Auf die Fesselung dieser Knoten reagiert das System mit den noch unbekannten Reaktionslasten R1,1, R2,1 und R2,2 in den Fesselstäben. Mit den Knotenlasten P1,3 und P2,3 am Knoten 3 erhalten wir nach Einarbeitung der Lagerungsbedingungen folgendes Gleichungssystem

1

Dieser Fall kann allerdings auch bei Vorhandensein von mehr als 3 (bzw. im Raum von mehr als 6) Reaktionskräften auftreten, wenn die Lagerung in ungeeigneter Weise vorgenommen wurde.

5.4 Fachwerke

117

 1, 250   EA        sym.

0, 433 0,750

0  0, 250  0, 433  0   0   R 1,1      0  0, 433  0,750   0   0   R 2 ,1  1, 250  0, 433  0, 250 0, 433  v1, 2   0   0  ,     0,750 0, 433  0,750   0   0   R 2 , 2  0,500 0   v1, 3   P1, 3   0         1,500   v 2 , 3   P2 , 3   0   r 1 0

oder in symbolischer Schreibweise

S  v  p!  r . Der Vektor r auf der rechten Seite enthält die noch unbekannten Lagerreaktionskräfte, womit die direkte Lösung dieses Gleichungssystems nicht möglich ist. Wir nehmen deshalb eine Umordnung des obigen Gleichungssystems vor. Offensichtlich lässt sich das System um die Anzahl der bekannten Knotenverschiebungen reduzieren. Dazu fassen wir die bekannten Knotenverschiebungen (Index !) und die noch unbekannten freien Knotenverschiebungen (Index F) wie folgt zusammen

 v1, 2   v1,1  0       F v   v1, 2   0 , v   v1, 3  .  v 2,3   v 2 , 2  0     !

Durch Umsortieren geht der Knotenverschiebungsvektor v dann über in den modifizierten Knotenverschiebungsvektor vˆ  [ v F

v ! ] T  [ v1, 2

v1,3

v 2,3

v1,1

v1, 2

v 2, 2 ] T .

Sortieren wir die Vektoren der rechten Seite p! und r in gleicher Weise um, so erhalten wir pˆ  [p F

p R ] T  [ P1, 2

P1, 3

P2 , 3

P1,1  R 1,1

P1, 2  R 1, 2

P2 , 2  R 22 ] T .

Der Subvektor pF enthält die bekannten eingeprägten Knotenkräfte der freien Knoten und im Vektor pR sind die unbekannten Auflagerreaktionslasten und evtl. vorhandene eingeprägte Knotenlasten zusammengefasst. Das Gleichungssystem S  v  p!  r ist dann äquivalent zu  Sˆ 11 ˆ  S 21

Sˆ 12   v F   p F       Sˆ 22   v !  p R 

oder ausmultipliziert Sˆ 11  v F  Sˆ 12  v !  p F , Sˆ 21  v F  Sˆ 22  v !  p R .

In der vorletzten Gleichung sind nur die freien Knotenverschiebungen vF unbekannt, und die Auflösung ergibt

118

5 Der Dehnstab 1 v F  Sˆ 11  [p F  Sˆ 12  v ! ] ,

1 gesichert ist (hier ohne Beweis). Sind aus dieser Beziehung die wobei die Existenz von Sˆ 11 freien Knotenverschiebungen berechnet, so lassen sich abschließend die Lagerreaktionsgrößen

p R  Sˆ 21  v F  Sˆ 22  v !

ermitteln. Die zur Dimensionierung des Fachwerks erforderlichen Stabkräfte erhalten wir aus folgender Nachlaufrechnung. Wir beschaffen uns aus den Knotenverschiebungen v die dem Stab mit dem Index i zugeordneten Stabendverschiebungen u(i), und das Elastizitätsgesetz liefert mit n (i )  K (i )  u (i ) .

den im Stab konstanten Normalkraftverlauf. Abschließend soll noch die Formänderungsenergie des Fachwerkstabes berechnet werden. Wir benötigen dazu dessen Stabendverschiebungen u  T  u  [ u i u j ] T . Dem Werkstoffgesetz   E   E ( u j  u i ) /  entnehmen wir die (konstante) Dehnung   ( u j  u i ) /  , und unter Beachtung von WS  1 / 2 E  2  1 / 2 E ( u j  u i ) 2 /  2 erhalten wir W  W* 



(V)

WS dV 

1 2 1 EA E  (u j  u i ) 2 . 2 2 

Die Formänderungsenergie des freien ungebundenen Systems folgt dann durch Summation über alle m Fachwerkstäbe zu Wges 



m

W (k) ,

k 1

wobei Federlagerungen gesondert berücksichtigt werden müssen.

5.4.1

Hinweise zur programmtechnischen Umsetzung

In kommerziellen Programmsystemen folgt der Ablauf der Berechnung nicht in allen Einzelheiten dem Weg, der im vorangegangenen Kapitel vorgestellt wurde. Der Grund für eine modifizierte Vorgehensweise liegt in dem Wunsch begründet, bei großen Tragsystemen möglichst Speicherplatz und Rechenzeit einzusparen. Das gelingt, wenn wir beachten, dass die symmetrische Systemsteifigkeitsmatrix eine ausgeprägte Bandstruktur besitzt. Außerhalb dieses Bandes ist die Matrix nur noch mit Nullen besetzt. Dieser Sachverhalt kann programmiertechnisch berücksichtigt werden. Die im vorangegangenen Kapitel dargestellte Methode des Einbaus der Elementmatrizen in die Systemsteifigkeitsmatrix S unter Zuhilfenahme der Zuordnungsmatrix A hat zwar einen hohen pädagogischen Wert, zeigt aber in der programmtechnischen Umsetzung gewisse

5.4 Fachwerke

119

Nachteile, da das Aufstellen dieser Matrix, die ja nur Nullen und Einsen enthält, bei großen Systemen erhebliche Rechenzeit erfordert und sehr speicherplatzintensiv ist. Wesentlich schneller und eleganter ist das Arbeiten mit Indexvektoren. Dazu werden für unser Fachwerk mit drei Knoten, wobei jeder Knoten im ebenen Fall 2 Freiheitsgrade besitzt, zunächst die Unbekannten des Systemverschiebungsvektors v in Vj umbenannt und von j  16 durchnummeriert. Wir erhalten: v  [ v 1,1

v 2 ,1

v 1, 2

v 2,2

v 1, 3

v 2 , 3 ] T  [ V1

V2

V3

V4

V5

V6 ] T

Der Index j entspricht dann der Position des Knotenfreiheitsgrades im Systemverschiebungsvektor v. Ungerade Indizes (2j-1) entsprechen den x1-Verschiebungen und gerade Indizes (2j) den x2-Verschiebungen. Tab. 5.3 Zum Indexvektor für Element 2 Elementnummer

Anfangsknoten

Endknoten

1 2 3

1 1 2

2 3 3

Zur Aufstellung der Element-Indexvektoren benötigen wir die Elementdatei. Die Zuordnung von 2  2  4 Elementfreiheitsgraden des Vektors der Stabendverschiebungen in globalen Koordinaten zu 2  3  6 Systemfreiheitsgraden des Knotenverschiebungsvektors v erfolgt beispielhaft für das Element 2. Der Anfangsknoten dieses Elementes ist der Systemknoten 1 und der Endknoten entspricht dem Systemknoten 3 (Tab. 5.3). Damit treten am Element 2 die folgenden Systemknotenverschiebungen auf

u ( 2)

 u 1(,2i )   v   V   ( 2 )   1,1   1  v 2 ,1  V  u 2 ,i    ( 2)      2   I ( 2 )  [1 2 5 6] T ,     v  u 1, j   1, 3   V5   u ( 2 )   v 2 , 3   V6   2, j 

womit wir den Indexvektor I(2) erhalten. Programmtechnisch führen wir zur Beschaffung des Indexvektors folgende Indexberechnung durch: 1  2 1 1 2  2 1 5  2  3 1 6  23

(x1-Richtung), (x2-Richtung), (x1-Richtung), (x2-Richtung).

Sämtliche Informationen für das Element 2, die in der Zuordnungsmatrix A enthalten sind, sind jetzt auch Bestandteil des Element-Indexvektors I(2). Im Einzelnen erhalten wir für die verbleibenden Elemente folgende Indexvektoren

I (1)  [1 2 3 4] T , I ( 3)  [3 4 5 6] T .

120

5 Der Dehnstab

Abb. 5.20 Einbau der Steifigkeitsmatrix des Elementes 2 in die Systemsteifigkeitsmatrix, Indexvektor

Nach dem Einbau aller drei Elementsteifigkeitsmatrizen in die Systemsteifigkeitsmatrix erhalten wir die Besetzung nach Abb. 5.20. Die symmetrische Systemsteifigkeitsmatrix hat für unser Beispiel die Dimension [6  6] . Um insbesondere bei sehr großen Systemen Speicherplatz zu sparen, reicht es folglich aus, nur die obere Rechtsdreiecksmatrix (oder auch die untere Linksdreiecksmatrix) abzuspeichern. Ferner besitzt die Systemsteifigkeitsmatrix bei größeren Systemen eine ausgeprägte Bandstruktur. Unter der Bandbreite der Matrix S verstehen wir im Folgenden die kleinste Zahl B, sodass

s ik  0 für alle i,k mit | i  k | B erfüllt ist. Die Bandbreite der Systemmatrix wird bestimmt durch die größte Differenz der globalen Knotennummern eines Elementes. Außer von der Knotennummerierung hängt die Bandbreite direkt von der Anzahl der Freiheitsgrade je Knoten ab. Ist D die größte Differenz der Elementknotennummern im System und f die Anzahl der Freiheitsgrade je Elementknoten, dann gilt B  ( D  1) f . Für unser Beispiel tritt mit D  3  1  2 die größte Differenz der Knotennummern am Element 2 auf. Mit f = 2 Freiheitsgraden je Knoten ist dann B = 6. Bei unserem kleinen Beispiel entspricht die Bandbreite gerade der Zeilen- bzw. Spaltendimension der Systemsteifigkeitsmatrix S, womit eine Speicherplatz- und Rechenzeiteinsparung nicht gegeben ist. Hinsichtlich der Speichertechnik bandstrukturierter Matrizen wird auf (Knothe & Wessels, 1999) verwiesen. In Fachwerkkonstruktionen können Knotenlagerungen auftreten, die von den bisher betrachteten Fällen der freien oder starren Lagerung abweichen. Unter elastisch gelagerten Knoten werden Systemknoten verstanden, die federnd gelagert sind (engl. spring mounted). Grundsätzlich lassen sich Federlagerungen durch ergänzende Stäbe realisieren. Das ist insbesondere bei denjenigen Programmen ein probates Mittel, die eine direkte Berücksichtigung dieser

5.4 Fachwerke

121

Lagerungen nicht zulassen. Im Falle einer Federlagerung des in Abb. 5.21 skizzierten Knotens 2, hier in globaler x2-Richtung, wird im Zusatzstab 4 eine Dehnsteifigkeit EA eingestellt, die der vorgeschriebenen Federsteifigkeit k f  EA /  entspricht. Bei einer gewählten Stablänge  ist dann die Dehnsteifigkeit EA  k f  anzunehmen. Die Erweiterung des Modells durch zusätzliche Stäbe kann vermieden werden, wenn die Federsteifigkeit schon beim Aufstellen der Systemsteifigkeitsmatrix Berücksichtigung findet.

Abb. 5.21 Federlagerung und schiefe Randbedingung am Knoten 2

Schiefe Randbedingungen (engl. skew constraints) treten immer dann auf, wenn die Orientierungen der Verschiebungsfreiheitsgrade der Systemknoten nicht parallel zu den globalen Koordinatenachsen verlaufen, wie das am Knoten 2 der Abb. 5.21 rechts zu beobachten ist. Prinzipiell kann auch hier die schiefe Randbedingung durch einen Zusatzstab realisiert werden, dessen Dehnsteifigkeit hoch anzusetzen ist. Aufgrund der großen Steifigkeit verhält sich der Stab dann näherungsweise wie ein starrer Körper, der nur noch eine Drehung um den Fußpunkt 4 ausführen kann. Damit bei Unterstellung kleiner Verformungen der Bogen durch die Tangente gut approximiert wird, ist der Stab hinreichend lang zu wählen. Auch schiefe Randbedingungen lassen sich direkt in der Systemsteifigkeitsmatrix und im Lösungsvektor berücksichtigen. Beispiel 5-7: Es soll eine Maple-Prozedur entwickelt werden, welche auf Basis der vorab hergeleiteten Grundgleichungen die Stabkräfte beliebiger ebener Fachwerke zu berechnen gestattet. Stellen Sie ferner eine Grafikprozedur zur Verfügung, die eine Ausgabe des Tragsystems (einschließlich der Knoten- und Elementnummern) in der Ausgangslage und in der verformten Lage ermöglicht. Wenden Sie die Prozeduren auf die Beispiele in Abb. 5.22 an. Die Eingabedaten für System I stehen in der Datei Beispiel_5_71.txt und für System II in der Datei Beispiel_5_72.txt. Die schiefe Randbedingung (System I) und die Federlagerung (System II) mit k f  EA /   5250 kN / cm werden durch Zusatzstäbe realisiert. Um einen freien Knoten ( k f  0 ) zu simulieren, setzen Sie im Eingabedatensatz in der Materialgruppe 2 für die Querschnittsfläche A = 0 ein. Ein weiteres Beispiel (System III) findet der Nutzer im Eingabedatensatz Beispiel_5_73.txt. Berechnen Sie mit den bereitgestellten Prozeduren ein umfangreicheres System, etwa aus einem Lehrbuch.

122

5 Der Dehnstab

Abb. 5.22 Ebene Fachwerke, schiefe Randbedingung und Federlagerung

Beispiel 5-8: Ändern Sie die Prozeduren in Beispiel 5-7 so ab, dass damit allgemeine räumliche Fachwerke berechnet werden können. Hinweis: Jeder Knoten besitzt im räumlichen Fall drei Verschiebungsfreiheitsgrade. Mit der Definition der Richtungskosinusse

cos 1  ( x 1, j  x 1,i ) /   c1 , cos  2  ( x 2 , j  x 2 ,i ) /   c 2 , cos  3  ( x 3, j  x 3,i ) /   c 3 ,

  ( x1, j  x1,i ) 2  ( x 2, j  x 2,i ) 2  ( x 3, j  x 3,i ) 2 erhalten wir für das räumliche Fachwerk die symmetrische Elementsteifigkeitsmatrix  c12 c1c 2  c 22  EA   K     sym.

c1 c 3 c 2c3 c 32

 c12

 c1 c 2

 c1 c 2  c1 c 3

 c 22  c 2c3

c12

c1 c 2 c 22

 c1 c 3    c 2c3   c 32   c1 c 3  c 2 c 3  c 32 

Wenden Sie die im Arbeitsblatt Kapitel_05_g.mw bereitgestellten Prozeduren auf die Fachwerke in Abb. 5.23 an1. System I (Beispiel_5_81.txt): a = 1m, E = 21000 kN/cm2, A = 10 cm2, Knotenkräfte am Knoten 5: F1 = 50 kN, F2 = F3 = –50 kN. System II (Beispiel_5_82.txt): E = 21000 kN/cm2, A = 58 cm2 Fesselung in 1-Richtung: Knoten 3 und 7 1

Mit seinen statischen Berechnungen für die Kuppel über dem Berliner Reichstagsgebäude ging der Bauingenieur Hermann Zimmermann (18451935) in die Technikgeschichte ein (Zimmermann-Kuppel).

5.4 Fachwerke Fesselung in 2-Richtung: Knoten 1 und 5 Fesselung in 3-Richtung: Knoten 1 – 8 Knotenkräfte an den Knoten 9  12: F3 = –100 kN. Ein Zusatzbeispiel findet sich in der Datei Beispiel_5_83.txt.

Abb. 5.23 Räumliche Fachwerke, Berechnung der Knotenverschiebungen und Stabkräfte

123

6

Balkenbiegung

Als Stäbe, Balken, Träger oder Welle werden Tragwerke bezeichnet, deren Abmessungen in Richtung der Stabachse groß sind im Vergleich zu den dazu senkrechten Querschnittsabmessungen. Die Verbindungslinie der Querschnittsflächenmittelpunkte S legt die Stabachse fest, die wir hier als Gerade annehmen. Ist der Stab bereits im unbelasteten Ausgangszustand gekrümmt, dann wird von einem Bogen gesprochen. Stäbe mit ursprünglich gerader Stabachse, die infolge der äußeren Belastung eine Verkrümmung ihrer Achse erfahren, werden Balken genannt. Wir wollen die Grundgleichungen der Balkentheorie durch Spezialisierung der bekannten Beziehungen der linearen Elastizitätstheorie aus Kap. 3.3 gewinnen. Die Verformungen sollen also klein sein, und es gelte das Hookesche Gesetz. Wir beginnen mit der Definition der Schnittlasten.

6.1

Balkenschnittlasten

Durch die Belastung des Balkens entstehen innere Spannungen, die es zu berechnen gilt. Dabei erweist es sich bei Stab- und ebenen Flächentragwerken (Scheibe, Platte) als zweckmäßig, nicht mit den Spannungen selbst zu rechnen, sondern mit deren Resultierenden, den Schnittlasten. Wir denken uns dazu das Tragwerk an der zu untersuchenden Stelle aufgeschnitten (Abb. 6.1). Durch Anwendung des Schnittprinzips werden in der betrachteten Schnittfläche flächenhaft verteilte Kräfte freigelegt, die wir Spannungen genannt haben.

Abb. 6.1 Spannungsvektor s1 und resultierende Schnittlastvektoren M, Q

126

6 Balkenbiegung

In einem Schnitt senkrecht zur Stabachse hat jedes in der Querschnittsfläche A(x1) gelegene Flächenelement dA mit dem planaren Ortsvektor rp den Normalenvektor e1. Diesem Flächenelement ordnen wir den i. Allg. schräg aus der Schnittfläche heraustretenden Spannungsvektor s1 ( x 1 , rp )  S  e1  11 e1  12 e 2  13 e 3 zu und definieren den Schnittkraftvektor Q: 



A ( x1 )

 s 1 dA   



A ( x1 )

   11 dA  e 1    



A ( x1 )

  12 dA  e 2    



A ( x1 )

 13 dA  e 3 

mit den Komponenten

 ( x ) :  ( x ) : 

N ( x 1 ) : Q2 Q3

1

11 dA

Längskraft oder Normalkraft,

 12 dA

Querkraft in x2-Richtung,

13 dA

Querkraft in x3-Richtung.

A ( x1 )

A ( x1 )

1

A ( x1 )

Ferner definieren wir den Schnittmomentenvektor M: 



  



A ( x1 )

A ( x1 )

rp  s1 dA   ( x 2 13  x 3 12 ) dA  e1    



A ( x1 )

  x 3 11 dA  e 2    



A ( x1 )

 x 2 11 dA  e 3 

mit den Komponenten

 :  :  

M 1 : M2 M3

A ( x1 )

( x 2 13  x 3 12 ) dA

Torsionsmoment,

x 3  11 dA

Biegemoment um die x2-Achse,

x 2  11 dA

Biegemoment um die x3-Achse.

A ( x1 )

A ( x1 )

Diesen 6 Schnittlasten stehen im räumlichen Fall genau 6 Gleichgewichtsbedingungen gegenüber. Ist der Balken statisch bestimmt gelagert, dann lassen die Schnittlasten sich aus den Gleichgewichtsbedingungen allein bestimmen. Reichen dagegen die Gleichgewichtsbedingungen nicht aus, dann liegt statische Unbestimmtheit vor, und es sind zusätzlich Verformungsbedingungen zu berücksichtigen.

6.2

Das lokale Gleichgewicht

Zwischen den Schnittlasten M, N und Q sowie der äußeren Belastung n (Normalkraftschüttung) q (Linienkraftbelastung) und m (Momentenschüttung) bestehen gewisse Beziehungen, die wir im Folgenden notieren wollen. Wir denken uns dazu aus dem Balken ein Element der Länge dx1 herausgeschnitten. Die Belastung ist dabei im Sinne der statischen Äquivalenzrelationen bereits auf die Stabachse bezogen.

6.2 Das lokale Gleichgewicht

127

Abb. 6.2 Lokales Gleichgewicht für die Normalkraft

Betrachten wir beispielsweise die Abb. 6.2, dann wirkt am linken (negativen) Schnittufer mit der Koordinate x1 die Normalkraft N(x1). Das rechte (positive) Schnittufer mit der Koordinate x 1  dx 1 hat den Abstand dx1 vom linken Rand. Wir entwickeln nun die Normalkraft N ( x 1  dx 1 ) an der Stelle x1 in eine Taylor1-Reihe und brechen nach dem linearen Glied ab. Dann ist näherungsweise N ( x 1  dx 1 )  N ( x 1 )  dN ( x 1 ) . Notieren wir nun die Kraftgleichgewichtsbedingung am Element, dann folgt zunächst  N ( x 1 )  n ( x 1 )dx 1  N ( x 1 )  dN ( x 1 )  0 .

Die Abb. 6.3 zeigt das Balkenelement in zwei zueinander senkrechten Ansichten mit den darin erscheinenden Komponenten der Kräfte und Momente. Im linken Teil des Bildes blicken wir aus positiver x2-Richtung auf das Balkenelement. Eingezeichnet sind am linken Schnittufer das Moment M 2 ( x 1 ) und die Querkraft Q 3 ( x1 ) und am rechten Schnittufer die Schnittlasten M 2 ( x 1  dx 1 )  M 2 ( x 1 )  dM 2 ( x 1 ) und Q 3 ( x 1  dx 1 )  Q 3 ( x 1 )  dQ 3 ( x 1 ) . Als äußere Belastung sollen eine Momentenschüttung m 2 ( x 1 ) und eine Linienkraft q 3 ( x 1 ) vorhanden sein.

Abb. 6.3 Lokales Gleichgewicht für die Querkräfte und Biegemomente

Dann folgt aus dem Kraftgleichgewicht in x3-Richtung  Q 3 ( x 1 )  q 3 ( x 1 ) dx 1  Q 3 ( x 1 )  dQ 3 ( x 1 )  0 .

Die Momentengleichgewichtsbedingung (hier bezogen auf den Punkt S) liefert

 M 2 ( x 1 )  Q 3 ( x 1 ) dx1  q 3 ( x 1 ) dx12 / 2  m 2 ( x 1 )dx1  M 2 ( x 1 )  dM 2 ( x 1 )  0 .

1

Brook Taylor, brit. Mathematiker, 16851731

128

6 Balkenbiegung

Eine entsprechende Rechnung für die in Abb. 6.3 rechts skizzierte Situation ergibt für das Kraftgleichgewicht  Q 2 ( x 1 )  q 2 ( x 1 ) dx 1  Q 2 ( x 1 )  dQ 2 ( x 1 )  0 ,

und für das Momentengleichgewicht bezüglich S folgt

 M 3 ( x 1 )  Q 2 ( x 1 ) dx1  q 2 ( x 1 ) dx12 / 2  m 3 ( x 1 )dx1  M 3 ( x 1 )  dM 3 ( x 1 )  0 . Nach Zusammenfassung und Division mit dx1 sowie anschließendem Grenzübergang dx 1  0 erhalten wir folgende Beziehungen zwischen den Schnittlasten und den äußeren Belastungen, die auch als Schnittlastendifferenzialgleichungen bezeichnet werden:

N' ( x1 )  n ( x 1 ), Q3 ( x 1 )  q 3 ( x 1 ), M 2 ( x 1 )  Q 3 ( x 1 )  m 2 ( x 1 ), Q2 ( x 1 )  q 2 ( x 1 ), M 3 ( x 1 )  Q 2 ( x 1 )  m 3 ( x 1 ). Den obigen Gleichungen können einige Folgerungen entnommen werden (s.h. auch (Mathiak, 2012), Kap. 7.2). An denjenigen Stellen, an denen die Biegemomente Extremwerte besitzen, müssen dort deren Ableitungen und für den Fall fehlender Momentenschüttungen auch die zugeordneten Querkräfte verschwinden. An denjenigen Stellen, an denen Einzelkräfte angreifen, sind die Momentenfunktionen nicht mehr stetig differenzierbar, und die Biegemomentenlinien haben an diesen Stellen einen Knick. Weiterhin ist festzustellen, dass an den Angriffsstellen von Einzelmomenten die Momentenlinien Sprünge aufweisen. Bei Vorhandensein einer äußeren Normalkraft hat die Normalkraftlinie an der entsprechenden Stelle einen Sprung. In den Momentengleichgewichtsbedingungen treten auf der rechten Seite noch die unbekannten Querkräfte auf, die wir beseitigen können, wenn wir diese Gleichungen nochmals nach x1 differenzieren und dann die Querkraftableitungen beachten. Das Ergebnis ist Q3 ( x 1 )   q 3 ( x 1 ), M 2 ( x 1 )   q 3 ( x 1 )  m 2 ( x 1 ), Q2 ( x 1 )   q 2 ( x 1 ), M 3 ( x 1 )  q 2 ( x 1 )  m 3 ( x 1 ).

6.3

Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

Zur Reduktion des naturgemäß dreidimensionalen Problems auf ein zweidimensionales, sind Annahmen über die Querschnittsverformung zu treffen. In den folgenden Untersuchungen beziehen wir uns auf die in (Timoshenko, 1921) getroffenen Hypothesen, wonach die Verformung des Balkenquerschnitts aus der Hintereinanderschaltung zweier Starrkörperbewegungen besteht, nämlich einer durch

u S ( x 1 )  u S ( x 1 ) e1  u p ( x 1 )  u S ( x 1 ) e1  v S ( x 1 ) e 2  w S ( x 1 ) e 3 festgelegten Translation und einer (planaren) Rotation

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

129

ψ p ( x1 )   2 ( x1 ) e 2   3 ( x1 ) e 3 des Querschnitts mit den beiden Drehwinkeln 2(x1) und 3(x1). Bezeichnet rp den in der Querschnittsebene liegenden Anteil des Ortsvektors zum Punkt P (Abb. 6.1), dann können wir im Fall kleiner Verformungen für den Verschiebungsvektor näherungsweise u ( x 1 , rp )  u S ( x 1 )   p ( x 1 )  rp  u S ( x 1 ) e1  v S ( x 1 ) e 2  w S ( x 1 ) e 3  [ x 3  2 ( x 1 )  x 2  3 ( x 1 )] e1  [ u S ( x 1 )  x 3  2 ( x 1 )  x 2  3 ( x 1 )] e1  v S ( x 1 ) e 2  w S ( x 1 ) e 3

schreiben. In Komponenten erhalten wir u 1  u S ( x 1 )  x 3  2 ( x 1 )  x 2  3 ( x 1 ), u 2  v S ( x 1 ), u 3  w S ( x 1 ) .

Abb. 6.4 Die Kinematik des Timoshenko-Balkens

Ausgehend vom klassischen Verzerrungstensor (s.h. Kap. 2.2.1)

 u 1,1 1 / 2( u 1, 2  u 2 ,1 ) 1 / 2( u 1, 3  u 3,1 )   11 1 / 2  12 1 / 2  13     E u 2, 2 1 / 2( u 2 , 3  u 3, 2 )   1 / 2  12 1 / 2  23   22 sym.  1 / 2  13 1 / 2  23 u 3, 3  33    erhalten wir mit ()'   / x1 folgende Dehnungen und Gleitungen 11  u 1,1  u 'S ( x 1 )  x 3  ' 2 ( x 1 )  x 2  ' 3 ( x 1 ),

 22   33  0,

 12  v 'S ( x 1 )   3 ( x 1 ),  13  w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 ),

 23   32  0.

130

6 Balkenbiegung

Querdehnungen 22 und 33 treten nicht auf. Diese kinematische Einschränkung ist als zweite Bernoullische1 Hypothese bekannt (s.h. Kap. 6.4). Die Gleitungen 12 und 13 sind nur von x1 abhängig und demnach konstant über den Querschnitt verteilt. Führen wir den planaren Schubwinkelvektor

γ(x1)  u p ( x 1 )  e1   p ( x 1 )  [ v'S ( x 1 )  ψ 3 (x1)] e 2  [ w 'S ( x 1 )  ψ 2 (x1)] e 3 , ein, dann können wir die Verzerrungen auch kompakter in der Form E  11e1  e1  sym(e1  γ )

notieren. Den Verzerrungen E sind nach dem Hookeschen Gesetz die Spannungen S

E    E Sp ( E ) 1  1   1  2 

zugeordnet. Um konform mit den Verschiebungsannahmen zu bleiben, müssen wir   0 fordern, denn für Querkontraktionszahlen   0 treten Spannungen auf, die zu Querdehnungen in der Querschnittsebene führen, die nicht Bestandteil der von uns getroffenen Annahmen sind, und es verbleibt der symmetrische Spannungstensor S  E [ 11e1  e1  sym(e1  γ )] ,

mit der Normalspannung 11 (r )  E 11  E [ u 'S ( x 1 )  x 3  ' 2 ( x 1 )  x 2  ' 3 ( x 1 )]

und den Schubspannungen (G = E/2: Schubmodul) 12 ( x 1 )   21 ( x 1 )  G  12  G [ v 'S ( x 1 )   3 ( x 1 )] , 13 ( x 1 )   31 ( x 1 )  G  13  G [ w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )] .

Wenn in einer Balkentheorie, wie hier geschehen, die aus den Querkräften resultierenden Schubverformungen berücksichtigt werden, so spricht man vom Timoshenko2-Balken oder auch vom schubelastischen Balken. Unter Beachtung des Schubwinkelvektors  führen wir noch den Schubspannungsvektor τ(x1 )  G  (x1 )

ein. Werten wir die in Kap. 6.1 bereitgestellten Schnittlastendefinitionen für den obigen Spannungszustand aus, dann erhalten wir unter Beachtung der Definitionen für die Flächenmomente 1. Grades (Statische Momente)

1

Jakob Bernoulli, schweizer. Mathematiker, 16541705

2

Stephen Prokofyewich Timoshenko, ukrainischer Ingenieur, 18781972

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens



S2 (x1 ) 

A ( x1 )

x 3 dA , S 3 ( x 1 ) 



A ( x1 )

131

x 2 dA

die Normalkraft

Ν( x1 ) 



A ( x1 )

11 ( x 1 ) dA 



A ( x1 )

E u 'S ( x 1 )  x 3  ' 2 ( x 1 )  x 2  '3 ( x 1 ) dA

 EA ( x 1 ) u S ( x 1 )  E S 2 ( x 1 ) ψ2 ( x 1 )  E S3 ( x 1 ) ψ3 ( x 1 ). Bei Bezugnahme auf ein Zentralachsensystem (ZA) verschwinden wegen rS  0 die statischen Momente, und es verbleibt das bereits bekannte Ergebnis für die Normalkraft Ν ( x 1 )  EA ( x 1 ) u S ( x 1 ) .

Für die Querkräfte errechnen wir folgendes Elastizitätsgesetz

 (x )  

Q 2 (x1 )  Q3

1

A ( x1 ) A ( x1 )

12 ( x 1 ) dA  G A ( x 1 ) [ v 'S ( x 1 )   3 ( x 1 )], 13 ( x 1 ) dA  GA ( x 1 ) [ w ' S ( x 1 )   2 ( x 1 )],

das mit dem Schubwinkelvektor  bzw. dem Schubspannungsvektor  in der Form Q ( x 1 )  GA ( x 1 ) γ(x 1)  A ( x 1 ) τ(x 1)

notiert werden kann. Das Produkt GA wird Schubsteifigkeit genannt. [GA ] 

Masse  Länge 2

( Zeit )

, Einheit: kg m s-2 = N.

Hinweis: Die Schubspannungen 12 und 13 sind in der Querschnittsfläche konstant verteilt, womit die Gleichgewichtsbedingungen an freien Oberflächen des Balkens nicht erfüllt werden können. Aufgrund energetischer Betrachtungen wird deshalb in Ingenieuranwendungen im Materialgesetz für die Querkräfte die Fläche A durch die Schubfläche A S  A ersetzt, was Q ( x 1 )  G A ( x 1 ) γ(x 1)  G A S ( x 1 ) γ(x 1)  A S ( x 1 ) τ(x 1) zur Folge hat. Für den Rechteckquerschnitt (hier ohne Nachweis) wäre   5 / 6 zu wählen. Werten wir die Definitionen der Schnittmomente aus, dann kommen: M1 (x1 ) 



M 2 ( x1 ) 



A ( x1 )

A ( x1 )

( x 2  13  x 3 12 ) dA  13 ( x 1 )

x 3 11 dA  E

 Eu 'S ( x 1 )



A ( x1 )



A ( x1 )



A ( x1 )

x 2 dA  12 ( x 1 )



A ( x1 )

x 3 dA ,

x 3 [ u 'S ( x 1 )  x 3  ' 2 ( x 1 )  x 2  '3 ( x 1 )] dA

x 3 dA  E ' 2 ( x 1 )



A ( x1 )

x 32 dA  E '3 ( x 1 )



A ( x1 )

x 2 x 3 dA ,

132

6 Balkenbiegung M 3 (x1 )  



A ( x1 )

x 2 11 dA   E

  Eu 'S ( x 1 )



A ( x1 )



A ( x1 )

x 2 [ u 'S ( x 1 )  x 3  ' 2 ( x 1 )  x 2  ' 3 ( x 1 )]dA

x 2 dA  E ' 2 ( x 1 )



A ( x1 )

x 2 x 3 dA  E ' 3 ( x 1 )



A ( x1 )

x 22 dA .

Beachten wir in diesen Beziehungen neben den Flächenmomenten 1. Grades die Definitionen für die Flächenmomente 2. Grades (Flächenträgheitsmomente, Deviationsmoment), I 22 ( x 1 ) 



A ( x1 )

x 32 dA , I 33 ( x 1 ) 



A ( x1 )

x 22 dA , I 23 ( x 1 )  



A ( x1 )

x 2 x 3 dA ,

dann lassen sich die obigen Ausdrücke für die Schnittmomente übersichtlicher notieren: M 1 ( x 1 )  13 ( x 1 ) S 3 ( x 1 )  12 ( x 1 ) S 2 ( x 1 ), M 2 ( x 1 )  ES 2 ( x 1 ) u 'S ( x 1 )  EI 22 ( x 1 )  ' 2 ( x 1 )  EI 23 ( x 1 )  ' 3 ( x 1 ), M 3 ( x 1 )   ES 3 ( x 1 ) u 'S ( x 1 )  EI 23 ( x 1 )  ' 2 ( x 1 )  EI 33 ( x 1 )  ' 3 ( x 1 ).

In einem Zentralachsensystem (ZA) verschwinden die statischen Momente S2 und S3, und es verbleiben die Elastizitätsgesetze für die Biegemomente M 2 ( x 1 )  EI 22 ( x 1 ) ' 2 ( x 1 )  EI 23 ( x 1 ) ' 3 ( x 1 ), M 3 ( x 1 )  EI 23 ( x 1 ) ' 2 ( x 1 )  EI 33 ( x 1 ) ' 3 ( x 1 ),

oder aufgelöst nach den Änderungen der Drehwinkel  '2 (x1 ) 

1 M 2 ( x 1 ) I 33 ( x 1 )  M 3 ( x 1 ) I 23 ( x 1 ) , E I 22 ( x 1 ) I 33 ( x 1 )  I 223 ( x 1 )

 '3 ( x 1 )  

1 M 2 ( x 1 ) I 23 ( x 1 )  M 3 ( x 1 ) I 22 ( x 1 ) . E I 22 ( x 1 ) I 33 ( x 1 )  I 223 ( x 1 )

Eine weitere Vereinfachung wird bei Bezugnahme auf Hauptzentralachsen (HZA) möglich, denn dann verschwindet zusätzlich das Deviationsmoment I23, und es verbleiben die entkoppelten Beziehungen '2 (x1 ) 

M 2 (x1 ) M 3 (x1 ) ,  '3 ( x 1 )  . EI 22 ( x 1 ) EI 33 ( x 1 )

Die Produkte EI22 und EI33 werden Biegesteifigkeiten genannt. [ EI] 

Masse  ( Länge) 3 ( Zeit ) 2

, Einheit: kg m3 s-2 = Nm2.

Sind im statisch bestimmten Fall die Schnittlasten (Normalkraft, 2 Querkräfte, 2 Biegemomente) aus Gleichgewichtsuntersuchungen bekannt, dann sind die folgenden fünf Differenzialgleichungen

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

u S ( x1 ) 

133

Ν( x1 ) , EA( x1 )

v 'S ( x 1 )   3 ( x 1 ) 

M 3 (x1 ) Q 2 (x1 ) ,  '3 ( x 1 )  , GA ( x 1 ) EI 33 ( x 1 )

w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 ) 

Q 3 (x1 ) M 2 (x1 ) ,  '2 ( x1 )  , GA ( x 1 ) EI 22 ( x 1 )

zur Berechnung der fünf Funktionen u S ( x 1 ), v S ( x 1 ), w S ( x 1 ),  2 ( x 1 ),  3 ( x 1 ) unter Beachtung der Randbedingungen zu integrieren. Befindet sich beispielsweise an der Stelle x 1  0 ein eingespannter Rand, dann sollen dort die Verschiebungen uS ( x1  0, rp ) und die Querschnittsdrehungen ψ p ( x 1  0) verschwinden. Das erfordert u S ( 0)  v S ( 0)  w S ( 0)   2 ( 0)   3 ( 0)  0 .

An einem freien Rand müssen die Querkräfte Q und die Biegemomente M verschwinden.

6.3.1

Formänderungsenergie

Im Folgenden soll die Formänderungsenergie des Timoshenko-Balkens notiert werden. Mit den Beziehungen in Kap. 4.3 folgt WS 

E 2 1 E 2 G  11  τ  γ   11  γγ . 2 2 2 2

Wir formen die Ausdrücke für die Dehnung und die Gleitung noch etwas um und erhalten zunächst für die Dehnung

11  u 'S ( x 1 )  x 3  ' 2 ( x 1 )  x 2  '3 ( x 1 )  u 'S ( x 1 )  [e1  ψ p ( x 1 )]  rp . Damit ist 2 11  u 'S2 ( x 1 )  2 u 'S2 ( x 1 )[e1  ψ p ( x 1 )]  rp  [e1  ψ p ( x 1 )]  rp  rp  [e1  ψ p ( x 1 )] .

Beachten wir noch

γ(x 1)  u p ( x 1 )  e1   p ( x 1 ) , 2

dann ist γ  γ  u p ( x 1 )  e1   p ( x 1 ) . Damit schreibt die spezifische Formänderungsenergie sich





E u 'S2 ( x 1 )  2 u 'S2 ( x 1 )[ e1  ψ p ( x 1 )]  rp  [ e1  ψ p ( x 1 )]  rp  rp  [ e1  ψ p ( x 1 )] 2 2 G  u p ( x 1 )  e1   p ( x 1 ) . 2

WS 

134

6 Balkenbiegung

Die gesamte Formänderungsenergie eines Balkens der Länge  errechnet sich dann zu 

W





E 2

x1  0



A ( x1 )

 x1 0

WS dA dx 1

A ( x 1 ) u ' S2 ( x 1 ) dx 1  E

  [ e 1  ψ p ( x 1 )]   x1 0  

E  2



G 2

















 2  u ' S ( x 1 )[ e 1  ψ p ( x 1 )] 

x1  0 



A ( x1 )

 rp dA  dx 1 

  rp  rp dA   [ e 1  ψ p ( x 1 )]  dx 1 A ( x1 )  

.

2    u p ( x 1 )  e 1   p ( x 1 )  dA   dx 1 . A ( x ) 1  



x1  0 

Im obigen Ausdruck treten folgende Querschnittswerte auf



A ( x1 )



rp dA  rS A ( x 1 ) ,

A ( x1 )

rp  rp dA  I(x 1 ) ,

 dA

A ( x1 )

 A(x1 ) .

Mit den Koordinaten x2, x3 in der Querschnittsebene schreibt der Flächenträgheitsmomententensor sich

 

I

A ( x1 ) A ( x1 )

rp  rp dA 



A ( x1 )

x 22 dA e 2  e 2 



x 2 e 2  x 3 e 3   x 2 e 2  x 3 e 3 dA

A ( x1 )

x 32 dA e 3  e 3 



A ( x1 )

x 2 x 3 dA (e 2  e 3  e 3  e 2 )

 I 33 (x 1) e 2  e 2  I 22 (x 1) e 3  e 3  I 23 (x 1) (e 2  e 3  e 3  e 2 ).

Beziehen wir uns auf ein Hauptzentralachsensystem, dann verschwindet wegen rS = 0 das Statische Moment und der Tensor der Flächenmomente 2. Grades reduziert sich auf I(x 1)  I 33 (x 1) e 2  e 2  I 22 (x 1) e 3  e 3 ,

und die Formänderungsenergie geht über in

 A ( x

E 2 G  2

W



x1  0





2 1 ) u 'S



( x 1 )  [ e 1  ψ p ( x 1 )]  I(x 1 )  [e 1  ψ p ( x 1 )] dx 1

 A ( x ) u  ( x )  e   ( x ) 2  dx .  1  1 p 1 1 p 1 

x1  0 

Beachten wir e1  ψ p ( x 1 )   3 ( x 1 ) e 2   2 ( x 1 ) e 3 , dann verbleibt vom Biegeterm [ e 1  ψ p ( x 1 )]  I(x 1 )  [ e 1  ψ p ( x 1 )]  I 22  22 ( x 1 )  I 33  32 ( x 1 ) ,

und für den Schubterm folgt u p ( x 1 )  e 1   p ( x 1 )

2

 v S ( x 1 ) e 2  w S ( x 1 ) e 3   3 ( x 1 ) e 2   2 ( x 1 ) e 3  [ v S ( x 1 )   3 ( x 1 )] 2  [ w S ( x 1 )   2 ( x 1 )] 2 .

2

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

135

Die Formänderungsenergie können wir noch durch die Schnittlasten ausdrücken. Mit den bereits in Kap. 6.3 hergeleiteten Beziehungen Ν( x1 ) Q (x ) Q (x ) u S ( x1 )  , v 'S ( x 1 )   3 ( x 1 )  2 1 , w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )  3 1 , EA( x1 ) G A(x1 ) GA ( x 1 )  '2 ( x1 ) 

M 3 (x1 ) M 2 (x1 ) ,  '3 ( x 1 )  , EI 22 ( x 1 ) EI 33 ( x 1 )

folgt dann W

1 2



1 2



 N 2 ( x 1 ) M 22 ( x 1 ) M 32 ( x 1 )      dx 1 x1 0  E A ( x 1 ) E I 22 (x 1 ) E I 33 (x 1 )  



 Q 22 ( x 1 ) Q 32 ( x 1 )     dx 1 . x 1  0  GA ( x 1 ) GA ( x 1 )  





Beispiel 6-1:

Abb. 6.5 Kragträger nach Timoshenko mit Einzelkraft F, Freischnittskizze

Der skizzierte Kragträger mit einem Rechteckquerschnitt der Breite b und der Höhe h wird T

am rechten Balkenende durch eine Einzelkraft F  1/ 3 3 F [ 1 1 1] belastet. Berechnen Sie sämtliche Schnittlasten und Verformungen. Ermitteln Sie die Verschiebung des Punktes A. Geg.: E, G = E/2, b, h, , F, I 22  bh 3 / 12 , I 33  hb 3 / 12 . Lösung: Da der Kragträger statisch bestimmt gelagert ist, können die Schnittlasten aus den Gleichgewichtsbedingungen allein berechnet werden. Wir betrachten dazu das freigeschnittene System in Abb. 6.5, rechts. Am linken Schnittufer müssen die Schnittlasten Q(x1) und M(x1) negativ angetragen werden. Aufgrund der Symmetrie sind die Achsen x2 und x3 Hauptzentralachsen des Querschnitts. Damit sind sämtliche Differenzialgleichungen entkoppelt. Das Kraftgleichgewicht erfordert

Q(x1)  F  0 ,

  1  N( x 1 )  1  Q(x1)  F  3 F 1  Q 2 ( x 1 )  . 3  1  Q 3 ( x 1 ) 

136

6 Balkenbiegung

Das Momentengleichgewicht liefert mit rF  (   x 1 ) e1 M(x 1)  rF  F  0 ,

0  M1 ( x 1 )   1   M(x 1)  rF  F  3 F   (   x 1 )    M 2 ( x 1 )  . 3    x 1   M 3 ( x 1 ) 

Zur Berechnung der Verformungsgrößen ist das folgende Differenzialgleichungssystem zu lösen, wobei zur Abkürzung F  1/ 3 3 F gesetzt wurde: u S ( x 1 ) 

Ν F  EA EA

 '2 (x1 ) 

M 2 (x1 ) F  (  x 1 ) EI 22 EI 22

  2 (x1 )  

F x 1 (2  x 1 )  C 2 , 2 EI 22

 '3 ( x 1 ) 

M 3 (x1 )  EI 33

  3 (x1 ) 

F x 1 (2  x 1 )  C 3 , 2 EI 33

v 'S ( x 1 ) 

Q2 F F   3 (x1 )   x 1 ( 2  x 1 )  C 3 , GA GA 2 EI 33

 u S ( x1 )  

F (  x 1 ) EI 33

F x 1  C1 , EA

F F x1  x 12 ( 3  x 1 )  C 3 x 1  C 4 GA 6 EI 33

vS (x1 ) 

w 'S ( x 1 ) 

Q3 F F   2 (x1 )   x 1 (2  x 1 )  C 2 , GA GA 2 EI 22

w S (x1 ) 

F F x1  x 12 ( 3   x 1 )  C 2 x 1  C 5 GA 6 EI 22

Da am eingespannten Rand ( x 1  0 ) die Verschiebungen und auch die Drehwinkel zu null zu fordern sind, müssen sämtliche Konstanten verschwinden. Mit der dimensionslosen Koordinate   x 1 /  sowie den Schubkonstanten s2 

EI 22 GA 2

2



2

EI 33 1h 1b    .   , s3  2 6   6   GA 

verbleiben: 1 F u S ()   3 , 3 EA v S () 

3 F 3  ( 3   2  6 s 3 ) , 18 EI 33

w S () 

3 F 3  ( 3   2  6 s 2 ) 18 EI 22

 3 () 

3 F 2 ( 2  ) , 6 EI 33

 2 ()  

3 F 2 ( 2  ) . 6 EI 22

Hinweis: Die Schubdurchsenkung F /(GA) führt zu einer linearen Vergrößerung der Verschiebungen, die allerdings nur in gedrungenen Balkenkonstruktionen von Bedeutung ist. Die größten Verformungen treten mit  = 1 am rechten Balkenende auf. Wir erhalten:

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens u S (1)  

1 F , 3 3 EA

v S (1) 

3 F 3 (1  3s 3 ) , 9 EI 33

 3 (1) 

137

3 F 2 , 6 EI 33

3 F 2 3 F 3 . (1  3s 2 )  2 (1)   9 EI 22 6 EI 22 Bei schlanken Balken mit b /   1 und h /   1 kann näherungsweise s 3  s 2  0 gesetzt w S () 

werden. Wir benötigen noch die Verschiebung des Punktes A. Führen wir die bezogenen Größen   h /  und   h / b ein, dann folgt für die Verschiebung des Punktes A: u S (1)  

u S2 (1)  v S2 (1)  w S2 (1) 

3 F 3 9 EI 22

9  1   4  2  2   2  1  16 

3 F 3  1   4  O ( 2 ) .  9 EI 22 

Das obige Ergebnis zeigt, dass nur für hinreichend große Werte von 2  ( h / ) 2 die Schubverformung einen nennenswerten Beitrag zur Durchbiegung liefert.  Ist das System statisch unbestimmt gelagert, dann sind die Gleichgewichtsbedingungen lokal zu erfüllen, was den Grad der Differenzialgleichungen und damit die Anzahl der Integrationskonstanten entsprechend erhöht. Wir erhalten folgenden Gleichungssatz:

EA ( x 1 ) u S ( x 1 )     n ( x 1 ) ,  GA ( x 1 )v'S ( x 1 )   3 ( x 1 )     q 2 ( x 1 ) ,

EI 23 ( x 1 )  ' 2 ( x 1 )  EI 33 ( x 1 ) '3 ( x 1 )    GA ( x 1 )v 'S ( x 1 )   3 ( x 1 )   m 3 ( x 1 ) .  GA ( x 1 )w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )    q 3 ( x 1 ) ,

EI 22 ( x 1 ) 2 ( x 1 )  EI 23 ( x 1 ) 3 ( x 1 )    GA ( x 1 )w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )   m 2 ( x 1 ) Die obigen Gleichungen vereinfachen sich, wenn wir uns auf Hauptzentralachsen beziehen. Ist außerdem der Balkenquerschnitt längs der Balkenachse mit A(x1) = A konstant, dann verbleiben EA u S ( x 1 )   n ( x 1 ) , GA [ v S ( x 1 )   3 ( x 1 )]   q 2 ( x 1 ) , EI 33  3 ( x 1 )   GA v 'S ( x 1 )   3 ( x 1 )   m 3 ( x 1 ) ,

138

6 Balkenbiegung GA [ w S ( x 1 )   2 ( x 1 )]   q 3 ( x 1 ) , EI 22  2 ( x 1 )  GA w ' S ( x 1 )   2 ( x 1 )   m 2 ( x 1 ) ,

womit sämtliche Gleichungen entkoppelt sind und damit je für sich gelöst werden können. Die im Zuge der Integration des obigen Gleichungssystems anfallenden 10 Integrationskonstanten sind aus jeweils fünf Randbedingungen an zwei gegenüberliegenden Rändern zu bestimmen. Die Integration dieses Systems aus fünf gewöhnlichen Differenzialgleichungen überlassen wir selbstverständlich Maple. Beispiel 6-2:

Abb. 6.6 Zweifach statisch unbestimmt gelagerter Balken unter Linienkraftbelastung

Für den zweifach statisch unbestimmt gelagerten Balken in Abb. 6.6 sind sämtliche Verformungen und Schnittlasten zu berechnen. Ermitteln Sie außerdem an der Einspannstelle die Normalspannung 11 sowie die Schubspannungen 12 und 13. Die Belastung besteht aus einer konstanten Normalkraftschüttung n0, einer linear veränderlichen Linienkraft q3(x1) und einer konstanten Linienkraftbelastung q20. Geben Sie sämtliche Zustandsgrößen grafisch aus. Geg.: , b, h, E, G = E/2, n0, q20, q30. Lösung: Die Achsen x2 und x3 sind Symmetrieachsen und stellen damit die Hauptzentralachsen (HZA) des Querschnitts dar. Wir erhalten den folgenden Satz von Differenzialgleichungen: EA u S ( x 1 )   n 0 , GA [ v S ( x 1 )   3 ( x 1 )]   q 20 ,

EI 33  3 ( x 1 )   GA v 'S ( x 1 )   3 ( x 1 )  ,

GA [ w S ( x 1 )   2 ( x 1 )]   q 30 x 1 /  , EI 22  2 ( x 1 )  GA w ' S ( x 1 )   2 ( x 1 )  ,

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens Maple liefert uns mit den Schubkonstanten s 2  sen Koordinate   x 1 /  folgende Lösungen: u S () 

v S ( ) 

139

EI 22 GA 

2

, s3 

n 0 2  (1   ) , 2 EA q 20  4 (1  )(3  2)  6s 3 [(1  )  12s 3  5]

1  3s 3

48EI 33

EI 33 GA  2

und der dimensionslo-

,

 3 () 

q 20  3  [8 2  15  6  12s 3 ( 2  3)] , 48EI 33 1  3s 3

w S () 

q 30  4 (1  )  [7  2(1  )]  6s 2 (1  )[9   2  20s 2 ] , 240EI 22 1  3s 2



 2 ()  



q 30  3  [10 3  27  14  30s 2 ( 2  2)] . 240EI 22 1  3s 2

Daraus resultieren die Schnittlasten: n 0 (1  2) , 2 q  5  8  12s 3 (1  2) Q 2 ()  20 , 8 1  3s 3 N () 

Q 3 () 

M 3 ()  

q 20  2 (1  )( 4  1  12s 3 ) , 8 1  3s 3

q 30  9  20 2  20s 2 (1  3 2 ) , 40 1  3s 2

q 30  2 (1  )[ 20(1  )  7  60s 2 (1  )] . 120 1  3s 2 Wir notieren noch die Normal- und Schubspannungen an der Einspannstelle. Für die Normalspannung folgt M 2 () 

11 (  0, rp )  E [ u 'S (  0)  x 3  ' 2 (  0)  x 2  ' 3 (  0)] 

n 0 q 30  3 7 1 q 20  3  x3  x2, 2 A 120 I 22 (1  3s 2 ) 8 I 33 (1  3s 3 )

und für die dortigen Schubspannungen errechnen wir

12 (  0) 

Q (  0) q 30  9  20s 2 Q 2 (  0) q 20  5  12s 3   , 13 (  0)  3 . A 8A 1  3s 3 A 40A 1  3s 2

Für einen schlanken Balken kann wieder näherungsweise s 2  s 3  0 gesetzt werden und wir erhalten:

140

6 Balkenbiegung

v S () 

q 20  4 2  (1  )(3  2) , 48EI 33

w S ( ) 

q 30  4 2  (1  )[7  2(1  )] , 240EI 22

Q 2 ( ) 

q 20  ( 5  8 ) , 8

M 3 ( )  

Q 3 ( ) 

q 30  (9  20 2 ) , 40

M 2 ( ) 

11 (  0, rp )  12 (   0) 

 3 ( ) 

q 20  3  (8 2  15  6) 48EI 33

 2 ()  

q 30  3  (10 3  27  14) , 240EI 22

q 20  2 (1  )(4  1) , 8

q 30  2 (1  )[20(1  )  7] , 120

3 3 n 0 7 q 30  1 q 20   x3  x2 , 2 A 120 I 22 8 I 33

5 q 20  , 8 A

13 (   0 ) 

9 q 30  . 40 A



Verlaufen die Zustandsgrößen im Integrationsbereich unstetig, etwa bei Angriff von Einzellasten (Abb. 6.7), dann zerfällt das Integrationsgebiet gedanklich in einzelne Bereiche, denn über Unstetigkeitsstellen des Integranden darf bekanntlich nicht hinwegintegriert werden. Die Bedingungen, die die Schnittlasten beim Übergang vom linken zum rechten Schnittufer erfüllen müssen, werden Übergangsbedingungen (ÜB) genannt.

Abb. 6.7 Übergangsbedingungen bei Angriff von äußeren eingeprägten Einzellasten

Bezeichnen wir mit  und r die links- bzw. rechtsseitigen Werte der Schnittlasten für den Grenzfall   0 , dann liefern die Gleichgewichtsbetrachtungen die Übergangsbedingungen an der Stelle x1 = x0:

N : N r  N    F1! , Q 3 : Q 3, r  Q 3,   F3! ,

Q 2 : Q 2 , r  Q 2 ,    F2! ,

M 2 : M 2 , r  M 2 ,   M !2 ,

M 3 : M 3, r  M 3,   M!3 .

Die geometrische Kompatibilität erfordert an der Übergangsstelle Stetigkeit in der Verschiebung uS und dem Drehwinkel p, also

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

6.3.2

u S : u S, r  u S,   0 ,

v S : v S, r  v S,   0 ,

 2 :  2 , r   2 ,   0 ,

 3 :  3, r   3,   0 .

141 w S : w S, r  w S,   0 ,

Die gerade oder einachsige Biegung mit Normalkraft

Abb. 6.8 Die Kinematik des Timoshenko-Balkens im Fall der einachsigen oder geraden Biegung, (x1,x3)-Ebene

Im Fall der geraden oder auch einachsigen Biegung mit Normalkraft stellen die Achsen x2 und x3 Hauptzentralachsen (HZA) des Querschnitts dar (I23 = 0). Die äußeren Lasten bewirken dabei eine Auslenkung der Balkenachse entweder in der (x1,x3)-Ebene oder in der (x2,x3)-Ebene, zu der bei Normalkraftbeanspruchung noch eine Verschiebung in x1-Richtung hinzukommt. In Abb. 6.8 ist der Fall der geraden Biegung mit Normalkraft in der (x1,x3)Ebene dargestellt. Die äußeren Lasten führen in diesem Fall nur zu einer Querkraft Q3(x1) und einem Biegemoment M2(x1). Das ist immer dann sichergestellt, wenn äußere Einzelmomente und Momentenschüttungen um die x2-Achse drehen, Linienkraftbelastungen in der (x1,x3)-Ebene liegen und Einzelkräfte in x3-Richtung wirken. Die Querschnittsverformung besteht dann aus der planaren Translation

u S ( x 1 )  u S ( x 1 ) e1  u p ( x 1 )  u S ( x 1 ) e1  w S ( x 1 ) e 3 sowie der Querschnittsdrehung um die x2-Achse

ψ p ( x1 )   2 ( x1 ) e 2 . Für den Verschiebungsvektor des Punktes P verbleibt dann

u( x 1 , rp )  u S ( x 1 )   p ( x 1 )  rp  [ u S ( x 1 )  x 3  2 ( x 1 )] e1  w S ( x 1 ) e 3 . In Komponenten erhalten wir u 1  u S ( x 1 )  x 3  2 ( x 1 ), u 2  0, u 3  w S ( x 1 ) ,

142

6 Balkenbiegung

was mit ()'   / x1 zu folgenden Dehnungen und Gleitungen führt: 11  u 1,1  u 'S ( x 1 )  x 3  ' 2 ( x 1 ),  22   33  0,  12  0,  13  w ' S ( x 1 )   2 ( x 1 ),  23   32  0.

Aus dem Hookeschen Gesetz folgt die Normalspannung 11 ( x 1 , x 3 )  E 11  E [ u 'S ( x 1 )  x 3  ' 2 ( x 1 )]

und die über den Querschnitt konstant verteilte Schubspannung 13 ( x 1 )   31 ( x 1 )  G  13  G [ w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )] .

Werten wir die in Kap. 6.1 bereitgestellten Schnittlastendefinitionen für den obigen Spannungszustand aus, dann erhalten wir bei Bezugnahme auf das Zentralachsensystem (rS = 0) die Normalkraft Ν ( x 1 )  EA ( x 1 ) u S ( x 1 ) .

und für die Querkraft und das Biegemoment errechnen wir Q 3 ( x 1 )  GA ( x 1 ) [ w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )] , M 2 ( x 1 )  EI 22 ( x 1 )  ' 2 ( x 1 ) .

Tab. 6.1 Einige wichtige Randbedingungen für den Timoshenko-Balken, ebenes Problem uS

wS

2

N

M2

Q3

≠0

0

≠0

0

0

≠0

Festes Lager

0

0

≠0

≠0

0

≠0

Einspannung

0

0

0

≠0

≠0

≠0

Freier Rand

≠0

≠0

≠0

0

0

0

Randlagerung Gleitlager

Symbol

Sind im statisch bestimmten Fall die Schnittlasten (Normalkraft, Querkraft, Biegemoment) aus Gleichgewichtsuntersuchungen bekannt, dann müssen im ebenen Fall nur noch die gewöhnlichen Differenzialgleichungen

Ν( x1 ) Q (x ) M 2 (x1 ) , w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )  3 1 ,  ' 2 ( x 1 )  , EA( x1 ) GA ( x 1 ) EI 22 ( x 1 ) zur Berechnung der drei Funktionen u S ( x 1 ), w S ( x 1 ),  2 ( x 1 ) unter Beachtung der Randbedingungen integriert werden (Tab. 6.1). u S ( x1 ) 

Ist das System dagegen statisch unbestimmt gelagert, dann erfordern die lokalen Gleichgewichtsbedingungen

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

143

EA ( x 1 ) u S ( x 1 )     n ( x 1 ) ,  GA ( x 1 )w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )      q 3 ( x 1 ) ,

EI 22 ( x 1 ) 2 ( x 1 )    GA ( x 1 )w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )   m 2 ( x 1 ) . Diese Gleichungen vereinfachen sich, wenn wir einen prismatischen Balken, also einen Balken mit konstanter Querschnittsform unterstellen. Dann verbleiben: EA u S ( x 1 )   n ( x 1 ) , GA [ w S ( x 1 )   2 ( x 1 )]   q 3 ( x 1 ) , EI 22  2 ( x 1 )  GA [ w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )]  m 2 ( x 1 ) .

Der Timoshenko-Balken besitzt übrigens einen Verformungszustand, bei dem die Stabachse mit wS = 0 gerade bleibt (Abb. 6.9) und Punkte, die nicht auf der Stabachse liegen, sich nur in horizontaler Richtung verschieben. Dieser Verformungszustand wird durch eine konstante Verdrehung  2 ( x 1 )   0  konst . beschrieben, die zu den Schnittlasten Q 3  GA  0 , M 2  0

führt. Wegen Q 3   q 3  0 ist der Balken frei von Linienkräften, und der horizontale Verschiebungszustand wird durch die längs der Balkenachse konstante Momentenschüttung m 2 ( x 1 )  m 0  Q 3  GA  0 bewirkt. Ein solcher Verformungszustand ist in der klassischen Balkentheorie nach Bernoulli (s.h. Kap. 6.4) nicht möglich.

Abb. 6.9 Horizontaler Verschiebungszustand beim Timoshenko-Balken, Querkraft- und Momentenverlauf

Beispiel 6-3: Der in Abb. 6.10 skizzierte statisch bestimmt gelagerte Balken mit Rechteckquerschnitt der breite b und der Höhe h wird durch eine Einzelkraft F belastet. Berechnen Sie sämtliche Zustandsgrößen. Die Querkraft Q3(x1) und das Moment M2(x1) sind aus einer vorweggenommenen Gleichgewichtsbetrachtung bekannt.

144

6 Balkenbiegung

Abb. 6.10 Balken auf zwei Stützen mit Einzelkraftbelastung, Schnittlastenverläufe

Geg.: E, G = E/2, I22, A, F, , h, a, b. Lösung: Wir vereinheitlichen zunächst die Schnittlastenverläufe mittels der HeavisideFunktion, womit sich die Formulierung von Übergangsbedingungen erübrigt: a  Q 3 ( x 1 )  F H (a  x 1 )   ,  

x   M 2 ( x 1 )  F ( a  x 1 ) H ( x 1  a )  1 (   a )  .   

An der Stelle x 1  a ist die Querkraft nicht definiert. Dieser Punkt gehört somit nicht zum Lösungsgebiet, und das trifft auch auf die Ränder zu. Da Normalkräfte fehlen, verbleiben zur Berechnung der Verformungsgrößen w S ( x 1 ) und  2 ( x 1 ) die beiden Differenzialgleichungen GA w ' S ( x 1 )   2 ( x 1 )   Q 3 ( x 1 ) ,

EI 22  ' 2 ( x 1 )  M 2 ( x 1 ) ,

die noch an die Randbedingungen anzupassen sind. Da beim vorliegenden System an den Balkenenden nur Verschiebungsrandbedingungen zu formulieren sind, die Momentenfreiheit ist bereits erfüllt, eliminieren wir zunächst aus der ersten der obigen Gleichungen den Drehwinkel 2, indem wir einmal nach x1 differenzieren und die zweite Gleichung beachten. Das führt auf die gewöhnliche Differenzialgleichung 2. Ordnung für w S allein: EI 22 EI 22 w S ( x 1 )  M 2 ( x 1 )  s 2  2 Q3 ( x 1 )  0 , s 2  . GA  2 Maple liefert uns im Sinne der Distributionstheorie mit Q 3   F Dirac ( x 1  a ) die verallgemeinerte erste Ableitung der Querkraft an ihrer Sprungstelle x = a. Beachten wir die lokale Gleichgewichtsbedingung Q 3 ( x 1 )   q 3 ( x 1 ) und damit q 3 ( x 1 )  F Dirac ( x 1  a ) ,

dann kann die Einzelkraft als Grenzwert einer Linienkraft mit der Resultierenden F gedeutet werden, wenn die Linienkraftintensität nach unendlich geht, während sich die Intervalllänge auf den Punkt x = a zusammenzieht. An den Balkenenden sind w S ( x 1  0 )  w S ( x 1   )  0 zu fordern. Ist die Verschiebung wS ermittelt, dann kann der Drehwinkel aus der Beziehung  2 (x1 ) 

Q 3 (x1 )  w 'S ( x 1 ) GA

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

145

berechnet werden. Maple liefert uns mit den dimensionslosen Größen   x 1 /  ,   a /  folgende Lösungen:





w S () 

F 3  (   1)(  2  2    2 )  (    ) 3 H (    )  6 s 2  (1   )  (    ) H (    )  , 6 EI 22

 2 () 

F 2 3(    ) 2 H (    )   ( 3 2  6    2  2 ) . 6 EI 22





Die Balkenverschiebung setzt sich aus zwei Anteilen zusammen, der Biegeverformung w SB (  ) 



F 3  (   1)(  2  2    2 )  (    ) 3 H (    ) 6 EI 22



und der Schubverformung w SS (  ) 

F 3 s 2  (1   )  (    ) H (    )  . EI 22

Die Schubverformung gibt den Einfluss der Querkraft auf die Verschiebung wieder. Bilden wir an der Stelle des Kraftangriffs x1 = a den Quotienten aus Schubdurchsenkung und Biegeverformung, dann folgt w SS (    ) w SB ( 

 )



3s 2 .  (1   )

Abb. 6.11 Bezogene Verformungsgrößen wS () und ψ 2 () ,  = 1/5

Die Schubverformung ist nur bei gedrungenen Balken von Interesse. Für einen schlanken Balken, etwa mit h/ = 1/10, beträgt bei unserem Beispiel die Schubverformung an der Stelle des Kraftangriffs lediglich 3,1% der Biegeverformung (Abb. 6.12) und kann deshalb in prak-

146

6 Balkenbiegung

tischen Anwendungen vernachlässigt werden. Abb. 6.12 zeigt noch ein bemerkenswertes Ergebnis der Theorie des Timoshenko-Balkens, die an der Kraftangriffsstelle einen Knick in der Verschiebungsfunktion liefert. Um diesen Sachverhalt noch etwas deutlicher aufzuzeigen, bilden wir den links- und rechtsseitigen Grenzwert der ersten Ableitung von wS an der Stelle  = :   (  )  lim w S 

F 2  ( 2  1)(   1)  3s 2 (1   )  , 3EI 22

 r (  )  lim w S 

F 2  ( 2   1)(   1)  3s 2  . 3EI 22

 

 

Die Symbole lim ( ) und lim ( ) bezeichnen den links- bzw. rechtsseitigen Grenzwert von  

 

w S bei Annäherung an den Punkt  = . Der Sprung in der Verschiebungsableitung ist dann

 (    ) : lim w S (    )  lim w S (    )    

 

F 2 s 2 , EI 22

der für s2 = 0 verschwindet. An den Auflagern liefert uns Maple die Tangentenneigungen F 2 (   1)    lim w S (   0 )  [  (   2 )  6s 2 ] , 0 6 EI 22  r  lim w S (   1)    1 

F 2  [1   2  6s 2 ]. 6 EI 22

Speziell gilt für  = 1/5:   

2 F 2 F 2 ( 3  50 s 2 ),  r   ( 4  25 s 2 ) . 125 EI 22 125 EI 22

Abb. 6.12 Verhältnis von Schub- zu Biegeverformung bei unterschiedlichen Schlankheiten h/,  = 1/5

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

147

Beispiel 6-4: Für den in Abb. 6.13 skizzierten links eingespannten und rechts frei drehbar gelagerten Rechteckbalken der Höhe h unter Einzelkraftbelastung F sind sämtliche Zustandsgrößen zu bestimmen.

Abb. 6.13

Links eingespannter und rechts frei drehbar gelagerter Balken mit Einzelkraftbelastung

Geg.: E, G = E/2, I22, A, F, , h, a, b. Lösung: Das System ist einfach statisch unbestimmt gelagert. Da Normalkräfte und Momentenschüttungen fehlen, verbleibt die Integration des Differenzialgleichungssystems: GA w S ( x 1 )   2 ( x 1 )    q 3 ( x 1 ) , EI 22  2 ( x 1 )  GA w ' S ( x 1 )   2 ( x 1 )  .

Die Einzelkraft F deuten wir wieder als Grenzwert einer Linienkraft mit der Resultierenden F in der Form q 3 ( x 1 )  F Dirac ( x 1  a ) . Am linken Balkenende sind nach Tab. 6.1 die Einspannbedingungen w S ( x 1  0 )  0 und  2 ( x 1  0 )  0 zu erfüllen. Am rechten Balkenende müssen die Verschiebung und das Biegemoment verschwinden, was w S ( x 1   )  0 und  2 ( x 1   )  0 erfordert. Maple liefert uns mit der Schubkonstanten s 2  1 / 6( h /  ) 2 sowie den dimensionslosen Größen   x 1 /  ,   a /  am Angriffspunkt ( = ) der Kraft F folgende Verschiebung: w S (   )  

F 3   2 (1   ) 2 ( 4   )  12 s 2 [ 2  2   3  1  3(1   ) s 2 ] 12 EI 22 1  3s 2 F 3  3 (1   ) 2 ( 4   )  O ( s 2 ) 12 EI 22

Befindet sich die Kraft in Feldmitte ( = 1/2), dann ist die dortige Verschiebung w S (1 / 2) 

F 3 7  48s 2 (5  12s 2 ) . 768 EI 22 1  3s 2

Abb. 6.14 zeigt die bezogenen Verformungen für diverse Verhältnisse h/. In der linken Grafik sind die bezogenen Verschiebungen dargestellt, die ebenfalls an der Stelle des Kraftangriffs ( = 1/2) einen Knick aufweisen. Der Sprung in der Tangentenneigung

148  (    )  

6 Balkenbiegung F 2 s 2 EI 22

ist identisch mit der vergleichbaren Größe in Beispiel 6-3. Auf die formelmäßige Widergabe des Drehwinkels  verzichten wir und verweisen auf das entsprechende Maple-Arbeitsblatt.

Abb. 6.14 Bezogene Verformungsgrößen für das System in Abb. 6.13,  = 1/2

Abb. 6.15 Bezogene Schnittlasten für das System in Abb. 6.13,  = 1/2

Sind die Verformungsgrößen ermittelt, dann können die Schnittlasten Q 3 ( x 1 )  GA [ w S ( x 1 )   2 ( x 1 )] und M 2 ( x 1 )  EI 22  2 ( x 1 )

berechnet werden. Für die an den Balkenenden auftretenden Querkräfte erhalten wir:

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens Q 3 ( x 1  0) 

F (1   )[ 2 (1   )   2  6s 2 ] F  (1   )[ 2 (1   )   2 ]  O (s 2 ) , 2 1  3s 2 2

Q 3 ( x 1  )  

F [  ( 3   )  6 s 2 ] F 2  (3   )  O (s 2 ) . 2 1  3s 2 2

149

Von Interesse ist noch das am linken Balkenende auftretende Einspannmoment M 2 (  0)  

F  (1   )( 2   ) F   (1   )( 2   )  O ( s 2 ) , 2 1  3s 2 2

sowie das Moment unter der Kraft F M 2 (   ) 

F  (1   ) ( 3   )  6 s 2  F 2   (1   )( 3   )  O ( s 2 ) . 2 1  3s 2 2

Für unser Beispiel ist im Rahmen der Zeichengenauigkeit für die Querkräfte und Biegemomente nur ein geringfügiger Unterschied in den Zustandslinien festzustellen. 

6.3.3

Singuläre Lösungen

Abb. 6.16 Singuläre Lösungen Einzelkraft, Kräftepaar und Einzelmoment am Timoshenko-Balken

Das Differenzialgleichungssystem zur Berechnung der Verformungsgrößen wS und 2 eines Timoshenko-Balkens GA [ w S ( x 1 )   2 ( x 1 )]   q 3 ( x 1 ) , EI 22  2 ( x 1 )  GA [ w 'S ( x 1 )   2 ( x 1 )]  m 2 ( x 1 ) ,

besitzt spezielle partikulare Integrale, die konzentrierten Lasten (Punktlasten) zugeordnet sind, und die wir singuläre Lösungen nennen. Man kann diese Lösungen entweder erraten, was ein durchaus probates Mittel bei der Lösung gewöhnlicher und auch partieller Differenzialgleichungen ist, oder aber durch Grenzprozesse an Linienlasten finden, die zunächst über

150

6 Balkenbiegung

einen kleinen Bereich verteilt sind (Abb. 6.16). Die Angriffspunkte der konzentrierten Lasten, die auch Aufpunkte genannt werden, gehören nicht zum Lösungsgebiet. In der Theorie des Timoshenko-Balkens sind drei singuläre Lösungen (Abb. 6.16) von besonderem Interesse: 1. Die singuläre Lösung Einzelkraft, 2. Die singuläre Lösung Kräftepaar, 3. Die singuläre Lösung Einzelmoment. Als Folge der beiden unabhängigen Verformungsfreiheitsgrade wS und  können wir uns ein eingeprägtes Moment M0 auf zwei verschiedene Arten entstanden denken; zum einen als Grenzwert eines parallel zur e3-Richtung wirkenden Kräftepaares (Abb. 6.16, Mitte) und zum anderen als Grenzwert einer Momentenschüttung (Abb. 6.16, rechts). Ohne auf die Herleitung näher einzugehen, notieren wir hier lediglich die vollständigen Lösungen, wobei in den nachfolgenden Beziehungen die Abkürzungen 

x1 EI 22 , d  1 d  1 ()  , s 2  , a dx 1 a d  a GA a 2

verwendet werden, und a > 0 eine beliebige Bezugslänge bedeutet. Die singuläre Lösung Einzelkraft Die singuläre Lösung Einzelkraft können wir uns als Grenzprozess aus einer konstanten Linienkraftbelastung q0 mit der Aufstandslänge 2 entstanden denken. Während des Grenzprozesses   0 wird die resultierende Kraft F  2 q 0 konstant gehalten, wobei q0 gegen unendlich geht. Im Einzelnen sind: Fa 3 Fa 2 2 w S ( , s 2 )   (  2  6s 2 )[ 2 H (  )  1],  2 (  )    [ 2 H (  )  1] , 12 EI 22 4 EI 22 M 2 ()  

Fa  [ 2 H (  )  1], 2

Q 3 ()  

F [ 2 H (  )  1], 2

q 3 () 

F Dirac (  ) . a

Wie leicht bestätigt werden kann, erfüllen diese Lösungen das Gleichungssystem GA a

2

w S (  )  a 2 (  )    q 3 (  ) ,

s 2  2 (  ) 

1 w 'S (  )   2 (  ) . a

Die Verschiebungsfunktion wS ist zwar stetig (Abb. 6.17), allerdings gilt das nicht mehr für deren erste Ableitung im Aufpunkt   0 . Den dortigen Sprung in w S ermitteln wir aus den Grenzwerten   ( 0 )  lim w S  0

zu

Fa 2 Fa 2 s 2 ,  r ( 0 )  lim w S   s2 , 0 2 EI 22 2 EI 22

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens    r ( 0 )    ( 0 )  

Fa 2 s2 EI 22

  

EI 22 Fa 2

151    s 2 .

Abb. 6.17 Singuläre Lösung Einzelkraft, bezogene Verschiebung (s2 = 0,0267) und bezogener Drehwinkel

Abb. 6.18

Singuläre Lösung Einzelkraft, bezogene Schnittlasten

Die singuläre Lösung Kräftepaar Diese Lösung können wir uns als Grenzwert zweier entgegengesetzt wirkender Einzelkräfte entstanden denken (Abb. 6.16, Mitte), die senkrecht zur Balkenachse wirken. Das Kräftepaar mit dem Moment M 0  2 F wird während des Grenzprozesses   0 konstant gehalten, wobei F über alle Grenzen wächst. Die vollständige Lösung ist

152

6 Balkenbiegung

w S (, s 2 )  M 2 ()  

Abb. 6.19





M 0a 2 2   2s 2 2 H (  )  1 , 4 EI 22

 2 ()  

M0 2 H (  )  1, Q 3 (  )   M 0 Dirac (  ) , 2 a

M 0a 2 H (  )  1, 2 EI 22 q 3 () 

M0 a2

Dirac (1,  ).

Singuläre Lösung Kräftepaar, bezogene Verschiebung (s2 = 0,0267) und bezogener Drehwinkel

Abb. 6.20 Singuläre Lösung Kräftepaar, bezogene Schnittlasten

Die singuläre Lösung Kräftepaar erfüllt die lokalen Gleichgewichtsbedingungen GA a

2

w S (  )  a 2 (  )    q 3 (  ) ,

s 2  2 (  ) 

1 w 'S (  )   2 (  ) . a

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

153

Wie die Verschiebungsfunktion in Abb. 6.19 zeigt, ist der Körperzusammenhang des Balkens in der Umgebung des Aufpunktes  = 0 nicht mehr gewahrt. Es bildet sich offensichtlich unterhalb des Kräftepaares ein Querkraftgelenk aus. Ein solches Ergebnis ist zwar theoretisch interessant, besitzt jedoch keine praktische Bedeutung. Wir verschaffen uns den Verschiebungssprung mittels der Grenzwerte w  ( 0 )  lim w S  0

M a2 M 0a 2 s 2 , w r ( 0 )  lim w S   0 s 2 , 0 2 EI 22 2 EI 22

was w S  w r ( 0 )  w  ( 0 )  

M 0a 2 s2 EI 22

 w S 

EI 22 M 0a 2

w   s 2

liefert. Die singuläre Lösung Einzelmoment Wir denken uns die singuläre Lösung Einzelmoment als Grenzwert einer konstanten Momentenschüttung der Intensität m0 mit dem resultierenden Moment M0 entstanden. Die vollständige Lösung ist: w S () 

M 0a 2 2 M 0a  2 H ()  1 ,  2 ()   2 H ()  1, 4EI 22 2 EI 22

M 2 ()  

Abb. 6.21

M0 M 2H ()  1, Q 3 ()  0 , q 3 ()  0, m 2  0 Dirac (). 2 a

Singuläre Lösung Einzelmoment, bezogene Verformungen

Die Schnittlasten können Abb. 6.20 entnommen werden. Im Vergleich zur singulären Lösung Kräftepaar verläuft die Verschiebungsfunktion wS nun auch in der Umgebung des Aufpunktes stetig, und sämtliche Zustandsgrößen sind unabhängig von der Schubkonstanten s2.

154

6 Balkenbiegung

Die allgemeine Lösung Die vorab bereitgestellten singulären Lösungen werden i. Allg. nicht die Randwerte einer vorgegeben Balkenlagerung erfüllen. Dazu sind weitere Lösungen erforderlich. Wie aus der Theorie der gewöhnlichen Differenzialgleichungen bekannt ist, besteht die allgemeine Lösung wS(x) und 2(x) eines inhomogenen linearen Differenzialgleichungssystems mit konstanten Koeffizienten aus der Summe (beliebiger) partikulärer Lösung des inhomogenen und einer allgemeinen Lösung des zugehörigen homogenen Differenzialgleichungssystems, also w S ( x 1 )  w Sp ( x 1 )  w Sh ( x 1 ) ,  2 ( x 1 )   p2 ( x 1 )   h2 ( x 1 )

Als partikuläre Lösungen dienen uns die vorab bereitgestellten singulären Lösungen. Wir benötigen also nur noch die allgemeine Lösung des homogenen Differenzialgleichungssystems mit q 3 ( x 1 )  0 und m 2 ( x 1 )  0 :     w Sh ( x 1 )   h2 ( x 1 )  0 , EI 22  h2 ( x 1 )  GA[ w Sh ( x 1 )   2 ( x 1 )]  0 .

Dieses Differenzialgleichungssystem besitzt die Lösung 1 3 1 x 1 C1  x 12 C 2  x 1C 3  C 4 , 6 2 1  h2 ( x 1 )   ( x 12  2s 2  2 ) C1  x 1C 2  C 3 . 2 w Sh ( x 1 ) 

Die vier freien Konstanten ermöglichen die Erfüllung von jeweils zwei Randbedingungen an zwei gegenüberliegenden Balkenenden. Wir zeigen das an einem Beispiel. Beispiel 6-5:

Abb. 6.22

Links eingespannter und rechts frei drehbar gelagerter Balken mit Einzelmomentenbelastung

Für den in Abb. 6.22 skizzierten links eingespannten und rechts frei drehbar gelagerten Rechteckbalken der Höhe h unter Einzelmomentenbelastung M0 sind sämtliche Zustandsgrößen zu bestimmen. Geg.: E, G = E/2, I22, A, M0, , h, a, b. Lösung: Die singuläre Lösung Einzelmoment ist bekannt. Transformieren wir auf das Koordinatensystem in Abb. 6.22, dann sind (   x 1 /  , 0    1 ):

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens w Sp (  ) 

155

M 02 M 0 (    ) 2 2 H (    )  1 ,  p2 (  )   (    )2 H (    )  1 . 4 EI 22 2 EI 22

Die Lösung der homogenen Differenzialgleichung ist mit neuen Konstanten w Sh (  ) 

1 1 1 3 1   C1   2 C 2  C 3  C 4 ,  h2 (  )    (  2  2s 2 ) C1  C 2  C 3  . 6 2  2 

Am linken Balkenende ( = 0) müssen die Verschiebung und der Drehwinkel verschwinden: 1. 2.

M 0 2 2   C4  0 , 4 EI 22 M 0 1  2 ( 0 )   p2 ( 0 )   h2 ( 0 )     s 2 C 1  C 3  .  2 EI 22 w S ( 0 )  w Sp ( 0 )  w Sh ( 0 )  

Am rechten Balkenende ( = 1) müssen die Verschiebung und wegen der Momentenfreiheit die 1. Ableitung des Drehwinkels verschwinden. Mit  M0 2H(  )  1 ,  h2  (  )   12 C1  C 2   p2 ()   2 EI 22  erhalten wir M 2 1 1 3. w S (1)  w Sp (1)  w Sh (1)  0 (1   ) 2  C1  C 2  C 3  C 4  0 4 EI 22 6 2 4.

  M0 1  2  (1)   p2 (1)   h2 (1)    (C1  C 2 )  0 2 EI 22  2

Die Lösung dieses linearen Gleichungssystems liefert die vier Konstanten C1 

3 M 0  2  (  2) 1 M 0  2 3  2  6   1  3s 2 , C2   , 2 EI 22 1  3s 2 2 EI 22 1  3s 2

C3  

1 M 0 2 2 1 M 0  2 [1  3s 2 (1   )] , C4   . 4 EI 22 2 EI 22 1  3s 2

Von Interesse sind noch der links- und rechtsseitige Grenzwert des Biegemomentes bei Annäherung an den Angriffspunkt des Momentes M0 bei    . Maple liefert uns: M 2 ,  : lim M 2   

2  3 (   1)(   2 )  6 s 2 1 , M0 2 1  3s 2

3  (  2  3  2 ) , M 2 , r : lim M 2   M 0   2 1  3s 2

und der Sprung in der Momentenkurve ist M 2 : M 2 , r  M 2 ,    M 0 .

156

6 Balkenbiegung

Für das Schnittlastenmoment an der Einspannstelle errechnen wir M 2 (  0) 

2  3 (   2 )  6 s 2 1 . M0 2 1  3s 2

Abb. 6.23 Bezogene Verformungsgrößen ( = 0.4, s2 = 0.0267)

Abb. 6.24 Bezogene Schnittlasten ( = 0.4, s2 = 0.0267)

6.3.4

Automatisierte Schnittlasten- und Verformungsberechnung mit Maple

Als Vorbereitung zur automatisierten Schnittlasten- und Verformungsberechnung mit Maple beschaffen wir uns die inneren Kräfte (Schnittlasten) eines geraden Balkens, dessen linkes Ende x = xA frei und dessen rechtes Ende x = xE eingespannt ist (Abb. 6.25). Da das linke Ende frei gelagert ist, hängen die Schnittlasten nur von der Belastung links vom Schnitt ab.

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

157

Wir folgen hier den Ausführungen in (Krawietz, Maple V für das Ingenieurstudium, 1997). Als äußere Belastung sind Einzelkräfte F, Einzelmomente M, Linienkräfte q und Momentenschüttungen m zugelassen. Die Linienlasten q und m sollen linear vom linken zum rechten Rand der Belastung anwachsen, was keine große Einschränkung bedeutet, denn jede in Ingenieuranwendungen auftretende Linienlast kann mit beliebiger Genauigkeit durch linear veränderliche Lasten angenähert werden.

Abb. 6.25 Timoshenko-Balken unter Einzelkraft, Einzelmoment, Linienkraft und Momentenschüttung

1.) Einzelkraft F an der Stelle xF: 0 M 2 ( x1 )     F( x 1  x F )

für x 1  x F für x 1  x F

.

Ausgedrückt durch die Heaviside-Funktion erhalten wir die einheitliche Darstellung M 2 ( x 1 )   F( x 1  x F ) H ( x 1  x F ) .

2.) Einzelmoment M an der Stelle xM: für x 1  x M 0 . M 2 ( x1 )   für x 1  x M  M Auch dieser Ausdruck kann mittels der Heaviside-Funktion vereinheitlicht werden: M 2 (x )  M H(x1  x M ) .

3.) Linienkraft q3(x1) im Intervall [ x  , x r ]:

158

6 Balkenbiegung  0   M 2 ( x 1 )      

für x 1  x 

 

x1 u x xr u x

q 3 ( u )( x 1  u ) du für x   x 1  x r q 3 ( u )( x 1  u ) du für x r  x 1

In diesem Fall sind drei Bereiche zu unterscheiden (Abb. 6.25). Wir vereinheitlichen diese stückweise definierte Funktion mittels der Heaviside-Funktion und erhalten M 2 (x1 )  H( x1  x  )



x1 ux

q 3 ( u )( x 1  u ) du  H ( x 1  x r )



xr u  x1

q 3 ( u )( x  u ) du .

Wir beschränken uns im Folgenden auf linear veränderliche Linienkräfte

q 3 (u )  q  

qr  q (u  x  ) , xr  x

Abschließend untersuchen wir die Wirkung einer Momentenschüttung. 4.) Momentenschüttung m2(x1) im Intervall [ x  , x r ]:  0   M 2 ( x 1 )      

für x 1  x 

 

x1 ux xr ux

m 2 ( u ) du

für x   x 1  x r

m 2 ( u ) du

für x r  x 1

Auch hier sind drei Bereiche zu unterscheiden. Wir vereinheitlichen diese stückweise definierte Funktion mittels der Heaviside-Funktion und erhalten M 2 ( x1 )  H ( x1  x  )



x1 u x

m 2 ( u ) du  H ( x 1  x r )



xr u  x1

m 2 ( u ) du .

Wir beschränken uns auf linear veränderliche Momentenschüttungen

m 2 (u )  m  

mr  m (u  x  ) . xr  x

Die Auswertung der anfallenden Integrale überlassen wir Maple. Sind die Schnittmomente M2(x1) aus sämtlichen äußeren Belastungen berechnet, dann liefert die lokalen Gleichgewichtsbedingungen die Querkraft Q 3 ( x 1 )  M 2 ( x 1 )  m 2 ( x 1 ) .

6.3 Die Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens

159

Ist der Balken an mehr als zwei Stellen gelagert, dann hängen die Schnittlasten zwischen den Lagern von den noch unbekannten Lagerreaktionen ab, die wir in Maple mit einem Namen versehen können, und mit denen Maple rechnen kann. Ist der Balken statisch bestimmt gelagert, dann treten lediglich zwei unbekannte Lagerreaktionen auf, die aus dem Kraft- und Momentengleichgewicht am Gesamtsystem ermittelt werden. Wir wählen dazu mit x > xE eine Stelle rechts vom rechten Balkenende, da dort die Schnittlasten verschwinden müssen. Mit den nun bekannten Schnittlasten Q3(x1) und M2(x1) lassen sich aus dem Differenzialgleichungssystem GA w ' S ( x 1 )   2 ( x 1 )   Q 3 ( x 1 ) , EI 22  ' 2 ( x 1 )  M 2 ( x 1 ) ,

mit der Lösung  2 (x1 )  w S (x1 ) 

1

 EI

M 2 ( x 1 ) dx 1  C 1 ,

22

 1

  GA Q

3 (x1 )

   2 ( x 1 )  dx 1  C 2 , 

die Verformungen wS(x1) und 2(x1) berechnen. Ist der Balken statisch bestimmt gelagert, dann sind lediglich zwei Verformungsbedingungen zu erfüllen, mittels derer die Konstanten C1 und C2 ermittelt werden. Ist der Balken dagegen n-fach statisch unbestimmt gelagert (n: Anzahl der statisch Unbestimmten), dann enthalten die Gleichungen für wS und  noch n unbestimmte Lagerreaktionen, die unter Beachtung der geometrischen Bedingungen der überzähligen Fesselungen aus einem linearen Gleichungssystem zu bestimmen sind. Beispiel 6-6: Die obigen Beziehungen sollen in einer Maple-Prozedur ausgewertet werden, mit deren Hilfe die Schnittlasten Q3(x1) und M2(x1), die Verformungen w(x1) und (x1) sowie die Lagerreaktionen eines Timoshenko-Balkens automatisch berechnet werden können. Die Ergebnisse sind zur Kontrolle grafisch darzustellen. Der Balken wird durch senkrecht zur Balkenachse wirkende Einzelkräfte, Einzelmomente, Linienkräfte und Momentenschüttungen beansprucht. Normalkräfte treten dann nicht auf.

Abb. 6.26 Timoshenko-Balken unter Linienkraft, Einzelkraft, Einzelmoment und Momentenschüttung

160

6 Balkenbiegung

Wenden Sie die Prozedur auf die statisch unbestimmten Systeme in Abb. 6.26 an. Wählen Sie für die Verformungsberechnung folgende Material- und Geometriewerte: E  2,5 10 7 , G  E / 2, A  0,245, I 22  0,01. 

6.4

Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

Zur Herleitung der Grundgleichungen des Timoshenko-Balkens (Kap. 6.3) wurden Annahmen über die Verformung des Balkenquerschnitts getroffen, einer durch

u S ( x 1 )  u S ( x 1 ) e1  u p ( x 1 )  u S ( x 1 ) e1  v S ( x 1 ) e 2  w S ( x 1 ) e 3 festgelegten Translation und einer planaren Rotation

ψ p ( x1 )   2 ( x1 ) e 2   3 ( x1 ) e 3 mit den beiden Winkeln 2(x1) und 3(x1) der Querschnittsverdrehung. Die Querschnitte eines Timoshenko-Balkens bleiben also auch nach der Verformung eben. Diese kinematischen Annahmen gestatteten die Berechnung der Normal- und Schubspannungen (und damit auch der Querkräfte) aus einem Werkstoffgesetz.

Abb. 6.27 Die Kinematik des Bernoulli-Balkens

Die auf Jakob Bernoulli (Bernoulli, 1694) und Leonhard Euler (Euler, 1744) zurückgehende Balkentheorie, die auch als klassische Balkentheorie bezeichnet wird, beruht ebenfalls auf der Annahme ebenbleibender Querschnitte, allerdings wird ein zusätzlicher kinematischer Zwang derart eingeführt, dass Balkenquerschnitte, die vor der Auslenkung senkrecht auf der Balkenachse standen, auch nach der Verformung senkrecht auf der ausgebogenen Balkenachse stehen sollen (Abb. 6.27). Wir fassen die als Bernoullische Hypothesen bekannten Annahmen der Balkenbiegung in den folgenden Sätzen zusammen:

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens I. II.

161

Balkenquerschnitte, die vor der Auslenkung senkrecht auf der Balkenachse standen, sollen auch nach der Deformation senkrecht auf der verformten Balkenachse stehen. Es treten keine Verzerrungen quer zur Balkenachse auf.

Die 1. Bernoullische Hypothese bedeutet  3 ( x 1 )  v 'S ( x 1 ),  2 ( x 1 )   w 'S ( x 1 ) .

Damit lassen die Drehwinkel sich durch Ableitung der Verschiebungen vS und wS berechnen, und der planare Drehwinkelvektor p geht über in

ψ p ( x 1 )   w 'S ( x 1 ) e1  v'S ( x 1 ) e 3  e1  up . Im Fall kleiner Verformungen folgt für den Verschiebungsvektor näherungsweise u ( x 1 , rp )  u S ( x 1 )   p ( x 1 )  rp  [ u S ( x 1 )  x 3 w 'S ( x 1 )  x 2 v 'S ( x 1 )( x 1 )] e1  v S ( x 1 ) e 2  w S ( x 1 ) e 3

und in Komponenten erhalten wir u 1  u S ( x 1 )  x 3 w 'S ( x 1 )  x 2 v 'S ( x 1 ), u 2  v S ( x 1 ), u 3  w S ( x 1 ) .

Der Verzerrungstensor E besitzt mit 11  u1,1  u 'S ( x1 )  x 3 w S ( x1 )  x 2 vS ( x1 )

nur noch eine Komponente. Alle anderen Verzerrungen sind null, was dazu führt, dass beim Bernoulli-Balken kein Werkstoffgesetz für die Querkräfte existiert. Für die Normalspannung erhalten wir 11 (r )  E 11  E [ u 'S ( x 1 )  x 3 w S ( x 1 )  x 2 v S ( x 1 )]

Werten wir die in Kap. 6.1 bereitgestellten Schnittlastendefinitionen für den obigen Spannungszustand aus, dann erhalten wir unter Beachtung der Definitionen für die Flächenmomente 1. Grades (S2, S3: Statische Momente) die Normalkraft Ν ( x1 )  EA ( x1 ) u S ( x1 )  E S2 ( x1 ) w S ( x1 )  E S3 ( x1 ) vS ( x1 ) .

und die Momente M 1 ( x 1 )  13 ( x 1 ) S 3 ( x 1 )  12 ( x 1 ) S 2 ( x 1 ), M 2 ( x 1 )  ES 2 ( x 1 ) u 'S ( x 1 )  EI 22 ( x 1 ) w S ( x 1 )  EI 23 ( x 1 ) v S ( x 1 ), M 3 ( x 1 )   ES 3 ( x 1 ) u 'S ( x 1 )  EI 23 ( x 1 ) w S ( x 1 )  EI 33 ( x 1 ) v S ( x 1 ).

Bei Bezugnahme auf ein Zentralachsensystem (ZA) verschwinden wegen rS  0 die statischen Momente, und es verbleiben die Elastizitätsgesetze für die Normalkraft Ν ( x 1 )  EA ( x 1 ) u S ( x 1 ) ,

162

6 Balkenbiegung

und die Biegemomente M 2 ( x 1 )   EI 22 ( x 1 ) w S ( x 1 )  EI 23 ( x 1 ) v S ( x 1 ), M 3 ( x 1 )   EI 23 ( x 1 ) w S ( x 1 )  EI 33 ( x 1 ) v S ( x 1 ).

Lösen wir die obigen Beziehungen nach den Verschiebungsableitungen auf, dann erhalten wir die linearisierten Krümmungen w S ( x 1 )   v S ( x 1 )  

1 M 2 ( x 1 ) I 33 ( x 1 )  M 3 ( x 1 ) I 23 ( x 1 ) , E I 22 ( x 1 ) I 33 ( x 1 )  I 223 ( x 1 )

1 M 2 ( x 1 ) I 23 ( x 1 )  M 3 ( x 1 ) I 22 ( x 1 ) . E I 22 ( x 1 ) I 33 ( x 1 )  I 223 ( x 1 )

Beziehen wir uns ferner auf die Hauptzentralachsen des Querschnitts, dann verbleiben mit I 23  0 die entkoppelten Beziehungen w S ( x 1 )  

M 2 (x1 ) M 3 (x1 ) , v S ( x 1 )  . EI 22 ( x 1 ) EI 33 ( x 1 )

Im statisch bestimmten Fall lassen die Schnittlasten (Normalkraft, 2 Biegemomente) sich allein aus Gleichgewichtsbetrachtungen am freigeschnittenen System berechnen. Die drei Verschiebungen u S ( x 1 ), v S ( x 1 ), w S ( x 1 ) folgen unter Beachtung der Randbedingungen aus den Differenzialgleichungen

u S ( x1 ) 

Ν( x1 ) M 3 (x1 ) M (x ) , w S ( x 1 )   2 1 , v S ( x 1 )  . EA( x1 ) EI 22 ( x 1 ) EI 33 ( x 1 )

Befindet sich beispielsweise an der Stelle x 1  0 ein eingespannter Rand, dann sollen dort für die Verschiebungen u S und die Drehwinkel ψ p folgende Bedingungen gelten: u S ( 0 )  v S ( 0 )  w S ( 0 )  v ( 0 )  w  ( 0 )  0 .

An einem freien Rand müssen die Querkräfte Q und die Biegemomente M verschwinden. Beispiel 6-7:

Abb. 6.28 Kragbalken mit Einzelkraft, Querschnitt, Freischnittskizze und Biegepfeil

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

163

Für den oben skizzierten Kragbalken mit Dreieckquerschnitt sind die Verschiebungen vS(x1) und wS(x1) zu berechnen. Ermitteln Sie die Verschiebung des rechten Balkenendes bei x1 = . Geg.: , b, h, F, E, I22, I33, I23. Lösung: Wir beschaffen uns zunächst die Schnittlasten. Dazu wenden wir die Gleichgewichtsbedingungen auf das freigeschnittene System in der rechten Grafik der Abb. 6.28 an. Da in die Verformungsberechnung des Bernoulli-Balkens die Querkräfte nicht eingehen, beschränken wir uns auf die Beschaffung des Biegemomentes. Mit rF  (   x 1 ) e 1 und F  F e 3 folgt: M (x 1 )  rF  F   F (   x 1 ) e 2 . Es ergibt sich also nur die Komponente M 2 (x 1 )   F (   x 1 ) . Die Flächenmomente 2. Grades des Dreieckquerschnitts sind (s.h. auch (Mathiak, 2012), Seite 118):

I 22 

bh 3 b3h b2h 2 1 , I 33  , I 23  ,  I  I 22 I 33  I 223  b4h 4 . 36 36 72 1728

Das führt auf die Verschiebungsdifferenzialgleichungen w S ( x 1 )  

M (x ) I M 2 ( x 1 ) I 33 48 F 24 F  (   x 1 ) , v S ( x 1 )   2 1 23  2 2 (   x 1 ) , 3 E I E  I bh E b h E

deren Integration 8F 24 F w S ( x 1 )  x 1 ( 2  x 1 )  C1 , w S ( x 1 )  x 12 ( 3  x 1 )  C 1 x 1  C 2 , 3 3 bh E bh E v S ( x 1 ) 

12 F b2h 2E

x 1 ( 2  x 1 )  K 1 , v S ( x 1 ) 

4F b2h 2E

x 12 ( 3  x 1 )  K 1 x 1  K 2 ,

ergibt. Am linken Balkenende sind die Verschiebungen vS und wS und wegen der kinematischen Beziehungen  3 ( 0 )  v 'S ( 0 )  0 sowie  2 ( 0 )   w 'S ( 0 )  0 die ersten Ableitungen der Verschiebungen zu null zu fordern, also w S ( 0 )  w S ( 0 )  v S ( 0 )  v S ( 0 )  0 . Damit verschwinden sämtliche Konstanten und es verbleiben 8F 24 F w S (x1 )  x 12 ( 3  x 1 ) , w S ( x 1 )  x 1 ( 2  x 1 ) , bh 3 E bh 3 E vS (x1 ) 

4F 2

2

b h E

x 12 ( 3  x 1 ) , v S ( x 1 ) 

12 F b2h 2E

x 1 ( 2  x 1 ) .

Die Verschiebungskomponenten des rechten Balkenendes sind: w S ( ) 

16 F 3 bh 3 E

, v S () 

8F 3

b2h 2E

,

und für den Biegepfeil (Abb. 6.28, rechts) folgt

164 f () 

6 Balkenbiegung w S2 (  )  v S2 (  ) 

8 F 3

4   2 , (   h / b ).

E bh 3

Die Orientierung des Biegepfeils ergibt sich aus den Vorzeichen von wS und vS.



Ist der Balken dagegen statisch unbestimmt gelagert, dann folgen aus den lokalen Gleichgewichtsbedingungen die Beziehungen

N' ( x 1 )   n ( x 1 ), Q 3 ( x 1 )  M 2 ( x 1 )  m 2 ( x 1 ), Q3 ( x 1 )  q 3 ( x 1 ), Q 2 ( x 1 )   M 3 ( x 1 )  m 3 ( x 1 ), Q2 ( x 1 )  q 2 ( x 1 ). In Ermangelung eines Werkstoffgesetzes müssen beim Bernoulli-Balken die Querkräfte aus dem (lokalen) Momentengleichgewicht berechnet werden. Wir erhalten aus den Elastizitätsgesetzen für die Normalkraft und die Biegemomente EA ( x ) u  ( x )     n ( x ) , 1

S

1

1

Q 3 ( x 1 )  EI 22 ( x 1 ) w S ( x 1 )  EI 23 ( x 1 ) v S ( x 1 )    m 2 ( x 1 ) , Q 2 ( x 1 )  EI 33 ( x 1 ) v S ( x 1 )  EI 23 ( x 1 ) w S ( x 1 )    m 3 ( x 1 ) .

Das Kraftgleichgewicht erfordert

EI 22 ( x 1 ) w S ( x 1 )  EI 23 ( x 1 ) vS ( x 1 )    m 2 ( x 1 )  q 3 ( x 1 ) EI 33 ( x 1 ) v S ( x 1 )  EI 23 ( x 1 ) w S ( x 1 )    m 3 ( x 1 )  q 2 ( x 1 ) Die obigen Gleichungen vereinfachen sich, wenn wir uns auf Hauptzentralachsen beziehen. Ist außerdem der Balkenquerschnitt prismatisch, dann verbleiben EAu S ( x 1 )   n ( x 1 ) , Q 3 ( x 1 )   EI 22 w S ( x 1 )  m 2 ( x 1 ) , Q 2 ( x 1 )   EI 33 v S ( x 1 )  m 3 ( x 1 )

EI 22 w SIV ( x 1 )  q 3 ( x 1 )  m2 ( x 1 ) ,

EI 33 v SIV ( x 1 )  q 2 ( x 1 )  m 3 ( x 1 )

Mit den letzten beiden Gleichungen können die Durchbiegungen vS(x1) und wS(x1) bei bekannten Biegesteifigkeiten, Linienkraftbelastungen und Momentenschüttungen durch vierfache Integrationen berechnet werden. Die dabei anfallenden Integrationskonstanten sind aus den Randbedingungen zu bestimmen. Beim Durchlaufträger sind zusätzlich Übergangsbedingungen zu berücksichtigen.

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

6.4.1

165

Die gerade oder einachsige Biegung mit Normalkraft

Mit den Anmerkungen aus Kap. 6.3.2 verbleiben bei Bezugnahme auf ein Zentralachsensystem die Elastizitätsgesetze für die Normalkraft und das Biegemoment bei Biegung um die x2Achse Ν( x1 )  EA( x1 ) u S ( x1 ) ,

M 2 ( x 1 )   EI 22 ( x 1 ) w S ( x 1 ) .

Abb. 6.29 Die Kinematik des Bernoulli-Balkens, einachsige oder gerade Biegung in der (x1,x3)-Ebene

Für den statisch unbestimmt gelagerten Balken sind

EA ( x 1 ) u S ( x 1 )     n ( x 1 ) , Q 3 ( x 1 )  EI 22 ( x 1 ) w S ( x 1 )    m 2 ( x 1 ) .

Das Kraftgleichgewicht liefert die Differenzialgleichung der Biegelinie

EI 22 ( x 1 ) w S ( x 1 )    q 3 ( x 1 )  m 2 ( x 1 ) . Tab. 6.2 Einige wichtige Randbedingungen für den Bernoulli-Balken, ebenes Problem uS

wS

w´S

N

M2

Q3

≠0

0

≠0

0

0

≠0

Festes Lager

0

0

≠0

≠0

0

≠0

Einspannung

0

0

0

≠0

≠0

≠0

Freier Rand

≠0

≠0

≠0

0

0

0

Randlagerung Gleitlager

Symbol

166

6 Balkenbiegung

Beschränken wir uns auf einen prismatischen Balken, dann gilt: EA u S ( x 1 )   n ( x 1 ) , Q 3 ( x 1 )   EI 22 w S ( x 1 )  m 2 ( x 1 ) ,

und die Differenzialgleichung der Biegelinie geht über in

EI 22 w SIV ( x 1 )  q 3 ( x 1 )  m 2 ( x 1 ) . Beispiel 6-8: Für die durch ihr Eigengewicht mit dem konstanten spezifischen Gewicht  0 belasteten Stützen in Abb. 6.30 sind sämtliche Zustandsgrößen zu bestimmen. Die Stützen der Höhe h besitzen kreisförmige Querschnitte, wobei der Stützenradius r linear vom Wert ru bei x1 = 0 auf den Wert ro an der Stelle x1 = h anwächst.

Abb. 6.30 Stützen mit Kreisquerschnitt unter Eigengewicht, linear veränderlicher Radius

Mit dem Radienverhältnis   r0 / ru  1 und der dimensionslosen Koordinate   x 1 / h ist r (  )  ru (1    ) . Der Flächeninhalt des Querschnitts ergibt sich damit zu

A ( )  r 2 ()   ru2 (1   ) 2  A u (1   ) 2 mit A u  ru2  . Lösung für das System I: Das System I (Abb. 6.30, links) ist statisch bestimmt gelagert. Um die Verschiebungen berechnen zu können, benötigen wir die Normalkraft N(x1). Dazu schneiden wir gedanklich die Stütze auf und bilden das Kraftgleichgewicht für den oberhalb von x1 abgeschnittenen Stützenteil. Eine Scheibe der Dicke d hat das infinitesimale Gewicht dG (  )   0 A (  ) d . Das Gewicht des abgeschnittenen Stützenteils zwischen   x 1 und   h ist dann

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens h

G  0 Au



  x1

167

2

0 Auh   (   1)[3  3   2   (3    )] .  1    d   h 3 

Das Kraftgleichgewicht am abgeschnittenen Stützenteil erfordert N (  )   G (  ) . Damit ist die Normalkraft in der Stütze N () 

N0 (   1)[3  3   2  (3    )] mit N 0   0 A u h . 3

Die Stabachsverschiebung folgt aus der gewöhnlichen Differenzialgleichung 1. Ordnung EA (  ) u S (  )  hN (  ) 

N0h (   1)[3  3   2  (3    )] , 3

wobei ()´ die Ableitung nach  bedeutet und dx 1  h d  beachtet wurde. Das Integral dieser Gleichung enthält eine Konstante, die aus der Randbedingung u S (  0)  0 zu bestimmen ist. Maple liefert uns u S ()   u 0

 h2  [ 6  3   ( 6  2   2 )] mit u 0  0 . E 6 (1   )

Abb. 6.31 Bezogene Zustandsgrößen für das System I,  = ro/ru – 1

Zur Stützenbemessung wird die Normalspannung 11 ( )  1 / h E u S ( )   0

(   1)[3  3   2  (3    )] 3(1   ) 2

mit  0   0 h

168

6 Balkenbiegung

benötigt. Die größten Druckspannungen treten mit 11 (0)   0 (1    1 / 3 2 ) am Fußpunkt der Stütze auf. Die Verschiebung des Stützenkopfes, hier ist   1 , ergibt sich zu u u S (1)   0 (3  2 ) . 6 Lösung für das System II: Das System II ist statisch unbestimmt gelagert, womit eine Normalkraftberechnung durch alleinige Gleichgewichtsbetrachtungen nicht möglich ist. Wir gehen deshalb auf die Differenzialgleichung 2. Ordnung EA ( x ) u  ( x )     n ( x ) über. Mit der Normalkraftschüt1

S

1

1

tung n ( x 1 )   dG ( x 1 ) / dx 1    0 A ( x 1 ) lautet dann die zu lösende Differenzialgleichung

A () u S ()    u 0 A ()

mit

u 0  0h 2 / E .

Da beide Stützenenden eingespannt sind, müssen die Randwerte u (  0)  u (   1)  0 erfüllt werden. Maple liefert uns die Stabachsverschiebung und deren 1. Ableitung u S ()  u 0

 (   1) [ 3   (   1)] , 6 (1   )

u S (  )  u 0

3( 2   1)   ( 6 2  2 3  1) 6 (1   ) 2

.

Für die Normalkraft folgt N () 



N EA (  ) u S (  )  0 3( 2  1)  ( 6 2  2 3  1) h 6



mit N 0   0 A u h .

Es fehlt noch die Normalspannung 11 ( )  1 / h E u S ( )   0

Abb. 6.32

3( 2  1)  ( 6 2  2 3  1) 6(1   ) 2

Bezogene Zustandsgrößen für das System II,  = ro/ru – 1

mit  0   0 h .

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens Die größten Zugspannungen treten mit 11 (1)   0

169

3  2 am Stützenkopf auf. Die größten 6(1  )

3 am Fußpunkt der Stütze. Unabhän6 gig vom Radienverhältnis  haben in Stützenmitte (   1 / 2 ) sämtliche Verschiebungen den Wert u S (1 / 2 )   u 0 / 8 . Die Extremwerte der Verschiebungen liegen bei

Druckspannungen ergeben sich mit 11 ( 0)    0

 * () 

3

4 (  2 )(   1)  2 2

(   1 ).

Eine Grenzwertbetrachtung des obigen Ausdrucks ergibt  * (  0)  1 / 2 . Beispiel 6-9:

Abb. 6.33 Balken unter Trapezbelastung

Für den einfach statisch unbestimmt gelagerten Balken in Abb. 6.33 unter Trapezbelastung werden sämtliche Schnittlasten und Verformungen gesucht. Spezialisieren Sie die Lösung auf die Lastfälle in Abb. 6.34. Geg.: E, I22, , q, qr Lösung: Die Belastung ist linear veränderlich. Mit q  q r  q  ist q ( x 1 )  q   q x 1 /  . Führen wir die dimensionslose Koordinate   x 1 /  ein, dann erhalten wir, wenn ()´ die Ableitung nach  bedeutet, die Biegedifferenzialgleichung w SIV (  ) 

4 ( q   q  ) , die EI 22

unter den Randbedingungen w ( 0 )  0 , w ( 0 )  0 , w (1)  0 , M 2 (1)  0 zu lösen ist. Wegen w ( x 1 )   M 2 ( x 1 ) / EI 22 kann die letzte Randbedingung auch durch w (1)  0 ausgedrückt werden. Maple liefert uns folgende Lösung: w S () 

4  2 (   1)[ 5q  ( 2   3)  q ( 2  2  2   7 )] , 240 EI 22

w S (  ) 

3  [5q  (8 2  15   6 )  q (10  3  27   14 )] , 240 EI 22

170

6 Balkenbiegung

2 (   1)[15 q  ( 4   1)   q ( 20  2  20   7 )] , 120  Q 3 (  )   [ 5 q  (8   5 )  q ( 20  2  9 )] . 40

M 2 ()  

Von Interesse sind noch das Einspannmoment M 2 (  0)  

2 (15 q   7  q ) 120

und die Randquerkräfte Q 3 (  0) 

  ( 25 q   9  q ) , Q 3 (   1)   (15 q   11q ) , 40 40

die im engen Zusammenhang mit den Lagerreaktionskräften stehen (Mathiak, 2012).

Abb. 6.34 Aus der Trapezbelastung durch Spezialisierung abgeleitete Lastfälle

Aus der obigen Lösung für eine Trapezbelastung lassen sich die in Abb. 6.34 skizzierten Spezialfälle ablesen: Lastfall 1: w S () 

q 0 4  2 (   1) ( 2  2  2   7 ) , 240 EI 22

q 0 2 (   1)( 20  2  20   7 ) , 120 9q  7q  2 , Q 3 (  0)  0 , M 2 (  0)   0 120 40 M 2 ()  

w S (  ) 

q 03  (10  3  27   14 ) , 240 EI 22

q 0 ( 20  2  9 ) , 40 11q 0  . Q 3 (   1)   40

Q 3 ()  

Lastfall 2: w S () 

q04 q 03  2 (   1)( 4    2  4 ) , w S (  )   (8  24   20  2  5 3 ) , 120 EI 22 120 EI 22

q  q 0 2 (   1)( 5  2  10   2 ) , Q 3 (  )  0 ( 5  2  10   4 ) , 10 30 2 2q 0  q  q  , Q 3 (  0)  , Q 3 (   1)   0 . M 2 (  0)   0 15 5 10

M 2 () 

Lastfall 3: w S () 

q 0 4 2 q 3  (   1)( 2   3) , w S (  )  0  (8 2  15   6 ) , 48 EI 22 48 EI 22

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

171

q  q 02 (   1)(1  4  ) , Q 3 (  )  0 ( 5  8 ) , 8 8 2  5 q 3q  q  , Q 3 (   0 )  0 , Q 3 (   1)   0 . M 2 (  0)   0 8 8 8

M 2 () 

Die Zustandsgrößen für die Lastfälle 1-3 können Abb. 6.35 und Abb. 6.36 entnommen werden. Der Lastfall 3 (konstante Linienkraftbelastung) ist gestrichelt dargestellt. Um beispielsweise die größte Durchbiegung für diesen Lastfall zu berechnen, beschaffen wir uns die Nullstellen von w´(). Die Funktion (8 2  15  6) besitzt die drei Nullstellen 1  0,  2 , 3  (15  33 ) / 16 . Die größte Durchbiegung tritt im Lösungsgebiet an der Stelle

 3  (15  33 ) / 16 auf. Dazu gehört die Durchbiegung w max 

eine Kettenbruchentwicklung kann die irrationale Zahl z 

q 0  4 39  55 33 . Durch EI 22 65536

39  55 33 durch eine Folge 65536

rationaler Zahlen zn dargestellt werden, die mit wachsendem n gegen den Grenzwert z kon1 2 3  1  vergiert. Maple liefert uns die Zahlenfolge z n   0, , , , ,  . In Tabellen 184 185 369 554  werken der Ingenieurliteratur ist der Faktor w max 

4 2 q 0 . Das größte Biegemoment M 2 , max 369 EI 22

und zwar dort, wo die Querkraft verschwindet.

Abb. 6.35

Bezogene Zustandsgrößen w() und w´()

2 zu finden. Damit folgt 369 9  q 0  2 befindet sich bei   5 / 8 , 128

z4 

172

Abb. 6.36

6 Balkenbiegung

Bezogene Zustandsgrößen M2() und Q3()

Beispiel 6-10: Spezialisieren Sie die in Beispiel 6-6 bereitgestellte Maple-Prozedur auf die Berechnung der Zustandsgrößen eines Bernoulli-Balkens. Beachten Sie, dass die Verformungen w S ( x 1 ) und w S ( x 1 ) durch zweimalige Integration aus dem Materialgesetz w S ( x 1 )  

M 2 (x1 ) geEI 22

wonnen werden. Damit ergeben sich M 2 (x1 ) M 2 ( x1 ) 2 w S ( x 1 )   dx 1  C1 , w S ( x 1 )   dx 1  C1 x 1  C 2 . EI 22 EI 22 Berechnen Sie mit der so modifizierten Prozedur die Zustandsgrößen der beiden Systeme in Abb. 6.26, und vergleichen Sie die Ergebnisse mit denen des Timoshenko-Balkens. 



6.4.2



Abschätzung der Schubspannungen

Abb. 6.37 Spannungsverteilung am infinitesimalen Volumenelement eines Balkens

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

173

Wie in Kap. 6.4 gezeigt wurde, existiert beim Bernoulli-Balken aufgrund der dort eingeführten kinematischen Zwänge kein Werkstoffgesetz für die Schubspannungen. Wir können diese jedoch näherungsweise durch Gleichgewichtsbetrachtungen ohne Berücksichtigung der Verformungen an dem Balkenelement in Abb. 6.37 abschätzen. Dazu werden folgende Annahmen getroffen: Die Normalspannungen 11 resultieren aus einer Normalkraft N(x1) und einem Biegemoment M2(x1), wobei die (x2,x3)-Achsen die Hauptzentralachsen des Querschnitts darstellen. Die Schubspannungen 31 sind in der Höhe x3 unabhängig von x2 und verlaufen parallel zur x1-Achse.

1.

2.

Dass die letzte Bedingung für allgemeine Querschnittsformen nicht zutreffen kann, ist unverkennbar, denn der resultierende Schubspannungsvektor  muss den Querschnittsrand tangieren (Abb. 6.37), ansonsten wäre die Spannungsfreiheit des Querschnittsrandes nicht gewährleistet. Wir bringen an dem in Abb. 6.37 invers dargestellte Element der Länge dx1 die dort wirkenden Normal- und Schubspannungen an und bilden das Kraftgleichgewicht in x1-Richtung. Im Schnitt x3 = konst. müssen aus Gleichgewichtsgründen Schubspannungen 31(x1,x3) wirken, da die Normalspannungen für sich allein nicht im Gleichgewicht stehen können. In Anbetracht des noch ausstehenden Grenzprozesses dx 1  0 , beschränken wir uns von vornherein auf einen linearen Zuwachs der Normalspannungen. Das Kraftgleichgewicht in x1-Richtung liefert: x 3u

0    31 ( x 1 , x 3 ) b ( x 3 ) dx 1 



x 3u 11 ( x 1 ,  ) b (  ) d

x3



 

11 ( x 1 ,  )  d 11 ( x 1 ,  )

 b (  ) d .

x3

Fassen wir die obigen Terme zusammen und lösen nach 31 auf, dann folgt zunächst unter Beachtung des Satzes von den zugeordneten Schubspannungen (s.h. Kap. 1) x 3u



 31 ( x 1 , x 3 )  13 ( x 1 , x 3 ) 

x3

11 ( x 1 ,  ) b (  ) d x 1

. b( x 3 ) Nach Kap. 6.4.3 verbleibt mit den getroffenen Voraussetzungen die Normalspannung

11 ( x 1 , x 3 ) 

N( x1 ) M 2 ( x 1 )  x3 A I 22



11 ( x 1 ,  ) N ( x 1 ) M 2 ( x 1 )   x3 . x 1 A I 22

Beachten wir ferner die in Kap. 6.2 hergeleiteten lokalen Gleichgewichtsbedingungen N ' ( x 1 )   n ( x 1 ), M 2 ( x 1 )  Q 3 ( x 1 )  m 2 ( x 1 ) ,

dann ist

174

6 Balkenbiegung

11 ( x 1 ,  ) n ( x1 ) Q 3 ( x1 )  m 2 ( x1 )   x3 , x 1 A I 22 womit wir die gesuchte Näherungsformel Q (x )  m 2 (x1 ) 13 ( x 1 , x 3 )  3 1 I 22 b ( x 3 )

x 3u



n(x1 )  b (  ) d  A b( x 3 )

x3

x 3u

 b (  ) d

x3

für die Schubspannungsverteilung gefunden haben. Mit den Abkürzungen x 3u

S2 (x 3 ) 

  b( ) d und A

x3

x 3u 2 (x 3 )



 b (  ) d

x3

können wir dann auch kürzer  13 ( x 1 , x 3 ) 

Q 3 (x1 )  m 2 (x1 ) n(x1 ) S2 (x 3 )  A 2 (x 3 ) I 22 b ( x 3 ) A b( x 3 )

schreiben. Das Integral S2(x3) ist das auf die x2-Achse bezogene Flächenmoment ersten Grades des in Abb. 6.37 zwischen   x 3 und   x 3u gelegenen invers dargestellten Flächenstücks, das auch Statisches Moment der Restfläche genannt wird. Das Integral A2(x3) bezeichnet die Restfläche selbst. Es gilt:

S 2 ( x 3  x 3u )  0, S 2 ( x 3  x 3o )  0, A 2 ( x 3  x 3u )  0, A 2 ( x 3  x 3o )  A . Bei fehlender Linienkraftbelastung n(x1) und Momentenschüttung m2(x1) verbleibt mit  13 ( x 1 , x 3 ) 

Q 3 (x1 ) S2 (x 3 ) I 22 b ( x 3 )

die Ermittlung der Schubspannungsverteilung aus einer Querkraft allein. Beispiel 6-11 :

Abb. 6.38 Kragbalken mit Einzelkraft und Schubspannungsbeanspruchung am oberen Rand

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

175

Der in Abb. 6.38 skizzierten Kragbalken besitzt einen Rechteckquerschnitt der Breite b und der Höhe h. Er wird am rechten Balkenende durch eine Einzelkraft F belastet. Auf seiner Oberfläche wirkt eine über die Breite b konstante Tangentialspannung 0, die aus der Haftreibung eines Schüttgutes resultiert. Für diesen Beanspruchungszustand ist näherungsweise die Schubspannungsverteilung 13 (x3) zu bestimmen. Lösung: Der Balken ist statisch bestimmt gelagert und besitzt die Querschnittswerte b ( x 3 )  b , A  bh und I 22  bh 3 / 12 . Verschieben wir die aus der Tangentialspannung 0 resultierende Linienkraft n ( x 1 )   0 b in die Balkenachse, dann muss zur Sicherstellung der statischen Äquivalenz der parallel verschobenen Linienkraft das Versetzungsmoment m 2 ( x 1 )    0 bh / 2 hinzugefügt werden (s.h. (Mathiak, 2012), Kap. 4.11). Die konstante Querkraft Q 3 ( x 1 )  F erhalten wir aus dem Kraftgleichgewicht in x3-Richtung am freigeschnittenen System. Das statische Moment der Restfläche und die Restfläche selbst ergeben sich zu x 3u

S2 (x 3 ) 



h/2

 b (  ) d  b

x3 x 3u

A 2 (x 3 ) 





x3 h/2

b (  ) d  b

x3

 d 

 d 

x3

bh 2

bh 2   2 x 3 1   8   h 

  

2

, 

 2x 3  1  h  .  

Damit folgt die von der Stabachskoordinate x1 unabhängige Schubspannungsverteilung (Abb. 6.39) 2 2 3 F   2x 3   0   2x 3   2x 3      13 ( x 3 )  1  2 1      3  . h   h   2 A   h   4      

Abb. 6.39 Schubspannungsverteilung 13(x3) infolge F und 0

176

6 Balkenbiegung

Die resultierende Schubspannung setzt sich additiv aus zwei Anteilen zusammen, dem Anteil aus der Querkraft F und dem Anteil aus der Längsbelastung mit 0. An der Ober- und Unterseite des Balkens treten folgende Spannungen auf: 13 ( x 3   h / 2)    0 , 13 ( x 3  h / 2)  0 . Damit sind auch die dortigen Spannungsrand-

bedingungen erfüllt. Der Größtwert der Schubspannung 13, max  x 3, max 

1 Q 3 (3   ) 2 tritt bei 3 A 2

Q h  auf, wobei wir zur Abkürzung  0   3 gesetzt haben. 6 2 A

Dass die aus den Schubspannungen resultierende Schubkraft und die Querkraft statisch äquivalent sind, sehen wir, wenn wir die Schubspannungen über die Querschnittsfläche A aufsummieren. Mit dS  13 ( x 3 ) b dx 3 folgt nämlich



h/2

dS  b

(A)



13 ( x 3 )

dx 3  F  Q 3 .

h / 2

Hinweis: Genauere Untersuchungen nach der Elastizitätstheorie zeigen, dass beim Rechteckquerschnitt mit den hier vorgestellten Näherungsformeln bei Seitenverhältnissen h / b  2 ausreichend genau Ergebnisse erzielt werden. Beispiel 6-12 : Für den in Abb. 6.40 skizzierten Kreisquerschnitt mit dem Radius a ist näherungsweise die Schubspannungsverteilungen 13(x3) aus einer Querkraft Q3(x1) zu ermitteln.

Abb. 6.40 Schubspannungsverteilung 13 für den Kreisquerschnitt

Lösung: Wir beschreiben die Lage des Flächenelementes dA 2  b (  ) d durch den in Abb. 6.40 skizzierten Winkel . Damit sind  (  )  a sin  sowie d  a cos  d . Mit der Querschnittsbreite b ( )  2a cos  errechnen wir

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens /2

h/2

S2 (x 3 ) 



 b (  ) d  2 a 3

x3

 sin  cos

2

 d 

 

2 2  x  a 3 (1  sin 2  ) 3  a 3 1   3 3 3   a 

  

177

2 3 a cos 3  3

2

 

3/ 2

.

Für die Schubspannungsverteilung folgt mit I 22  a 4 / 4 und b( x 3 )  2a 1  ( x 3 / a ) 2 : 2 Q 3 (x1 ) S2 (x 3 ) 4 Q 3 (x1 )   x 3   1   13 ( x 1 , x 3 )    . I 22 b ( x 3 ) 3 A   a    

Die Schubspannung ist parabolisch verteilt. Ihr Größtwert 13, max ( x 1 ) 

4 Q3 (x1 ) , 3 A

der um etwa 33% über dem Mittelwert Q3/A liegt, tritt mit x 3  0 in der Balkenachse auf. In der Ingenieurliteratur wird die größte Schubspannung häufig mit dem Formfaktor  als   max ( x 1 )   Q 3 ( x 1 ) / A angegeben. Demzufolge ist beim Kreisquerschnitt  = 4/3. Wir wollen uns die Bedeutung der Schubspannungen für das Tragverhalten eines Balkens noch etwas näher ansehen. Dazu sei nochmals darauf hingewiesen, dass die parallel zur x1Achse mit dem Abstand x3 von der Balkenachse verlaufenden Schubspannungen 31 identisch sind mit den in gleicher Höhe im Querschnitt wirkenden Spannungen 13.

Abb. 6.41 Verformungsfigur eines aus zwei Balkeneinheiten zusammengesetzten Balkens ohne Verbund

Die Schubspannungen 31 lassen sich gezielt ausschalten, wenn wir beispielsweise zwei Balkeneinheiten aufeinanderlegen, die in ihrem Kontaktbereich ideal glatt geschmiert sind (Abb. 6.41). Wird dieses System belastet, etwa durch eine in Feldmitte wirkende Einzelkraft F, dann verschieben sich aufgrund des fehlenden Verbundes in der Kontaktfuge beide Trägereinheiten relativ zueinander. Es soll nun die Frage beantwortet werden, wie sich das Tragverhalten eines solchen geschichteten Systems im Vergleich zu einem Verbundquerschnitt einstellt. Wir verallgemeinern zunächst das Problem derart, dass wir uns insgesamt n Balkeneinheiten gleicher Höhe und konstanter Breite b ohne Verbund übereinandergelegt denken. Beträgt die Gesamthöhe h, dann hat eine Balkeneinheit die Höhe h *  h / n , und für das Flächenträgheitsmoment einer Balkeneinheit errechnen wir

178

6 Balkenbiegung I *22 

b( h / n ) 3 1 bh 3 1  3  3 I 022 , 12 12 n n

wobei I 022  bh 3 / 12 das Flächenträgheitsmoment des Verbundquerschnitts bedeutet. Das Gesamtträgheitsmoment setzt sich dann aus der Summe von n Balkeneinheiten zusammen, also 1 I *22 , ges  2 I 022 . n Unterstellen wir, dass jede Balkeneinheit denselben Lastanteil übernimmt, dann zeigt ein Vergleich mit der Lösung der Biegedifferenzialgleichung, dass die Durchbiegung eines aus n übereinandergelegten und frei verschieblichen Balkeneinheiten gleicher Dicke bestehender Balken genau n2-fach größer ist als die eines Verbundquerschnittes gleicher Höhe. Wir wollen ferner die Frage beantworten, wie sich im Vergleich zum Verbundquerschnitt der Normalspannungszustand einstellt. Dabei beschränken wir uns auf den Fall der reinen Biegung. Unterstellen wir, dass auf jede Balkeneinheit der 1/n-fache Anteil des Biegemoments entfällt, also M *2  M / n , und beachten wir weiterhin, dass das Widerstandsmoment einer Balkeneinheit W2*  I *22 /( h * / 2)  W20 / n 2 ist, wobei W20  I 022 /( h / 2) das Widerstandsmoment des Verbundquerschnittes bedeutet, dann folgt für die größte Normalspannung 11, max 

M *2 W2*

n

M2 W20

.

Die Randspannungen in einem geschichteten Balken mit n Balkeneinheiten sind also n-fach größer als bei einem Verbundbalken (Abb. 6.42).

Abb. 6.42 Normalspannungen 11 beim Balken mit und ohne Verbund

Für zwei übereinandergelegte Balkeneinheiten gleicher Höhe h/2 ist die maximale Durchbiegung (hier in Feldmitte) im Vergleich zum Verbundquerschnitt viermal und die maximale Normalspannung in den Randfasern doppelt so groß wie beim Verbundbalken. Im Verbundquerschnitt wirken dagegen Schubspannungen 13, die in der Balkenachse (neutrale Faser) ihren Größtwert erreichen. Soll also bei geschichteten unverbundenen Balkeneinheiten die Tragfähigkeit erhöht und die Durchbiegung vermindert werden, dann müssen die einzelnen

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

179

Balkeneinheiten in geeigneter Weise schubfest miteinander verbunden werden. Dies kann durch Schweißen, Schrauben, Kleben oder Dübeln erfolgen. Hinweis: Bei reiner Biegung mit Q3 = 0 treten keine Schubspannungen auf. Der Balken trägt in diesem Fall wie ein lose zusammengelegtes Faserbüschel (etwa aus Strohhalmen), in dem sich die einzelnen Balken-Längsfasern unabhängig voneinander verschieben können.

6.4.3

Die Normalspannungen

In Kap. 6.3 wurde die Normalspannungsverteilung 11 (r )  E [ u 'S ( x 1 )  x 3  ' 2 ( x 1 )  x 2  ' 3 ( x 1 )]

für den Timoshenko-Balken hergeleitet. Mit den kinematischen Zwängen des BernoulliBalkens erhielten wir in Kap. 6.4 11 (r )  E [ u 'S ( x 1 )  x 3 w S ( x 1 )  x 2 v S ( x 1 )] .

Werden in den obigen Beziehungen an einer festen aber beliebigen Stelle x1 die Verformungsableitungen durch die Schnittlasten ausgedrückt, dann erhalten wir bei Bezugnahme auf ein Zentralachsensystem in beiden Fällen die Ebenengleichung ( I  I 22 I 33  I 223 ) 11 (rp ) 

M I  M 3 I 22 Ν M 2 I 33  M 3 I 23  x 3  2 23 x2. A I I

Die Normalkraft N erzeugt eine Parallelverschiebung der Spannungsebene um den Wert N/A. Dieser Spannungswert wird im Flächenmittelpunkt angenommen. Bei reiner Biegung mit N  0 ist die Stabachse rp  0 stets spannungs- und dehnungsfrei. Um diejenigen Punkte des Querschnitts zu finden, die extremalen Spannungen ausgesetzt sind, beschaffen wir uns zunächst die Gleichung der Spannungs-Nulllinie (SNL), die auch neutrale Faser genannt wird. Dazu setzen wir 11 (rp )  0 

M I  M 3 I 22 Ν M 2 I 33  M 3 I 23  x 3  2 23 x2 A I I

Die Gleichung der Spannungs-Nulllinie folgt durch Auflösung nach x3

x3  

M I  M 2 I 23 Ν I x2.  3 22 A M 2 I 33  M 3 I 23 M 2 I 33  M 3 I 23

Setzen wir nacheinander x 3  0 bzw. x 2  0 , dann erhalten wir mit x30 und x20 die Achsenabschnitte im Zentralachsensystem (Abb. 6.43)

x 30  

Ν I Ν I , x 20  . A M 2 I 33  M 3 I 23 A M 3 I 22  M 2 I 23

180

6 Balkenbiegung

Nur für den Fall der reinen Biegung (N = 0) verläuft mit x 30  x 20  0 die SpannungsNulllinie durch den Flächenmittelpunkt S und es verbleibt

x3 

M 3 I 22  M 2 I 23 x2. M 2 I 33  M 3 I 23

Der Neigungswinkel  zwischen der positiven x2-Achse und der Spannungs-Nulllinie ergibt sich zu

dx 3 M I  M 2 I 23  tan   3 22 . dx 2 M 2 I 33  M 3 I 23

Abb. 6.43 Lage der Spannungs-Nulllinie bei Biegung mit Normalkraft und reiner Biegung

Die Spannungs-Nulllinie (Abb. 6.44) kann die Querschnittsfläche schneiden, tangieren oder außerhalb dieser verlaufen. Im Fall a) wird der Querschnitt durch Druck- und Zugspannungen beansprucht, in den beiden verbleibenden Fällen nur durch Druck- oder Zugspannungen.

Abb. 6.44 Mögliche Lagen der Spannungs-Nulllinie

Die obigen Beziehungen werden übersichtlicher, wenn wir uns auf Hauptzentralachsen (HZA) beziehen. Für diese gilt mit I 23  0

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

11 (rp ) 

181

M Ν M2  x3  3 x2. A I 22 I 33

und für die Gleichung der Spannungs-Nulllinie folgt

x3  

Ν I 22 M 3 I 22  x2 . M 2 A M 2 I 33

Die Achsenabschnitte und die Neigung der Spannungs-Nulllinie ergeben sich zu

x 30 ( x 1 )  

M I Ν I 22 Ν I 33 , x 20 ( x 1 )  , tan   3 22 . A M2 A M3 M 2 I 33

Bezeichnet  den Neigungswinkel des resultierenden Momentenvektors M gegenüber der positiven x2-Achse (Abb. 6.45), also

tan  

M 3 I 33  tan  , M 2 I 22

dann stimmt der Neigungswinkel  der Spannungs-Nulllinie i. Allg. nicht mit dem Winkel  des resultierenden Momentenvektors überein. Das ist nur für I 22 ( x 1 )  I 33 ( x 1 ) der Fall, wenn also die Hauptträgheitsmomente identisch sind, und damit jede Achse Hauptzentralachse ist (s.h. auch (Mathiak, 2012), Kap. 5.5).

Abb. 6.45 Neigungswinkel des Momentenvektors M und der Spannungs-Nulllinie (SNL)

Zur Beantwortung der Frage, welche Punkte des Querschnitts durch extremale Normalspannungen beansprucht werden, werden sämtliche Geraden konstanter Spannung 11 (rp )   0 betrachtet. Im Hauptzentralachsensystem erhalten wir

0 

M Ν M2  x3  3 x2 . A I 22 I 33

Lösen wir diese Beziehung nach x3 auf, dann folgt

182

6 Balkenbiegung M I Ν I  x 3    0   22  3 22 x 2  x *30  x 2 tan  . A M M   2 2 I 33

Das sind aber Parallelen zur Spannungs-Nulllinie, die einen umso größeren Abstand von dieser haben, je größer der Betrag von 0 gewählt wird. Daraus folgt, dass bei der schiefen Biegung die extremalen Normalspannungen  max bzw.  min in denjenigen Punkten des Querschnitts zu finden sind, die den größten Abstand von der Spannungs-Nulllinie aufweisen; in Abb. 6.46 ist das der Punkt A mit den Koordinaten ( x *2 , x *3 ). Sind die Lagerungsbedingungen des Balkens in beiden Hauptachsrichtungen identisch, dann folgt aus den Beziehungen w S w S I M I 1 1    2 33     33  tan  v S vS M 3 I 22 tan  I 22 tan 

durch Umstellung tan  tan   1,

tan  tan   

I 33 . I 22

Abb. 6.46 Aufsuchen der Orte extremaler Normalspannungen

Die resultierende Durchbiegung steht somit senkrecht auf der Spannungs-Nulllinie (Abb. 6.47). Die Orientierung des Biegepfeils f ergibt sich aus den Vorzeichen von vS und wS. Der Balken wird nur dann senkrecht zum Biegemoment durchgebogen, wenn I 22  I 33 und damit wieder    gilt. Weichen die Hauptträgheitsmomente I22 und I33 stark voneinander ab,

I 33 tan  bereits kleine Änderungen von  zu großen ÄnderunI 22 gen von , und der Balken neigt dazu, seitlich zu kippen. dann führen wegen tan  

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

183

Abb. 6.47 Resultierende Durchbiegung f

Spannungsnachweis In der Praxis sind die Querschnittsabmessungen eines Balkens so zu wählen, dass eine vorgegebene Spannung nicht überschritten wird. Sind die zulässigen Normalspannungen für Zug und Druck gleich, dann darf die betragsmäßig größte Normalspannungen 11 die zulässige Spannung zul nicht überschreiten. Bei Bezugnahme auf Hauptzentralachsen bedeutet dies im Fall der zweiachsigen Biegung mit Normalkraft 11 (rp )

max



Ν M2 * M3 *  x3  x 2   zul . A I 22 I 33

Die Koordinaten ( x *2 , x *3 ) kennzeichnen denjenigen Punkt des Querschnitts, der den größten Abstand von der SNL besitzt. Bei gerader Biegung ohne Normalkraft vereinfacht sich der Spannungsnachweis. Ist beispielsweise M3 = 0, dann wird  11 (rp )

max



M2 I 22

x *3 

M2 W2

  zul ,

W2 

I 22 x *3

.

W2   ( Länge) 3 , Einheit m3. Die Größe W2 wird als Widerstandsmoment (engl. section modulus) bei Biegung um die x2Achse bezeichnet. Beispielsweise erhalten wir für einen Rechteckbalken der Breite b und der Höhe h

W2 

bh 3 2 bh 2  . 12 h 6

Für in der Praxis häufig auftretende Querschnittsformen können die Widerstandsmomente Profiltafeln entnommen werden. In den meisten Fällen liegt zu Beginn der Spannungsuntersuchung die Querschnittsform noch nicht fest. Sind das betragsmäßig größte Biegemoment M2 und die zulässige Spannung zul bekannt, dann kann das erforderliche Widerstandsmoment nach der Formel

184

6 Balkenbiegung

W2,erf 

M2

max

 zul

ermittelt werden. Diese Vorgehensweise wird Dimensionierung des Querschnitts genannt. Eine weitere Variante des Spannungsnachweises ergibt sich, wenn mit W2,vorh und zul das Widerstandsmoment und die zulässige Spannung vorgegeben sind. Dann darf das betragsmäßig größte Schnittmoment das zulässige Moment nicht überschreiten, also M2

max

 W2 , vorh  zul .

Beispiel 6-13: Für den doppeltsymmetrischen Querschnitt (Abb. 6.48, links) sind die extremalen Normalspannungen im Fall der einachsigen Biegung (N = 0) um die x2-Achse zu ermitteln. Wie ändern sich die Spannungen (Abb. 6.48, rechts), wenn der resultierende Momentenvektor, etwa durch eine Imperfektion in der Lasteinleitung, nur um den Winkel   1 von der positiven x2-Achse abweicht? Geg.: IPE 360 nach DIN 1025-5: h = 360 mm, b = 170 mm, I22 = 16270 cm4, I33 = 1040 cm4.

Abb. 6.48 Stahlbauprofil IPE 360 nach DIN 1025-5, Spannungsermittlung

Lösung: Der Querschnitt besitzt zwei Symmetrieachsen, die damit auch die Hauptzentralachsen des Querschnitts darstellen. Die Punkte der extremalen Spannungen fallen mit einem Eckpunkt der rechteckigen Einhüllenden des Querschnitts zusammen. Wir können demzufolge die in den Ecken A und A´ auftretenden extremalen Normalspannungen sofort notieren. Der um den Winkel  geneigte Momentenvektor hat im Hauptzentralachsensystem die Darstellung M  M (cos  e 2  sin  e 3 )  M 2 e 2  M 3e 3 . Damit erhalten wir die Normalspannung 11 

 cos  M M2 sin   x 3  3 x 2  M  x3  x 2  . Speziell für die Punkte A und A´ I 22 I 33 I 33  I 22 

 h cos  b sin    h cos  b sin   A´ A A  , 11    11 ermitteln wir: 11 .  M    M    2 I 2 I 2 I 33  22 33    2 I 22

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

185

Mit Einführung der Widerstandsmomente W2 

I 22 x 3A



W2 I 2I 2 I 22  7,3876  903,89 cm 3 , W3  33  33  122,35 cm 3 , A W3 b h x2

können wir auch  cos  sin   M cos   W2  M  W2  A  1  11  M   tan      O( 2 )  1    W3  W2  W3  W2  W2  W3 

schreiben. Im Fall der einachsigen Biegung um die x2-Achse ( = 0) sind A 11 

M M A´  (Zug), 11 (Druck), und bei einer Abweichung von  = 1° erhalten wir W2 W2

M 0,9998  7,3876  0,01745  1,1288 M , was immerhin eine Spannungserhöhung W2 W2 um etwa 12,9% bedeutet. Die Neigung der Spannungs-Nulllinie ergibt sich zu I tan   22 tan   15,6442 tan1  0,2731    15, 27 .  I 33 A 11 

Ähnliche Verhältnisse wie die im vorangegangenen Beispiel, liegen auch bei schmalen Rechteckquerschnitten der Breite b und der Höhe h vor (Abb. 6.49). Auch hier genügen wieder geringe Abweichungen des Momentenvektors von einer der Hauptzentralachsen, um erhebliche Spannungserhöhungen im Vergleich zur einachsigen Biegung hervorzurufen.

Abb. 6.49 Schmales Rechteck, I22/I33 >> 1

186

6 Balkenbiegung

Beispiel 6-14 :

Abb. 6.50 Querschnittsformen, Berechnung der Normalspannungen und Lage der Spannungs-Nulllinie

Es soll eine Maple-Prozedur bereitgestellt werden, welche die Normalspannungen 11 (rp ) 

M I  M 3 I 22 Ν M 2 I 33  M 3 I 23 x2 , x 3  2 23  I I A

( I  I 22 I 33  I 223 )

für einen polygonal berandeten Querschnitt zu berechnen gestattet. Der Querschnitt wird durch Biegung mit Normalkraft belastet. Die Lage der Spannungs-Nulllinie und die Orte der extremalen Normalspannungen sollen grafisch dargestellt werden (blau: Zug, rot: Druck). Verwenden Sie zur Berechnung der Querschnittswerte die Prozedur PROC_CALC_19 (Arbeitsblatt Kapitel_05_f.mw aus (Mathiak, 2012)). Testen Sie die Prozedur anhand der drei Querschnitte in Abb. 6.50. Die Knotenkoordinaten können den Datensätzen Beispiel_6_14_1.txt (Querschnitt I), Beispiel_6_14_2.txt (Querschnitt II) und Beispiel_6_14_3.txt (Querschnitt III) entnommen werden. Alle Querschnitte werden mit denselben Schnittlasten beansprucht. Geg.: N  500, M 2  2500, M 3  1000 . Suchen Sie in Lehr- und Handbüchern Beispiele zur Berechnung von Spannungs-Nulllinien. Überprüfen Sie die dortigen Ergebnisse mit der hier bereitgestellten Maple-Prozedur. 

6.4.4

Der Kern des Querschnitts

Wir können uns die schiefe Biegung mit Normalkraft auch durch eine exzentrisch wirkende Normalkraft N allein entstanden denken (Abb. 6.51). Die Koordinaten des Angriffspunktes der Normalkraft folgen dabei aus dem Äquivalenzprinzip, wonach

e1  0    M   M 2   rpN  N  0  M 3  N

e2

e3

x 2N 0

x 3N 0

0     x 3 N N    x 2 N N 

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

187

sein muss, und damit M 2  x 3 N N, M 3   x 2 N N

 x 2N  

M3 M , x 3N  2 . N N

Das Moment M entspricht dem Versatzmoment, das sich ergibt, wenn die Normalkraft N in den Flächenmittelpunkt S verschoben wird.

Abb. 6.51 Außermittig angreifende Normalkraft N, statische Äquivalenz

Setzen wir die Beziehungen für die Schnittmomente in die Spannungsformel ein, dann erhalten wir 11 (rp ) 

x I  x 2 N I 23 x I  x 2 N I 22 Ν  x 3  A 3 N 23 x 2  .  1  A 3 N 33 I I A  

Entsprechend folgt die Gleichung der Spannungs-Nulllinie

x3  

x I  x 2 N I 22 I x2 .  3 N 23 A ( x 3 N I 33  x 2 N I 23 ) x 3 N I 33  x 2 N I 23

Dieser Beziehung entnehmen wir die Achsenabschnitte

x 20  

I I , x 30   . A ( x 3 N I 23  x 2 N I 22 ) A ( x 3 N I 33  x 2 N I 23 )

Der Winkel  zwischen der positiven x2-Achse und der Spannungs-Nulllinie folgt aus

dx 3 x I  x 2 N I 22  tan    3 N 23 . dx 2 x 3 N I 33  x 2 N I 23 Beziehen wir uns auf Hauptzentralachsen (I23 = 0), dann erhalten wir unter Beachtung der Eigenträgheitsradien (s.h. (Mathiak, 2012), Seite 112)

i2 

I 22 , i3  A

I 33 A

188

6 Balkenbiegung

die Normalspannungen

11 (rp ) 

 x Ν  x 3 N 1  2 x 3  22N x 2  ,  A  i2 i3 

und für die Gleichung der Spannungs-Nulllinie verbleibt

x3  

i 22 x 3N

 x 2N  1  x2 . 2   i3  

Dieser Beziehung entnehmen wir die Hauptachsenabschnitte

x 20  

i 32 i2 , x 30   2 . x 2N x 3N

und für den Neigungswinkel  der Spannungs-Nulllinie gegenüber der positiven x -Achse 2 folgt

x tan    2 N x 3N

 i2  i  3

2

  .  

Hinweis: Die Geradengleichung und die Gleichungen für die Hauptachsenabschnitte zeigen, dass die Lage der Spannungs-Nulllinie unabhängig von der Größe der Normalkraft N ist und nur vom Angriffspunkt rpN der außermittig angreifenden Normalkraft abhängt.

Abb. 6.52 Kern des Querschnitts und Kernrand

Jedem Angriffspunkt der Normalkraft N ist genau eine Lage der Spannungs-Nulllinie (SNL) zugeordnet. Diese kann innerhalb oder auch außerhalb des Querschnitts liegen oder diesen gerade tangieren. Schneidet die SNL den Querschnitt, dann wechselt die Normalspannung innerhalb des Querschnitts das Vorzeichen. Liegt die SNL vollständig außerhalb des Quer-

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

189

schnitts, so treten im Querschnitt nur Spannungen eines Vorzeichens auf. Ob es sich um eine Zug- oder Druckspannung handelt, hängt vom Vorzeichen der Normalkraft ab. Zu jeder den Querschnitt tangierenden Spannungs-Nulllinie Ni gehört genau ein Lastangriffspunkt der Normalkraft N, der Kernpunkt Ki genannt wird. Die Verbindungslinie der Kernpunkte heißt Kernrand. Dieser schließt ein Gebiet ein, welches Kern des Querschnitts genannt wird (Abb. 6.52). Alle Angriffspunkte rpN einer außermittig wirkenden Normalkraft, die innerhalb oder auf dem Rand des geschlossenen Kerns liegen, führen zu Spannungen eines Vorzeichens. Das Auffinden des Querschnittskerns ist für diejenigen Systeme von praktischem Interesse, deren Baustoffe bzw. Lagerungen nur Druckspannungen übertragen können. Dazu gehören beispielsweise Bogenkonstruktionen aus Natursteinen sowie Fugen zwischen Fundamenten und dem Baugrund. Ziel der folgenden Untersuchungen ist die Ermittlung der Kernpunkte für allgemeine Querschnittsformen.

Abb. 6.53 Spannungs-Nulllinie tangiert den Querschnitt, zugehöriger Kernpunkt

Ausgangspunkt unserer Betrachtungen ist dabei die Gleichung der Spannungs-Nulllinie für den Fall der schiefen Biegung mit Normalkraft, also 11 (rpN )  0 

x I  x 2 N I 22 1 x 3 N I 33  x 2 N I 23  x 3  3 N 23 x2 A I I

Befindet sich die Schnittlast N auf der Randkurve des Kerns, also speziell bei x 2 N  x 2 K , x 3 N  x 3K ,

dann tangiert die Spannungs-Nulllinie definitionsgemäß den Querschnitt (Abb. 6.53), und es gilt 0

x I  x 2 K I 22 1 x 3 K I 33  x 2 K I 23  x 3  3 K 23 x2 . I A I

190

6 Balkenbiegung

Diese Geradengleichung besitzt die Achsenabschnitte

x 20  

I I , x 30   A ( x 3K I 23  x 2 K I 22 ) A ( x 3K I 33  x 2 K I 23 )

und den Winkel  zwischen der positiven x2-Achse und der Spannungs-Nulllinie

tan   

x 3K I 23  x 2 K I 22 . x 3 K I 33  x 2 K I 23

Fassen wir die Beziehungen für die Achsenabschnitte als Gleichungssystem zur Bestimmung der Kernpunktkoordinaten x2K, x3K auf, dann erhalten wir

x 2K  

I 33 I I I  23 , x 3K   22  23 . A x 20 A x 30 A x 30 A x 20

Beziehen wir uns auf Hauptzentralachsen (I23 = 0), dann verbleiben die Kernpunktkoordinaten

x 2K  

I I 33 , x 3 K   22 . A x 20 A x 30

Die Ermittlung des Kernrandes muss für allgemeine Querschnittsformen punktweise durchgeführt werden. Dazu können die folgenden Hinweise von Vorteil sein:  Ist die Einhüllende des Querschnitts ein Polygon, dann ist auch der Kern polygonal berandet.  Der Kern besitzt dieselben Symmetrieeigenschaften wie der Querschnitt selbst. Jede Querschnittsform kann mit beliebiger Genauigkeit durch ein Polygon angenähert werden, wobei seine Eckpunkte mit den planaren Ortsvektoren ri (i = 1…n) eine i. Allg. nicht konvexe Punktmenge M bilden. Zur Berechnung des Kerns werden nun diejenigen Punkte von M gesucht, die auf dem Rand des konvexen Hüllenpolygons (engl. convex hull) von M liegen. Die konvexe Hülle eines Querschnitts ist dadurch charakterisiert, dass sie das Polygon mit dem kleinsten Umfang darstellt. Eine Zusammenstellung effizienter Algorithmen zur Ermittlung konvexer Hüllen findet der Leser in (Lang, 2006). Maple stellt zur Berechnung der konvexen Hülle einer ebenen Punktmenge die beiden Prozeduren simplex[convexhull] und geometry[convexhull] zur Verfügung.

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

191

Beispiel 6-15:

Abb. 6.54 Kernberechnung für spezielle Querschnitte (Rechteck, Kreisring und dünnwandiger Kreisring)

Für die in Abb. 6.54 skizzierten Querschnittsformen sind die Kerne zu berechnen. 1. Rechteckquerschnitt: Aufgrund der Symmetrie des Querschnitts (die Achsen x2 und x3 sind Hauptzentralachsen) muss auch der Kern symmetrisch sein. Es genügt deshalb, die Kernpunkte für die beiden Spannungs-Nulllinien N1 und N2 zu berechnen. N1: x 20  

b I hb 3 2 b , x 30   , x 2 K   33   , x 3K  0 . 2 2 A x 20 12 b h 6

N2: x 20   , x 30  

h I bh 3 2 h , x 2 K  0 , x 3 K   22   . 2 A x 30 12 bh 2 6

2. Kreisringquerschnitt: Nach dem bisher Gesagten muss aufgrund der Rotationssymmetrie des Querschnitts auch der Kern rotationssymmetrisch sein. Es genügt deshalb, einen Punkt des Kernrandes zu kennen. Wählen wir die Spannungs-Nulllinie N1 entsprechend Abb. 6.54, dann erhalten wir unter Beachtung von

A  ( ra2  ri2 ) , I 22  I 33 

 4 4 ( ra  ri ) , x 30   ra 4

den Kernradius 2 r  r   I 22  a 1   i   . A x 30 4   ra     Für den Kreisquerschnitt mit ri = 0 und ra = r folgt daraus rK  x 3 K  r / 4 . Im Sonderfall des

rK  x 3 K  

dünnwandigen Kreisrings mit t  rm sind A  2 rm und I 22  1 / 2I p   rm3 . Damit erhalten wir: rK 

I 22 r  m . A rm 2

192

6 Balkenbiegung

Beispiel 6-16: Es soll ein Maple-Prozedur zur Berechnung des Kerns polygonal berandeter Querschnitte bereitgestellt werden. Die Spannungs-Nulllinien werden dabei durch jeweils zwei im Gegenuhrzeigersinn angeordnete Eckpunkte des konvexen Hüllenpolygons manuell vorgegeben (Abb. 6.55). Die Knotenkoordinaten können den Datensätzen Beispiel_6_14_1.txt (Querschnitt I), Beispiel_6_14_2.txt (Querschnitt II) und Beispiel_6_14_3.txt (Querschnitt III) entnommen werden.

Abb. 6.55 Polygonal berandete Querschnitte, Einhüllende Spannungs-Nulllinien Ni

Beispiel 6-17: Die Prozedur aus Beispiel 6-16 soll so erweitert werden, dass die konvexe Hülle automatisch aus den Knotenkoordinaten des Querschnittspolygons berechnet wird. Verwenden Sie dazu die von Maple bereitgestellte Prozedur simplex[convexhull]. Zur Berechnung der Kernpunkte selbst kann auf Programmteile der Prozedur in Beispiel 6-16 zurückgegriffen werden. Testen Sie die Prozeduren an den Beispielen in Abb. 6.55 und vergleichen Sie mit den Ergebnissen aus Beispiel 6-16. 

6.4.5

Querschnitte mit versagender Zugzone

Wie wir im vorhergehenden Abschnitt gesehen haben, erhalten wir Spannungen eines Vorzeichens, wenn die exzentrisch wirkende Normalkraft N innerhalb des Querschnittskerns angreift. Befindet sich die Kraft auf dem Kernrand, dann tangiert die Spannungs-Nullline (SNL) den Querschnitt. Wirkt sie außerhalb des Kerns, dann schneidet sie den Querschnitt, und es treten Zug- und Druckspannungen auf. Liegen jedoch Materialien vor, die keinerlei Zugspannungen übertragen können, dann kommt es zu einem Versagen der Zugzone. Zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts muss dann eine Spannungsumlagerung im Querschnitt erfolgen, wobei als Unbekannte die sich neu einstellende Normalspannung 11 und die Größe der als Restfläche AR bezeichneten wirksamen Fläche zu bestimmen sind (Abb. 6.56). Dabei wird im Folgenden unterstellt, dass durch die Lastkombination M2 und N der obere Rand des Querschnitts gedrückt wird, also 11 ( x 3  x 3o )  0 gilt.

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

193

Hinweis: Das alleinige Wirken eines Momentes ist ausgeschlossen, da beim Ausfall der Zugzone ein Kräftepaar vom Querschnitt nicht aufgenommen werden kann. Relativ einfach zu behandeln ist der Fall der geraden Biegung mit Normalkraft. Das Hookesche Gesetz liefert die Normalspannung 11  EuS  x 3 wS  .

Reduzieren wir die Schnittlasten auf das Hauptzentralachsensystem des Balkenquerschnitts mit der Restfläche AR, dann liefert die Definition der Schnittlasten N



M2 

AR



11dA  E

AR



AR

uS  x 3 w S  dA  EuS  dA  Ew S  AR

11 x 3 dA  E



AR

uS  x 3 w S  x 3 dA  EuS 

AR

AR

x 3 dA

x 3 dA  Ew S



AR

x 32 dA

Abb. 6.56 Symmetrischer Querschnitt mit versagender Zugzone

Mit den Abkürzungen



A R  dA , AR

S2 R 



AR

x 3 dA , I 22 R 



AR

x 32 dA ,

können wir auch kürzer N  E (uS A R  w S S2 R ) , M 2  E (uS S2 R  w S I 22 R )

schreiben. Fassen wir diese Beziehungen als lineares Gleichungssystem zur Bestimmung der Verformungsgrößen auf, dann erhalten wir uS 

1 N I 22 R  M 2 S2 R 1 N S2 R  M 2 A R , w S  , R  I 22R A R  S22R . E R E R

Damit folgen die Normalspannungen 11 

N I 22 R  M 2 S2 R N S2 R  M 2 A R  x3 . R R

194

6 Balkenbiegung

Die Lage der Spannungs-Nulllinie, hier gilt 11 = 0, ermitteln wir zu

N I 22R  M 2 S2R . N S2R  M 2 A R

x 3N 

Ersetzen wir die Beanspruchung durch Biegung und Normalkraft durch eine exzentrisch wirkende Normalkraft allein, dann folgt mit der Exzentrizität e3  M 2 / N

I22R  e3 S2R . S2R  e3 A R

x 3N 

Die auf der rechten Seite auftretenden Querschnittswerte hängen offensichtlich noch von der unbekannten Lage x3N der Spannungs-Nulllinie ab. Für allgemeine Querschnittsformen kann diese Gleichung nur iterativ gelöst werden. Wir konkretisieren das Problem, indem wir uns auf einen Rechteckquerschnitt (Breite b, Höhe h) beschränken (Abb. 6.57). Für diesen Querschnitt lässt sich die Lösung direkt notieren.

Abb. 6.57 Rechteckquerschnitt mit versagender Zugzone

Sind die Schnittlasten bekannt, dann kann die Exzentrizität e3, und damit der Angriffspunkt der Normalkraft N (Punkt P), berechnet werden. Die Querschnittswerte der Restfläche erhalten wir zu



A R  dA  b AR

S2 R 



I 22 R 



R 

AR

AR



x 3N h / 2

dx 3 

x 3 dA  b



x 32 dA  b

x 3N h / 2



x 3N h / 2

bh  2 x 3 N  1 ,  2  h 

x 3 dx 3 

bh 2 8

 2x 3N  2    1 ,   h  

x 32 dx 3 

bh 3 24

 2x 3 N 3    1 ,   h  

1 2 4  2x 3N 4 b h 1   . h  192 

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

195

Für die Lage der Spannungs-Nullline bedeutet dies

x 3N 

I 22R  e3 S2 R 1 4x 32N  2(3e3  h ) x 3N  3e3h  h 2  . S2 R  e 3 A R 3 2x 3 N  4e3  h

Lösen wir diese Gleichung nach x3N auf, dann folgt x 3 N  h  3e3 ,

und für die Normalspannungen erhalten wir nach kurzer Rechnung 11 

8 N 33  1  x 3 / h . 9 bh (1  23 ) 2

Die größte Druckspannung ergibt sich mit x3 = -h/2 an der Oberseite des Balkens zu o 11 

4 N 1 . 3 bh 1  23

Führen wir mit c den Abstand der exzentrischen Normalkraft vom oberen Rand ein, dann ist e3 = c – h/2 zu setzen (Abb. 6.57), womit wir die Darstellung o 11 

2 N 3 bc

für die größte Druckspannung erhalten. Hinweis: Im Grundbau darf bei Flachgründungen aus der Gesamtlast N höchstens ein Klaffen der Sohlfuge bis zum Flächenmittelpunkt angenommen werden. N liegt dann auf dem Kernrand der sogenannten 2. Kernfläche.

6.4.6

Der Balken mit veränderlichem Querschnitt

Wir untersuchen in einem ersten Schritt einen Rechteckbalken der Breite b, dessen Höhe sich linear von h am linken Balkenende auf hr am rechten Balkenende verändert (Abb. 6.58), also h ( x1 )  h  

hr  h x1  h  (1   ) 

mit  

Abb. 6.58 Rechteckbalken der Breite b mit linear veränderlicher Höhe

hr 1 h

und  

x1 . 

196

6 Balkenbiegung

Der Balken wird am rechten Ende durch eine Einzelkraft F belastet. Daraus resultiert das Biegemoment M 2 ( x 1 )   F(   x 1 )   F (1  ) . Das Flächenmoment 2. Grades I22 und das Widerstandsmoment W2 sind gegeben durch I 22 ( x 1 ) 

bh 3 ( x 1 ) bh 3  (1   ) 3  I 022 (1   ) 3 , 12 12

W2 ( x 1 ) 

bh 2 bh 2 ( x 1 ) bh 2  (1  ) 2  W20 (1  ) 2 , W20   . 6 6 6

I 022 

bh 3 , 12

Wir berechnen zunächst die Verformungen aus der Differenzialgleichung 2. Ordnung w ( x 1 )  

M 2 (x1 ) F 1  .  EI 22 ( x 1 ) EI 022 (1   ) 3

Da der Balken am linken Ende eingespannt ist, müssen dort die Durchbiegung und die Tangentenneigung verschwinden, also w ( x 1  0)  w ( x 1  0)  0 . Die Schrittweise Integration unter Beachtung der Randbedingungen liefert F 2 ( 2     )

w ( x 1 ) 

w (x1 ) 

EI 022 2(1   ) 2



F 2

2 EI 022

( 2  )  O ( )

F 3 2(1   ) ln(1   )   (  2   2   )

EI 022

2 3 (1   )



F 3

6 EI 022

 2 (3  )  O ( )

Die größte Durchbiegung ergibt sich am freien Balkenende zu w ( x 1  ) 

F 3 2 ln(1  )  (   2)

EI 022

2 3



F 3

3EI 022

 O( )

Für die Bemessung des Balkens wird die Randspannung R 11 (x1 ) 

M 2 (x1 ) W2 ( x 1 )



F

1 

W20

(1  ) 2

R benötigt. Der Größtwert 11 , max  

F W20

1 tritt nun nicht mehr an der Stelle des 4(1  )

größten Biegemomentes (Einspannung) auf, wie das beim Balken mit konstanter Biegesteifigkeit der Fall ist, sondern bei  *  (1  2) /  . In Abb. 6.59 sind rechts die Randspannungen für die Höhenverhältnisse h   3h r (   2 / 3 ) und h   h r (   0 ) dargestellt. Für R 0   2 / 3 erreicht die Randspannung bei  *  1 / 2 ihr Maximum 11 , max  9 F  /(8 W2 ) . An

R ( x 1  0)  F  / W20 . der Einspannstelle errechnen wir dagegen nur 11

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

197

Abb. 6.59 Verlauf der Verschiebungen und Randspannungen eines Balkens mit linear veränderlicher Höhe

Beispiel 6-18:

Abb. 6.60 Gevouteter Balken mit Einzelkraft F am rechten Balkenende

Der Kragbalken in Abb. 6.60 besitzt eine Voute1 der Länge v. Er wird am rechten Balkenende durch eine Einzelkraft F belastet. Das Momentengleichgewicht führt zum Schnittmoment M 2 ( x 1 )   F(   x 1 )   F (1  ) . Gesucht werden die Verformungen w und w´ sowie R . Ort und Betrag der größten Randspannung 11

Geg.: b = 1,   1, h   3, h r  1,  v  0, 6  . Lösung: Für die Querschnittshöhe bedeutet dies hr  h  x1 h   h v ( x 1 )  h   v h(x1 )   h  konst .  r

1

franz. voûte, Gewölbe

, wenn

x1   v ,

, wenn

x1   v .

198

6 Balkenbiegung

Mittels der Heaviside-Funktion lassen sich beide Ausdrücke vereinheitlichen: h ( x 1 )  h   h v ( x 1 )  h r  h   h v ( x 1 )  H ( x 1   v ) .

Abb. 6.61

Verlauf der Verschiebungen und Randspannungen

Wir verzichten auf die Wiedergabe der umfangreichen Ausdrücke für die zu berechnenden Zustandsgrößen, geben die Ergebnisse grafisch aus (Abb. 6.61) und verweisen im Übrigen auf das entsprechende Maple-Arbeitsblatt.  Hinweis: In statisch unbestimmten Systemen ziehen die steiferen Bereiche die Schnittlasten an, und im Gegenzug werden die weicheren Bereiche entlastet. Dabei kommt es jedoch nur auf die Verhältnisse der Trägheitsmomente in den einzelnen Schnitten, nicht jedoch auf deren Beträge selbst an (Beispiel 6-19). Im Vergleich zu einem Balken mit konstantem Trägheitsmoment führen außerdem die Vouten zu einer Verminderung der Schubspannungen, womit beispielsweise im Stahlbetonbau eine bedeutende Verminderung der Schubbewehrung erreicht werden kann. Beispiel 6-19: In Abb. 6.62 ist ein statisch unbestimmt gelagerter Rechteckbalken der reite b und der Länge 2 dargestellt, dessen Höhe sich sprunghaft ändert. Das System und die Belastung sind symmetrisch, damit kann am halben System gerechnet werden. Da nach dem Freischneiden drei unbekannte Reaktionsgrößen auftreten, von denen zwei durch Kraft- und Momentengleichgewicht berechnet werden können, liegt ein einfach statisch unbestimmtes System vor. In der Symmetrieachse muss die antimetrische Größe Querkraft verschwinden.

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

199

Abb. 6.62 Beidseitig eingespannter Balken mit sprunghaft veränderlicher Querschnittshöhe

Geg.:   5, h   1, h r  2, b  1, a  3, x F  2, F0  5 . Lösung: Mit der in (Mathiak, 2012) bereitgestellten Prozedur PROC_CALC_23 (Arbeitsblatt Kapitel_07_b.mw) ermitteln wir die Reaktionskräfte und den Biegemomentenverlauf zu: R 1   5, R 2   15  z 3 , R 3  z 3 , M 2 ( x 1 )  5( x 1  2 ) H ( x 1  2 )  15  R 3 ,

wobei die Reaktionsgröße R3 dem noch unbekannten Einspannmoment am rechten Balkenende entspricht. Das Flächenmoment 2. Grades für den Rechteckquerschnitt ist  bh 3   I 22 ( x 1 )   12 3  bh r  12

, wenn

x1  a,

, wenn

x 1  a.

Ausgedrückt durch die Heaviside-Funktion erhalten wir:

I 22 ( x 1 )  I 022 [ H ( a  x 1 )  ( h r / h  ) 3 H ( x 1  a )] ,

mit

I 022 

bh 3 . 12

Entsprechend folgt für das Widerstandsmoment  bh 2   6 W2 ( x 1 )   2  bh r  6

, wenn

x1  a,

, wenn

x 1  a.

Wir vereinheitlichen diesen Ausdruck mittels der Heaviside-Funktion und erhalten

W2 ( x 1 )  W20 [ H (a  x 1 )  ( h r / h  ) 2 H ( x 1  a )] ,

mit

W 20 

bh 2 . 6

200

6 Balkenbiegung

Abb. 6.63 Bezogene Verformungen w(x1) und w´(x1)

Abb. 6.64 Momentenverteilung und bezogene Randspannungen

Die Biegedifferenzialgleichung lautet:

EI 22 ( x 1 ) w ( x 1 )   M 2 ( x 1 )  5( x 1  2) H ( x 1  2)  15  R 3 , die unter den Randbedingungen w ( x 1   )  w ( x 1   )  0 zu integrieren ist. Auf die Wiedergabe der umfangreichen Ausdrücke für die Zustandsgrößen verzichten wir an dieser Stelle und verweisen auf das entsprechende Maple-Arbeitsblatt. Die Verformungen w(x1) und w´(x1) enthalten noch das unbekannte Reaktionsmoment R3 am rechten Balkenende, das wir aus der Forderung w ( x1  0)  0 berechnen. Wir erhalten

R 3  175 / 13  13, 46 . Zum Vergleich sind die Lösungen für den Balken mit konstantem

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

201

Trägheitsmoment (hr = h) durch eine unterbrochene Linie dargestellt. In Bezug auf den Balken mit konstantem Querschnitt ist das Einspannmoment am rechten Rand um den Betrag M2 = 2,96 angewachsen, und das Feldmoment bei x1 = 0 ist um denselben Betrag kleiner geworden. Wie Abb. 6.64, rechts zeigt, führt diese Momentenumlagerung zu einer deutlichen Reduzierung der Randspannungen im Vergleich zum Balken mit konstantem Trägheitsmoment. Schubspannungsverteilung bei veränderlichem Balkenquerschnitt In Kap. 6.4.2 wurde für den Bernoulli-Balken eine Abschätzung der Schubspannungsverteilung  vorgenommen, wobei wir dort von einem prismatischen Balken ausgingen. Diese Voraussetzung soll nun aufgegeben und die Frage beantwortet werden, welchen Einfluss eine veränderliche Querschnittshöhe auf die Schubspannungsverteilung hat.

Abb. 6.65 Spannungsverteilung an einem infinitesimalen Balkenelement veränderlicher Höhe

Eine Abschätzung der Schubspannungen 31 = 13 erhalten wir, wenn wir das Kraftgleichgewicht in x1-Richtung an dem in Abb. 6.65 invers dargestellten Balkenelement notieren. Es verbleiben wieder nur die Zuwächse, und wir erhalten 1  13 ( x1 , x 3 )  b( x1 , x 3 ) x1

x 3u ( x 1 )



11 ( x1 ,  ) b ( x1 ,  ) d

.

x3

Bei Bezugnahme auf Hauptzentralachsen errechnen sich die Normalspannungen für den längs der Balkenachse veränderlichen Querschnitt zu 11 ( x 1 , x 3 ) 

N ( x1 ) M 2 ( x1 )  x3 . A ( x 1 ) I 22 ( x 1 )

202

6 Balkenbiegung

Damit folgt 1  13 ( x1 , x 3 )  b ( x 1 , x 3 ) x 1

x 3u ( x 1 )



x3

 N ( x1 ) M 2 ( x1 )   A ( x )  I ( x )   b ( x 1 ,  ) d   1 22 1

x 3 (x1 ) x 3 (x1 )   M (x )   N ( x1 ) 1  b( x1 ,  ) d . b ( x 1 ,  ) d  2 1   I 22 ( x1 ) b ( x 1 , x 3 ) x 1  A ( x 1 ) x3 x3   u

u





x 3u ( x 1 )

 b ( x ,  ) d , S

Mit A 2 ( x 1 , x 3 ) 

1

x3

13 ( x1 , x 3 ) 

x 3u ( x 1 ) 2 (x1 , x 3 )



  b( x ,  ) d erhalten wir kürzer 1

x3

1   A (x , x ) S (x , x )  N ( x1 ) 2 1 3  M 2 ( x1 ) 2 1 3  ,  b( x1 , x 3 ) x1  A ( x1 ) I 22 ( x1 ) 

wobei S2 wieder das Statische Moment der Restfläche und A2 die Restfläche selbst bedeuten. Differenzieren wir unter Beachtung der Produktregel, dann erhalten wir zunächst 13 ( x1 , x 3 )  

1 A (x , x ) S (x , x )   N( x1 ) 2 1 3  M2 ( x1 ) 2 1 3  b( x1 , x 3 )  A ( x1 ) I 22 ( x1 )  1  A 2 ( x1 , x 3 )  S 2 ( x1 , x 3 )   N ( x1 )  M 2 ( x1 )  b ( x1 , x 3 )  x1 A ( x1 ) x1 I 22 ( x1 ) 

Mit den in Kap. 6.2 hergeleiteten lokalen Gleichgewichtsbedingungen N ( x 1 )   n ( x 1 ) , M 2 ( x1 )  Q 3 ( x1 )  m 2 ( x1 ) ,

ist dann 13 ( x 1 , x 3 ) 

Q 3 ( x1 )  m 2 ( x1 ) n ( x1 ) ZT S 2 ( x1 , x 3 )  A 2 ( x 1 , x 3 )  13 ( x 1 , x 3 ). I 22 ( x 1 ) b ( x 1 , x 3 ) A ( x1 )b ( x1 , x 3 )

Der Zusatzterm (ZT) ZT 13 ( x1 , x 3 ) 

1  A 2 ( x1 , x 3 )  S 2 ( x1 , x 3 )   N ( x1 )  M 2 ( x1 ) b( x1 , x 3 )  x1 A( x1 ) x1 I 22 ( x1 ) 

resultiert aus dem längs der Balkenachse veränderlichen Querschnitt. Spezialisieren wir auf den Rechteckquerschnitt mit konstanter Breite b und veränderlicher Höhe h, dann sind die flächengeometrischen Größen A ( x 1 )  bh ( x 1 ) , I 22 ( x1 ) 

h ( x1 ) bh 3 ( x1 ) bh 2 ( x 1 ) , W2 ( x 1 )  , x 3u ( x1 )  2 12 6

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

203

und damit 1 / 2 h ( x1 )

 d 

A 2 ( x1 , x 3 )  b

x3

bh ( x1 )  2x 3  1  , 2  h ( x1 ) 

1 / 2 h ( x1 )



S 2 ( x1 , x 3 )  b

 d 

x3

2 bh 2 ( x1 )   2 x 3    1    . 8   h ( x1 )  

Beachten wir ferner 2 S2 ( x1 , x 3 ) 3   2x 3     1  ,   I 22 ( x1 ) 2h ( x1 )   h ( x1 )  

A 2 ( x1 , x 3 ) 1  2x 3  ,  1  A ( x1 ) 2  h ( x1 ) 

dann folgen mit dh ( x 1 ) / dx1  tan  ( x 1 ) , wobei  der Summe der Neigungen von Balkenober- und Unterseite entspricht, die Ableitungen  A 2 ( x1 , x 3 ) x  2 3 tan  ( x1 ) , x1 A ( x1 ) h ( x1 ) 2  3  S 2 ( x1 , x 3 )  2x 3    2 1  3     h ( x )   tan ( x1 ) , x1 I 22 ( x1 ) 2h ( x1 )    1  

und für den Zusatzterm erhalten wir ZT 13 ( x1, x 3 ) 

2 1  N( x1 ) 2x 3 1 M 2 ( x1 )   2x 3      1 3      tan ( x1 ) .  2  A( x1 ) h ( x1 ) 2 W2 ( x1 )   h ( x1 )   

Summieren wir diese Spannungen über die Querschnittsfläche, dann folgt x 3u

Q3ZT 



ZT 13 ( x1 ,  ) b( )d

0.

  x 3o

Bei reiner Biegebeanspruchung (N = 0) verbleibt ZT 13 ( x1 , x 3 )  

2 1 M 2 ( x1 )   2x 3     tan  ( x1 ) . 1  3 4 W2 ( x1 )   h ( x1 )  

Offensichtlich verschwinden an der Ober- und Unterseite des Balkens die Schubspannungsanteile aus dem Zusatzterm nicht, denn wir errechnen

204

6 Balkenbiegung ZT ( x1 , x 3   h ( x1 ) / 2)  13

1  N ( x1 ) M 2 ( x 1 )  tan ( x1 ) .   2  A( x1 ) W2 ( x1 ) 

Allerdings kann gezeigt werden, dass unter Einbeziehung der Normalspannungen 11 Oberund Unterseite des Balkens spannungsfrei sind und damit die dortigen Randbedingungen erfüllen. In der Balkenachse (x3 = 0) ist ZT 13 ( x 1 , x 3  0)  

6.4.7

1 M 2 ( x1 ) tan  ( x 1 ) . 4 W2 ( x 1 )

Temperaturbeanspruchung

In den folgenden Untersuchungen beziehen wir uns auf die Hauptzentralachsen eines prismatischen Balkens, der durch ein von der Balkenachse (x1-Achse) unabhängiges, linear veränderliches Temperaturfeld T (rp )  TS  B x 2  C x 3

beansprucht wird, wobei TS der Temperatur in der Balkenachse entspricht. Wir benötigen also drei Messungen, um dieses ebene Temperaturfeld festzulegen. Die Temperaturänderung gegenüber einer Aufstelltemperatur T0 ist dann

T(rp )  T(rp )  T0  TS  T0  B x 2  C x 3 . Die Dehnung einer Balkenfaser ergibt sich aus dem um den Temperaturterm erweiterten Hookeschen Gesetz (s.h. auch Kap. 3.3.1) mit  = 0 zu 11 

11   T . E

Zahlenwerte der Materialkonstanten E und  können für einige ausgewählte Werkstoffe der Tab. 3.1 entnommen werden. Lösen wir die obige Beziehung nach den Spannungen auf und beachten die in Kap. 6.4 hergeleitete Dehnung des Bernoulli-Balkens, dann folgt 11  E(11   T)  Eu 'S ( x1 )  x 3 w S ( x1 )  x 2 vS ( x1 )   T  .

Die in Kap. 6.1 definierten Schnittlasten liefern bei Bezugnahme auf ein Zentralachsensystem die Normalkraft N ( x 1 )  E  A u S ( x 1 )   



A

T (rp ) dA  , 

und ferner die Schnittmomente M 2 ( x1 ) 



A

x 311dA   E  I 22 w S ( x 1 )   



A

x 3 T (rp ) dA  , 

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens M 3 ( x1 )  



A

x 2 11dA  E  I 33 vS ( x 1 )   



205

A

x 2 T (rp ) dA  . 

Zur Konkretisierung des Problems beziehen wir uns im Folgenden auf den praktisch wichtigen Fall eines Rechteckquerschnitts der Breite b und Höhe h. Dann sind



A

T (rp ) dA  (TS  T0 ) A ,



A

x 3 T (rp ) dA  I 22 C ,



A

x 2 T (rp ) dA  I 33 B .

Damit können wir für die Schnittlasten N ( x 1 )  EA u S ( x1 )   ( TS  T0 )  , M 2 ( x1 )   EI 22 w S ( x1 )   C  ,

M 3 ( x 1 )  EI 33 vS ( x1 )   B 

notieren. Die Konstanten TS, B und C sind aus dem vorliegenden Temperaturfeld zu berechnen. Im statisch bestimmten Fall werden die Schnittlasten aus Gleichgewichtsbetrachtungen am freigeschnittenen System ermittelt. Die drei Verschiebungen folgen dann, unter Beachtung der Randbedingungen, aus den Differenzialgleichungen u S ( x 1 ) 

N ( x1 )   ( TS  T0 ) , EA

w S ( x 1 )  

M 2 ( x1 )  C , EI 22

v S ( x 1 ) 

M 3 ( x1 )  B . EI 33

Ist der Balken dagegen statisch unbestimmt gelagert, dann liefern die lokalen Gleichgewichtsbedingungen für den prismatischen Balken in Ergänzung zu den obigen Beziehungen die Differenzialgleichungen EAuS ( x1 )  n ( x1 ) , IV Q 3 ( x 1 )   EI 22 w S ( x 1 )  m 2 ( x 1 ) , EI 22 w S ( x 1 )  q 3 ( x 1 )  m2 ( x 1 ) ,

Q 2 ( x 1 )   EI 33 v S ( x 1 )  m 3 ( x 1 ) ,

EI 33 v SIV ( x 1 )  q 2 ( x 1 )  m 3 ( x 1 ) .

Beispiel 6-20: T3

x1,  x3

E,  

x2 T1

S

x3

h T2

b

Abb. 6.66 Statisch unbestimmt gelagerter Balken unter Temperaturbeanspruchung

206

6 Balkenbiegung

Der statisch unbestimmt gelagerte Stahlbetonbalken in Abb. 6.66 wurde bei einer Temperatur T0 aufgestellt. Zu diesem Zeitpunkt war der Balken spannungs- und verformungsfrei. Eine später vorgenommene Temperaturmessung ergab an den Punkten 1-3 die Temperaturen T1, T2 und T3. Gesucht werden sämtliche Zustandsgrößen. Lösung: Wir berechnen zunächst aus den Temperaturwerten T1 – T3 das planare Temperaturfeld. Dazu ist das lineare Gleichungssystem T ( x 2  b / 2, x 3  h / 2)  T1 , T ( x 2   b / 2, x 3  h / 2)  T2 , T ( x 2   b / 2, x 3   h / 2)  T3

zu lösen. Das Ergebnis ist: TS  T1  T3  / 2 , B  T1  T2  / b , C  T2  T3  / h . Damit liegt die Temperaturverteilung im Balken fest. Wegen der beidseitigen Einspannung der Balkenachse ist zur Ermittlung der Stabachsverschiebung die Differenzialgleichung 2. Ordnung EAuS ( x1 )  n ( x1 ) zu lösen. Da die äußere Normalkraftschüttung n(x1) fehlt, verbleibt: u S ( x1 )  0 , uS ( x1 )  K1 

N( x1 )  (TS  T0 ) , u S ( x1 )  K1x1  K 2 . EA

Die Konstanten ermitteln wir aus der Forderung u S ( x1  0)  u S ( x1  )  0 zu K1  K 2  0 und damit N( x1 )  EA(TS  T0 ) . Der Balken ist auch hinsichtlich der Biegung statisch unbestimmt gelagert. Demzufolge sind aufgrund der fehlenden äußeren Belastung für beide Richtungen getrennt die beiden Differenzialgleichungen EI22 w SIV (x1 )  0 und EI33vSIV ( x1 )  0 zu lösen. Wir erhalten durch sukzessive Integration: EI 22 w S( x1 )   Q 3 ( x1 )  C1 , EI 22 w S ( x1 ) 

1 C1x12  C 2 x 1  C 3 , 2

EI 22 w S ( x1 )  M 2 ( x1 )  EI 22  C   C1x1  C 2 ,

EI 22 w S ( x1 ) 

1 1 C1x13  C 2 x12  C3 x1  C 4 . 6 2

Die Randbedingungen erfordern: w S (0)  w S (0)  w ( )  M 2 ( )  0 , was für die Konstan3 EI 22  C 1 , C 2  EI 22  C , C 3  C 4  0 bedeutet. Einsetzen der Konstanten in ten C1   2  2 die obigen Lösungen liefert mit  = x1/: Q 3 ( x1 ) 

3 EI 22 C , 2 

w ( x1 ) 

2  C  2 (1  ) .  C  ( 2  3 ) , w ( x1 )  4 4

M 2 ( x1 ) 

3 EI 22  C (  1) , 2

Eine entsprechende Lösung kann für die 2-Richtung aufgefunden werden; hier ist lediglich I22 durch I33 und C  T2  T3  / h durch B  T1  T2  / b zu ersetzen.

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

207

Hinweis. Die Schnittlasten aus Temperaturbeanspruchungen können erhebliche Größenordnungen erreichen, was oft zu unangenehmen Überraschungen bei der Tragwerksbemessung führt.

6.4.8

Biegung von Verbundquerschnitten

Bei den bisherigen Untersuchungen wurde unterstellt, dass der Balken aus einheitlichem homogenem Material besteht. Das ist bei einem Verbundquerschnitt (engl. composite section) nicht mehr der Fall. Klassische Beispiele für Verbundquerschnitte sind Sandwich- und Stahlbetonbalken. Verbundquerschnitte sind in vielen Ingenieurkonstruktionen anzutreffen. Im Brückenbau werden beispielsweise Konstruktionen eingesetzt, deren Unterbauten aus Stahlprofilen und die Fahrbahndecken aus Stahlbeton bestehen (Stahlverbundbau). Wir beschränken uns im Folgenden auf solche Verbundquerschnitte, bei denen die einzelnen Balkenfasern bzw. -schichten isotrop und homogen sind. Die Aufteilung der verschiedenen Werkstoffanteile soll sich innerhalb des Querschnitts längs der Balkenachse nicht ändern. Zwischen den Schichten wird idealer Verbund unterstellt, ein Verschieben der Schichten relativ zueinander ist damit ausgeschlossen.

Abb. 6.67 Beispiele für Verbundquerschnitte, Sandwich- und Stahlbetonbalken

Die Werkstoffverteilung innerhalb des Querschnitts berücksichtigen wir durch die Annahme eines veränderlichen Elastizitätsmoduls E  E(x 2 , x 3 ) .

Für praktische Anwendungen ist es vorteilhaft, den in der Fläche veränderlichen Elastizitätsmodul auf einen ausgezeichneten Werkstoff zu beziehen, den wir Grundwerkstoff nennen und dessen E-Modul wir mit E0 bezeichnen. Dabei ist es gleichgültig, welcher Werkstoff als Grundwerkstoff ausgezeichnet wird. Die Zahl n (x 2 , x 3 ) 

E(x 2 , x 3 ) E0

beschreibt das Verhältnis von lokalem E-Modul zum E-Modul des Grundwerkstoffes. Wählen wir beispielsweise im Stahlverbundbau als Grundwerkstoff den Beton mit E0 = 30000

208

6 Balkenbiegung

N/mm2 als Grundwerkstoff, und unterstellen für den Stahl den Elastizitätsmodul E = 210000 N/mm2, dann gilt zwischen diesen beiden Werkstoffen n = 210000/30000 = 7. Wir beschränken uns im Folgenden auf die Ermittlung der Spannungsverteilung in einem querkraftfreien, durch Biegung mit Normalkraft beanspruchten prismatischen Balken. In Anlehnung an die bisher erzielten Ergebnisse gilt für den Verbundquerschnitt

11 (r )  E(rp ) 11  E 0 n ( x 2 , x 3 ) [uS ( x1 )  x 3wS ( x1 )  x 2 vS ( x1 )] . Unter Beachtung der Definition für die Normalkraft liefert die Integration der Spannungen über die Querschnittsfläche N ( x1 ) 



A

11 dA  E 0



A

n ( x 2 , x 3 ) [ u S ( x1 )  x 3 w S ( x1 )  x 2 vS ( x1 )] dA

 E 0 u S ( x1 ) n ( x 2 , x 3 ) dA  w S ( x1 ) x 3 n ( x 2 , x 3 ) dA  vS ( x1 ) A A   E 0 A i u S ( x1 )  E 0 S2 i w S ( x1 )  E 0 S3i vS ( x1 )







A

x 2 n ( x 2 , x 3 ) dA  

Die im obigen Ausdruck mit dem Faktor n(x2,x3) gewichteten Flächenmomente heißen 1. Ideelles Flächenmoment 0. Grades (ideelle Fläche) A i :



A

n ( x 2 , x 3 ) dA ,

2. Ideelle Flächenmomente 1. Grades (ideelle statische Momente) Si 2 :



A

x 3 n ( x 2 , x 3 ) dA , Si 3 :



A

x 2 n ( x 2 , x 3 ) dA .

Bei Bezugnahme auf ein ideelles Zentralachsensystem verschwinden die ideellen statischen Momente (Si2 = Si3 = 0), und es verbleibt das Elastizitätsgesetz für die Normalkraft N ( x1 )  E 0 A i u S ( x1 ) .

Entsprechend folgt mit der Definition der Schnittmomente (s. h. Kap. 6.1) M 2 ( x1 ) 



A

x 3 11dA

 E 0 Si 2 u S ( x1 )  E 0 w S ( x1 ) M 3 ( x1 )  



A



A

x 32 n ( x 2 , x 3 ) dA  E 0 vS ( x 1 )



A

x 2 x 3 n ( x 2 , x 3 ) dA ,

x 2 11dA

  E 0 Si 3 u S ( x1 )  E 0 w S ( x 1 )

Mit Einführung der



A

x 2 x 3 n ( x 2 , x 3 ) dA  E 0 vS ( x1 )



A

x 2 n ( x 2 , x 3 ) dA .

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

209

3. Ideellen Flächenmomente 2. Grades Ii 22 :



Ii 23 : 

A



x 32 n ( x 2 , x 3 ) dA , I i 33 :

A



A

x 22 n ( x 2 , x 3 ) dA : ideelle Flächenträgheitsmomente,

x 2 x 3 n ( x 2 , x 3 ) dA :

ideelles Deviationsmoment,

erhalten wir bei Bezugnahme auf die ideellen Zentralachsen des Querschnitts M 2 ( x1 )   E 0 I i 22 w S ( x1 )  E 0 I i 23 vS ( x1 ) , M 3 ( x1 )   E 0 I i 23 w S ( x1 )  E 0 I i 33 vS ( x1 ) .

Für die Transformation der obigen Flächenmomente hinsichtlich gedrehter Achsen gelten die gleichen Gesetze wie für die gewöhnlichen Flächenmomente. Damit kann auch ein ideelles Hauptzentralachsensystem definiert werden, in dem Ii23 = Ii32 = 0 gilt, und für die Schnittlasten verbleibt bei Bezugnahme auf ein solches System M 2 ( x1 )   E 0 I i 22 w S ( x1 ) ,

 w S ( x 1 )  

M 3 ( x1 )  E 0 I i 33 vS ( x1 ) ,

 v S ( x 1 ) 

M 2 ( x1 ) , E 0 I i 22

M 3 ( x1 ) . E 0 I i 33

Drücken wir die Normalspannungen durch die Schnittlasten aus, dann erhalten wir die Spannungsverteilung im ideellen Hauptzentralachsensystem M (x )   N ( x1 ) M 2 ( x1 ) 11 (r )  n ( x 2 , x 3 )   x3  3 1 x2  . A I I i 33   i i 22

Führen wir noch die ideelle Normalspannung  i11 (r ) 

11 (r ) N ( x1 ) M 2 ( x1 ) M (x )   x3  3 1 x2 n(x 2 , x 3 ) Ai I i 22 I i 33

ein, dann können wir die Normalspannung auch in der Form 11 (r )  n ( x 2 , x 3 ) i11

notieren. Die tatsächlich wirkende Spannung 11 folgt damit durch Multiplikation der ideellen Spannung mit dem lokalen n-Wert. Sind die Spannungen bekannt, dann können die Dehnungen aus der Beziehung 11 

11 (r )  (r ) 1  N ( x1 ) M 2 ( x1 ) M (x )   i11   x3  3 1 x2  E 0 n (x 2 , x 3 ) E0 E 0  A i I i 22 I i 33 

berechnet werden.

210

6 Balkenbiegung

Beispiel 6-21:

Abb. 6.68 Stahlverbundquerschnitt eines Brückenträgers (alle Maße in mm)

Der in Abb. 6.68 skizzierte symmetrische Verbundquerschnitt besteht aus einem Stahlträger der IPE-Reihe nach DIN 1025-5 (Ea = 210000 N/mm2) und im Überbau aus einer 8 cm dicken Betonplatte (Eb = 33500 N/mm2), die schubfest mit dem I-Träger verdübelt ist. Der Querschnitt wird durch ein Biegemoment M2 = 200 kNm beansprucht. Es sind die Normalspannungen 11(x3) und die Dehnung 11(x3) zu ermitteln. Lösung: Wir berechnen in einem ersten Schritt die ideellen Querschnittswerte. Aa = 98,8 cm2, I22 = 33740 cm4.

Stahlquerschnitt:

Betonquerschnitt: Ab = 960 cm2, I22 = 5120 cm4. Wir wählen als Grundwerkstoff den Stahl mit E0 = Ea = 210000 N/mm2. Damit sind: n (b) 

Eb Eb E E   0,16 , n ( a )  a  a  1 . E0 Ea E0 Ea

Im nächsten Schritt wird die ideelle Fläche berechnet: Ai 



2

A

n ( x 2 , x 3 ) dA 

 j 1

A i( j) 

2

n

( j)

A ( j)  n (b) A (b)  n (a) A (a)

j 1

 0,16  960  1  98 ,8  153 ,14  98 ,80  251,94 cm 2 .

Die Koordinaten des ideellen Flächenmittelpunktes errechnen sich wegen der Symmetrie des Querschnitts zu x i 2  0 und 2

x i 3,S A i 

x

( j) 3, S

A i( j)  x 3( b,S) A i( b )  x 3( a,S) A i( a )  4  153 ,14  (8  45 / 2 )  98 ,8  3625 ,96 cm 3 ,

j 1

2

x x i 3,S 

( j) 3, S

j 1

Ai

A i( j) 

3625 ,96  14 ,39 cm . 251,94

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

211

Zum Vergleich: Der Flächenmittelpunkt S des homogenen Querschnitts liegt bei x 3, S 

x 3( b,S) A ( b )  x 3( a,S) A ( a ) A (b)  A (a )



4  960  30 ,5  98,8  6,47 cm. 960  98,8

Wir benötigen noch das ideelle Flächenträgheitsmoment des Querschnitts bezogen auf die ideelle Zentralachse x2. Hier gilt I i 22 



A

x 32 n ( x 2 , x 3 ) dA 

2

 [I

( j) i 22

2

 A i( j) x 3( ,jS) ] .

j 1

In der obigen Beziehung bezeichnet j) Ii(22  n ( j) I(22j)

das ideelle Eigenflächenträgheitsmoment des Querschnitts für das Material mit dem Index j bezogen auf die 2-Achse und x 3( ,jS)  x 3( ,jS)  x 3,S

den Abstand des Flächenmittelpunktes der einzelnen Teilflächen von der x3-Achse des fiktiven homogenen Querschnitts. Im Einzelnen erhalten wir b) Ii(22  n ( b ) I (22b )  0,16

120  83  819,20 cm 4 , 12

2

A i( b ) x 3( b,S)  153,14  ( 4,0  14,39 ) 2  16531,78 cm 4 Für den Stahlanteil folgt 2

a) Ii(22  n (a ) I(22a )  I(22a )  33740 cm 4 , A i( a ) x 3( a,S)  98,80  (30,5  14,39 ) 2  25641,77 cm 4 .

Die Auswertung der Summe ergibt das ideelle Flächenträgheitsmoment des Verbundquerschnittes I i 22  (819 , 20  16531 ,78 )  (33740  25641 ,77 )  76732 ,75 cm 4 .

Wir berechnen die Spannungsverteilung über die Querschnittshöhe. Für den Fall der reinen Biegung um die Achse x2 verbleibt 11  n ( x 2 , x 3 )

M2 x 3  n ( x 2 , x 3 )  i11 . I i 22

Die ideelle Spannung (M2 = 20000 kNcm) errechnet sich zu  i11 

M2 20000 x3  x 3  0, 26 x 3 . Im Einzelnen sind: I i 22 76732 ,75

212

6 Balkenbiegung

a) Spannung an der Oberseite der Betonplatte (n = 0,16, x3 = –14,39 cm) 11  0,16  0, 26  (  14 ,39 )   0,60 kN / cm 2 (Druck)

b) Spannung im Beton am Übergang zwischen Platte und Träger (n = 0,16, x3 = –6,39 cm) 11  0,16  0, 26  (  6,39 )   0, 27 kN / cm 2 (Druck)

c) Spannung im Stahl am Übergang zwischen Platte und Träger (n = 1, x3 = –6,39 cm) 11  1  0, 26  (  6,39 )   1,66 kN / cm 2 (Druck)

d) Spannung an der Unterseite des Stahlträgers (n = 1, x3 = 38,61 cm) 11  1  0, 26  38 ,61  10 ,04 kN / cm 2 (Zug).

Die Dehnungen berechnen wir aus der Beziehung 11 

M2 20000 x3  x 3  12 , 41  10  6  x 3 . E 0 I i 22 21000  76732 ,75

e) Dehnung an der Plattenoberseite: 11  12 , 41  10 6  (  14 ,39 )   1,79  10 4 f) Dehnung an der Trägerunterseite: 11  12 , 41  10 6  38 ,61  4,79  10 4 . Die Abb. 6.69 zeigt die Spannungs- und Dehnungsverteilung im Verbundquerschnitt. Im Vergleich zum Querschnitt aus homogenem Material fallen sofort zwei Änderungen auf: 1. Die ideelle Achse fällt nicht mehr mit der Verbindungslinie der Flächenmittelpunkte zusammen. 2. Die Normalspannungen zeigen an der Materialgrenze einen Sprung.

Abb. 6.69 Spannungs- und Dehnungsverteilung infolge reiner Biegung (Spannungen in kN/cm2)

6.4 Die Grundgleichungen des Bernoulli-Balkens

213

Beispiel 6-22:

Abb. 6.70 Verbundträger, alle Maße in [mm]

In (Mathiak, 2012) Kap. 5.5.3 wurden die Grundgleichungen zur Berechnung der Flächenmomente von aus Rechtecken zusammengesetzten Querschnitten bereitgestellt. Modifizieren Sie die Prozedur PROC_CALC_20 aus dem dortigen Arbeitsblatt Kapitel_05g.mw so, dass damit auch aus Rechtecken zusammengesetzte Verbundquerschnitte berechnet werden können. Innerhalb eines Rechtecks wird mit konstantem E-Modul gerechnet. Wenden Sie die Prozedur auf den unsymmetrischen Verbundträger in Abb. 6.70 an.

7

Der elastisch gebettete Balken q3(x1)

F3

M2 x1

x3,w Verschiebung

wS(x1) qB(x1)

Abb. 7.1 Balken auf nachgiebiger Unterlage, Winklersche Bettung

Wir betrachten den Balken in Abb. 7.1, der vollständig auf einer elastischen Unterlage liegt. Solche Systeme treten beispielsweise im Bauwesen bei Flachgründungen auf. Nach Winkler1 wird angenommen, dass der Bodendruck qB(x1) proportional zur lokalen Eindringtiefe wS(x1) ist, also q B ( x1 )  kw S ( x1 ) .

Die Konstante k heißt Bettungszahl:

k  

Masse Länge  ( Zeit )

2

,

Einheit: kg m-1 s-2 = N/m2. 2

Tab. 7.1 Rechenwerte für Bettungszahlen k einiger ausgewählter Böden für Vorentwürfe Material Sand, locker, rund Sand, mitteldicht, rund Sand, dicht, eckig Geschiebemergel, fest Lehm, halbfest Torf

Bettungszahl k [MN/m2] 10…15 50…100 150…250 30…100 20…50 0.4…1

1

Emil Winkler, deutsch. Bauingenieur, 1835–1888

2

Nach Empfehlungen des Arbeitsausschusses Ufereinfassungen-EAU

216

7.1

7 Der elastisch gebettete Balken

Der elastisch gebettete Timoshenko-Balken

In Erweiterung der lokalen Gleichgewichtsbedingungen aus Kap. 6.2 lauten für den elastisch gebetteten Balken die Kraft- und Momentengleichgewichtsbedingungen Q 3 ( x1 )   q 3 ( x1 )  q B ( x1 ) , M 2 ( x1 )  Q 3 ( x1 )  m 2 ( x1 ) .

Mit der Definition für die Schnittlasten Q 3 ( x1 )  GA [ w S ( x1 )   2 ( x1 )] , M 2 ( x1 )  EI 22  2 ( x1 ) ,

liefern die Gleichgewichtsbedingungen GA [ w S ( x1 )   2 ( x1 )]  kw S ( x1 )   q 3 ( x1 ) , EI 22  2 ( x1 )  GA [ w S ( x1 )   2 ( x1 )]   m 2 ( x1 ) .

Das sind zwei inhomogene gewöhnliche Differenzialgleichungen 2. Ordnung für die Verformungsgrößen wS(x1) und 2(x1). Die Lösung dieses Gleichungssystems setzt sich im Sinne des Superpositionsprinzips additiv aus den allgemeinen Lösungen der homogenen Differenzialgleichungen GA [ w S , h ( x 1 )   2 , h ( x 1 )]  kw S, h ( x 1 )  0 , EI 22  2 , h ( x 1 )  GA [ w S, h ( x 1 )   2 , h ( x 1 )]  0 ,

und Partikularintegralen der inhomogenen Differenzialgleichungen

GA[ wS , p ( x1 )  2, p ( x1 )]  kw S, p ( x1 )  q 3 ( x1 ) , EI222 , p ( x1 )  GA[ wS, p ( x1 )   2, p ( x1 )]  m 2 ( x1 ) zusammen. Wir beschaffen uns zunächst die Lösungen des homogenen Problems. Mit den Abkürzungen x 1   ,  

k 2 ,  2GA

GA 2 2 EI 22

erhalten wir die normierten homogenen Differenzialgleichungen w S , h ( )   2, h ( )  2  2 w S, h ( )  0 ,  2 , h ()  2 2 [1 /  w S, h ( )   2, h ()]  0 .

Mit komplexwertigen Konstanten C1 – C4 liefert uns Maple folgende Lösungen: w S, h (  )  

 13 C1 exp(  1 )  C 2 exp( 1 )      ( 2  ) 2  32 C 3 exp(   2  )  C 4 exp(  2  )   

 2 , h (  )  C1 exp(  1 )  C 2 exp( 1 )  C 3 exp(   2  )  C 4 exp(  2  )

7.1 Der elastisch gebettete Timoshenko-Balken M 2, h ()  

217

EI 22  1 C1 exp(  1 )  C 2 exp( 1 )         2 C 3 exp(   2  )  C 4 exp(  2  )  

  14  C exp(  1)  C 2 exp( 1 )    1  2 1   ( 2 )  . Q 3, h ( )  GA   4      2  1  ( 2 ) 2 C 3 exp(   2  )  C 4 exp(  2  )     

Darin bedeuten ( i 2  1 ): 1    i ,  2    i ,  

 2  2  1 ,   . 2  1 ,   2 2 

Die Lösungen können nur dann reell sein, wenn die Konstanten C3 und C1 bzw. C4 und C2 jeweils konjugiert komplex gewählt werden. Mit neuen, jetzt reellwertigen Konstanten, erhalten wir dann   ( 2  3 2 )C1 cos   C 2 sin     exp( )     ( 2 ) 2  ( 2  3 2 )C1 sin   C 2 cos      ( 2  3 2 )C 3 cos   C 4 sin      exp( )    , ( 2 ) 2  ( 2  3 2 )C 3 sin   C 4 cos   

w S, h (  )  



 2 , h (  )  exp(   )C1 cos   C 2 sin    exp(  )C 3 cos   C 4 sin   .

Hinweis: Zur Lösung des homogenen Differenzialgleichungssystems werden beide Gleichungen entkoppelt. Das führt in unserem Fall auf zwei identisch aufgebaute Differenzialgleichungen 4. Ordnung für die Verformungsgrößen wS und 2. Der Ansatz 2 = exp(x1) führt auf die charakteristische Gleichung 4 – 22 (2 – 22) = 0, deren Lösungen i (i = 1…4) in der komplexen Ebene auf einem Kreis mit dem Radius r  4 k / EI 22 liegen. Mit bekanntem Drehwinkel 2 folgt dann die Stabachsverschiebung zu w S ( x 1 )   2( x 1 ) /( 2 ) 2 . Beispiel 7-1:

Abb. 7.2 Der unendlich lange Timoshenko-Balken unter einer Einzelkraft F

218

7 Der elastisch gebettete Balken

Für den unendlich langen Balken nach Abb. 7.2, der bei x1 = 0 durch eine Einzelkraft F belastet wird, sind sämtliche Zustandsgrößen zu berechnen. Lösung: Aus Symmetriegründen darf am halben System gerechnet werden. Da außerdem die Zustandsgrößen für x1   endlich bleiben müssen, verbleiben von der allgemeinen homogenen Lösung mit C3 = C4 = 0 die Verformungsgrößen w S, h ( x 1 )  

  ( 2  3 2 )C1 cos  x 1  C 2 sin  x1      exp( x )  , 1   ( 2  3 2 )C1 sin  x1  C 2 cos  x1   ( 2 ) 2 1

 2 , h ( x 1 )  exp(   x 1 )C1 cos  x 1  C 2 sin  x 1  .

Aus Symmetriegründen verschwindet an der Stelle x1 = 0 der Drehwinkel , was C1 = 0 erforderlich macht. Damit haben wir w S, h ( x 1 ) 

C2 ( 2  ) 2





exp(   x 1 )  (  2  3 2 ) sin  x 1   ( 2  3 2 ) cos  x 1 ,

 2 , h ( x 1 )   C 2 exp(   x 1 ) sin  x 1 .

Die verbleibende Konstante C2 wird aus der Forderung bestimmt, dass die Querkraft unmittelbar rechts von der Stelle x = 0 gerade –F/2 betragen muss, also Q 3 ( x1  0  )   F / 2 , was C2  

F  2 2 F  2 GA  ( 2   2 ) 4 GA

2 2  1

.

erforderlich macht. Damit erhalten wir die vollständige Lösung der Verformungsgrößen w S, h ( x 1 ) 

2 2 F 2 exp(   x 1 )  cos  x 1  sin  x 1  , 8GA    1   1

 2, h ( x1 ) 

F 4 GA

2 2  1

exp(   x 1 ) sin  x 1 .

Die größte Verschiebung tritt an der Stelle x1 = 0 auf. Dort ist w S, h ( x 1  0 )  F 2

2

8GA 

 1

.

Die Nullstellen der Verschiebung wS,h liegen bei x 1* 

2 1  n   arctan  2

 1  1   3 1 3  O    ,   n    1    4 2  

( n  1, 2 ,3 ).

Sämtliche aufeinanderfolgende Nullstellen haben den konstanten Abstand  x 1*   /  . Zwischen der ersten (n = 1) und zweiten Nullstelle (n = 2) wird die Verschiebung negativ. Der Balken hebt von der Unterlage ab, und der Boden wird auf Zug beansprucht, was praktisch nicht möglich ist. Das ist ein kleiner Nachteil dieser Theorie, allerdings ist zu beachten, dass

7.1 Der elastisch gebettete Timoshenko-Balken

219

sämtliche Zustandsgrößen exponentiell abklingen. Beispielsweise beträgt die Verschiebung an der Stelle x1 =  wegen w S, h ( x 1   /  ) w S, h ( x 1  0 )

 1 2  exp(   /  )  exp(   ) 1    O   ,   

nur noch etwa 4,3% der größten Verschiebung an der Stelle x1 = 0. Mit wS,h(x1) liegt auch der Bodendruck qB fest. Wir erhalten q B ( x 1 )  kw S, h ( x 1 ) 

2 2 F 2 sin  x 1  . cos  x 1  exp(   x 1 )  4   1   1

Unter Beachtung der uneigentlichen Integrale 



exp(   x1 ) cos  x1 dx 1 

x1  0

 2

 



,

 exp( x ) sin x dx 1

1

1



x1  0

  2

liefert die Integration der Bodenpressung längs der positiven x1-Achse mit 

q

B ( x1 ) dx 1

x1  0



F 2

selbstverständlich das Gleichgewicht zwischen der äußeren eingeprägten Belastung F und der resultierenden Bodenreaktionskraft qB. Für die Schnittlasten folgt: Q 3 ( x 1 )  GA [ w S, h ( x 1 )   2 , h ( x 1 )]  

M 2 ( x 1 )  EI 22  2 , h ( x 1 ) 

 F exp(   x 1 )  cos  x 1  2 

F 2 1 exp(   x 1 )  cos  x 1  4   1

 sin  x 1  ,   1 1

2

1  1

sin  x 1  . 

Das größte Moment tritt unter der Einzelkraft an der Stelle x1 = 0 auf. Dort ist M 2 ( x1  0) 

F 2 .  4  1

In Abb. 7.3 und Abb. 7.4 sind die bezogenen Zustandsgrößen für die Systemwerte k = 10000, EI22 = 1620, GA = 27000 grafisch dargestellt. Damit erhalten wir die Parameter 



k  0, 430 ,   2 GA

GA 2  2,887 ,    13,416 ,  2 EI 22

  2   1  1,072 . 2   1  1,155 ,   2 2

220

7 Der elastisch gebettete Balken

Die größte bezogene Verschiebung errechnet sich zu GA  2 2  0,718 . w S, h ( x 1  0 )  F 8  1

Abb. 7.3 Bezogene Verformungsgrößen (k = 10000, EI22 = 1620, GA = 27000)

Abb. 7.4 Bezogene Schnittlasten (k = 10000, EI22 = 1620, GA = 27000)

7.1 Der elastisch gebettete Timoshenko-Balken

221

Der erste Nulldurchgang der Verschiebung (n = 1) liegt bei x 1* 

2 1    arctan  2

 1    2,094 . Das größte Moment unterhalb der Einzelkraft ist  1 

 2  0,093 . M 2 ( x1  0)  F 4  1



Wir wenden uns nun den partikulären Lösungen an einem endlichen Balken zu, wobei wir uns auf die für die Praxis wichtigen Fälle einer linear veränderlichen Linienkraft und einer Einzelkraft beschränken.

Abb. 7.5 Timoshenko-Balken unter Linienkraft- und Einzelkraftbelastung, partikuläre Lösungen

Wir beschaffen uns zunächst Partikularintegrale für den Balken in Abb. 7.5 (links) unter einer linear veränderlichen Linienkraftbelastung q 3 ( )  q   ( q r  q  ) mit  = x1/. Die Verformungsgrößen müssen die Differenzialgleichungen w S , p ( )    2 , p ( )  2  2 w S, p (  ) 

2 q 3 ()  0 , GA

 2 , p ( )  2 2 [1 /  w S, p ( )   2 , p ( )]  0

erfüllen. Wie durch Ausrechnen leicht betätigt werden kann, sind w S, p ( ) 

1 2 q   ( q r  q  )   , 2  2 GA

 2, p ( )  

1  (q r  q  ) . 2  2 GA

Lösungen des obigen Gleichungssystems. Die Einzelkraft F in Abb. 7.5 (rechts) deuten wir (s.h. Beispiel 6-3) wieder als Linienkraft q 3 ( x1 ) 

F Dirac (    ) 

( = e/)

mit der Resultierenden F. Maple liefert uns folgende Partikularintegrale   1 F 2 w S, p ( )  H (   )  4 GA   

2

cosh  (   ) sin (  )   , sinh  (   ) cos (   )    1

 1 2

222

7 Der elastisch gebettete Balken  2, p () 

1 F 2 H (   ) sinh  (    ) sin  (    ) . 2 GA  2  1

Die vollständige Lösung setzt sich aus den Partikularintegralen (Index p) und den Lösungen des homogenen Differenzialgleichungssystems (Index h) zusammen. Mittels der vier Konstanten ist sodann die vollständige Lösung an die Randbedingungen anzupassen. Beispiel 7-2:

Abb. 7.6 Der elastisch gebettete Timoshenko-Balken unter Linien- und Einzelkraftbelastung

Der elastisch gebettete Timoshenko-Balken in Abb. 7.6 wird durch eine konstante Linienkraft q0 und eine Einzelkraft F belastet. Gesucht werden sämtliche Zustandsgrößen. Geg.:  = 6, e = 2, F = 80, q0 = 50, k = 10000, EI22 = 1620, GA = 27000. Lösung: Wir verzichten auf die umfangreiche analytische Darstellung der Zustandsgrößen und stellen die Ergebnisse in Abb. 7.7 und Abb. 7.8 lediglich grafisch dar und verweisen im Übrigen auf das entsprechende Maple-Arbeitsblatt.

Abb. 7.7 Verformungsgrößen wS() und 2()

7.2 Der elastisch gebettete Bernoulli-Balken

223

Abb. 7.8 Schnittlasten M2() und Q3()

7.2

Der elastisch gebettete Bernoulli-Balken

Wesentlich übersichtlicher gestaltet sich die Lösung für den elastisch gebetteten BernoulliBalken. Bei Vernachlässigung der Schüttmomentenbelastung m2(x1) verbleibt nach Kap. 6.4.1 die gewöhnliche Differenzialgleichung vierter Ordnung

EI22 w SIV ( x1 )  kw ( x1 )  q 3 ( x1 ) . Mit der dimensionslosen Koordinate  = x/ und der Abkürzung

4

k 4 4EI 22

geht die obige Gleichung über in

w SIV ()  44 w S () 

q3 () 4 , EI22

deren allgemeine Lösung wieder die Form w S ()  w S, h ()  w S, p () hat. Die homogene Differenzialgleichung w SIV, h ()  44 w S, h ()  0

hat die Lösung w S, h ()  exp(  )C1 sin   C 2 cos    exp(  )C3 sin   C 4 cos   .

224

7 Der elastisch gebettete Balken

Eine Umformung unter Beachtung von exp()  cosh   sinh  liefert mit neuen Konstanten die Darstellung w S, h ()  A sin   B cos   cosh   C sin   D cos   sinh  .

Sind die Verschiebungen der Stabachse bekannt, dann folgen die Schnittlasten durch Differenziation aus den bekannten Beziehungen M 2 ( x1 )  EI 22 w S ( x1 ) ,

Q3 ( x1 )  EI 22 w S( x1 ) .

Beispiel 7-3: Für den unendlich langen elastisch gebetteten Bernoulli-Balken unter Einzelkraftbelastung sind sämtliche Zustandsgrößen zu ermitteln. Lösung: Wir rechnen wieder am halben System und beachten, dass die Zustandsgrößen für x1   endlich bleiben müssen. Damit verbleibt von der allgemeinen homogenen Lösung mit C3 = C4 = 0 die Verschiebung w S, h ( x1 )  exp( x1 )C1 sin x1  C 2 cos x1  ,

4

k 4EI 22

mit der Ableitung w S, h ( x1 )   exp( x1 )C1 sin x1  cos x1   C 2 sin x1  cos x1  .

Da aus Symmetriegründen an der Stelle x = 0 die Neigung der Tangente an die Biegelinie verschwinden muss, erfordert dies w S, h ( x1  0)  0  C1  C 2 

 C1  C 2 .

Damit folgen die höheren Ableitungen w S, h ( x1 )  2C 22 exp(x1 )sin x1  cos x1  , w S, h ( x1 )  4C23 exp(x1 ) cos x1 .

Die verbleibende Konstante C2 wird wieder aus der Forderung bestimmt, dass die Querkraft rechts von der Stelle x = 0 gerade –F/2 betragen muss, also Q 3 ( x 1  0  )   EI 22 w S, h ( x 1  0  )   F / 2 ,

was beim Bernoulli-Balken C2 

F 8 EI 22 3

erforderlich macht. Damit erhalten wir abschließend die Zustandsgrößen:

7.2 Der elastisch gebettete Bernoulli-Balken

w S, h ( x 1 ) 

F 2 8EI 22 3

w S, h ( x1 )  

M 2, h ( x1 )  

225

exp( x1 ) sin x1   / 4  ,

F 4EI 222

exp(x1 ) sin x1 ,

F 2 exp(   x 1 ) sin  x1   / 4  , 4

F Q3, h ( x1 )   exp( x1 ) cos x1 . 2

Die größte Verschiebung tritt an der Stelle x1 = 0 auf. Dort ist w S, h ( x 1  0 ) 

F 8 EI 22 3

.

Die Nullstellen der Verschiebung wS,h liegen bei x 1* 

 ( 4 n  1) , 4

( n  1, 2 ,3 ),

und aufeinanderfolgende Nullstellen haben den konstanten Abstand  x 1*  3  /( 4  ) . Das größte Moment tritt unter der Einzelkraft an der Stelle x1 = 0 auf. Dort ist M 2 ( x1  0) 

F . 4

Mit den Systemwerten k = 10000 und EI22 = 1620 aus Beispiel 7-1 ist   4

k  1,115 , 4 EI 22

und die größte bezogene Verschiebung des Bernoulli-Balkens errechnet sich damit zu EI 22 3 ( B ) 1 w S, h ( x 1  0 )   0,125 . Der vergleichbare Wert für den Timoshenko-Balken ist F 8

EI 22 3 ( T ) w S, h ( x 1  0 )  0,1386 , der damit um etwa 11% größer ausfällt als derjenige des F

schubstarren Bernoulli-Balkens. Das größte bezogene Biegemoment für den BernoulliBalken ist  (B) 1 M 2 , h ( x1  0)   0,25 . Entsprechend erhalten wir für den Timoshenko-Balken das um F 4  etwa 4% kleinere Biegemoment M (2T, h) ( x 1  0 )  0,24 .  F

Von praktischem Interesse sind noch die partikulären Lösungen einer linear veränderlichen Linienkraft und einer Einzelkraft. Für den Balken in Abb. 7.5 (links) unter einer linear ver-

226

7 Der elastisch gebettete Balken

änderlichen Linienkraftbelastung q 3 ( )  q   (q r  q  ) mit  = x1/ muss das Partikularintegral die Differenzialgleichung

w SIV, p ()  44 w S, p () 

q 3 () 4 EI 22

erfüllen. Wie durch Ausrechnen leicht bestätigt werden kann, ist w S, p (  ) 

1 4 q   (q r  q  )  , 4 EI 22 4

eine Lösung des inhomogenen Gleichungssystems. Die Einzelkraft F in Abb. 7.5 (rechts) deuten wir (s.h. Beispiel 6-3) wieder als Linienkraft q 3 () 

F Dirac (    ) 

( = e/)

mit der Resultierenden F. Maple liefert uns das folgende Partikularintegral w S, p ( ) 

1 F 3 H (   )cosh  (    ) sin  (    )  sinh  (    ) cos  (    )  . 4 EI 22 3

Die vollständige Lösung setzt sich additiv aus den Partikularintegralen (Index p) und den Integralen der homogenen Differenzialgleichungen (Index h) zusammen. Mittels der vier freien Konstanten ist die vollständige Lösung an die Randbedingungen anzupassen. Beispiel 7-4:

Abb. 7.9 Der beidseits frei gelagerte elastisch gebettete Bernoulli-Balken

Stellen Sie eine Maple-Prozedur zur Verfügung, mit deren Hilfe die Zustandsgrößen eines elastisch gebetteten Bernoulli-Balkens berechnet und grafisch dargestellt werden können. Wenden Sie die Prozedur auf den beidseits frei gelagerten Balken in Abb. 7.9 an. Lösungshinweise: Die Belastungen bestehen aus zwei Einzelkräften, einem Einzelmoment und einer linear veränderlichen Linienkraft. Die Linienkraft wird als stückweise stetige Funktion mittels der Heaviside-Funktion ausgedrückt (s.h. (Mathiak, 2012), Abb. 7.28). Die an den Stellen  = 

7.2 Der elastisch gebettete Bernoulli-Balken

227

wirkenden singulären Lasten Einzelkraft und Einzelmoment deuten wir als Linienkräfte q3 mit den Resultierenden F bzw. M: Einzelkraft: q 3 (, ) 

F M Dirac (  ) , Einzelmoment: q 3 (, )  2 Dirac (1,   ) .  

Die Balkenenden sind frei gelagert, deshalb müssen dort die Biegemomente M2 und die Querkräfte Q3 verschwinden, also: M 2 (  0,1)  0  w S (  0,1), Q3 (  0,1)  0  w S(  0,1) .

Beispiel 7-5:

Abb. 7.10 Schwimmender Balken unter konstanter Linienkraftbelastung

Wird der elastisch gebettete Balken durch eine konstante Linienkraft q3() = q0 beansprucht, etwa die Eisscholle in Abb. 7.10, dann verbleibt die Differenzialgleichung

w SIV ()  44 w S () 

q 0 4 . EI 22

Sie hat die allgemeine Lösung w S () 

q 0 4  exp(   )C1 sin   C 2 cos    exp(  )C 3 sin   C 4 cos   . k

An den freien Balkenenden müssen die Biegemomente und Querkräfte verschwinden, womit wir die konstante Verschiebung w S () 

q0 k

errechnen.



8

Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

Unter dünnwandigen Querschnitten verstehen wir Profile, deren Dicken t im Vergleich zu den übrigen Querschnittsabmessungen gering sind. Wir unterscheiden zwischen 1. offenen (verzweigten, unverzweigten) Profilen, 2. geschlossenen (einzelligen, mehrzelligen) Profilen und 3. gemischten Profilen.

Abb. 8.1 Offene, geschlossene und gemischte Profile

Da wir bei der Herleitung der maßgebenden Grundgleichungen für Vollquerschnitte hinsichtlich der Querschnittsform keine Einschränkungen gemacht haben, können wir die dort bereitgestellten Lösungsmethoden auch für dünnwandige Querschnitte verwenden.

8.1

Dünnwandige offene Profile

Zur geometrischen Beschreibung des Querschnitts führen wir als natürliche Koordinate die in der Querschnitts-Mittellinie verlaufende Bogenlänge s ein (Abb. 8.2). Den Querschnitt beschreiben wir durch die kartesischen Koordinaten x2(s), x3(s) und die i. Allg. von der Bogenlänge s abhängende Querschnittsdicke t(s). Die planaren Achsen sind die Zentralachsen (ZA) des Querschnitts, und die axialen Flächenträgheitsmomente errechnen sich in bekannter Weise zu I 22 



L

x 32 dA 

(A)



x 32 (s ) t (s ) ds , I 33 

s0



L

x 22 dA 

(A)

x

s0

2 2 (s ) t (s ) ds

.

230

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

Für das Deviationsmoment erhalten wir I 23  

x

(A)

L

2

x 3 dA  

x

2 (s ) x 3 (s ) t (s ) ds

.

s0

Der planare Einheitsvektor es tangiert an der Stelle s die Querschnitts-Mittellinie. Wegen sin  (s ) 

dx 3 (s ) dx (s ) und cos  (s )  2 gilt: ds ds

e s  e 2 cos  (s )  e 3 sin  (s ) 

d rp (s ) d , ( x 2 e 2  x 3e 3 )  ds ds

es  1 .

Für die folgende Schubspannungsberechnung unterstellen wir: 1. Der Balken ist prismatisch. 2. Die Schubspannungen 1s sind über die Querschnittsdicke t(s) konstant verteilt. 3. Die Schubspannungen verlaufen parallel zur Querschnitts-Mittellinie.

Abb. 8.2 Dünnwandiger offener Querschnitt

Bei dünnwandigen Querschnitten verlaufen die Schubspannungen dann auch näherungsweise parallel zu den Mantelflächen, womit deren Schubspannungsfreiheit sichergestellt ist. Mit den getroffenen Annahmen vernachlässigen wir die Schubspannungen senkrecht zur Querschnitts-Mittellinie, die sich aufgrund der geringen Wandstärke ohnehin nur in unwesentlicher Größenordnung ausbilden können. Neben den Schubspannungen 1s, für die nach dem Satz von den zugeordneten Schubspannungen 1s = s1 gilt, treten dann nur noch Normalspannungen 11 auf. Die Ermittlung der Schubspannungen erfolgt wieder durch Gleichgewichtsbetrachtungen allein. Dazu denken wir uns ein Element aus einem prismatischen Balken herausgeschnitten (Abb. 8.3). Beschränken wir uns von vornherein auf lineare Zuwächse, dann liefert das Kraftgleichgewicht in 1-Richtung: 11 ( x 1 , rp )  s1 ( x 1 , s ) t (s ) ds  t (s ) ds  0 . s x 1

8.1 Dünnwandige offene Profile

231

Abb. 8.3 Spannungszustand am Element eines dünnwandigen Balkenquerschnitts

Führen wir die als über die Querschnittsdicke t(s) konstant unterstellte Schubspannung s1(x1,s) zum Schubfluss T ( x1 , s )   s1 ( x1 , s ) t (s )

zusammen, dann erhalten wir nach Division mit dx1 und anschließender Integration T ( x 1 , s )  ds  11 t (s ) ds  0 ,  T ( x 1 , s )   s x 1

[T ] 

Masse ( Zeit ) 2

,

s



s 0

11 t ( s ) d s  T1 ( x 1 ) . x1

Einheit: kg s-2 = N/m.

Die Funktion T1(x1) verschwindet, wenn der Rand s = 0 frei von Schubspannungen ist (freier Rand). Für den Fall der reinen Biegung lautet bekanntlich die Normalspannungsverteilung (s.h. Kap. 6.4.3) 11 ( x1, rp ) 

M 2 ( x1 ) I33  M 3 ( x1 ) I 23 M ( x ) I  M 3 ( x1 ) I 22 x 3  2 1 23 x2 . I I

Bei fehlender Momentenschüttung verbleiben nach Kap. 6.2 die lokalen Gleichgewichtsbedingungen M2 ( x1 )  Q3 ( x1 ) , M3 ( x1 )  Q 2 ( x1 ) .

Dann ist

Q ( x ) I  Q2 ( x1 ) I 22 11 Q3 ( x1 ) I33  Q2 ( x1 ) I 23 x2 , x 3  3 1 23  I I x1 und die Integration ergibt (T1 = 0) Q ( x ) I  Q 2 ( x 1 ) I 23   Q 3 ( x 1 ) I 23  Q 2 ( x 1 ) I 22  S (s ) , T ( x 1 , s )    3 1 33  S 2 (s )    3 I I 

232

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

womit dieses Ergebnis identisch ist mit demjenigen für den Vollquerschnitt. In der obigen Beziehung bezeichnen die Integrale s

s

S 2 (s ) 



x 3 (s ) t(s ) ds ,

s 0

S 3 (s ) 

x

2 (s ) t(s ) d s

s 0

die statischen Momente der Fläche zwischen s  0 und s  s . Sind die Achsen x2 und x3 die Hauptzentralachsen des Querschnitts, dann vereinfachen sich die obigen Gleichungen und wir erhalten für den Schubfluss (T1 = 0): Q (x )  Q (x )  T ( x 1 , s )    3 1 S 2 (s )  2 1 S 3 (s )  . I 33  I 22 

In der Praxis treten häufig zusammengesetzte Profile auf (Abb. 8.4), deren QuerschnittsMittellinien verzweigen. In solchen Fällen ist dann für jeden Abschnitt ein verzweigendes, lokales Koordinatensystem si einzuführen. Diese Koordinaten werden so gewählt, dass zu Beginn der Integration die Schubspannungen bekannt sind. Das ist in der Regel an den Rändern des Querschnitts der Fall.

Abb. 8.4 Dünnwandiger verzweigender Querschnitt mit Koordinaten si

Hinsichtlich des Vorzeichens der Schubspannungen ist folgendes zu sagen: Sind an einem positiven Schnittufer bei positiven Querkräften Q3 und Q2 die statischen Momente positiv, so wirkt die Schubspannung  bzw. der Schubfluss T entgegengesetzt zur positiv eingeführten Richtung der lokalen Koordinate s. Beispiel 8-1:

Abb. 8.5 Unverzweigtes offenes Profil

8.1 Dünnwandige offene Profile

233

Für den oben skizzierten Querschnitt sind die Schubspannungen aus einer Querkraft Q3 zu berechnen. Lösung: Die Achsen x2 und x3 stellen die Hauptzentralachsen des Querschnitts dar, und da nur eine Querkraft Q3 wirkt, berechnen wir den Schubfluss aus den Beziehungen T (s )  

s

Q3 S 2 (s ) , I 22

x

S 2 (s ) 

3 (s ) t (s ) d s

.

s 0

Bei der Berechnung des Flächenträgheitsmomentes I22 vernachlässigen wir das Eigenträgheitsmoment des Querschnitts  und erhalten näherungsweise I 22  2

th 3 h 2 h 2 5 3  2 th    2 ht    th . 12 12 4 4

Wir werten das Integral S2(s) für die einzelnen Profilabschnitte mit konstanter Dicke t aus.

Abb. 8.6 Lokale Koordinaten si zur Berechnung des statischen Momentes S2

Bereich I: 0  s1  h , x 3 (s1 )  s1

S (2I ) (s1 )





3 h  s1 , t (s1 )  t . 4

1 x 3 ( s1 ) t ( s1 ) d s1  ht 4

s1  0

s1



s1  0

 3  4 s1  d s  1 h 2 t s1  3  2 s1  , S( I ) (s  h )  1 h 2 t .   1   1 2 4 h 4 h h 

Das statische Moment ist somit parabolisch verteilt. Der Größtwert wird in der Stabachse angenommen, hier gilt: S(2I ) (s1  3 / 4 h ) 

9 2 h t. 32

1 4

Bereich II: 0  s 2  2 h , x 3 (s 2 )   h , t (s 2 )  t . s2

S (2II ) (s 2 )  S (2I ) (s1  h ) 



x 3 ( s2 ) t ( s2 ) d s2 

s2  0

S (2II ) (s 2  h )  0 , S(2II ) (s 2  2 h )  

1 2 1 h t  ht 4 4

1 2 h t. 4

Bereich III: 0  s 3  h , x 3 (s 3 )  s 3 

1 h , t (s 3 )  t . 4

s2

 ds

s2  0

2



1 2  s2  h t 1   , 4 h  

234

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten s3

S (2III ) (s 3 )  S (2II ) (s 2  2 h ) 



x 3 ( s3 ) t ( s3 ) d s3  

s3  0



1 2 1 h t  ht 4 4

s3



s3  0

 4 s3  1  d s   3  h 

2

 1 2  s3 s h t   2 3   1. 4 h h    

S (2III ) (s 3  h )  0 , S(2III ) (s 3  1 / 4 h )  

9 2 h t. 32

Abb. 8.7 Statisches Moment S2(s) und Schubfluss T(s)

Der Schubfluss selbst berechnet sich in jedem Fall zu T (s )   Q 3 S 2 (s )   12 S 2 (3s ) Q 3 (s ) . I 22

5 th

Der auf einen Steg entfallende Querkraftanteil muss aus Symmetriegründen gerade Q3/2 entsprechen, was auch mit h

Q 3( III ) 



T ( III ) (s 3 ) ds 3  

s3 0

Q3 I 22

h



S(2III) (s 3 ) ds 3 

s3 0

Q 3h 2 t 4 I 22

h



s3 0

 s 3  2 s 3   1 ds  Q 3    3  h 2 h 

bestätigt wird. Hinweis: In technischen Darstellungen ist es üblich, beim Schubfluss bzw. der Schubspannung auf die Angabe des Vorzeichens zu verzichten und deren Wirkungsrichtung durch Pfeile kenntlich zu machen (Abb. 8.7, rechts). Beispiel 8-2: Für den in Abb. 8.8 skizzierten Querschnitt sind die Schubspannungen infolge einer Querkraft Q3 = 1 kN zu berechnen (s. h. auch Beispiel 8-7). Lösungshinweis: Die Achsen x2, x3 sind wegen I 23  0 keine Hauptzentralachsen. Da nur eine Querkraft Q3 vorhanden ist, wird in diesem Fall der Schubfluss aus der Beziehung T (s )  

Q3 I 33 S 2 (s )  I 23S 3 (s )  . I

berechnet. Der Schubspannungsverlauf kann der Abb. 8.8 entnommen und mit einer eigenen Rechnung verglichen werden.

8.1 Dünnwandige offene Profile

235

Abb. 8.8 Ungleichschenkliger Winkelstahl (Längen in cm, Schubspannungen in N/cm2)



8.1.1

Der Schubmittelpunkt

Abb. 8.9 Der Schubmittelpunkt M

Im vorigen Abschnitt wurden die Querschnitts-Schubspannungen so ermittelt, dass deren Resultierende der Querkraft Q statisch äquivalent war. Statische Äquivalenz bedeutet aber zusätzlich, dass die Summe der Momente der aus den Schubspannungen resultierenden Elementarkräfte T ( s ) ds e s bezogen auf einen beliebigen Punkt der Querschnittsebene identisch ist mit dem Moment der Querkraft Q bezogen auf denselben Punkt. Wählen wir als Bezugspunkt den Flächenmittelpunkt S, dann muss L

rM  Q 

 r(s)  T (s) ds e

s

s0

erfüllt sein (Abb. 8.9). Aus dieser Gleichung lassen sich die Koordinaten des Schubmittelpunktes M, der auch Querkraftmittelpunkt oder Drillruhepunkt genannt wird, wie folgt ermitteln. Die in der obigen Beziehung aus den Kreuzprodukten resultierenden Vektoren haben

236

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

jeweils nur eine Komponente in Richtung der Balkenachse. Die Skalarmultiplikation mit dem Einheitsvektor e1 liefert auf der linken Seite 1 e1  rM  Q   0 0

0 x 2,M Q2

0 x 3, M  x 2 , M Q 3  x 3, M Q 2 Q3

und die rechte Seite wird unter Berücksichtigung von r  n  r L

e1 



L

r  T ds e s 

s0

 r  es  e1T ds 

s0

L



L

r  n T ds 

s0

 r T ds . 

s0

Beziehen wir uns im Folgenden auf ein Hauptzentralachsensystem, dann ist Q (x )  Q (x )  T ( x 1 , s )    3 1 S 2 (s )  2 1 S 3 (s )  , I 33  I 22 

und wir erhalten x 2 , M Q 3  x 3, M Q 2  

Q 3 ( x1 ) I 22

L



r (s )S 2 (s ) ds 

s0

Q 2 ( x1 ) I 33

L

 r S (s) ds .  3

s0

Für beliebige Querkraftkombinationen Q3, Q2 ist diese Gleichung nur erfüllt, wenn gilt: x 2, M  

1 I 22

L



r (s )S 2 (s ) ds ,

s0

x 3, M 

1 I 33

L

r

 (s )S 3 (s ) ds

.

s0

Wie wir den obigen Beziehungen entnehmen können, sind die Koordinaten des Schubmittelpunktes durch die Querschnittsgeometrie festgelegt, zu deren Berechnung folgende Hinweise nützlich sein können: 1. Hat ein Querschnitt eine Symmetrieachse, dann liegt der Schubmittelpunkt auf der Symmetrieachse. 2. Für doppeltsymmetrische Querschnitte fällt der Schubmittelpunkt mit dem Flächenmittelpunkt S zusammen. In Abb. 8.10 sind für einige Fälle sich kreuzender schmaler Rechtecke die Lagen der Schubmittelpunkte qualitativ angegeben.

Abb. 8.10 Lage der Schubmittelpunkte bei sich kreuzenden schmalen Rechtecken

8.1 Dünnwandige offene Profile

237

Hinweis: In dünnwandigen Querschnitten, und hier insbesondere bei offenen Querschnitten, können die Schubspannungen aus einer Querkraft Größenordnungen annehmen, die denen von Biegespannungen vergleichbar sind. Sie dürfen deshalb nicht vernachlässigt werden, wie das vielfach bei dickwandigen Querschnitten zulässig ist. Beispiel 8-3:

Abb. 8.11 U-Profil, Statische Momente S2(s) und bezogener Schubfluss T(s)

Für das in Abb. 8.11 skizzierte U-Profil (Breite b, Höhe h, Dicke t,  = b/h) sind die Schubspannungen aus einer Querkraft Q3 und die Koordinaten des Schubmittelpunktes M zu ermitteln. Lösung: Den Schubfluss ermitteln wir aus der Beziehung T (s )  

Q3 S 2 (s ) . I 22

Das Flächenträgheitsmoment I22 berechnen wir näherungsweise unter Vernachlässigung der Eigenträgheitsmomente der Gurte zu h 2 th 3 1 3 I 22  2 tb     th (1  6 ) . 12 12 2

1 1 ths 1 , S 2 (s1  b )  tbh , 2 2 Q 3 6 Q 3 6s1 , T (s1  b )   . T (s1 )   2 h 1  6 h 1  6 1 1 Bereich II: ( 0  s 2  h ), S 2 (s 2 )  tbh  ts 2 ( h  s 2 ) , 2 2 1 1 2 S 2 (s 2  h / 2 )  th (1  4 ) , S 2 (s 2  h )  tbh , 2 8

Bereich I: ( 0  s1  b ), S 2 (s1 ) 

238

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

3Q 1  4 6Q  6 Q 3  h 2  s 2 h  s 22 , T (s 2  h / 2 )   3 , T (s 2  h )   3 . 2 h 1  6 h 1  6 1  6 h3 1 1 Bereich III: ( 0  s 3  b ), S 2 (s 3 )  tbh  ths 3 , S 2 (s 3  b )  0 . 2 2 6Q 3  h  s 3 , T (s 3  b )  0 . T (s 3 )   2 h 1  6 T (s 2 )  

Aufgrund der Symmetrie des Querschnitts liegen der Flächenmittelpunkt S und der Schubmittelpunkt M mit x 2, M  

1 I 22

L

r

 (s )S 2 (s ) ds

s0

auf der x2-Achse. Aus rechentechnischen Gründen beziehen wir uns nicht auf das Hauptzentralachsensystem mit dem Ursprung in S, sondern auf das horizontal in die Stegmittellinie verschobene ~x 2 , ~x 3 -System. An den Grundgleichungen ändert sich damit nichts, allerdings vereinfacht sich durch diesen Trick die Berechnung der Koordinate des Schubmittelpunktes. Zur Auswertung des obigen Integrals benötigen wir die Hebelarme ~r (s ) der Schubkräfte ~

bezüglich des Punktes 0 in Abb. 8.12.

Abb. 8.12 Der Schubmittelpunkt M

Im Einzelnen sind: n 1  e s ,1  e1  e 3 , n 2  e s , 2  e1   e 2 , n 3  e s , 3  e1   e 3 ,

~r (s )  ~ r ( s1 )  n 1  h / 2 ,  1 ~r ( s )  ~ r (s 2 )  n 2  0 ,  2 ~r (s )  ~ r (s )  n  h / 2 . 

3

3

3

Damit erhalten wir die Koordinate des Schubmittelpunktes

8.1 Dünnwandige offene Profile 1 ~ x 2, M   I 22 

239

b  b  ~r (s )S (s ) ds   1  ~r (s )S (s ) ds  ~r (s )S ( s ) ds    1  3 2 2 1 2 3  I 22  s0 s3 0  s1  0  L







b b  th 2  tb 2 h 2 b 6  s1ds 1  ( b  s 3 ) ds 3    .  4 I 22  4 I 22 2 1  6 s3 0  s1  0 





Speziell gilt für  = 1/2: ~x 2 , M   3 / 8 b . 



Hinweis: Wie wir gesehen haben, ist der Schubmittelpunkt M derjenige Punkt des Querschnitts, in dem die Querkraft Q als Resultierende der Querschnitts-Schubspannungen zur Verfügung gestellt wird. Damit der Querschnitt nicht verdreht (tordiert) wird, muss sichergestellt werden, dass die Ebene, in der die äußeren Lasten wirken und aus der Q ermittelt wurde, durch den Schubmittelpunkt M verläuft (Abb. 8.13). Zu den äußeren Lasten gehören am freigeschnittenen System selbstverständlich auch die Lagerreaktionsgrößen.

Abb. 8.13 Verdrehungsfreie Lagerung eines U-Profils

Verläuft dagegen an einem freigeschnittenen Tragwerksteil die Lastebene nicht durch die Verbindungslinie der Schubmittelpunkte (Abb. 8.14), dann ist, zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts bei Versetzung der Querkraft Q in die Lastebene, das Versetzungsmoment M V  (rM  rE )  Q

zu berücksichtigen. Dieses um die Stabachse drehende Torsionsmoment muss dann vom Querschnitt zusätzlich übertragen werden, was dazu führt, dass neben Biege- und Querkraftbeanspruchung auch eine Torsionsbeanspruchung entsteht, die bei offenen Querschnitten zu großen Spannungen und Verformungen führen kann. Torsionsbeanspruchungen bei offenen Querschnitten sollten deshalb möglichst vermieden werden. Wir erhalten eine Variante zur Berechnung der Koordinaten des Schubmittelpunktes, wenn wir bei nicht verzweigenden Querschnitten das Integral L

 r  T ds e

s0

s

240

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

noch etwas anders deuten.

Abb. 8.14 Lastebene verläuft nicht durch den Schubmittelpunkt, Versetzungsmoment MV

Beachten wir r  e s ds  2 dA * e1  2d A * und damit 2 dA *  r  e s   e1 ds  r ds ,

dann erhalten wir zunächst folgende Ausdrücke für die Koordinaten des Schubmittelpunktes: x 2, M  

L

2



I 22

S 2 (s ) dA * ,

x 3, M 

s0

2 I 33

L

 S (s) dA 3

*

.

s0

Das infinitesimale Flächenelement dA* entspricht offensichtlich der in Abb. 8.15 invers dargestellten Dreiecksfläche, die der Fahrstrahl r(s) überstreicht, wenn er sich von s um ds fortbewegt. Die obigen Integrale formen wir mittels partieller Integration um. Konzentrieren wir uns zunächst auf die x2-Koordinate des Schubmittelpunktes, dann kommt x 2,M  

L

2 I 22



S 2 (s ) dA *  

s0

2  *  S 2 (s ) A (s ) I 22 



L



sL 0   dS 2 (s) A * (s)  .  s0

Da das statische Moment S2 an den Grenzen s = 0 und s = L verschwindet, verbleibt x 2,M 

2 I 22

L



dS 2 (s ) A * (s ) 

s0

2 I 22

L

 A (s ) x *

3 ( s ) t ( s ) ds

.

s0

Eine identische Rechnung liefert die x3-Koordinate des Schubmittelpunktes. Zusammengefasst erhalten wir x 2,M 

2 I 22

L



A * (s ) x 3 (s ) t (s ) ds ,

s0

x 3, M  

2 I 33

L

 A (s ) x *

s0

2 (s ) t (s ) ds

.

8.1 Dünnwandige offene Profile

241

Abb. 8.15 Das infinitesimale Flächenelement dA*

Beispiel 8-4:

Abb. 8.16 Querschnitt, Fläche A*(s) und Koordinate x3(s)

Es soll die Koordinate ~x 2 , M des Schubmittelpunktes für das in Beispiel 8-3 skizzierte UProfil mit der obigen Variante berechnet werden. Da die Dicke t längs der Bogenlänge konstant ist, können wir ~x 2 , M  2 t

I 22

L

A

*

(s ) x 3 (s ) ds schreiben, wobei die Auswertung des In-

s0

tegrals mittels einer der Ingenieurliteratur entnommenen Integraltafel erfolgen kann. L

 A (s ) x *

s0

3 (s ) ds



11 h 1 1 1 h 1 bh b   bh  bh  b   b 2 h 2 . 24 2 22 4 2 8

Damit erhalten wir das bereits bekannte Ergebnis tb 2 h 2 b 6 ~ x 2, M   .  4 I 22 2 1  6

242

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

Beispiel 8-5:

Abb. 8.17 Offener Kreisring, Öffnungswinkel 20

Für den in Abb. 8.17 skizzierten offenen Kreisring sind der Schubfluss T(s) aus einer Querkraft Q3 sowie die Koordinaten des Schubmittelpunktes M zu berechnen. Geg.: Q3, 0, t, a. Lösung: Aufgrund der Symmetrie des Querschnittes zur x2-Achse liegen der Flächenmittelpunkt S und der Schubmittelpunkt M auf dieser Achse ( x 3 ,S  x 3, M  0 ). Im Einzelnen sind: I 22 



2 0

x 32 (s ) t (s ) ds  t



2 0

x 32 a d   ta 3

 0

(L)



sin 2 (  ) d  

 0

ta 3 2 (    0 )  sin 2 0  , 2



S 2 (  )  ta 2

 sin  d   ta

2

cos  0  cos   . Damit erhalten wir den Schubfluss

0

T ()  

Q3 Q 2 (cos  0  cos  ) , S 2 ()   3 I 22 a 2 (    0 )  sin 2  0

( 0      0 , 0  0   )

und speziell für den Öffnungswinkel 0 = 0 ist T ()  

Q 3 1  cos  . a 

Der größte Schubfluss ergibt sich mit Tmax  T (    )  

Q3 2 (1  cos  0 ) a 2 (    0 )  sin 2  0

Q 2 an der Stelle    . Insbesondere gilt für das geschlitzte Rohr mit 0 = 0: Tmax   3 . a 

8.2 Dünnwandige geschlossene Profile

243

Abb. 8.18 Schubfluss in einem offenen Kreisring, Schubmittelpunkt

Mit ~r  a lässt sich die Lage des Schubmittelpunktes leicht berechnen. Es gilt 1 ~ x 2, M   I 22

L



4 2 0

~r (s )S (s ) ds   ta 2  I 22

s0

 cos 

0

 cos   d   

0

2 ta 4 (    0 ) cos  0  sin  0  . I 22

Unter Berücksichtigung des Flächenträgheitsmomentes I22 erhalten wir 4(    0 ) cos  0  sin  0  ~ . x 2, M   a 2 (    0 )  sin 2  0

Für das geschlitzte Kreisrohr mit 0 = 0 ist ~x 2 , M   2 a .

8.2

Dünnwandige geschlossene Profile

Abb. 8.19 Axialverschiebung eines geschlitzten Querschnitts

244

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

Bei einem geschlossenen Querschnitt reichen die Gleichgewichtsbedingungen allein nicht mehr aus, um die Schubspannungsverteilung zu ermitteln, denn an keiner Stelle des Querschnitts ist ein Ausgangswert für den Schubfluss T(s) bekannt. Es handelt sich um ein innerlich statisch unbestimmtes Problem, zu dessen Lösung, neben den Gleichgewichtsbedingungen, zusätzlich bestimmte Kompatibilitätsbedingungen in den Verformungen notiert werden müssen. Betrachten wir etwa den geschlitzten Querschnitt in Abb. 8.19, dann würde sich bei einer Schubspannungsbeanspruchung infolge Querkraft eine Diskontinuität u1 in der Axialverschiebung einstellen, die am geschlossenen Querschnitt nicht beobachtet wird.

Abb. 8.20 Einzelliger Hohlquerschnitt, Schubkraftgelenk

Um den einfach zusammenhängenden Hohlquerschnitt (Abb. 8.20 links) innerlich statisch bestimmt zu machen, denken wir uns den Querschnitt an einer beliebigen Stelle in Längsrichtung aufgeschnitten. Durch den in Form eines Schubkraftgelenks geführten Schnitt wird dann nur der Schubfluss in seiner Wirkung unterbunden. Damit liegt wieder ein offener Querschnitt vor, für den die Lösung bereits bekannt ist. Wir führen nun an der Stelle s = 0 den statisch unbestimmten Schubfluss T1 ein. Das Kraftgleichgewicht in 1-Richtung liefert in Verbindung mit dem in Kap. 8.1 erzielten Ergebnis s

T ( x1 , s )  



s 0

11 t ( s ) d s  T1 ( x1 ) x 1

Q ( x ) I  Q 2 ( x1 ) I 23   Q 3 ( x1 ) I 23  Q 2 ( x1 ) I 22  S (s )  T ( x ).    3 1 33 1 1  S 2 (s )    3 I I 

Bezeichnen wir den Schubfluss am offenen System mit Q ( x ) I  Q 2 ( x 1 ) I 23   Q 3 ( x 1 ) I 23  Q 2 ( x 1 ) I 22  S (s ) , T0 ( x 1 , s )    3 1 33  S 2 (s )    3 I I 

dann können wir für den vollständigen Schubfluss T ( x 1 , s )  T0 ( x1 , s )  T1 ( x1 )

schreiben. Bei Bezugnahme auf ein Hauptzentralachsensystem verbleibt Q (x )   Q (x ) T0 ( x 1 , s )    3 1 S 2 (s )  2 1 S 3 (s )  . I 33   I 22

8.2 Dünnwandige geschlossene Profile

245

Im Folgenden gilt es, den in der Ebene konstanten (aber noch unbekannten) Schubfluss T1 zu berechnen. Wie bereits erwähnt, sind dazu Verträglichkeitsbedingungen in den Verformungen (geometrische Kompatibilität) heranzuziehen. Für die Verschiebung der Balkenpunkte werden die Annahmen aus Kap. 6.3 übernommen und zusätzlich eine nur von den planaren Querschnittskoordinaten abhängende Verwölbung (rp) zugelassen. Damit ist

~ ( x )   ( x )  r  (r ) e . u(x1,rp)  u S 1 p 1 p p 1 Mit diesem Ansatz sind folgende Annahmen verbunden. Der Vektor

~ (x )  u (x ) e  v (x ) e  w (x ) e  u (x ) e  u (x ) u S 1 S 1 1 S 1 2 S 1 3 S 1 1 p 1 beschreibt die Translation des Querschnitts, und mit

p ( x1 )  rp   2 ( x1 ) x 3  3 ( x1 ) x 2 e1 wird die Querschnittsverdrehung um die (x2,x3)-Achsen berücksichtigt. Eine Verdrehung des Querschnitts um die 1-Achse (Torsion) ist somit nicht vorgesehen. Die Zusammenfassung ergibt

u(x1,rp)  u1 ( x1, rp ) e1  u p ( x1 ) mit

u1 ( x1, rp )  u S ( x1 )   2 ( x1 ) x 3  3 ( x1 ) x 2  (rp ) , wobei wir die planaren Koordinaten (x2,x3) wieder durch die Bogenlänge s ersetzen.

Abb. 8.21 Schubverformung infolge Querkraft, dünnwandiges Profil

Im nächsten Schritt berechnen wir die Gleitungen eines Oberflächenelementes. Dabei ist zu beachten, dass zur Berechnung der Elementgleitung von der planaren Verschiebung up(x1) nur die Komponente in Richtung der Tangente an die Querschnitts-Mittellinie zu berücksichtigen ist, die wir mit

( x1, s)  u p ( x1 )  es

246

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

bezeichnen (Abb. 8.21), denn der Anteil in Normalenrichtung n führt lediglich zu einer Aufdickung des Profils.

Abb. 8.22 Gleitung eines Oberflächenelementes

Damit erhalten wir die Elementgleitung

( x1, s) 

u1 ( x1, s) (x1,s)  , s x1

wobei (x1,s) u p ( x1 )  es u p ( x1 )  es   x1 x1 x1

zu berücksichtigen ist. Das Hookesche Gesetz liefert uns den Schubfluss  u ( x , s) u p ( x1 )   es  T(x1,s)  G t (s)  ( x1 , s)  G t (s)  1 1  s x1  

und damit u1 ( x1 , s) T(x1,s) u p ( x1 )    es . s G t (s) x1

Die Integration ergibt

u1 ( x1, s)  u1 ( x1, s  0)  s

Beachten wir



s



es ( s )d s 

s 0

1 G

s



s 0

u p ( x1 ) T(x1, s)  ds  x1 t(s )

dr (s ) ds  ds

s 0

s

 e ( s )d s . s

s 0

s

 dr(s)  r(s)  r , dann erhalten wir mit der Ab0

s 0

kürzung u1 ( x1, s  0)  u10

u1 ( x1, s)  u10 

1 G

s



s 0

u p ( x1 ) T(x1, s ) ds   r(s)  r0  . t(s) x1

8.2 Dünnwandige geschlossene Profile

247

Um die geometrische Kompatibilität (s.h. Abb. 8.19) sicherzustellen, muss die Verschiebung u1 an der (willkürlich festgesetzten) Stelle s = 0 der Verschiebung u1 an der Stelle s = L entL

sprechen. Setzen wir

 

, dann folgt mit r(s = L) = r0

s 0

u1  u1 ( x1, s  L)  u10  0 

1 T(x1,s) ds G t (s)







T(x1,s) ds  0 , t (s)

und mit T ( x 1 , s )  T0 ( x1 , s )  T1 ( x1 ) erhalten wir T1 ( x1 )  



T0(x1,s) ds t (s)

ds

 t (s) .

Der vollständige Schubfluss ist dann T ( x 1 , s )  T0 ( x 1 , s ) 



T0 (x 1,s) ds t (s )

ds

 t (s ) .

Damit ist das Problem gelöst, und wir wenden uns einem Beispiel zu. Beispiel 8-6:

Abb. 8.23 Profilmaße, lokale Koordinaten si und statische Momente S2(si) für einen Kastenquerschnitt

Für den bezüglich der x2-Achse symmetrischen Kastenquerschnitt in Abb. 8.23 ist der Schubfluss T(s) infolge einer im Schubmittelpunkt angreifenden Querkraft Q3 zu berechnen. Lösung: Um den einfach zusammenhängenden Querschnitt statisch bestimmt zu machen, führen wir an der linken unteren Ecke ein Schubkraftgelenk ein und ermitteln zunächst die statischen Momente S2(s), die in Abb. 8.23 (rechts) skizziert sind. Der statisch bestimmte Schubfluss T0 ist proportional zum statischen Moment S2(s) und ergibt sich zu T0 (s )  I 22 T0 (s )  S 2 (s ) . Zur Berechnung des statisch unbestimmten SchubQ3

flusses T1(s) sind Umlaufintegrale auszuwerten, wozu wieder Integraltafeln zum Einsatz kommen. Im Einzelnen benötigen wir

248



8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten

S 2 (s) 1 1 1  2 1 2  ds  2 1, 2  200  0,1875  100  260 cm m 2 ,  1, 2  0 , 25  100  t (s ) 1, 2 2 2,0  3 1,5 3  ds

200

 t (s)  2 1,2



100 100   450 . 2,0 1,5

Damit folgt für den statisch unbestimmten (konstanten) Schubfluss

T1 (x1 ) 

I22 S (s) T1 ( x1 )   2 ds t (s) Q3



ds

260

 t(s)   450  0,578cm m

2

.

Abb. 8.24 Bezogene Schubflüsse in [cm m2]

Der vollständige Schubfluss T(s) folgt dann aus der Überlagerung der beiden Teilzustände T0(s) und T1(s). In Abb. 8.24 sind die mit I22/Q3 multiplizierten bezogenen Schubflüsse dargestellt. Die Betrachtung des vollständigen Schubflusses zeigt, dass die Schubkräfte in den Gurten für sich im horizontalen Kraftgleichgewicht stehen, und die Schubkräfte in den Stegen sind der Querkraft Q3 statisch äquivalent. Die Schubspannungen selbst ergeben sich aus 1s (x1, s)  T(x1, s) / t (s) . Der Schubmittelpunkt M liegt aufgrund der Symmetrie des Quer schnitts auf der x2-Achse, fällt aber nicht mit dem Flächenmittelpunkt S zusammen. Das von uns gewählte Verfahren zur Berechnung des statisch unbestimmten Schubflusses ist in der Statik als Kraftgrößenmethode bekannt. Sie ist einer geometrischen Aussage äquivalent, da wir an der Schnittstelle des Schubkraftgelenks Kontinuität der Axialverschiebung gefordert haben. Liegt ein mehrzelliger (n-zelliger) Hohlquerschnitt vor, dann wird wie folgt vorgegangen: 1. In jeder Zelle i (i = 1…n) wird durch geeignete Schnittführung ein Schubkraftgelenk zur Unterbindung des unbekannten Schubflusses T eingeführt (Abb. 8.25). Das Ergebnis ist ein einfach zusammenhängender Querschnitt. 2. Am offenen Grundsystem wird sodann der Schubfluss T0 berechnet. 3. An den Schnittstellen werden nach dem Reaktionsprinzip die statisch unbestimmten Schubflüsse Ti (i = 1…n) angebracht, die aus der Forderung bestimmt werden, dass für jeden Zellenumlauf Ck (k = 1…n) Kompatibilität in den Axialverschiebungen gewährleisT ( x1 , s ) ds  0 für jede Zelle erfordert. tet ist, was t (s)



(C k )

8.2 Dünnwandige geschlossene Profile

249

Abb. 8.25 Mehrzelliger Hohlquerschnitt, unbekannte Schubflüsse Ti

Hinweis: Die manuelle Berechnung der Schubspannungsverteilung bei dünnwandigen geschlossenen Querschnitten gestaltet sich schon sehr aufwändig. Es wird deshalb im folgenden Kapitel ein Verfahren vorgestellt, mit dem die Berechnung automatisiert mittels einer Maple-Prozedur durchgeführt werden kann.

8.2.1

Automatisierte Berechnung der Schubspannungen aus Querkraft für dünnwandige Querschnitte

Die im vorigen Kapitel hergeleiteten Grundgleichungen basieren auf der Kraftgrößenmethode, bei der die statisch unbestimmten Schubflüsse Ti so berechnet werden, dass an den Schubkraftgelenken geometrische Kompatibilität gewährleistet ist. Das Programmieren dieses Verfahrens, mit einer automatisierten Festlegung der statisch unbestimmten Schubflüsse, führt zu großen Schwierigkeiten und ist deshalb für Computeranwendungen ungeeignet. Wesentlich eleganter gestaltet sich die Problemlösung mittels eines Verschiebungsgrößenverfahrens, das auch unter der Bezeichnung Deformationsmethode bekannt ist, und bei diesem Verfahren gibt es keine Schwierigkeiten bei der Wahl eines kinematisch bestimmten Grundsystems. Zur Herleitung dieses auf der FE-Methode basierenden Verfahrens (s.h. auch (Wagner & Gruttmann, Mitteilung 5, 2002)) benötigen wir die in Kap. 8.1 bereitgestellten lokalen Gleichgewichtsbedingungen in der Form 1s ( x 1 , s )  11 ( x 1 , rp )  0. s x 1

Wir betrachten den Fall der Biegung mit Querkraft ohne Normalkraftbeanspruchung N(x1). Dann verbleibt nach Kap. 6.3, wenn wir einen abschnittsweise veränderlichen E-Modul berücksichtigen, die Normalspannung E ( x 2 ,x 3) . 11 (r )  E ( x 2 , x 3 )11  E 0 n ( x 2 , x 3 )x 3 2 ( x1 )  x 2  3 ( x1 )  , n ( x 2 , x 3 )  E0

Aus der obigen Spannungsverteilung folgen die Schnittlasten eines prismatischen Balkens

 (x )   

M 2 ( x1 )  M3

1

(A)

(A)

x 3 11 (r ) dA  E 0  2 ( x1 ) I i 22   3 ( x1 ) I i 23 ,

x 2 11 (r ) dA  E 0  2 ( x 1 ) I i 23   3 ( x1 ) I i 33 ,

wobei wir zur Abkürzung die ideellen Flächenmomente

250

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten I i 22 



(A )

x 32 n ( x 2 , x 3 ) dA , I i 33 



(A )

x 22 n ( x 2 , x 3 ) dA , I i 23  



(A )

x 2 x 3 n ( x 2 , x 3 ) dA

nach Kap. 6.4.8 eingeführt haben. Ist der Balken frei von Momentenschüttungen m2(x1) und m3(x1), dann erfordert das lokale Momentengleichgewicht M2 ( x1 )  Q3 ( x1 ), M3 ( x1 )  Q 2 ( x1 ) ,

was zunächst Q 3 ( x1 )  E 0  2 ( x1 ) I i 22   3 ( x1 ) I i 23 , Q 2 ( x1 )   E 0  2 ( x1 ) I i 23   3 ( x1 ) I i 33 

liefert. Lösen wir diese Gleichungen nach den Ableitungen der Drehwinkel auf, dann erhalten wir  2 ( x 1 ) 

1 Q 3 ( x 1) I i 33  Q 2 ( x 1) I i 23 1 Q 3 ( x 1) I i 23  Q 2 ( x 1) I i 22 ,  3 ( x 1 )   E0 Ii E0 Ii

 I i  I i 33 I i 22  I i223 .

Die Änderung der Normalspannung längs der Stabachskoordinate x1 ist dann 11 (r )  E 0 n ( x 2 , x 3 )x 3 2 ( x1 )  x 2  3 ( x1 )  x 1 Q ( x ) I  Q 2 ( x1) I i 22   Q ( x ) I  Q 2 ( x 1) I i 33  n ( x 2 , x 3 )  3 1 i 33 x 3  3 1 i 23 x2  I Ii   i  n ( x 2 , x 3 ) a ( x 1 ) x 3  b ( x1 ) x 2 ,

wobei wir zur Abkürzung

a ( x1 ) 

Q3 ( x1 ) Ii33  Q2 ( x1 ) Ii 23 , Ii

b( x1 ) 

Q3 ( x1 ) Ii 23  Q2 (x1 ) Ii 22 Ii

gesetzt haben. Beziehen wir uns auf eine beliebige aber feste Stelle x1 des Balkens, dann lautet das Kraftgleichgewicht d 1s (s )  n ( x 2 , x 3 )a x 3  b x 2   0 . ds

Die Schubspannungen 1s(s) drücken wir nach dem Hookeschen Gesetz durch die Gleitungen (s) aus, also 1s(s) = G(s) (s), und für die Gleitungen machen wir den Ansatz  (s ) 

d  (s ) . ds

Damit erhalten wir zur Berechnung der Schubspannungsfunktion (s) die gewöhnliche inhomogene Differenzialgleichung 2. Ordnung G (s )(s )  G (s )(s )  n ( x 2 , x 3 )a x 3  b x 2   0 .

8.2 Dünnwandige geschlossene Profile

251

Der Schubfluss folgt dann aus der Beziehung T (s )  1s (s ) t (s )  G (s ) t (s ) (s) .

Für den weiteren Rechengang ersetzen wir die Profilmittellinie des dünnwandigen Querschnitts durch einen ebenen Polygonzug (Abb. 8.26). Dies bedeutet keine Einschränkung, da jede ebene Kurve mit beliebiger Genauigkeit durch ein Polygon angenähert werden kann.

Abb. 8.26 Diskretisierung des Lösungsgebietes, finites Element und Schubmittelpunkt M

An den Ecken des Polygons, das offen oder auch geschlossen sein kann, werden globale Systemknoten eingeführt. Zwischen den Systemknoten, deren kartesische Koordinaten einer Knotendatei entnommen werden, erscheinen dann gerichtete Elemente der Länge (e), deren Dicken t(e), Elastizitätsmoduli E(e) und Schubmoduli G(e) innerhalb des Elementes als konstant angenommen werden. Systemknoten sind an Verzweigungen, Dicken- und Materialsprüngen sowie an freien Enden anzuordnen. Anfangsknoten (i) und Endknoten (j) des Elements besitzen im ideellen Zentralachsensystem die planaren Ortsvektoren ri( e) und rj( e) , mit denen wir die Elementlänge (e)  rj(e) - ri(e) errechnen. Der auf Elementebene konstante Tangenteneinheitsvektor ist dann

es(e) 

rj(e) - ri(e) rj(e)

- ri(e)

1  (rj(e) - ri(e) ) . 

Mit der lokalen Elementkoordinate s(e)    (e)  | r (e)  ri(e) | lässt sich dann ein Punkt der Elementmittellinie mittels r ( e )  ri( e )  s (e ) e s( e )  ri( e )  (rj( e )  ri( e ) ) ,

0  s (e)  ( e) , 0    1

identifizieren. In Komponenten erhalten wir x 3(e )  x 3( e,i)  ( x 3( e, )j  x 3( e,i) ) , x (2e )  x (2e,i)  ( x (2e, )j  x (2e,i) ) .

Beachten wir, dass die Materialkonstanten E(e) und G(e) elementweise konstant sind, dann ist für jedes Element die Differenzialgleichung

252

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten G ( e ) d 2 ( e ) () ( ( e ) ) 2

d 2

 a [ x 3( e,i)  ( x 3( e, )j  x 3( e,i) )]  b [ x (2e, i)   ( x (2e, )j  x (2e, i) )]  0

für die unbekannte Funktion e() zu lösen. Maple liefert uns mit den Abkürzungen k (0e ) 

( ( e ) ) 2 (e)

(e) 2

 a x 3(e,i)  b x (2e,i) , k1(e )  ( (e))  a x 3(e )  b x (2e) ,

G G  x 3( e )  x 3( e, )j  x 3( e, i) ,  x (2e )  x (2e, )j  x (2e, i)

die Lösung  ( e ) ()  

1 (e) 3 1 (e) 2 d ( e ) ( ) 1 k 1   k 0   C1( e )   C (2e ) ,    k 1( e )  2  k (0e )   C1( e ) . 6 2 d 2

Die noch freien Integrationskonstanten drücken wir durch die Funktionswerte von (e) an den Elementknoten aus und erhalten:  ( e ) (   0 )   i( e )  C (2e ) ,

 ( e ) (   1)   (je )  

1 (e) 1 (e) k 1  k 0  C1( e )   i( e ) . 6 2

Aus der letzten Gleichung folgt C1( e )   ( e ) 

1 (e) 1 (e) k1  k 0 6 2

mit

 ( e )   (je )   i( e ) .

Für den Schubfluss errechnen wir T ( e ) () 

G ( e ) t ( e ) du ( e ) (  ) G ( e ) t ( e )  ( e ) 1 ( e ) 1 ( e ) 1 ( e ) 2 (e)      k1  k 0  k1   k 0   , (e) (e)  d 6 2 2    

der quadratisch verteilt ist und an den Elementknoten die Werte T ( e ) (   0 )   Ti( e ) 

G (e) t (e)  (e) 1 (e) 1 (e)     k1  k 0  , 6 2   (e) 

T ( e ) (   1) 

G (e) t (e)  (e) 1 (e) 1 (e)     k1  k 0  3 2   (e) 

T j( e ) 

annimmt. Den obigen Sachverhalt können wir kürzer in Matrizenschreibweise notieren:  Ti  T   j

(e)



(e) (e) G ( e ) t ( e )  1  1  i  G ( e ) t ( e )  3k 0  k 1      . 1  j  6  ( e )  3k 0  2 k 1   ( e )   1

Mit den Abkürzungen  Ti  T (e)    Tj 

(e)

, K (e) 

(e) G ( e ) t ( e )  1  1 , 1  ( e )   1

8.2 Dünnwandige geschlossene Profile  i   (e)     j 

(e)

, r (e) 

253

(e) G ( e ) t ( e )  3k 0  k 1    , 6  ( e )  3k 0  2 k 1 

schreiben wir symbolisch

T(e)  K (e)  (e)  r (e) . Diese Elastizitätsgleichung für das Einzelelement ist nun für sämtliche Elemente anzuschreiben. Ist m deren Anzahl, dann ist das Ergebnis ein lineares Gleichungssystem von m Vektorgleichungen der Form T (1)  K (1)   (1)  r (1) T ( 2)  K ( 2)   ( 2)  r ( 2)

,

 T (m)  K ( m )   ( m )  r ( m )

die zunächst unabhängig voneinander sind. Symbolisch erhalten wir T  K   r .

In Anlehnung an Kap. 5.4 drücken wir die Elementendverschiebungen (e) durch die Systemknotenverschiebungen v aus. Besitzt das System insgesamt n Systemknoten (in Abb. 8.26 links ist n = 5), dann erscheint der Systemknotenverschiebungsvektor in der Form v T  v1

v2



vn  .

Der Zusammenhang zwischen den Elementknotenverschiebungen und den Systemknotenverschiebungen kann dann in der Form   Av

notiert werden. Der Assemblierungsprozess mittels der Zuordnungsmatrix A wird programmtechnisch durch Indexvektoren realisiert (s. h. auch Kap.5.4.1). Für den globalen Schubflussvektor t  A T  T folgt t  A T  K  A  v  A T  r . Werden an den Knoten keine äußeren Schubflüsse eingetragen, was in der Regel der Fall ist, dann ist t = 0 zu fordern, und es verbleibt A T  K  A  v  A T  r . Mit der globalen Steifigkeitsmatrix k  A T  K  A und dem globalen Lastvektor f  A T  r erhalten wir abschließend k v  f .

Die Lösung dieses Gleichungssystems ist wegen Rg(k,f) = Rg(k) = n – 1 < n nicht eindeutig. Wir können eine Variable frei wählen und alle Lösungen des Systems werden durch Linearkombination aus einer linear unabhängigen Lösung gewonnen. Das ist auch mechanisch einleuchtend, da für die Lösung nur die Änderungen von  bzw. v von Bedeutung sind. Ist der Verschiebungsvektor v berechnet, dann folgen durch Rückrechnungen auf Elementebene die Schubspannungsfunktion

254

8 Querkraftschubspannungen in dünnwandigen Querschnitten 1 (e) 3 1 (e) 2  (e) 1 (e) 1 (e)  k 1   k 0       k 1  k 0     i( e ) 6 2 6 2  

(e ) ()  

sowie die Schubspannungen  1(se ) (  ) 

T (e) t

(e)



G (e)  (e) 1 (e) 1 (e) 1 (e) 2 (e)      k 1  k 0  k 1   k 0   . 6 2 2   (e) 

Zur Berechnung der Koordinaten des Schubmittelpunktes rM benötigen wir die auf das Element entfallende Schubkraft 1

T

TR( e )   ( e )

(e)

(  ) e ( e ) d  G ( e ) t ( e )   ( e ) e ( e ) .

0

Das Moment dieser Elementschubkraft bezüglich des Flächenmittelpunktes S ist (Abb. 8.26) M (e)  ri( e )  TR( e )  G ( e ) t ( e )   ( e ) ri( e )  e ( e ) .

Soll die Biegung des Balkens torsionsfrei erfolgen, dann muss die Summe der Momente der Elementschubkräfte bezüglich des Flächenmittelpunktes S identisch sein mit dem Moment der Querkraft Q bezogen auf denselben Punkt, also m

rM  Q 

M

(e)

.

e 1

Ein Komponentenvergleich zeigt m

x 2 , M Q 3  x 3, M Q 2 

G

(e) (e)

t





  ( e ) ri(,e2) e i(,e3)  ri(,e3) e i(,e2) .

e 1

Zur Berechnung der Koordinaten des Schubmittelpunktes werden zwei Rechnungen benötigt: 1. Q2 = 0, Q3 = 1:

m

 x 2, M 

G

(e) (e)









t

  ( e ) ri(,e2) e i(,e3)  ri(,e3) e i(,e2) ,

(e) (e)

  ( e ) ri(,e2) e i(,e3)  ri(,e3) e i(,e2) .

e 1

2. Q2 = 1, Q3 = 0:

m

 x 3, M  

G

t

e 1

Beispiel 8-7: Auf der Grundlage der obigen Beziehungen wird eine Maple-Prozedur bereitgestellt, mit deren Hilfe eine automatisierte Berechnung der Schubspannung und der Koordinaten des Schubmittelpunktes für dünnwandige inhomogene Querschnitte vorgenommen werden kann. Wenden Sie die Prozedur auf den zweizelligen Hohlkastenquerschnitt in Abb. 8.27 an.

8.2 Dünnwandige geschlossene Profile

255

Stahl: Ea = 21000 kN/cm2, Ga = 8100 kN/cm2, Qx = –800 kN, Qy = –1000 kN. In einer zweiten Rechnung werden die Deckbleche (Elemente 1–4) durch eine t = 10 cm dicke Stahlbetonplatte ersetzt. Stahlbeton: Eb = 3000 kN/cm2, Gb = 1500 kN/cm2.

Abb. 8.27 Zweizelliger Hohlkasten, Knoten- und Elementnummerierung, Längen in [cm]

Verifizieren Sie außerdem die Lösungen in Beispiel 8-1 (Beispiel_8_1.txt), Beispiel 8-2 (Beispiel_8_2.txt), Beispiel 8-3 (Beispiel_8_3.txt) und Beispiel 8-6 (Beispiel_8_6.txt), indem Sie für die nummerische Rechnung bei Bedarf sinnvolle Geometrie- und Materialparameter wählen. Suchen Sie in Lehrbüchern nach weiteren Beispielen und berechnen Sie diese mit der hier bereitgestellten Prozedur. 

9

Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

Wir haben bisher die Beanspruchungsfälle Biegung mit Normalkraft einschließlich Querkraft an prismatischen Balken und Stäben untersucht. Verbleibt von den möglichen Schnittlastkomponenten allein ein um die Stabachse drehendes Moment M1, so liegt eine Torsionsbeanspruchung1 vor (Abb. 9.1).

Abb. 9.1 Stab mit Torsionsmoment M1

Da sich die Lösung des allgemeinen Torsionsproblems prismatischer Stäbe mathematisch schon bereits sehr aufwändig gestaltet, behandeln wir hier nur den Fall der zwängungsfreien Torsion, deren Theorie auf de Saint-Vénant (1855) zurückgeht. Dieser Theorie liegen folgende Einschränkungen zugrunde: 1. Der Stab ist prismatisch. 2. Das Material verhält sich isotrop elastisch. 3. Die Verformungen sind klein. Der Ortsvektor r  x 1 e1  x 2 e 2  x 3 e 3  x 1 e1  rp legt die Stabpunkte in der unverformten Ausgangslage fest. Dabei ist x 1 e1 die Komponente in Stabachsrichtung und rp der planare, Anteil des Ortsvektors, der also in die Querschnittsebene fällt. Mit den von de Saint-Vénant getroffenen Hypothesen ergibt sich folgender Verschiebungsansatz u  D [ x 1 e1  ( r - rM )   ( rp ) e1 ]  u p  u 1 .

1

lat. torquere = drehen

258

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

Der Term u p  D x 1 e1  (r - rM )  D x 1 e1  (rp - rM ) beschreibt die Querschnittsdrehungen um eine Achse parallel zur Stabachse durch den Schubmittelpunkt M, die auch natürliche Drehachse genannt wird, und u1  D (rp ) e1 liefert die axialen Verschiebungen oder Verwölbungen des Querschnitts. Ob sich eine Verwölbung einstellt, hängt allein von der Querschnittsform ab. Beispielsweise sind Kreis- und Kreisringquerschnitte, die insbesondere im Maschinenbau zur Übertragung von Torsionsmomenten verwendet werden, wölbfrei (s.h. Beispiel 9-1). Die Änderung des Drehwinkels  mit der Stabachskoordinate x1 wird als Drillung bezeichnet (Abb. 9.2), also D

d ( x 1 )  ( x 1 ) . dx 1

In unserem Ansatz wird die Drillung D als konstant angenommen. Damit wächst der Drehwinkel  linear mit x1, was, wie wir später sehen werden, die Annahme ein konstanten Schnittlast-Torsionsmoment M1 erfordert. Diese Forderung kann bei wölbfreien Querschnitten aufgegeben werden.

Abb. 9.2 Drehachse und Verschiebung des Stabpunktes P

Wie in (Krawietz, Beiblatt T zur Vorlesung Höhere Festigkeitslehre, Zwängungsfreie Torsion) gezeigt wird, folgt aus diesem Verschiebungsfeld der planare Schubwinkelvektor γ  D [e1  (rp  rM )   p  (rp )] ,

(a)

der unabhängig ist von der Stabachskoordinate x1. Die räumliche Ableitung wurde gemäß   e1

     e2  e3  e1  p x1 x 2 x 3 x1

zerlegt. Dehnungen treten nicht auf. Nach dem Hookeschen Gesetz (s.h. Kap. 3.3) verbleiben mit dem planaren Schubspannungsvektor τ  G γ die Spannungen S  2 G E  2 G sym (u   )  2 G sym (e1   )  e1  τ  τ  e1 .

Das lokale Kraftgleichgewicht erfordert (s.h. Kap. 1): 0  S    e1 (τ   p ) und damit

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

τ  p  0 .

259 (b)

Abb. 9.3 Lösungsgebiet  und Rand 

Mit τ  G γ bedeutet dies GD  p  p (rp )  0 . Unter Verwendung des zweidimensionalen Laplace-Operators1 genügt somit die normierte Axialverschiebung im Lösungsgebiet  der Potenzialgleichung

 p  0 . Spannungsfreiheit der Oberfläche erfordert auf dem Rand  : 0  S  n  e1 (τ  n) , und damit τ n  0 .

(c)

Mit τ  G γ sowie unter Berücksichtigung von t  e1  n erhalten wir  0  GD p   e1  (rp  rM ) n  GD   t  (rp  rM )  ,  n 

womit die Randbedingung (c) übergeht in (  / n : Richtungsableitung)   t  (rp  rM ) . n

Diese Bedingung ist bei mehrfach zusammenhängenden Gebieten für jeden Teilrand zu erfüllen. Die partielle Differenzialgleichung  p   0 in Verbindung mit der Randbedingung

 / n  t  (rp  rM )

wird als Neumannsches2 Problem bezeichnet (Bronstein &

Semendjajew, 1973). Nach den Grundregeln der Vektoranalysis errechnen wir die resultierende Kraft der Spannungen  in der Querschnittsfläche zu

1

Pierre-Simon Marquis de (seit 1817) Laplace, frz. Mathematiker und Physiker, 1749–1827

2

Carl Gottfried Neumann, deutsch. Mathematiker, 1832–1925

260

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

R



τ dA 

A



A

τ  1p dA 





τ  ( p  rp )dA  ( τ  n ) rp ds 

A

0



A

( τ   p ) rp dA  0 ,  0

wobei die unterklammerten Ausdrücke wegen (b) und (c) verschwinden. Das resultierende Moment der Schubspannungen bilden wir bezüglich des beliebigen Bezugspunktes C mit dem planaren Ortsvektor rc und erhalten



M ( C) 

A

(rp  rc )  τ dA 



A

rp  τ dA  rc 



τ dA  A    



A

rp  τ dA

0





A

(d)

(rp  τ)  e1 dA e1  M1 e1.

Da der Ortsvektor rc nicht mehr auftritt, kann der Bezugspunkt beliebig gewählt werden. Für das Moment M1 erhalten wir mit (d) und (a) sowie C = M:

 (r

M1 

p

A

 GD    GD  

 rM )  τ  e1 dA 



A

e1  (rp  rM )  τ dA

 e  (r

 rM ) e1  (rp  rM )   p dA  



2

A

A

1

p

rp  rM dA 

 e  (r 1

A

p

 rM )  p  dA   GD I t . 

Das Integral It 



2

A

rp  rM dA 

 e  (r A

1

p

 rM )   p  dA

wird Torsionsflächenmoment genannt, wobei das letzte Integral in der obigen Beziehung noch wie folgt umgeformt werden kann

 e  (r A

1

p

 rM )   p  dA  



2

A

 p  dA .

Damit ist das Torsionsflächenmoment It 



2

A

rp  rM dA 



2

A

 p  dA 



2

A

rp  rM dA  I (pM )

bei Querschnitten mit Verwölbung immer kleiner als das polare Flächenmoment 2. Grades I (pM ) 



2

A

rp  rM dA

bezüglich der Drehachse M. Ebenfalls in (Krawietz, Beiblatt T zur Vorlesung Höhere Festigkeitslehre, Zwängungsfreie Torsion) wird gezeigt, dass die Axialverschiebung von der Wahl der Drehachse abhängt. Allerdings ist die Schubspannungsverteilung davon unabhängig.

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

261

Es wird zwischen zwei Querschnittsformen unterschieden: 1. Wölbfreie Querschnitte: In diesem Fall ist die Wölbfunktion linear, die Querschnittsfläche bleibt somit eben. Ist  = konst., dann ist das Torsionsflächenmoment identisch mit dem polaren Flächenmoment (s. h. (Mathiak, 2012)). 2. Querschnitte mit Verwölbung: Die Wölbfunktion ist keine lineare Funktion. Beispiel 9-1: Für einen Torsionsstab mit Kreisquerschnitt (Radius a) sollen die Verschiebungen und die Schubspannungen berechnet werden.

Abb. 9.4 Kreisquerschnitt, ebene Polarkoordinaten, Schubspannungsverteilung

Geg.: a, M1, G. Lösung: Dem Problem angepasst sind ebene Polarkoordinaten (r,, wobei hier die Koordinate  nicht mit der Wölbfunktion  verwechselt werden darf. Aufgrund der vorliegenden Rotationssymmetrie kann die Wölbfunktion  nur von der Koordinate r abhängen, und von der ebenen Laplace-Gleichung verbleibt (Bronstein & Semendjajew, 1973)  p ( r ) 

 2 ( r ) r 2



1 ( r ) 1   (r )    0. r r r r r  r 

Zweimalige Integration liefert (r )  C1 ln r  C2 . Mit rM = 0 geht die Randbedingung über d( r ) C  0  1 , was C1 = 0 erfordert. Damit ist ( r )  C 2  konst . , und der Querschnitt dr r bleibt eben, womit sich der Kreisquerschnitt als wölbfrei erweist (s.h. auch Beispiel 9-4). Das gilt übrigens auch für den Kreisringquerschnitt. Die Verformungen errechnen sich zu

in

u  u p  D x 1 e1  r  D x 1 r e1  e   D x 1 r e  .

Da der Querschnitt eben bleibt, stimmt das Torsionsflächenmoment mit dem polaren Flächenträgheitsmoment überein. Wir erhalten unter Beachtung von dA = r dr d

262

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

It  Ip 



2

a

A

r 2 dA 



r 3dr

r 0



 d  2 a

4

.

0

Vom Schubwinkelvektor verbleibt wegen  = konst. γ  D e1  rp , und für den Schubspannungsvektor folgt τ  G D e1  rp  GD r e  , womit die geforderte Spannungsfreiheit der Zylinderoberfläche gewährleistet ist. Den Betrag der Schubspannungen errechnen wir zu 1 .   τ  G D r . Beachten wir noch die Beziehung M1  GDIp , dann ist   M 1 r  2 M r 4

Ip

a 

Die Schubspannungen wachsen also linear mit dem Radius r an und erreichen am Quer1 . Zur Berechnung des Drehwinkels  integschnittsrand ihr Maximum max   M 1 a  2 M 3

Ip

a 

rieren wir die Beziehung D

d( x1 ) M1  dx1 GI p

 ( x1 ) 

M1 x1  C1 . GI p

Das Produkt GIp wird Torsionssteifigkeit genannt. ) GI p   Masse  (Länge 2 ( Zeit )

3

, Einheit: m-1.

Beispielsweise folgt für den bei x1 = 0 eingespannten Stab mit C1 = 0: ( x1 ) 

M1 x1 GI p



Beispiel 9-2:

Abb. 9.5 Beidseitig eingespannter Stab mit Momentenbelastung M0

Der beidseitig eingespannte Stab mit zwei abweichenden Vollkreisquerschnitten wird an der Übergangsstelle durch ein Torsionsmoment M0 belastet. Gesucht werden der Torsionswinkel  und in beiden Querschnitten die größten Schubspannungen. Geg.: M0, G1, G2, r1, r2, 1, 2.

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

263

Lösung: Das Problem ist statisch unbestimmt, da die Aufteilung des Torsionsmomentes M0 auf die beiden Stababschnitte nicht aus Gleichgewichtsbedingungen allein ermittelt werden kann. Aufgrund der Unstetigkeit im System und in der Belastung muss die Lösung der Differenzialgleichung zur Berechnung des Drehwinkels abschnittsweise erfolgen. Mit dem Ergebnis aus Beispiel 9-1 erhalten wir: Bereich 1: (0 < x1 < 1): (1) ( x1 ) 

M1(1) G1I (p1)

Randbedingung: (1) ( x1  0)  0  C1

x1  C1 ,

Bereich 2: (1 < x1 < ):  ( 2 ) ( x1 ) 

M1( 2 ) G 2 I (p2 )

( 2) x1  C 2 , Randbedingung:  ( x1  )  0 ,  C 2  

M 1( 2 ) 

G 2 I (p2 )

.

An der Übergangsstelle x1 = 1 ist geometrische Kompatibilität in der Querschnittsdrehung sicherzustellen. Das erfordert

(1) ( x1  1 )  ( 2) ( x1  1 ) .

(a)

Außerdem muss an der Übergangsstelle das Momentengleichgewicht erfüllt sein, also

M  M1( 2)  M1(1)  M 0

(b)

Mit (a) und (b) liegen zwei Gleichungen zur Bestimmung der Unbekannten M1(1) und M1( 2) vor. Die Auflösung des Gleichungssystems ergibt M1(1)

1 k , M1( 2)  M 0 ,  M0 1 k 1 k

G 2 I(p2) 1 k . G1I(p1)  2

Damit liegt auch der Drehwinkel an der Übergangsstelle fest. Wir erhalten (1) ( x1   1 ) 

M 01

G1I (p1)

1 . 1 k

Die maximalen Schubspannungen treten jeweils an den Oberflächen der beiden Stababschnitte auf: max  (1) 

M1(1) I (p1)

r1 

M 0 r1 I (p1)

M1( 2 ) M r k 1 , max  ( 2 )  ( 2 ) r2  (02 ) 2 . 1 k Ip Ip 1  k



264

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

9.1

Die Spannungsfunktion

Eine weitere Möglichkeit zur Lösung des Problems der zwängungsfreien Torsion besteht in der Einführung einer Spannungsfunktion F(rp), die a priori die Gleichgewichtsbedingungen τ  p  0 erfüllt. Das gelingt mit dem Ansatz τ  2 GD e1   p F (rp ) ,

und da wir bereits τ  G γ  GD e1  (rp  rM )   p  (rp )  hergeleitet haben, führt das zur Identität e1  2  p F (rp )  (rp  rM )   p  (rp )   0

oder

2  p F (rp )  (rp  rM )   p  (rp )  0 .

Die planare Ableitung der letzten Beziehung ergibt wegen  p (rp )  0  p  2  p F (rp )  (rp  rM )   p  (rp )   2 p F (rp )  1  0 .

Die Spannungsfunktion F muss somit der partiellen Differenzialgleichung  p F(rp )  1 ,

genügen, die Poissonsche1 Differenzialgleichung genannt wird. Es bleibt noch zu klären, welche Werte die Spannungsfunktion auf dem Querschnittsrand C annehmen muss. Die Spannungsfreiheit der Oberfläche erfordert 0  τ  n  2GDe1   p F(rp ) n  (n  e1 )   p F(rp )  t   p F(rp ) 

F(rp ) t

.

Die Spannungsfunktion muss demnach auf dem Querschnittsrand einer Konstanten gleich sein, die wir zu Null annehmen dürfen. Hinweis: Die Poissonsche Differenzialgleichung  p F(rp )  1 in Verbindung mit der Randbedingung erster Art F(rp )  0 wird auch als Dirichletsches2 Problem bezeichnet. Für das Torsionsmoment M1 erhalten wir M1 

 (r A

p

 2GD  

 rM )  τ  e1 dA 

 e  (r A

1

p



A

e1  (rp  rM )  τ dA

 rM )  e1   p FdA   2GD 



A

(rp  rM )   p F dA  GDI t

mit 1

Siméon Denis Poisson, frz. Mathematiker und Physiker, 1781–1840

2

Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet, deutsch. Mathematiker, 1805–1859

9.1 Die Spannungsfunktion It  2



A

265

(rp  rM )   p F dA

Das obige Integral kann noch umgeformt werden. Es gilt: It  2



A



(rp  rM )   p F dA  2 n  (rp  rM ) F ds  2



A

 p  (rp  rM ) F dA .

Da auf dem Rand F = 0 gesetzt werden kann, verschwindet das Umlaufintegral, und es verbleibt I t  2



A

 p  (rp  rM ) F dA  4



A

F dA .

Zur Berechnung der Wölbfunktion gehen wir aus von der Beziehung τ  G γ  GD e1  (rp  rM )   p    2 GD e1   p F ,

was  p   e1  2 p F  (rp  rM ) 

ergibt. Hinweis: Das lineare partielle Differenzialgleichungssystem zur Berechnung der Spannungsfunktion F und der Verwölbung  kann nur für einfache Querschnittsformen analytisch gelöst werden. Die Randwertaufgabe der freien Torsion ist für allgemeine Querschnittsformen nur noch nummerisch lösbar, etwa mit der Methode der finiten Elemente (FEM). Beispiel 9-3:

Abb. 9.6 Gleichseitiges Dreieck, Verlauf der Schubspannungen 12(x2 = 0,x3)

Für den Querschnitt in Form eines gleichseitigen Dreiecks sind die Schubspannungen und die Verwölbung infolge eines Torsionsmomentes M1 zu berechnen. Schreiben Sie eine Maple-Prozedur, die die folgenden Gleichungen auswertet und die Ergebnisse grafisch darstellt. Geg.: b, G, M1.

266

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

Lösung: Wir stellen zunächst die Gleichungen der Begrenzungsgeraden des Querschnitts auf: 1 1 Rand 1: x 3  h , g1  x 3  h  0 , 3 3 2h  x 2 2h  x 2  Rand 2: x 3    3  1 , g2  x3   1  0 , 3 3  b 3 b    2h  x 2 2h  x 2   Rand 3: x 3   1 , g3  x3   1  0 . 3 3 3  b 3  b   Die gesuchte Spannungsfunktion F setzen wir nun als Produkt der Begrenzungsgeraden an, die wir noch mit einer Konstanten (hier c) multiplizieren, also

 4 x h 2 x 2 4 h 3x 22 4 3   F( x 2 , x 3 )  c g1 g 2 g 3  c  x 33  x 32 h  3 2 2  h . 3 b2 27  b 

womit sichergestellt ist, dass diese Spannungsfunktion auf den Rändern verschwindet. Die noch freie Konstante c wird so bestimmt, dass F der Poissonschen Differenzialgleichung  p F  1 genügt. Maple liefert uns c

2 x 3 (9b2  12h 2 )  4h 3  3hb2  1 . Die linke Seite ist 3 b2

h 1  3 konstant; eine geschlossene Lösung kann somit nur für ein b 2 gleichseitiges Dreieck beschafft werden. Dann ist c  1 /( 4h ) und für die Spannungsfunktion erhalten wir

nur für 9b2 = 12h2 oder

F( x 2 , x 3 ) 

1  3 4 3 2 2 2 h .  x 3  hx 3  3x 3 x 2  hx 2  4h  27 

Das Torsionsflächenmoment It folgt unter Ausnutzung der Symmetrie aus der Beziehung

I t  4



1 / 3h A



F( x 2 , x 3 ) dA  8

bx 3 b  2h 3

 F(x , x ) dx dx

x 3  2 / 3h x 2  0

2

3

2

3



3 4 3 4 h  b . 45 80

M1 80 3 M1  fest. Den Schubspannungsvektor in G It 3 Gb 4 einer kartesischen Basis berechnen wir aus der Gleichung

Damit liegt auch die Drillung D 

    F/  x 3  . Mit den Ableitungen: τ   12   2 GD e1   p F ( rp )  2 GD     13    F/  x 2 

F 1 F 1  3x 32  2hx 3  3x 22 ,  h  3x 3  x 2 sind: x 3 4h x 2 2h





9.1 Die Spannungsfunktion

267









F 80 M 1 F 80 M 1  3 x 32  b 3 x 3  3 x 22 , σ13  2 GD  b 3  6x 3 x 2 . 5 x 3 x 2 3 b5 3b 1 treten in den Seitenmitten der Die maximalen Schubspannungen max   1 GDh  20 M 2 b3 σ12   2 GD

Querschnittsränder auf. Querschnittsverwölbung: In kartesischen Koordinaten ist mit rM = 0 das folgende partielle Differenzialgleichungssystem zu lösen: ( x 2 , x 3 ) F( x 2 , x 3 )  2  x3, x 2 x 3

( x 2 , x 3 ) F ( x 2 , x 3 ) 2  x2 . x 3 x 2

Dazu stellt uns Maple den Befehl dsolve zur Verfügung, und wir erhalten die Lösung





1 3 x 2 x 22  3x 32  C1 , wobei ( x 2 , x 3 )  0 erfüllt ist. Die Konstante C1 3 b kann zu Null gesetzt werden. ( x 2 , x 3 ) 

Abb. 9.7 Höhenliniendarstellung von Spannungs- und Wölbfunktion, Vektorplot der Schubspannungen

Hinweis: Unter einer Höhenlinie (engl. contour line) des Feldes F(rp) versteht man eine Linie, auf der der Funktionswert von F konstant ist, etwa F(rp) = c. Zwischen den Höhenlinien und den Gradienten von F, die ein Vektorfeld bilden, besteht folgender Zusammenhang (Abb. 9.8): Der Vektor  p F (rp ) steht in jedem Punkt P mit dem Ortsvektor rp senkrecht auf der Höhenlinie durch den Punkt P. Der Vektor e1   p F(rp ) tangiert die Höhenlinie im Punkte P und ist dort wegen τ  2 GD e1   p F(rp ) proportional zum Schubspannungsvektor .

268

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

Abb. 9.8 Höhenlinie der Spannungsfunktion F

Auf einer Höhenlinie der Spannungsfunktion F haben demzufolge nicht etwa die resultierenden Schubspannungen denselben Wert, sondern die Höhenlinie gibt mit dem Tangentenvektor im Punkt P jeweils die Richtung der dort herrschen Schubspannung an. Beispiel 9-4: Für einen prismatischen Stab mit elliptischem Querschnitt (Halbachsen a und b) sind im Rahmen der de Saint-Vénantschen Torsionstheorie sämtliche Zustandsgrößen zu berechnen. Schreiben Sie eine Maple-Prozedur, die die folgenden Gleichungen auswertet und die Ergebnisse grafisch darstellt. Für a = b wird die Ellipse zum Kreis. Untersuchen Sie auch den Fall einer schmalen Ellipse, etwa mit dem Achsenverhältnis  = a/b = 1/5. Geg.: a, b, G, M1.

Abb. 9.9 Elliptischer Querschnitt, Halbachsen a und b

Lösung: Die Normalform der Gleichung der Ellipse hat die Darstellung 2 2  x2    x3   1 .      b   a 

Für die Spannungsfunktion F setzen wir deshalb

9.1 Die Spannungsfunktion

269

 x 2 x 2  F( x 2 , x 3 )  c  2    3   1 .  a   b  

Damit erfüllt F bereits die Randbedingung. Die noch freie Konstante c ermitteln wir aus der Forderung  p F ( x 2 , x 3 )  c

a 2b2 2

2c(a 2  b 2 ) a 2b2

 1 zu

und damit F( x 2 , x 3 ) 

2

2(a  b )

a 2b2 2(a 2  b 2 )

 x 2  2  x 3  2    1 .    a b      

Das Torsionsflächenmoment folgt, unter Ausnutzung der Symmetrie, aus der Beziehung

b  I t  4 F dA   2 2 A a  b x 0   2 8a 2 b 2



a



1 ( x 2 / a ) 2



x 3 0

  x 2  2  x 3 2  a 3b 3    , 1 dx      3  dx 2  2 a  b2  a   b   

und für den Kreisquerschnitt (a = b) erhalten wir das bekannte Ergebnis: I t  I p  Damit liegt auch die Drillung D 

 4 a . 2

M1 a 2  b2 fest. Der Schubspannungsvektor in  M1 GI t Ga 3 b 3 

einer kartesischen Basis folgt aus der Beziehung 2 GD   a 2 x 3  2M1  a 2 x 3    F/ x 3      τ   12   2 GD e1   p F (rp )  2 GD   .  2 2  2 3 3  2  F/ x 2  a  b  b x 2  a b   b x 2   13 

Die maximalen Schubspannungen max   2 GD

a 2b 2

a  b2



2M1 ab 2 

treten in den Randpunkten der kleinen Halbachse b auf. Abschließend ermitteln wir die Wölbfunktion mit rM = 0 aus der Beziehung  p (rp )  e1  2 p F(rp )  rp  . In kartesischen Koordinaten schreibt sich dieses partielle Differenzialgleichungssystem in der Form ( x 2 , x 3 ) F( x 2 , x 3 )  2  x3, x 2 x 3

( x 2 , x 3 ) F ( x 2 , x 3 ) 2  x2 . x 3 x 2

Maple liefert uns mit dem Befehl dsolve die Lösung

( x 2 , x 3 ) 

a 2  b2 a 2  b2

x 2 x 3  C1 , die für den Kreisquerschnitt (b = a) konstant ist.

270

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

Abb. 9.10 Höhenliniendarstellung von Spannungs- und Wölbfunktion, Vektorplot der Schubspannungen

Die Höhenliniendarstellung der Wölbfunktion zeigt eine Viererteilung (Abb. 9.10, Mitte), womit diese in jedem Quadranten nur ein Vorzeichen besitzt. Weitere Informationen zu diesem Beispiel können dem entsprechenden Maple-Arbeitsblatt entnommen werden. Beispiel 9-5:

Abb. 9.11 Rechteckquerschnitt, tordierter Stababschnitt

Für einen Rechteckquerschnitt der Breite b und der Höhe h sind sämtliche Zustandsgrößen zu berechnen. Schreiben Sie eine Maple-Prozedur, die die folgenden Gleichungen auswertet und die Ergebnisse grafisch darstellt. Vergleichen Sie die Wölbfunktionen für die Seitenverhältnisse h/b = 1 und h/b = 4. Geg.: b, h, G, M1. Lösung: Im Vergleich zu den bisher behandelten Beispielen ist beim Rechteck keine geschlossene Lösung möglich. Wir setzen deshalb die Lösung für die Spannungsfunktion F aus einem Partikularintegral der inhomogenen Differenzialgleichung und einer Lösung der homogenen Differenzialgleichung zusammen und beginnen mit der partikulären Lösung. Dazu setzen wir  2x 2  Fp ( x 2 , x 3 )  c 1   2   .   b  

9.1 Die Spannungsfunktion

271

Damit Fp der Differenzialgleichung  p Fp 

 2 Fp x 22



 2 Fp x 32

 8

c b2

 1 genügt, muss c  

b2 8

  2x 2 2    . Diese in x2 symmetrische Lö1     b   sung, die einen parabolischen Zylinder darstellt, erfüllt mit Fp ( x 2   b / 2, x 3 )  0 bereits

gewählt werden. Damit ist Fp ( x 2 , x 3 )  

b2 8

die Randbedingung an den Rändern x 2   b / 2 . Um die Ränder x 3   h / 2 in Ordnung zu bringen, addieren wir zum Partikularintegral Lösungen der homogenen Differenzialgleichung  p Fh  0 derart hinzu, dass die Ränder x 2   b / 2 nicht gestört werden. Wir setzen dazu die Lösung der homogenen Differenzialgleichung in Form einer unendlichen Reihe an: 

Fh ( x 2 , x 3 ) 



nx 2 nx 3 cosh , b b

A n cos

n 1,3,5,

mit Fh ( x 2   b / 2, x 3 )  0 .

Die vollständige Lösung der Spannungsfunktion ergibt sich dann zu

F  Fp  Fh  

b2 8

   2x 2  2  nx 2 nx 3   1 A n cos cosh .     b b b   n 1,3,5,  



Die (unendlich vielen) Konstanten An werden nun so bestimmt, dass für die vollständige Lösung an den Rändern x 3   h / 2 die Randbedingungen F = 0 erfüllt sind. Dazu entwickeln wir das Partikularintegral in eine Fouriersche1 Reihe (Bronstein & Semendjajew, 1973) und erhalten

Fp  

b 2   2x 2  2  4b 2   3 1   8   b   



1



n 1,3,5, n

 1 3

n 1 nx 2 2 cos

b

.

Somit ist

F( x 2 , x 3   h / 2)  0  



4b 2 3





1

n 1,3,5, n

 1 3

n 1 nx 2 2 cos

b





n 1,3,5,

und die Konstanten An ergeben sich zu An 

4b 2 1 

3

n

 1 3

n 1 2

1 n cosh 2

( = h/b),

was abschließend zur Gesamtlösung

1



Jean-Baptiste Joseph Fourier, frz. Mathematiker und Physiker, 1768–1830

A n cos

nx 2 nh cosh , b 2b

272

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe



b2  2 x 2  4b 2 F( x 2 , x 3 )   1   2    3 8   b   

1



n 1,3,5, n

3

 1

n 1 2

nx 3 cosh nx 2 b cos b cosh n 2

führt. Das Torsionsflächenmoment berechnen wir aus der Beziehung

I t  4



 192 1 F( x 2 , x 3 ) dA  b3h 1  5 A 3  



1



n 1,3,5, n

5

tanh

n  . 2 

Da diese Reihe sehr gut konvergiert, dürfen wir uns für praktische Anwendungen mit ausreichender Genauigkeit auf das erste Glied beschränken und erhalten It 

1 3  192   1 3 b h 1  5 tanh  b h 1 () . 3 2  3  

Für die Drillung folgt dann mit guter Näherung

D

M1  G It

3M1 .  192   3 G b h 1  5 tanh  2   

Die Schubspannungen ermitteln wir zu 12

nx 3  sinh n 1 F M1 8 b 1 nx 2 b ,  1 2 cos  2GD  x 3 I t  2 n 1,3,5, n 2 b cosh n 2

13

nx 3   cosh n 1 F M1  8b 1 nx 2 b  2GD   1 2 sin 2 x 2  2 x 2 It  b cosh n  n 1,3,5, n 2  2





  .  

Die Werte der Schubspannungen in den Seitenmitten des Rechtecks sind:

12 ( x 2  0, x 3   h / 2)  

M1b 8 I t 2



1



n 1,3,5, n

 M1b  8 13 ( x 2   b / 2, x 3  0)   1  2 It   

2

 1

n 1 2

tanh

n Mb   1  2 () , 2 It

  1 M1b  3 () .  2 n  It n 1,3,5, n cosh  2  



1

Die Koeffizientenfunktionen i() (i = 1,2,3) zur Berechnung des Torsionsflächenmomentes und der maximalen Schubspannungen können Abb. 9.12 entnommen werden.

9.1 Die Spannungsfunktion

273

Abb. 9.12 Koeffizientenfunktionen i()

Für ein schmales Rechteck mit  >> 1 erhalten wir It 

1 3 3M 3M b h , max 12   0,742 2 1 , max 13   2 1 . 3 b h b h

Abb. 9.13

Höhenliniendarstellung von Spannungs- und Wölbfunktion, Vektorplot der Schubspannungen

Die größten Schubspannungen treten in der Mitte der längeren Rechteckseite auf. Auch hier können wir uns mit guter Näherung auf das erste Reihenglied beschränken. Unter der Voraussetzung  > 1 erhalten wir max 13

   M1b  8  1  . I t   2 cosh    2 

Es verbleibt noch die Berechnung der Querschnittsverwölbung. Mit rM = 0 ist das folgende Differenzialgleichungssystem zu lösen:

274

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

nx 3 sinh  n 1 nx 2 ( x 2 , x 3 ) F 8b 1 b ,  1 2 cos  2  x3  x3  2 b cosh n x 2 x 3  n 1,3,5, n 2 2



nx 3  cosh n 1 ( x 2 , x 3 ) F 8b 1 nx 2 b .  1 2 sin  2  x2  x2  2 x 3 x 3 b cosh n  n 1,3,5, n 2 2 Maple liefert uns mit dem Befehl dsolve



( x 2 , x 3 )  x 2 x 3 

8b 2 3





1

n 1,3,5, n

3

 1

n 1 2 sin

nx 3 sinh nx 2 b C . 1 b cosh n 2

Die Konstante C1 kann wieder zu Null gesetzt werden. In der Mitte der Abb. 9.13 wird die Wölbfunktion für das Seitenverhältnis  = 1,1 gezeigt. Bei diesem Seitenverhältnis besitzt die Höhenliniendarstellung eine Achterteilung, die für  > 1,4 in eine Viererteilung übergeht, womit die Wölbfunktion in jedem Quadranten nur ein Vorzeichen hat.

9.2

Einzellige dünnwandige Hohlquerschnitte

Zu den bereits auf der Seite 257 getroffenen Voraussetzungen fügen wir noch die folgenden hinzu: 4. 5. 6.

Die Querschnittsdicke t(s) ist sehr klein gegenüber den anderen Querschnittsabmessungen. Die Schubspannungen (s) sind über die Querschnittsdicke t(s) gleichmäßig verteilt. Die Schubspannungsvektoren τ  (s) es tangieren die Querschnitts-Mittellinie, womit die erforderliche Schubspannungsfreiheit der Stabmantelfläche gesichert ist.

Wir beschäftigen uns zunächst mit den einzelligen Hohlprofilen (Abb. 9.14). Dazu denken wir uns ein Element der Länge dx1 und der Dicke t(s) aus dem Hohlzylinder herausgeschnitten.

9.2 Einzellige dünnwandige Hohlquerschnitte

275

Abb. 9.14 Dünnwandiger Hohlquerschnitt

Aufgrund der getroffenen Voraussetzungen dürfen wir auch hier mit guter Näherung die Querschnittskoordinaten (x2,x3) durch die Bogenlänge s der Querschnitts-Mittellinie ersetzen. Dann liefert des Gleichgewicht für die zur Stabachse parallelen Kräfte am Element in Abb. 9.14    (s)t(s)dx1  (s) t(s)dx1  (s) t (s) dx1  ds   (s) t (s) dx1 ds  0 . s   s

Folglich gilt  (s) t (s)  0 ,  T  (s) t (s)  konst. , s

womit sich der Schubfluss T als unabhängig von der Bogenlänge s der QuerschnittsMittellinie erweist.

Abb. 9.15 Planarer Verschiebungszustand, Schubspannungen

Die Verschiebungen u eines Stabpunktes setzen sich wieder aus einem planaren (in die Querschnittsebene fallenden) Anteil up und einer axialen Verschiebung u1 zusammen. Aufgrund der getroffenen Angaben können wir davon ausgehen, dass sich die Verschiebungen

276

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

nur unwesentlich über die Querschnittsdicke ändern, womit u  u ( x1 , s ) angenommen wird. Von den planaren Verschiebungen des dickwandigen Querschnitts berücksichtigen wir hier nur den Vektoranteil in Richtung der Mittellinien-Tangente es, also u s  (e s  u p ) e s  D x 1 e s  e1  (r - rM ) e s  D x 1 n  (rp - rM ) e s  D x 1 r (s ) e s ,

wobei zur Abkürzung

r (s)  n(s)  rp (s)  rM  gesetzt wurde. Damit erhalten wir die Verschiebungen u  Dx1 r (s ) e s  (s ) e1   u s  u1 ,

und die Gleitungen berechnen wir zu 1s (s ) 

   (s )   (s )  . x 1 r (s )   D  r (s )  x1 s  s  

Aus dem Hookeschen Gesetz folgen die Schubspannungen   (s )  .   1s  G  1s ( s )  GD  r ( s )   s  

Mit der Forderung, dass die Querschnitts-Schubspannungen dem Schnittlastmoment M1 statisch äquivalent sein müssen, errechnen wir mit dem Elementarmoment (s.h. Abb. 9.15) dM1 (s)  (rp  rM )  1s (s) e s t (s) ds  T (rp  rM )  e s ds  T e1  (rp  rM )  e s e1 ds  T r (s) ds e1

das Torsions-Schnittlastmoment



M1  T e1 r (s) ds  2 T A m e1 ,

 r (s) ds  2A 

m

.

Am bezeichnet dabei die von der Querschnitts-Mittellinie umschlossene mittlere Fläche oder auch Hohlfläche des Querschnitts. Aus der obigen Beziehung kann mit M1  e1  M1  2 T A m

unter Beachtung von T   t die 1. Bredtsche1 Formel gefolgert werden:

T  (s) t (s) 

1

M1 M1 , (s)  . 2A m t (s) 2A m

Rudolph Bredt, deutsch. Ingenieur, 1842–1900

9.2 Einzellige dünnwandige Hohlquerschnitte

277

Damit ergeben sich die größten Schubspannungen an derjenigen Stelle, an der der Querschnitt die geringste Dicke aufweist. Die normierte Wölbfunktion folgt durch Integration aus der Beziehung  (s )    GD  r (s )  s  



  (s ) T   r (s ) . s GDt (s )

Nach Integration, die wir bei der willkürlich festgelegten Stelle s = 0 beginnen, erhalten wir die Wölbfunktion  (s )   0 

T GD

s



s 0

s

ds  t (s )

r

 (s ) ds

.

s 0

Da die Axialverschiebungen längs der Querschnitts-Mittellinie stetig sein müssen, liefert die L

Integration über einen vollen Umlauf mit





s 0

 (s  0 )   0   (s  L )   0 

T GD



ds

 t (s )   r

 (s ) ds

,

und mit M1  GDI t erhalten wir die als 2. Bredtsche Formel bekannte Beziehung: D

T 2 GA m



ds M  1 , t (s ) GI t

It 

4 A 2m . ds t (s )



Die Wölbfunktion für den dünnwandig geschlossenen Querschnitt können wir dann in der Form s

 (s )   0  2 A m



ds t(s )



ds t (s )

s 0

s



r

 (s ) d s

s 0

notieren. Wie bereits erwähnt, ist die Wölbfunktion (s) und damit auch die Axialverschiebung u1 ( x1 )  D (s ) von der Wahl der Drehachse abhängig. Die Konstante D0 entspricht einer Starrkörperschiebung in x1-Richtung, deren Wert davon abhängt, welcher Punkt des Querschnitts als unverschieblich anzunehmen ist. Sind die getroffenen Voraussetzungen, d.h. insbesondere konstantes Torsionsmoment längs der Stabachse und freies Einstellen der Torsionsverwölbung nicht erfüllt, dann treten zusätzlich axiale Normalspannungen auf, deren Berechnung Gegenstand der Wölbkrafttorsionstheorie ist. Hinweis: Im Hinblick auf Anwendungen in der Wölbkrafttorsionstheorie normiert man die Axialverschiebung u1(s) derart, dass ihr Mittelwert verschwindet, also

278

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe



A

u 1 ( s ) dA  D



A

 ( s ) t ( s ) ds  0 .

Damit haben wir  1  2 A m 0    A  ds  t (s )

 s  s ds    r ( s ) d s  t (s ) ds  .   s  0 t ( s ) s  0   

 





Beispiel 9-6: Für den in Abb. 9.16 skizzierten dünnwandigen Kreisringquerschnitt (mittlerer Radius rm, Dicke t) ist die (normierte) Wölbfunktion (s) gesucht. Lösung: Aus Symmetriegründen ist die Lage des Schubmittelpunktes M identisch mit der des Flächenmittelpunktes S. Unter Beachtung der Zwischenergebnisse A m  rm2  ,

s



s 0

ds 1  t(s ) t

s



ds 

s 0

s , t



ds 1 2r   ds  m , t (s ) t t



s



s

r ( s ) d s  rm

s 0

 ds  r

ms

s 0

erhalten wir s

 (s )   0  2 A m



ds t(s )



ds t (s )

s 0

s



r

 (s ) d s

 rm s  rm s  0 .

s 0

Abb. 9.16 Dünnwandiger Kreisringquerschnitt

Der Kreisringquerschnitt ist also wölbfrei. Diese Aussage gilt im Übrigen auch für Querschnitte, die aus regelmäßigen n-Ecken bestehen.

9.2 Einzellige dünnwandige Hohlquerschnitte

279

Beispiel 9-7:

Abb. 9.17 Rechteck-Hohlkasten, Wölbfunktion (s)

Für den rechteckigen Hohlkasten in Abb. 9.17 sind das Torsionsflächenmoment It, der konstante Schubfluss T und die (normierte) Wölbfunktion (s) zu berechnen. Geg.: b, h, tb, th Lösung: Aus Symmetriegründen fallen der Schubmittelpunkt M und der Flächenmittelpunkt S zusammen. Wir erhalten: Am  b h ,



ds b  h  2   t (s )  th tb

2 2

2b h t b t h M , , T 1 .  I t  2 bh bt h  ht b 

Zur Berechnung der normierten Wölbfunktion sind Linienintegrale auszuwerten, zu deren Berechnung zunächst einen Startpunkt festgelegt werden muss (Abb. 9.17). Wir beginnen bei s1 = 0. Da t(s) abschnittsweise konstant ist, kann  nur eine lineare Funktion von s sein. Es reicht deshalb, wenn wir uns mit der Berechnung der Wölbfunktion auf die Eckwerte A und B beschränken. Mit 0 = 0 erhalten wir:

( A )

h b h bh ht b  bt h 2t h  (s1  h 2)  2bh   ,  h b  2 2 4 ht b  bt h 2    th tb 

( B)  ( A )  (s 2  b) 

h bh ht b  bt h bh ht b  bt h b tb  2bh  b  ( A ) . 4 ht b  bt h 4 ht b  bt h h b 2 2    th tb 

Der Rechteck-Hohlkasten ist für ht b  bt h wölbfrei. Bei konstanter Wandstärke th = tb = t ist Wölbfreiheit für den quadratischen Hohlkasten (h = b) gegeben.

280

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

9.3

Mehrzellige dünnwandige Hohlquerschnitte

Abb. 9.18 Mehrzelliger dünnwandiger Hohlquerschnitt, unbekannte Schubflüsse Ti

Bei einem mehrzelligen dünnwandigen Querschnitt stellt die Berechnung des Schubflusses eine statisch unbestimmte Aufgabe dar, zu deren Lösung, neben den Gleichgewichtsbedingungen, zusätzlich Kompatibilitätsbedingungen in den Verformungen benötigt werden. Wir fordern, dass sich die unbekannten Schubflüsse Ti (i = 1…n) in den einzelnen Zellen i derart einstellen, dass die Drillung Di in jeder Zelle gleich der Drillung D des Gesamtquerschnittes ist. Wir erhalten also n Gleichungen der Form

Di  D 

1 2GA m,i



(Li )

T ds t (s)

( i  1 n ).

Das Umlaufintegral längs des Weges Li ist über diejenigen Mittellinien zu erstrecken, die jeweils die einzelne Teilzelle des Querschnitts umschließt. Dabei ist zu beachten, dass in den Zwischenstegen die Differenzen der Schubflüsse angrenzender Zellen wirken. Am,i bedeutet die vom Schubfluss Ti umflossene mittlere Fläche. Das Gleichgewicht erfordert, dass die Summe der von den insgesamt n Zellen aufgenommenen Torsionsmomenten gleich dem Schnittlastmoment M1 sein muss, also n

M1 

 i 1

n

M1,i 

 2A

m,i Ti

.

i 1

Damit liegen insgesamt n + 1 Gleichungen zur Berechnung der n unbekannten Schubflüsse Ti und der Drillung D vor, womit die Aufgabe als gelöst gelten kann.

9.3 Mehrzellige dünnwandige Hohlquerschnitte

281

Beispiel 9-8:

Abb. 9.19 Dreizelliger Brückenquerschnitt unter Torsionsbelastung

Geg.: M1  109 Ncm, G  8,1106 N / cm2 . Lösung: Zelle 1:

 t (s ) 

ds

160 318 160 318     517 ,33 ; 4 1,5 3,0 1,5

A m ,1  160  318  50880 cm 2 .

ds

160 318 160 318     517,33 ; 4 1,5 3,0 1,5

A m , 2  620  240  148800 cm 2 .

(1)

Zelle 2:

 t (s) 

( 2)

Zelle 3:

ds

 t(s)  517,33 ;

A m ,3  50880 cm 2 .

( 3)

Zwischenstege:



(1, 2 )

ds 240   160 , t (s) 1,5



( 2 , 3)

ds 240   160. t (s) 1,5

Mit den obigen Teillösungen erhalten wir folgendes Gleichungssystem: Zelle 1: T1

ds

ds  2GDA m,i  0 , t (s )

 t(s)  T  2

(1)

(1, 2)

Zelle 2:  T1



ds  T2 t (s)



ds  T3 t (s)

(1, 2)

Zelle 3:  T2

( 2 , 3)

ds

 t(s)  T  3

( 2)

( 2 , 3)

ds  2GDA m, 2  0 , t (s)

ds

 t(s)  2GDA

m ,3

0.

( 3)

Die statische Äquivalenz erfordert:

2Am,1T1  2Am,2 T2  2Am,3T3  M1 . Mit den Zahlenwerten des Beispiels erhalten wir in Matrizenschreibweise:

282

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

 517,33   160  0   101760 

 160 1043,33  160 297600

0  160 517,33 101760

 101760   T1   0     297600  T2   0      101760   T3   0      9 0  GD 10 

Die Lösung dieses Gleichungssystems ist:

T1  1772 N / cm; T2  2149 N / cm; T3  1772 N / cm; GD  5,628 N / cm3 . Für das Torsionsflächenmoment folgt: I t 

M1 109   1,777 108 cm 4 . GD 5,628

Abb. 9.20 Endgültige Schubflüsse und Schubspannungen

Von Interesse ist noch die Aufteilung des Schnittlastmomentes M1 auf die einzelnen Zellen: M1,1  2A m ,1T1  1,80 108 Ncm, M1,2  2A m, 2 T2  6,39 108 Ncm, M1,3  1,80 108 Ncm.

Die Drillung errechnet sich zu D 

9.3.1

M1 109   6,936 10 7 rad / cm . GI t 8,1106 1,777 108



Drillruhepunkt und Wölbflächenmomente

Wie wir in Kap. 9 gesehen haben, muss die normierte Axialverschiebung  der zwängungsfreien Torsion eines prismatischen Stabes der Differenzialgleichung

 p(rp )  0 und der Randbedingung   n   p   t  (rp  rM ) n

genügen. Bezeichnet (S) die normierte Axialverschiebung bei Wahl der Drehachse durch den Flächenmittelpunkt S, dann genügt diese mit rM = 0 der Differenzialgleichung

9.3 Mehrzellige dünnwandige Hohlquerschnitte

283

 p  (S )  0

und der Randbedingung  ( S )  n   p  (S)  t  rp . n

Bei einer Wahl der Drehachse um den Punkt M gilt dann die Zerlegung (Krawietz, Beiblatt T zur Vorlesung Höhere Festigkeitslehre, Zwängungsfreie Torsion) ( M )  (S)  (e1  rM )  rp ,

denn mit  p ( M )   p (S)  e1  rM

ist  p   p  ( M )   p   p  (S)  0 ,

und für die Randbedingung folgt n   p ( M )  n   p (S)  n  (e1  rM )  n   p (S)  t  rM  t  (rp  rM ) .

Die Frage nach der Lage der natürlichen Drehachse, und damit auch der Lage des Drillruhepunktes, kann mit der de Saint-Vénantschen Torsionstheorie allein nicht beantwortet werden. Dazu benötigen wir vielmehr Aussagen der Wölbkrafttorsionstheorie, die wir hier allerdings nicht behandeln. Wir geben deshalb nur das Ergebnis wieder, wonach der Drillruhepunkt rM dadurch berechnet werden kann, dass neben der Bildung des Mittelwertes



A

( M ) (rp ) dA  0

zusätzlich das Verschwinden der statischen Momente



A

rp ( M ) (rp ) dA  0

gefordert wird. Damit erhalten wir die folgende Beziehung

 r   r 

0

A

A

p

p

(S)

(S)



(rp )  (rp  e1 )  rM dA 

(rp ) dA  e1  rM 



A

rp (S) (rp ) dA 



rp  rp dA A   I

und aufgelöst nach rM ist (I: Flächenträgheitsmomententensor)

 r (r  e )  r dA A

p

p

1

M

284

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe rM  e1  I 1 



A

rp (S) (rp ) dA .

In Komponenten hinsichtlich einer kartesischen Basis folgen mit Einführung der Wölbflächenmomente R2 



A

x 3 (S) (rp ) dA, R 3 



A

x 2 (S) (rp ) dA

die Koordinaten des Drillruhepunktes zu x 2, M  

I33R 2  I 23R 3 I 22 I33  I 223

, x 3, M 

I 22 R 3  I 23R 2 I 22 I33  I 223

,

die identisch sind mit den Koordinaten des Schubmittelpunktes aus Kap. 8.1.1. Die Wölbflächenmomente können als statische Momente der mit der normierten Axialverschiebung (S) gewichteten Querschnittsfläche bezogen auf das Zentralachsensystem gedeutet werden. Für dünnwandige Querschnitte gilt mit dA = t(s) ds R2 



L

x 3 (s) (S) (s) t (s) ds, R 3 



L

x 2 (s) (S) (s) t (s) ds .

Wird als Drehachse die Achse parallel zur Stabachse durch den Drillruhepunkt rM gewählt, dann wird auch von Hauptverwölbungen (M) gesprochen, für die R2 



L

x 3 (s) ( M ) (s) t (s) ds  0, R 3 



L

x 2 (s) ( M ) (s) t (s) ds  0

gilt, denn das ist ja gerade die Definition des Drillruhepunktes.

9.3.2

Automatisierte Berechnung der Schubspannungen aus Torsion für dünnwandige geschlossene Querschnitte

In Anlehnung an Kap. 8.2.1 leiten wir ein Verschiebungsgrößenverfahren zur Berechnung der Schubspannungen infolge Torsion an beliebig geschlossenen dünnwandigen Querschnitten her. Damit entfällt die in Beispiel 9-8 vorgenommene und für Computeranwendungen ungeeignete Aufteilung des Querschnitts in einzelne Zellen. Die in gemischten Profilen vorhandenen offenen Querschnittsanteile werden in praktischen Anwendungen oft vernachlässigt, da deren Beiträge an der Aufnahme eines Torsionsmomentes gering sind. Ausgehend vom Werkstoffgesetz für den Schubfluss   (s )  T  GD t (s )  r (s )  s  

liefert die lokale Gleichgewichtsbedingung die Beziehung

(a)

9.3 Mehrzellige dünnwandige Hohlquerschnitte 0

285

  (s )   d   GD t (s )  r (s )  . s   ds  

(b)

Wir ersetzen die Profilmittellinie des dünnwandigen Querschnitts wieder durch einen ebenen Polygonzug.

Abb. 9.21 Zweiknotenelement eines dünnwandigen Querschnitts, M: Drillruhepunkt

Dadurch entstehen zwischen den Eckpunkten geradlinige finite Elemente (Abb. 9.21) mit jeweils zwei Knoten (Zweiknotenelement). Schreiben wir die Gleichungen (a) und (b) auf Elementebene an, dann erhalten wir mit Einführung des Bezugsmoduls G0  d ( e )  T ( e )  DG 0 n ( e ) t ( e )  r( e )  ( e )  , ds  

n (e) 

G (e) , G0

r( e )  ri( e )  (e ( e )  e1 ) ,

und die Kraftgleichgewichtsbedingung liefert unter Beachtung von s ( e )    ( e )  | r ( e )  ri( e ) | d 2  ( e ) ( ) d 2

0

  ( e ) (  )  c 0  c1 .

Damit verläuft die auf die Elementachse bezogene Wölbfunktion linear. Wir drücken die Konstanten c0 und c1 durch die Elementfreiheitsgrade an den Knoten i und j aus, also  ( e ) (   0 )  c 0   i( e ) ,  ( e ) (  1)  c 0  c1   (je ) .

Die Wölbfunktion schreibt sich dann in der Form  ( e ) ( )   i( e )  ( (je )   i( e ) )  ,



d ( e ) ( ) ds ( e )



 (je )   i( e )  (e)

,

und für den Schubfluss folgt   ( e )  T ( e )  DG 0 n ( e ) t ( e )  r( e )  ( e )    

mit

 ( e )   (je )  i( e ) .

286

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

Zur Formulierung der FEM-Gleichungen ermitteln wir die Schubflüsse an den Elementknoten und erhalten   (je )   i( e )  T ( e ) (  0 )   T1  DG 0 n ( e ) t ( e )  r( e )  ,  (e)   T ( e ) (  1) 

  (je )   i( e )  T2  DG 0 n ( e ) t ( e )  r( e )  .  (e)  

oder in Matrizenschreibweise  T1  T   2

(e)

 n ( e ) t ( e )  1  1   i  ( e )  1      n ( e ) t ( e ) r( e )    .  DG 0  ( e )   1   j   1   1   

Mit den Abkürzungen (e) (e) (e) (e)  Ti   i  n ( e ) t ( e )  1  1 (e) (e) ( e ) ( e ) ( e )  1 , ,  n t r  r T (e)    , K ( e )        1  ( e )   1   1 Tj   j

schreiben wir symbolisch





T(e)  DG 0 K (e)   (e)  r (e) . Hinsichtlich der weiteren Formulierung des Problems wird auf Kap. 8.2.1 verwiesen. Als Folge des Assemblierungsprozesses mittels der Zuordnungsmatrix A und der Forderung, dass an den Knoten keine Schubspannungen eingetragen werden, ist das lineare Gleichungssystem k  v  f zu lösen. Sind aus diesem nicht eindeutig lösbaren Gleichungssystem (eine Variable kann wieder frei gewählt werden) die Knotenwerte der Wölbfunktion ermittelt, dann folgt durch Rückrechnung auf Elementebene der konstante Schubfluss   (e)  T ( e )  DG 0 n ( e ) t ( e )  r( e )  ( e )  .   

Die auf das Element entfallende resultierende Schubkraft ist TR( e )  T ( e )  ( e ) e ( e ) .

Das Moment dieser Schubkraft bezüglich des Flächenmittelpunktes S folgt aus der Beziehung M 1( e )  ri( e )  TR( e )  ri( e )  T ( e )  ( e ) e (e)  M 1( e ) e1 ,

M 1( e )  T ( e )  ( e ) r( e ) .

Bezeichnet m die Anzahl der Elemente, dann bedeutet statische Äquivalenz m

M1 

M e 1

(e) 1

 DG 0 I t ,

9.3 Mehrzellige dünnwandige Hohlquerschnitte

287

womit das Torsionsflächenmoment It 

M1  DG 0

m

n

(e) (e) (e) t r

e 1

 ( e ) r(e )   ( e ) 

ermittelt wird. Ist It bekannt, dann folgt abschließend die konstante Drillung aus der Beziehung D

M1 . G 0It

Im Zusammenhang mit Anwendungen in der Wölbkrafttorsionstheorie werden die Axialverschiebungen gemäß



A

u1 dA  D



A

(s) t (s) ds  0

normiert. Damit verschwindet ihr Mittelwert. Das gelingt, wenn wir wegen (s)  0  (s) zu den aus dem linearen Gleichungssystem ermittelten Verwölbungen  (s ) den konstanten Wert

0  

1 2A

m

  e 1

(e) i



 (je) t (e) (e)

(A: Querschnittsfläche)

addieren. Hinweis: Es sei nochmals betont, dass die Axialverschiebung u1 von der Wahl der Drehachse abhängt, während die Berechnung der Schubspannungen davon unabhängig ist. Beispiel 9-9: Es wird eine Maple-Prozedur bereitgestellt, die die obigen Beziehungen zur Berechnung der Querschnittsverwölbungen, der normierten Knotenverschiebungen sowie der Schubspannungen infolge Torsion für dünnwandige geschlossene Profile (einzellig oder auch mehrzellig) auswertet. Die Eingabedaten werden mittels einer Prozedur formatiert eingelesen. Die Ergebnisse sind ebenfalls formatiert in eine Ausgabedatei zu schreiben. Als Drehachse wird die Stabachse gewählt. Testen Sie die Prozedur am Beispiel der Abb. 9.22. Geg.: E = 21000 kN/cm2, G = 8100 kN/cm2, M1 = 105 kNcm.

288

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

Abb. 9.22 Mehrzelliger dünnwandiger Hohlquerschnitt, alle Längenmaße in [cm]

9.4

Torsion dünnwandiger offener Querschnitte

Wir betrachten im Folgenden dünnwandige offene Querschnitte, die aus schmalen Rechtecken zusammengesetzt sind. Für ein Rechteck der Breite b und der Höhe h sowie b > 1 über in ( x 2 , x 3 )  x 2 x 3  C1 .

Damit werden die Axialverschiebungen der Teilquerschnitte, bis auf unbedeutende Bereiche in den Übergangszonen zweier Teilquerschnitte, genügend genau durch

u1,i  D(0  x 2,i x3,i ) beschrieben. Die Wölbfunktion (s) für die Profil-Mittellinie eines dünnwandigen offenen Querschnitts beschaffen wir uns aus der Tatsache, dass die Schubspannungen  ( s )  (s)  0  DG  r (s )  s  

in der Profil-Mittellinie verschwinden, was unter Beachtung der Stetigkeit der Axialverschiebungen längs der Bogenlänge s der Profil-Mittellinie s

(s)  0 

 r (s ) ds 

s 0

zur Folge hat. Beispiel 9-10:

Abb. 9.25 Geschlitztes und geschlossenes dünnwandiges Rohr

Für das geschlitzte und das geschlossene Rohr sind die größten Schubspannungen und die Drillungen zu berechnen. Für das geschlitzte Rohr ist außerdem der Verschiebungssprung am Schlitz zu ermitteln. Geg.: G, M1, rm, t.

292

9 Zwängungsfreie Torsion prismatischer Stäbe

Lösung: Wir betrachten zunächst das geschlitzte Rohr (Index o) und fassen den Querschnitt als schmales Rechteck der Breite t und der Höhe h  2rm  auf. Dann ist I(t o)  2rm  t 3 / 3 . Die Drillung ergibt sich zu D( o )  M1 /(GI(to ) ) , und für die maximale Schubspannung erhalten wir max (o)  M1t / I(to) . Für den geschlossenen Querschnitt (Index g) errechnen wir I(tg )  4A 2m /

ds

 t(s)  2r

2 m t

, und

für die Drillung folgt D( g )  M1 /(GI (tg ) ) . Die größten Schubspannungen ergeben sich zu max ( g )  D (o) D

(g )

M1 M  2 1 . Ein Vergleich mit dem offenen Querschnitt zeigt: 2A m t 2rm  t 2

r  3  m  ,  t 

max (0) max 

(g )

3

rm . t

Beispielsweise folgt daraus für einen Kreisquerschnitt mit rm  10 t

D(o ) D

(g )

 300 ,

max (0) max (g )

 30 .

Während in unserem Beispiel die maximalen Schubspannungen beim offenen Querschnitt um den Faktor 30 größer sind als die beim geschlossenen Querschnitt, ist die Drillung beim offenen Querschnitt sogar um den Faktor 300 größer als beim geschlossenen Querschnitt. Beim geschlitzten Rohr stellt sich am Schlitz der Verschiebungssprung



u1  D  D(s  L )  (s  0)   D r (s) ds  2D rm2   2 DA m

ein, dagegen bleibt der Querschnitt des geschlossenen Rohres wölbfrei. Hinweis: Wird ein Stab mit dünnwandigem Querschnitt auf Torsion beansprucht, so ist nach den obigen Resultaten mit Hinblick auf die Steifigkeit und Beanspruchung ein geschlossenes Profil zu wählen.

10

Stabilitätsprobleme der Elastostatik

Mit dem Einstieg in die Stabilitätstheorie begeben wir uns auf ein neues Gebiet der Elastizitätstheorie. Bei den bisherigen Betrachtungen zum Tragverhalten von Balken und Stäben sind wir immer davon ausgegangen, dass sich im verformten Zustand des belasteten Körpers eine Gleichgewichtslage einstellt, die hinsichtlich des Deformations- und Spannungszustandes eindeutig ist. Wie wir sehen werden, geht diese Eindeutigkeit bei Fragestellungen zur Beurteilung der Art des Gleichgewichts zum Teil verloren. Neben dem Überschreiten zulässiger Spannungen können Bauteile auch durch Verlust an Stabilität versagen. Für solche Bauteile ist zusätzlich ein Stabilitätsnachweis zu führen. Wir wollen vorab eine Definition der Stabilität einer Gleichgewichtslage vorausschicken: Die Stabilität einer Gleichgewichtslage ist dann gegeben, wenn ein statisches System nach geringer Auslenkung den ursprünglichen Gleichgewichtszustand wieder einnimmt. In der Stabilitätstheorie der Elastostatik wird zwischen den folgenden Gleichgewichtszuständen unterschieden: 1. Stabiles Gleichgewicht, 2. Labiles Gleichgewicht, 3. Indifferentes Gleichgewicht.

Abb. 10.1 Gleichgewichtszustände, Kugel und Stab unter Eigengewichtsbelastung

Die Bedeutung dieser Definitionen können wir uns für den Fall, dass die Belastung ausschließlich aus konservativen Kräften besteht, anhand einer auf einer Unterlage ruhenden schweren Kugel oder eines sich im Gleichgewicht befindenden drehbar gelagerten Stabes

294

10 Stabilitätsprobleme der Elastostatik

nach Abb. 10.1 verdeutlichen. Wir konzentrieren uns auf die Gleichgewichtslagen der schweren Kugel: Fall a) Nach einer kleinen Störung der Gleichgewichtslage kehrt die Kugel in ihre Ausgangslage zurück. Diese Gleichgewichtslage wird als stabil bezeichnet. Fall b) Im Fall der labilen Gleichgewichtslage genügt die geringste Störung, um die Kugel aus ihrer Gleichgewichtslage zu entfernen. Eine Rückkehr in die ursprüngliche Lage ist nicht mehr möglich. Fall c) Beim indifferenten Gleichgewicht führt eine kleine Störung zu einer dicht benachbarten Lage der Kugel, die wieder Gleichgewichtslage ist. Es existieren also mehrere Gleichgewichtslagen1. Die obigen Betrachtungen gelten allerdings nur für die unmittelbare Umgebung einer Gleichgewichtslage. Wir sprechen in diesem Fall von einer Stabilitätsuntersuchung im Kleinen. Bei einer globalen Stabilitätsuntersuchung (Abb. 10.2) eines Körpers können verschiedene Arten des Gleichgewichtes auftreten, die teilweise von der Größe der aufgebrachten Störung abhängen. Der Wechsel von einer instabilen zu einer stabilen Gleichgewichtslage kann mit unzulässig großen Verformungen einhergehen, die ein Tragwerk unbrauchbar machen.

Abb. 10.2 Globale Stabilität am Beispiel einer schweren Kugel

Hinweis: Nach dem bisher Gesagten können wir feststellen, dass die Festlegung der Art des Gleichgewichts einer Konstruktion oder eines Bauteils auch eine Frage der Definition ist. Bei Stabilitätsproblemen der Elastostatik unterscheiden wir, je nach der Art des Versagens, zwischen:  Verzweigungsproblemen (engl. bifurcation problems) und  Durchschlagproblemen (engl. snapthrough problems). Wir wenden uns zunächst den Verzweigungsproblemen zu. Ein typischer Vertreter dieser Problemklasse ist der an den Enden drehbar gelagerte und zentrisch durch eine Kraft P gedrückte Stab (Abb. 10.3). Aus Experimenten ist bekannt, dass durch Steigerung von P bis zu

1

Die Fälle b) und c) werden auch unter dem Begriff instabiles Gleichgewicht zusammengefasst.

10 Stabilitätsprobleme der Elastostatik

295

einem kritischen Wert Pk der Stab bei der geringsten Störung aus der gestreckten Lage in eine stabile, ausgeknickte Gleichgewichtslage übergeht. Der ursprünglich durch Normalspannungen beanspruchte Stab wird in der ausgeknickten Lage durch Biegung mit Normalkraft beansprucht, weshalb auch vom Biegeknicken (engl. buckling) gesprochen wird. Das System hat nach dem Ausknicken seine Gebrauchstauglichkeit verloren.

Abb. 10.3 Beidseits drehbar gelagerter Stab unter zentrischer Druckbeanspruchung, ausgeknickte Lage

Hinweis: Das Biegeknicken eines Druckstabes erfolgt schlagartig ohne Vorankündigung. Bei statisch bestimmten Systemen, etwa einem Fachwerk, liegt deshalb mit dem Ausknicken eines Druckstabes ein besonders gefährlicher Versagenszustand vor.

Abb. 10.4 Durchschlagen eines Zweibocks

Bei einigen statischen Systemen kann ein anderes Phänomen beobachtet werden, das als Durchschlagen bezeichnet wird. Der Übergang von der ursprünglichen Gleichgewichtslage in die neue, mit großen Verformungen verbundene ausgelenkte Gleichgewichtslage, erfolgt auch hier schlagartig. Ein Beispiel für diese Problemklasse zeigt Abb. 10.4. Schon bei kleinen Durchsenkungen des Scheitelgelenkes geht der lineare Zusammenhang zwischen der Belastung P und der Verschiebung f verloren. Wird die Last weiter gesteigert, kann es bei Erreichen der kritischen Last Pk zum Durchschlagen der Gesamtkonstruktion kommen. Die Stabilitätsuntersuchungen können prinzipiell mit zwei Methoden durchgeführt werden, der Gleichgewichtsmethode und der Energiemethode, wobei wir uns hier nur mit der Gleichgewichtsmethode beschäftigen werden. Hinsichtlich der Notation des Gleichgewichts wird zwischen den folgenden Verfahren unterschieden: Theorie 1. Ordnung: Das Gleichgewicht wir mit unveränderten Lasten am unverformten System ermittelt.

296

10 Stabilitätsprobleme der Elastostatik

Theorie 2. Ordnung: Das Gleichgewicht wird mit unveränderten Lasten am verformten System ermittelt. Theorie 3. Ordnung: Das Gleichgewicht wird mit nachgeführten Lasten am verformten System ermittelt. Wurden bei der Herleitung der Grundgleichungen Geometrie und Materialgleichungen linearisiert, so sprechen wir von linearen, sonst von nichtlinearen Theorien. Hinsichtlich der Art des Ausweichens von Bauteilen unterscheiden wir: Knicken: Der Stab weicht unter einer Druckkraft aus, die ideal in der Stabachse wirkt. Wird der Stab nach dem Ausknicken auf reine Biegung beansprucht, dann sprechen wir vom Biegeknicken. Fallen beim Knickstab der Flächenmittelpunkt S und der Schubmittelpunkt M nicht zusammen, dann kann es in Verbindung mit dem Knicken zu einer Torsion des Stabes kommen. Wir sprechen in diesem Fall vom Biegedrillknicken. Auch wenn Flächenmittelpunkt und Schubmittelpunkt identisch sind, kann es vorkommen, dass ein auf Druck beanspruchter Stab nach dem Ausknicken auf reine Torsion beansprucht wird, es handelt sich dann um das Drillknicken. Biegedrillknicken und Drillknicken treten vorwiegend bei dünnwandigen Stäben des Stahlbaus auf. Kippen:

Als Kippen bezeichnen wir das seitliche Ausweichen des Druckgurtes eines (schlanken) Biegeträgers. Da Zug- und Druckbereiche schubfest miteinander verbunden sind, muss es zu einer Torsion des Querschnitts kommen. In Abb. 10.5 ist das Kippen eines Hochkantträgers gezeigt.

Beulen:

Das Beulen ist das zweidimensionale Analogon zur Stabknickung. Es tritt bei Scheiben, Platten und Schalen unter der Einwirkung von Druck- und Schubkräften auf. Ein wichtiger Anwendungsfall begegnet uns im Stahlbau bei dünnen Stegen von Vollwandträgern (Stegblechbeulen).

Abb. 10.5 Kippen eines Hochkantträgers

Von entscheidender Bedeutung auf die Beurteilung der Art des Gleichgewichts ist das Verhalten der Belastung während der Verformung des Bauteils. Wir unterscheiden: Richtungstreue Belastung: Der Lastvektor (Betrag, Richtung, Orientierung) ändert sich während der Verformung nicht.

10.1 Verzweigungsprobleme Mitgeführte Belastung:

297

Der Lastvektor ändert sich während der Verformung.

Abb. 10.6 Richtungstreue und mitgeführte Kraft

Bevor wir mit der Stabilitätsuntersuchung einfacher Verzweigungsprobleme beginnen können, definieren wir noch folgende Zustände eines statischen Systems: Ausgangszustand: Das ist der natürliche Zustand des Systems vor Aufbringung der Lasten. Insbesondere soll dieser Zustand spannungsfrei sein. Grundzustand:

Das ist der Gleichgewichtszustand des Systems nach Aufbringung der Lasten auf den Ausgangszustand. Die Lasten denken wir uns quasistatisch aufgebracht.

Nachbarzustände: Das sind dem Grundzustand benachbarte Gleichgewichtszustände, die durch kinematisch mögliche Variationen des Grundzustandes erreicht werden. Das Verhalten der Lasten während der Variation des Verschiebungszustandes muss dabei bekannt sein.

10.1

Verzweigungsprobleme

An dem einfachen Beispiel nach Abb. 10.7 wollen wir die oben geschilderten Zustände etwas näher betrachten. Ziel der folgenden Untersuchungen ist die Ermittlung derjenigen kritischen Kraft Pk, für die neben der vertikalen eine ausgelenkte Gleichgewichtslage des Stabes existiert. Wir unterstellen, dass es sich bei dem Stab um einen starren Körper handelt. Damit besitzt dieses System nur einen Freiheitsgrad, nämlich die Starrkörperdrehung um den Punkt A mit dem Drehwinkel . Wurde die Drehfeder bei vertikaler Lage des Stabes spannungslos eingebaut, dann ergibt sich das Rückstellmoment am Fußpunkt A aus dem linearen Federgesetz zu M = c.

298

10 Stabilitätsprobleme der Elastostatik

Abb. 10.7 Ausgangszustand eines starren Stabes mit einem Freiheitsgrad

Theorie 1. Ordnung: Der Stab befindet sich in seiner nicht ausgelenkten natürlichen Lage. Die Kraft P wirkt ideal in Stabachsrichtung. Schreiben wir die Gleichgewichtsbedingungen für diesen Grundzustand an, dann erhalten wir die Auflagerreaktionslasten: AH = 0, AV = P, M = 0.

Abb. 10.8 System mit einem Freiheitsgrad, Grundzustand und Freischnittskizze

Die Theorie 1. Ordnung liefert also nur die Aussage, dass im Grundzustand mit den obigen Reaktionslasten ein Gleichgewichtszustand vorhanden ist. Über die Art des Gleichgewichts kann diese Theorie jedoch keine Aussage machen. Linearisierte Theorie 2. Ordnung: Zur Beantwortung der Frage, ob neben der Ausgangslage   0 dicht benachbarte Zustände   0 existieren, die auch Gleichgewichtszustände sind, wird das System um den kleinen Winkel  aus der vertikalen Gleichgewichtslage ausgelenkt (Abb. 10.10). Von der Kraft P verlangen wir, dass sich Betrag und Richtung im Zuge der Schrägstellung nicht ändern. Dann liefern die Gleichgewichtsbedingungen am verformten System die Auflagerreaktionslasten AH = 0, AV = P, M = P Beachten wir das lineare Materialgesetz der Drehfeder, dann kann die letzte Gleichung noch umgeschrieben werden in ( P  c)  0 .

(a)

10.1 Verzweigungsprobleme

299

Zur Erfüllung dieser Gleichung gibt es zwei Möglichkeiten: =0 P = c/ = Pk

1. 2.

Die triviale Lösung  = 0 ergibt die bereits bekannte Aussage der Theorie 1. Ordnung, wonach der Stab im Ausgangszustand verbleibt. Die zweite Lösung liefert mit Pk die kritische Kraft oder Verzweigungskraft. Sie ergibt sich als Eigenwert aus der Eigenwertgleichung (a). In einer linearisierten Theorie ist allerdings keine Aussage hinsichtlich der Entwicklung von P() für  > 0 möglich (Abb. 10.9).

Abb. 10.9 System mit einem Freiheitsgrad, kleine Verformungen

Nichtlineare Theorie 2. Ordnung:

Abb. 10.10

System mit einem Freiheitsgrad, große Verformungen

Wir lassen nun auch große Verformungen zu. Von der Kraft P verlangen wir aber weiterhin Richtungstreue. Das Gleichgewicht am verformten System liefert jetzt AH = 0, AV = P, M = Psin

300

10 Stabilitätsprobleme der Elastostatik

Aus der letzten Gleichung erhalten wir unter Berücksichtigung von Pk = c/ und M = c die Eigenwertgleichung P sin     0 Pk

~ P

oder

 sin 

mit

P ~ . P Pk

In Abb. 10.10 ist das Verhältnis P/Pk über  aufgetragen. Die Kraft-Verschiebungskurve besteht aus zwei Lösungsästen. Für den Grundzustand ( = 0) sind mit P < Pk = c/ alle Gleichgewichtslagen stabil. Der zweite Lösungsast, der auch als Nachknickkurve (engl. postbuckling curve) bezeichnet wird, beschreibt zwei weitere Nachbarzustände || > 0. Bei~ spielsweise folgt für |*| = /4: P   / 4 2  1,11 . Eine Aussage über die Art des Gleichgewichts dieser Zustände kann jedoch mit der Gleichgewichtsmethode nicht getroffen werden. Da die Nachknickkurve monoton steigt, vermuten wir in diesem Bereich stabile Gleichgewichtszustände. Der Schnittpunkt beider Lösungsäste legt die kritische Kraft Pk fest. Für viele technische Anwendungen reicht es aus, diese Kraft zu kennen, die wir mit geringem Aufwand bereits aus einer linearisierten Theorie 2. Ordnung berechnen können.

Abb. 10.11 Elastisch eingespannter Stab mit exzentrisch angreifender Kraft P, imperfekter Stab

Wir haben in den bisherigen Beispielen die Kraft P zentrisch angreifen lassen. In diesem Fall wird von einem perfekten Stab gesprochen. In der Praxis kann dieser ideale Zustand jedoch nur schwer oder gar nicht erreicht werden. Vielmehr wird bereits im Grundzustand die Kraft P exzentrisch mit einer Imperfektion angreifen (Abb. 10.11). Wir sprechen dann von einem imperfekten Stab. Wurde die Feder im Ausgangszustand bei  = 0 spannungslos eingebaut, dann resultiert daraus das Rückstellmoment M   c(   0 ) und das Momentengleichgewicht um den Drehpunkt A liefert M   P' sin  mit  '   1  (e /  ) 2 . Beachten wir noch das Materialgesetz für die Drehfeder, dann ist P   0 ~ P  Pk sin 

mit

Pk 

c c .   '  1  (e /  ) 2

10.1 Verzweigungsprobleme

301

~ In Abb. 10.12 wurde die Funktion P(, 0 ) über  aufgetragen. Den Winkel 0 der Vorverformung, den wir positiv annehmen können, fassen wir als Parameter auf. Für positive Auslenkungen  ergibt sich jeweils nur eine Kurve. Eine Verzweigung des Gleichgewichts tritt nicht auf, da beim imperfekten Stab von vornherein ein Biege- und kein Knickproblem vorliegt. Für kleine Auslenkungen 0 schmiegen sich die Kurven an den zweiten Lösungsast des perfekten Stabes an. Auch beim imperfekten Stab kann die Gleichgewichtsmethode allein keine Aussage über die Art des Gleichgewichts treffen, wobei die in Abb. 10.12 für  < 0 gestrichelt dargestellten Kurvenbereiche Ergebnis einer hier nicht durchgeführten Energiebetrachtung sind.

Abb. 10.12 Systemverhalten im Nachbarzustand für einen imperfekten Stab

Beispiel 10-1:

Abb. 10.13 Durch eine Feder seitlich gestützter Stab, große Verformungen

302

10 Stabilitätsprobleme der Elastostatik

Ein am Punkt D drehbar gelagerter starrer Stab wird durch eine lineare Feder (Federkonstante c), die bei  = 0 spannungslos eingebaut wurde, seitlich gestützt (Abb. 10.13). Die richtungstreue Kraft P greift mit der Exzentrizität e am oberen Ende des Stabes an. Gesucht sind nach der nichtlinearen Theorie 2. Ordnung die vom System aufnehmbaren Grenzkräfte. Lösung: Wir verwenden wieder die Gleichgewichtsmethode und notieren zunächst die Ortsvektoren in der unverformten Ausgangslage sowie den Vektor P der äußeren Belastung:  0   h  P  rA    , rB    , rC    , P    .  a e 0        0

Lenken wir den starren Stab um den Winkel  aus, dann sind cos  rB '    sin 

 sin       cos   e sin   cos  , rC '        cos   e   sin   e cos    sin 

 sin    h   h cos   .  cos    0   h sin  

Der Einheitsvektor eF in Richtung der Federachse (Abb. 10.13, rechts) ergibt sich mit  h (1  cos )  rC ' A  rA  rC '      ( a  h sin ) 

zu

eF 

1  h (1  cos ) .  F  (a  h sin )

In der obigen Beziehung ist  F  rC'A  h 2 (1  cos ) 2  (a  h sin ) 2 die sich in der ausgelenkten Lage einstellende Federlänge. Die Federkraft folgt dann aus dem linearen Federgesetz

F  c ( F  a ) e F 

c( F  a )  h (1  cos )  (a  h sin ) . F  

Das Momentengleichgewicht bezogen auf den Drehpunkt D erfordert M 0  0  rB'  P  rC '  F .

Der Vektor M0 besitzt nur eine Komponente, die senkrecht auf der Systemebene steht. Lösen wir diese Gleichung nach P auf, dann liefert uns Maple mit den dimensionslosen Abkürzungen  F  , a  , h  , e   die bezogene Kraft:

    cos    sin      P ~   1    O(3 ) . P 2  sin    cos    c Insbesondere gilt für den perfekten Stab mit  = 0:

P (  )( cot   ) 1 ~ P   1  2  O(3 ) . 2  2 c

(a)

Wie die obige Reihenentwicklung in (a) zeigt, nimmt die Nachknickkurve in der Umgebung von  = 0 ab. Dieser Sachverhalt veranlasst uns, von instabilen Nachbarzuständen zu sprechen.

10.2 Durchschlagprobleme

303

Abb. 10.14 Systemverhalten im Nachbarzustand, aufnehmbare Grenzkräfte ( =  = 1/2)

Zur Ermittlung der vom System aufnehmbaren Grenzkräfte benötigen wir die Änderung der bezogenen Kraft mit dem Drehwinkel . Maple liefert uns für die Parameterkombination  =  = 1/2,  = 1/10 die folgenden Grenzwinkel und zugehörige Grenzkräfte: ~ c ~ P1  0,78 , 1  0,58 : P1  P1  0,20 c , 4 ~ c ~ P2  0,42 , 2  1,06 : P2  P2  0,10 c . 4 Die kritischen Kräfte des perfekten Stabes mit  = 0 sind: ~ 1  0 : Pkr ,1  1 Pkr ,1  c2  0,25 c , 2  1,06 :

~ Pkr ,2  0,39 ,

Pkr , 2 

c ~ P2  0,10 c . 4

Wie Abb. 10.14 zeigt, nehmen die Grenzkräfte mit zunehmender Exzentrizität  ab. Unser System reagiert also empfindlich auf imperfekte Krafteinleitungen. Wie bereits erwähnt, kann mit der Gleichgewichtsmethode allein keine Aussage über die Art des Gleichgewichts getroffen werden. Die Stabilitätsaussagen in Abb. 10.14 wurden mit der Energiemethode (hier nicht behandelt) erzeugt. Eine detaillierte Darstellung dieses Themenkreises findet der interessierte Leser in (Trostel R. , Mechanik III, Energieprinzipien der Mechanik, 1979).

10.2

Durchschlagprobleme

Das Phänomen des Durchschlagens liegt vor, wenn das System beim Erreichen der Stabilitätsgrenze Pk schlagartig vom ursprünglichen Gleichgewichtszustand in eine neue Gleichgewichtslage übergeht. Die neue Gleichgewichtslage ist dann stabil. Das Durchschlagen selbst ist ein kinetisches Problem, das mit rein statischen Methoden nicht beschrieben werden kann.

304

10 Stabilitätsprobleme der Elastostatik

Wir stellen zu diesem Problemkreis ein Beispiel vor, zu dessen Lösung wieder die Gleichgewichtsmethode eingesetzt wird. Beispiel 10-2:

Abb. 10.15 Zweibock, Freischnittskizze

Für den in Abb. 10.15 skizzierten Zweibock (engl. von Mises1 truss) sollen die kritischen Kräfte berechnet werden. Wir unterstellen, dass die Stäbe während der Verformung gerade bleiben. Ein Stabknicken vor dem eigentlichen Durchschlagen der Gesamtstruktur soll also nicht auftreten. Lösung: Zur Herleitung der Kraft-Verschiebungsbeziehung benötigen wir geometrische Aussagen, das Kraftgleichgewicht und ein Materialgesetz, wobei wir hier Hookesches Material unterstellen. 1. 2. 3.

h h0  f ,   a 2  h 2   20  f (f  2h 0 ) ,    P P   , Kraftgleichgewicht: N   2 sin  2 h0  f

Geometrie:

Materialgesetz:

sin  



N  E  E ( /  0  1) . A

(a) (b) (c)

Einsetzen von (a) und (b) in (c) liefert die nichtlineare Kraft-Verschiebungsbeziehung   1 ~ P(, )  2(  )   1  22  3(1  2 )2  O(3 ) ,  1  (  2) 

~ wobei zur Abkürzung die Normierungen P  P /(EA) ,   f /  0 ,   h 0 /  0 verwendet wurden. Die Kraft-Verschiebungskurve (Abb. 10.16) beginnt am Punkt (0). Mit ansteigender ~ Kraft nimmt die Verschiebung  nichtlinear zu. Am Punkt (1) wird die kritische Kraft P1 erreicht. Bei geringster Kraftsteigerung schlägt bei einem kraftgesteuerten Versuch das System vom Zustand (1) in den Zustand (2) durch. Wird die Struktur nach dem Durchschlag in den Punkt (2) zunächst entlastet und dann in umgedrehter Richtung wiederbelastet, dann 1

Richard Edler von Mises, österreichischer Mathematiker, 1883–1953

10.2 Durchschlagprobleme

305

dreht sich der vorab beschriebene Prozess um. Wird der Punkt (3) erreicht, dann schlägt das System in den Punkt (4) durch. Der dort erreichte Gleichgewichtszustand ist dann wieder stabil. Der gestrichelten Kurve (instabiler Ast) zwischen den Punkten (1) und (3) kommt nur bei einem weggesteuerten Versuch eine physikalische Bedeutung zu.

Abb. 10.16 Kraft-Verschiebungsbeziehung ( = 0,7071)

~ Die Nullstellen von P(, ) sind: 1  0 , 2   , 3  2 , und die Orte, an denen die Extremwerte auftreten, das sind die Punkte (1) und (3), ermitteln wir aus der Bedingung ~ P(, ) /   0 . Maple liefert uns: (1,3)    2  1  (1  2 ) 2 / 3 .

Dazu gehören die Extremwerte





2 2  1  (1  2 ) 2 / 3 (1  2 )1 / 3  1 2 ~ Pk (1,3)    3 3  O (5 ) . 9 (1  2 )1 / 3

Nur bei einem sehr flachen Zweibock (