Tanger: Der Hafen, die Geister, die Lust. Eine Ethnographie 9783839433386

The city of Tangiers in Morocco was for a long time a site of seductions, where painters, literati, and bon vivants coul

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German Pages 356 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Kapitel 1 – Ein Haus in Tanger
Kapitel 2 – Kosmopolitismus als Erbe
Kapitel 3 – Über Dschinnen und Hunde
Kapitel 4 – Die Sufis, Wahn und Wirklichkeit
Kapitel 5 – Die Häfen der Modernisierung
Kapitel 6 – Hamid und die Hammel
Kapitel 7 – Die nackte Angst
Nachwort
Literatur
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Tanger: Der Hafen, die Geister, die Lust. Eine Ethnographie
 9783839433386

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Dieter Haller Tanger

Kultur und soziale Praxis

Dieter Haller, geb. 1962, ist seit 2005 Professor für Sozialanthropologie an der Ruhr-Universität Bochum und Mitbegründer des dortigen Zentrums für Mittelmeerstudien. Er forscht und publiziert über den westlichen Mittelmeerraum.

Dieter Haller

Tanger Der Hafen, die Geister, die Lust. Eine Ethnographie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Dieter Haller, Hafen von Tanger, 2013, © Dieter Haller Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3338-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3338-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

E INLEITUNG |

7

Drei Sünden | 16 Danksagung | 32

KAPITEL 1 – EIN HAUS IN TANGER |

35

KAPITEL 2 – KOSMOPOLITISMUS ALS ERBE | KAPITEL 3 – ÜBER DSCHINNEN UND HUNDE |

49 73

Vorrede | 73 Schädigende Kontakte | 83 Orte des Übergangs | 93 Auf dem Friedhof | 102

KAPITEL 4 – DIE S UFIS, W AHN UND WIRKLICHKEIT | 111 Vorbemerkung | 111 Die Geister und die Lüste | 140 Die Sufis, der König und die Islamisten | 152 Eine muslimische, gar eine sufistische Ethnologie? | 161

KAPITEL 5 – DIE HÄFEN DER MODERNISIERUNG |

173

Die Neugestaltung Tangers und des Nordens | 176 Der neue Überseehafen Tanger-Med | 181 Der Stadthafen Tanger-Ville | 185 Der Masterplan Tanger-Métropole | 191 Eine Ethnographie des Hafens und des Strandes | 193 Porträt 1: Der Fischer – Taha | 195 Porträt 2: Der Fischhändler – Soufiane | 200 Porträt 3: Der Artist – Mohammed Hammich | 211

Porträt 4: Der Antiquar – Mustafa Ben Amar | 218 Von der Stadt zum Atlantik | 236 La Misère | 240 Tagträumereien | 259

KAPITEL 6 – HAMID UND DIE HAMMEL | 265 KAPITEL 7 – DIE NACKTE ANGST | 269 Tanger als Sehnsuchtsort | 275 Die Modernisierung der Geschlechtlichkeit | 286 Was weiß denn schon die Ethnologie…. | 295 Erklärungsversuche | 302 Nadirs Leid: vom Begehren zur Identität | 311

NACHWORT | 315 LITERATUR | 323

Einleitung

Tanger lebt und Tanger pulsiert. Auf dem Boulevard die Paare Arm in Arm, auf und ab wie eh und je, am Suq Barra, dem großen Markt, die Taxis im Chaos. In der Medina Touristen, selbsternannte Literaten und Exilanten im Café de Paris. Händler mit Waren und Tagediebe. Männer aufgereiht in den Cafés mit wandernden Blicken, die bettelnde Alte, das Gesicht faltig, Urmutter der Welt. Ein Parkplatzwächter, offiziell die Plakette, aus dem Gully der Geruch von altem Gemüse und Blut. Im Hafen noch Fischer und in den Bureaus die Geschäftigen in Anzug oder Kostüm. Der Ruf des mu'adhdhin (Muezzin, ‫ ) ذن‬im Himmel über der Stadt und noch immer die Kirchen der Christen. Wo fängt es an, wo endet es? Vor 60 Jahren war das klar: die Medina mit ihren Muslimen, Christen und Juden, einige Viertel drum herum und die Neustadt. Kaum 150.000 Bewohner. Heute zehn Mal so viel, von Boukhalef im Westen nach Malabata im äußersten Osten. Aus dem Süden Marokkos und aus den Bergen des Rif. Aus Ghana, aus Mali, dem Senegal. Auf dem Weg nach Europa. Aus Spanien auf der Flucht vor der Krise und aus Frankreich nach dem Zauberland Orient. Schmuggel von Menschen und Drogen, Waren aller Art nach Marokko und wieder zurück, Freihandelszonen, Fließbänder, man fällt um vor Erschöpfung, Call Center für Europa und Garküchen und Papiertaschentuchverkäuferinnen und Arme mit kranken Gliedmaßen zur Schau. Start-Up-Unternehmen und die Universität – und über all dem die Erneuerung der Stadt mit großen Plakaten von Straßen und Häfen und Opern. Für Allah, Al-Watan, Al-Malik – den Herrn, das Vaterland und den König, für Parkplatzwächter und Marktfrauen und falsche Stadtführer, für Freigeister und alte Sozialistinnen, für bärtige Fundamentalisten und für die Frauen der Sufis. Für den Geist und für Geister, für Trancen und die Librairie des Colonnes. Für klebstoffschnüffelnde Lümmel in der Rue de la Liberté, Mittelschichtskinder auf der Terrasse von McDonald’s. Für den Hammel in der Altstadt und das Autohaus für Nobelkarossen in Gzenaya – all das ist Tanger.

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Tanger zu beherrschen, und sei es mit einem akademischen Text über ›seine‹ Kultur, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist auch gar nicht wünschenswert. Natürlich ist die Versuchung groß, so zu tun, als hätte man, als hätte ich Tanger verstanden. Normalerweise versuchen Wissenschaftler ja, ihr Thema zu erfassen, zu meistern. Aber ich war nicht oft genug in Jerari oder Char Bendiban, und Rah Rah, Mujahiddine oder Mghogha kenne ich nur von wenigen Ortsbegehungen. In die Welten der Zuwanderer aus dem Süden habe ich kaum Einblick erhalten, in die der Mittelschicht auch nur begrenzt. Mein Darija, die lokale Variante des Arabischen, war ohnehin nicht so gut und außerdem habe ich gern lange geschlafen. Zu fragmentiert ist die Stadt, städtebaulich, architektonisch und lebensweltlich, und zu spezifisch sind die Alltage, an denen ich teilhaben und in die ich eintauchen durfte, ab und zu tief, öfters jedoch nicht ganz so tief, wie ich mir das wünschte. Ethnologen haben zwar Pläne, aber letztendlich weichen sie vom Wege ab und geraten so im wahrsten Sinne des Wortes ins Delirium: sie gehen sie dorthin, wo sich ihnen Türen öffnen. Dieses Buch wird daher eher Schlaglichter auf kulturelle Realitäten in Tanger werfen, die aber größere Kontexte beleuchten, anstatt eine Gesamtschau zu versuchen – sie wäre ohnehin zum Scheitern verurteilt. Schlaglichter auf Grundlage einer elfmonatigen ethnologischen Feldforschung und von zusätzlichen Recherchen vielfältiger Art1. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.2 Es ist kaum möglich, über Tanger zu schreiben und dabei nicht den Schriftsteller Paul Bowles zu erwähnen. Ich möchte diese Gefahr gleich zu Beginn dieses Buches bannen und verspreche: in diesem Buch geht es nicht um Bowles. Es handelt auch nicht von Matisse oder Delacroix, nicht von den Literaten der Beat Generation oder den Hippies, deren Gemälde, Texte, Filme und Lieder das Bild von der Stadt für ein amerikanisches und europäisches Publikum nachhaltig überlagern, ja den Einheimischen die Stadt enteignet haben.3 So sagte der einheimische Dichter Mohamed Choukri einmal: »Ich kritisierte ihn [Bowles], weil er unsere Geschichten und Ideen benutzt hat wie ein literarischer Kolonialist.«4 Bowles, den ich im Übrigen sehr schätze, hat nicht nur die marokkanischen Geschichten für sich genutzt – seine Texte und die anderer Künstler und 1 2

3 4

Kurzaufenthalte, Literaturrecherchen, ausgedehnte und kontinuierliche Kontakte und Diskussionen über die sozialen Netzwerke. Ich kann mich nur Matthijs van de Port anschließen, der in seinem Buch über Bahia in Brasilien schreibt: »›Being-in-the-here-and-now‹ he muses › – the most alluring promise of immersion – does not happen as long as you claim authorship of the world you inhabit.‹« (van de Port cit. in: Mayblin 2014 S.64). Z.B. Walonen 2011; Mullins 2002; Finlayson 1992; Vaidon 1977. Vgl. Choukri 1995.

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Lebenskünstler aus Europa und Amerika dominieren auch einen Gutteil der Literatur über die Stadt. Darüber hinaus bewegten sich er und sein Kreis weitgehend unter sich – man verstand sich als expatriiert5 und pflegte kaum Kontakte zu anderen sozialen Gruppen oder den Gemeinschaften etwa der einheimischen Europäer.6 Sich Bowles und seinem Kreis erneut zuzuwenden ist also nicht meine Sache. Das machen Andere, immer und jederzeit. Eigentlich fast alle Fremden, die über Tanger schreiben. Der andere Teil der Literatur über Tanger – insbesondere der wissenschaftlichen – ist vom Thema der Migration7 geprägt: Tanger als Stadt des Überganges, ein Ausgangspunkt für die Fahrt hinüber ins nahe Spanien. Der Fokus liegt hier auf Passagen, auf Mobilitätswünschen und -hoffnungen von Marokkanern und Schwarzafrikanern, nicht aber auf der Daseinsbewältigung vor Ort (und die, die bleiben, das sind Viele). Ich verspreche daher: das vorliegende Buch ist auch kein Buch über Migration. Schließlich versuchte ich für die Zeit der Feldforschung auch nicht, mich den Diskursen von Akademikern zuzuwenden, sondern vielmehr, mich auf doppelte Weise gegen eine tiefere wissenschaftliche Einarbeitung in die Themen, denen ich mich während meiner Forschung zuwandte, zu immunisieren: vorgeprägte Diskurse bestimmen die Beschäftigung mit empirischen Gegenständen und verleihen dem Leser oftmals Scheuklappen, die ihn die ethnographische Erfahrung nicht mehr durch das eigene Wahrnehmungssensorium erfassen lassen, sondern vor allem durch die Stimmen Anderer. In der Forschungsphase wollte ich mich daher nicht von den Texten der großen Kollegen beeinflussen lassen. Stattdessen nahm ich, wie Goffman8 das vorschlug, lediglich ein paar Krimis mit ins Feld. Ich verordnete mir beispielsweise eine strenge Abstinenz der Lektüre über die Ḥamādša, nachdem ich diese Sufibruderschaft eher ungeplant kennengelernt hatte: Crapanzano und Zillinger etwa, deren Werke man nicht hoch genug schätzen kann, wollte ich erst nach Abschluss der Forschung erlesen. So bin ich etwa froh darüber, dass ich mir zu Beginn der Begegnung mit dieser Bruderschaft nicht sofort Crapanzanos sozialpsychologische Brille aufgesetzt habe, sondern mich auf den Glauben an die tatsächliche Existenz der Geistwesen, so wie er mir von den Teilnehmern an den Ritualen der Ḥamādša vermittelt wurde, einlassen konnte.

5 6 7 8

Ceballos 2009 S.241. Ebd. S.240ff, 274. Driessen 1995, 1996, 1999; Carr 1997; Nyberg Sorensen 2000, 2006; McMurray 2001; Ribas Mateo 2003; Ribas Mateo 2005 S.223-276; Lahlou 2003; Rickmeyer 2009. Goffman 1989 S.127.

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Aus einem anderen Grunde habe ich während meiner Feldforschung versucht, auch so wenig Kontakte wie möglich zu einheimischen Intellektuellen zu pflegen: sie vertreten meist modernistische Sichtweisen über die Diskurse und Alltagspraktiken der kleinen Leute, deren Lebenswelten ich mich zuwende, die sie aber häufig geringschätzen.9 Diese Versprechen werden fast eingehalten, ganz umgehen lassen sich die expatriierten Literaten, die Migranten, die wissenschaftliche Lektüre und die Intellektuellen nicht. Sie formen die Stadt Tanger als Mythos, sie bestimmen gewissermaßen das Diesseits des Mythos. Dieser Mythos nährt sich aus der Vergangenheit der Stadt als einer Internationalen Zone in den Jahren 1923 bis 1956, sowie aus verschiedenen, damit literarisch verknüpften Topoi: Orientalismus, Sex und Sinnlichkeit, Drogen und Selbstverwirklichung, Schmuggel, Kriminalität und Spionage.10 Der maßgeblich von Expatriierten genährte Mythos aber ist ein Mythos für die Fremden aus Europa und den USA, nicht die Realität derer, die als Muslime, Christen und Juden auf Dauer in Tanger lebten. Auch ich war diesem Mythos lange erlegen, bevor ich mich der Stadt ernsthaft als Forschender näherte. Dies liegt nicht nur daran, dass ich auch über eine durchaus romantische Ader verfüge, sondern vielmehr an der Tatsache, dass es kaum englisch-, französisch- oder deutschsprachige Texte gibt, die etwas anderem als diesem Mythos erlegen sind und mit denen man sich auf andere Weise hätte auseinandersetzen können. Ich wollte mich aber in meiner Feldforschung wie Alice auf die andere Seite des Spiegels begeben, nach jenseits dieses Mythos, in eine Realität, die sich vom herkömmlichen Standpunkt als außermythisch bezeichnen lässt. Ich beabsichtigte, mich anderen Themen als denen der Literaten und Intellektuellen zuwenden, anderen Lebenswelten: es sind daher nicht die Stimmen der Amerikaner und der Europäer, nicht die der Intellektuellen und auch nicht die der Künstler, die ich zu hören gedachte. Stattdessen stehen Einheimische, besonders die vielfältigen Sichtweisen von Muslimen (und in geringerem Masse auch von einheimischen Christen und Juden), die Formen der Daseinsbewältigung durch die Armen und die kleinen Leute und vor allem die ethnographische Perspektive im Zentrum meiner Forschung und konsequenterweise auch dieses Buches. Und es sind vor allem männliche Welten, in die ich 9

Ich habe mich auch von Münzels (1993 S.172) Verdikt beeinflussen lassen, der davor warnt, den Blick »weg von kongolesischen Bauern und hin zu kongolesischen Akademikern, weg von amerindischen Forschern hin zu amerindischen Politikern« zu wenden, da Letztere häufig überhaupt keine Beziehung weder zu Masken noch zu Fischerhaken haben. 10 Vgl. Mattes (1994) über das Bild Tangers im deutschen Schrifttum des 20. Jahrhunderts

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eindringe – auch in Tanger ist es fast unmöglich für einen Fremden, die Welten der Frauen aus den Schichten, die mich interessierten, zu betreten. Im Nachhinein ist die kulturhistorische Einbettung heutiger Gepflogenheiten ohne die Rückbeziehung auf Vorgänger, auf deren breiten Schultern ich Platz zu nehmen versuche, jedoch unabdingbar: Edward Westermarck (1909, 1920, 1933, 1968), der große finnische Ethnologe, der über viele Jahre in Tanger logierte und von hier aus Marokko zu Beginn des 20. Jahrhunderts erforschte; die lokalen Autoren Alberto España (1954), Isaac Laredo (1936) und Isaac Assayag (2000), deren lokalhistorischer Akribie man nur dankbar sein kann; den klugen Beobachtern Walter Harris (2011), Edouard Michaux-Bellaire (1921) von der Direction des Affaires Indigènes et du Service des Renseignements, David Woolman (1998)11 und Pierre Maló (1953). Genug über den Mythos und über die Vergangenheit: was lässt sich über die Gegenwart Tangers konstatieren? Wie keine andere mediterrane Stadt erlebt Tanger heute eine tiefgreifende ökonomische, infrastrukturelle und urbanistische Transformation, die sowohl den Charakter der Stadt als auch die bestehenden Formen der Daseinsbewältigung auf die Probe stellt. Sechs Transformationstendenzen lassen sich identifizieren, auf die ich an dieser einleitenden Stelle nur kursorisch (an anderen Stellen in diesem Buch dafür dezidierter) eingehen werde. Bei diesen Tendenzen ist es wichtig zu betonen, dass es sich um Entwicklungen handelt, die von außerhalb Tangers kommen, die man sich in Tanger allerdings auf spezifische Weise aneignet. Die bedeutendste Transformationstendenz, der Tanger heute ausgesetzt ist, ist die Modernisierung der Stadt durch die großen, vom König angestoßenen Infrastrukturprojekte Tanger-Med, Tanger-Ville und Tanger-Métropole (ausführlich dazu gleich in der Folge in dieser Einleitung, außerdem in den Kapiteln 2 und 5). Ein zweiter Prozess ist die zunehmende Ruralisierung der Stadt durch den immensen Bevölkerungszuzug aus dem Hinterland. Nicht nur die Stadt wächst dadurch, auch die Mentalitäten in der Stadt verändern sich (mehr dazu in Kapitel 2). Als Orientalisierung lässt sich die Umgestaltung vieler Immobilien in der Altstadt durch europäische Käufer bezeichnen, die sich dort ihren Traum vom Orient verwirklichen, indem sie die klassisch-mediterranen Stadthäuser in araboide Riads umbauen lassen (auch hierzu Kapitel 2). Arabisierung bezeichnet eine vierte Tendenz. Diese unterscheidet sich heute von der Arabisierung Marokkos nach 1956, bei der es um die Ausbildung eines marokkanischen Nationalbewusstseins über die Hervorhebung arabischer Bezüglichkeiten ging. Damals wurden etwa berberische Traditionen zu regionalen, bes11 Vaidon 1977.

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tenfalls touristisch vermarktbaren Folkloreversatzstücken herabgewürdigt.12 Sie war politisch orchestriert. Die heutige Arabisierung dagegen dringt über panarabisch ausgerichtete Medien in den Bereich der Alltagskultur ein. Al Jazeera und weitere Sender, die vor allem in den Golfstaaten produziert werden, haben etwa die spanischen und französischen Sender vom ersten Platz der Medien verdrängt. Neben den Medien ist die Präsenz saudischer und golfarabischer Investoren in Tanger zu nennen (in der öffentlichen Rhetorik spricht man sogar davon, Tanger zu einem Dubai am Eingang des Mittelmeeres zu machen), sowie die zunehmende Golfarabisierung der Stadtarchitektur, insbesondere in den wachsenden Vierteln v.a. im Westen der Stadt, etwa in Ghandouri, Sania und Bellavista (auch hierzu mehr in Kapitel 5). Mit der Arabisierung verbunden, allerdings nicht darunter zu subsummieren, sind die Salafisierung und Wahabisierung des Alltages. Beide sind mit dem bereits angesprochenen Medienkonsum, aber auch mit der Präsenz saudischer Prediger verbunden und zeigen sich auch im Wahlerfolg der seit 2011 in Marokko und seit 2015 auch lokal in Tanger regierenden islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung. Dieser Prozess manifestiert sich im Alltag etwa in der Veränderung von Kleidung und Habitus, in den Kampagnen gegen den Konsum von Alkohol, Verstöße gegen die öffentliche Moral (z.B. Küsse in der Öffentlichkeit), gemischtgeschlechtliche Strände und das Tragen von Bikinis (mehr vor allem in den Kapiteln 4 und 7). Schließlich sei als letzter Prozess die zunehmende Marokkanisierung Tangers angeführt. Die Modernisierungsvorhaben sind ja auch darauf ausgerichtet, den lange vernachlässigten Norden an das Zentrum und an den Süden des Landes anzuschließen, etwa durch Infrastrukturprojekte wie den TGV, und in den Nationalstaat einzubinden. Auf der Ebene von Konsum und Architektur sei die Ausbildung einer prüden mittelständischen marokkanischen Klasse, deren Geschmack sich in nichtmediterranen Architekturformen – etwa der Ersetzung der alten Holzpforten in der Medina durch schwülstige Metallkonstruktionen – ausdrückt. Ein weiteres Beispiel ist die Neugestaltung der Grotten des Hercules13 im Süden der Stadt. Dieser Prozess wird im vorliegenden Buch nicht ausführlich beleuchtet, in Kapitel 7 jedoch angesprochen. Sowohl die Stadt selbst als auch der lange vernachlässigte gesamte Norden des Landes werden von diesen sechs Transformationen, die den mediterranen Charakter der Stadt umpflügen, erfasst: Wirtschaftsfreizonen, in denen v.a. Europäer und Asiaten Automobile, Textilwaren und andere Güter produzieren lassen, entstehen im Umland Tangers. Für den französischen Konzern Renault 12 Vgl. Qadéry 2015. 13 https://www.youtube.com/watch?v=fTHWvxbcGk8

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wurde sogar eine eigene Stadt, Chrafate, gegründet. Eine Autobahn bindet den Norden an den Rest des Landes an, die erste TGV-Strecke Afrikas verbindet Tanger mit Casablanca. Der mit der südafrikanischen Stadt Durban um Platz eins des größten Tiefwasserhafens des afrikanischen Kontinentes konkurrierende Hafen Tanger-Med wurde vor zehn Jahren eröffnet. Tanger selbst soll in eine Luxusdestination für Touristen umgewandelt werden. All diese Maßnahmen sollen die Stadt, wie bereits erwähnt, in ein Dubai am Eingang des Mittelmeeres verwandeln.14 Von Modernisierung kann man hier im klassischen Sinne sprechen, denn der Begriff selbst wird in Tanger weithin verwendet: eine mediterrane Stadt soll unter den Vorzeichen des Neoliberalismus den globalen Kapitalströmen zugänglich gemacht werden. Gleichzeitig beabsichtigt das Projekt, den gerade im Norden starken islamistischen Gruppen, die eine Gefahr für die Macht des Königshauses darstellen, den Boden zu entziehen, indem man die Bevölkerung u.a. mit Arbeitsplätzen und vielfältigen Formen des Islam immunisiert. Dies bedarf, hört man auf Vertreter der Modernisierung wie Abdellatif Brini, den Verwaltungschef des urbanistischen Programmes Tanger-Métropole, einer Veränderung herkömmlicher Lebensweisen: »Bueno, hay que cambiar una cultura de […] vivir, otra educación cívica [Gut, es bedarf einer Änderung der Lebensweise, einer anderen bürgerschaftlichen Bildung]«.15 Diese Absichten waren auch der Ausgangspunkt meiner Forschung. Ich wollte ursprüngliche der Frage nachgehen, welche Effekte die Modernisierung auf die Daseinsbewältigung der Armen und Perspektivlosen in Tanger hat, und ob sich die königliche Strategie der Austrocknung des Jihadismus als erfolgreich erweist. Brinis Sprache ist unverhohlen modernistisch, bindet sie doch wirtschaftliche Entwicklung an die Ausbildung einer neuen Kultur, einer anderen Lebensweise, einer Bürgergesellschaft. Welche Vorstellungen von Bürgerlichkeit sind damit gemeint in einer feudalen Monarchie? In einer muslimischen Gesellschaft? Sicherlich nicht die Bürgerlichkeit, die Tanger als eine der wenigen Städte Afrikas lange, in der Zeit der Internationalen Zone, prägte. Damals war Tanger ein Leuchtturm der Moderne, deshalb ist der Begriff der Modernisierung für die Entwicklungen der Gegenwart gerade für Tanger auch nur ironisch zu verstehen;16 aber auch der Begriff der Globalisierung greift für die Stadt, die in der

14 Kürzlich wurde Tanger sogar von der Weltbank (2015) auf den weltweit fünften Platz der Wirtschaftsentwicklung und der Generierung von Arbeitsplätzen gelistet. 15 Casqueiro 2014. 16 Tanger war schon immer modern. Freilich handelt es sich um eine kosmopolitische Moderne, wie sie auch Kahanoff als typisch für die levantinischen Städte der Wende vom 19ten zum 20sten Jahrhundert beschreibt (Ohana 2016).

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Zonenzeit ein zentraler Baustein der globalen Finanzwirtschaft war, zu kurz und bringt seine Bewohner zum Gähnen: hier war man schon immer globalisiert. Nimmt man jedoch nicht die Zeit der Internationalen Zone, auf die sich in der Regel alle Schreiber über Tanger, seien sie nun Literaten oder Wissenschaftler, beziehen, als Bezugspunkt, sondern die Zeit nach 1956, vor allem aber die Zeit zwischen 1970 und 2000, dann werden Modernisierung und Globalisierung wieder brauchbare Begriffe, um die Entwicklungen der Gegenwart zu erfassen. Denn nach der Eingliederung in den neuen Nationalstaat Marokko (1956), insbesondere aber seit den späten 1960er Jahren, erfuhr Tanger durch die Politik des Königs Hassan II, der den Norden aus Gründen verabscheute, die in diesem Buch noch thematisiert werden, einen Abschwung, eine planmäßig gewollte Vernachlässigung. Tanger erlebte einen ökonomischen Niedergang und den Zerfall funktionierender urbaner Strukturen etwa in der Kriminalitätsbekämpfung, der Stadtreinigung, der Stadtplanung. Kombiniert mit der landesweit herrschenden Polizeistaatlichkeit und einem Feudalsystem,17 das aus westlicher Sicht oftmals als hochgradig korrupt bezeichnet wird,18 fand sich die Stadt in einer schwierigen Situation wieder. Sie wurde lange maßgeblich von mafiösen Strukturen und dem Drogenhandel – dem einzig funktionierenden Wirtschaftszweig – dominiert. Mit der Thronbesteigung des jungen Königs Mohamed VI im Jahre 1999 sollte sich die Lage Tangers und des Nordens ändern, denn er war es, der die bereits erwähnten Transformationen anstieß. Zu den Themen, die ich einleitend als Schlaglichter bezeichnet habe, wurden Zugänge auf Basis der Methode der teilnehmenden Beobachtung gewonnen: der Magische Realismus, den ich im Umfeld der Sufi-Bruderschaft der Ḥamādša (und darüber hinaus) erfahren durfte; die Erinnerung an den Kosmopolitismus der Internationalen Zone; die alltagspraktischen Formen der Daseinsbewältigung, insbesondere im Zusammenhang mit den Modernisierungsprojekten; die Praxis islamischer Feste (z.B. 3Aid el Kebir); das homosexuelle Leben; den Tourismus, den Straßen-, Klein- und Drogenhandel. Dieses Buch umfasst somit in erster Linie ethnographische Essays über diese Themen, in die ich im ersten Kapitel über ›Ein Haus in Tanger‹ thematisch einführen werde – ich bin der altmodischen Auffassung, dass die Ethnographie im Vordergrund ethnologischer Texte stehen sollte und sich daraus dann 17 Im marokkanischen Kontext wird der Begriff des Feudalsystems eindeutig wertend konnotiert. Ich benutze den Begriff wertneutral, um das Loyalitätssystem des Makhzen zu beschreiben. 18 Ich habe den westlichen Korruptionsbegriff in mehreren Publikationen insbesondere in Haller/Shore (2005) aus ethnologischer Sicht kritisiert.

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thematische Verallgemeinerungen und Beiträge zur Theoriebildung ergeben können. Daher an dieser Stelle keine tieferen Bemerkungen über die Themen, sondern über Stil, Perspektiven und die theoretische Grundierung des Buches. Und vor allem über die Liebe. Ich habe mich darum bemüht, den einzelnen Kapiteln und Teilen keinen einheitlichen Schreibstil überzustülpen. Man wird eher ethnologisch geschriebene Kapitel finden, andere sind mehr sozialanthropologisch verfasst und wieder andere kulturhistorisch oder gar mit poetischem Anspruch. Die Entscheidung für die Pluralität der Stilformen hat zwei Gründe: zum einen sollen sie die bereits erwähnte Fragmenthaftigkeit der Stadt und ihre Nichtbeherrschbarkeit durch den Forscher auch sprachlich und visuell abbilden; zum Anderen ergeben sich die Schreibstile aber auch aus den Gegenständen selbst, bzw. aus der Nähe und Intensität des Zuganges zu ihnen während der Forschung. So versuche ich in Kapitel eins über das Haus in Tanger, in dem ich gelebt habe und anhand dessen ich in die Themen dieses Buch einführe, einen eher feuilletonistischen Stil. Kapitel 2 behandelt die Erinnerung an die Zeit der Internationalen Zone, daher bemühe ich mich eines eher mentalitätsgeschichtlichen Stils. Den tiefsten Zugang zu einer Lebenswelt mit Mitteln der teilnehmenden Beobachtung hatte ich in der Bruderschaft der Ḥamādša. In Kapitel 3, in dem es über Dschinnen und Hunde geht, führe ich in die Welt des magischen Realismus ein, bevor ich im Folgekapitel 4 über die Sufibruderschaft der Ḥamādša allgemeine Argumente über Wahn und Wirklichkeit, Religion, Spiritualität, Sexualität und Säkularisierung aus der ethnographischen Erfahrung – und in ethnographischem Stil – auf eher induktive Weise, entfalte. Das Kapitel 5 über die Häfen und die Modernisierung dagegen ist eher sozialwissenschaftlich geschrieben. Ich verfüge zwar auch dort über vielerlei Zugänge zu unterschiedlichen Lebenswelten, diese waren aber eher breit als tief, so dass sich das ethnographische Material eher zur Illustration der großen Modernisierungsprojekte im Umfeld des Hafens eignet. Der Text über 3Aid el Kebir (Kapitel 6) wiederum basiert zwar auf einer tiefen und intensiven ethnographischen Erfahrung, allerdings nicht auf Basis einer langandauernden Teilnahme am Leben der Gewährsleute. Hier schien mir somit ein eher literarischer Stil angebracht. Das letzte Kapitel, Nummer 7, über schwule Lust ist wiederum stark ethnographisch gehalten. In diesem Buch werden immer wieder Gesprächspassagen aus dem Feld wiedergegeben. Manche dieser Passagen, insbesondere wenn sie aus der Kommunikation über elektronische Medien stammen, mögen dem Leser als schlecht lektoriert, da voller Schreibfehler erscheinen. Dies ist aber beabsichtigt: ich habe die Passagen so, wie sie im Eifer des Schreibens entstanden, über-

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nommen. Habe ich die Auszüge in der Originalschreibweise und in der Originalsprache belassen, so stammen die Übersetzungen von mir selbst und wurden – damit erkennbar – in [eckige Klammern] gesetzt. Damit sich Leser und Leserinnen auch einen visuellen Eindruck verschaffen können, verweise ich an manchen Stellen des Textes auf kurze Videos, die während der Forschung entstanden und die sich unter der angegebenen URL auf YouTube befinden.

D REI S ÜNDEN Ich liebe Tanger. Diese Liebe zur Stadt und den Menschen, an deren Leben ich teilhaben durfte, zieht sich sicherlich wie ein Grundstrom durch die Beiträge in diesem Buch. An vielen Stellen wird sie zutage treten. Es ist nicht Aufgabe wissenschaftlicher Essays, die Zuneigung des Autors zu seinem Thema in dem Vordergrund zu stellen, sondern bei den Themen selbst zu bleiben. Um dorthin zu gelangen, bedarf es daher zuerst, über die Liebe zu Tanger zu reflektieren. In dieser Liebe bekenne ich mich schuldig. Schuldig dreier Sünden wider den akademischen und wider den politisch korrekten Mainstream, der unseren Erkenntnisdrang als Wissenschaftler so oft hemmt, weil er Denk- und Sprechverbote auferlegt. Die reflexive Wende in den Kulturwissenschaften, insbesondere in der Ethnologie, fordert seit Jahr und Tag die Offen- und Freilegung unserer Motivationen, Erwartungen und Vorurteile, mit denen wir ins Feld gehen und uns unseren Untersuchungsthemen nähern. Diese Forderung erachte ich nach wie vor als wichtig und sinnvoll: nicht – wie es etliche postmoderne Ethnologen fordern – weil es darum ginge, das Selbst des Forschers in den Mittelpunkt zu stellen, auch wenn dies dem Leser auf den ersten Blick so erscheinen mag. Denn anders als es Carrier19 formuliert, ist die Freilegung der Gefühle und Erfahrungen des Ethnologen nur dann ein Ausdruck der neoliberal-individualistischen Wende in den Sozial- und Geisteswissenschaften, wenn es darum ginge, der ethnographischen Erfahrung keine Analyse größerer Zusammenhänge folgen zu lassen. Es geht vielmehr erstens in der Tradition von Bourdieus teilnehmender Objektivierung nicht um eine Nabelschau, sondern um die »Sozialwelt, die den Ethnologen sowie die bewussten oder unbewussten Arbeitsweisen, derer er sich in seiner anthropologischen Praxis bedient, hervorgebracht hat. Dies beinhaltet nicht nur sein Herkunftsmilieu, seine Stellung und seinen Werdegang im Sozialraum, seine

19 Carrier 2015.

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soziale und religiöse Zugehörigkeit und Affinität, sondern auch und vor allem seine spezi20

fische Position im Mikrokosmus der Anthropologen.«

Und zweitens weil nur durch die Objektivierung der Sozialwelt Zugang zum Gegenstande selbst erreicht werden kann. Denn ich gehe als phänomenologischer Ethnologe davon aus, dass die Person des Forschers die Interaktion mit den Gewährsleuten vor Ort maßgeblich beeinflusst; auch, dass die Erfahrung des Forschers stark davon geprägt ist, wie ihn die Gewährsleute wahrnehmen. Die Erfahrung des Forschers im Umgang mit Gewährsleuten und der Kultur, der er sich zuwendet, ist also zentraler Bestandteil ›der Kultur‹, die er im Prozess des Schreibens verfestigt. Ich bin aber auch der Auffassung, dass diese persönliche Seite nur einen Aspekt ethnologischer Erkenntnisweise darstellt, und dass es eine kulturelle Realität vor Ort gibt, jenseits der Anwesenheit und der Erfahrung des Forschers. Ja, Forscher konstruieren ihre Gegenstände und die Kultur, über die sie schreiben, mit. Aber diese existieren auch unabhängig von der Person des Forschers. Beide Aspekte sind vielfältig, aber eben nicht zur Gänze miteinander verwoben; die Theoriebildung in den Ethnologien hat aber lange genug ausschließlich auf den Aspekt der Konstruktion durch die Forschung abgestellt und den Aspekt der außerbeobachterischen Realität vernachlässigt. Ich vermute, dass die Fixierung auf die Positionalität des Forschers (und nicht seiner Sozialwelt) in der Theoriereflexion nicht nur der postmodernen und postkolonialen Kritik an hegemonialen und essentialistischen Diskursen über Kultur geschuldet ist;21 genauso spielen die veränderten Anforderungen an die Akademiker selbst eine Rolle, die in einer Zeit der Ökonomisierung des Denkens die Neuheit, Einzigartigkeit und Exzellenz des eigenen Arbeitens herauszustellen gedrängt werden. Darüber hinaus sind die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, innerhalb derer sich in den westlichen Staaten seit gut 30 Jahren die Forschung entfaltet:22 die Privilegierung des Individuums durch die Identitätspolitiken; die Individualisierung in den westlichen Gesellschaften durch technologische und ökonomische Prozesse, die dem Einzelnen als Konsumenten ständige Entscheidungspflicht (und damit Positionierung) abfordern;23 die planmäßige Zerstörung innergesellschaftlicher Bindungskräfte durch die neoliberalen Politiken seit Margaret Thatchers Verdikt, 20 21 22 23

Bourdieu 2010 S.420. Vgl. Carrier 2015. Vgl. auch Sahlins 1999 S.406. An anderer Stelle (Haller 2007 S.183) habe ich dargelegt, dass die vorgebliche Freiheit der Wahl eher eine Pflicht oder sogar einen Zwang darstellt, der die amerikanische Wirtschaftsweise zutiefst prägt.

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dass es sowas wie Gesellschaft überhaupt nicht gebe. Es ist kein Wunder, dass in diesem Kontext in den Sozial- und Kulturwissenschaften Erklärungsmodelle hegemonial wurden, die Positionalität, Fluidität, Reflexivität und agency in den Vordergrund stellen. Wir leben heute in einer Diktatur der Finanzökonomie, die individualistische, fluide und sich verändernde Perspektiven präferiert und vorantreibt. Unter dieser Hegemonie gelten stabilere kulturelle Muster und gesellschaftliche Strukturen gleichermaßen als anachronistisch, es gilt sie vollkommen ins Reich der Hirngespinste zu verbannen, weil sie als sperrige Instanzen gegen den Zugriff des Finanzkapitalismus wirksam werden könnten. Wer sich diesen Strukturen in der Gegenwart auch nur in Ansätzen zuwendet, wird – in der Ethnologie – vom Chor der Fluidologinnen als des Teufels, als Essentialist gebrandmarkt. Ich weiß das nur zu gut, weil ich selbst in der Hochphase des postmodernen Hypes an solch diskreditierenden Aktionen beteiligt war.24 Ich möchte an dieser Stelle aber betonen, dass ich in diesem Buch das postmoderne Kind mit seiner Handlungsmacht nicht mit dem Badewasser ausschütten möchte: das Kind in der Badewanne ist nach wie vor zentral. Aber ich möchte außer dem Kind (agency, Positionalität) und dem Badewasser (Fluidität) auch die Badewanne selbst betrachten (stabile kulturelle Muster). In den Augen der Fluidologen begehe ich damit die erste Sünde, die des Essentialismus oder Kulturalismus: ich behaupte, dass es trotz des Kindes, das darin sitzt, und trotz des Wassers, das es umspült, auch eine Badewanne gibt und dass es lohnt, sich dieser zuzuwenden. Natürlich kann das Kind die Wanne bemalen, und wenn die Eltern nicht aufpassen und das Kind schon etwas älter ist, kann es sogar mit Werkzeugen an der Wanne herumkratzen, vielleicht sogar Macken daran anbringen, die auf immer sichtbar bleiben. Handwerker können die Wanne reparieren, sie auf einen höheren Sockel stellen, oder die Wasserhähne, die das Badewasser zuführen, austauschen. Wenn die Nachbarskinder zu Besuch sind oder die Cousinen des Kindes, können auch sie drin saubergeschrubbt werden. Und schließlich können die Eltern das Badewasser mit unterschiedlichen Essenzen versetzen, mit Lavendel, Tannennadeln, oder Limone. Und wenn die Wanne unmodern geworden ist, stellt man sie in die Garage oder im Gartenhäuschen ab, wo man sie vergisst und wo sie zweckentfremdet wird, etwa als Behälter für Blumenerde. Vielleicht entdecken die Enkel der Besitzer die Wanne nach 30 Jahren wieder und finden sie unheimlich cool (oder fett, ich weiß nicht, welcher Begriff heute unter jungen Leuten angesagt ist). Oder man findet sie auf einer illegalen Müllkippe im Wald wieder und an ihrer Stelle ist eine neue Wanne aufgestellt, die eine andere Form als die alte hat. Eine andere Farbe und vielleicht aus anderem Material ist. Aber sie bleibt eine Wanne. Egal wer darin sitzt. Es 24 Vgl. Haller 1995. Ähnlich auch Hauschild (2009) im Umgang mit Giordano.

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gibt also so etwas wie eine Struktur der Wanne. Diese Struktur hat etwas Essentielles, sie gleicht den ethnischen Gruppen von Fredrik Barth25: auch wenn die Grenzen ethnischer Gruppen durchlässig sind, so scheiden sie doch ein Wir von einem Nicht-Wir, egal, welches Personal das Wir umfasst. Das dauerhafte Bestehen von Grenzziehungen nenne ich Essenz. Ich sage ›dauerhaft‹, nicht ›ewiglich‹. Es ist empiristisch festzustellen – auch wenn es nur durch die phänomenologische Herangehensweise einen Sinn erlangt. Denn in der Phänomenologie sind die Erscheinungsformen nur durch den Umgang mit ihnen bedeutend – aber sie müssen schon präphänomenologisch existieren, sonst wäre ein Umgang mit ihnen nicht möglich. Heutzutage darf man in den Kulturwissenschaften den Begriff des Essentiellen nur benutzen, um einen Gegner zu diskreditieren: es ist im akademischen Geschäft ein Totschlagargument geworden. Manche Kollegen stellen gar den Begriff der Kultur selbst in Abrede, weil er strukturales cum essentialistisches Gedankengut suggeriere und sich dem Dogma der Fluidität und der Aushandelbarkeit nicht zur Gänze unterordnen lässt. Sahlins26 kann hier nur zugestimmt werden: frühere Generationen von Ethnologen stellten sich beidem, der Kraft des Strukturellen und der Kraft des Individuellen. Heute dagegen gilt Ersteres als abnorm, ja als moralisch verwerflich, da es Autoritäten nicht nur in den Mittelpunkt der Analyse stellt, sondern auch autoritative Aussagen wagt. Borneman27 paraphrasierend lässt sich sagen, dass die heutigen Kulturwissenschaften in ihrem Kampf gegen die Vorstellung von etwas Beständigem Ausdruck des Verschwindens von Autorität, vom death of the father [Tod des Vaters] sind. Der Kampf gegen die Erfahrung kultureller Essenzen lässt vor dem Hintergrund der Akzeptanz des Barth’schen Ansatzes danach fragen, warum es anerkannt ist, dass die Existenz der Gruppengrenzen nicht von Personen abhängt, die Existenz von »Kulturen« aber in der fluidologischen Ethnologie von einer Person – nämlich der des Forschers – abhängig gemacht wird. Der Macht des einzelnen Angehörigen einer ethnischen Gruppe in Abrede zu stellen, die Macht des Ethnologen aber dermaßen zu privilegieren, zeugt von einer Hybris des erkennenden Subjektes »Wissenschaftler«, indem die eigene Gedrängtheit durch Kultur zwar auf der programmatischen Ebene der reflexiven Ansätze lautstark eingefordert, diese in der Praxis aber kaum benannt wird. Die Hegemonie der Fluidologie und die Verdammung jeglichen Essentiellen, Strukturalen und Wesenhaften ist auch ein Ausdruck der akademischen Welt als Lebenswelt, in der 25 Barth 1969. 26 Sahlins 1999; Sahlins 2000. 27 Borneman 2004.

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es um den Kampf gegen bzw. um Autorität geht: das Positionale wird nicht nur privilegiert, sondern zum einzigen Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht. Dadurch werden bestehende Strukturen gestärkt, da man gerade sie nicht mehr in Augenschein nimmt und stattdessen auf Spielfelder der Identitätspolitik ablenkt. Ich bin also mit Sahlins davon überzeugt, dass es Kulturen – dass es eine marokkanische Kultur – gibt: »Of course it can and already has lost some of the natural-substance qualities it had acquired during anthropologyʼs long infatuation with positivism. But ›culture‹ cannot be abandoned, on pain of failing to comprehend the unique phenomenon it names and distinguishes: the organization of human experience and action by symbolic means. The persons, relations, and materials of human existence are enacted according to their meaningful val28

ues-meanings that cannot be determined from their biological or physical properties.«

Die zweite Sünde, der ich mich schuldig mache, ist eine nostalgische, ja vielleicht romantische De-Martino’sche Grundströmung, die meine Forschung in Tanger beeinflusst hat und über die nachgedacht werden muss. Tanger war schon immer ein Ort, der Europäer angezogen hat, aus unterschiedlichen Gründen, nicht zuletzt aber dadurch, dass sie sich dort etwas erhofften, was sie in Europa (oder den USA) nicht mehr zu finden gewohnt waren, oder: »The European saw in the Muslim the very excess which he denied himself [...]«29; eine vormoderne Angesichtigkeit, ein Lebensrhythmus und eine Sinnenvielfalt im öffentlichen Raum, die nicht nur dazu da sind, die Individuen wie in den Finanzökonomien des Nordens auf Zahlen zu reduzieren, Konsum und wirtschaftlichen Gewinn zu befördern, sondern die darüber hinaus radikale Humanität,30 Gesellschaftlichkeit und Gemeinschaft erst konstituieren – so wie Marcel Mauss es in seinem Werk Die Gabe vorgezeichnet hat. Oder, wie Hans-Peter Duerr es ausdrückt: »Gemeinschaften […] sind natürlich Formen des sozialen Zusammenlebens, […] mit Faceto-face-Communities in fremden Ländern. Dort habe ich immer eine viel größere Menschlichkeit verwirklicht gesehen, durch die bestehende gegenseitige Verpflichtung. Ganz im Sinne von Tönnies kam mir die moderne Gesellschaft eigentlich immer desintegrierend vor. […] Irgendwann wird es nur noch voneinander isolierte Individuen geben, die keinerlei gegenseitige Verpflichtungen mehr haben, und die Bindungen lösen sich auf. So sah ich auch immer die moderne Gesellschaft, im Gegensatz zur traditionellen Gemeinschaft. Da

28 Sahlins 2000 S.159. 29 Fernea/Malarkey 1975 S.185ff. 30 Ohana 2003.

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die Ethnologie sich mit diesen traditionellen Gemeinschaften befasste, war sie für mich die 31

entscheidende Wissenschaft.«

Die Bazaarökonomie32 ist hierfür ein gutes Symbol: natürlich geht es auch im Bazaar in erster Linie um den Vorteil, den Gewinn, die Übervorteilung – was aber sozial ausgehandelt wird; es werden Bindungen eingegangen und mitunter auf Dauer etabliert, die gegenseitige Verpflichtungen beinhalten. Und durch das soziale Gestrüpp werden Schneisen der Orientierung geschlagen: wem man vertrauen kann, wem eher nicht, was ein angemessener Preis ist und wo man die beste Ware erhält. In gewisser Weise handelt es sich hierbei um eine Entschleunigung des kapitalistischen Prozesses,33 weil das Augenmerk auch auf andere Dinge gerichtet ist als nur auf die Gewinnmaximierung. Diese Art des Umganges mit den Dingen, die man mit Agamben34 ungeachtet des geschäftigen Beispiels des Bazaars als désœuvrement oder Geschäftslosigkeit bezeichnen könnte, entspricht einem Rhythmus, der Wunder als Gnade (baraka) ermöglicht und Ungeplantes sich entfalten lässt. Unbewusst und ungeplant machte ich genau diesen Sachverhalt zum Kernstück meiner Forschungsmethode: anders als in vorherigen Feldforschungen in Spanien, Gibraltar und den USA versuchte ich zu Beginn meiner Forschung darauf zu warten, bis ich angesprochen werden würde. Dazu hatte ich mir vorgenommen, jeden Tag denselben Parcours in der Medina abzugehen, regelmäßig bestimmte Geschäfte, Straßenzüge und Cafés zu besuchen und von mir aus selbst keinen Kontakt aufzunehmen. Ich erhoffte so, langsam zum selbstverständlichen Bestandteil des städtischen Tableaus zu werden. Dabei kleidete ich mich bewusst so, dass ich auffallen musste: mit Jackett, beigen Hosen, gewienerten schwarzen Schuhen und einer weithin sichtbaren Kladde unter dem Arm wollte ich als Nichttourist erkennbar werden, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wollte, dass sich die Menschen, deren Weg ich täglich kreuzte, langsam fragten, was der Fremde, der nicht nach 4, 5 Tagen verschwand, hier zu suchen hatte. Da ich offensichtlich nicht dem Bild des Touristen entsprach, aber aufgrund meiner Erscheinung auch keinen Einheimischen abgeben konnte, wollte ich das Interesse der Menschen wecken, auf das man auf mich zukäme. Es funktionierte. Anders als andere Europäer wurde ich nie darauf angesprochen, in diesem oder jenem Laden märchenhaft günstige Kaufgelegenheiten wahrzunehmen. Auch erbot sich niemand an, mir die Kasbah zu zeigen oder einen anderen wunderbaren Ort, an 31 32 33 34

Haller 2009. Peraldi 2007b. Cassano 2011. Agamben 2015.

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dem Fremde interessiert sein könnten. Stattdessen betrachtete man mich zuerst skeptisch, wie ich zielstrebig, aber nicht zu schnell, meinen Weg abschritt, nicht in Läden hinein schaute und regelmäßig Platz nahm im Café Ibn Battouta, im Café Tingis, im Café Nejah, in dem eine Szene des Films Inception mit Leonardo DiCaprio gedreht wurde, und den Cafés im Renschhausengebäude. Nach zwei, drei Wochen begann man mich anzusprechen: und meist waren es nicht Fragen danach, aus welchem Land ich käme, sondern in welchem Viertel der Stadt ich wohnte. Dies zeigte mir, dass meine Strategie aufgegangen war: man hatte mich als Bestandteil wahrgenommen, konnte mich aber nicht einordnen. Und genau diese Methode eröffnete Zugänge, die sich mir durch offensiv zur Schau gestellte Neugierde, durch eigene Initiative oder durch Anheischigmachen um Kontakte zu knüpfen, kaum geboten hätten. Ich setzte passio statt actio ein. Im Kontext von Tanger hatte dies einen zusätzlich positiven Effekt, war das sich-stundenlangohne-offensichtlichen-Grund-im-Café-Aufhalten doch eine Übung, die männliche Tanjawis besonders lieben: man sitzt und kommentiert, trinkt Tee oder Kaffee und schaut, beobachtet. Oder stiert und glotzt. Dabei fragt man nicht, sondern man hört und spricht über Dinge, die offensichtlich nicht von touristischem Interesse sind. All dies wusste ich nicht, als ich meine Erhebungsmethode plante. Aber sie flog mir zu durch bewusste Rücknahme meiner selbst – was die, die mich kennen, wahrscheinlich kaum glauben – und passio. Nichtstun als Methode? Das dann wohl doch nicht. Ich würde eher sagen: Kommunikation durch Geschehenlassen. Ich merkte, dass das Geschehenlassen nicht nur mir persönlich entgegenkam, sondern auch der hiesigen Mentalität entsprach. Es geht mit der Methode der passio vielmehr darum, Zugang zur sinnlichen Angesichtigkeit des Sozialen, so wie sie in dieser konkreten Umgebung erzeugt wird, zu erhalten. Man könnte auch dies allgemein mit baraka, der Gnade, die einem widerfährt, erklären. Darauf nehmen viele Informanten Bezug: Du hast es nicht in der Hand, Gott wird es richten, deshalb musst du nichts unternehmen. Es entspricht darüber hinaus aber auch noch dem Selbstverständnis der Tanjawis. Dies jedoch wusste ich zu Beginn meiner Forschung nicht. Ich wusste auch nicht, dass es zum Selbstverständnis der Tanjawis gehörte, Geschwindigkeit aus den Prozessen herauszunehmen, zu warten und zu kommentieren und zu schauen. Man könnte diesen Ansatz Shufologie nennen: die Kunst des Schauens (shuf = schau). Die Besessenheit von dieser Angesichtigkeit ist genau das, was vielfach als Tangervirus35 bezeichnet wurde. Von diesem wurde auch ich befallen. Tanjawis sprechen darüber in

35 http://ebook-ticker.com/buchvorstellungen/der-himmel-uber-tanger/; http://www.woz.ch/ 1047/tanger-trance/die-unerhoerten-geschichten-erzaehlte-ein-fisch.

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positiv augenzwinkernder Weise, wenn sie sich von den Menschen des Südens abgrenzen: Der Tanjawi Mustafa meint: »Wir Tanjawis sind so: wir arbeiten, um etwas zu haben, und dann wieder nicht, weil wir gerne schlafen und den Tag genießen. Diese Leute aus dem Süden haben alles verändert: die kommen hierher um Geld zu verdienen und sie arbeiten viel, aber billig. Sie verderben die Löhne und die Mentalität.«36 »Bei uns muss alles langsam gehen, Stück für Stück. Tanjawis arbeiten nicht gerne. Wenn wir einmal Geld haben, dann verprassen wir es im Café. Die Leute aus dem Süden dagegen wollten nur Geld, Geld, Geld, keine Lebensqualität. Die Tanjawis sagen: Arbeiten, das machen keine Männer, das machen nur die Esel. Die Esel vom Land, die hierher kommen.«37 Khaled aus Essaouira und Abdelladim aus Casablanca äußern: »Die Tanjawis sind faul und schlafen bis in die Puppen, während wir aus dem Süden (= Arobia) hart arbeiten.«38 Schon anderntags meinte Zak: »Tanjawis sind alle Rassisten. Die mögen uns aus dem Süden nicht, weil wir hierherkommen zum Arbeiten, und die Tanjawis sind alle faul oder Gauner.«39 Die Methode des Sitzens und Wartens erzeugte oft kleine Wunder: Annäherungen, Begegnungen, Öffnungen, Unerwartetes, Einladungen. Dinge die nicht geschehen wären, wenn man sie geplant hätte. Dinge, die sich entfalteten. Ich denke an Brechts Ballade von der Unzulänglichkeit: »Alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher!« In Tanger rennt niemand. Man wartet, bis das Glück, das hinterherrennt, einen erreicht hat. Mit Tanger geht es mir wie meinem Großonkel, dem Schweizer Maler Samuel Wülser, mit seinem geliebten Tessin: »[Lui] aveva capito bene che la felicitá è avere sempre la presenza di qualcuno lungo il percorso della vita e per questo aveva scelto, non a caso, il [Ticino]: perché qui aveva trovato una vera dimensione umana, il contatto con le persone, lʼincanto della natura, lʼanimo di un popolo e la serenitá di una terra.«40 Diese menschliche Dimension besteht darin, die Unvollkommenheit des Menschen zu akzeptieren, gewohnte Regeln nicht über die tollpatschigen Versuche 36 37 38 39 40

Feldforschungstagebuch 10.12.2013. Feldforschungstagebuch 27.12.2013. Feldforschungstagebuch 07.08.2013; 10.12.2013. Feldforschungstagebuch 04.12.2013. Zois 2011 S.12.

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der eigenen Daseinsbewältigung zu stellen und andere Menschen nicht nach den eigenen Regeln zu beurteilen, sondern sie hinzunehmen. Man verstünde mich falsch, wenn man meinte, dass ich passio als die entscheidende Erhebungsmethode der Ethnologie propagieren würde, sie geradezu als Königsweg der Erhebungsmethoden präferierte. Vielmehr kommt es auf den Kontext an, in dem sie anwendbar ist, ob sie sinnvoll ist. In Tanger jedenfalls ist diese Methode angebracht: mit teutonischem Furor oder auch nur mit sozialwissenschaftlicher Zielfixiertheit zu arbeiten, erbrächte keine Resultate, die der Realität in dieser Stadt angemessen wären. Die Wahl dieser Methode liegt auch in einem Defizit begründet, das eine der Grundmaximen heutiger ethnologischer Forschung betrifft: dass die Sprache im Feld zu beherrschen sei. Ich beherrschte jedoch von allen Sprachen, derer ich mich in meinen Feldforschungen bediente, das Darija Tangers am Schlechtesten (nahezu überall aber konnte ich mit einem Mix von Sprachen, die ich in Anlehnung an historische Vorläufer Sabir nenne, kommunizieren). Trotzdem trat ich in Marokko am Tiefsten in lokale Lebenswelten ein. Vielleicht liegt ja in der unvollkommenen Beherrschung der Sprache auch ein Vorteil, der dazu zwingt, auf andere Sinne zu ›hören‹, zu vertrauen, und den Fokus mehr auf das praktische Wissen des Riechens, Tastens, Sehens zu verlagern. Was mir in Tanger als vormodern erschien hat auch mit einer anderen Gesellschaftlichkeitsauffassung als der in Europa – insbesondere in Deutschland – zu tun. Die deutsche Gesellschaft ist durchdrungen von Staatlichkeit und staatlichen Interventionen, Vorgaben, Regulierungen. Jeder Aspekt des Daseins wird staatlich reguliert, Freiräume des Individuellen außerhalb dieses Zugriffes sind kaum möglich, Improvisationstalent gilt nicht als Gabe, sondern als Hindernis. In Marokko ist der Staat zwar repressiv, aber er ist nicht allpräsent wie in Deutschland – es gibt genügend Bereiche des alltäglichen Lebens, in denen andere Regime wirken: die Familie, die Nachbarschaft, die tribalen Identifikationen, die persönlichen Bindungen, das soziale Kapital. So ergeben sich viele Freiräume für die Individuen jenseits des staatlichen Kontrollregimes. Tanjawis kennen zwar die Regeln, verhalten sich aber unerwartet: auf der Autobahn kommen dem Fahrer auf der eigenen Spur Eselreiter oder Spaziergänger entgegen (was verboten ist), Kinder turnen vor aller Augen auf dem Heck von fahrenden Taxis (was ebenfalls verboten ist), Taxifahrer hauen dem Fahrgast, der sich anschnallen will (das ist vorgeschrieben) auf die Finger, weil sie sicher führen.41 Die Beispiele sind nicht zufällig aus dem Bereich des Straßenverkehrs gewählt, denn für den deutschen Leser ist das Einhalten der Gebote im Straßenverkehr jener Bereich, der ihm am Vertrautesten ist. In Tanger kümmern sich die Verkehrs41 Bartol Espinosa 2013 S.76.

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teilnehmer selten um die Regeln, sie improvisieren und auch die Polizei greift nur in Ausnahmefällen gegen Verstöße ein. Aus der deutschen Perspektive des Regelkonformismus sind dies Hinweise auf ein Versagen des Staates und seiner Organe. Aus der marokkanischen Perspektive ist die tatsächliche Ahndung dieser Verstöße in Deutschland ein Hinweis darauf, dass Deutschland ein unfreies Land ist, weil es jegliche individuelle Freiheit reguliert. Damit will ich nichts anderes sagen als dass das herrschende Regime Marokkos das Soziale, Angesichtige, Individuelle eher ermöglicht, während das in Deutschland herrschende Regime Sozialität, Angesichtigkeit und Individualismus unterbindet oder dann zugelassen wird, wenn es kapitalisiert werden kann. Die Bezeichnung der Zusammenhänge der Angesichtigkeit als vormodern ist auch ein strategischer Kniff, denn sie kann nur auf Grundlage eurozentrischer Modernisierungserfahrungen getroffen werden, so wie sie u.a. Michel Foucault in vielen seiner Werke vorgezeichnet hat: der (auch räumlichen) Separierung und Vermessung der Individuen durch disziplinierende Institutionen und Praktiken; dem vorgeblichen Primat der Zweckrationalität; der Vorstellung, dass Magie und Spiritualität überwunden werden müssen durch eine säkularisierte Form der Religion; den Ausschluss von Werten, Bindungen und Handlungen, die als irrational gebrandmarkt werden, weil sie sich nicht auf den vernunftbegabten handelnden homo oeconomicus reduzieren lassen. Diese Merkmale kennzeichnen weithin die europäischen Lebensrhythmen und Selbstbeschreibungen – nach Said wird dann im Orient das gefunden, was die Westler für sich selbst in Abrede stellen. Natürlich ist es Aufgabe des Ethnologen, sich diesen Selbstbildern zu stellen und die eigene Begeisterung am Fremden – an Tanger – daraufhin abzuklopfen. Und natürlich weiß ich, dass a) Tanger über lange Zeit moderner war als der Großteil Europas, dass es b) multiple Modernitäten gibt und c) dass die heutige Gesellschaft Tangers sich nicht auf die Bezüglichkeit zu Europa reduzieren lässt – so wie es die literarischen und migrationsthematischen Texte, die ich bereits erwähnt habe, suggerieren. Tanger nur in seiner Bezüglichkeit auf Europa zu betrachten bedeutet, dem Fremden den Stachel des Fremden vollends zu ziehen und seine Geheimnisse zu lösen, oder zu löschen.42 Wenn ich Tanger dennoch als vormodern bezeichne, dann in Bezug auf die schon zu Beginn dieser Einleitung erwähnte Zeit zwischen 1970 und heute: wenn moderne Strukturen zerfallen – und das geschah in Tanger in dieser Zeit – greifen Menschen häufig (und hier kommt Hauschilds Reserventheorie zum Tragen) auf vormoderne Formen der Daseinsbewältigung zurück, auf soziale Netzwerke, magische Praktiken, tradierte Glaubensformen und Werte. Dem ist entgegenzuhalten, dass

42 Waldenfels 1997; Rottenburg 2006.

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Reserven bei Hauschild43 als Möglichkeit des Rückgriffes im Falle des Versagens der modernen und offiziellen Lösungswege gesehen werden: seine Reserven sind sozusagen den modernen Lösungswegen nach- oder untergeordnet. Die Inanspruchnahme einer magischen Zeremonie oder eines Nachbarschaftsnetzwerkes kann aber nur dann eine Reserve darstellen, wenn sie erst dann in Anspruch genommen werden, wenn die offiziellen Lösungswege versagen – etwa die staatliche Infrastruktur zusammenbricht wie nach einem Erdbeben in Süditalien. Die Inanspruchnahme derselben Zeremonien oder Netzwerke ist dann folgerichtig keine Reserve, wenn sie die naheliegende erste Lösung darstellt, ohne dass eine bestehende offizielle Struktur zusammenbräche. Bei Hauschild selbst übrigens heißt es an einer Stelle, viele Kranke nähmen parallel den Arzt, Hausmittelchen, Aspirin und den magischen Heiler in Anspruch unter dem Motto: irgendetwas wird schon helfen. Das heißt, dass auch er eigentlich sieht, dass es sich bei den in Anspruch genommenen Ritualen, Praktiken und Netzwerken nicht um Reserven handelt, sondern um Ressourcen. Denn wenn Dinge parallel genutzt werden, sind sie keine Reserven, sondern Ressourcen, die gleichzeitig zur Verfügung stehen. Daher spreche ich lieber von Ressourcen als von Reserven. Es sei denn, es handelt sich um eindeutige Fälle, wo linear gedacht wird und man sich vom Offiziellen zu den inoffiziellen Praktiken gewissermaßen hinunterarbeitet. Etwa aus der Perspektive von Modernisierern – der Stadtplaner, Wirtschaftsführer und Administratoren des Transformationsprozesses in Tanger – wie Abdellatif Brini. Für Modernisierer wie ihn steht der neuen Kultur, die Tanger bedarf, eine alte, eine vormoderne im Wege, mitgeprägt durch Angesichtigkeit, Rohheit und Basales. Pasolini paraphrasierend mag ich sagen: »Die Menschen dieses Universums erleben weder ein Goldenes Zeitalter, noch haben sie etwas mit dem guten alten Marokko zu tun. Sie leben das Zeitalter […] des Brots […]. Sie sind Konsumenten von unbedingt notwendigen Gütern.«44 Der Faszination dafür aber bin ich genauso erlegen, wie viele andere Europäer, die das Andere, das Fremde suchen. Der Vorwurf solchen Otherings betrifft jegliche ethnologische Forschung. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Ethnologie nicht in Sack und Asche gehen sollte, weil sie auf das Fremde schaut – schließlich reflektiert sie, anders als fast alle anderen Disziplinen, die nahezu ausschließlich auf Makrodaten schauen oder die Stimmen der Eliten in den Blick nehmen, diese ihre spezifische Perspektive seit gut 30 Jahren bis zur Neige aus. Meiner eigenen Arbeit über Tanger könnte man vorwerfen, dass ich die Stimmen der modernen und der intellektuellen Tanjawis weitgehend ausblende und mit dem Fokus auf die clases populares eine Veränderung vornehme. Darüber hinaus 43 Hauschild 2008. 44 Pasolini 1979 S.45f.

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habe ich die Vormoderne ganz instinktiv auch an einen Ort gebunden: die Altstadt. Ich forschte nicht im Viertel Bni Mekkada, dem heutigen hotspot sozialer Dynamik der unterprivilegierten Schichten. Allerdings wohnte etliche meiner Informanten, die ich in der Medina kennengelernte, in Bni Mekkada, Msellah, Char Bendiban, Jirari, Aouama und anderen Vierteln. Andere wohnten zwar in der Medina, arbeiteten jedoch in entfernten Vierteln wie Ghandori, Sania, Gzenaya oder gar im Hafen von Tanger-Med. Insofern reflektiert sich in meinem Buch nicht nur die Lebenswelt der Medina, auch wenn sie im Vordergrund steht. Den automatischen Fokus auf die Medina habe ich lange Zeit nicht reflektiert: ich ging ursprünglich davon aus, dass in den schnell wachsenden Vorstädten eher die Zuwanderer aus dem Süden und vom Land leben und nicht die altansässigen Familien, die sich mit der Stadt identifizieren. Darüber hinaus hat mich Migration – auch Binnenmigration – nie besonders interessiert, seit es ein Mainstreamthema in den Kultur- und Sozialwissenschaften geworden ist. Ich suche vielmehr nach dem Beständigen in einer Welt, von der man sagt, dass sich in ihr alles rasant verändert. Damit aber schließt sich ein Kreis, aus dem ich eigentlich entkommen wollte: denn dieser Annahme unterliegt natürlich ein romantisches Bild, das dem der ausländischen Literaten, von denen ich mich abwenden wollte, nicht unähnlich ist. Diese Erkenntnis wiederum stärkte mein Bestreben, einige romantische Tangertopoi (Magie, Sex) in gelebten Daseinsformen zu erden. Im Kontext von Tanger bildet sich die Faszination für das Fremde in gewisser Weise auf geradezu ideale Weise spiegelbildlich ab: während ich mich wie viele vom Tangervirus befallene Europäer und Amerikaner nach Tanger sehne, möchten fast alle meine Gewährsleute nur eines: weg von der kontrollierenden und einzwängenden Angesichtigkeit des Sozialen! Es ist mir bewusst, dass der Vergleich dennoch nicht ganz spiegelbildlich ist, weil er verzerrt: Europäer können es sich leisten, die Grenze nach Marokko zu überschreiten: mit ihrem Pass, ihrem Geld und ihrer Absicherung zuhause; für die meisten Marokkaner ist die Grenze dagegen unüberwindlich, sie verfügen zumeist weder über den Pass, noch über das nötige Geld. Und während Europäer sich auf privilegierte Weise in der Fremde aufhalten, um einen Roman oder eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben und eitel über Tanger zu reflektieren, ist der Aufenthalt im Norden für viele Marokkaner getrieben von blanker Not. Denn was ich bei meinen Gewährsleuten kennengelernt habe, war häufig die pure Armut und die reine Hoffnungslosigkeit. Nicht nur meine Gewährsleute aus der Medina, auch viele andere Tanjawis möchten fort aus Marokko. Für sie, wenn sie es sich leisten können und einen guten Job gefunden haben – was selten vorkommt – bedeutet dies: weg aus der lauten und stinkenden Altstadt in ein

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Appartement der Vorstadt, vielleicht in ein eigenes Haus, wo man die Grenzen zur Nachbarschaft deutlicher ziehen kann als in der Medina. Gibt es keine auskömmliche Arbeit und keine Perspektive im Land, dann bedeutet dies: weg aus Marokko, weg aus Tanger, hinüber nach Europa. Die durchweg pessimistischen und negativen Diskurse meiner Gewährsleute über die marokkanische Gegenwart, denen ich während meiner Forschung nicht entkommen konnte, bilden – jenseits der materiellen und ökonomischen Erwartungen – nicht nur das generelle Unbehagen am Eigenen, sondern auch das Erlösende durch das Fremde ab: Lebensverhältnisse, die man selbst gestalten kann, ohne dass der Nachbar die eigenen Begehrlichkeiten mit standardisierten Wertemustern einzuhegen versucht; Ärzte, Amtsträger, Polizisten und Richter, die nicht korrupt sind, sondern einfach nur ihren Job machen; soziale Institutionen des Gesundheitswesens und der Bildung, die ihrem Anspruch gerecht werden. Aber wenn man dem Eigenen wegen des Unbehagens daran entflieht, dann lässt man auch das Behagen hinter sich, das das Eigene ja durchaus auch zu vermitteln vermag – eigentlich das urbiblische Motiv der Vertreibung aus dem Garten Eden. Ich selbst habe in meiner Kindheit eine stark vormoderne Prägung erfahren. Ich wuchs in einem ländlich geprägten Handwerkerhaushalt auf, eingebettet in ein enges soziales Geflecht von Verwandten und Nachbarn; wir erachteten es als obszön, defekte Geräte oder beschädigte Kleidung wegzuwerfen anstatt sie zu reparieren oder den Versuch zu unternehmen, sie umzuschneidern; materielle Güter kaufte man, weil sie nützlich waren, nicht weil sie ein modisches Label trugen; Fertiggerichte konnten nur ungesund sein, man kaufte nur im allergrößten Notfall im Supermarkt ein, stattdessen versorgte man sich in den kleinen Läden des Viertels oder aus dem eigenen Garten. Dies mag wie eine Auflistung aus einer fernen Vergangenheit klingen, dabei bin ich ›erst‹ 1962 geboren. Aber dies waren Werte einer Nachkriegsgesellschaft, die mich zum Teil noch bis heute prägen. Kein Wunder, dass ich mich im Roman La vida perra de Juani Narboni des Tanjawi Angel Vasquez wiederfinde, wenn Juani sagt: yo no soy moderna [Ich bin nicht modern]. Das bedeutet zweierlei nicht: dass die Vormoderne, die man noch im Deutschland der 1960er Jahre als Kind vermittelt bekommen hat, identisch wäre mit der Vormoderne, die einem in dieser einstmals so hypermodernen Kapitale Tanger begegnet. Und Zweitens, dass die vormodernen Werte fraglos als positiv zu erachten wären. Ich sehe mich hier in der Tradition von Pier Paolo Pasolini und schreibe über die Vormoderne »nicht in Verklärung dörflicher Strukturen, sondern als Energiequelle eines rauen Gegenzaubers«,45 den Pasolini an den Rändern Roms, in den Borghate, entdeckt und den ich bisweilen in den Gassen 45 Dotzauer 2014.

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der Medina Tangers, bei den Ḥamādša und den illegalen Straßenverkäufern des Suq Barra gefunden habe. Gerade dem als in zweierlei Hinsicht engen – engmaschig und einengenden – sozialen Geflecht versuchte ich als schwuler Junge und später Mann schnellst möglichst zu entkommen. So kann ich wahrscheinlich Erfahrungen, wie sie viele marokkanischen Migranten machen, die es erfolgreich nach Europa geschafft haben, nachvollziehen: man sehnt sich nach dem neuen Ort der Verheißung, weil er Freiheiten ermöglicht, die zuhause nicht zu stillen waren; gleichzeitig bedeutet dies aber a) nicht, dass man sich aller anderen habitualisierten Bedürfnisse ebenfalls entledigen würde, sondern dass man diese kennt und sie meist unreflektiert mitschleppt, ob man will oder nicht – das nenne ich die Prägekraft der Kultur;46 und b) dass die Freiheiten eine Energiequelle des Lebens zu verschütten vermögen. So ist es zu verstehen, dass mich in Tanger das Angesichtige, der Rhythmus, die Wunder, das Handeln, Feilschen, das Ausbessern und die Sinnesvielfalt, die Gemeinschaft und Gesellschaftlichkeit erst etablieren, auf grundlegende Weise zutiefst befriedigte. Aber wie gesagt, es geht nicht in erster Linie um mich in diesem Buch; ich kann mir solche Gedanken leisten. Meine Gewährsleute nicht. Auch für sie stellt das Angesichtige eine Realität dar, auch wenn sie sie anders bewerten. Um diese Realität wird es gehen, meinen Gewährsleuten zu Ehren werde ich besonders aufpassen, dass ich Demut übe und ihren widersprüchlichen Perspektiven auf das Angesichtige eigene Würde angedeihen lasse. Das bedeutet nicht nur, meine eigene Romantisierung zu brechen, sondern auch die Reduktion der Lebensverhältnisse in Tanger auf modernistische Motive zu vermeiden47 und die Angesichtigkeit als etwas Drittes im eigenen Recht zu behandeln. Die dritte Sünde, der ich mich bekennen muss, ist die der erotischen Faszination. Es ist nicht schwer, Literatur zu finden, in der Tanger als sexueller Anziehungspunkt für Europäer und Amerikaner beschrieben wird. Der Mythos Tangers in der Literatur ist ohne die dort beschriebene Sinnlichkeit und Zugänglichkeit der Tanjawis nicht zu verstehen. »Interzone texts written in Tangier corroborate the abundant biographical evidence that queer sexualities strongly shaped expatriate life there«,48 schreibt Mullins. Es ist nicht nur die historisch viel beschriebene Prostitution, die gerade europäische Männer nach Tanger lockte, sondern vor allem die Möglichkeit,

46 Vgl. Wimmer 1996. 47 Aus meiner eigenen Kindheit weiß ich, dass die Ablehnung vieler Segnungen der Moderne nicht darin wurzeln muss, dass man sie sich nicht leisten kann, sondern, dass man vielleicht schlichtweg über ein anderes Wertesystem verfügt. 48 Mullins 2002 S.7.

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homosexuellen Genüssen nachzugehen:49 »[…] in Tangier sex between men was not heavily policed.«50 Denn in Marokko51 (und übrigens auch anderswo)52 wird der homosexuelle Akt unterschieden in das Penetrieren und das Penetriert-werden. Jede Position wird einem bestimmten Typus von Männern zugeordnet: den anal insertors [Penetrierenden] und den anal insertees [Penetrierten]. Erstere gehören zumeist in die Kategorie der ›Männer‹. Letztere dagegen fallen in jedem Falle in die Kategorie der ›Nichtmänner‹.53 Ich behaupte aber: was in der ethnologischen Literatur über Homosexualität in Tanger zu kurz kommt, ist das jenseits der Dichotomie einer funktionalen Sexualität liegende erotische, sensuelle und seelische Begehren. Darüber wird im letzten Kapitel des Buches die Rede sein. Die Texte der (fremden) Literaten sind aber von Sex und Identität, weniger von Begehren und Sensualität geprägt. Dort verfügt der arabische Mann über keinen schwulen Charakter, weil er als bisexuell oder als undifferenziert gekennzeichnet wird: als Mann, dessen Männlichkeit nicht unter Verdacht steht. 54 Die Literaten waren jedoch allesamt westliche Besucher und die Begehrlichkeiten waren ihre eigenen– und die waren vermutlich anders konnotiert als die Begierden der in Tanger ansässigen Tanjawis – der muslimischen, jüdischen und christlichen (die beiden letzteren zur Zeit der Zone immerhin fast die Hälfte der Bevölkerung). Mit der dezidiert sexuellen Anziehung verbindet sich darüber hinaus auch die Faszination für das weiter oben als ›vormodern‹ Bezeichnete: das Basale und die Angesichtigkeit im homosensuellen und homosozialen Umgang. Hier betrete ich ganz dünnes Eis, ich weiß: das Basale und die nicht durch Intellektualität gehemmte Direktheit schließen sich im abendländischen Schuldhaftigkeitsdiskurs entweder an koloniale Ausbeutungsmuster an und sprechen den Erforschten eine Begegnung auf Augenhöhe und oftmals gar das Menschsein ab; oder sie werden wie bei Frobenius55 und Pasolini56 romantisch überhöht und zum Ausdruck wirklichen und überlegenen Menschseins erhoben. Aber ich spreche weder vom triebhaften und tierischen Eingeborenen noch vom edlen Wilden sondern ich 49 50 51 52 53 54

Vgl. Codrington 2008 S.129. Mullins 2002 S.7. De Martino & Schmitt 1985. Lancaster 1988; Arboleda 1987; Taylor 1976. Haller 1992. Tafersiti meint, er und Bowles seien beide von Tangervirus befallen. Feldforschungstagebuch 19.04.2013. Vgl. auch Walonen 2011 S.23; Mullins 2002 S.126. 55 Vgl. z.B. Verhoeven 2012; Echeruo 1993. 56 Kammerer 2011.

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versuche, das Basale und Angesichtige eher lakonisch im Sinne von Bowles zu betrachten und als eigenwertiges kulturelles Phänomen ernst zu nehmen. Dieses Phänomen ist historisch, politisch, ökonomisch und kulturell kontextualisiert, aber es existiert. Es ist schön und stark, widerwärtig und anziehend, brutal und schnörkellos, lasterhaft, belastend und lustvoll, von einer unhinterfragbaren Selbstverständlichkeit und gleichzeitig hochgradig konstruiert und voller Leid. Aber es ist. Und es lässt nicht kalt. Jedenfalls nicht mich. Es geht mir wohl wie Pasolini und ich hoffte, nicht so am Strand von Merqala zu enden wie jener mit Pino Pelosi am Strand von Ostia. In meinen Tagebuchnotizen übernehme ich von Pasolini die Bezeichnung Ragazzi di vita für die Jungs der Altstadt.57 Daran dachte ich etwa, wenn ich Majid aus dem Altstadtviertel Jnan Kaptan begegnete, der tagsüber neben Mokhtars Café steht und abends in der Rue Siaghine Kleidung verkauft: bruto [roh], del barrio [aus dem Viertel], simple [ungebildet], ein wenig verschlagen. Arm, dem Genuss von Drogen nicht abhold, kiff und snif, und die neuen Medien, ein iPhone als erstes Ziel, danach ein großes Auto und ein Haus zum Prahlen. Keine Nostalgie, sondern beyond nostalgia, ein Blick auf die rohen Fakten des Lebens. Eine direktere Verbindung zwischen den Sinnen, dem Begehren, dem Denken und dem Tun. Ob diese Direktheit nur meiner eigenen, im Bourdieu’schen Sinne überindividuell und kulturell vorgeprägten Phantasie entspringt, oder ob sie tatsächlich vorhanden ist, jenseits meines Begehrens – also ob sie tatsächlich nur phänomenologisch durch meinen Umgang mit den Dingen existiert oder nicht doch simpel empiristisch vorliegt – ist eine sinnvolle Frage. Festzustellen ist, dass die Sexualität kaum geprägt ist von akademisierten und pädagogischen Besserungsdiskursen wie in Deutschland, wohl aber zunehmend – im Kontext Tangers – zutiefst von Schuld und Angst und überlagert von repressiven Versionen58 des Islam. Das war in Marokko vor noch gar nicht langer Zeit einmal anders, in der Gegenwart gewinnen aber enge Versionen des Glaubens immer mehr an Boden.59 Es ist vielfach die nackte Angst vor der

57 Pasolini 1955. 58 Ich verwende hier die Definition Seidenstickers (2014 S.9), wonach es sich »Beim Islamismus […] um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden« handelt. Dazu gehört u.a. eine Distanzierung von Teilen der religiös-politischen Geschichte, sowie eine Verabsolutierung des Islam für die Gestaltung des individuellen, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, kombiniert mit dem Ziel einer weitgehenden Durchdringung der Gesellschaft. 59 Feldforschungstagebuch 30.07.2013. Wenn ich von Islam spreche, dann beziehe ich mich nicht in erster Linie auf den Quran, sondern auf gelebte Versionen und autochthone, lokale Verständnisweisen und Praktiken des Islam.

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Polizei, vor der Gesellschaft und insbesondere vor der ewiglichen Verdammnis, auf die ich gestoßen bin. Ich weiß, ich muss mich gemahnen, meine Faszination für den wesenhaften Aspekt von Kultur, für die Vormoderne und die ragazzi di vita in diesem Buch zu zügeln und der Idealisierung einen Riegel vorzuschieben. Das versuche ich, indem ich meine Projektionen – die nicht nur meine persönlichen sind, sondern habitualisiert sind und kulturellen Erwartungshaltungen entsprechen – so gut wie möglich freilege. Denn es geht im Bekenntnis der drei Sünden nur vorgeblich um mich selbst; es sind kollektive Sünden der Europäer, daher geht es in ihrer Freilegung in erster Linie um eine möglichst freie Sicht auf Leben in Tanger. Die Kapitel in diesem Buch befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten des Lebens in Tanger. Im ersten Kapitel führe ich in diese Aspekte ein, ich habe sie in dieser Einleitung bereits angesprochen und möchte an dieser Stelle nicht mehr davon erzählen. Schließlich sollen Sie dieses Buch lesen, und es wäre doch ein guter Anfang, mit dem ersten Kapitel zu beginnen.

D ANKSAGUNG Die Forschung, die diesem Buch zugrunde liegt, wäre ohne die Unterstützung meines Lebenspartners, Lutz Jablonowsky, nicht möglich gewesen. Dieses Glück hatte ich, und dafür bin ich unendlich dankbar. Zwei weitere Fügungen kommen hinzu: das Rektorat der Ruhr Universität Bochum hatte mir für die erfolgreiche Miteinwerbung des Zentrums für Mittelmeerstudien ein zusätzliches Forschungsfreisemester zugemessen, das ich mit einem regulären Freisemester kombinierte. Nur so war es mir möglich, mich in ein neues ethnologisches Forschungsfeld einzuarbeiten: Tanger in Marokko. Der Stadt selbst verdanke ich schließlich die dritte Gnade: sie und viele ihrer Bewohner haben mich aufgenommen und mir Wege eröffnet, deren Beschreitung mir vor Antritt der Forschung nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen wären. Von ihnen versuche ich in diesem Buch Zeugnis abzulegen. Ich werde in dieser Danksagung jedoch viele Menschen nicht nennen können, denen ich meinen Dank auch in diesem Buch (und nicht nur privat) aussprechen möchte. Nicht, weil ich ihre Namen nicht kennte, sondern weil sie mich gebeten haben, ihre wahren Namen nicht zu nennen. Denn etliche meiner Gewährsleute kämen in Gefahr, hätte ich sie im Buch nicht pseudonymisiert: sie bewegen sich in gesellschaftlich diskreditierten und zum Teil rechtlich verfolgten Umfeldern wie dem illegalen Straßenhandel, dem Besuch von Besessenheitskulten, der Sexualität, der Kritik an den bestehenden Machtverhältnissen. Andere wiederum

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wollten aus persönlichen und spirituellen Gründen nicht erkennbar werden: zwar dürfte ich die Aussagen und Haltungen in meinem Buch verwenden, aber sie dürften nicht individuell zuordenbar sein, da es niemanden etwas angehe, welche Haltung man zu gesellschaftlichen oder religiösen Fragen habe. Insofern habe ich im vorliegenden Buch viele Gewährsleute ein Pseudonym und ihnen mitunter mehrere Identitäten im Buch zugewiesen – etwa wenn sich dadurch der Gehalt einer Aussage, einer Erfahrung, einer Überzeugung nicht verändert. Ihnen spreche ich mit dieser Vorrede kollektiv meinen Dank aus. Anders sieht es mit einheimischen Vertretern von Institutionen, meinem beruflichen und meinem persönlichen Umfeld aus, sowie mit jenen (wenigen) Gewährsleuten, die mir erlaubten, sie mit vollem Namen zu nennen: Abdellatif Bousseta, Ahmed Mellak, Aïsha Qandisha, Andrea Bressler, Andreas Warneke, Anton Erkoreka, Benaissa Msiid, Christian September, Christoph Sandmann, Annika Linnemann und dem transcript Verlag, Don Kulick, Dorothy Zinn, Elinor Zeino-Mahmalat, die Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Ferdaous Adda, die Bruderschaft der Ḥamādša, Hamza Alaoui, Hamza Ben Rabah, Helmut Reifeld, Johannes Rosenbaum, John Borneman, Jürgen Straub, Lale Behzadi, Martin Zillinger, Mayte Carrasco, Manuel Laborda, Mohammed Zhar, Michel Peraldi, Mimoun und Francine Hillali, Moumen Smihi, Mustafa Ben Amar, Mustapha Qadery, Nabil Metni, Nadine Pasternacki, Noureddine Boulaa, Parvis Ghassem-Fachandi, Sandra Plontke, Stefanie Hof, Steffen Wippel, Thomas Ladenburger, Tina Otten, Tina Stroheker, Yassine Khemlichi, das Zentrum für Mittelmeerstudien der Ruhr-Universität Bochum

Kapitel 1 – Ein Haus in Tanger

Dar Zambaqia – Haus der Lilien. Diesen Namen trägt das Anwesen in der Rue Imam Ibn Hanbal im Villenviertel Mershan, in das ich zu Beginn des Juli 2013 einzog. Vormals hieß die Straße Ramon y Cajal, sie liegt zwischen der Avenue Imam Malik (ehemals Avenue Roosevelt) und der Avenue Hassan II (früher Avenue d’Alexandrie). Das Anwesen und die Gegend spiegeln auf geradezu exemplarische Weise die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und die sozialen Prozesse und Entwicklungen in Tanger seit dem 19. Jahrhundert wieder: die Zeit der Internationalen Zone (1923-1956), die Nationalisierung nach der Eingliederung der Stadt in den neuen marokkanischen Nationalstaat nach 1956, die Modernisierung durch König Mohamed VI; die Beziehung zwischen Oberschicht und Dienstpersonal; die multikulturelle Geschichte, in der Muslime und Juden, Gibraltarianer und Spanier, Franzosen und Briten, Sindhis und Deutsche eine Rolle spielen; die Vielfalt der Bankhäuser (niederländische und französische Institutionen), Währungen (Peseten, Pfund, Dirhams und Dollars) und Geldtransaktionen (Hypotheken, Verkauf und Spekulation), die in den Akten zur Hausgeschichte auftauchen,1 reflektieren Tanger als Finanzzentrum; Magie und die Droge spielen ebenfalls eine Rolle; und auch die sexuelle Vielfalt, von der die Geschichte der Stadt beredtes Zeugnis gibt, ist in Dar Zambaqia präsent. Das Stadtviertel Mershan trägt seinen Namen vermutlich nach einer Familie, die im Zuge einer Pestepidemie ausgerottet wurde.2 Es liegt auf einem Plateau westlich der Medina von Tanger, der Altstadt mit seiner Kasbah. Dort trat ich ein in eine Welt der basalen Sinne, des Blickens,3 des Tastens und des Riechens, der mitunter unverstellten Körperlichkeit und der Angesichtigkeit – eine Welt der Fülle aus denen jene –befände man sich im Nachkriegsitalien – kommen könnten, 1 2 3

Administracion Internacional de la Zona de Tanger, Servicio del Registro de la Propriedad Territorial Jahr. Laredo 1936 S.288ff. Simmel 1992 (1908).

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die in die Borghate zogen, die Pasolini4 so meisterlich porträtierte. Noch aber leben Viele in der Medina, auch wenn sich die Stadt in rasender Schnelle mit immer neuen Siedlungen ins weite Umland frisst. Anders im wohlhabenden Mershan mit dem Königspalast, den Villen von Malcolm Forbes und BernardHenri Lévy. Hier lebte eine wohlhabende Dame, die selbst im Drogenhandel aktiv gewesen sei und H’midou, dem sie den Namen Derdib (der Schakal) verlieh, zum wichtigsten Drogenbaron des Nordens gemacht haben soll. Denn von Haschisch und anderen Substanzen lebt die Stadt, sie scheint Grundlage des einzig wirklich funktionierenden Wirtschaftszweiges zu sein, nicht nur weil die Händler selbst unermesslichen Reichtum anhäufen, Abbildung 1: Lage von Dar Zambaquia sondern weil sie den Reichtum unter in Mershan den Armen verteilen.5 Von Derdib etwa erzählt jeder in der Stadt, dass er ein guter Mann sei, am islamischen Opferfest 3Aid el Kebir Lastwagen voller Hammel zu den Armen bringe und sie an anderen Festen mit Kleidung beschenke.6 Und Arme gibt es hier viele. Bis zum 19. Jahrhundert war das Plateau von Mershan nicht bebaut, das erste Gebäude war die Sardisch-Piemontesische Legation, die den italienischen Nationalhelden Guiseppe Garibaldi im Jahre 1849/50 beherbergte. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstädterte sich die Gegend, hauptsächlich wurden dort Villen und andere zweistöckige Gebäude der Oberschicht gebaut. Der Grund gehörte meist jüdischen Familien. 1893 eröffnete das französische Hospital, um 1900 ließ sich der Cherif von Ouezzane im Viertel nieder. 1908, nach seiner Abdankung, zog Sultan Moulay Abdelaziz nach Mershan, auch sein Wesir Mohamed Mokhri und sein Verteidigungsminister Mehdi Mnebhi ließen sich dort nieder, wo sie prächtige Villen erbauen ließen. 1913 baute man das Institut Pasteur. Der Palast des örtlichen Vertreters des Sultans, des Mendoub, wurde hier 4 5 6

Pasolini 1955. Vgl. auch Peraldi 2007a. Feldforschungstagebuch 13.12.2013.

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in den 1920er Jahren fertiggestellt und 1970 wurde es von Malcolm Forbes erworben. In den 1920er und 1930er Jahren konsolidierte sich Mershan als Wohnviertel der oberen Mittelklasse.7 Nach Norden fällt das Plateau steil zum Meer hinab. 1921 wurde auf den Klippen zur See hin das Café Hafa gebaut, einer der mythischen Orte der Stadt, an dem die Rolling Stones, The Beatles, Jimmy Hendrix, Sean Connery, John Malkovich und natürlich die Schriftsteller der Beat Generation zu Gast waren. Von hier aus sieht man über ›das Gässchen‹8 hinweg die spanische Südküste und manchmal bei Nacht die Scheinwerfer der Autos bei Algeciras, hier träumen Tanjawis bei Haschisch und Kif von Europa. An der Küste unterhalb des Hafa führt seit 2008 die neue Küstenstraße entlang, Teil des großen Umbauprojektes, mit dem König Mohamed VI die seit den 1970er Jahren lange vernachlässigte Stadt modernisieren und ihr neuen Schwung verleihen möchte. Dass dafür der Felsen von Lalla Jmila beseitigt werden musste, wo Frauen bis vor kurzem magische Rituale durchführten, ist ein Symbol für die neue Zeit und ein erstes Beispiel für die kulturellen und sozialen Effekte des Umbauprojektes, die im Mittelpunkt meiner Feldforschung stehen. Dar Zambaqia liegt also in Abbildung 2: Innenhof von Dar Zambaquia einer ›guten‹ Gegend. Dass ich in das Anwesen einzog, ist eine etwas großspurige Behauptung: Ich mietete dort ein kleines Studio, das sich über der Garage des Anwesens befand: ein großes, möbliertes Zimmer mit Kochnische, Internetanschluss und SatellitenTV, ein kleines Bad mit WC. Fenster zum Garten und zur Straße. Dazu die 7 8

Assayag 2000 S.163ff; Mas Garriga 2013. Zurqqaq oder ruelle, also Gässchen, nennen die Marokkaner die Strasse von Gibraltar. Während die Begriffe der Strasse oder der Straits eine Trennung suggerieren, gemahnt die marokkanische Perspektive daran, dass Südspanien und Nordmarokko zu ein und demselben Raum gehören.

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Dachterrasse, von der aus man einen Blick über Mershan, das Viertel Dradeb zur rechten, die Villa Seruya zur Straße, die Scheinwerfer des alten Fußballstadions gen Norden und die Altstadt zur linken werfen und – ich muss sagen – genießen kann.9 Man kann sogar einen Teil des Hafens und der Bucht von Tanger erspähen. Im Mietpreis von 4.000 Dh (Marokkanische Dirham) waren die Dienste der Putzfrau Ferdaouss enthalten, die sich zweimal die Woche um meine Wohnung kümmerte. Zu Beginn meines Aufenthaltes hatte ich auch die Garage – 500 Dh – für mein Auto gemietet, mit dem ich aus Deutschland angereist war. Den Garten des Hauses und die Terrasse des Haupthauses durfte ich benutzen, denn der Vermieter, der Engländer Claude Hamilton, verließ das Haus am Tag meines Einzuges ins Studio: Claude unterzog sich in London einer Krankheitsbehandlung. Das Anwesen stand daher bis auf mich und eine weitere Mieterin, die Spanierin Nuria, weitgehend leer. Das Haupthaus besteht aus Unter- und Obergeschoss, in letzterem wohnte Nuria für 8.000 Dh Miete. Ihr Balkon befand sich in voller Breite des Hauses über der Erdgeschosswohnung, ein zweiter, kleinerer Balkon lag auf der Rückseite in Richtung des 1937 erbauten Fußballstadions. Nuria Fernandez-Vidal stammt aus Madrid, sie leitete bis zum Frühjahr 2014 als Verantwortliche für die Region Tanger-Tetuán das Büro der International Organization for Migration.10 Seit Jahrzehnten ist die Stadt Anlaufpunkt für schwarzafrikanische Migranten aus den südlicheren Teilen des Kontinents und Ausgangspunkt für die oft grausam und tödlich verlaufende Fahrt mit Booten, die häufig als Nussschalen beschrieben werden, hinüber zu einem Europa, das von Tanger aus greifbar scheint und die Phantasie und das Begehren der Einheimischen und Fremden beflügelt. Die Putzfrau Ferdaouss wohnte im nahen Stadtviertel Dradeb, das sich hinter dem Plateau am Hügel und im Tal an das Villenviertel anschließt. Dort lebten schon immer die Muslime, die ›kleinen Leute‹,11 die bei der Oberschicht in Mershan den Haushalt führten, den Garten pflegten und die technischen Anlagen instand hielten. Die Mitvierzigerin war alleinstehend, hatte nur eine Schwester, der Bruder verstarb vor einigen Jahren. Claude verriet, dass man Ferdaouss’ Dienste während seiner langen und häufigen Abwesenheit in England ›eigentlich‹ nicht benötige, aber sie sei eine gute Seele, sie sei arm und vertrauenswürdig, und er bringe es nicht übers Herz, sie ins Elend zu stürzen. Er stand damit in der Tradition der europäischen Villenbesitzer, von denen man sich in der Altstadt und in den Armenvierteln erzählt, sie hätten die Muslime immer gut behandelt: man 9

Eine entsprechende Videosequenz, die vom Autor erstellt wurde, befindet sich auf: https://www.youtube.com/watch?v=AiXvitr3dYQ. 10 https://www.iom.int/cms/about-iom. 11 Hillali 1988 S.21.

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habe ihnen Arbeit gegeben, sie an den muslimischen Feiertagen beschenkt, ihnen mitunter die Pilgerfahrt (Hajj) nach Mekka finanziert und sich ums Wohlergehen gekümmert – ganz anders als die heutige muslimische Oberschicht und die Neureichen, die die Dienstboten wie Sklaven behandeln würden.

Abbildung 3: Über den Dächern von Mershan Ich selbst habe diese Art der Patronage nie miterlebt, da ich keinen Umgang mit wohlhabenden Muslimen pflegte; so kann ich nicht sagen, ob es sich hier lediglich um den Diskurs der Armen handelt, der allgemeine Ressentiments gegen den Reichtum der Oberschicht zum Ausdruck bringt, indem man sie mit einer idealen kosmopolitischen Vergangenheit kontrastiert, oder ob diese Rede tatsächlich die gängigen Praxen zwischen Herren und Knechten widerspiegelt. Die Romantisierung der Zonenzeit und die Ressentiments gegen die Reichen kommen mir im Verlaufe meiner Forschung aber häufig zu Gehör. Ferdaouss jedenfalls sorgte sich um Haus und Hof, feudelte, putzte und lüftete, machte meine Wäsche und bügelte – fürs Bügeln gab ich ihr 50 Dh extra. Sie brachte mir manchmal etwas zu Essen, welches sie gekocht hatte, von dessen Genuss meine Freunde mir aber auf jeden Fall abrieten: alle Frauen betrieben Magie, vor allem mit Speisen! Damit versuchten sie, einen Mann an sich zu binden und ihn abhängig zu machen. Insbesondere wenn fremden Männern fertig gekochtes Essen ins Haus gebracht werde könne man sicher sein, dass die Köchin andere Absichten hege als lediglich jene, den Hunger des Bekochten zu stillen. Ich muss sagen, ich habe die Ergebnisse ihrer Kochkunst nie probiert, da mir der Umgang mit Magischem nicht geheuer war. Im Laufe der Forschung sollte ich

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feststellen, dass magische Alltagspraktiken in Tanger an der Tagesordnung waren und Viele in einer Welt des magischen Realismus leben.12 Zum Abschiedsfest meiner Feldforschung im Januar 2014 wäre Ferdaouss gern mitgekommen, allein: es war ein Fest bei den Ḥamādša, in deren Leben ich initiiert wurde – und vor Aïsha Qandisha, Lalla Malika, Lalla Mira, Sidi Mimoun und Sidi Hammou, den Geistwesen dieser Sufi-Bruderschaft, fürchten sich viele in Tanger. Mohammed, ein älterer Mann, kümmerte sich um die technischen Belange des Anwesens. Er reinigte die verstopften Abflussrohre, streute Gift gegen Ratten aus, die es eines Tages »vom Nachbargrundstück« in das Studio geschafft hatten, und verlegte Kabel. Mit ihm sprach ich Spanisch, mit Ferdaouss Französisch. Mein Darija, die lokale Variante des Arabischen, reichte nicht weit, wenngleich ich sehr viel mehr verstand als sprach. Wenn man den Garten durch das grüne Metalltor von der Straße her betrat, gelangte man in eine Oase der Ruhe. Vor einem lag das Haupthaus, das für mich immer nur ›die Villa‹ war, mit der Terrasse, die die Einnahme von Tee zu einem Vergnügen machte; der Garten selbst mit seinem Steinboden, den Bäumen und Pflanzenkübeln. Da Nuria erst spät abends von der Arbeit kam und Ferdaouss und Mohammed nur ein oder zwei Mal in der Woche in Dar Zambaqia arbeiteten, hatte ich den Garten und die Terrasse der Villa für mich alleine zur Nutzung. Zur Rechten die Garage und darüber das Studio, das Claude vor ein paar Jahren selbst errichtet hatte. Beide von einem riesigen Cherimoyabaum beschattet, dessen Früchte im Spätsommer von Mohammed geerntet wurden. Ich fühlte mich in der Dar Zambaqia wie zu Zeiten der International Zone von Tanger – ein tolerantes und freies Refugium jenseits der moralischen und religiösen Engstirnigkeit, die heute den Alltag in Tanger weitgehend prägt. Manchmal dachte ich an die Barbary Lane 28 der Stadtgeschichten von Armistead Maupin: ein idealer Raum um zu wohnen, sich zu entfalten und zu arbeiten. Ganz anders als der neue Mittelschichtsblock Mershan Gardens etwa 400 Meter von Dar Zambaqia entfernt, in dem ich zuvor wohnte und in dem die Hauswächter die Bewohner nicht nur vor diebischen Eindringlingen schützten, sondern auch ein böses Auge auf die Einhaltung ›sittlicher Normen‹ hatten – ein neues Phänomen im einst so freien Tanger. Auch hier haben sich in den letzten 20 Jahren zunehmend engstirnigere Varianten des Glaubens Bahn gebrochen, sie bedrängen den toleranten Geist der Stadt und die traditionellen Strömungen des Islam.

12 Vgl. auch Zillinger 2013 S.67-99.

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Zur Straße hin eine etwa 3 Meter hohe Mauer mit Glasscherben obendrauf und geschützt durch das dichte Geäst eines Baumes. Bislang haben Scherben und Äste noch jeden Eindringling abgeschreckt, so sagten mir die Hausgenossen. Einen anderen Eindruck gewann ich, als ich eines Nachts Kinder katzengleich über die Mauern des Nachbarhauses klettern sah – so schnell und behände, beinahe artistisch und so mühelos, dass mein Vertrauen in den Schutz durch unsere Mauer erschüttert wurde. Ich muss zugeben, dass ich die betörende Nachtbeleuchtung des Gartens daraufhin nicht aufgrund romantischer Anwandlungen einschaltete, sondern um die Anwesenheit von Bewohnern zu simulieren, insbesondere wenn Nuria auf Reisen war und ich somit nächtens allein im Geviert, so wie dies häufig der Fall war. »Nachts ist es gefährlich« meinte Ferdaouss, »da kommen Dämonen und Geister und machen einen verrückt. Tanger ist voller Gesindel«,13 so wiederum Said, einer der Wächter des Nachbargrundstückes, womit er vor allem die Gefahren der Straße meinte – auch wenn gerade unsere Straße als sicher und Mershan als gute Gegend galt. Aber wenn ich abends das Studio verließ, schaltete ich manchmal den Fernseher an, damit sein Flimmern von potentiellem ›Gesindel‹ schon von der Straße aus gesehen werden konnte. Die zurückgesetzten und somit halbwegs uneinsehbaren Eingänge der Anwesen unserer Straße wurden des Nachts aber meist nur von Pärchen genutzt um sich in die verliebten Augen zu strahlen, sich Küsse zu rauben und Handfesteres zu greifen.14 Außerdem gab es nachts einen Wächter, der die parkenden Autos bewachte. Trotzdem, man konnte nie wissen … Einsehbar war das Anwesen weder von der Straße aus noch von den Nachbargebäuden. Links wurde die Dar Zambaqia von einer Mauer begrenzt, dahinter lag das Wohnhaus eines Polizisten. Rechts zwischen Villa und Garage eine kleine Treppe, die sich nach einem Absatz in zwei Richtungen gabelte: zu Nurias Wohnung und in mein Studio hinauf. Vor dem Absatz die Mauer zum Nachbargelände, eine zugemauerte Tür mit maurischem Umriss. Die Villa selbst wies keine architektonischen Muster auf, die an orientalisierende oder arabeske Formen gemahnten: sie trug eher Merkmale mediterraner und kolonialbritischer Architektur. Auf dem Nachbargelände befand sich ein moderner Rohbau, in dem erst im Januar 2014 erkennbar weitergebaut wurde. Bewacht wurde es vom bereits erwähnten Wächter Said aus Rachidia und seinem Kollegen Mustafa aus Bni Mellal, die im Rohbau auch wohnten. Meine Tage, Abende und oftmals die 13 Feldforschungstagebuch 17.10.2013. 14 Vgl. Price & Price 1966.

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Zeit bis tief in die Nacht verbrachte ich zumeist in der Medina, meinem hauptsächlichen Forschungsfeld. Ich saß mit den Informanten in ihren Läden und verbrachte viel Zeit in Cafés und auf Plätzen. Vereinbarungen und Termine nahm ich erst ernst, ich bin Deutscher; dann nahm ich sie großzügig und allmählich ließ ich mich nur allzu gern treiben von dem, was spontan auf mich zutrat. Mein Freund Mustafa hatte schon recht: »En la noche mucho pensar … y mañana: finito!« [Nachts grübelt man viel, und am Morgen …. Aus!]. Was soll man lang planen und sich dann grämen?

Abbildung 4: Verblichener Glanz – Schmuckkacheln an der Villa Seruya In Dar Zambaqia schlief ich oft erst spät und dafür lange am Morgen. Das kam mir entgegen, ich mag diese Art des Lebens und machte mir manchmal nur Sorgen um ungelesene Emails und heimatliche Pflichten, die riefen. Morgen tut’s auch noch und was soll daran falsch sein auf der Terrasse von Dar Zambaqia zu dösen? Ntina tanjawi [Du bist Tanjawi], grinsten die Freunde auf einmal, soll heißen: jetzt bist Du im Rhythmus von Tanger. ‫( ا‬al-ḥamdu li-Llāh!, Lob sei Gott). Die Propriedad Magdalena, Nr. 305415 – wie das Anwesen einmal hieß – besaß ursprünglich eine Grundfläche von 354 m2 und trug ihren Namen nach der Besitzerin, der britischen Bürgerin Magdalena Sacarello, die 1899 in Gibraltar 15 Administracion Internacional de la Zona de Tanger, Servicio del Registro de la Propriedad Territorial Jahr.

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geboren wurde. Sacarello erwarb das Grundstück im Dezember 1947 aus dem Bestand des größeren Areals Mazouari Tanger I, T. 219, dessen Besitzer S.E. Si El Hadj Thami Ben Mohamed El Mezouaiu El Glaoui der Pascha von Marrakesch war. In den Kaufunterlagen ist von »un terrain a bâtir« die Rede – einem Baugrundstück. Der Kaufpreis betrug 106.200 Pesetas. Sacarello war seit 1931 mit Lorenzo Ferrary aus Tanger verheiratet. Während der Feldforschung, die ich in den 1990er Jahren in Gibraltar durchgeführt hatte, lernte ich gibraltarianische Sacarellos und Ferraris kennen. Der Kauf des Grundstückes erfolgte in der unmittelbaren Nachkriegszeit: die Zivilisten Gibraltars waren im Krieg evakuiert worden, etliche nach Tanger. Es war nicht abzusehen, ob man dorthin überhaupt zurückkehren konnte – ein Haus in Tanger bot sich da an.16 Gibraltar und Tanger waren einst ökonomisch, vor allem aber personell sehr eng miteinander vernetzt. Viele Gibraltarianer verfügten über Besitz auf beiden Seiten der Meerenge (und besitzen ihn wie die Villa Seruya17 gegenüber des Dar Zambaqia und das Mietshaus Inmueble Seruya18 zum Teil noch heute), viele Tanjawis heirateten nach Gibraltar. Insbesondere die Beziehungen zwischen den jüdischen Gemeinden beider Städte waren bis zur weitgehenden Auflösung der Gemeinde in Tanger sehr eng. Eine ältere Dame, Mery Gabay, die ich im jüdischen Casino von Tanger kennenlerne, enthüllt mir eines Tages, dass sie selbst es war, die Gibraltar im Jahre 1969 vor dem Ruin rettete, nachdem die Spanier die Landgrenze schlossen. »Dann gab es ja keine spanischen Arbeitskräfte mehr in Gibraltar: der Handel, der Hafen, die Haushalte – überall hatten dort ja Spanier gearbeitet. Meine Schwester rief mich an und bat darum, dass ich ihr helfe. Also organisierte ich alles und schickte ihnen kurzerhand 3000 Marokkaner rüber. Wenn ich nicht gewesen wäre, gäbs Gibraltar heute nimmer«, sagt Sra. Gabay stolz.19

16 Die britischen Behörden lehnten eine Rückkehr der Zivilisten nach Gibraltar lange Zeit gänzlich ab. Viele Gibraltarianer mussten dann bis 1952 auf eine Rückkehr in ihre Heimat warten. Haller 2000 S.114. 17 Die Seruya sind eine alte und wohlhabende jüdische Familie aus Gibraltar. Zum Besitz der Familie gehört noch heute nicht nur die Villa, sondern auch ein dahinter liegendes Mietshaus, das Imeuble Seruya, an der Avenue Hassan II. 18 Eine entsprechende Videosequenz, die vom Autor erstellt wurde, befindet sich auf: https://www.youtube.com/watch?v=Wg1hLb1L5ec. 19 Feldforschungstagebuch 25.12.2013.

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Ihre Schwester war die Gattin des damaligen Premierministers von Gibraltar, Sir Joshua Hassan, der mich während meiner Feldforschung in den 1990er Jahren bisweilen unter seine freundlichen Fittiche nahm. Der heutige Besitzer von Dar Zambaqia erzählt mir, dass das Haus nicht erst durch Mrs. Sacarello erbaut wurde, so wie es die Hausunterlagen nahelegen, sondern von 1910 stamme und die erste Villa in Mershan gewesen sei; der Pascha von Marrakesch selbst habe dieses Haus genutzt, als Wohnhaus für seine Gattin (Erdgeschoss), sowie als Liebesnest, in dem er sich mit seinen Gespielinnen traf (Obergeschoss). Ich konnte nicht in Erfahrung bringen, ob es vor der heutigen Villa vielleicht ein anderes Haus auf dem Grundstück gegeben hat, das dann abgerissen wurde, so dass Sacarello neu bauen konnte; oder ob diese skandalöse Abbildung 5: Grundriss von Dar Ménage sich in einem anderen Zambaquia Haus des Paschas abspielte. Vielleicht handelt es sich bei der Geschichte um das Liebesnest oder auch nur um eine jener spektakulären Klatschgeschichten ohne reale Grundlage – Grand Cinema, wie man hier sagt – die die Tanjawis so lieben und denen man auf Schritt und Tritt begegnet. Ich jedenfalls würde sie nur allzu gerne glauben. In der Zonenzeit koexistierten verschiedene Währungen nebeneinander. Mehrmals musste Mrs. Sacarello Hypotheken zu je 8% Zinsen auf den Besitz aufnehmen – eine gängige Praxis in der Finanzmetropole Tanger, in der die Immobilienspekulation boomte: eine erste Hypothek bei Moise Many20 am 26.06.1948 in Höhe von 80.000 Pts, am 15.07.1948 erfolgt eine zweite Hypothek, ebenfalls bei Mr. Many, dieses Mal in Höhe von 25.000 Ptas. Am 23.08.1948 nimmt sie eine dritte Hypothek auf, in Höhe von 1.300 ₤, dieses Mal bei einem Franzosen, dem Anwalt Daniel Eugène Ferdinand Saurin.21 20 Geb. 11.01.1882 in Hebron/Palästina. 21 Vgl. Malo 1953 S.111. Der 1869 in Digne/Basses Alpes geborene und 1953 in Tanger gestorbene Saurin war der erste Dekan des durch das Tangerstatut gegründeten Advo-

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Kurz darauf, am 07.09.1948, wird ein weiterer Kredit aufgenommen, bei Tejuman Nenumal Aswani22, einem Hindu aus dem Sindh, der in der Medina von Tanger wohnte. Dieses Mal betrug die Hypothek 75.000 Pesetas (zu 8% Zinsen). Auch die Familie Aswani kenne ich aus meiner Forschung in Gibraltar. Die Sindhis verfügen seit Mitte des 19. Jahrhunderts über ein beträchtliches Handelsnetzwerk im Mittelmeerraum entlang der Verbindung zwischen Großbritannien und das Juwel in der Krone des Empire, Indien. Es handelt sich vor allem um Angehörige der Händlerkaste der Vishaya. Im Zweiten Weltkrieg importierten die Sindhis Güter aller Art nach Tanger, unter Umgehung der deutschen U-Boot-Blockade. Sie verdienten nicht nur am Handel, sondern investierten auch in Grundbesitz.23 Und zu Zeiten, in denen der Zuzug indischer Frauen in der Kronkolonie untersagt wurde, damit sie dort keine Kinder gebären, die dann britische Bürger gewesen wären, lebten die Frauen und Kinder der gibraltarianischen Sindhis zum Gutteil in Tanger.24 Es ist im Nachhinein nicht zu rekonstruieren, ob Sacarello die vielen Hypotheken aufgenommen hatte, um den Hausbau zu finanzieren, oder schon mit der Absicht, es teurer weiterzukaufen, indes: unüblich wäre dies nicht für die damalige Immobilienmetropole Tanger. Jedenfalls wurde der Besitz am 11.01.1949, nach nur zwei Jahren in Sacarellos Händen, an zwei Käufer für einen Gesamtpreis von 500.000 Pesetas veräußert: zwei Drittel an die amerikanischfranzösische Prinzessin Marthe-Marie de Chambrun, Gattin des Prinzen Alexandre Edmundo Ruspoli, sowie ein Drittel an den französischen Anwalt Sarkis Ter-Oganessoff, der aus Choucha in Bergkarabach stammte. Mme. de Chambrun kannte man hier nur als ›Prinzessin Ruspoli‹, sie nahm in der besten Gesellschaft Tangers eine wichtige Rolle ein, stammte vom französischen General Lafayette ab, ihr Großonkel war der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt. Sie war eine begeisterte Hobbyägyptologin, -archäologin und -historikerin25 und pflegte eine Liebesbeziehung mit der literarischen Ikone Tangers, der Schriftstellerin Jane Bowles.26

22 23 24 25 26

katencollegs, sowie Vizepräsident der Gesetzgebenden Versammlung (Ceballos 2009 S.112) und Mitglied der Gesundheits- und Hygienekommission (Laredo 1936 S.301). Saurin war mit Alegria Suissa aus der jüdischen Gemeinde Tangers verheiratet. Geb. 15.08.1902 in Hala/Hyderabad. So investierten Sindhis etwa in das heute nicht mehr existierende Luxushotel Cecil, in das Cine Vox und das Cafe Fuentes am Suq Dakhel. Woolman 1998 S.107. Haller 2003. Woolman 1989 S.159; Ceballos 2009 S.296. Finlayson 1992 S.164, 168.

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Die beiden Besitzer nahmen am 03.04.1953 einvernehmlich eine Hypothek bei der Caisse Neerlandaise de Credit, S.A., Tangeroise auf in Höhe von 4.000 US-Dollars, der Zinsen des laufenden Jahres und der Gebühr für die Policen. Am 28.11.1953 veräußerte Prinzessin Ruspoli ein Sechstel ihres Anteiles an den Miteigentümer Ter-Oganessoff für den Kaufpreis von 70.000 Pesetas. Am 06.03.1956 nahmen die beiden Besitzer eine weitere Hypothek auf – im selben Umfang wie der Kredit bei der Caisse Neerlandaise von 1953 – dieses Mal bei der Société Hypothecaire de Tanger, S.A.Tangeroise. Ohne von den Hypotheken, von denen in den Unterlagen die Rede ist, zu wissen, reagierte einer meiner Hauptinformanten folgendermaßen auf die Nennung des Namens Ruspoli: »Ja, jedermann kannte sie, sie war eine bedeutende Intellektuelle und eine Gesellschaftsgröße in Tanger – aber ziemlich verarmt. Sie soll keine zwei Teller gehabt haben, die zueinander passen.«27 Nachdem Tanger 1956 an Marokko angegliedert wurde, setzte eine Nationalisierungswelle ein, die die internationale Stadt zutiefst veränderte. Nichtmuslimische Unternehmen mussten nun einen muslimisch-marokkanischen Geschäftspartner aufnehmen, dessen Anteil mindestens 51% des Unternehmens betrug, die meisten Europäer und Juden verließen in den Folgejahren die Stadt. Natürlich verzeichnen die Akten nunmehr einen Kaufpreis in Dirham und nicht mehr in einer der anderen Währungen, die in der Zonenzeit nebeneinander koexistierten. Auch die Straßennamen wurden geändert.28 So lag das Anwesen nun nicht mehr in der Calle Ramon y Cajal, sondern in der Rue Imam Ibn Hanbal. Der Besitz wurde am 30.11.1962 an den britischen Junggesellen Michael Cyril Edmund Parker29 für 31.500 Dh verkauft. Parker verstarb am 24.02.1982 und hinterließ den Besitz dem Deutschen Horst Gerhard Aschmutat30, der damals noch in 24 Rue Abou Hanifa (vormals Rue Dradeb) wohnte. Aschmutat überließ

27 Feldforschungstagebuch 08.01.2014. 28 Aschmutats ehemalige Adresse wird in den Unterlagen mit »Rue Abou Hanifa« angegeben. Aus der Avenue d’Alexandrie wurde die Avenue Hassan II, die Rue San Francisco hieß nun Rue Sidi Bouabid, der Paseo Dr Cenarro wurde zur Rue Ibn Al Abbar, die Rue Cervantes zur Rue Ibn Taoumart, die Rue Garibaldi zur Rue Assad Ibn Farrat, der Place d’Europe zum Place de la Ligue Arabe. 29 Geb. 10.07.1920. 30 Geb. 1931. Der deutsche Name wird in den Besitzunterlagen auf dreierlei Weise geschrieben: Aschmutat, Aschumatat, Achmoutat.

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am 06.05.1991 einen Teil des Besitzes31, 600 m2, an Mr. Tahar Chakkour. Der verbleibende Grundbesitz, bebaut mit dem Haupthaus bestehend aus Erd- und Obergeschoss, sowie der Garage, verfügte nunmehr noch über das Ausmaß von 3 Aar und 600 m2. Parker und Aschmutat waren ein Paar, wie mir der heutige Besitzer erzählt. Hier kommt in der Geschichte des Hauses ein Aspekt zum Tragen, von dem Tanger stark geprägt ist und war: Homosexualität wurde in der Zeit der Zone nicht verfolgt und viele arabische Männer waren, wie ich im letzten Kapitel dieses Buches ausführen werde, diesen Genüssen lange Zeit nicht abgeneigt, so dass sich hier viele Schwule aus Europa und den USA niederließen. Auch dies hat sich im Zuge der moralisierenden islamischen Fundamentalisierung, die die Stadt jetzt durchlebt, stark verändert. Tahar Chakkour war der Wächter des Anwesens, seine Hütte stand auf einem Gartengrundstück neben der Villa, dort wo heute Said und Mustafa den Neubau bewachen. Parker, der kinderlos starb, überließ ihm diesen Teil des Anwesens, alle nachkommenden Besitzer wurden verpflichtet, Chakkours Dienste in Anspruch zu nehmen, der sich nach wie vor um Dar Zambaqia kümmerte. Auch nachdem Aschmutat diesen Teil an Chakkour 1991 offiziell überschrieb blieben die beiden Grundstücke miteinander verbunden, und zwar durch eine Tür, die erst nach dem Tod von Chakkour, 2008, zugemauert wurde.32 Es ist die orientalisierte Tür am Absatz des Aufganges zu meinem Studio. Welche Art der Beziehung Parker oder Aschmutat mit Chakkour gepflegt haben, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Es wäre jedenfalls nicht unüblich, dass ein ehemaliger Vertrauter von Europäern irgendwann heiraten und eine Familie gründen würde, und die Europäer versorgen dann die neue Familie wie gute Onkel.33 Belegt ist allenfalls, dass es sich um eine ebenfalls nicht unübliche Fürsorgebeziehung zwischen Europäern und Marokkanern handelt, so wie dies weiter oben im Text bereits für Ferdaouss beschrieben wurde. Nach dem Tod Aschmutats kaufte mein Vermieter Claude das Anwesen im Jahre 2001 für 90.000 ₤. Von wem die Propriedad Magdalena den arabischen Namen Dar Zambaqia erhielt, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Ich vermute, dass die Umbenennung eher aus romantisch-orientalischen Motiven erfolgte, nicht aufgrund des marokkanischen Nationalismus. Eine der Vorbesitzerinnen oder einer der Vorbesitzer hatte wohl eine Vorliebe für diese Blumen.

31 Das Anwesen wird den Namen »Andrey I« tragen. 32 Feldforschungstagebuch 18.12.2013. 33 Bischoff 1997.

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Von Dar Zambaqia aus machte ich mich täglich auf, um die Welten der armen Muslime der Medina und der Vorstädte, des Hafens und der urbanistischen Modernisierung, der islamischen Fundamentalisierung, des schwulen Lebens, des magischen Realismus und vor allem das der Ḥamādša zu erkunden. Mein Jahr in Tanger war eine blühende Zeit. Lilien indes wuchsen während meines Aufenthaltes im Anwesen keine mehr.

Kapitel 2 – Kosmopolitismus als Erbe »Tangier is such a fucking repressive place. I’d rather go back to Casa.« 1

ABDELADIM, 28

Abdeladim, der 28 jährige Casaoui, der in Tanger seine Freunde besucht, bringt seinen Unmut über die Allgegenwart der fundamentalistischen Prüderie und der sozialen Kontrolle, die in sämtliche Lebensbereiche eindringen, zum Ausdruck. »Wenn islamische Fundamentalisten eine kleinere Stadt [wie Tanger] kontrollieren, dann üben sie stärkere Kontrolle2 aus als in [einer Millionenstadt wie] Casa[blanca]. Das ist eine große Stadt, da gibt es zumindest Ecken, wo man seine Ruhe hat.« Casablanca sei das heutige liberale Gesicht Marokkos, in der die Vielfalt der Lebensstile nicht überall einer einzigen Kraft – den fundamentalistischen Formen des Islam – untergeordnet wären. Tanger dagegen sei engstirnige Provinz. Wer sich mit der Geschichte Marokkos beschäftigt, wird erstaunt sein über diese Aussage. Schließlich ist Tanger berühmt für seine kosmopolitische Vergangenheit in der Zeit der Internationalen Zone (1923-1956), für die multiethnische Prägung, die Moderne und den freizügigen Umgang mit Sexualität, Alkohol und anderen Lässlichkeiten, die in anderen Teilen des Landes als verboten gelten. In der Literatur wurde über diesen außergewöhnlichen Charakter der Stadt beredt Zeugnis abgelegt, von einheimischen Autoren wie Mohamed Choukri und Ángel Vasquez, vor allem aber von expatriierten europäischen und amerikanischen Schriftstellern und Reisenden.3 Er ist zum kulturellen Erbe der Stadt geworden. Doch Tanger hat sich seit dem Ende der Internationalen Zone und mit der Integration in den Staat Marokko gewaltig verändert. 1 2 3

Feldforschungstagebuch 08.06.2013. Über den Zugriff von religiösen Fundamentalisten auf eine kleine Gemeinschaft siehe auch Haller 2000 über Gibraltar. Vgl. etwa Mullins 2002; Finlayson 1992; Vaidon 1977.

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Dieses Kapitel legt nicht nur unerwartete Befunde über den erinnerten Kosmopolitismus Tangers vor. Man kann es auch als Kritik an dem gegenwärtigen, oft inflationären Begriffsgebrauch in den politischen und philosophischen Wissenschaften lesen, die entweder von einem gesellschaftlichen Regelwerk oder einer ethischen Haltung ausgehen. Dort wird Kosmopolitismus häufig als spezifisch kulturellen und historischen Ursachen enthoben behandelt,4 als ethische Haltung etwa im Sinne der Moralphilosophie.5 Es wird oftmals als universelles Modell für gesellschaftliche Gesellungsformen diskutiert. Aus ethnologischer Perspektive möchte ich argumentieren dass es in eine falsche Richtung leitete, Tangers Fall unter solch dekulturalisierter Perspektive wie der einer Weltbürgerschaft zu betrachten.6 Vielmehr ist der Kosmopolitismus Tangers das Resultat vielfältiger sozialer Praktiken: Mehrsprachigkeit, gemischte Residenz, soziale Alltagsbeziehungen über ethnische und religiöse Kategorien hinweg, gemeinsame nichtöffentliche und öffentliche Institutionen (wie etwa Vereine bzw. Gerichte, Polizei und Verwaltung). Sie verkörpert das, was der marokkanische Philosoph und Soziologe Abdelkébir Khatibi für Marokko als Ganzes beansprucht, in geradezu exemplarischer Weise: eine Kultur, die als culture intermédiate »zwischen zwei Ismen zu existieren und mit zwei Welten zu dialogisieren hat. Dies betrifft die europäische Moderne mit ihrem Willen zur Macht, aber auch mit ihrem Pluralismus und kritischen Geist ebenso wie die arabisch-islamische Kultur, welche die Seele wie den Körper kolonisiert und ihrer Freiheit beraubt.«7

Abbildung 6: Parfumerie in der Innenstadt 4 5 6 7

Siehe etwa Kleingeld/Brown 2002. Ähnlich argumentiert Fuhrmann 2007 S.13. Nussbaum 1996. Boutayeb 2014 S.81.

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Die Kosmopoliten Tangers – ich meine hiermit nicht die wie in einem Rosenkranz heruntergebeteten expatriierten Künstler, Sinnsucher und Literaten, die nur eine kurze Zeit in der Stadt verblieben, ihr Bild und ihren Mythos aber maßgeblich prägten, sondern die Tanjawis aller drei Religionen – mögen sich vielleicht auch als Weltbürger gesehen haben, in erster Linie aber waren sie Bürger einer Stadt, die die Welt und das Weltläufige in sich trug. Deshalb kann der Kosmopolitismus von Tanger und wahrscheinlich jeder Kosmopolitismus nicht losgelöst von seinen spezifischen lokalen Erfahrungswelten verstanden werden. Ein Blick auf die demographischen, ökonomischen, legalen und politischen Rahmenbedingungen, die die Internationale Zone von Tanger prägten, mag es erlauben, Gemeinsamkeiten mit anderen mediterranen Städten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten – mit Alexandria, Beirut, Gibraltar, Smyrna und Triest. Dadurch können wir dann zu Aussagen über so etwas wie einen mediterranen Kosmopolitismus gelangen. Wie fast alle dieser Städte – mit Ausnahme von Gibraltar – wurde Tanger im Verlaufe des 20. Jahrhunderts Nationalisierungs- und Homogenisierungsbestrebungen unterworfen, die den Kosmopolitismus selbst in den Zustand einer erinnerten Realität abdrängte. Es wäre daher nicht angebracht, den selben Begriff – Kosmopolitismus – sowohl für diese Städte als auch für gegenwärtige Formen transversaler Solidarität anzuwenden, etwa auf den Umgang spanischer NGOs mit afrikanischen Migranten an den Küsten Andalusiens8: deren Kosmopolitismus mag für die spanischen Helfer relevant sein, allerdings scheint er nicht eingebettet zu sein in die weitere Gesellschaft. Wir wissen auch nicht, ob und was er für die Flüchtlinge bedeutet. Auch bezüglich Tangers kann man heute nicht mehr von einer kosmopolitischen Stadt sprechen: heute positionieren sich vielmehr alteingesessene Muslime gegen Zuwanderer aus dem Hinterland, Salafisten gegen liberale oder säkulare Bewohner und Marokkaner gegen Flüchtlinge aus dem subsaharischen Raum. Daher wendet sich mein Text einem Fall zu, in dem Kosmopolitismus den – erinnerten oder erlebten – Bezugsrahmen für alle Bürger darstellt, die im Tanger der Zonenzeit und bis in die 1970er Jahre hinein aufwuchsen – unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen oder klassenspezifischen Zugehörigkeit, auch wenn ich insbesondere auf muslimische Perspektiven abstellen werde. »Essentialist homogenization fuelled by chauvinist and fundamentalist sectarians in the 1950s and 1960s all but extinguished convivencia in most Mediterranean urban centres«, schreibt Lowenthal (2010). »The Turkification of Istanbul in the 1955 pogrom cost that city not only its ancient Greek but its rooted Armenian and Jewish communities […]. Lebanese 8

Römhild & Westrich, 2013 S.86.

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civil wars of the late 1970s and 1980s deprived Beirut of the last remnants of cosmopoli9

tanism. It survives […] in such remnant imperial outposts as Gibraltar.«

Tanger wurde nach der Angliederung an Marokko 1956 Nationalisierungsprozessen unterzogen, als gezielt Bürger aus dem Süden in die offiziellen Funktionen der Stadt in Verwaltung, Polizei und Gerichtsbarkeit eingestellt wurden, um hier wie in anderen Regionen des Landes die Schaffung einer nationalen marokkanischen Identität voranzutreiben. Ich selbst habe in bisherigen Arbeiten10 über die Homogenisierung klassischer Städte des mediterranen Kosmopolitismus geschrieben und sie mit der Eingliederung in die Nationalstaaten, sowie mit der Veränderung der demographischen Zusammensetzung in Verbindung gebracht. So war Tanger in der Zeit der Internationalen Zone eine Stadt, in der die Muslime die Mehrheit darstellten, allerdings mit starken christlichen und jüdischen Minderheiten. So besaß Tanger 1927 60.000 Einwohner, davon 35.000 Muslime, 15.000 Juden und 10.000 Ausländer.11 1950 lebten 150.000 Einwohner in der Stadt, darunter 43.000 Christen und 15.000 Juden.12 In den Jahren nach der Eingliederung in das Königreich Marokko, zwischen 1956 bis 197313, verließen jedoch die meisten Nichtmuslime (z.B. Spanier, Briten, Franzosen, Juden, Amerikaner) die Stadt, sie wurde auf ähnliche Weise wie das einst multiethnische Alexandria provinzialisiert. 14 2010 zählte die Stadt über eine Million Einwohner, etwa 5000 Ausländer werden offiziell von den verschiedenen Konsulaten gemeldet, und es soll nur noch 70 einheimische Juden geben.15 Der Tangerino Ángel Vázquez Molina16 stellt in seinem Roman La vida perra de Juani Narboni die Irritation in den Mittelpunkt, die die Heldin – eine Spanierin, die in Tanger verbleibt – empfand, als sie den Exodus ihrer Nachbarn,

9 10 11 12 13

Haller 2000, 2003, 2004 S.35–39. Haller 2000, 2001, 2004. Tafersiti Zarouila 2012 S.163. Tafersiti Zarouila 2012 S.156. Am 08.08.1973 wurde ein Gesetz verkündet, nach dem die Nichtmuslime gezwungen waren, einem marokkanischen Partner mindestens 51% ihrer Unternehmen, Restaurants, Läden und Geschäfte zu überlassen. Das Gesetz zeitigte v.a. im noch immer kosmopolitischen Tanger Konsequenzen, es führte zu einem Exodus insbesondere der verbliebenen Spanier. 14 1982 gab es unter den rund 270.000 Einwohnern noch 4000 Ausländer (Tafersiti Zarouila 2012 S.163). Unter den 500.000 Einwohnern, die 1997 offiziell gezählt wurden, waren nur noch 3000 Christen und 300 Juden (Tafersiti Zarouila 2012 S.156). 15 Tafersiti Zarouila 2012 S.163. 16 Vázquez Molina 1976.

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das Verschwinden der Multikulturalität und den Untergang ihrer bisherigen Lebenswelt miterlebte. Der Exodus der Europäer und der Juden ließ die muslimische Bevölkerung in einer Stadt zurück, die bis in die 1970er Jahre hinein vor allem aus der Medina, den angrenzenden Vierteln und einer überschaubaren Ville Nouvelle – den Vierteln Dradeb, Hasnouna, Mershan, California, Boubana, Souani, Charf, Iberia, Boukhachkhach und Msellah bestand.17 Die Veränderung des kosmopolitischen Ethos hatte ich bislang diesem Exodus der Nichtmuslime und den Homogenisierungsbestrebungen von staatlicher Seite zugeschrieben. Die Veränderungen betrafen die unterschiedlichsten Lebensbereiche, z.B. die Sprache. Sprach man in Tanger bis dahin weitgehend verschiedene Sprachen mit einer Dominanz des lokalen Arabisch (Darija) und des Spanischen, so brachten die Leute aus dem Süden ihre Version des Arabischen und als Bildungssprache das Französische mit. Mit dem Gemüsehändler Anwar (*1952), einem muslimischen Tanjawi kommuniziere ich v.a. auf Italienisch, die meisten anderen alten Tanjawis aber, wie etwa der Finanzbeamte José (*1962), sprechen Spanisch.18 Die jüngeren Bewohner der Stadt dagegen sprechen heute ausschließlich Arabisch und, je nach Bildungsgrad, Französisch. Der Fokus dieses Kapitels ist eigentlich ein unerwartetes Ergebnis meiner Forschung, denn ich war ursprünglich in unreflektierter eurozentrischer Verblendung nicht davon ausgegangen, dass muslimische Tanjawis sich dieses kulturellen Erbes annehmen und sich als Kosmopoliten begreifen würden. Ich hatte denselben Fehler begangen wie all jene Adepten der Said’schen Orientalismusthese, die davon ausgehen, dass der Orient ausschließlich ein Produkt westlicher Projektionen und Machtdiskurse sei. Dass den Bewohnern des Orient jegliche Eigensinnigkeit abgesprochen wird, sie nur rezeptive Marionetten eurozentrischer Machtdiskurse seien und selbst keine Vorstellungen davon hätten, worin der Orient bestünde und was ihn ausmacht, ist vielleicht der größte Vorwurf, den man in diesem Zusammenhang machen muss. Dass es wie bei Mullins (2002) über Tanger zu Entwürfen kommt, die man als Colonial Desire bezeichnen kann, ist das Resultat dessen, wenn man sich nur mit den Visionen beschäftigt, die amerikanische und europäische Schriftsteller entwarfen. Tatsächlich werden jegliche Diskurse über Tanger von literarischen, malerischen

17 Die französische Stadtgeographin Francine Hillali (1988) hat in ihrer Diplomarbeit diese Stadt und die beginnenden rasanten Auswucherungen beschrieben. 18 Meine eigene Arbeitssprache ist Sabir, eine pragmatische Mischung aus Darija, Französisch, Spanisch, Italienisch und Englisch.

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und filmischen Fiktionen der Ausländer überlagert,19 kaum eine Publikation, die nicht auf die Schriftsteller Bowles und Burroughs, Ginsberg und Orton oder die Maler Delacroix und Matisse verweist: Tanger wurde dort »als Ort interkultureller Begegnung zwischen Okzident und Orient, aber auch als Ort der Emigration, des Schmuggels und Schwarzhandels zum Gegenstand literarischer und filmischer Fiktion, in dem sich Reales und Phantasiertes zu einem identitätsstiftenden Narrativ amalgamiert«20, porträtiert. Dieses Bild wird auch von Wissenschaftlern21 und Journalisten22 weitergetragen. Hörte man stattdessen lokalen Stimmen zu und schaute man auf alltägliche Lebenswelten, dann würde man schnell merken, dass Tanger nicht nur ein Ort der Zügellosigkeit und der Halbwelt war, sondern versehen mit Beschränkungen, Regeln und Freiheiten gleichermaßen – auch für muslimische Tanjawis, die ähnliche Amalgamate wie die in Colonial Desire porträtierten Schriftsteller als identitätsstiftend zu entwickeln vermögen, obwohl diese von der Fachliteratur mit einem politisch korrekten colonial markiert und damit diskreditiert werden. Selbst solchen Bildern von Tätern und Opfern anhängend hatte ich übersehen, dass sich auch die muslimischen Bewohner des alten Tanger, die sich stolz »Tanjawis« oder »Tangerinos de verdad« nennen, weitgehend als kosmopolitisch, modern und als Vertreter der culture intermédiate verstehen mögen und dass sie sich vielleicht nach Lebenswelten zurücksehnen, die auch für sie zutiefst verändert wurden.23 »Es gibt kaum richtige Tanjawis mehr«, sagt mir der Händler Anwar, der im Nachklang der internationalen Zeit aufwuchs, die italienische Schule besucht hatte und sich selbst als kosmopolitischen Städter beschreibt. 19 Laamiri 2006. Siehe auch Ceballos (2009 S.234), der darauf verweist, dass die Mehrzahl der Tanjawis nichts mit den »perversos modelos de tangerinos«[abartigen Beispielen der Tanjawis] zu tun habe, die von Bowles, Burroughs, Morand oder Genet beschrieben wurden. 20 Musner 1997. 21 »Tangier became a boom town of unbridled capitalism, a tax paradise, a safe haven for merchands, bankers, speculators, monied exiles, unlicensed doctors and lawyers, aristocrats, political agents, refugees (among them Nazis and Moroccan nationalsits), adventurers, homosexuals, eccentrics, smugglers, prostitutes, artists and scholars.« (Driessen 1995 S.151). 22 Hackensberger (2008) romantisiert Tanger als ein »Eldorado von Millionären, Schmugglern und Geheimagenten, wo jeden Tag in den Villen der Hautevolee ausschweifende Partys gefeiert wurden.« 23 So schreibe ich (Haller 2004) »Inwieweit das jeweilige [lokale kosmopolitische] Ethos jedoch alle kulturellen und sozialen lokalen Gruppen auf dieselbe Weise einschloss, bleibt eine offene Frage; weite Teile der Bevölkerung wurden häufig davon ausgenommen, etwa die Muslime in Tanger […].«

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Damit meint er nicht nur die europäischen und jüdischen Bewohner, sondern auch muslimische wie sich selbst. Menschen wie Anwar bin ich in meiner Forschung immer wieder begegnet: Tanjawis, die in der Zonenzeit oder auch danach in alte muslimische Familien hinein geboren wurden und sich heute in erster Linie als weltoffene Städter und als Erben des Kosmopolitismus beschreiben;24 oder auch solche, die nach Tanger zugezogen sind und sich für die faszinierende Geschichte dieser Stadt begeistern. Und die sich über Medien miteinander austauschen. Von 1999-2007 existierte beispielsweise der Rundbrief Malabata, getragen von einem Verein, der in Algeciras auf der anderen Seite der Meerenge residierte. Malabata war an ehemalige Tanjawis gerichtet, christliche, jüdische und muslimische. Darin teilten die Leser nostalgische Erinnerungen an die Zonenzeit, tauschten alte Schulfotos und Kochrezepte untereinander aus, sammelten mundartliche Sprichwörter und gedachten verstorbener Freunde. Heute25 versammeln sich ehemalige und gegenwärtige Tanjawis, sowie Liebhaber der Stadt, auf den Facebookseiten der Gruppen Siempretanger (10.539 Teilnehmer), Tanger World City (8003), Tangérois du monde (1694), Save Tanger (771), Calles de Tanger (732), Historia de Tanger (738) und Journal Tanger (457). Auch diese Gruppen bestehen aus Muslimen, Christen und Juden gleichermaßen. Auch wenn die Mehrheit der Mitglieder dieser Gruppen älter als 50 Jahre ist, so nehmen doch auch zunehmend vor allem junge Muslime an den Foren teil, die dort ihre lokalpatriotische Liebe zur Stadt ausdrücken und sich für die Geschichte ihrer Stadt interessieren. All diese Gruppen tauschen sich über Kultur und Geschichte Tangers aus, dessen Erbe sie als bedroht ansehen, und sie befördern damit eine neue Form des Zusammenhaltes. Die Marokkanisierung des Landes nach 1956 zielte darauf ab, so Anwar, die Spuren des französischen und spanischen Kolonialismus zu beseitigen. Doch Tanger, so die Überzeugung vieler Tanjawi-Informanten, war früher nie eine Kolonie gewesen, sondern eine internationale Stadt, in der die Gruppen miteinander koexistierten und in vielen Bereichen miteinander verschmolzen. Der Kolonialismus habe erst 1956 Einzug gehalten, meint etwa Mr. Zouggari, ein 60 jähriger Tanjawi, der für die Besetzung der Stadt durch den Staat und die Marokkanisierungspolitik nur einen Namen hat: Neokolonialismus.26

24 Vgl. Laamiri 2009 S.23 »[…] there is in it [in Tangiers] a place for all tastes and all desires«. 25 12. November 2015. 26 Feldforschungstagebuch 16.11.2013.

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Abbildung 7: Gran Teatro Cervantes

Abbildung 8: Villa Perdicaris Die demographischen Veränderungen der Stadt mögen 1956 begonnen haben, sie konnten sich aber erst mit dem massenhaften Zuzug der Leute aus dem Süden,

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aus ›Arobia‹, seit den 1980er Jahren, verstärkt aber durch die Ausweisung Tangers als Entwicklungszone durch König Mohamed VI im neuen Jahrtausend durchsetzen. Im Diskurs von Anwar, den ich hier exemplarisch anführe, nimmt ›Arobia‹ eine zentrale Rolle ein: damit wird das ehemalige französische Protektorat, das ca. 70 km südlich von Tanger begann, bezeichnet.27 Der Zuzug aus diesen Landstrichen, vor allem der Zuzug aus dessen ländlichen Gebieten, führte in der Wahrnehmung der Tanjawis zu einer Ruralisierung und Orientalisierung der einst kosmopolitischen Stadt. Diese schlagen sich auch im Umgang mit dem baulichen Erbe der Stadt nieder. »Diese Menschen«, so der Heimatforscher Rashid Tafersiti Zarouila, »zogen in die alten Viertel der Medina ein, aber zuvor hatten sie in Hütten und Barracken auf dem Land gewohnt. Sie haben keinerlei Beziehung zur Stadt«.28 Damit erklärt Tafersiti Zarouila, der sich als Nostalgiker bezeichnet und den aktuellen Buchmarkt der Tangerpublikationen mit nostalgischen Bänden über das alte Tanger dominiert, die Tatsache, dass die Altbauten in vielen Teilen langsam verfallen.29 Weite Teile der Altstadt etwa werden von einer europäischen und mehr noch einer mediterranen Architektur beherrscht, die in anderen Städten des Landes ungewöhnlich erscheinen mag: Balkone und Fenster mit Gittern oder Fensterläden zur Straße, Stuck und klassizistischen Versatzstücken. Aber gerade die Europäer bauten die mediterranen Stadthäuser um (etwa mit gekalkten, verschlossenen Außenmauern und mit Innenhöfen) und schüfen so ihren Traum vom Orient. Doch es bröckelt hier und blättert dort; architektonische Prunkstücke wie das 1913 gebaute Gran Teatro Cervantes oder die in R’Milat, dem Stadtwald, liegende Villa Perdicaris aus der Jahrhundertwende modern vor sich hin und auch die städtebauliche Konsistenz insbesondere der Medina verändert sich massiv zugunsten eines funktionalen Ausbesserns oder Flickens von Fenstern, Türen, Fassaden. Nicht nur dort und in der Altstadt, auch in dem alten Villenviertel Mershan sind die Veränderungen zu spüren. Architektonische Juwelen zerfallen, werden abgerissen und durch neue Bauten und Blöcke ersetzt. Oder sie werden in einer »Nacht-und-Nebel-Aktion« auf Anordnung des Bürgermeisters einfach abgerissen, wie das älteste Krankenhaus der Stadt, Hospital Benchimol, um einen Parkplatz für den daneben liegenden Palast von Moulay Hafid zu schaffen.30 Der

27 Für andere Quellen beginnt Arobia bereits zwischen Asilah und Laraich (Francine Hillali 1988). 28 Feldforschungstagebuch 19.04.2013. 29 Ghazi ohne Jahresangabe. 30 Toledano 2010.

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Abriss des Gebäudes verursachte internationale Proteste,31 insbesondere da die jüdische Gemeinde Tangers, die das Gelände besitzt, dieses nie verkauft hatte und vom Abriss genauso überrascht wurde wie die Wächter des Hauses, die im Verlauf der Aktion festgenommen wurden.32 Das Hospital Benchimol, das Hotel Cecil, das Cinema Alcázar, der Felsen von Lalla Jmila, die Villa Harris, das alte Musikkonservatorium … die Liste der durch (gezielten?) Verfall oder (spontanen?) Abriss vernichteten architektonischen Zeugnisse des mediterranen Charakters der Metropole ist lange. »Encore un autre symbole (plus qu’un symbole) détruit.je suis triste« [wieder ein weiteres Symbol (mehr als ein Symbol) zerstört. Ich bin traurig.], Kommentator R.B.N. auf Facebook.

Dieser Kommentar über die Zerstörung des alten Bademeisterturmes am Strand von Tanger am 05.12.2015 ist symptomatisch für den Diskurs über die baulichen Veränderungen der Stadt, so wie er sich bei Aktivisten für den Erhalt der Bausubstanz und Liebhabern der Ortsgeschichte entfaltet: ein um das andere Bauwerk, das Tanger als mediterrane und einzigartige Stadt in Marokko auszeichnet, wird von ortsfremden Bürokraten vernichtet. »Que salvajada...el autor deberia ser denunciado,...estos que han llegado de cualquier aldea perdido del interior y que ignoran la historia de Tanger....[…] En definitiva Tanger sera como Suk El Arba,Kenitra o Bensliman... « [Was für eine Barbarei… die Verursacher müsste man anzeigen… die die aus irgendeinem Kaff im Inland kommen und die Geschichte von Tanger ignorieren. […] Tanger wird garantiert sowas wie Souk El Arba‘a, Kenitra oder Benslimane werden ….], Kommentator A.B.E.A. auf Facebook.

Diese und die folgenden Kommentare stammen aus Facebook, wo sich im Portal Siempretanger am Folgetag (06.12.2015) eine typische Diskussion entspannt. Kommentator B.M. etwa beklagt, dass die Tanjawis bei der Planung und Umsetzung des Planes Tanger-Métropole nicht gefragt wurden. Kommentator A.W. moniert, dass man bestrebt sei, die Zeugnisse der Internationalen Stadt zu beseitigen und Tanger stattdessen einen »Ganzkörperschleier« überzustülpen. Kommentator A.A. meint, dass diejenigen, die den Abriss veranlasst haben, nichts von Tanger verstünden. Mehrere Kommentatoren verweisen darauf, dass sich die Modernisierungsbehörde wie »Daesh in Palmyra« aufführe. Kom-

31 N.N. 2011. 32 Mokhtar 2010.

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mentator A.S. bringt es auf den Nenner: die Verantwortlichen sind nicht aus Tanger und würden die Eigenart der Stadt verschwinden lassen wollen. Der Turm entstammt der Zeit der Internationalen Zone, er fiel den Restrukturierungsmaßnahmen des Strandes im Zuge des Projektes TangerMétropole zum Opfer. Zuvor – im Herbst 2015 – waren schon die Diskotheken und Nachtclubs, die sich am Strand angesiedelt hatten, abgerissen worden. Die Kommentare verweisen darauf, dass Tangers Eigenart zerstört und ihr ein auswechselbar modern-nationalmarokkanisches Aussehen verleihen werde: »estan expoliando la esencia de Tanger convertiendola en una ciudad marroqui cualquiera« [Sie treiben die Essenz von Tanger aus und machen sie zu einer beliebigen marokkanischen Stadt], Kommentator M.A. auf Facebook.

Man versucht die Erinnerung an die internationale Vergangenheit, die vor Ort nicht in erster Linie als koloniales Unterdrückungssystem sondern als Zeit der Freiheit verstanden wird, auszulöschen: »Une corniche moderne et sophistiquée ça existe dans la monde entier. « [Eine Strandpromenade wie die im Projekt Tanger-Métropole angedachte gebe es überall.] Diese Eigenart widerspricht dem nationalen Diskurs über den Kolonialismus. Gleichzeitig vollzieht sich der Verlust des architektonischen Erbes auch unter dem Vorzeichen der ganzkörperverschleiernden Arabisierung: »Y eso que el alcalde es tangerino, […] ... Su ideologia esta clara: no quiere lugares de ›desmadre‹ o de ›diversion‹ y a lo mejor va a construir un minarete en el sitio de la torre« [Und das, obwohl der Bürgermeister aus Tanger stammt. […] Seine Ideologie ist offensichtlich: er mag keine Orte des ›Durcheinander‹ oder der ›Zerstreuung‹, und wahrscheinlich werden sie ein Minarett an der Stelle des Turmes bauen.], Kommentatorin S.Y.C.T.C. auf Facebook.

»Das wahre Tanger hat kein eigenes Gewicht in der Stadt«, erklären mir Tafersiti Zarouila und Andere im Jahr 2013. Dafür sind verschiedene politische Entscheidungen verantwortlich, vor allem die bewusste Vernachlässigung Tangers und des Nordens des Landes durch den ehemaligen König Hassan II (1961-1999). 2013, so meine Informanten während der Feldforschung, sei der Bürgermeister kein Einheimischer und auch der Gouverneur nicht, sie hätten keine Beziehung zur Eigenartigkeit der Stadt und seien nur daran interessiert, sich selbst die Taschen vollzustopfen und das Geld in ihre Heimatregionen fließen zu lassen. Das jedenfalls haben mir so fast wörtlich viele Informanten gesagt.33 Mein 33 Feldforschungstagebuch 27.06.2013.

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eigener Eindruck ist, dass die Stadtverwaltung selbst über kein Tourismuskonzept für die Stadt verfügt. Im offiziellen Tourismusbüro, dessen Informationsschalter zumeist verwaist ist, kann man mit gut Glück einen kleinen Faltplan erhalten, eine Beschreibung oder Bewerbung einzelner Sehenswürdigkeiten sucht man dort vergeblich. Manche Informanten nennen es das Anti-Touristboard, das über Jahre mit dem Slogan »Come to Tangiers where the sun shines every day« warb, anstatt die Sehenswürdigkeiten anzupreisen.34 Auch in den großen Hotels wie dem El Minzah erhält man bestenfalls besagten Faltplan, mehr Informationen über die Stadt darf der Gast hier jedoch nicht erwarten. Reisende, die sich der Stadt nähern wollen, sind auf Gedeih und Verderb ihrem eigenen Geschick ausgeliefert, zufällig einem richtigen und ausgebildeten Guide zu begegnen. Meist gerät man an einen der faux guides [falschen Stadtführer], die in der Ortsmythologie35 – nicht immer zu recht, denn auch faux guides können ehrenwert und gebildet sein – einen zweifelhaften Ruf genießen. Guides mit einer offiziellen Genehmigung dagegen verfügen über eine zweijährige Ausbildung und einem entsprechenden Masterabschluss am Institut Supérieur International du Tourisme de Tanger. Aber nicht jeder potentiell gute Guide kann es sich leisten, das Geld für eine derartige Ausbildung aufzubringen. Da das Interesse an der Werbung für die Stadt durch die Stadt kaum ausgeprägt ist, bleibt es Einzelinitiativen wie der des Tourismusprofessors Mimoun Hillali und seiner Mitstreiter im vom Ministère de la Culture unterstützten und von der EU geförderten Projekt SIWA & TANGER: un patrimoine pour une vie meilleure überlassen, um in der Medina Informationskarten für die Touristen aufzustellen und verschiedene Rundwege durch die Viertel der Altstadt auszuweisen. Über diese Initiative hinaus wird Tanger als interessanter Ort der Geschichte im Bereich des Tourismus kaum beworben. Einen Preservation Trust, der wie etwa in Alexandria36 versucht, die verbliebenen architektonischen Relikte (etwa die Villen) aus der internationalen Zeit, vor Zerfall und Zerstörung durch Spekulanten zu retten, gibt es lediglich in Rachid Tafersitis privater Assoziation El Boughaz, die allerdings eine Liste mit den noch vorhandenen und zu rettenden Bauwerken erarbeitet hat.37 Der Tenor meiner Informanten geht in dieselbe Richtung: »Die Politik« habe – wie im Falle des Hospital Benchimol – keine Sensibilität für die Einzigartigkeit des kulturellen Erbes. Vermutlich, so viele meiner Informanten, stecke sie mit 34 35 36 37

Feldforschungstagebuch, Interview mit Willem 31.07.2013. Vgl. Choukri 1996, Daus 2000 S. 297; Roberson 2006. Faregh 2001; Elamrani 2001. Tafersiti 2014.

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Bauspekulanten unter einer Decke, die den Wert eines Gebäudes wie einer Villa ausschließlich monetär beziffern, weder die Geschichte noch der Charakter der Stadt sei ihnen irgendetwas wert:38 die entscheidenden Positionen in der Stadtverwaltung seien mit Personen besetzt, die weder einen Bezug zur Stadt hätten noch gar etwas über die spezifische Vergangenheit wüssten. So sei es auch kein Wunder, dass am Boulevard Pasteur, der zentralen urbanen Flanierachse mit seiner Aussichtsplattform Sour Al Maâgazine, die alte Villa der Familie Toledano seit Jahren geschlossen und abgesperrt dem Zerfall anheim gegeben wurde. Dann könne man sie abreißen und das Areal gewinnbringender verwerten. Momentan nutzen klebstoffschnüffelnde Kinderbanden dieses Haus als Tummelplatz. Die vom Architekten Diego Jiménez Armstrong zu Beginn des XX. Jahrhunderts erbaute Villa Toledano ist das herausragendste Monument des Boulevard und bietet mit der Synagoge auf der anderen Straßenseite eine architektonische Einheit. In der Zeit meiner Forschung ist die mögliche Freigabe des Forêt Diplomatique und des Waldes von R’Milat, in dem die Villa Perdicaris liegt, zur Bebauung ein Gegenstand der Besorgnis unter den Tanjawis geworden.39 Diese einzigartigen grünen Lungen schließen sich an den The Mount, Jebel Kbira oder La Montagne genannten Berg im den Westen der Stadt an, wo traditionellerweise die Oberschicht aller Konfessionen und Nationalitäten ihre Villen errichtete. Noch heute erstrecken sich dort – neben dem königlichen Palast – weite Anwesen mit ihren Parks. Dahinter beginnt der eigentliche Wald, der sich rund zwölf Kilometer bis zum Kap Spartel erstreckt, dem Scheidepunkt von Atlantik und Mittelmeer. Lange schon ist dieser Wald in das Blickfeld der Spekulanten gerückt, und an einzelnen Stellen sieht man schon hier und da Neubauten sich durch das Grün fressen. Man habe zwar einen Etappensieg verbucht, seit König Mohammed VI, der Tanger zu seiner Lieblingsresidenz ausgewählt hat, den Wald zum Naturschutzgebiet erklärte; dennoch erkennt man Bauschneisen an dieser und jener Stelle, so dass auch der Forêt Diplomatique weiterhin gefährdet erscheint.40 Im Umgang mit der baulichen Struktur spiegelt sich der Umgang mit der Internationalen Epoche ganz allgemein wider.

38 Feldforschungstagebuch 26.05.2013. 39 Ghazi 2011; Petkanas 2011. 40 Vgl. auch Abbad ohne Jahresangabe.

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Abbildung 9: Die Casa Toledano am Boulevard »Alles zerfällt, nichts wird geschützt«, dieser Auffassung ist auch José, der seine eigene Lebenswelt der Kindheit – er ist 1962 in Tanger geboren und dort aufgewachsen – zerrinnen sieht und sich mittlerweile mit Juani Narboni aus dem Roman von Ángel Vásquez identifizieren kann. José – sein Vater Spanier, die Mutter Portugiesin – spricht Arabisch als Fremdsprache, seine Muttersprache ist Spanisch. Ich erlebe in seiner Gegenwart, wie er heutigen Bewohnern von Tanger, die er Tanjawis zu nennen sich zumeist weigert, immer wieder erklären muss, dass er selbst ein wahrer Tanjawi – weil dort geboren und seit mehreren Generationen familiär verwurzelt – sei: vor allem die jüngere Generation, die keine Bildung genossen hat – und das ist mittlerweile die überwiegende Mehrheit – habe keine Ahnung davon, dass Tanger vor nicht allzu langer Zeit eine nichtmuslimische Stadt gewesen ist. »Ein Christ muss ein Fremder sein, er kann kein Tanjawi sein«, so gibt José bitter die Überzeugung der meisten seiner muslimischen Gegenüber wieder.41 José erlebt sich als Fremder in der eigenen Stadt, das liegt in seinem Falle sicherlich besonders an seiner christlichen Herkunft; aber auch andere Informanten, wie Mr. Zouggari, geborener Muslim aus Tanger, bemühen das Motiv des Fremden in der eigenen Stadt, um die Veränderung des Charakters der Stadt anzuzeigen.

41 Feldforschungstagebuch 26.04.2013.

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Der Diskurs dieser Tanjawis, die sich selbst als Erben der kosmopolitischen Moderne und der Toleranz verstehen, beruft sich auf das Miteinander der Nationen und Religionen im Tanger der Zonenzeit. Wie so häufig ist das dabei gezeichnete Bild von der Vergangenheit ein Ideal der Friedfertigkeit im Zusammenleben. Damals setzte sich die Gesetzgebende Versammlung aus Muslimen, Christen und Juden,42 die Gerichtsbarkeit43 aus den Vertretern der verschiedenen ausländischen Nationen zusammen. Glaubt man Ceballos44 in seiner Monographie über das Tanger der Zonenzeit, so waren – stark vereinfacht gesagt – die Grenzen zwischen den sozialen Schichten bedeutsamer als die Grenzen zwischen den Nationalitäten oder Religionen: obgleich es Viertel gab, in denen Muslime nahezu unter sich waren, lebten Christen, Juden und Muslime überall zusammen, ob im Mershan der Oberklasse, den Händlervierteln der Medina oder den Arbeitergegenden Msellah und Bni Iddr. Die Oberschicht aller Gruppen traf sich in Handels- und Verwaltungsassoziationen, schickte ihre Kinder ins Lycee Regnault und wohnte zusammen im Villenviertel Mershan.45 Die Mittelschicht dagegen wohnte etwa in der Ville Nouvelle, die Kinder besuchten Schulen wie die École Berchet. Auch wenn es Gegenden wie Fuente Nueva in der Altstadt gab, in denen besonders viele Juden lebten, so gab es doch nie eine mellah46 wie in anderen Städten Nordafrikas. Die Viertel der Unterschicht waren vielmehr religiös gemischt, man teilte sich dieselben Nachbarschaften, Blöcke und Gassen, und auch die Zusammensetzung der nationalen Schulen, etwa der italienischen, wies ein Miteinander der drei Religionen auf. Man spielte zusammen Fußball, ging miteinander ins Kino und nahm an den Feiern der anderen Gruppen teil. Zwar wurden selten Ehen über die 42 Der gesetzgebenden Versammlung der Internationalen Zone stand der Mendoub als Vertreter des Sultans vor, sie bestand aus 32 Mitgliedern: davon waren 6 muslimische und 3 jüdische Untertanen des Sultans. Darüber hinaus gab es je 4 Spanier und Franzosen, je drei Briten, US-Amerikaner, Russen und Italiener, sowie je ein Belgier, Portugiese und Niederländer. (Ceballos 2009 S.108). 43 Das Statut von 1923 sah spanische, französische und britische Richter vor, 1928 wurden sie um Richter aus Belgien und Italien, 1950 um Richter aus den USA, Holland und Portugal ergänzt. Der gesetzgebenden Versammlung der Internationalen Zone stand der Mendoub als Vertreter des Sultans vor, sie bestand aus 32 Mitgliedern: davon waren 6 muslimische und 3 jüdische Untertanen des Sultans. Darüber hinaus gab es je 4 Spanier und Franzosen, je drei Briten, US-Amerikaner, Russen und Italiener, sowie je ein Belgier, Portugiese und Niederländer (Ceballos 2009 S.112). 44 Ceballos 2009 S.233. 45 Hier wohnte vor allem die muslimische und die jüdische Oberschicht. Ceballos 2009 S.34. 46 Ceballos 2009 S.309.

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Religionsgrenzen geschlossen,47 Freundschaften über diese Grenzen hinweg waren aber an der Tagesordnung. Insofern lässt sich von einem friedlichen, da ausbalancierten Miteinander der Religionen und Nationalitäten wohl sprechen.48 Es bestanden also die Gruppengrenzen im Barth’schen Sinne und die einzelnen Gruppen distinkt nebeneinander, jedoch gab es viele Anlässe und Freiräume, um Beziehungen miteinander aufzubauen, zu leben und neue, gemeinsame kulturelle Formen miteinander zu teilen. Die Madriderin Marisol Gómez entstammt der Arbeiterschicht, ihr Vater hatte als Republikaner das Nachbürgerkriegsspanien verlassen und in Tanger eine Zuflucht gefunden, die sowohl Freiheit als auch Arbeit und vor allem auskömmliche Versorgung der Familie mit Nahrung, Kleidung und Waren – und der spanischen Sprache – bot. Der im Vergleich mit Europa höhere Lebensstandard, die im Vergleich mit dem heutigen Tanger sehr viel höheren Sauberkeits- und Hygienestandards, sowie die Sicherheit in der Stadt, werden von alten Tanjawis wie Sra. Gómez und Mr. Zouggari angeführt. Kranke Muslime wurden früher gratis etwa in den jüdischen oder italienischen Krankenhäusern behandelt, heute werden sie an den Pforten der Aufnahme verscheucht, wenn sie kein Geld für eine Behandlung haben. Sra. Gómez besucht 2013 als 68-jährige zum ersten Mal wieder die Stadt, die sie mit ihren Eltern als 20 jährige verlassen hatte: die religiösen Gruppen habe es zwar gegeben, aber im Alltag hätten sie kaum eine Rolle gespielt. Sie habe mit jüdischen und muslimischen Freundinnen Kinos besucht und Cafés, sei in deren Elternhäuser aus- und eingegangen – was gezählt habe war die Persönlichkeit, nicht die Religion.49 Und Anwar erzählt: »Ich habe als Kind mit Juden und Christen gespielt und später mit ihnen gehandelt, wir haben uns gegenseitig Essen an Feiertagen gebracht und uns respektiert. Heute sagen sie einem, dass die Muslime besser seien und den richtigen Weg hätten; früher hat die Religion nicht so eine wichtige Rolle gespielt wie heute, es war uns in der Schule egal, ob man Mos50

lem war oder nicht.«

Auch die Beziehungen über die Klassengrenzen hinweg hätten sich geändert. »Die reichen Amerikaner und Europäer haben ihren Angestellten Arbeit gegeben und sie in der Regel anständig bezahlt. Heute ist das anders, da arbeiteten muslimische Hausange-

47 48 49 50

Ceballos 2009 S.243. Ceballos 2009 S.233ff. Feldforschungstagebuch 27.07.2013. Feldforschungstagebuch 15.07.2013.

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stellte bei muslimischen Arbeitgebern, und deren Beziehung ist eine reine und in der Regel schlecht bezahlte Geldbeziehung, keine Fürsorgebeziehung«,

sagt Mohammed Laabi, Präsident der kulturellen Assoziation Dar Laraïch.51 Aber begriffen sich die Bewohner der Zone in erster Linie tatsächlich als Tanjawis, oder nicht doch vor allem als Angehörige der jeweiligen Gruppe? Gab es so etwas wie ein kollektives Bewusstsein davon, Tanjawi zu sein, schon damals, oder ist dies nur ein retrospektives Wunschbild? Willem, ein 55 jähriger Belgier, der in Tanger geboren wurde und das Lycee Regnault in den 1970er Jahren absolvierte, hält diese gemeinsame Identität und die vielfältige Mischung über die Gruppengrenzen hinweg für ein Phänomen der Nachzonenzeit: erst die nachgeborenen Kinder der Zonenbewohner hätten dies entwickelt, in der Zonenzeit selbst seien die Gruppen getrennter voneinander gewesen: die Briten verkehrten vor allem mit Briten, die Franzosen mit Franzosen usw. In den Generationen derer, die die Zonenzeit als Erwachsene erlebt haben, scheint ein gleichberechtigter Austausch zwischen den Gruppen vor allem innerhalb der sozialen Klassen stattgefunden zu haben, weniger über die Klassengrenzen hinweg.52 Als Juani Narbonis einzige verbliebene Vertraute und Hausangestellte, die Muslima Hamruch, eines Tages nicht mehr zur Arbeit kommt, weiß Juani nicht, wo sie nach ihrer ›Freundin‹ suchen soll, weil sie deren Familiennamen und auch die Angehörigen nicht kennt und lediglich weiß, dass Hamruch im Viertel Dradeb – einem übervölkerten Armenviertel – wohnt. Es gibt sicherlich viele und komplexe Antworten auf die Frage nach dem Tanjawibewusst- Abbildung 10: St. Andrew’s Church sein in der Vergangenheit. Aus heutiger Perspektive der meisten 51 Feldforschungstagebuch 20.07.2013. 52 Ceballos 2009 S.242.

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Informanten ist dieses gemeinsame Bewusstsein schon in der Zonenzeit eine Tatsache. Und sie selbst – die muslimischen Tanjawis – sehen sich als Erben der Toleranz, die durch die Ruralisierung und die Islamisierung bedroht ist. Yassine Khemlichi, der 34-jährige Wächter der 1898 fertiggestellten anglikanischen Kirche St. Andrews, kämpft täglich gegen diese Bedrohung. Yassine wohnt mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter, seiner Mutter und der Schwester auf dem Gelände der Kirche mit seinem grünen und gepflegten Friedhof. Das Anwesen liegt wie eine Oase der Ruhe und der Besinnung am Rande der Altstadt, vor der Kirche und an den Seiten befinden sich belebte Märkte, so der alte Kohlemarkt, auf dem Tonwaren und Lebensmittel, und der Biro-Markt,53 wo Babouches und Waren des täglichen Bedarfes angeboten werden. Viele Stunden meiner Forschung habe ich mit Yassine, seiner Familie und seinen Freunden auf der Bank vor der Kirche verbracht. In St. Andrews treffen sich die angelsächsischen Mitglieder der Gemeinde und die afrikanischen Flüchtlinge, die protestantischen Glaubensrichtungen angehören, zum sonntäglichen Gottesdienst. Hier besuchen ihn seine durchweg älteren Freunde, die sich von überall her rekrutieren: die 80-jährige vietnamesische Zahnärztin Paulette, die seit 1971 in Tanger lebt; die franko-amerikanische Hundetrainerin Charlotte, die ihre Berufszeit bei der US-Army größtenteils in Zweibrücken verbrachte; der spanische Philosophieprofessor Joaquín; die 60-jährige Madame Lucette, eine der wenigen in Tanger verbliebenen Jüdinnen und ein auch schon halbwegs ergrauter deutscher Ethnologe. Seine eigene Offenheit für Freunde aus anderen Kulturen führt Yassine auf seinen Vater zurück, der als Hotelmanager in den 1970er und 1980er Jahren schon immer Freunde – insbesondere Hippies54 – aus ganz Europa zu gewinnen verstand. Fotos aus dieser Zeit zeigen Vater und Mutter als junge marokkanische Blumenkinder. Mit der ständigen Präsenz ausländischer Freunde in der Familie wuchsen Yassine und seine Geschwister von klein an auf. Schließlich verkehren in St. Andrews Touristen aus aller Welt (Mick Jagger und Königin Silvia von Schweden waren neulich zu Besuch), denn Yassine ist nicht nur der Wächter von Kirche und Friedhof, zu seinen Aufgaben gehört es auch, Touristen durch die Kirche zu führen, wenn diese es wünschen.

53 Der Name Biro stammt vom Bureau der Polizeikommission, die in der Zonenzeit hier ansässig war. 54 »In a way, the Hippie’s massive presence in Tangier was a sort of continuation of the time-honored international presence the city had always boasted of, not only in terms of political condition, but also through the visits of international celebrities.« Akbib 2006 S.55.

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Selbst Marokkaner und gläubiger Muslim, misstraut Yassine seinen Landsleuten aus dem Süden zutiefst. Auch er ist der Auffassung, dass für die negativen Veränderungen in der Stadt vor allem die Fremden aus dem Süden verantwortlich sind: diese haben schlechte Sitten mitgebracht, sie hauen die Touristen und die eigenen Landsleute übers Ohr, überall hätten sie nur ihren Vorteil im Sinn und suchten danach, ob es nicht von etwas zu profitieren gäbe. Echte Tanjawis dagegen gebe es kaum mehr. Yassine ist bemüht, die Marokkaner »draußen« zu halten, denn wenn sie ohne in Begleitung eines echten Guides das Tor des Friedhofes durchschreiten, dann vor allem deshalb, weil sie spionieren wollen, ob es etwas zu stehlen gibt oder aber Drogen verkaufen wollen. Auch die vorgeblich modernen marokkanischen Touristen aus dem Süden, die neureichen jungen Leute aus Casablanca und Marrakech, wollen vor allem im Friedhof vespern und sie lassen dann den ganzen Müll herum liegen, oder aber sie wollen sich in der buschigen Bepflanzung des Friedhofes mit ihren Freundinnen vergnügen – Respekt für die Toten und die Kirche hätten sich nicht, für das Miteinander schon gar nicht. Wenn er diese Leute besonders skeptisch betrachte oder gar des Geländes verweise, werde er oft beschimpft, was ihn als Muslim denn dazu treibe, für die Juden zu arbeiten. »Das muss man sich einmal vorstellen, die wissen nicht einmal, dass das hier eine christliche Kirche ist!« Yassines Kampf gegen das »Chaos des Südens«, das außerhalb seiner Insel tobt, beschränkt sich jedoch nicht auf den Umgang mit marokkanischen Touristen. Fast täglich patrouillieren er und der 85-jährige Gärtner Ba Mhammed, der schon seit 1963 für die Kirche arbeitet, die Mauern des Friedhofs ab und entfernen den Müll, den »das Gesindel aus dem Süden« über die Begrenzung wirft.55 Manchmal ist es nicht nur Müll, auch Gift war schon dabei, an dem sich zwei seiner Wachhunde zu Tode gequält haben.56 Einen Respekt vor dem Anderen – und damit meint er nicht ausschließlich den kulturell Anderen, sondern ganz generell auch den anderen Mitbürger – gebe es nicht. Und vor den Toten »Juden« bzw. Christen schon gar nicht. Wenn Yassine sich mir gegenüber häufig als »rey de los muertos« – als König der Toten – bezeichnet, so ist das nicht nur ironisch gemeint, sondern auch der tiefen Überzeugung geschuldet, dass er den Friedhof als Ort des Kosmopolitischen und damit das Erbe der Vielfalt zu schützen, zu verteidigen und zu wahren habe. In Yassines Weltbild sind die Fremden aus dem Süden aber auch für andere schlimme Dinge verantwortlich:

55 Feldforschungstagebuch 30.04.2013. 56 Feldforschungstagebuch 05.04.2013.

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»Viele Leute aus dem Süden sind gekommen, aus Meknès, Fes, Marrakesch – darunter viele die klauen (robar), töten (matar) und natürlich die ›mujeres‹ (also die Prostituierten)«.57 Erst die losen Frauen aus dem Süden, die sich wie Schlampen kleiden und ihren Körper verkaufen, hätten die Prostitution in die Stadt gebracht. Richtige Tanjawias machten sowas nicht.58 Diese Haltung entspricht für den Großteil der Bevölkerung den historischen Tatsachen,59 der Wahrheit entspricht sie dennoch nicht. Denn trotz der strikten Normen der religiösen Gruppen gab es in Tanger Freiräume, die man damals in anderen Teilen der Welt vergeblich suchte: so gab es keine verbotenen Bücher, erotische und pornographische Werke konnten leicht erworben werden. In der literarischen Mythologie60 und auch in den Erzählungen der Informanten wird die Zonenzeit als Zeit der Freizügigkeit wahrgenommen: Tanger war schon immer bekannt für seine sexuelle Freizügigkeit, für weibliche wie männliche Prostitution, sowie für Sozial- und Freundschaftsbeziehungen, die an den Tausch sexueller Fertigkeiten gegen ›Unterstützungen‹ jedweder Art geknüpft waren – gerade in der Zonenzeit,61 aber auch noch in deren Nachklang. Während der literarische Mythos die sexuelle Libertinage überporträtiert, beschweigen neuere Werke62 Prostitution und Homosexualität gänzlich und stellen sie damit in Abrede. Sie versuchen diese im Sinne einer neuen Prüderie aus dem kollektiven Gedächtnis zu entfernen. Doch beide Zugangsweisen ignorieren die Gleichzeitigkeit und die Verwobenheit von Libertinage und Wohlanständigkeit, sie schauen eher auf Bilder von der Stadt als auf konkrete Lebenswelten. Heute haben Polizei und ihre chivatos, freie polizeiliche Zuträger und damit Alltagsgehilfen wie Haus- und Straßenwächter ein kontrollierendes und strafendes Auge darauf, wer mit wem in einem Hauseingang verschwindet.63 Ich selbst musste diese Erfahrung machen, weil der Hauswächter meines Blockes meine Zugehfrau Nadia, eine ehrenwerte, aber weltlich gekleidete 40-jährige

57 Feldforschungstagebuch 25.04.2013. 58 Feldforschungstagebuch 27.03.2013, 19.04.2013, 24.04.2013. 59 Nach Ceballos (2009 S.244) lebte die Mehrheit der Muslime, Christen und Juden nach den strikten Normen ihrer jeweiligen Religionen. 60 Finlayson 1992; Vaidon 1977; Mullins 2002. 61 »Tangier was known as an international gay resort, a carnivalesque sexual playground that provided Europeans with the illicit sex, drugs, and exotic adventure they were seeking«, Owen 2009 S.35. 62 Laamiri 2006; Ceballos 2009; Tafersiti Zarouila 2012. 63 Feldforschungstagebuch 26.04.2013.

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Mutter von drei Kindern und Muslima mit offenem Haar, für eine Prostituierte hielt und mir der Wohnungsbesitzer klar machte, dass ich mich deshalb der Hausverwaltung gegenüber erklären solle.64 Früher, in den 1970ern und noch in den 1980ern, war so etwas undenkbar, die Atmosphäre der Stadt sei tolerant gewesen und habe sowohl die Vielfalt der Lebensentwürfe als auch vorgebliche Fehlbarkeiten des Einzelnen hingenommen, bekräftigt Fadua, Tanjawia und 55jährige Akademikerin.65 Nun aber sei dies zu einem Problem geworden – genau dies möchte Abdeladim im Eingangsstatement dieses Textes ausdrücken. Während Abdeladim die Atmosphäre der Hybridität und der Vermischung von Gruppen, Identitäten und Lebensstilen für sein heutiges Casablanca reklamiert und das kulturelle Erbe der Zonenzeit für Tanger für tot erklärt, verknüpft Yassine mit Toleranz lediglich das friedvolle Miteinander der verschiedenen, jedoch getrennt bleibenden Gruppen, deren Mitglieder – wenn es sich um Muslime handelt – sich nach den Normen ›ihrer‹ Gruppe (diesen dann aber zur Gänze) im pluriethnischen Sinne zu richten hätten. Genau diese Version der Toleranz lehnt Noureddine, ein 30 jähriger Lebensmitteltechniker, ab. Er ist Yassine zwar nie begegnet, aber er kennt seinen eigenen Bruder, der genau diese Auffassung von Toleranz bei gleichzeitiger eindeutiger Distinktion der Gruppen vertritt. »Im Grunde«, so Noureddine, »ist auch mein Bruder bei aller Einsicht in den Respekt vor den Anderen davon überzeugt, dass der Islam die Wahrheit vertritt. Er ist nicht in der Lage, seinen eigenen Glauben zu relativieren. Die Worte des Propheten vertreten für ihn Wahrheiten. Eigentlich glaubt er nicht, er weiß.« Noureddine selbst sieht die Lösung des Problems in der Vernunft des Einzelnen. Der Islam mag ein guter Weg sein, um zu versuchen, sich die Welt zu erklären, aber er ist eben nur ein Versuch wie alle anderen Wege auch – ob es sich um Wege des Glaubens oder auch der Wissenschaft handelt. »Zu Leben bedeutet doch zu suchen und Fragen zu stellen – und nicht auf alles eine vorgefertigte Antwort zu haben«, ergänzt Noureddine. »Religion baut Mauern im Kopf, aber mit dem Kopf soll man doch nach draußen denken, nicht nur innerhalb der Mauern«, das sagt der Gemüsehändler Anwar, der in dem jungen Lebensmitteltechniker seinen Schüler, wie er ihn bezeichnet, gefunden hat; Noureddine wiederum nennt Anwar seinen selbst gewählten parain, seinen Paten. »Alles ist doch mit allem verknüpft, und wenn das in der Realität so ist, dann muss das auch beim Denken so sein«.

64 Feldforschungstagebuch 18.04.2013; 07.06.2013. 65 Feldforschungstagebuch 20.07.2013.

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Anwar und Noureddine haben sich über Facebook auf einer Seite über den jüdischen Glauben kennengelernt, und beide sind davon überzeugt, man müsse für ein friedvolles Zusammenleben der Gruppen und gegen die jeweiligen Vorurteile kämpfen. Anwar sieht im Judentum ein Beispiel für den guten Umgang mit dem freien Denken und der Suche nach Wahrheit (nicht dem Finden einer dogmatischen Antwort); ein Teil von Noureddines Großeltern ist vom Judentum zum Islam konvertiert, und er sieht in sich selbst verschiedene Traditionen wirken, die ihm als Halfie zeigen, dass weder die eine noch die andere Seite die Wahrheit gepachtet hat, sondern dass es eine Wahrheit geben muss, die jenseits der Religionen liegt. »Tanger mag heute keine multiethnische Stadt mehr sein, aber das multiethnische Erbe gibt es doch noch«, so Noureddine.66 Beispielsweise in dem, was die Tanjawis essen: mediterrane Küche, die sowohl muslimische als auch jüdische und europäische Einflüsse miteinander vereint. Seine Idee ist es jedoch, eine kleine Broschüre mit den heute noch bestehenden Bauwerken der Zonenzeit – Konsulate, Schulen, Religionsbauten, Kaufhäuser – zu publizieren, um Touristen das kosmopolitische Erbe zu vermitteln; eine solche Publikation gibt es nämlich noch nicht. Dieser Idee möchte er weiter nachgehen. Doch während der junge Noureddine noch daran orientiert ist, die Religionen zusammenzubringen, ist Anwar davon überzeugt, dass man die Religionen überwinden und den göttlichen Funken in allen Erscheinungsformen – seien es Menschen, Tiere, Pflanzen oder auch der vorgeblich unbelebte Materie – erkennen müsse. Wenn man das erkannt habe, so Anwar, dann könne man die Religionen beiseitelegen und sich wichtigeren Dingen widmen: der Vernunft und der Freiheit des Wortes, dem guten Leben, dem guten Menschsein und der Anerkennung des Anderen als gleich. Das, so Anwar, sei die eigentliche Botschaft aus der Geschichte Tangers und seiner Toleranz. Viele Informanten beklagen das Ende des kosmopolitischen Lebens in Tanger und der damit verbundenen Toleranz, nehmen sich aber des Erbes der Zonenzeit auf unterschiedliche Weise an. Mit Ausnahme von José, Willem und Marisol Gómez sind es unter meinen Informanten die Muslime, die diese Klage führen, und mit Ausnahme von Abdeladim und Mohamed Laabi handelt es sich um Tanjawis. Aus eigener Anschauung haben nur wenige Informanten, auf die ich in diesem Kapitel als Gewährsleute zurückgreife, die Zeit der Internationalen Zone erlebt: Ba Mohamed, Mr. Zouggari und Marisol Gómez. Einige von ihnen – wie Mohamed Laabi, Fadua, Willem, Anwar, Rachid Tafersiti und José – wurden jedoch nicht lange nach 1956 geboren, als die Strukturen der Zonenzeit zwar zerfielen, aber noch nicht ganz verschwunden waren. Andere, wie Noureddine, 66 Feldforschungstagebuch 15.07.2013.

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Yassine und Abdeladim, haben auch die Nachzonenzeit nicht mehr bewusst erlebt. Insofern ist die Erinnerung an die Zeit der Zone, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt steht, zumeist eine Erinnerung aus zweiter Hand: Erzählungen der Eltern und älteren Verwandten, sowie die Lektüre von populären wie akademischen Texten zum Thema, sind Quellen dieser Oral History, auf die diese Erinnerung zurückgreift. »Das Gedächtnis mag viele Eindrücke behalten und verwahren. Stets verwandelt es das Erinnerte. Jeder seiner in Erinnerungen sich manifestierenden Ausdrücke ist eine kreative Artikulation in einer seelisch bedeutsamen Gegenwart und auf die vom Erinnerungssubjekt erwartete, befürchtete oder erhoffte Zukunft bezogen.« All diese »Erinnerungen schaffen etwas Neues, indem und während sie sich auf Gewesenes und Geschehenes beziehen und dieses als Vergangenes vergegenwärtigen (und so als etwas bereits Verwandeltes‚ wiedergeben). […] Solche Vergegenwärtigungen sind pragmatisch kontextualisierte und situierte, interessierte, motivierte und perspektivierte Handlungen – jedenfalls in vielen, sehr vielen Fällen. Sie werden von einem Subjekt in einer Gegenwart vollzogen und sind (explizit oder implizit) an dessen Ziele und Erwartungen, Hoffnungen oder Befürchtungen gebunden. In diesem Sinne sind Vergangenheiten in der Tat interpretative ›Konstrukte‹ (die von Gegenwartsdeutungen und Zukunftsantizipationen abhängig sind, wie umgekehrt die Gegenwart und Zukunft stets im Schatten einflussreicher, mitunter über Generationen hinweg seelisch 67

wirksamer ehemaliger Geschehnisse und sich wandelnder Vergangenheiten stehen).«

Die Stimmen der Informanten positionieren ihre Sprecher daher in erster Linie in der Gegenwart, sie verknüpfen ihr Wissen, ihre Visionen und ihre Wünsche über und an die Zonenzeit mit der Verortung in der Gegenwart. Diese ist aus der Sicht der Informanten geprägt von sozialer Fremdbestimmung, kultureller Überfremdung, ökonomischer Perspektivlosigkeit, sexueller Prüderie und religiöser Fundamentalisierung – eigentlich den üblichen Ingredienzien, mit denen in europäischen Gesellschaften häufig rassistische und rechte Visionen erklärt werden. Im vorliegenden Falle dagegen sind es Visionen der Öffnung und der Toleranz. Der Rückgriff auf die Zonenzeit erlaubt es den Informanten, den Nöten der Gegenwart mit einer alternativen Vision zu begegnen. Die Not meiner Informanten besteht in der Bedrohung des eigenen Lebensentwurfes durch den Zugriff enggeführter Versionen des Islam: bei Abdeladim und José ist es das sexuelle Begehren, bei Anwar der Glaube in die Macht der Vernunft, bei Noureddine ist es die Entdeckung der gemischten Familiengeschichte, bei Mohammed Laabi und Rachid Tafersiti das Interesse an der Bewahrung von Bauwerken und Werten, bei Marisol die Überlagerung sozialer Probleme (und 67 Straub 2015b.

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damit die Nichtbeschäftigung der Politik) mit religiösen und ethnischen Differenzdiskursen und bei Fadua und Yassine das Leiden am Zerfall der urbanen Umgangsformen. Diese Befunde zeigen, dass trotz des Endes der Zonenzeit vor nun fast 60 Jahren und der nachfolgenden demographischen Umwälzungen das Kosmopolitische in Tanger noch immer präsent ist. Manch nachgeborener Muslim reklamiert dieses als kulturelles Erbe für sich und entdeckt sie als einen reizvollen Entwurf für die Zukunft.

Kapitel 3 – Über Dschinnen und Hunde

V ORREDE »Wir sind mit der Meinung und Überzeugung aufgewachsen, dass es ğnūn (Geister) gibt. Ğnūn gibt es selbstverständlich. In unserem Buch, dem Koran ist die Rede von den ğnūn: Wenn jemand von einem ğinn geschlagen wird, dann kann er nicht von den Ärzten, sondern nur von den fqihs,1 den Studenten der Koranschulen oder an den Grabstätten von Heiligen behandelt und geheilt werden. Das ist keine Lüge, das ist wahr. Das haben wir mit eigenen Augen gesehen. Viele Leute werden von den Geistern geschlagen und erleiden schwere körperliche Deformationen. Ein Freund von mir war einmal nachts am Strand von Achakkar2 beim Angeln. Beim Angeln schlief er ein, erwachte plötzlich und fand auf seinem Schoß ein sitzendes Mädchen. Er schaute auf sie. Sie hat ihn mit einer Ohrfeige geschlagen: Sein Mund verrutschte neben sein Ohr. Er hat viele Ärzte aufgesucht, aber umsonst. Nur die fqihs und die Studenten der Koranschulen heilten ihn. Sein Mund wurde wieder fast normal, blieb nur ein wenig deformiert. Der Arme hat aber nie wieder seinen früheren Gesundheitszustand erreicht. Er lebte nur noch kurz, dann starb er. Geister gibt es, aber jetzt sind sie alle geflohen. Sie sind nach Frankreich, Spanien und Deutschland geflohen. Sie sind den Marokkanern gefolgt. Es ist eine angenehme Situation für uns hier. Die Geister sind nach Europa gewandert. Es gibt gute und böse Geister. Ich war früher oft in Boubana – dort wo sich der Golfplatz Tangers befindet: Ich arbeitete dort auf dem Golfplatz. Ich zog den Karren. Wir übernachteten häufig in einer Hütte bei einem Wächter, der Baba Ahmed hieß. Nachts ging einer von den Freunden aus der Hütte; es gab da vor der Tür einen kleinen Bach; er hat ins Wasser getreten und hörte: ›Ah! Mein 1 2

Religiöse Rechtsspezialisten. 9 km weit entfernter Strand von Tanger.

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Auge!‹ Er kehrte zurück und sagte: ›Wo ist das zweite Auge, damit es auch platze?‹ Und das war sein Ende. Das war sein Ende. Am nächsten Morgen konnten wir ihn gar nicht mehr im Zaum halten. Zu acht konnten wir nicht. Erst zu zwölft konnten wir ihn mit großer Mühe fassen und fesseln. Er wurde dann nach Berrchid3 gebracht. Über zwanzig Jahre war er dort. Er lebt noch. Ğnūn gibt es. Was kann ich noch sagen? Die echten Ğnūn sind wir: Früher war es anders als heute. Die Leute sind anders geworden. Du sprichst von den Geistern, dann beginnen die Leute zu Lachen.4 Sie sagen dir: ›Es gibt keine Geister. Die wirklichen ğnūn sind die Menschen.‹ Aber die Ğnūn gibt es wirklich. Die Geister besetzen auch Frauen. Es gibt einige Frauen, die immer von einer ğinnīya verfolgt werden. Sie macht ihnen das Leben schwer. Wenn die Frau z.B. ein Kind gebärt, dann wird es von dieser ›Verfolgerin‹ getötet. Meiner Frau ist das auch passiert. Ich habe neun Kinder beerdigt. Nur die letzten haben überlebt. Wir sind viel zu den fqihs und zu den Grabstätten von Heiligen gegangen. Erst dann wurde sie gesund.«5 *** Der berühmte Schriftsteller Mohammed Mrabet, Tanjawi und Autor der einleitenden Vorrede, legt beredtes Zeugnis davon ab, dass es die Dschinnen, die ğnūn (sg. mask. ğinn, sg. fem. ğinnīya), gibt. Als westliche Leser kennen wir die Bezaubernde Jeannie, die jenen Geistwesen nachgebildet ist: auch Barbara Eden verkörperte die den Alltag von Major Nelson verstörende Figur der unkontrollierbaren Wesenheit aus dem Orient – freilich in rosafarbenen Tüll gehüllt und an die amerikanischen Erwartungen der 1960er Jahre angepasst.

3 4

5

Marokkanische Kleinstadt, in der sich das älteste Psychiatriekrankenhaus des Landes befindet. Der marokkanische Regisseur Moumen Smihi erzählt ähnliches: wenn er heute (2015) seinen Film El Chergui von 1975 vor einem marokkanischen Publikum vorführe, begännen die Zuschauer peinlich zu lachen. Der Film mit seinen Szenen des ğnūn–Kultes erinnere die Zuschauer an das, was ihnen an sich selber peinlich sei: die vormoderne Glaubenswelt, der sie entkommen zu sein glauben. Smihi, persönliche Kommunikation 02.10.2015. Dieses Gespräch mit Mohamed Mrabet wurde 2008 im Rahmen des Projektes ›Al Halqa‹ (www.alhalqa.com) von Thomas Ladenburger geführt und von Abdellatif Bousseta ins Deutsche übersetzt. Das Gespräch wurde bislang nicht publiziert, Herr Ladenburger hat mir mit Schreiben vom 04.05.2015 erlaubt, die hier verwendeten Passagen zu benutzen. Ich bin Herrn Ladenburger und Herrn Bousseta sehr dankbar für die freundliche Genehmigung.

K APITEL 3 – Ü BER D SCHINNEN

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In diesem und im nächsten Kapitel begegnen wir einer Reihe von Gewährsleuten, die mich und mein Wissen über die Welt der Dschinnen während meiner Forschung in Tanger bereichert haben:6 Denn anders als Mrabet augenzwinkernd in der Vorrede ausführt, sind nicht alle Geister nach Europa verschwunden.7 Bereits zu Beginn meiner Forschung, auf dem Friedhof der anglikanischen Kirche St. Andrew’s komme ich zum ersten Mal in Kontakt mit der Welt der Geister. Hier spielen der bereits vorgestellte Friedhofswächter Yassine Khemlichi, sein Freund Bilal, der freundliche Salafist (*1986), die Hundetrainerin Charlotte und mein Lebenspartner Lutz eine Rolle. Später, in der Bruderschaft der Ḥamādša, erlebe ich den Kult um Aïsha Qandisha, die mächtigste ğinnīya Marokkos. Mitglieder und Adepten der Bruderschaft, die im nächsten Kapitel angeführt werden, etwa der Vorsteher der Bruderschaft (muqaddem) Mohammed Zhar und seine Söhne Said und Yacin, spielen genauso eine Rolle wie die Sänger Hamza (*1955) und Oussama (*1973), die Adeptinnen Khadija, Farida, Zohra, La negra, La viuda und Andere. Mit dem Ḥamdūši Khaled (*1996), meinen Freunden José (*1962), Mustafa (*1964) und Nadir (*1987) tausche ich mich während und nach der Feldforschung über die ğnūn oder die Geschehnisse bei den Ḥamādša aus. Weitere Gewährsleute, die in diesem Text auftreten, sind die Verkäufer Manzoor und Aissam aus den Läden neben dem Heiligtum (Zaouia) der Ḥamādša, der Gnawameister Ba Blani (*1954), mein Dolmetscher Adil, meine Haushälterin Ferdaouss, ein Besucher aus Saudi Arabien (Ahmed aus Jeddah), der Oberkellner eines Nobellokales (Ziyad). Mit einem Freund aus Essaouira (Nawfel) und Anderen aus Tanger (Abdellssaq Benhamri, Jamal Imrane) diskutiere ich meine Erfahrungen in Tanger auf Facebook.

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7

Es sei angemerkt, dass ich die Erfahrungen mit diesen Gewährsleuten sowie die dargestellten Beispiele stellvertretend für viele andere Gewährsleute anführe, deren Leben ich während meiner Feldforschung begleiten durfte. »When they emigrated to Europe in the 60’s and 70’s, Moroccans brought with them their culture and their »diseases« (caused by the jinn that inhabit some of them). In Europe, most North African families will include someone who is undergoing this kind of disorder, with diverse manifestations (asthma, paralysis, epilepsy, »crises«, sterility etc.) which, if left untreated, may be extremely serious and destructive, causing suffering and delinquent behaviour.« Zitat aus der Beschreibung des Films Living with the Invisibles (Vivre les invisible) des Regisseurs Dirk Dumont und des Ethnologen Philip Hermans (2003), https://www.therai.org.uk/events-calendar/eventdetail/27/236 /living-with-the-invisibles?tmpl=component [letzter Zugriff 10.10.2015].

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Auch wenn die ğnūn für die Menschen im Normalfall8 unsichtbar sind: ihre Existenz wird im Koran und in der Sunna bezeugt.9 Sie wurden aus rauchlosem Feuer10 vor den Menschen,11 die aus Tonerde entstanden, geschaffen.12 Im marokkanischen Kosmos sind ğnūn keine bloßen Auftragsempfänger Gottes, sondern sie haben einen eigenen Willen – was sogar noch in Barbara Edens Kunstfigur der Bezaubernden Jeannie anklingt.13 Ğnūn kann man nicht kontrollieren, sie sind manchmal gut und manchmal böse, immer aber eigensüchtig und ihre Handlungen sind nicht vorhersehbar,14 sie werden von ihren eigenen Begierden geleitet. Darin ähneln sie, wenn wir Mauss15 glauben, den iskoki (Bori-Geistern) der Haussa,16 aber auch den Trickstern der nordamerikanischen Indianer17 und den griechischen Daimones.18 In Spanien transformiert sich der ğinn zum duende, der sich etwa im Stierkampf im Körper des Stiers bzw. des Toreros, oder im Flamenco in der Stimme des Sängers manifestieren kann.19 Somit inspirieren die ğnūn – wie die spanischen duende oder die Musen – auch häufig die Dichter.20 Die ğnūn unterscheiden sich damit von den inhärent bösen Zar-Geistern Ägyptens und des Sudan. Sie können deshalb auch nicht im christlichen oder im jüdischen Sinne als Dämonen Dibbukim bzw. gelten,21 die immer böse sind – auch wenn meine Informanten häufig die spanischen, italienischen, französischen und englischen Begriffe demonios, demons, diabolos, diables, diablos, devils und monstruos verwenden. Vielfach werden die ğnūn als die eigensüchtigen Zwillinge der Menschen interpretiert:22 es gibt männliche und weibliche ğnūn, sie pflanzen sich sexuell 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Westermarck 1969, S. 269 verweist auf jene Kontexte, in denen ğnūn für Menschen sichtbar sind. Badeen & Krawietz 2003 S.96; Crapanzano 1979 S.166. ‫ج ﱢ ﱠ ٍر‬ ٍ ‫ َو َ َ َ ا ْ َ نﱠ ِ ﱠ ِر‬Sure 55.14-15. Nünlist 2015, S. 43. ‫َ ﱠ" ِر‬#ْ $َ ‫& ٍل‬ َ ْ' َ ِ َ‫ا) َ( ن‬ ِ ْ َ َ َ Sure 55.14-15. Vgl. auch Crapanzano 1979 S.168; Ashour 1986 S.1, cit. in Taneja 2013 S.140; Rosenbaum 2014 S.164. Badeen & Krawietz 2003 S.100; Taneja 2013 S.141. Badeen & Krawietz 2003 S.103. Mauss 1980 S.9-10. Andersson 2002 S.5. Radin 1956. Vgl. Müller 2010 S.314ff. Rouzel 2014 S. 239. García Lorca 2007; El Zein 2009 S. 133ff. Badeen & Krawietz 2003 S.105 ; Nünlist 2015, S. 60. Nathan (2000): »Ce sont donc des autres, de vrais autres – non pas des semblables, nos ›prochains‹, mais des modèles d’altérité. Ce sont pourtant nos jumeaux, du moins.

K APITEL 3 – Ü BER D SCHINNEN

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fort23 und können einer Religion angehören: es gibt muslimische, christliche, jüdische und heidnische ğnūn.24 Und am Tag des Jüngsten Gerichtes wird über sie genauso geurteilt wie über die Menschen.25 Ob man dieser Interpretation tatsächlich folgen kann, werden wir an anderer Stelle dieses Buches diskutieren. Die Welten der ğnūn und der Menschen sind zwar voneinander getrennt, dennoch können Menschen und ğnūn Ehen miteinander eingehen26 und an manchen Örtlichkeiten fließen die Welten ineinander über, sie verschwimmen: Bäder, Abtritte, Türschwellen, Schlachthöfe, Ruinen, Mühlen, Erdreich, Wadis, halbverlassene Stätten.27 Das Bild des Ineinanderfließens und des Ver-

23

24

25 26 27

[Das sind also die Anderen, wahre Andere – nicht nur Ähnliche, unsere ›Nächsten‹, sondern Modelle für das Anderssein an sich. Es sind also zumindest unsere Zwillinge.]« Vgl. auch Krasberg 2002 S.161 und Rosenbaum 2014 S.162. Eine ausführliche Diskussion bietet Nünlist 2015 S. 292-373. Nathan (2000) sagt »ils sont sexués (certains textes laissent supposer que leur sexualité est surtout masturbatoire – un organe mâle sur une cuisse, un organe femelle sur l’autre) [sie sind geschlechtlich (eine Texte lassen uns annehmen, dass ihre Sexualität vor allem masturbatorischer Art ist – ein männliches Glied auf einem Oberschenkel, ein weibliches Organ auf einem anderen.)]« Nathan (2000) »Tout commes les humains, ils peuvent avoir une religion. Les jnoun musulmans sont les moins dangereux parce qu'on peut facilement ›négocier‹ avec eux en invoquant le nom d'Allah. Les Chrétiens sont plus difficiles, mais moins que les Juifs qui sont quasiment irrécupérables. Quant aux jnoun païens (kafrin), ce sont les plus craints, car totalement inaccessibles aux ›arguments‹ des humains et les plus violents de tous. [Genauso wie die Menschen können sie einer Religion angehören. Die muslimischen ğnūn sind am ungefährlichsten weil man mit ihnen schnell ›verhandeln‹ kann, indem man den Namen Allahs ausspricht. Die christlichen sind etwas schwieriger, aber weniger schwierig als die Juden, die gewissermaßen nicht zu retten sind. Was die heidnischen ğnūn betrifft (die kafrin), sie sind die fürchterlichsten, weil sie den menschlichen ›Argumenten‹ gar nicht zugänglich sind und am gewalttätigsten sind.]«. ُ 5ُ #ْ َ67َ Sure 55.31; ‫ نﱞ‬:َ ;َ ‫ َذ ِ@ ِ? ِإ =ٌ َو‬Bَ ‫ َ ُل‬Cْ(ُ/ ;‫ ﱠ‬Dٍ Eِ َ ْFَGَH Sure 55.39, I ‫َ َ* ِن‬+‫ﱠ‬, ‫َ ا‬-‫ﱡ‬/َ‫ أ‬1ْ 3ُ َ ‫غ‬ َ ‫ﱡ‬J‫ َر‬1َ Kِ ‫ِإ;ﱠ َ ﱠر‬ ْ ْ ‫َ ﱠ‬P‫ َو‬1ْ ُ-َ+َ َ I ‫ﱠ‬ ‫ﱠ‬ ‫ﱠ‬ ‫نﱠ‬ L ْ َM I 6 ‫ا‬ ‫و‬ N 6 ‫ا‬ 1 6 : Sure 11.119. َ J‫ُ َر ﱢ‬N َ ِ $َ O َ ِ Dَ ِ ‫ َ َو‬GQِ َ ْ:َ‫س أ‬ َ ِ َ َ َ َ ِ ِ ِ Badeen & Krawietz 2002; Houel 2013 S. 143; Rosenbaum 2014 S.165ff. Vgl. Auch Nathan (2000) »ils vivent dans l’envers de l’habitat des humains (la brousse, la forêt, l’eau des marigots, des rivières, des fleuves ou de la mer, le sommet des arbres, les canalisations des maisons, les vieilles ruines abandonnées – de préférence celles provenant de civilisations disparues). [Sie leben auf der Rückseite der menschlichen Lebenswelt (im Gebüsch, im Wald, in den Gewässern toter Flussarme, der Flüsse, der Ströme und dem Meer, auf Baumwipfeln, in der Kanalisation von Häusern, in verlassenen Siedlungen – mit Vorliebe in den Überbleibseln verschwundener Zivilisation.]« Über Wohnorte von ğnūn siehe Badeen & Krawietz (2002 S.41, s.a. 2003 S.97)) über Ākām al-marğān fi aḥkām al-ğānn Kapitel 8.

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schwimmens von Grenzen bietet sich im hier relevanten Kontext an: insbesondere Gewässer, vor allem bewegte Wasser wie das Meer, Bäche aber auch Wasserrohre sind bevorzugte Aufenthaltsorte der ğnūn.28 Darüber hinaus versuchen die ğnūn, ihre Sphäre auszudehnen und in die Welt der Menschen einzudringen.29 Die Orte des Überganges sind besonders gefährlich für Mensch und ğnūn, man muss sich dort behutsam verhalten. Denn wer sich an Grenzen »aufhält, hat Mühe, sich verlässlich zu orientieren, fürchtet, den Weg zu verlieren, fühlt sich allen möglichen Gefahren ausgesetzt, glaubt sich von böswilligen Zwergen, Hexen 30

und Riesen bedroht.«

Gefährlichkeit ist ein generelles Merkmal von Übergängen, »[d]ie Fähigkeit und das Bedürfnis, Grenzen zu ziehen, sind spätestens seit Simmel

31

als

universelle anthropologische Konstanten […] enttarnt: Dinge können nur zusammengebracht werden, indem man sie voneinander trennt. Das Ziehen von Grenzen ist demnach der Schlüssel zur menschlichen Kognition, die räumliche Grenze ›nur die Kristallisierung 32

oder Verräumlichung der allein wirklichen seelischen Begrenzungsprozesse.‹

An der

Raumgrenze symbolisiert sich das ›Macht- und Rechtmaß‹ der eigenen Sphäre zweier Persönlichkeitskomplexe, die sich gerade dadurch auszeichnet, ›dass sich Macht und Recht 33

eben in die andere Sphäre nicht hinein erstrecken‹.

34

Girtler

bezeichnet die Grenze als

Symbol für das Menschsein, und Greverus nennt den Menschen ein ›grenzziehendes We35

sen‹ , weil seine Identität und Unterscheidbarkeit gerade durch die Grenze gesichert 36

wird.«

28 Chijioke Njoku (2005 S.28) bezieht sich auf Edward Westermarck (1920). Als Nebenbemerkung sei der Hinweis erlaubt, dass die Figur der maulenden Myrthe aus den Harry Potter Geschichten, die in der Kanalisation der Mädchentoilette von Hogwarts lebt, sicherlich den Dschinnen nachgebildet wurde. 29 Badeen & Krawietz 2003 S.98; Auch Nathan (2000). 30 Müller 1987 S.28. 31 Simmel 1992 S.221ff. 32 Ebd. 1992 S.226. 33 Ebd. 1992 S.227ff. 34 Girtler 1992 S.11ff. 35 Greverus 1969. 36 Haller 2000 S.4.

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Der Kulturbegriff selbst verweist auf diese allgemeinanthropologische Fähigkeit, stammt er doch vom lateinischen colere, was ursprünglich das Abgrenzen eines Stückes Land von der Wildnis durch das Ziehen einer Ackerfurche bedeutet. Allerdings verweist die von Simmel, Girtler und Greverus gedachte Grenze auf lineare Vorstellungen, nicht auf Zonen des Überganges. Oft wurde ich von wohlmeinenden Freunden davor gewarnt, mich des Nachts an die Küsten von Merqala, Oued Lihoud und Bouqnadel, oder mich auf den Heimweg aus der Medina nach Mershan zu begeben oder die Zaouia (das Heiligtum) der Sufibruderschaft der Ḥamādša – von der in diesem Buch noch ausführlich die Rede sein wird – aufzusuchen. Was ich anfangs fälschlich als Warnung vor Überfällen durch ›Gesindel‹37 interpretierte, war in Wirklichkeit folgende Botschaft: Unbedarftheit schützt nicht davor, dass die Seele dort Schaden erleiden könne, denn an diesen Orten trifft man mit Sicherheit auf die ğnūn.38 Denn sie lauern an vielerlei Orten, und gerade der Unwissende wie ein vernunftgäubiger Europäer wird zum leichten Opfer. Er gerät in ein Delirium im wahrsten Sinne des Wortes: de lirare bedeutet im Lateinischen ›aus der Ackerfurche geraten‹, also von der Kultur in die Natur einzuschwenken. »Wenn man nicht sauber ist, soll man nicht zum Heiligtum gehen oder an Orten sein, wo die Geister sind,« sagt Ahmed, ein Besucher aus Jeddah in Saudi Arabien. »Denn die Geister lieben das Unreine, und wenn man unsauber ist, werden sie in den Körper hineinschlüpfen. Wenn man sauber und gewaschen ist und etwas Schönes anzieht, dann ist man sicher. Manchmal sind sie schon da und man weiß es nicht. Manchmal hat man einen Kratzer, von dem man nicht weiß, wo er herkommt – das waren dann des Nachts die ğnūn. Man kann 39

sich schützen gegen die ğnūn, durch Sauberkeit und durch die Einhaltung des Koran.

Es

gibt die dhikr (Anrufung Gottes) Bismillâhir Râhmânir Rahîm (Im Namen Gottes des un40

endlich Gütigen) , die man sagt, dann können einem die ğnūn nichts mehr anhaben. Hier 41

in Marokko gibt es mehr Magie als in anderen Ländern, man muss sehr aufpassen.«

Die Äußerung des saudischen Besuchers an dieser Stelle ist nicht willkürlich gewählt: Araber aus anderen Regionen und die Marokkaner selbst sind davon überzeugt, dass es ›hier‹ in Marokko mehr Magie gebe als anderswo. Warum aber soll es in Marokko mehr Magie geben als anderswo in der arabischen Welt? Eine kulturhistorische Erklärung hierfür – die auch von vielen marokkanischen 37 38 39 40 41

Vgl. Kapitel 1. Vgl. Lebling 2010 S. 165. Feldforschungstagebuch 18.01.2014. s.a. Zillinger 2013 S.95. Siehe etwa Krasberg 2002 S.231, auch Zillinger 2013 S.68. Feldforschungstagebuch 18.01.2014.

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Intellektuellen geteilt wird – liefert Nathan.42 Danach sind die ğnūn die Götter und Geister aus vorislamischer Zeit.43 Der Islam versuchte, sie in das neue Glaubensgebäude einzubauen und ihre Wirkmacht dadurch zu bannen44 – ähnlich der Integration vorchristlicher Wesen in den christlichen Glauben.45 Diese Erklärung greift dasselbe Motiv auf wie der Koran, wonach die ğnūn vor den Menschen erschaffen wurden.46 Setzte man beide Versionen analog, würde dies bedeuten: erst durch die Buchreligionen wird der Mensch zum Menschen, davor war er ğnūn. In Marokko habe sich der Glaube an ğnūn stärker durchgesetzt als in anderen Gegenden, weil es Einflüsse aus verschiedenen Weltgegenden gab, die den Geisterglauben beförderten: mediterrane, phönizische, berberische, subsaharische und arabische. Dies zeigt sich an der mächtigsten ğinnīya im marokkanischen Dämonenuniversum: Aïsha Qandisha. Schon Crapanzano47 stellte fest, dass ihre Position niemals fixiert worden sei. Aïsha Qandisha wird meistens als ğinnīya bezeichnet, die den Menschen in unterschiedlicher Gestalt erscheinen kann. Einige Versionen des Aïshamythos48 betonen, sie sei ursprünglich eine aus dem Subsaharischen stammende Sklavin von Sidi Ali (+ ca. 1720)49, dem Gründer der Sufibruderschaft der Ḥamādša, gewesen. Aber meistens gilt sie als ğinnīya. Einige Informanten in Tanger erzählen, dass Aïsha Qandisha von den Gnawa – einer anderen Sufibruderschaft – nach Marokko gebracht worden sei. Der Name Gnawa geht möglicherweise auf die Namen Guinea50 oder Ghana51 zurück. Mein Freund Ba Bilal, ein Instrumentenbauer und Gnawi, wird als ›echter‹ Gnawi anerkannt, weil er eine schwarze Haut hat und von ›echten‹ Sklaven abstammt. Sein Haus ist überall als Dar Bambara52 bekannt. Seine Beziehung zu den Geistwesen des Südens gilt den Sufis als ›echter‹ als die der anderen Gnawi, weil Schwarze ganz allgemein als Vermittler zwischen den

42 Nathan 2000. 43 Chijioke Njoku 2005 S.27. 44 Rosenbaum (2014 S.164) nennt dies eine »Rationalisierung der Dschinnvorstellungen«. 45 Vgl. Kohl 2008. 46 Crapanzano 1979 S.168. 47 Crapanzano 1981 S.174. 48 Crapanzano 1981 S.70. 49 Crapanzano 1981 S.47. 50 Kapchan 2007 S.18; Chlyeh 1998 S.17. 51 Chlyeh 1998 S.17. 52 Ähnlich Kapchan 2007 S.20.

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Menschen und den ğnūn gesehen werden.53 Aïsha Qandisha selbst wird manchmal auch als Aïsha Sudaniya oder als Aïsha Gnawiya54 bezeichnet.55 Während meine Informanten und die meisten Wissenschaftler56 den Ursprung von Aïsha Qandisha und der Gnawa im ›Sudan‹ lokalisieren, wird eine konkurrierende Verortung von Westermarck vertreten. Für ihn ist Aïsha Qandisha identisch mit der antiken ostmediterranen Göttin Astarte. Westermarck glaubt, dass sie von den Phöniziern nach Marokko gebracht wurde.57 Manche wiederum führen Aïsha Qandisha auf eine portugiesische Contessa (daher der Name) zurück, die einen wohlhabenden marokkanischen Notablen aus Safi geheiratet habe, die das Haar offen trug und daher allen Männern der Stadt den Kopf verdrehte. Für wieder Andere geht ihre Geschichte auf eine schöne Marokkanerin aus El Jadida zurück, die während der portugiesischen Besatzungszeit im 16. Jahrhundert die Soldaten becircte und ihnen dann den Hals durchschnitt.58 Wieder eine andere Spur hat mir der historische Anthropologe Mustafa Qadery eröffnet: ma kandesh bedeutet im marokkanischen Darija so viel wie ›missgelaunt, missgestimmt‹, der Name der ğinnīya könne daher kommen, da die Dämonin in den Kulten wohlgestimmt werden müsse. Qadery weist auch darauf hin, dass Aïsha Qandisha und Aïsha Sudaniya zwar in der Praxis der Sufibruderschaften oftmals synonymisiert werden, sie aber historisch durchaus voneinander zu unterscheiden seien: während Aïsha Sudaniya gemäß der oben benannten Erzählung aus dem von Sidi Ali nach Marokko gebracht worden sei, gehe Aïsha Qandisha auf die historische Figur einer Prinzessin des 18. Jahrhunderts zurück, die sich in Bagdad in den Weisen Moulay Bouchaïb Erradad verliebt habe. Nach dessen Rückkehr nach Marokko folgte sie ihm. Ihr Schiff ging südlich von Casablanca unter, in einem Schrein in Azemmour mit dem

53 Salmon 1904 S.262; Vgl. auch Kapchan 2007 S.23. 54 Entscheidend war dabei die maghrebinische Dynastie der Saadier, die in der Mitte des 16ten Jahrhunderts das Reich Songhai am Nigerbogen mit den Städten Timbuktu und Gao eroberten. Bis zum Ende des 17ten Jahrhunderts wurden die marokkanischen Sultane formal als Herren von Songhai anerkannt. Khallouk 2008 S.107. 55 Vgl. auch Boncourt (1978 S.33), der eine Beziehung zwischen dem ›fahlen Fuchs‹ der Dogon und dem Schakalgeist der Aissawa herausarbeitet. 56 Streck 2006 S.40; Crapanzano 1981 S.69-70; Zillinger 2013 S.115; Kapchan 2007 S.17; Ralet 2005. 57 Monfouga-Nicolas (1972) erwähnt, dass nach Arthur Tremearne (1914) »one has to look for the origins of the Haussa Bori spirits in circummediterranean cults such as B'aal, Astarté and link them to rites of temple prostitution.« cit. in Fermi 2001. 58 Ralet 2005; Monjib 2011; Maarouf 2007 S.106.

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Namen Lalla Aïsha Bahria (Frau Aisha des Meeres) huldige man ihr noch heute.59 Eine Spur, der ich nicht weiter nachgegangen bin und die hier nur der Vollständigkeit halber angeführt wird, ist die Verbindung zwischen Ḥamādša und Aissawa mit den Roma.60 M.E. verschmelzen in der Figur der Aïsha Qandisha sudanesische, nahöstliche und mediterrane Einflüsse, die sich in Marokko mit dem Volksglauben an ğnūn verbinden, der sich wiederum aus koranischen, präislamisch-berberischen und subsaharischen Quellen wie den senegalesischen rab61 und anderen62 speist.63 Bezüglich der Frage nach der Herkunft von Aïsha Qandisha und nach den personalen Eigenschaften von ğnūn ist hier die Beobachtung bedeutsam, dass diese Fragen vor allem die westlichen Ethnologen beschäftigt, für die Informanten selbst scheint sie nicht besonders wichtig zu sein (daher sind die meisten ğnūn auch nicht namentlich gekennzeichnet). Für sie steht vielmehr die praktische Wirkung der Geistwesen auf die Menschen bzw. die Kommunikation zwischen Mensch und Aïsha Qandisha bzw. ğnūn im Vordergrund: Aïsha Qandisha und die ğnūn sind vor allem von praktischer Bedeutung. Dies zeigt sich auch in dem geringen Bedürfnis danach, den anderen namentlich bekannten Geistwesen differenziertere oder ausgeprägte Charakterzüge zuzuweisen. Denn in der Kosmologie etwa der Ḥamādša spielen neben Aïsha Qandisha nur vier weitere Geistwesen eine besondere Rolle, und jedem Wesen ist lediglich ein besonderer Charakterzug und eine Farbe zugewiesen. Aïsha Qandisha selbst, über deren Eigenschaften wir schon gesprochen haben, liebt die Farben schwarz und rot. Die Persönlichkeit von Lalla Mira, deren Farbe Gelb ist, ist nicht besonders stark ausgeprägt. Sie gilt als lebenslustig, sie liebt das Lachen, das Tanzen und die Verführung. Wird sie nicht geehrt, dann verursacht sie Schlaflosigkeit. Lalla Malika gilt als freundlich, frivol und kokett, sie liebt Parfums, schöne Kleider und ihre Farbe ist violett. Sie befällt sowohl Männer als auch Frauen. Sidi Mimoun gilt als König der Geistwesen. Seine Farbe ist weiß

59 Qadery, persönliche Kommunikation 03.10.2015. Vgl. auch N.N. 2007a 60 Der Mittelalterhistoriker Pierre (2012) verweist auf die Gemeinsamkeiten der drei Gruppen in Kult und Musik. 61 Ich schließe mich hier Mueller (2013) an, die ğnūn der (koranisch)-islamischen Welt und rab den »Senegalese traditional beliefs« zuordnet. 62 Therme 2014 S.114ff. 63 Demerghem (1954 S.260-261) verweist darauf, dass die ğnūn des Sudan bei ihrer Ankunft in Nordafrika arabische und berberische ğnūn vorfanden, mit denen sie verschmolzen. cit. in Chlyeh 1998 S.40.

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und er gilt als der frömmste, gelehrteste und weiseste der Geister.64 Sidi Hammou schließlich ist die Farbe Rot zugewiesen, er gilt als sexuellstes und blutrünstigstes Geistwesen.65

S CHÄDIGENDE K ONTAKTE Nawfel: dans tous ca. pour mususlman il doit pas conpter sur les djines ou entrer en contact. c est interdit, c est contre la foie [Auf jeden Fall dürfen Muslime nicht mit den ğnūn rechnen/auf sie bauen, oder mit ihnen in Kontakt treten. Das ist verboten, gegen den Glauben] D.H.: je sais. mais bcp des musulmans entrent en contacte [Ich weiß. Aber viele Muslime treten mit ihnen in Kontakt] Nawfel: si tu as foie en dieux alors tu n aura besoind e personnne, ca doit etre comme ca, un djine n est qu un etre vivant comme nous [Wenn Du an Gott glaubst, dann brauchst du Niemanden sonst, so muss das sein, ein ğinn ist ein Lebewesen wie wir auch] D.H.: oui, mais di dieu a cree jes ğnūn, il y a aucune raison pour ne entrer en contacte, non? [Ja, aber wenn Gott die ğnūn geschaffen hat, dann gibt’s doch keinen Grund, nicht mit ihnen in Kontakt zu treten, oder?] Nawfel: non il doivent pa [Nein, sie dürfen nicht] D.H.: pq? [wieso?] Nawfel: desequilibre pour les deux [gestörtes Gleichgewicht für Beide] D.H.: aaah ok [Ah ok] Nawfel: il snt diferant de nous [Die sind anders als wir] D.H.: les gens desequilibrent les ğnūn, el les ğnūn desequilibrrent les gens [Die Menschen bringen die ğnūn aus der Balance und die ğnūn die Menschen] Nawfel: eux il sont dangereux pour noux. eux il nous voie. nous on les voie pas [Sie sind gefährlich für uns. Sie sehen uns. Wir sehen sie nicht] D.H.: oook [Ooook] Nawfel: il sont afreuxxxxx [Sie sind furrrrrrrrrchterregend!!!!] D.H.: oui [Ja] Nawfel: on poura pas les supotere [Man kann sie nicht ertragen] D.H.: je veux pas les encontrer [Ich möchte sie niemals treffen] Nawfel: heureusement [Glücklicherweise] D.H.: j espere de les jamais voir [Ich hoffe ihnen niemals zu begegnen]66 64 Die Farbenzuordnung unterliegt regionalen Unterschieden. Bei den Ulâd Bů’ǎzîz etwa ist schwarz die Farbe von Sidi Maimun (Westermarck 1968, S. 344). 65 Therme 2014 S.112.

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Der Leser wundere sich nicht über die Schreibfehler im französischen Text: sie sind zum Teil der Schnelligkeit des Schreibens geschuldet, und ich gebe den französischen Text so wieder, wie er im Eifer des Gefechtes während der Facebook-Kommunikation entstand. Nawfel legt hier Zeugnis davon ab, dass die Muslime nach dem Koran den Kontakt mit den ğnūn vermeiden sollen (pour mususlman il doit pas conpter sur les djines ou entrer en contact. c est interdit, c est contre la foie). Menschen können die ğnūn nicht sehen, sie bedrohen deren Welt eher durch unachtsames Verhalten und nur selten mit bewusster Absicht. Es sind vielmehr die ğnūn, die die Menschen sehen können und die in die Welt der Menschen bewusst eintreten (eux il nous voie. nous on les voie pas) – die Menschen machen das eher unbedacht. Daher können ğnūn die Menschen heimsuchen und schlagen (madroub) oder sogar von ihnen Besitz ergreifen (maskoun), sie verrückt machen (majnoun), sie berühren (memsous) und sie reiten (mamlouk). Die Menschen dagegen können ğnūn unbeabsichtigt schädigen oder sogar töten. Da der Kontakt für beide gefährlich ist, muss er auf irgendeine Weise unterbunden oder gebannt werden. Um den Kontakt mit ğnūn zu unterbinden gibt es verschiedene Wege, etwa das Einhalten von Geboten. So kann man ungesalzenes Essen67 für die ğnūn vor der Türschwelle platzieren, damit sie gar nicht erst ins Haus eindringen, um nach Essen zu suchen. Man kann auch Salz auf die Türschwelle streuen, denn Salz mögen die ğnūn überhaupt nicht.68 Essen Menschen zufällig von den Gaben für die ğnūn, so geraten sie in Gefahr. In Moumen Smihis Film El Chergui (1975) wird einer der jungen Männer, der von einem den ğnūn geweihten Tajine isst, verrückt. Auf Facebook69 erzählt mir ein Informant folgende Geschichte, die tödlich endet: Abdellssaq Benhamri: Recuerdo una historia de tres tangerinos que iban a sidi buknadel para emboracharse , una vez bajaron hacia sidi hamou y encntraron un tajine de comida y lo comieron claro. Al de un breve tiempo fallecieron. […]. Meses despues fallecieron [Ich erinnere mich an eine Geschichte von drei Tangerinos die nach Sidi Bouqnadel70 gingen, um sich zu betrinken, einmal stiegen sie zu Sidi Hammou hinunter und fanden dort ein Tajinegericht vor, das

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Feldforschungstagebuch 20.01.2014. España 1954 S.284. Westermarck 1933 S.8. Feldforschungstagebuch 29.01.2015. Vgl. Salmon 1904 S.268.

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aßen sie dann natürlich. Nach nicht langer Zeit starben sie. […]. Monate später starben sie] D.H.: oooooooh. fallecieron porque era para los gnun? el tajine? [Oooooh. Sie starben weil das für die Geister vorgesehen war? Das Tajine?] Abdellssaq Benhamri: Si el tajine .Uno era muy conocido. Vendia calentita , se llamaba adjouk. Eso paso en los años 70 [Ja, das Tajine. Einer war sehr bekannt. Er verkaufte Calentita, er hieß Adjouk. Das war in den 1970er Jahren] Zafrani71 schreibt über die Riten seiner Kindheit, dass man ein Messer gegen die Geister benutzt. España72 schreibt, bei rituellen Mahlzeiten, die den ğnūn, gewidmet seien, müsse man Metallbesteck vermeiden. Mein Freund Mokhtar erzählt, sein Vater (ein Musiker) sei einmal von einer Frau bei deren Hochzeit um den erspielten Lohn geprellt worden. Dann habe er mit seinen Metallkastagnetten vor ihrer Haustüre ein Kreuz auf den Boden gekratzt und damit die Geister des Hauses gegen die Besitzer aufgebracht. Nach zwei Monaten habe sich der Gatte von seiner Frau scheiden lassen.73 Manche sagen, die Geister haben Tanger verlassen, weil es zu viel Eisen in der Stadt gebe. 74 Besondere Vorsicht ist generell (wie schon in der einleitenden Geschichte von Mohamed Mrabet und später am Beispiel von Lalla Jmila erläutert) an den feuchten75 Übergangsorten gefordert: So darf kein kochendes Wasser in den Abfluss geschüttet werden, man könnte dabei die ğnūn verletzten oder gar töten. Denn der Rechtsgelehrte und Vorläufer der Salafisten, Ibn Taymiyya (12631328), sagt in Darlegung der Universalität der Botschaft (Īḍāḥ al-dalāla fī umūm al-risāla), dass ğnūn einen Anspruch darauf hätten, weder getötet noch ungerecht behandelt zu werden. Widerfährt ihnen dies, dann lassen sie sich oft zu übertriebenen Reaktionen hinreißen.76 Folgende Geschichte soll dies verdeutlichen: Ziyad, der 35 jährige Kellner eines Nobellokales, erzählt von Geistern, die in seiner Frau wohnten und die die ungeborenen Zwillinge, mit denen sie 71 72 73 74

Zafrani 1983 S.52. España 1954 S.284. Feldforschungstagebuch 09.04.2013. Feldforschungstagebuch 07.11.2013: Mein Informant José erzählt, eine Freundin der Mutter – eine Jüdin – sagte, dass man mit einem Eisenbesteck unter Kopfkissen schläft, weil das die Geister nicht mögen. Vgl. auch Westermarck 1933 S.8. 75 Hier finden wir eine Analogie zu den affrit des Zar-Kultes im Sudan – der mythischen Heimat von Aïsha Qandisha. Die affrit leben im Nilwasser. Nathan 2000. 76 Krawietz 2002 S.255.

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schwanger ging, umgebracht haben. Es ging seiner Frau sehr schlecht, als die Kinder tot geboren wurden – danach litt sie 2 Jahre schrecklich. Sie habe Leute auf der Straße angeschrien und sei zuhause depressiv gewesen. Sie seien bei allen möglichen Psychologen und Ärzten gewesen, aber die konnten nicht helfen. Bis sie drauf kamen, dass Geister (ğnūn) dafür verantwortlich sein könnten. Ich fragte, ob er die Namen der Geister wisse, aber er kannte die Namen nicht. Dann gingen sie zu drei religiösen (in Marokko in der malikitischen Tradition stehenden) Rechtsspezialisten (fqihs), die Verse aus dem Koran vortrugen, denn die Geister lieben den Koran nicht. Seine Frau habe nur gerufen: ›Ich will hier weg, ich will hier weg!‹ Aber es war nicht die Frau, die das rief, sondern es waren die Geister, die aus ihr sprachen. Die Stimmen sagten: ›Sie (die Frau) hat zwei unserer (Geist)Kinder umgebracht!‹77 Deshalb seien sie (die ğnūn) gekommen und hätten aus Rache ihre Kinder im Mutterleib getötet. Nach dem Lesen der Verse habe die Frau mit einer unwirklichen Stimme (der der Geister) geschrien und die Geister seien daraufhin aus der Frau entschwunden. Dann blieb sie einen Tag erschöpft liegen, aber seither gehe es ihr wieder besser und jetzt sei sie erneut schwanger. Ich frage danach, wie die Geister in seine Frau eingedrungen waren. Ziyad erzählt, seine Frau habe in einem Dorf in den Bergen eine Freundin besucht. Nachts habe sie einen Weg genommen, eine Abkürzung im Dunkeln, und sei dabei in ein Rinnsal getreten. Darin lebten die ğnūn und sie habe dabei auf zwei Geistkinder getreten, die dadurch getötet wurden. Deshalb seien die Geister als Rache in die Frau eingedrungen, um deren Kinder zu töten.78 Die Geschichte mit den getöteten Kindern ist in Marokko keine untypische Geschichte über die tragischen Folgen des unbedachten Kontaktes zwischen Mensch und ğnūn und deren überzogener Reaktion. Ich diskutiere dies wiederum auf Facebook mit Nawfel: D.H.: un ami m a raconte que sa femme est possedee par des demons et esprits [ein Freund hat mir erzählt, dass seine Frau von Dämonen und Geistern besessen war] Nawfel: oui c est vrait les hsitoir de posesion de djin [Die stimmen, diese Geschichten von Besessenheiten durch ğnūn] D.H.: oui. el a oublie deux enfants dans le ventre, et apres elle a parle comme une folle. alors on l a ramene a des imams qui ont lu le coran, et les demons 77 Feldforschungstagebuch 14.12.2013. 78 Feldforschungstagebuch 14.12.2013.

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parlaient de sa bouche. ils disent que elle a tue deux enfants ğnūn, pour cela les ğnūn ont tue leur gemelles... [Ja. Sie hat zwei ungeborene Kinder verloren, und hinterher wie eine Verrückte gesprochen. Also hat man sie zu Imamen geschickt, die den Koran lasen, und aus ihrem Mund sprachen dann die Dämonen. Sie sagte, sie hätte zwei ğnūn-Kinder getötet, deshalb haben die ğnūn ihre ungeborenen Zwillinge umgebracht….] Nawfel: oui c arrive [Ja das kommt vor] D.H.: ca arrive? [Das kommt vor?] Nawfel: oui [ja] D.H.: ok. ca veut dre pour toi c est une histoire qui n est pas extraordinaire? [ok. Das heißt für dich ist das keine außergewöhnliche Geschichte?] Nawfel: surtout pour les pauvre sans foie ni cultuvé [Jedenfalls nicht für die Armen und die Ungebildeten] D.H.: tu croies en les ğnūn? [Du glaubst an ğnūn?] Nawfel: bensur 100/100 [100-prozentig] D.H.: bien. pour moi c est quelque chose nouveau.... [Gut. Für mich ist das was Neues] Nawfel: nonnn. c est comme l exorsisme [Nein. Das ist wie beim Exorzismus] D.H.: ok. tu as eu une experience avec un ğinn? [Hattest du schon mal ne Erfahrung mit einem ğinn?] Nawfel: nonn. Heureusmenne [Nein. Glücklicherweise] D.H.: ok. et ta mere? [Ok. Und deine Mutter?] Nawfel: ma mere [Meine Mutter] D.H.: c sont souvent les femmes qui ont ces experiences, por cela [Es sind doch häufig Frauen, die solche Erfahrungen machen] Nawfel: mon pere oui [Mein Vater hat schon mal….] D.H.: ah. Ok. tu me peux raconter? ca me interesse [ah. Ok. Kannst du mir davon erzählen? Das interessiert mich] Nawfel: mon pere etai comme imame [Mein Vater war sowas wie ein Imam] D.H.: ok [Ok] Nawfel: ma grand soeur disai qu ele es poséde. un de me fres. Frere. un 2 eme sieur. il sent la presens des djibnes. des fois j y croie et autre non. moi sa marive pa [Meine große Schwester sagte dass sie besessen sei. Einer meiner Brüder. Eine zweite Schwester. Sie fühlen die Gegenwart der ğnūn. Manchmal hab ich das geglaubt, manchmal nicht. Ich fühle die ğnūn nicht] D.H.: et comment elle savait qu elle est possedee par des ğnūn? [Und woher wussten sie dass sie von ğnūn besessen waren?] Nawfel: il ont mauvais reves. ont des conchmare. sens qui il sont etoufe des foir. ou des fois crise. Pleurer. mais c est leger par raport au posesion [Sie

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hatten schlechte Träume. Alpträume. Solche ersticken den Glauben. Und manchmal gibt’s ne Krise. Heulen. Aber das ist so ein Zeichen für Besessenheit] D.H.: ok. et ton pere il a fait quoi? [Ok. Und was hat dein Vater gemacht?] Nawfel: quand il ont la crise il prend leur main et lit des verse coranique. et ca les calmes. ca fais des anne [Wenn sie eine Krise hatten, dann nahm er ihre Hand und las Koranverse. Das beruhigt sie. Das war vor Jahren] D.H.: et les ğnūn? ils ont parti? [Und die ğnūn sind verschwunden?] Nawfel: maintenant rien [Jetzt ist jedenfalls Ruhe] D.H.: oui mais comment les ğnūn on parti? [Ja, aber wie sind die ğnūn denn verschwunden?] Nawfel: il faut just que tu devien fort personalité. avoir plus de foie. alors ces mauvais djin te foue la paix [Du musst nur eine starke Person werden. Mehr Glauben haben, dann lassen dich die ğnūn in Ruhe] D.H.: oui. ca veut dire ta soeur a pas eu de foie quand les djin ont venue? elle etait faible et les ğnūn ont venu entrer. pardon pour les questions mais je veux entendre [Ja. Das heißt, deine Schwester war schwach im Glauben, als die ğnūn ankamen? Sie war schwach und die ğnūn sind in sie reingeschlüpft. Entschuldige diese Fragen, aber ich will das verstehen] Nawfel: oui comme ca. il ya des gents qui sont comme ca sensible au djin. et autre non. il ne sent rien comme moi [Ja so war’s. Es gibt Leute, die sind so anfällig für ğnūn. Und andere nicht. Dann fühlt man nichts, so wie ich] D.H.: mais ta soeur est sensible [Aber deine Schwester war sensibel] Nawfel: oui il sne leur presence. pa voir. mais sen [Ja sie fühlt ihre Gegenwart; sie sieht sie nicht, aber sie fühlt sie] D.H.: […] le djin est une force mal? [ğnūn sind schlechte Kräfte?] Nawfel: exactement. un djin qui entre encontact avec les humain ou esaie de leur fair du mal c est un djin incroiant ou até [Genau. Ein ğinn, der mit Menschen in Kontakt tritt oder versucht ihnen Böses anzutun, das ist dann ein ungläubiger ğinn oder ein atheistischer] D.H.: ok, je comprends. et pouqoui un djin fait ces choses mauvaises? pardon, je veux vraiment entendre [Ok, ich verstehe. Und warum macht so ein ğinn überhaupt schlimme Dinge? Entschuldige, ich will das wirklich verstehen] Nawfel: car il est mauvais comme chez les humain, la mmeme cjhose. [Weil er böse ist wie es auch bei den Menschen üblich ist. Dasselbe….] D.H.: […] dis moi, pourqoui les djins ne peuvent attaquer une personne forte? [Sag mir warum die ğnūn keine starken Personen angreifen können?]

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Nawfel: car l esprit humain a une forse qu on peu pas savoir nous. les djin peuvent la sentir ou craindre [Weil der menschliche Geist eine Kraft hat, die wir selber nicht kennen. Die ğnūn können sie aber fühlen oder erahnen] D.H.: ah ok. et ton pere a lutter les ğnūn avec le coran et apres ils ont sorti de ta soeur [Ah ok. Dein Vater hat die ğnūn mit dem Koran bekämpft und die sind dann aus deiner Schwester hinaus] Nawfel: oui le coran c est l outil primordial. c est tou le coran. [Ja, der Koran ist das wichtigste Werkzeug. Der Koran ist alles] D.H.: dis moi: comment ta soeur savait qu elle etait possedee par les ğnūn? [Sag mir: wie wusste Deine Schwester, dass sie von ğnūn besessen war?] Nawfel: donc les humain et djin vie dans 2 monde en paralele [Die Menschen und die ğnūn leben in zwei Parallelwelten] D.H.: oui [Ja] Nawfel: nous on les voie pa. eux il nou voie [Wir sehen sie nicht. Sie sehen uns] D.H.: oooook [Oooook] Nawfel: mais chacun et loin de l autre. alors vie si comme il exisite pas [Aber jeder lebt entfernt vom Anderen. Also lebe so als ob es sie nicht gäbe] D.H.: j essaye. mais il y a des lieux ou on peut encontrer des ğnūn, non? cet ami m a dit que les ğnūn la ont attaquee quand elle a passe une squaya. ils sont dans l eau il a dit [Das versuche ich. Aber es gibt Orte, an denen man auf ğnūn treffen kann, nicht wahr? Dieser Freund sagte mir, die ğnūn hätten seine Frau angegriffen, als sie eine Quelle überquerte. Er sagte, sie waren im Wasser] Nawfel: oui endroit vide. riveirer ou egout. donc endroit sale pour mauvais jin. eux aussi aime ps la compagnie des humain [Ja an menschenleeren Orten. Flüsse oder Bäche. Also schmutzige Orte für die bösen ğnūn. Sie mögen die Gegenwart der Menschen auch nicht] D.H.: ok. il a dit qu ils ont attaquee quand elle a passe cette Seqaya dans la nuit dans une village de campagen. e [Gut. Er sagte, sie hätten angegriffen, als sie diese Quelle überschritt, nachts in einem Dorf auf dem Lande] Nawfel: voila [Da siehst du’s!] D.H.: ca veut dire des lieux ou il y a pas des gens. pas dans une ville? ou ca peut passer aussi dans une ville [Das heißt an Orten, wo es keine Leute gibt. Nicht in einem Dorf? Oder kann das auch im Dorf geschehen?] Nawfel: non pa ville [Nein nicht im Dorf] D.H.: et ta soeur etait dans la campagne? dans un village? [Und deine Schwester war auf dem Land? In einem Dorf] Nawfel: on vivait au debut dans la compagne pres de la ville [Wir lebten früher am auf dem Land, nahe bei der Stadt]

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D.H.: ah ok. ca veut dire on doit avoir attention dans ces lieux... [Ah ok. Das heisst, an solchen Orten muss man aufpassen….] Nawfel: oui. ou etre acompagner [Ja. Da muss man begleitet sein] Auch die Schwester von Nawfel, die von ğnūn besessen war, ist diesen wie Ziyads Frau am Rande der Zivilisation (dans la compagne pres de la ville) begegnet. Menschen können die Geister stören, wenn sie sich an diese Orte begeben, und die ğnūn können die Menschenwelt stören, wenn sie in die Häuser einzudringen versuchen. Zumeist jedoch versuchen die ğnūn, den Menschen aus dem Weg zu gehen (eux aussi aime ps la compagnie des humain). Gerade nichtmuslimische ğnūn (un djin qui entre encontact avec les humain ou esaie de leur fair du mal c est un djin incroiant ou até) versuchen, die Muslime vom Glauben abzubringen oder aber jene, die ohnehin schwach im Glauben sind, noch weiter zu verwirren (sens qui il sont etoufe des foir. ou des fois crise). Dann werden die Menschen von Alpträumen (mauvais reves. des conchmare) und Heulanfällen (pleurer) geplagt. Crapanzano79 schreibt, die ğnūn könnten Menschen auf zweierlei Weise attackieren: sie können sie heimsuchen und dann häufig nachteilige körperliche Veränderungen wie Blindheit, Taubheit oder Lähmung verursachen. Sie dringen in den Körper des Heimgesuchten ein und verlassen ihn fast sofort wieder. Oder sie können – wie im Falle von Ziyads Frau und Nawfels Schwester – Besitz von einem Menschen ergreifen, was sich mit den typischen Symptomen von Besessenheitszuständen äußere. Crapanzano nennt u.a. Bewusstseinsverlust, Ohnmachtsanfälle, Krämpfe, Zuckungen, Gedankensprünge, Gedankenflucht. Im Gegensatz zur Heimsuchung bleiben die Geister im Körper und müssen vertrieben werden. Es gibt Menschen, die für ğnūn zugänglicher sind als andere (il ya des gents qui sont comme ca sensible au djin. et autre non. il ne sent rien comme moi). In den Beispielen von Ziyad und Nawfel sind dies Frauen, in anderen Beispielen, die in diesem Kapitel bemüht werden, sind dies Männer. Nawfels Schwester hatte das Glück, den Heiler in Person des Vaters im Haus zu haben: er ist ein fqih (comme imame). Wie die fqihs in Ziyads Geschichte, so zitiert auch der Vater Koranverse (lit des verse coranique) und beruhigt so die Besessene (ca les calmes). D.H.: quand on est amoureux, on se sent possedee de l autre. on peut dire que on possedee par un djin? pardon, mais c est une questiion serieuse […] [Wenn man verliebt ist, dann fühlt man sich auch durch den Anderen besessen. Man 79 Crapanzano 1981 S.184.

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kann dann sagen, man sei von einem ğinn besessen? Entschuldige, das ist eine ernsthafte Frage] Nawfel: oui je te comprend. tu veu dir il te prend la tete [Ja ich verstehe die Frage. Du meinst wenn einem jemand den Kopf verdreht] D.H.: ou c est totalement autre chose? [Oder ist das etwas vollkommen anderes?] Nawfel: non c est diferant [Nein das ist was anderes] D.H.: pourquoi? on perd la tete dans les deux choses, non? [Wieso? Man verliert den Kopf doch bei beiden Sachen, nicht wahr?] Nawfel: c est diferant [Das ist anders] D.H.: ok comment? [Ok. Und wie?] Nawfel: si on aime tu arive pas a oublier. le djin c est diferant. le djin aime fair mal au humain faible de foie. ainsi il les pouse a fair se qui il veut [Wenn man liebt, dann vergisst man nicht. Bei einem ğinn ist das anders. Der ğinn mag es, denen etwas anzutun, die schwachen Glaubens sind. Deshalb lässt er sie machen, was er will] Nawfel, den ich an dieser Stelle wieder als repräsentativ für die meisten meiner Informanten anführe, unterscheidet die Besessenheit des Verliebten von der Besessenheit (c est diferant) durch ğnūn. Aus westlicher Sicht liegt es nahe, beide Malaisen, von denen hier die Rede ist, als Ausdruck innerer Spannungszustände zu interpretieren, etwa als Seelenpein, als Depression oder eben auch als Verliebtheit. In jedem Falle ankern die Ursachen aber im Individuum selbst. Michel Foucault80 hat meisterlich herausgearbeitet, dass die meisten europäischen Institutionen versuchen, die innere Wahrheit der Menschen ans Tageslicht zu bringen – das gehört ganz zweifelsohne zu unserer westlichen Kultur. Auch die Ethnologie mit ihrem Anspruch, die innere Realität der Erforschten zu erfassen, ist diesem Unterfangen verpflichtet. In Marokko dagegen lässt sich die Problematik nicht ausschließlich auf das Individuum zurückführen, hier kennt man das Individuum nicht nur als Handelnden (agent), sondern auch als Wiederfahrenden. Zwar messen etwa die Ḥamādša der Überwindung von nafs (der Seele) einen zentralen Stellenwert bei und alle meine marokkanischen Informanten wissen davon, dass nafs und innerpsychische Ursachen für die Malaisen verantwortlich sein können (Nawfel nennt etwa die Besessenheit des Verliebten, Ziyad kennt die Psyche als mögliche Verursacherin von Problemen). Sie wissen aber auch, dass es häufig nicht an nafs, am Individuum und seinen Handlungen hängt, manchmal werden Individuen »gehandelt«, ihnen wiederfährt etwas – und zwar durch nichtmenschliche Wesen: durch die ğnūn. 80 Etwa Foucault 1977.

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Ferdaouss erzählt, sie sei im letzten Jahr zwei Monate krank gewesen. Das kam so. Sie habe geschlafen, da habe es an die Tür geklopft, ein richtiger Lärm. Sie sei aus dem Bett hochgeschreckt und habe am ganzen Leibe gezittert. Da sie alleine lebt, dachte sie, die Nachbarskinder hätten ihr einen Streich gespielt. Sie öffnete angstvoll die Fenster um hinauszusehen, aber niemand war da. Voller Angst ging sie ins Bett zurück. Am nächsten Tag bei der Arbeit sagte sie zu ihrem Chef, sie sei krank, sie könne nicht arbeiten. Ihr Chef meinte, sie solle sich hinsetzen und ausruhen, aber sie zitterte am ganzen Leibe. Als es nicht besser wurde, arrangierte der Chef einen Arztbesuch, der aber konnte nichts finden. Es ging ihr immer schlechter, bis sie sich den Koran lesen lies – sie besuchte fqihs. Erst dadurch habe sie sich beruhigt und sei wieder gesund geworden.81 Die Rolle der fqihs, der religiösen Rechtsspezialisten, wurde schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnt. Sie sind in Marokko im orthodoxen (malikitischen) Islam jene Spezialisten, an die der Umgang mit Dämonen delegiert wird. Ferdaouss erlebte hier etwas, das in der Medical Anthropology gemeinhin mit dem für den hispanischen Raum verwendeten Begriff des susto erfasst wird.82 Darunter wird ein plötzliches Erschrecken verstanden, das durch unterschiedliche Phänomene verursacht werden kann, darunter plötzlicher Lärm und die nächtliche Begegnung mit einem Geist.83 Für Ferdaouss waren es die ğnūn, die sie nachts heimsuchten,84 vielleicht um wie üblich das Essen der Menschen oder deren Kleider zu stehlen, alle Arten von Informationen auszuspionieren oder zu versuchen, mit Menschen sexuellen Kontakt aufzunehmen.85 Danach fühlte sie sich depressiv, antriebs- und appetitlos. Im Westen haben wir für dieses Syndrom die Begriffe der Depression oder des Stress. In Marokko geht es oft um die Wiederanbindung der rastlosen, schweifenden Seele des Kranken. Erst die religiösen Rechtsspezialisten (fqihs) konnten die Geister bannen und vertreiben, so dass Ferdaouss wieder gesund wurde.

81 Feldforschungstagebuch 25.11.2013. 82 Ähnlich dem susto ist das Erschrecken (fright) der Araber in Palästina, das aber als von ğnūn verursacht gilt (Westermarck 1968 S.370). 83 Frießem 1988 S.462. 84 Vgl. Westermarck 1968 S.297. 85 Badeen & Krawietz 2003 S.98. Dagegen behauptet Nathan (2000) »ils ne s’intéressent aux humains que parce qu’ils souhaitent qu’on leur installe un autel et qu’on leur rende un culte – ›qu’on les nourrisse‹, comme on dit. [Sie interessieren sich nicht für die Menschen, weil sie wünschen, dass man ihnen einen Altar erstellt und einen Kult widmet, ›dass man sie nährt‹, wie es heißt.]«.

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O RTE

DES

Ü BERGANGS

Kehren wir zurück zu den Kontaktorten zwischen Mensch und ğnūn, von denen es in Tanger nicht nur die allgemeinen Örtlichkeiten wie Hamams, Türschwellen und Gärten gibt sondern ganz konkrete Örtlichkeiten mit Namen. Viele dieser Kontaktorte befinden sich an der Felsenküste zwischen dem Altstadtfort Dar Baroud und dem Oued Lihoud, dem Judenfluss im Westen der Stadt. Dazwischen liegen die Küstenabschnitte von Bouqnadel, Merqala und Hafa mit zum Teil markanten, von ğnūn bewohnten Felsformationen.

Abbildung 11: Der Felsen von Lalla Jmila, Tanger (vor dem Abriss 2008) Diese Küste wurde jedoch durch städtebauliche Maßnahmen nachhaltig umgestaltet. Der bedeutendste von einer ğinnīya bewohnte Felsen – der Felsen von Lalla Jmila – wurde 2008 im Zuge der urbanistischen Modernisierung abgerissen und dem Bau der neuen Küstenstraße geopfert.86 Der Abriss passt perfekt zum 86 Dennoch wird das Monument noch im Inventaire et Documentation du Patrimoine Culturel du Maroc des Ministère de la Culture (Royaume du Maroc) von 2010/11 unter der Nummer sanae:260633 aufgelistet – seltsamerweise unter der Kategorie Architecture et Urbanisme. http://www.idpc.ma/view/pc_architecture/sanae:260633? doctype = pc_architecture&f_type_protection = &searchfield = fulltext&q = tanger &quicksearch=OK&num=3 [letzter Zugriff 20.07.2015].

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Selbstverständnis der Modernisierer: der Geisterglaube wurde historisch schon von den französischen Kolonialherren als Ausweis der Rückschrittlichkeit gewertet87 – eine Annahme, den die Modernisierungseliten übernommen haben. Lalla Jmila ist nicht nur der Name für einen konkreten Felsen an der Meeresküste von Merqala, sondern auch für ein Geistwesen, eine Person und einen Kult, der sowohl von muslimischen wie von jüdischen88 Frauen ausgeübt wurde. Wie für Aïsha Qandisha so gibt es auch über Lalla Jmila verschiedene, sich z.T. widersprechende Geschichten. Für Westermarck89 ist Lalla Jmila ganz unzweifelhaft eine Erscheinungsform von Aïsha Qandisha – und mir wurde in Erzählungen über den Felsen immer auch bedeutet, dass der Ort selber von ğnūn bewohnt sei. Es scheint sich um einen wahren Ort des Überganges zu handeln, in dem Lalla Jmila als ğinnīya um Beistand und baraka gebeten wird. So bezeichnen einige meiner Informanten, etwa der muqaddem der Ḥamādša, Lalla Jmila viel allgemeiner als unsichtbares Wesen, als ğinnīya, die vor allem von Frauen, manchmal aber auch von Männern, Besitz ergreift. Der Fels allerdings sei lediglich der Ort, an dem man ihr huldige – ihre Existenz sei nicht an die Existenz des Felsens gebunden, wie andere ğinnīyat (sg. ğinnīya) könne sie in vielfältiger Form erscheinen, etwa die Form von Menschen annehmen oder auch von Katzen.90 Andere halten Lalla Jmila für eine weiße und wunderschöne Meeressirene,91 die die jungen Männer Tangers mit ihrer Schönheit in ein frühes und nasses Grab lockt – ähnlich wie die Loreley und die schöne Lau in Deutschland. In dieser Erklärung ist die ğinnīya durchaus existentiell an die Landschaft gebunden: die Küste von Merqala ist voller Sirenen,92 insbesondere an der Mündung des Judenflusses (Oued Lihoud), am Küstenabschnitt unter der Felssiedlung Bouqnadel und bei einzelnen Felsen wie eben jenem von Lalla Jmila. Die Heldin in Smihis Film El Chergui (1975), die in einer Szene am Felsen den Segen erbittet, ruft die

87 Burke III 2014 S.176ff. 88 Ben Ami 1990 S.114. Ben Ami nennt als weitere Quelle: Voinot, L. 1948 Pèlerinages judéo-musulmans du Maroc. Paris: Larose: 39-40: ein Informant erzählte mir, Lalla Jmila wäre vor allem von jüdischen, Sidi Hammou vor allem von muslimischen Frauen verehrt worden. Feldforschungstagebuch 30.01.2015. Vgl. auch España 1954 S.284f. 89 Westermarck 1968 S.293,392. 90 Feldforschungstagebuch 27.11.2014. Salman 1904 S.268 meint, die Katzenaugenquelle sei ebenfalls ein Ort der ğnūn gewesen. 91 Westermarck 1968 S.392 spricht davon, dass die Meeressirene Aïsha Qandisha sei. 92 Michaux-Bellaire 1921 S.330.

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»Hommes de la mer« (Menschen des Meeres) und die »Peuple du Seigneur« (Volk des Herrn = ğnūn) an.93 Einige sagen, das Verschwinden dieser Felsen habe die Sirenen vertrieben, andere sagen, die Sirenen seien noch immer da. Für die Schriftsteller Choukri/Boraki94 ist Lalla Jmila weder ein Geist noch eine Dämonin, sondern eine Frau, die sich in einen Mann verliebt hatte und sich diesem hingab, ohne ihre sieben Brüder um Erlaubnis zu fragen. Daraufhin wurde sie verflucht und sie ›verschwand‹ an jenem Felsen, der heute ihren Namen trägt.

Abbildung 12: Felsen von Lalla Jmila kurz vor dem Abriss Choukri/Boraki schreiben: »Lalla Jmila war eine Jungfrau, die verflucht wurde, weil sie die Liebe eingegangen war, ohne den Segen ihrer sieben Brüder einzuholen. Weil sie sich der Überwachung dieser sieben Wächter der Jungfernschaft entwand, wurde sie bestraft und dann als Heilige verehrt. Heute ist Lalla Jmila ein Felsen, der sich aus dem Meer erhebt. Die Frauen kommen dorthin um bei

93 Vgl. Nabti 2007 S. 389: vielfach ruft man ›jene dort‹ (nâss), ›jene im Wald‹ (nâss alraba), ›jene der Erde‹ (nâss al-trab) oder ›jene des Meeres‹ (nâss 3a’har) an. 94 Vgl. auch N.N. 2010e: [»›Lalla Jmila‹ ist der Name eines Felsens der in der Vergangenheit von den alten Bewohnen Tangers verehrt wurde. (…) Der Ort, an dem sich der Fels befand, wurde von vielen Frauen und jungen Mädchen besucht, um Gnade/Segen (baraka) zu erbitten.«]

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Ebbe baraka (Segen, Gnade) zu erbitten. Es ist der Ort, an dem man die Liebe erhalten kann, die man nicht erlebt; das Glück, das einem nicht widerfuhr; die Kinder, die man nicht bekam. Man gibt dort Weiheopfer, Tüchlein die mit Menstruationsblut befleckt sind, Kajal, Zucker, Orangenblütenwasser und man entzündet dort Kerzen.95 Seitdem schützen die Brüder die Stadt.«96 Dort führten Frauen bis vor kurzem solch magische Rituale durch. Die Frage, ob der Felsen nun an eine Heilige oder an eine ğinnīya gemahnt (djoulsa) oder ob er lediglich der Wohnsitz von ğinnīyat wäre, ist nur auf den ersten Blick verwirrend. Bereits Salmon97 verweist darauf, dass es an den nordafrikanischen Küsten nicht ungewöhnlich sei, dass Felsen gleichzeitig für Beides verehrt werden. Felsen und Grotten sind weithin als jene Pforten des Überganges bekannt, an denen baraka – der göttliche Segen oder die göttliche Gnade – weiter gegeben werden kann.98 Wahrscheinlich verschmelzen für die Adeptinnen in der Figur der Lalla Jmila genau wie in der Figur von Aisha Qandisha menschliche und geisterhafte Merkmale,99 so als sei sie gewissermaßen die Verkörperung des in den Trance- und Ekstaseritualen angestrebten Idealzustandes der Verschmelzung von Mensch und Geistwesen. Was die Rituale am Felsen betrifft, so muss ich mich auf Aussagen von Informanten und Informantinnen stützen, denn der Felsen existiert ja seit 2008 nicht mehr. Belegt ist, dass Frauen – insbesondere unverheiratete Mädchen – dorthin gingen, sie begaben sich in die Kaverne des Felsens, die von Meerwasser durchspült wird, und erbaten dort von Lalla Jmila Gnade (baraka) für die Erfüllung ihres Liebesglücks oder ihrer Fruchtbarkeit.100 Im Film El Chergui101 ist es eine Ehefrau, die unter der Heirat des Gatten mit einer Zweitfrau leidet und am Felsen baraka erbittet. Manche erzählen, sie hätten gesehen, wie Mädchen sich dort nackt ausgezogen und mit Meerwasser benetzt hätten.102 Manche Mädchen kamen auf Anraten von Verwandten zum Felsen, andere auf Geheiß eines fqih; wenn sich beispielsweise ein Mädchen sexuell mit einem

95 96 97 98 99 100 101 102

Salmon 1904 S.267. Choukri/Boraki 1990. Salmon 1904 S.266. Maréchal/Dassetto 2014 S.13. Dies betrifft im Übrigen auch Lalla Malika (Nabti 2007 S. 389). Tafersiti o.J. S.28; Erkoreka 1991 S.168. Smihi 1975. Feldforschungstagebuch 03.11.2014 und 24.05.2015; vgl. Rhani 2008 S.179ff der über ähnliche Reinigungsrituale im Kontext der Kulte um Aïsha al-Bahria (der Aïsha des Meeres) und Sidi Daoud in Ben Yeffou berichtet, bei denen ebenfalls Unterwäsche überlassen wird.

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Jungen eingelassen hat, der nur sein Vergnügen suchte ohne ernste Absichten zu hegen, dann wird es von einen fqih so behandelt, dass es wieder wie eine Jungfrau erscheint (t‘9af)103, um ihre Aussichten auf einen Ehemann nicht zu gefährden. Danach schickt der fqih sie mit Kräutern zum Felsen, die sie dort verbrennen soll;104 einig sind sich die Informanten darin, dass die Frauen und Mädchen dort Opfergaben wie Kerzen, Henna, und Rauchsubstanzen darboten, manchmal einen Hahn oder auch Unterwäsche. Danach mussten die Frauen den Felsen sieben Mal105 umrunden.106 Auf des Facebookgruppe Tanger World City erzählt mir mein Informant Jamal Imrane (*1950) seine Erlebnisse: »Qui peut oublier ces groupes de femmes, jeunes femmes et jeunes filles lançant leur stridents youyous à Lalla Jmila, riant, tournant autour du rocher des 7 pucelles (Hajra de seb3a del bnat) et implorant le ciel pour qu'arrive, dans les meilleurs délais le beau, gentil, et si possible riche, mari. Le bulldozer a détruit Lalla Jmila, mais Lalla Jmila est encore dans la tête des Tangérois.« [Wer kann die Gruppen von Frauen vergessen, junge Frauen und junge Mädchen, die ihr gellendes ulullu-Geschrei (barwalá oder youyou) bei Lalla Jmila herausriefen, lachend, dann um den Felsen der 7 Mädchen herumgingen und den Himmel anflehten, damit ihnen baldigst der schönste, netteste, und möglicherweise reichste Ehemann begegnen würde. Der Bulldozer hat Lalla Jmila zerstört, aber Lalla Jmila ist noch immer in unseren Köpfen.]107

103 Feldforschungstagebuch 27.11.2014. T‘9af bedeutet »être noué«, angebunden oder zugenäht zu sein (Rhani 2008 S.183; Fermi 2001). 104 Feldforschungstagebuch 27.11.2014. 105 Die heilige Zahl 7 im Islam kommt hier gleich zweimal vor, und die Umrundung erinnert an die Umrundungen der Ka‘aba durch die Pilger in Mekka. Erzählungen von den sieben Brüdern und der einen Schwester gehören zum Repertoire marokkanischer Folkloregeschichten. Vgl. Bushnaq (1986 S.119-124) The Girl Who Banished Seven Youths cit. in: Maier 1996 S.231. 106 Man kann sie leicht auf die Bearbeitung weiblicher Bedürfnisse in einer patriarchalischen Gesellschaft reduzieren – so wie dies etwa im Theaterstück Lalla Jmila (Ben Bouchta 2004) geschieht. Darin haben sich Frauen zum Felsen geflüchtet, um fern von Männern zu leben. Die Reduktion auf die Genderfrage greift m.E. jedoch zu kurz, da Lalla Jmila auch von Männern Besitz ergreift, so wie das gemeinhin allen ğnūn und ğinnīyat möglich ist. Ben Bouchtas Stück war eine Auftragsarbeit, die von feministischen Gruppen initiiert wurde. 107 https://www.facebook.com/groups/tangerworldcity/search/?query=lalla%20jmila, 04.11.2012.

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Es ist bezeichnend, dass ich kaum auf die Aussagen der Adeptinnen dieser Kulte zurückgreifen kann. Ferdaouss, meine Zugehfrau, hatte ich nicht dazu befragt, sondern ihr eines Tages erzählt, dass ich den Felsen gesucht hätte. Von alleine erzählte sie mir dann folgende Geschichte: »Ich habe Lalla Jmila selbst besucht. Ich träumte, ich befinde mich in einer Felshöhle, in das Wasser des Meeres herein schwappte. Neben mir eine weiße Kerze. Von diesem Traum erzählte ich meiner Schwägerin, die dann meinte: dann musst du zu diesem Felsen gehen. Ich wusste nicht, was meine Schwägerin meinte, war es doch nur ein Traum. Die Schwägerin aber sagte mir, es müsse sich um Lalla Jmila handeln, diesen ausgehöhlten Felsen im Meer. So suchte ich diesen Ort auf, den ich nicht kannte, der sich aber als exakt der Ort erwies, von dem ich geträumt hatte. Sieben Mal muss man den Felsen von Lalla Jmila umrunden, die heilige Zahl des Koran. Ich betrat den Felsen, setzte mich auf einen Felsvorsprung und rezitierte den Koran. Als ich die Höhle verließ, war da eine weiße Ziege. Ein gutes Zeichen!«108 Meistens jedoch handelt es sich bei meinen Befunden um Quellen, die von männlichen Informanten stammen. Sicherlich ist dies der allgemeinen Geschlechtertrennung geschuldet, die auch einem westlichen Ethnologen nicht erlaubt, direkt mit weiblichen Informanten zu kommunizieren. In Tanger gibt es noch viele andere Felsen, denen ähnliche Kraft zugeschrieben wird, etwa den Felsen von Sidi Hammou. Dieser befindet sich noch an seiner alten Stelle, allerdings begraben unter dem Strassenbelag derselben Küsterstrasse, deren Bau Lalla Jmila zum Opfer fiel. Mit Abdellssaq Benhamri unterhalte ich mich auf der Facebookseite Siempretanger über die Felsenkulte:109 Abdellssaq Benhamri: Veia a las mujeres yo mismo. Ibamos a bañarnos sidi buknadel . Venian las mujeres por la mañana temprano y dejaban alli cosas. Leche. Comida preparada sin sal. Preparaban comida y la llevan antes a un iman que hacia algo en la comida y luego bajaban a sidi hamou [Ich selbst habe die Frauen gesehen. Wir gingen nach Sidi Bouqnadel zum Baden. Am frühen Morgen kamen Frauen und ließen dort Sachen zurück. Milch. Gekochtes Essen ohne Salz. Sie hatten das Essen zubereitet und brachten es einem Imam, der was ins Essen reinmachte und später sind sie runter nach Sidi Hammou]. D.H.: si, sin sal por los gnun, verdad [Ohne Salz wegen der ğnūn, stimmts?]

108 Feldforschungstagebuch 25.11.2013. 109 Feldforschungstagebuch 29.01.2015.

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Abdellssaq Benhamri: […] Si. Sin sal por gnun. […] [Ja, ohne Salz wegen der Geister.] D.H.: Tu conoces mujeres que yo podria hablar sobre esas Cosas? [Kennst Du Frauen, mit denen ich über diese Sachen reden könnte?] Abdellssaq Benhamri: A las mujeres.no conosco a ninguna. A sidi hamou venian mujeres.de.barios lejanos. Las de cerca no se atrevian porque las conociamos [Die Frauen. Ich kenne keine. Nach Sidi Hammou kamen sie. Aus weit entfernten Stadtvierteln. Die Frauen hier aus der Nähe trauten sich nicht, weil wir sie ja kannten] D.H.: tu sabes por qué la roca se llama Sidi Hamou? [Weißt Du warum der Felsen Sidi Hammou heißt?] Abdellssaq Benhamri: Ni idea. Preguntare. Era una roca cuadrade de casi 3 metros y uno de altura. Recuerdo que las mujeres venian temprano para echar agua a sus miembros genitales. Tu ya me entiendes [Keine Ahnung. Ich werde nachfragen. Das waren ein Felsen von fast 3 Quadratmetern und ein Felsen, der hoch aufragte. Ich weiß, dass die Frauen in der Frühe dorthin kamen, um ihre Genitalien mit Wasser zu benetzen. Du verstehst mich schon] D.H.: si entiendo bien. creo que el nombre es relacionado con el marido de aisha qandisha, que se llama sidi hamou – pero no estoy seguro [Ja ich verstehe gut. Ich weiß, dass der Name mit dem Ehemann von Aisha Qandisha verbunden ist, der heißt Sidi Hammou, aber so sicher bin ich mir dann doch nicht] Abdellssaq Benhamri: Las pobres mujeres de un bajo nivel intelectual [Die armen Frauen hatten ein sehr niedriges intellektuelles Niveau] D.H.: tu crees que hoy en dia todavia mujeres van a rocas? [Glaubst du dass Frauen heute auch noch zu Felsen gehen?] Abdellssaq Benhamri: Claro que si. Van sobre todo a los santuarion o mausoleos (zaouiya) [Aber natürlich. Die gehen vor allem in die Heiligtümer oder die Mausoleen (Zaouias)] D.H.: si. como los de hamdouchi [Ja. Wie dem der Ḥamdūši] Abdellssaq Benhamri: Exacto [Genau] D.H.: entonces sidi hamou attraia la misma gente que lalla jmila los mismos mujeres supongo [Also gingen die selben Leute, die zu Sidi Hammou gingen, auch zu Lalla Jmila, nehme ich an] Abdellssaq Benhamri: Los hebreos mas a lala jmila. Estaba cetca de sidi hamou [Die Jüdinnen gingen eher zu Lalla Jmila. Das ist nahe bei Sidi Hammou] D.H.: oh! y sidi hamoi mas las mujeres musulmanas? [Ah! Und nach Sidi Hammou dann eher die Musliminnen?] Abdellssaq Benhamri: Si [Ja]

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Neben Lalla Jmila und Sidi Hammou haben weitere Felsen solche Kräfte besessen: der Fischfelsen (le poisson), der Hadjra Maqtouin (Ras el-Môle),110 der Fels der Töchter (Hajra del Bnat), der Felsen von Lalla Rkya mit der Trinkwasserquelle,111 der Fels von Moulay ʿAbdelqâder. An letzterem, an dem keinem ğinn, sondern dem Heiligen Moulay ʿAbd al Qâder Al-Djilâiny gehuldigt wurde, opferte man einen weißen Hahn, um Fertilität zu erbitten.112 Ähnliche Praktiken werden noch heute am Schrein des Sidi Mimoun am Rande der Medina durchgeführt, wo dem Heiligen ausschließlich an Samstagen Kerzen, Henna, geschlachtete Hühner und heiliges Orangenblütenwasser dargebracht werden.113 Ob es einen Zusammenhang zwischen Sidi Mimoun und dem ğnūn-König Abu Nuh Maimun gibt, dessen Feiertag der Samstag ist, weiß ich nicht zu sagen.114 Wie heute noch in Sidi Mimoun hinterließen Frauen früher an den anderen Felsen Opfergaben und entzündeten Kerzen. Viele dieser Felsen wiesen eine weiße Färbung auf, die von den Adepten aufgetragen wurde.115 Zwischen den Sufibruderschaften der Gnawa und der Ḥamādša, sowie den Meeresfelsenkulten gibt es enge Verbindungen; heute findet man manche dieser Frauen in den zaouiyas wieder,116 so wie diese Felsen auch früher schon von den Gnawa und den Ḥamādša verehrt wurden.117 Nicht nur am Wasser als einem Ort des Überganges, auch an anderen Grenzen, wo Wildnis und Zivilisation sich berühren, kann man den ğnūn begegnen.

110 Die Gnawa besuchten unter großer Anteilnahme der Gesamtbevölkerung die Felsen von Ras el-Môle traditionellerweise im April, um mit einem Rind, einer Ziege und von Hühnern die ğnūn des Meeres einzubinden, Salmon 1904 S.265. 111 »Eran santones que frecuentaban las mozas [...] en busca de PRETENDIENTES es decir buscar novioy otros venian por indicacion de los que veian el futuro , o hacian ver QUE LO VEIAN [...].« [»Das waren Heiligtümer, zu denen Mädchen auf der Suche nach einem möglichen Partner gingen, also einem festen Freund, und andere kamen auf Geheiß von Hellsehern, oder ließen sie sehen, was sie selbst sahen.«] Feldforschungstagebuch 05.02.2015, Facebookkommunikation. 112 Salmon 1904 S.266-267. Der weisse Hahn gilt als »Dämonenschreck par excellence«. (Nünlist 2015 S. 137). 113 Feldforschungstagebuch 24.05.2015. 114 Lebling 2010, S.169. 115 Salmon 1904 S.264-266; vgl. auch Salmon 1904 S.167. 116 Feldforschungstagebuch 30.01.2015. 117 Salmon 1904 S.264ff.

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Abbildung 13: Der Schrein von Sidi Mimoun

Ziyad erzählt von Freunden, die auf einem Bauernhof arbeiten und nachts die Pflanzen gießen. Manchmal sehen sie eine weiße Frau: Aïsha Qandisha, die mächtigste ğinnīya in Marokko. Da müsse man aufpassen. Wenn man nicht stark genug sei und den Koran nicht rezitiere, dann würde sie von einem Besitz ergreifen. Ein Cousin war nachts auf dem Land, er hat auch gearbeitet, da hat er von hinten einen Schlag auf den Rücken erhalten: ein diable. Seither habe er ein schiefes Auge und einen schiefen Maul. Eine komische Körperhaltung, die sei nicht besser geworden mit der Zeit.118 Neben solch ›ungeplanten‹ Begegnungen werden bestimmte Orte auch zielgerichtet aufgesucht. In Tanger selbst gab es früher einen Ort im Walde zwischen der Stadt und der Atlantikküste, an dem sich die ğnūn versammelten. Es handelt sich um die Reste eines portugiesischen Forts, das sogenannte Rote Haus (Dâr alHamrâ), das eine bedeutsame Rolle bei Heilungsritualen spielte. Nachdem ein Genesender zum ersten Mal an einem rituellen Mal teilnimmt, werden die Reste der Mahlzeit in einer alten Kasserolle den ğnūn ins Dâr al-Hamrâ als Opfergabe dargebracht.119

118 Feldforschungstagebuch 11.02.2014. 119 Salmon 1904, S. 269-272, Westermarck 1968, S. 296.

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AUF

DEM

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Neben Orten sind es Tiere, die als Kontaktpforten zur anderen Welt fungieren können. Insbesondere schwarze Hunde sind des Nachts mitunter keine Hunde mehr, sondern ğnūn.120 Mir selbst wurde dies zum ersten Mal bei meinen Besuchen im Friedhof der anglikanischen Kirche gewahr. Mit dem Kirchenwächter Yassine Khemlichi, der schon an anderer Stelle des Buches vorgestellt wurde, hatte ich mich angefreundet, meine täglichen Besuche machten mich bald zum Freund des Hauses. Schon früh erzählt er mir von gewissen Ängsten, die ihn immer wieder umtreiben: Ob ich auch nachts alleine Angst hätte? Er hätte nachts oft Angst. Ich spreche nicht die Tatsache an, dass er verheiratet ist und seine Frau bei ihm liege, sondern sage: Klar, vor Einbrechern hier in der Stadtmitte. Nein, vor Geistern, davor habe er Angst. Von denen habe er zwar noch keinen gesehen, aber Geister…. die gibt’s schon. Ich sage: the ghosts are inside yourself, und nachts kämen die eben heraus, aber er meint: nein, es seien andere Geister …121 Zu diesem frühen Zeitpunkt meiner Forschung verstehe ich noch nicht, von welchen Geistern Yassine spricht: ich habe als guter westlicher Akademiker noch die Überzeugung, dass er von Ängsten spricht, die in seinem Inneren wurzeln. Er kennt diese psychischen Ängste sehr wohl, allein: von denen redet er nicht. Ein paar Tage später bekommt Yassine Besuch von seinem Freund Bilal (28 Jahre) und ich bin anwesend: Bilal sagt, er sei Salafist – und er beeilt sich sogleich nachzulegen: er habe aber nichts mit Jihad im Sinne des Krieges und diesen Verrückten zu tun, sondern sei ein normaler Salafist. Noch während ich mich frage, was das wohl sein könne, legt er augenzwinkernd nach: keine Angst, ich bombe dich nicht in die Luft! Lalla, die Hündin von Yassine, rennt plötzlich um die Ecke, und sie kommt schwanzwedelnd auf Bilal und mich zugehechelt. Bilal ist düpiert, er versucht grimmig die Kette, die Lalla hinter sich her zieht, zu fassen und an einer Bank anzubinden, aber es gelingt ihm nicht. Lalla springt an mir hoch und will spielen und gestreichelt werden. Bilal meint, die Hündin sei schmutzig.

120 Über schwarze Hunde als Dschinnen siehe Badeen & Krawietz (2002 S.41) über Ākām al-marğān fi aḥkām al-ğānn Kapitel 7. Schwarze Hunde machen laut Mohammed das Gebet per se für ungültig (2002 S.45). 121 Feldforschungstagebuch 24.03.2013.

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Jedenfalls sage der Koran, man müsse nach dem Berühren eines Hundes die Hände sieben Mal am Boden reinigen, und schon nimmt er seine Hände, reibt sie sich mit Erde sauber und wäscht sie danach mit Wasser aus dem Wasserhahn ab, aus dem Yassine sonst das Gießwasser für die Pflanzen des Friedhofes gewinnt. Ich sage, für einen gläubigen Muslim müsse es dann eine Tortur sein, wenn er zuhause einen Hund habe. Bilal sagt, mit Katzen habe man das Problem nicht, die seinen nicht dirty.122 Zu diesem Zeitpunkt glaube ich, dass Hunde schmutzig seien, weil die Viecher hier wenig Pflege erfahren und allerlei Ungeziefer im Fell krabbelt. Merkwürdig aber finde ich die mir ritualhaft vorkommende Reinigung der Hände. Mit Yassine kommt einen Monat später das Gespräch wieder auf Hunde, dieses Mal in Verbindung mit den Geistern, vor denen er sich so fürchtet: Beim Verlassen des Friedhofes sprechen wir über seine Hunde – sein Hund Sweetie ist schwarz und Yassine meint, nachts sind Teufelsgeister (demonios) oftmals in einem schwarzen Hund. In Hunden, Katzen und Ziegen. Da sind die Geister drin. Ich könne jeden auf der Straße fragen, das würde man mir bestätigen. Jetzt, während er mir davon erzählt, habe er eine Gänsehaut vor Angst. Ich sehe seine angstvollen Augen. Yassine sagt, dass er nicht gerne alleine im Haus ist oder bei der Arbeit, weil er sich unwohl (nervioso) fühlt. Ich frage, ob es wegen »des Gesindels aus dem Süden« sei, das hier manchmal nachts über die Friedhofsmauern klettere, und er meint: nein, wegen der Geister (ghosts). Manchmal bekomme er Gänsehaut, wegen der Geister. So gehe es vielen Leuten, die sich auf muslimischen Friedhöfen aufhielten, wegen der Totengeister. Hier, im christlichen Friedhof, habe er vor den Totengeistern weniger Angst, denn das seien ja tote Christen. Er meint aber nicht die Totengeister, sondern demons (Teufel), die gebe es, davor habe er Angst. Gesehen habe er aber noch keinen. In Europa würde man ja nicht an Geister glauben, meint er. Ich sage, auch Europäer hätten oftmals Angst im Dunkeln und vorm Unheimlichen, und auch Europäer hätten an manchen Orten Gänsehaut vor Grusel – aber man würde das nicht Geistern zusprechen, sondern seiner eigenen Seelenlage. Kinder hätten in Europa auch oft Angst vor Geistern.123

122 Feldforschungstagebuch 29.03.2013. 123 Feldforschungstagebuch 22.04.2013.

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Die Interaktion Hund-Mensch verläuft hier anders als in Europa, denke ich zu diesem Zeitpunkt der Forschung.124 Die angstbesetzte Bedeutung von Hunden nehme ich trotz meiner Feldnotizen zu diesem Zeitpunkt nur am Rande und als Kuriosität wahr – ich bringe sie nicht mit den ğnūn und mit spirituellen Fragen in Verbindung. Natürlich habe ich bei meinen Besuchen bei Yassine beobachtet, dass er und seine Familie mit den Hunden nicht spielen, sie nicht berühren oder gar streicheln – und die Tiere daher auch nichts damit anzufangen wissen, wenn man sie etwa mit einem Stöckchen lockt, so wie ich das anfangs vergeblich versuchte. Auch mit Naschzeug, wie es mein tierlieber Partner Lutz bei seinem Besuch in Tanger gekauft hatte um die Hunde zu betuddeln, wissen die Viecher erst einmal nichts anzufangen. Daran sind sie nicht gewöhnt. Yassines Familie findet es befremdlich, dass ich die Tiere nach und nach dazu bringe, sich von mir kraulen zu lassen. Yassine und seine Familie betrachten Lutz und mich eben als Christen und Fremde: so sind sie halt, die Deutschen, naiv wie Kinder und wohlwollend, sie glauben nicht an das Offensichtliche,125 nämlich an ğnūn. Wenn sich ein Einheimischer so verhalten würde wie wir, dann gälte er als verrückt. 126 Ich muss an die alte Bettlerin Malika denken, die selbst kaum etwas zu essen hat und häufig bei Yassine im Garten sitzt. Aber sie bringt den Hunden immer Abfälle zum Fressen mit und glaubt, den Hunden Gutes angedeihen zu lassen, indem sie sie so brutal liebkost, so dass die Tiere vor Schmerz winseln. Malika sei verrückt, wie mir alle hier im Friedhof bestätigen. Der Friedhof erwies sich als ein ausgezeichneter Ort für die Feldforschung. Außer Yassine und seiner Familie, den Kirchenbesuchern und Touristen kommen die unterschiedlichsten Einheimischen hier vorbei: Bilal und Malika haben wir schon kennengelernt. Mit Charlotte betritt eine weitere – mittlerweile Einheimische – Besucherin das Geviert und mit ihr eine weitere Stimme des Westens, zumal des tierfreundlichen und pragmatischen.

124 Feldforschungstagebuch 18.05.2013. 125 Vgl. Vaidon 1977, S. 11: »[…] for most Muslims of Tanja […] the world of spirits that constantly surrounds them is downright frightening and at all times to be taken into consideration.« 126 Der Topos des seelen-/verstandeslosen Europäers/Weissen ist häufig Bestandteil indigener Weltbilder. Vgl. auch Münzels (2015 S.35) Erfahrung bei den Makú, wo man die Weißen für Narren hält und ihnen nicht nur die Intelligenz abspricht, sondern auch den Besitz einer Seele. Don Kulick berichtete mir, dass bei den Gapun in Neuguinea die Weissen nicht einmal als Lebende gelten (persönliche Kommunikation, 2014).

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Abbildung 14: mein Freund Lutz und ich mit einem der Welpen in St. Andrew’s Charlotte lebt in Dradeb, ihr Vater war Amerikaner und die Mutter Französin. Nun sitzt sie mit Yassine und mir auf der Bank vor der Kirche und krault der Hündin Lalla den Hals. Charlotte ist wahrscheinlich in meinem Alter und wir reden über Hunde. Sie selbst hat Jahrelang bei der amerikanischen Army als Köchin gedient, u.a. in Zweibrücken. Jetzt ist sie Hundetrainerin, hat sich den Hunden von Tanger verschrieben. Die Marokkaner würden lieblos mit Hunden umgehen: sie habe Kinder gesehen, die einen Hund am Hinterbein in die Luft halten und dabei lachen .127 Schwer sei es, raunt sie mir an einem anderen Tag zu, als Yassine mit Touristen in der Kirche verschwindet, den Marokkanern beizubringen, die Tiere gut zu behandeln. Die Marokkaner würden Hunde schrecklich behandeln. Yassine etwa bindet Lalla an einem Baum an, ihre Kette wird kürzer und kürzer, weil das Tier immer um den Baum herumrennt, und dann japst das arme Tier vor Atemnot. Charlotte klagt darüber, wie schwer es sei, Yassine dazu zu bringen, das Tier auf andere Weise anzubinden – man müsste einen Hering in den Boden hauen und daran die Kette befestigen. So dass Lalla einen größeren Auslauf hat.128

127 Feldforschungstagebuch 18.05.2013. 128 Feldforschungstagebuch 29.05.2013.

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Charlotte verharrt im westlichen Verständnis von Hunden; sie spricht weder in dieser Szene noch sonst jemals von ğnūn. Für sie sind »die Marokkaner«, was den Umgang mit Tieren betrifft, einfach nur brutal. Wahrscheinlich, so sagt sie zu einem anderen Zeitpunkt, komme das von ihrem ländlichen Hintergrund: Tiere haben Funktionen zu erfüllen, sie sind keine Spielgefährten oder gar Familienangehörige wie im Westen. Die Welt der ğnūn betrat ich also erstmals auf dem anglikanischen Friedhof im Zentrum von Tanger, ohne es zu bemerken. Dass ich ihr im Verlauf meiner Feldforschung auch an anderen Stellen begegnen würde, war mir aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine weithin anerkannte Welt handeln würde, klar – auch wenn ich zugegebenermaßen nicht dachte, dass ich in dieser europäischsten Stadt Afrikas so deutlich damit in Berührung kommen würde. Etwa im Laden von Ba Blani, dem Gnawa-Meister und Instrumentenbauer, dessen Geschäft ich anfangs betrat, weil mich die Paraphernalien in den Schaufenstern so sehr faszinierten: mit Muscheln besetzte Kappen, Musikinstrumente, merkwürdige Gerätschaften… Die Gnawi sind die wohl bekannteste Sufibruderschaft Marokkos. Mit Ba Blani, dem ich die Fertigung einer Gimbri, eines Saiteninstrumentes, in Auftrag gab, entwickelte sich eine Freundschaft; wöchentlich besuchte ich ihn in seinem kleinen Laden. Wenn Ba Blani von den Geistern (ğnūn) spricht, dann nennt er sie mir gegenüber auf Italienisch »diabolos«. Ba Blani hatte die italienische Schule in Tanger besucht. Gerade in der Nacht seien Tiere – er nennt Spinnen, Hunde und Katzen explizit – nicht immer bloß Tiere sondern sie können auch diabolos sein. Häufig ist es so, dass man ein Tier – einen Hund oder eine Katze – am Tag nicht gut behandelt, es wegscheucht129 oder wenn man beim Metzger war und ein Vieh einen hungrig anstarrt, ihm nichts abgibt. Dann komme das Tier des Nachts und würde den Menschen zur Rede stellen und gegebenenfalls nicht schlafen lassen – je nachdem. Den guten Menschen, die sich Tieren gegenüber wohl verhalten haben, wünschten sie ein langes Leben; die anderen bekämen einen schlechten Schlaf, ein Hinkebein oder ein schiefes Maul. Viele Menschen mit solchen Symptomen kämen zur Zaouia, dem Heiligtum und Ritualort seiner Bruderschaft, den Gnawa, oder der Bruderschaft der Ḥamādša, und sie würden dann dementsprechend behandelt: weil das Tier, das sie geschlagen, verscheucht oder weggestoßen haben, in Wirklichkeit kein Tier war, sondern ein diabolo.

129 Vgl. auch Westermarck 1933 S.6.

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Abbildung 15: Ortsteil Nouinouich: Ziegen oder ğnūn? Ba Blani bemüht zur weiteren Illustration eine Geschichte über die Ziege und den armen Bergbewohner: dieser findet eine herrenlose Ziege am Wegesrand, und weil gerade 3Aid el Kebir, das Opferfest, vor der Tür steht, freut er sich über den unverhofften Glücksfall, ein Schlachttier gefunden zu haben. Er will das Tier mitnehmen, aber es bleibt störrisch stehen und lässt sich auch mit einer Schnur nicht ziehen. Dann nimmt er es auf die Schulter und versucht es zu tragen; das Tier wiegt vielleicht 30 Kilo, wiegt aber bei jedem Schritt mehr und mehr, bis es schließlich 100 Kilo wiegt und nicht mehr zu tragen ist. Dann stellt er die Ziege ab und versucht mit ihr zu reden. »Komm doch mit, ich brauche dich für meine Kinder.« Die Ziege merkt, dass er mit ihr redet und schaut ihn an. Und macht nur zweimal määäh, määäh. Als der Mann kurz wegguckt und dann wieder hin, ist die Ziege spurlos verschwunden. Warum? Weil es keine Ziege war, sondern ein diabolo! Sowas passiere häufig. Ich frage Ba Blani, ob denn jedes dieser Tiere ein diabolo sei – insbesondere nachts. Nein, natürlich nicht, was für ein Unsinn! Manchmal ist das Tier einfach nur ein Tier. Wie unterscheidet man denn ein Tier von einem diabolo? Er meint, die Ziege sei nicht mitgekommen, deshalb war sie ein diabolo; wäre sie mitgekommen, dann wäre sie nur eine Ziege gewesen (d.h.: hätte sie ihre Aufgabe im göttlichen Plan erfüllt – nämlich Opfertier zu sein – dann wäre sie ein Tier gewesen; aber sie hatte einen eigenen Willen = diabolo).

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Das heißt, die göttliche Ordnung verträgt keinen eigenen Willen, dieser stört die göttliche Ordnung eher. Kein Wunder, dass die Ziege ein diabolo ist.130 Ziegen und Hunde131 sind nicht, so wie ich, Lutz und Charlotte es als selbstverständlich erachten – ausschließlich das eine: Tiere. Sie sind Ziegen oder Hunde – aber sie können darüber hinaus auch Träger von ğnūn sein.132 Interessant ist, dass sich alle meine Informanten – nicht nur die hier angeführten – darüber einig sind, dass Hunde und Ziegen teuflisch sein können. Bei Katzen dagegen herrscht keine Übereinstimmung: für den freundlichen und sanften Salafisten Bilal, der den Koran sehr gut kennt, gehören Katzen eindeutig nicht in die Kategorie der teuflischen Tiere; für den Friedhofwächter Yassine und den Gnawi Ba Blani dagegen schon.133 Der eigene Wille… es ist bezeichnend, dass in dieser Form des Volksislam der eigene Wille etwas Teuflisches ist. Denn eigentlich gilt es – al-ḥamdu li-Llāh! – sich dem Willen des Herrn zu unterwerfen. Eigener Wille muss daher teuflischen Ursprunges sein. Denn auch Menschen können, wie wir aus der Geschichte über Ziyads Frau wissen, zum Werkzeug der ğnūn werden, nicht nur Tiere. Denn ğnūn versuchen, Menschen heimzusuchen oder von ihnen Besitz zu ergreifen. Im Glauben an den Bösen Blick (3Ain – das Auge/der böse Blick) kommen Mensch und ğnūn gleichermaßen als Verursacher von Krankheiten in Frage: Yassine meint, hier dürfe man Kinderkleidung nicht dem Sternenhimmel aussetzen, das sei schädlich. Denn Sterne seien wie Augen. Und man müsse Kinderkleidung vor dem Maghrib-Gebet kurz nach Sonnenuntergang, dem vierten Ruf des Muezzins (es gibt fünf Rufe) herein holen, sonst gebe es Ärger. Ich erzähle, dass meine württembergische Großmutter auch gesagt habe, dass man die Windeln der Kinder nicht draußen aufhängen dürfe, wegen der Geister. So modern sei Europa ja nun auch nicht, sage ich. Das Verbrennen von Bronze mit charcoal (Kohle) banne den bösen Blick, meint Yassine. Das würde dann kochen und viele Augen machen (Blasen schlagen), so würde auch hier die Hexerei gebannt. Manchmal, wenn er ›nervioso‹ sei, dann würde seine Mutter sagen, es sei das 3Ain, und man müsse etwas dagegen tun. Man müsse irgendwelche Substanzen, von denen Yassine den Namen nicht kennt, mit charcoal verbrennen. Rote 130 Feldforschungstagebuch 17.06.2013. 131 Zusätzlich gelten auch Schlangen oft als mögliche Manifestationen der Geister. Rosenbaum 2014 S.179. 132 Vgl. auch Nünlist (2015 S. 114ff) der eine Reihe von Tieren auflistet, deren Form die Dschinnen annehmen können. 133 Auch von Westermarck (1933 S.6, 20; 1968 S.268) sind sie bezeugt.

K APITEL 3 – Ü BER D SCHINNEN

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Substanzen, die gäbe es in zwei Läden auf dem Markt vor seiner Kirche. Die Substanzen kämen aus Saudi Arabien, man bringe sie von der Pilgerreise nach Mekka (Hajj) mit. Ob er denn solche Rituale selber durchführe? Nein, aber seine Mutter, immer wenn 3Ain an etwas Schuld sei. Man verbrenne die Substanzen mit charcoal und der Aschenrauch (zwahda) vertreibe den bösen Blick. Dann sei alles wieder gut.134 In der ethnologischen Literatur über den Mittelmeerraum nimmt der Böse Blick eine zentrale Rolle als Konstituente mediterraner Kulturmuster ein.135 Es ist hier nicht der Platz, die Komplexität des Bösen Blickes im Mittelmeerraum zu diskutieren. An dieser Stelle ist lediglich die Feststellung bedeutsam, dass in der Literatur der Böse Blick vornehmlich als Ausdruck der – ökonomischen, sexuellen oder anders gelagerten – menschlichen Missgunst und der Begierde in Gesellschaften, in denen die soziale Verzahnung so eng ist, dass diese Gefühle nicht offen sondern eben vor allem indirekt durch den Blick ausgedrückt werden, interpretiert wird.136 Yassines Beispiel wurde exemplarisch für weitere Beispiele aus meiner Forschung angeführt, es gibt Auskunft darüber, dass es im Volksglauben nicht nur Menschen sind, die den Bösen Blick ausüben, sondern mitunter auch die ğnūn selbst. Bislang haben wir erfahren, dass vor allem Handlungsanweisungen, Gebote, Verbote und die religiösen Rechtsspezialisten (fqih) den Umgang mit den Geistern regeln sollen. Wenn Menschen durch Heimsuchung, Besessenheit oder den bösen Blick krank werden, können Rituale der Heilung und der Heiligung durchgeführt werden – entweder durch den Besuch der fqih (wie im Falle von Ziyads Frau und Nawfels Schwester), durch das Durchführen magischer Praktiken (wie im Falle von Ferdaouss und von Yassines Mutter); oder – wie in der Folge dargestellt – durch das Aufsuchen einer Sufi-Bruderschaft, die die Kranken in Ritualen bearbeitet. Soweit meine Vorerfahrungen im ersten Drittel der Forschung. Ich sollte jedoch relativ unerwartet tiefer in diese Welt der ğnūn eintreten. Im Nachhinein muss ich sagen: eine tiefergehende Begegnung und ein Eintreten waren unvermeidlich. Dazu muss ich erwähnen, dass mich spirituelle Welten weder persönlich noch beruflich bislang sonderlich berührten. Politik, soziale Gesellungsformen, Korruption, Geschlecht und Umbrüche – das war es, was mich bislang interessierte. Das sollte sich bald ändern. 134 Feldforschungstagebuch 27.03.2013. 135 Vgl. etwa Westermarck 1968; Boissevain 1979; Gilmore 1982; Davis 1997, Hauschild et al 2007; Hauschild 2008. 136 So Hauschild 2008 S.88, 89 für Süditalien.

Kapitel 4 – Die Sufis, Wahn und Wirklichkeit

V ORBEMERKUNG Der Gnawi Ba Blani erzählt: Bei dem Ritual in der großen Nacht (lila) der Gnawa-Bruderschaft wird einer Ziege der Hals durchgeschnitten. Der muqaddem hält die Ziege im Arm und richtet sie einmal nach jeder Himmelsrichtung aus. Dann hält er den Hals der Ziege fest und öffnet ihren Mund. Die Kranken (los malos) spucken dann in den Schlund der Ziege. Anschließend legt er die Ziege auf den Boden, den Hals noch immer gestreckt, und schneidet ihr mit einem langen Messer in einem Schnitt den Hals durch. Mit dem Messer, an dem sich das Ziegenblut befindet, geht er zu den Kranken (malos) und schneidet ihnen an 3, 4 Stellen (Arm, Oberarm, Schulter, Hals) in die Haut, so dass sich etwas vom Ziegenblut mit den Wunden vermischt. Schließlich schickt er die Kranken weg. Ein kleines Ritual kann mit einem Huhn durchgeführt werden: wenn ein Kranker keine Zeit für das Ritual hat, gibt er dem muqaddem das Geld, um ein Huhn zu kaufen. Der führt das Ritual alleine für den Kranken durch, ohne dass dieser anwesend wäre und ohne dass der Kranke mit Blut bestrichen wird; das Bestreichen des Kranken mit Blut ist nur beim Ritual der großen Nacht wichtig. Ein richtiger muqaddem muss wissen, wo man hält, schneidet und ritzt: der Dämon Sidi Hammou muss anwesend sein, er ist ganz verrückt nach Blut. Wenn sich die Adepten selber ritzen, dann machten es heutzutage viele Leute falsch, sie schneiden an der Unterseite des Armes, aber das ist falsch, es ist auch gefährlich, man könnte verbluten. Stattdessen muss am Armrücken geschnitten werden, wo sich keine Adern befinden.1

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Feldforschungstagebuch 16.07.2103.

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Ethnologen, die sich mit dem Islam beschäftigen, wenden sich – soll man Vansco2 glauben – mit Vorliebe sufistischen Gruppen wie Ba Blanis Gnawa, den Aissawa oder den Ḥamādša zu, und er vermutet, dass dies daran liege, dass die Praktiken der Sufis exotischer für westliche Ethnologen seien als die des ›mundanen‹ Islam. Burke III3 dagegen führt das Interesse am Sufismus für Nordafrika auf das französische Engagement im 19. und 20. Jahrhundert zurück: man wandte sich in Algerien den Sufis zu, weil man in ihnen eine Gefahr für die Kolonialherrschaft sah oder aber – in Marokko – weil sie das System des frankokolonialen makhzen zu stützten geeignet erschienen. In meinem Fall war es eher ein Zufall, dass ich zu den Ḥamādša stieß: weder die Arbeiten von Crapanzano noch die meines Kollegen Zillinger hatten mich dazu geführt, und auch kein Nachgespüre romantischer Motivationen. Auch hatte ich mich in meinen bisherigen Forschungen nur am Rande mit Fragen von Trance, Ekstase, Opfern und religiösen Praktiken beschäftigt. Ich kam eher unbeabsichtigt zu dem Thema. Es war mein Dolmetscher Adil, der u.a. den Auftrag hatte, mich auf Dinge aufmerksam zu machen, die für meine Forschung interessant sein könnten, die aber nicht mit den Tätigkeiten zu tun hatten, um die ich mich eigentlich kümmerte: der Transformation der Stadt – insbesondere des Hafens – im Zuge der urbanistischen Erneuerung. Adil erzählt eines Tages von seinem Freund Abdeladim, der häufig einen Heiligenschrein (Zaouia) besuche, wo man der ğinnīya Aïsha Qandisha huldige und den viele Prostituierte und Homosexuelle besuchten. Das könne doch interessant sein, meinte er, zumal ich mich immer nur mit – wie er fand – langweiligen Dingen wie mit dem Stadtumbauprojekt TangerMétropole und dem Hafen beschäftigen würde. Dort könne man eine gute Zeit haben. Er meinte, es täte mir gut, mich einmal »gehen zu lassen«. So kam ich zur Sufibruderschaft der Ḥamādša. Es sollte durch den Kontext, in dem diese Bruderschaft bislang erwähnt wurde, deutlich geworden sein, dass es sich nicht um eine ›reine‹ Sufigemeinschaft im Sinne einer ausschließlich koranischen Beziehung des Einzelnen zu Gott handelt; vielmehr stellen im spezifischen Sufismus der Ḥamādša, aber auch der Aissawa,4 die Ekstase, die Opfergaben, die Transgression über die Grenze Mensch-Tier oder Mann-Frau, sowie vor allem der Glauben an Aïsha Qandisha und andere Geistwesen, unumgehbare und zentrale Bestandteile dar. Adil nimmt mich mit in die Medina und in das Heiligtum (Zaouia) des Sidi Ali Ben Hamdouch in der belebten Gasse Rue Gzenaya, unweit des Stadttores Bab Teatro (früher Bâb et-Tourkia) und des Café Colón, wo Bertolucchi eine 2 3 4

Vansco 2005 S.16. Burke III 2014 S. 170f. Vgl. Boncourt 1978 S.32.

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Szene seines Filmes Sheltering Sky mit Paul Bowles und John Malkovich gedreht hat. Adil hatte Hamid (Mohammed) Zhar, den Hausherren und Ritualmeister (muqaddem) des Heiligtums angerufen, der uns vor der Zaouia begrüßt und die Tür zum Heiligtum öffnet.5

Abbildung 16: Hamid Zhar, der muqaddem der Ḥamādša im Hauptsaal der Zaouia, vor der Musikernische Das Gebäude der Zaouia ist auf beiden Seiten von Läden (Sportkleidung, traditionelle Kleidung für Touristen, Lebensmittel, Berberapotheke, Saftstand etc.) gerahmt, gegenüber liegen Ladengeschäfte und Wohnhäuser. In der Gasse freunde ich mich mit der Zeit mit den jungen Verkäufern Manzoor und Aissam an, die zwar den Glauben an Aïsha Qandisha nicht sonderlich ernst nehmen, den Ḥamādša jedoch aus nachbarschaftlicher Nähe verbunden sind. Man tritt durch eine Tür in die Zaouia, von der aus nach links eine schmale Wendeltreppe nach oben geht und eine mehrstufige Treppe nach unten in den Innenraum, der von mehreren Nischen umrahmt wird. Die Schwelle zwischen Treppenabsatz und Innenraum wird zusätzlich durch metallene Torpfosten markiert. Bis hierhin dürfen Gäste, bis der muqaddem das Eintreten erlaubt. Hier werden später – während der Rituale – die Zuschauer aus der Nachbarschaft stehen, die aus 5

Feldforschungstagebuch 29.05.2013.

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Neugier das Geschehen im Hauptsaal bestaunen. Im Zentrum des Innenraumes befindet sich der eigentliche Hauptsaal, links davon eine kaum abgetrennte große Nische, die für die Musiker und einige der Bruderschaft nahestehende Adepten und Adeptinnen vorgesehen ist. Zwischen Musikernische und Hauptsaal befindet sich eine Grabnische,6 dort legen Besucher ihre Schuhe und ihre Gaben ab, dort wird auch das rituelle Räuchergefäß platziert, in dem harmel (Samen der Bergoder Steppenraute) und chebbah (Alaune) verbrannt werden. Der Musikernische gegenüber auf der anderen Seite des Hauptsaals liegt eine große Nische, in der das Heilige Wasser der Aïsha in Fässern lagert, sowie eine kaminartige Wandnische, in der die Gläubigen Kerzen für Aïsha stellen (die Feuerhöhle der Aïsha). Geht man die Wendeltreppe links vom Tor nach oben, gelangt man auf das Dach der Zaouia. Gekrönt wird das Dach von einem viereckigen Aufbau ohne Boden, so dass der Hauptsaal sich dadurch nach oben öffnet. An jeder Ecke des Aufbaus ein Fenster, durch das man in den Hauptsaal hinunter schauen kann. Auf dem Dach selbst befindet sich noch ein separater Raum, in dem sich die Musiker (allesamt fuqra) vor dem Abhalten der Rituale entspannen. Auch eine Toilette befindet sich auf dem Dach. Das Tor zur Zaouia bleibt während unseres Besuches geöffnet, ich habe dieses Tor bislang noch nie offen gesehen – obwohl ich täglich durch die Rue Gzenaya gehe – was auf meine bisherige Unachtsamkeit hindeuten kann. Wir setzen uns – natürlich ohne Schuhe – in die Musikernische auf den Boden und ich stelle mich vor. Das Gespräch wird von Adil übersetzt und streckenweise geht ihre Unterhaltung über das Gefragte hinaus. Hamid, der muqaddem, redet Darija mit Adil, manchmal mit mir Darija, Spanisch oder Französisch. Zuerst erzählt er die Geschichte von Sidi Ali ben Hamdouch, dem Gründer der Bruderschaft, der am Ende des XVII und zu Beginn des XVIII Jahrhunderts lebte.7 Das Heiligtum der Aïsha gewidmet, der Name Qandisha fällt nicht. Hamids Erzählung entspricht folgender Version: »Aïsha Qandisha ist eine außerordentliche Dämonin, die von den Gehilfen Sidi Alis, dem Heiligen Sidi Ahmad Dgugi, von einer Reise in den Sudan mitgebracht wurde und die besonders mit den Trancezuständen, die in den Ritualen der Bruderschaft evoziert werden, in 8

Verbindung gebracht wird.«

6 7 8

Die Zaouia ist also auch eine Qobba, ein Heiligengrab. Ralet 2005. Zillinger 2013 S.47.

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Crapanzano9 schreibt, dass es zwei Traditionen bei den Ḥamdūši gibt: die der Anhänger (fuqra) und Liebhaber (muḥibbim) von Sidi Ali (Alalaiyīn) und jene von Sidi Ahmad Dgugi (Dġuġiyīn). Die Rituale der beiden Gruppen unterscheiden sich leicht, so schneiden oder zerhacken sich die Dġuġiyīn die eigenen Köpfe mit Messern oder Beilen bis das Blut fließt. In Tanger macht dies heute allerdings nur der muqaddem selbst. Die Bruderschaft in Tanger integriert jedoch sowohl die Alalaiyīn als auch die Dġuġiyīn. Sidi Ali werden übernatürliche Wunder, sogenannte Keramat (OWWW ‫ا‬5X), wie das Anhalten des Laufes der Sonne zugeschrieben.10 Dämonen wie Aïsha müssen bearbeitet werden, wenn sie die Menschen befallen und sie in Verwirrung stürzen. Während die Vertreter der herrschenden malikitischen Rechtsschule, die fqih, dies in Form der Austreibung der Dämonen mit Koranrezitationen vollführen, arbeiten die Ḥamdūši mit Ritualen an der Befriedung der Dämonen: mit Musik und Bewegungsabläufen, die dazu führen sollen, dass sich die Dämonen offenbaren. Am 18.02.2014 schreibt dazu Khaled, der junge Ḥamdūši, mit dem ich über Facebook verbunden bin: D.H.: dans les hmacha, tu est dans la Tradition de sidi ali? [Bist du in der Tradition von Sidi Ali?] Khaled: oui [Ja] D.H.: et dgugiyin? [Und der dgugiyin?] Khaled: ??? [Wie bitte?] D.H.: je pense que il y a 2 traditions: allaliyin et dgugiyin [Ich denke es gibt zwei Traditionen: die allaliyin und die dgugiyin] Khaled: c quoi [Was ist das?] D.H.: dgugiyin sont plus pour le rituel avec le sang et les couteaux, les allaliyin pas. c est pas vrai? [Die dgugiyin machen die Rituale eher mit Blut und den Messern, die allaliyin nicht. Stimmt das nicht?] Khaled: lais vrais dgugiyin il ya pas le sang et t ou sa [Die echten dgugiyin machen nicht das mit dem Blut und solche Sachen] D.H.: oh ok. j ai pense ca [Ok. Ich dachte bloss] Khaled: dans lais hmadcha ai t ou lais sou fik il ya pas sa [Bei den Ḥamādša und allen Sufis gibts sowas nicht] D.H.: mais il y a les couteaux, non? [Aber es gibt doch die Messer, oder?] Khaled: oui il fand travallied avec eu lais dyable [Ja, wenn sie mit den Geistern kämpfen]

9 Crapanzano 1981. 10 Maréchal/Dassetto 2014 S.12.

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Khaled kann mit den Bezeichnungen der beiden tariquat [Pfade] der Ḥamādša – allaliyin et dgugiyin – vorerst nichts anfangen (c quoi). Erst als ich den Unterschied einfüge, dass die Dġuġiyīn sich im Ritual mit Messern Wunden zufügen, um böses Blut aus dem Körper entweichen zu lassen,11 meint Khaled, wahre Dġuġiyīn würden das mit den Messern nicht machen. Mit den Messern würden sie lediglich gegen die Teufel kämpfen (il fand travallied avec eu lais dyable). Der muqaddem Mohammed Zhar wiederum neigt sich nach vorne und entblößt mir seinen bloßen Schädel: am Kopf zwischen dem Wirbel und der Schädelspitze sind Schnittnarben. Er sei der Einzige in der Bruderschaft in Tanger, der sich vom schlechten Blut dadurch befreie, dass er sich mit dem Messer den Schädel traktiere. Oder mit seinem Schädel einen Tontopf zerschlage. Richtige muqaddem der Bruderschaft würden das machen, auch gute Anhänger. Zhar erzählt, dass es ihn als Kind beeindruckt habe, so etwas bei den alten Ḥamdūši zu sehen: wie sie sich zum Bluten brächten und hinterher wie neu geboren seien. Er unterscheidet schwarzes von hellem Blut, und wenn das schwarze Blut entweiche, dann sei das gut. Es gilt als besonders von den Dämonen belastet. Er selbst fühle sich schon am Tage nach dem Schneiden ungeheuer stark und erfrischt. Wie die Schröpfköpfe, die seine Mutter und seine Großmutter früher ansetzten. Es sei wie ein Jungbrunnen: die Schnitte befreiten ihn vom alten und heißen Blut, das ihn während der Trance antreibe. Man müsse natürlich wissen, dass man sich nie auf die Stirne schlagen dürfe – das könne gefährlich sein.12 Nicht nur Aïsha wurde »aus dem Süden« nach Marokko gebracht, ebenso andere diablos – der muqaddim Hamid erwähnt Mimoun, Malika und Hammu. Diese verleihen wie auch Aïsha Qandisha den Menschen Begierden. Diese müssen beim Trancekult, der in einem Ritual, das regelmäßig Freitags durchgeführt wird, aus den Körpern der Menschen entweichen; oder man muss sie mit den Menschen versöhnen: die Menschen geraten unter dem Spiel von Instrumenten (das Wort Gaita fällt) in Trance, taumeln und fallen. Dieses Ritual wird Hadra genannt. Hamid sagt, er achte bei der Freitagshadra darauf, dass die in Trance Geratenen nicht unglücklich fallen. Allerdings kann man dennoch fallen und sich Verletzungen zuziehen und bluten. Im Zustand der Trance würde man das aber nicht merken, hinterher täte es auch nicht weh und die Wunde schließe sich schneller als normale Wunden.

11 Crapanzano 1981. 12 Feldforschungstagebuch 29.05.2013, 04.10.2015.

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Er erzählt mir, dass freitags manchmal bis zu 300 Personen am Ritual teilnehmen: Mitglieder (fuqra) und Anhänger (muḥibbim, wörtl. Liebhaber), Männer und Frauen, Alte und Junge, Leute aus dem Viertel und anderen Gegenden Tangers, aber auch von außerhalb, aus Ksar el Kebir, Laraich, Asilah und Tetuán. Hamid sagt, die Ḥamādša seien Sufis, das Ritual daher ein Sufiritual, es gebe darin allerdings Bestandteile, die seien nur für Muslime bedeutsam, andere Bestandteile seien für alle Menschen, unabhängig von ihrer Religion, von Bedeutung. Eine andere Möglichkeit des Umganges mit Aïsha Qandisha ist das Beibringen von Opfergaben. Hamid zeigt Dinge, die Aïsha Qandisha begehrt und die ihr mit ins Heiligtum gebracht wurden. Während unseres Gespräches kommen zwei ältere Frauen herein und bringen solche Geschenke, die er uns zeigt: Parfum, Seife, Milch, getrocknete Datteln und Feigen. Sie überreichen die Opfergaben, dabei berühren die die Wände der Nische, in der sie die Gaben abstellen (es befinden sich zwei Gräber darin). Dann wenden sie sich der kaminartigen Wandnische zu, zünden dort eine Kerze für Aïsha Qandisha an – da sie kein Feuerzeug haben, wirft ihnen Hamid das Feuerzeug zu. Nach dem Anzünden der Kerze waschen sie sich die Hände. Ich frage,13 ob denn die Rituale heute auch per Mobiltelefon zu den Exilmarokkanern nach Belgien und Holland etwa übertragen würden, und er bejaht. Manchmal bitten die Anrufer, eine ganz bestimmte Melodie (rīḥ) für sie zu spielen, das werde dann auch gemacht und eben mit den Handys übertragen. Hamid ist seit 1971 bei den Ḥamādša in der Zaouia, seit etwa 1990 leitet er die Gemeinschaft. Wie er dazu kam? Nicht durch seine Familie, die hatte damit nichts zu tun. Er sei sogar mit Warnungen vor den Ḥamdūši aufgewachsen: da gehe man nicht hin! Er hatte einen Schulkameraden, dessen Vater war der muqaddem, und durch den wurde er angelernt. Er habe die Schule abgebrochen, um sich ganz der Zaouia zu widmen. Auch seine eigenen Kinder würde er anlernen, so dass die Zaouia in der Familie bleibt. Hamid, so werde ich im Laufe der Zeit erfahren, hat 5 Söhne und 2 Töchter aus der ersten Ehe mit seiner vor 5 Jahren verstorbenen Frau, die er sehr geliebt hatte. Mit denen lebte er in der Medina, in einem Haus im Viertel Jnan Kaptan. Allerdings ist nur sein ältester Sohn Said in der Bruderschaft aktiv. Nachdem er nach dem Tod seiner Frau eine zweite Frau genommen hatte, kam es zu Zerwürfnissen zwischen den Kindern und der neuen Frau, so dass er für zwei Jahre in das Außenviertel Char Bendiban zog. Dort wurde seine dritte Tochter geboren. Mittlerweile hat man sich wieder zusammengefunden, er lebt nun mit einigen seiner Kinder und der neuen Frau im Haus in Jnan Kaptan. Von dort braucht er 13 Vgl. Zillinger 2013.

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nur 5 Minuten zur Zaouia, die er mit Leidenschaft leitet, und in sein Lieblingscafé am Platz Seqaya Jdida, wo er tagsüber oft zu finden ist. Ich frage, ob sich in den 40 Jahren seiner Arbeit die jungen Leute, die zum Ritual kommen, geändert hätten. Ja, heute kämen mehr Leute aus reiner Neugierde und nicht, weil sie daran glaubten. Früher sei das anders gewesen. Ob ich an einem Ritual teilnehmen könne? Klar, ich solle doch am Freitag kommen. Das Ritual dauert in der Regel von Sonnenuntergang etwa 2 oder 3 Stunden. Das Ende sei festgelegt, weil viele Gäste von außerhalb kämen und die müssten ja wieder nachhause zurück. Es dauerte Monate bis ich mich vom Dach der Zaouia, von dessen viereckigem Aufbau mit den Fenstern aus ich das Geschehen während der Freitagsrituale beobachten konnte, in den Innenraum hinunter begeben durfte. Ich saß dort oben gewissermaßen an der Schwelle, mir war dieser Platz vom muqaddem zugewiesen worden. So habe ich Trancen, Besessenheit und Exorzismen bei meinen häufigen, sich über Monate von Mai 2013 bis Februar 2014 hinziehenden Besuchen in der Zaouia der Ḥamādša zwar schon bald ›von oben‹, ›von unten‹ und aus der Nähe jedoch erst sehr spät miterlebt.

Abbildung 17: Blick vom Dach in den Innenraum der Zaouia Mein erster Besuch auf dem Dach am 14.06.2013, Feldnotizen: Die Dachterrasse ist sehr schmutzig, der Boden versifft: Knochen, Kötel von irgendeinem Vieh, ein Nagelclipper und Fußnägel so groß wie Klauen, ein halbes Brett, eine leere

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Schachtel Omo-Waschpulver, Gebetsmatten, ein Plastikeimer.14 Hamid (der muqaddem) wechselt mehrmals von oben nach unten. Ich sehe vom Dach aus, wie ein fuqra den Hauptsaal mit einem Tontopf betritt, aus dem heraus es raucht (mbaḥra). Er stellt das Gefäß in die Nische rechts des Eingangs. Es riecht nun stark und der Rauch zieht nach oben. »L’oud [Öl des Adlerholzbaumes], obnit [eau bénite, gesegnetes Wasser], jaoui [Benzoeharz]«, sagt Hamid und zeigt mir weiße Kristalle (chebba/Alaune). Die würden zu Pulver zerstoßen, meint Hamid, und dann angezündet. Unten begeben sich ein paar der Frauen zu dem Topf, stellen sich breitbeinig darüber und fächeln sich den Rauch in Richtung Unterkörper und Gesicht. Hier kommen Frauen hin, zu denen der Arzt sagt, sie hätten nichts. Dann kommen sie zu uns, sagt Hamid. Unten ist der Rauch ausgegangen. Hamid, mittlerweile vom Dach nach unten in den Innenraum gelangt, legt nach und stellt den Topf nun in die Mitte des Nordflügels der Halle. Später werden genau dort die Musiker und Sänger sitzen. 19:15 Uhr, die Musiker gehen langsam nach unten. Um 19:30 Uhr sitzen die Musiker in der Musikernische, es sind elf Männer: der älteste Sohn des muqaddem und Gaitaspieler Said, Oussama, Sidi Hassan, Hamid, der Gaitaspieler aus Ksar el Kebir und sechs Weitere. Hamid klatscht in die Hände und die Musik beginnt, zuerst mit der Rezitation der Gottesnamen (ḏikr), ohne Instrumente. Unten in der Halle sitzen nur Frauen und die Musiker – jedenfalls, soweit ich das erkennen kann. Ich sitze oben am Fenster und zu mir gesellt sich ein dürrer junger Mann, den ich als den jüngeren Sohn von Hamid – Yacin – erkenne. Er reicht mir eine Zigarette. Er raucht ununterbrochen. Er selber sei sehr mit der Zaouia verbunden (muḥibb), aber er sei kein Mitglied (fuqra), meint er. Er redet ausschließlich Dariya, und manches verstehe ich, manches aber nicht. Yacin zwinkert mir zu und fragt nach meiner madame und ob ich bébés hätte. Eine Frau nicht mehr, lüge ich, und leider keine Kinder. Er selbst habe eine kleine Tochter. Wir sitzen eine Weile stumm nebeneinander und schauen nach unten. Ich kann nicht erkennen, wie viele Frauen sich mittlerweile in der Zaouia befinden. Die Musik hat schon begonnen. Während der Rezitation der Gottesnamen (ḏikr), stehen immer wieder Frauen auf und reichen den Musikern oder Hamid Münzen. Plötzlich schreckt Yacin hoch und rennt an das andere Fenster, von dort starrt er in die Halle – ich kann nicht 14 Jamous (2013 S. 191) schreibt, dass der an solch’ heiligen Stellen nicht unübliche Schmutz nicht der Nachlässigkeit der Besucher oder Betreiber geschuldet ist, sondern bewusst herbeigeführt wird, um die ğnūn anzulocken.

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sofort sehen, was er sieht, erst als ich mich zu ihm geselle, sehe ich es: eine Frau ist ›gefallen‹, von Aïsha Qandisha ›geschlagen‹ worden, man hat sie auf den Boden gebettet und sie wird offensichtlich von einer anderen Frau gehalten. In einer zweiten Musikphase beenden einige der Musiker das Musizieren, sie halten sich stattdessen an den Händen und stehen in einer Reihe mit dem Gesicht den anderen Musikern zugewandt und wiegen sich im Takt. Nur noch eine Gaitaflöte spielt. Zwei Frauen aus dem Publikum, Zohra und Khadija, haben sich angeschlossen und halten die Musiker an den Händen. Eine andere Frau, Farida, hüpft zwischen den Musikern und den tanzenden Männern wie ein Gummiball. Sie trägt ein grünes Kopftuch. Nachdem sie sich ausgetobt hat, steht sie direkt vor dem alten Flötisten, atmet tief und beseelt, wirkt ganz ruhig und entrückt. Hamid kontrolliert das Ganze wie ein Dirigent. Er geht immer wieder durch die Menge und schaut, ob nicht noch eine Frau zu zucken beginnt. Er hat einen gekrümmten Stock in der Hand. Dann wieder schließt er sich den Musikern an, indem er eine der Trommeln greift oder tanzt. In den Ruhephasen ist ein alter Mann neben ihm, der unaufhörlich das Wort »Amen« rezitiert. Das macht auch Hamids Sohn Yacin oben neben mir am Fenster, nach seiner x-ten Zigarette. Hamid verlässt den Innenraum und kurz danach ist er oben bei uns auf dem Dach. Er sagt zu mir »Jetzt kommt gleich noch Aïsha Qandisha, pass auf.« Dann geht er wieder hinunter. Gerade jetzt stehen etliche Frauen an der Feuerhöhle der Aïsha.

Manche haben Kerzen in der Hand, die schon brennen, andere haben noch nicht entzündete Kerzen. Ich kann sowohl weiße, als auch rote und grüne sehen. Die roten sind immer mit den grünen gemischt;

Abbildung 18: in der Feuerhöhle der Aïsha Qandisha in der Zaouia

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die weißen stehen etwas abseits, alleine. Viele Frauen strecken den Kopf in die Höhle und plötzlich beginnt eine, die ihren Kopf gerade wieder aus der Feuerhöhle herauszogen hat, in Ektase zu verfallen; sie hat langes, offenes braunes Haar. Mit ihrem Kopf macht sie wilde Pendelbewegungen, sie wird von einer anderen Frau gehalten. Der Kopf im Lichtschein der Kerzen leuchtet. Die Metalltüre der Feuerhöhle ist zwar mit Tüchern abgedeckt – wohl um Stöße der ekstatischen Frauen abzumildern – aber es ist eben noch immer eine Metalltüre. Von meinem Platz sieht es so aus, als ob die Frau sich den Kopf jeden Moment an der Türe anschlagen könnte, was aber nicht geschieht. Hamid eilt herbei, ergreift bestimmend die Frau und legt sie auf den Boden. In dieser Aïshaphase des Rituals tanzen auf einmal viele Frauen mit schnell pendelndem Kopf in der Mitte der Halle, die Köpfe in Richtung der Musiker geneigt. Von den ca. zehn Frauen tragen sechs ein Kopftuch, aber vier tragen die langen Haare offen. Aus der Menge der sitzenden Frauen bricht immer wieder eine Frau ›aus‹, indem sie sich zu den Tanzenden gesellt. Zwei Frauen robben auf allen Vieren zur Gruppe. Und auch zwei andere Frauen beobachte ich, die allerdings sitzen bleiben. Die eine ist eine junge Frau, die Einzige in einer Gruppe von Frauen mit züchtigem Kopftuch, die jedoch nach europäischen Maßstäben modern erscheint, mit Jeans, geschminkt und offensichtlich blondiertem Haar. Sie sitzt mit anderen in einer Gruppe und wiegt sich zum Rhythmus. Nie hätte ich vermutet, dass sie ganz plötzlich anfangen würde, ekstatisch zu werden und sich auf dem Boden zu wälzen, nachdem ihrem Körper ein Schrei entfährt. Sie hat 30 Sekunden vorher wie eine normale Zuschauerin ausgesehen, die sich zwar langsam im Rhythmus wiegt, aber nicht zu erkennen gibt, dass sie gleich in Trance geraten könnte. Die andere Frau die mir auffällt, sitzt wie eine Riesin auf dem Boden und fällt ebenfalls plötzlich in Ekstase. »Aïsha«, ist denn auch immer wieder der ergriffene Kommentar des Jungen, der mich am Ärmel zupft und mir ernsthaft zunickt, wenn eine Frau anfängt, genauso ekstatisch zu werden wie die Riesin. Manche Frauen, die nun tanzen, rufen »Aïsha«. Die ekstatischen Frauen werden von anderen Frauen mit Wasser aus Flaschen benetzt. Die Flaschen werden von einer Frau, die neben der Feuerhöhle Platz genommen hat, mit einem Flaschenöffner geöffnet. Es sind kleine grüne Industrieflaschen mit immer demselben Etikett: Orangenblütenwasser. Eine dritte Frau ›fällt‹, sie schreit und zuckt, anders als die anderen. Sie schreit ekstatisch laut, sie muss gehalten werden, weil sie mit Armen und Beinen um sich schlägt. Weitere Frauen sind verzückt und rufen Amen, Amen.

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Jetzt hält es mich nicht mehr auf dem Dach, ich eile die Treppe nach unten und dränge mich an das Tor bei der Schwelle, halte mich dort fest und schaue wie die anderen Männer, die sich dort eingefunden haben, in den Kultraum hinein. Immer dann, wenn eine Frau in Ekstase fällt, schauen die Augen der anderen Frauen und Gäste sofort dorthin. Ich habe den Eindruck, als warteten die anderen Frauen geradezu darauf, dass eine von ihnen in Verzückung gerät. Zuerst denke ich, das habe etwas Gieriges: mal sehen, wen es erwischt. Dann aber sehe ich doch in vielen Gesichtern so etwas wie eine beseelte Zufriedenheit, wenn sie die Verzückung einer Anderen sehen. Bei den Männern als Zuschauern ist das vielleicht etwas anderes: die stehen alle mit mir an der Türschwelle und gucken in den Raum hinein. Ein hagerer Typ grinst mir zu und leckt sich mit der Zunge die Lippen, als die Riesin anfängt zu zucken. Ich glaube zu sehen, dass er das lüstern findet. Das Ritual ist unglaublich. Meine erste Interpretation: hier können sich Frauen in Gesellschaft von Männern ihrer Spannungen entledigen, hier können sie zucken und schreien. Viele Frauen umarmen auch immer wieder nicht nur Geschlechtsgenossinnen, sondern auch die Sänger und Musiker und geben ihnen Küsschen auf die Wangen. Für Islamisten muss das hier der absolute Horror sein: schreiende Frauen und musizierende Männer, Trance und Ekstase.

Abbildung 19: Trancen während einer lila der Ḥamādša Als ich unten an der Türe stehe, um in die Halle hineinzuschauen – so wie alle anderen männlichen Wesen mit Ausnahme der Musiker – kommt Hamid vorbei und fragt mich: »bueno?« und zwinkert mir zu. Ich strahle ihn an, weiß aber

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nicht, was er von mir erwartet. Bislang habe ich v.a. Münzen, manchmal auch Scheine in seine Hand von Hamid wechseln sehen, wenn Frauen nach dem Musikspiel zu den Musikern gehen und ihnen Geld zustecken, nachdem ihnen baraka erteilt wurde. Ich weiß auch nicht, ob ich Hamid während oder nach der Veranstaltung Geld geben soll oder ob es angebracht für mich ist, dies als Zuschauer während des Rituals zu tun. Ich mache es dann doch und gebe ihm 100 Dh für Aïsha. Hamid geht zurück zu den Musikern und hält dann meinen Geldschein hoch, mit dem Gesicht zu mir, er zwinkert. Als die Frauen den Schein sehen, brechen sie in Lobpreisungen, Rufe und Ulullus (barwalá oder youyou) aus. Hamid geht durch die Runde und zeigt den Schein, die Frauen jauchzen. Dann sagt er, dass das von dem deutschen Gast käme, und dass er baraka verdiene. Er schaut herüber zu mir und ich möchte fast im Erdboden versinken vor Scham. Denn die Frauen fangen lauthals an, mich zu preisen und zu loben, man macht Ulullu, manche zwinkern mir zu und lachen mich an. Ich könnte rot werden, wenn ich denn die Neigung dazu hätte, bei Peinlichkeiten tatsächlich rot zu werden. Ich stehe noch immer in der Tür auf der untersten Stufe, also noch im Schutz der Jungs und Männer. Die Jungs um mich herum strahlen mich anerkennend an, man klopft mir auf die Schulter. Soviel? Gut! Nach dem Ritual verlasse ich um 21:30 Uhr die Zaouia. Eine alte Frau klopft mir beim Hinausgehen herzhaft auf die Schulter und grüßt – wohl wegen der Gabe an Aïsha Qandisha i.H.v. 100 Dh. Ich gehe schnell. Fragen kann ich noch das nächste Mal stellen. Da sitze ich nun Freitag für Freitag, meist mit Yacin, dem jüngsten Sohn des muqaddem, der selbst kein ›richtiges‹ Mitglied der Ḥamādša (fuqra) und ebenfalls in die Beobachterrolle gedrängt ist, der mit mir seine Zigaretten teilt und das Geschehen unten kommentiert. Von dort oben sehe ich vor allem die Musiker an ihrem Platz, die Adepten und Adeptinnen sitzen gewissermaßen unter mir, ich kann sie nur sehen, wenn sie sich im Laufe des Rituals den Musikern nähern. Ich sehe von oben Frauen und Männer beim Tanz, manchmal in Trance und manchmal in Ekstase. Zum Schluss der hadra begebe ich mich wie bei meinem ersten Besuch meistens nach unten an die Torschwelle zu den anderen Zuschauern. Bei Trance- und Besessenheitsritualen ganz allgemein und bei den marokkanischen Sufis ganz besonders spielen Musik, rhythmische Bewegungen und Tanz eine wichtige Rolle. Es sind wohl ganz spezielle Instrumente, die den Kontakt mit den Geistwesen herstellen. Der muqaddem erzählt mir bei unserer ersten Begegnung:

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Aïsha Qandisha gibt den Menschen Begierden, und die müssen beim Trancekult, der in einer Hadra regelmäßig freitags durchgeführt wird, aus den Körpern der Menschen entweichen: sie geraten unter dem Spiel von Instrumenten (das Wort Gaita fällt) in Trance, taumeln und fallen.15 Noch aber bin ich lange nicht im Zentrum des Geschehens, bleibe geduldeter Zuschauer, darf an Schwellen wie dem Dachfenster oder der Torschwelle sitzen, aber nicht bei den Mitgliedern oder Adepten der Hamdouchi. Ich erinnere mich an meine erste nahe Beobachtung einer Trance. Es ist Oktober 2013 und wir befinden auf einem privaten Fest der Sufibruderschaft der Ḥamādša. Der Abend hatte jedoch öffentlich begonnen; auf dem Dach des Kulturzentrums Borj el Hajoui hatte ein Kulturabend stattgefunden, bei dem unter anderem verschiedene Sufigruppen aufspielten. Nach baldiger Beendigung der Aufführung – es ist ein besonders kalter Abend – zogen sich die Hamdouchi in Räumlichkeiten des Kulturzentrums zurück, um in privater Atmosphäre weiter zu feiern. Das Fest ist privat, weil nur Anhänger (fuqra) der Bruderschaft anwesend sind, nicht lediglich die, die die Rituale bloß lieben (muḥibbim). Außer mir. So sitze ich nun in dem engen Raum, der früher einmal die Leichenhalle der Stadt gewesen war, beengt mit den fuqra und bin froh, dass man mich mitkommen hieß. Ich beschreibe: Die Musiker spielen die Gaitaflöten. Neben Hanan sitzt Khadija, eine Frau mit dunkelbrauner Haut auf der Türschwelle. Sie hat ein graues Kleid an und ein graues Kopftuch, auf einmal – ich hatte das nicht erwartet – steht sie auf, stützt sich auf meiner Schulter ab und bewegt sich in die Mitte des Raumes zu den Gaitaspielern, die diagonal zu mir am oberen rechten Ende des Raumes sitzen. Sie fängt an mit geschlossenen Augen zu tanzen, nicht sehr ausgelassen, eher wiegend,16 und beginnt sich das Kopftuch abzunehmen, unter dem sich ein weißes Kopftüchlein befindet. Sie tanzt vor den Flötenspielern und dreht sich. Einmal reißt sie die Augen auf und hält sich mit den Händen das entsetzte Gesicht, so als ob sie etwas Schreckliches gesehen hätte.

15 Feldforschungstagebuch 29.05.2013. 16 In den Worten von Nabti: »La femme se lève, la tête remuant de haut en bas, et se dirige les mains derrière le dos vers l’aire de danse« (2007 S. 403).

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Dann schließt sie die Augen und tanzt weiter. Auf einmal begibt sie sich auf alle Viere und hält den Kopf und die Ohren ganz nah an die Flöten heran, sie wiegt leicht mit dem Kopf und die Flötenspieler versuchen – so kommt es mir jedenfalls vor – die Frau wie eine Kobra zu leiten. Khadija berührt die Flöten beinahe. Es sieht weniger verzückt als verzaubert konzentriert aus. Dann erhebt sie sich und tanzt weiter. Als die Musik abrupt endet, fängt sie an erleichternd zu stöhnen; es sind Töne, die sich nach einer tiefen Entladung anhören, ein stoßhaftes Stöhnen. Langsam kommt die Frau wieder zu sich und klimmt hinaus durch die andere Türe des Raumes, die Tür die mir gegenüber liegt. Klimmt, weil sie nicht geht, sondern sich irgendwie hinausstützt, hinausrettet. Draußen atmet sie laut hörbar, doch ohne Stöhnen.17

Abbildung 20: Hadra in der Zaouia der Ḥamādša: Frau in Trance vor einer Gaitaflöte Im unmittelbaren Anschluss an diese eher beschauliche Beobachtung entwickelt sich ein aggressiver Kampf zweier Frauen (die ich im Folgenden la negra und la

17 Feldforschungstagebuch 31.10.2013.

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viuda nenne), bei dem die Musik und die Musikinstrumente eine entscheidende Rolle spielen: Die schwarzhäutige Frau (la negra) trägt anfangs ebenfalls ein unscheinbares Kleid, an das ich mich nicht gut erinnere, aber sie streift es ab und darunter hat sie ein leuchtend rot grundiertes Kleid (der Farbe von Sidi Hammou). Nun sieht sie anders aus als zuvor. Eine füllige schwarze Frau, sie saß zuvor zu meinen Füssen neben einem der Musiker. Sie beginnt zu tanzen und fällt sofort in Trance (ḥāl). Die Augen geschlossen, im Tanzen schwebt sie beinahe im Raum. Eine andere Frau nimmt ihr das Kopftuch ab und gürtet sie um die Hüften. Normalerweise werden Frauen, bevor sie von der Trance in Ekstase (ğedba) geraten, von anderen Frauen an diesem Tuch gehalten. Diesmal bei la negra ist die nicht der Fall. Sie tanzt weiter, wird nicht gehalten. Auf einmal ist da ein weißes Tuch auf dem Fußboden, ich habe gar nicht bemerkt, wie es dorthin kam und wer es ausgelegt hatte. Auf diesem Tuch befinden sich Glassplitter und einige der Teegläser, die wir zuvor benutzt hatten. Die meisten Gläser davon unversehrt, manche aber zerbrochen mit scharfen Kanten. Die Musik kommt nun nicht mehr von den Flöten aus der gegenüberliegenden Ecke sondern von den Gaitas und Trommeln neben mir. Die Musiker stehen auf und die Frau tanzt vor ihnen, sie singt das Lied mit. Sie begibt sich auf das Tuch mit den Scherben um darauf zu tanzen. Das geschieht vielleicht 2 Meter von mir entfernt, ich sitze noch immer auf dem Boden und beobachte alles ›von unten‹. Die Füße bluten nicht, die Frau tanzt darauf als wären es glatte Kieselsteine. Nun geht alles ganz schnell: eine weitere Frau, die wie Irene Papas in Alexis Zorbas in Schwarz (der Farbe von Aïsha Qandisha) gekleidet ist und die ich in meinen Notizen »die Witwe« (la viuda) nenne, die zuvor – äußerlich gefasst und züchtig – unter den Zuschauerinnen saß, springt auf und beginnt wie wild zu tanzen, ekstatisch. La negra tanzt schwebender. La viuda schüttelt ihren Kopf, ihre Haare fliegen.18 Sie wirft sich auf alle Viere und schüttelt den Kopf.19 Danach steht sie wieder auf. Eine junge Frau von vielleicht Mitte 20, die mit ihrer schwarzberandeten Brille aussieht wie eine Intellektuelle oder eine Collegestudentin, und die bislang an der anderen Wand neben einem der nicht spielenden Musiker saß, stürzt sich neben mich, vielleicht 50 cm ist sie von mir entfernt, wirft sich auf 18 In den Worten von Nabti: »Le bas du corps immobile et les mains derrière de dos, elle effectue de rapides mouvements circulaires du buste en faisant tournoyer sa chevelure de gauche à droite de l’axe du corps.« (2007 S. 403) 19 Ebenfalls mit Nabti: »Étourdie, elle se retrouve au sol et continue ses doubles mouvements giratoires de la tête, à la fois de bas en haut et de gauche à droite.« (2007 S. 403)

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die Knie und beginnt wild mit ihren schwarzen und langen Haaren, die unter keinem Kopftuch steckten, zu schleudern. Noch im Aufspringen nimmt sie die Brille ab und reicht sie, ich will sie nehmen aber sie bemerkt es und gibt sie lieber Hanan, die neben mir sitzt. Sie tritt sofort in Ekstase. Ich würde sagen, la negra ist in Trance, la viuda und die Collegestudentin sind in Ekstase (im Gegensatz dazu war Khadija zuerst in Trance, dann in Ekstase). Die Musiker weichen noch ein wenig zurück, einer steht nun unmittelbar vor meinem Gesicht und ich schaue an den Beinen vorbei auf die Studentin und die beiden anderen Frauen. Da wirft sich la viuda auf la negra, umfasst diese mit beiden Armen und es sieht zuerst so aus, als ob sich eine Epileptikerin an einer anderen Frau festhalten oder diese umarmen wollte, es wird aber ein Kampf von la viuda gegen la negra. Frauen und Männer versuchen die beiden auseinanderzubringen, la negra scheint gar nicht zu merken, was vorgeht, la viuda befindet sich in aggressiver Rage. Ich stehe sofort auf, vermute, es könne gefährlich werden. Alle anderen fuqra, die weiter entfernt sind, stehen ebenfalls auf oder sind schon auf den Beinen, um die Situation zu entschärfen. Der Trommler, der den Takt vorgibt und mittlerweile ekstatische Rhythmen intoniert, scheint die Situation anzuheizen, so dass Said (der Sohn von Hamid, dem muqaddem der Bruderschaft) und einer der Gaitaspieler, der an der Tür stand und das Ganze beobachtet, diesen und auch die anderen Gaitaspieler, die versunken waren in ihrem ekstatischen Spiel, dazu zu bringen, das Spiel abzubrechen. La viuda beginnt mit Beschimpfungen, sie scheint aus der Ekstase in eine wache Aggression übergegangen zu sein, la negra ist noch nicht ganz aus der Trance zurück, und alle Anwesenden mischen sich mit Schreien, Händen und angespannten Körpern in den Konflikt ein.20 Wie mir denn die lila gefallen habe, fragt mich Mohammed, der muqaddem (der selbst am Fest nicht teilnahm) ein paar Tage später. Ich sagte, es sei sehr beeindruckend und mitreißend gewesen. Leider haben sie sich dann gestritten, ergänze ich. Hamid beugt sich vor und raunt: weißt du, das war alles nur wegen der Gaitas. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen keine Gaitas spielen, aber die Musiker haben es dann doch gemacht. Er reckt sich: wenn der Chef mal nicht da ist… ich hätte dafür gesorgt, dass das nicht vorkommt. Ich fragte: warum die Gaitas? Ja, die spielt man eigentlich nicht, denn dann kommen die diablos und die Frauen geraten in Trance. Und wenn der muqaddem nicht da ist, läuft alles aus dem Ruder (sprich: es ist keiner da, der die Geister kontrollieren kann). La negra hätte darum gebettelt: spielt die Gaitas, spielt die Gaitas! Die sind sehr

20 Feldforschungstagebuch 31.10.2013.

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schwebend und beruhigend, und das wollten die anderen Frauen nicht. Deshalb kam es zum Streit.21 In der Regel haben die fuqra und die muḥibbim einen Bezug zu einem ganz bestimmten Geist. Spezielle Melodien (rīḥ)22 der Gaitas aktualisieren diesen Bezug, so dass die fuqra und muḥibbim in Trance verfallen, wenn ihr rīḥ gespielt wird. Es ist Aufgabe des muqaddem, dies zu überwachen, denn die Geistwesen können für die Anwesenden gefährlich werden, wenn eine Frau in ihrem rīḥ ist. Diese Überwachung kann entweder darin bestehen, dass er den Musiker, der den Geist in der Befallenen mit seinem Instrument leitet, beobachtet, oder dass er selbst es ist, der mit dem Geist kommuniziert. Nur wenige Mitglieder der Bruderschaft in Tanger beherrschen dies überhaupt.23 Deshalb habe er den Musikern verboten, die Gaitas zu spielen, wenn er nicht dabei sei. Das haben sie ignoriert, und so kam es zum Streit zwischen den beiden Frauen. In der Zaouia selbst musste ich trotz dieses ersten intimeren Zuganges in Borj el Hajoui weiterhin auf dem Dach Platz nehmen. Wann durfte ich endlich nach unten ins Geschehen selbst? Ich versuchte nichts zu forcieren, sondern demütig zu warten, bis man mich rief. Sehr spät, erst am 10.01.2014 war es soweit. Ich sitze in der Zaouia neben der Eingangstüre im Hauptsaal und filme. Der muqaddem hat mir erlaubt, dass ich nur die Ecke der Musiker filmen darf, nicht die Frauen. Nun sitzen bei den Musikern ja auch Frauen, etwa Khadija, oder die Frau des muqaddem, oder deren Kinderfrau, oder Farida, die wie ein Gummiball hüpft. Diese Frauen grüßen mich, lächeln mir zu und erkennen mich wieder, sind freundlich zu mir. Als sie mich beim Filmen sahen bedeuten sie mir, dass ich sie ruhig aufnehmen dürfe. Das war sehr gut denn ich kann viele Ekstasen und Tranceakte von Frauen filmen, genauso wie den Tanz der Ḥamdūši und des muqaddem und das ›Auf und Ab‹ der Musiker.

21 Feldforschungstagebuch 15.11.2013. 22 Der Begriff des rīḥ bedeutet im Wortsinne so viel wie Atem, Wind oder Hauch. Er hat dieselbe Wortwurzel wie das Hebräische ruach, das im Alten Testament an mehreren Stellen so viel meint wie ›Heiliger Geist‹. Insofern ist es durchaus angebracht, eine Verbindung zwischen dem christlichen Pfingstfest, in dem der Heilige Geist ausgegossen und eine Gemeinschaft der Menschen geschaffen wird, und der Hadra der Sufis herzustellen: das Ausgießen des Heiligen Geistes der Christen ist vermutlich nichts anderes als die Trance bei den Ḥamādša. 23 Feldforschungstagebuch 06.10.2015.

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Die letzte Sequenz kann ich nicht mehr aufnehmen, weil der Akku leer ist. Ich sitze hinter einer Frau, die anfängt zu weinen. Eine Freundin sitzt daneben und kümmert sich um sie. Kurz darauf kommt der muqaddem und setzt sich neben die Frau, greift ihr an die Kehle und klopft ihr auf den Kopf. Er erscheint mir sehr rüde. Dann fängt die Frau mit einer seltsamen Stimme an zu schreien. Daraufhin nimmt der Meister zwei Schlucke vom Orangenblütenwasser und bespuckt die Frau (ich sitze genau hinter der Frau, so dass ich die Hälfte davon abbekomme). Der muqaddem hält sie mit einer Hand noch immer an der Gurgel fest. Die Frau sackt in sich zusammen und der muqaddem reicht ihr aus einer neuen Flasche Wasser zu trinken. Schließlich geht er weg und die Freundin umarmt die Frau und tröstet sie. Die Freundin gibt dem muqaddem etwas Geld. Das Ritual geht weiter, und die Frau entspannt sich. Als das Ritual zu Ende ist, kommt der muqaddem wieder zu der Frau und nimmt sanft ihre Hände, tröstet sie und spricht freundlich mit ihr. Dann reicht die Frau dem Meister ihre Telefonnummer. Als sie danach geht, meint der muqaddem zu mir: »Hast du das gesehen?« »Die Frau ist von Teufeln besessen, und ich habe mit denen gesprochen, nicht mit der Frau. Ich habe sie mit dem Blütenwasser vertrieben. Ich bin seit 23 Jahren hier in der Zaouia und habe hier alles gesehen, ich kenne alle Leute, ich kann vieles erzählen. Wer aus ihr gesprochen hat war nicht sie, das waren die Teufel. Diese wollte er mit dem Griff an die Gurgel, dem Schlagen auf den Kopf24 und dem Bespucken mit dem Wasser aus ihrem Körper vertreiben.« Er habe mit den Teufeln so rüde gesprochen – nicht mit der Frau. Dann sagt er mir, dass die Frau mit ihrem Mann schlechten Sex hätte. »Er fickt sie schlecht (folla mal), weil das Herz nicht dabei ist.« Nach seinem Orgasmus schlafe der Mann ein. Nachts kamen dann Aïsha Qandisha und die Geister, sie drangen in den Leib der Frau und machten mit ihr Liebe: nicht nur der männliche Geist Sidi Hammu, sondern auch die weiblichen von Malika und Aïsha. Und das sei es, was sie verwirrt habe: dass es weibliche Geister waren, die mit ihr Liebe gemacht haben. Am anderen Tag ist sie ganz durcheinander und weiß nicht mehr, was geschehen ist. Sie ist verwirrt. Wird depressiv und kommt hierher, denn die Teufel sind noch in ihr. Er hat mit ihr die Telefonnummern ausgetauscht, denn er fährt dieser Tage nach Meknès und wenn die Teufel wieder kämen, soll sie ihn anrufen, dann bringt er ihr was aus Meknès mit. 24 Vgl. Nünlist (2015 S. 287) über die Auslegungen des Rechtsgelehrten Ḥalabī (gest. 1044/1635): »Die Schläge träfen nämlich nicht den Kranken, sondern ausschließlich den ǧinnī. Der Geist spreche durch den Mund seines Opfers und teile den Anwesenden seltsame Dinge mit. Wenn sich der Erkrankte erholt habe und nach seinen Erlebnissen gefragt werde, könne er sich an nichts mehr erinnern.«

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Diese Beobachtung eines Exorzismus diskutiere ich mit Nawfel, wieder auf Facebook. D.H.: hier j etais et chez les Ḥamdūši j etais dans un exorcisme.... [Gestern war ich bei den Ḥamdūši ich war bei einem Exorzismus….] Nawfel: tu t es fais exorsisé! [Du hast dich exorzieren lassen!] D.H.: non, mais une femme qui etait a cote de moi. elle etait possede par deux jnoun, et le mokhaddim l a traite avec de l eau sainte [Nein, aber eine Frau unmittelbar neben mir. Die war von zwei ğnūn besessen, und der Muqaddem hat sie mit heiligem Wasser behandelt] Nawfel: belle experionse pour toi! [Schöne Erfahrung für Dich!] D.H.: oui mais aussi un peu bzarre. tu as ete present dans une chose comme ca? [Ja, aber auch ein wenig seltsam. Warst Du bei sowas schon mal dabei?] Nawfel: non. mais j ai vu sur tv ou vidoeo. je comprend un peu [Nein. Aber ich habe das im Fernsehen oder auf Video gesehen. Ich verstehe das ein bisschen] D.H.: ah ok. tu comprends quoi mon cher? [Ah gut. Was verstehst Du, mein Lieber?] Nawfel: c es un confusion [Das ist eine Verwirrung] D.H.: un confusion? [Eine Verwirrung?] Nawfel: il y as des gents qui peuvnet etre vraiement poséde. autre le croit. pas envie [Es gibt Leute die wirklich besessen sein können. Andere glauben es bloß. Keinen Bock] D.H.: oui. mais je comprends pas.... [Ja. Aber ich verstehe nicht ….] Nawfel: souvant les djin qui sont mauvais ou maliphique exloite le manque de fois des gents. alors il arive a leur fair des chantge. comme egorger des animaux. ou fair de chose pas bonne [Oftmals beuten die bösen oder bösartigen ğnūn den fehlenden Glauben der Leute aus. So kommts dass sie sie verwandeln. So, als ob man Tiere erdrosseln würde. Oder andere schlimme Dinge tut] D.H.: tu veux dire que les djin laissent faire les hommes des mauvaises choses? [Du willst sagen, dass die ğnūn die Leute böse Dinge tun lassen?] Nawfel: oui. le but et de les rendre eux. Mauvaix. Incroyant [Ja. Mit der Absicht sie zu beherrschen. Schlimm. Ungläubig] D.H.: rendre des gens attachee aux ğnūn – et pas a la foie? [Die Leute an die ğnūn zu binden – und nicht an den Glauben?] Nawfel: voila. qui compte sur le djin au lieux de compter sur dieux [Genau! Dass er dann auf die ğnūn zählt anstatt auf Gott] D.H.: mais comment on sait que la source du mal est un ğinn – et pas la volonte mauvaise des hommes? [Aber woher weiß man, ob die Ursache eines Übels ein ğinn ist – und nicht die schlechte Absicht anderer Leute?]

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Nawfel: si l homme le fais alosr il es foue. ou peu etre scisofrenique [Wenns Menschen machen dann sind sie verrückt. Man kann schizophren sein] D.H.: oui. mais si c etait pas l homme mais un ğinn... donc c est le djin qui pren le control du corps de l home. c est tres complique.... [Ja. Aber wenn die Ursache nicht ein Mensch ist sondern ein ğinn …. Dann gewinnt der ğinn doch die Kontrolle über den Körper des Menschen. Das ist alles sehr kompliziert] Nawfel: oui. Monthal. Ame. des truck sperituel [Ja. Mental. Seele. Spirituelles Zeugs] D.H.: en allemagne on dirait: c est pour un probleme psychique, pas pour une force exterieure comme und jinnnn [In Deutschland würde man sagen: das Problem ist psychisch verursacht, nicht durch eine äußere Kraft wie etwa durch einen ğinn] Nawfel: oui. la sience ne croit pa a lame. ou au djin. no au satan [Ja. Die Wissenschaft glaubt nicht an die Seele. Oder an ğnūn, auch nicht an Satan] D.H.: lame? [Seele?] Nawfel: ni au anges. l ame [Auch nicht an Engel. Die Seele] D.H.: c est pas vrai: en allemagne on croit en l ame. ca veut dire: le probleme est dedans de l ame du patient. Ici c est une force exterieure (les ğnūn) [Das stimmt nicht, in Deutschland glaubt man an die Seele. Das bedeutet: das Problem liegt in der Seele des Patienten begründet. Hier liegt es an einer äusseren Macht (den ğnūn)] Nawfel: oui ame c es diferant. djin c est un aitre vivant ausi [Ja, die Seele ist anders. Ein ğinn ist auch ein anderes Lebewesen] D.H.: et les ğnūn vivent dans l eau les djin vivent dans les androit isolé [Und die ğnūn leben im Wasser, sie leben an abgelegenen Orten] Nawfel: car eux aussi aime pas les humain. posisble en fait des chose qu il aime pa [Weil die die Menschen auch nicht mögen. Die haben die Möglichkeit, ihnen etwas anzutun, was sie gar nicht mögen] D.H.: ah ok [Ah ok]25 Seit diesem Erlebnis im Januar 2014 hat man mir die große Ehre erwiesen, mich als Bruder bei den Ḥamādša zu bezeichnen, was mit einschließt, während der hadra die Trommeln zu schlagen und beim dikr mitzurezitieren (so gut das eben geht), zur Wallfahrt nach Sidi Ali eingeladen zu werden und sich im Ritualraum frei bewegen zu dürfen. Wie lassen sich Grenzbegegnungen und Grenzsituationen wie die hier beschriebenen in der Zaouia interpretieren? Zuerst einmal ist es bedeutsam 25 Feldforschungstagebuch 10.01.2014.

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hervorzuheben, dass ganz allgemein die Schwellen zwischen als stabil definierten Kategorien häufig als Quellen der Krise, der Instabilität, der Verunsicherung, der Bedrohung, des Konfliktes interpretiert werden. An dieser Schwellensituation wirken Spezialisten, um die die Krise in neue Möglichkeiten und Chancen umzubiegen. Dies ist nicht nur bei den Ḥamdūši so, es wird auch kulturvergleichend besonders in der ambivalenten Charakterisierung derjenigen sichtbar, die sich auf der Grenze und somit zwischen den Kategorien bewegen. »Der Schamane der nordasiatischen Völker überwindet verschiedene kosmologische Ebenen, er tritt mit den Wesen und Dämonen, Toten und Naturgeistern der Oberund der Unterwelten in Kontakt, indem er entlang der Weltachse hinauf oder hinab reist. Seine Reisen dienen dazu, Kranke durch Trancen zu heilen, die Toten ins Schattenreich zu geleiten und als Mittler zwischen Ober-, Menschen- und Unterwelt zu dienen. Die hagaszussa, die Hexe, die auf dem Zaun reitet, vermag sowohl heilende als auch zerstörerische Kräfte freizusetzen. Im Ursprungsmythos der Winnebago26 und anderer nordamerikanischer Indianergruppen vereinigt der Trickster Ordnung und Chaos in sich; er wird von Begierden beherrscht und besessen, ist egoistisch und besitzt die Mentalität eines grausamen Kindes; gleichzeitig gilt er jedoch als Kulturbringer, und seine Reise endet mit einer teilweisen Zähmung der Triebe. Der Bedrohlichkeit des Uneindeutigen, der Angst vor dem Zwielicht oder, wie James Fernandez27 schreibt, dem ›Dunkel am Fuße der Treppe‹, unterliegt auch in vormodernen Gesellschaften die Notwendigkeit, Kategorien zu schaffen – meist aber nicht unter linearen, sondern zonalen Vorzeichen. Die Uneindeutigkeit zwischen einer ›eindeutigen‹ oder ›klaren‹ Statusgruppe und einer anderen versuchen diese Gesellschaften in Übergangsriten zu bändigen, wie Arnold van Gennep28 mit den rites de passage und Victor Turner29 mit dem Konzept der Liminalität gezeigt haben.«30 Nicht nur der von ğnūn Besessene und Ratsuchende, auch der Heiler selbst und – im Falle der Ḥamdūši und anderer Sufibruderschaften – die Ritualgruppe als Ganzes befinden sich in einer gefährlichen Grenzsituation: weil sie sich den ğnūn aussetzen und weil sie von jenen Menschen, die nicht am Rande sondern innerhalb der sicheren Ordnung leben, misstrauisch beäugt werden: sie selbst werden gewissermaßen zu Zwischenwesen der sozialen Ordnung.

26 27 28 29 30

Radin 1956. Fernandez 1974, 1980. van Gennep 1986. Turner 1967; Turner 1969. Haller 2000 S.4ff.

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»Gray behauptet, dass anomale Objekte, also die nicht eindeutig zuzuordnenden Phänomene bzw. Personen, das kulturelle Projekt der Klassifikation insgesamt in Frage stellen. An diesen Objekten erweist sich, dass die Welt vielleicht doch nicht so geordnet ist, wie das gemeinhin angenommen wird. Chaos und Zusammenbruch der Ordnung erscheinen möglich. ›The individual is thus haunted by a vision of a world without guidelines by which to plan behavior and in which the only practical responses are catatonia or random activi31

ty.‹«

Zeichnen sich Schamane, hagaszussa, muqaddem und Trickser durch die Fähigkeit aus, sich zwischen den Ordnungskategorien der vormodernen Welt hin und her zu bewegen, so scheinen die abendländische Moderne und der islamische Fundamentalismus von der Notwendigkeit klarer kategorialer Grenzen bestimmt zu sein. Vielerorts werden deshalb Ritualspezialisten sowohl gefürchtet als auch geachtet, auf ambivalente Weise wahrgenommen, vielfach negativ konnotiert: als Scharlatane, Beutelschneider, als Windhunde, als Lüsterne, als Verrückte.32 Typisch für diese Haltung ist wiederum Nawfel, mit dem ich das Geschehen bei den Ḥamdūši diskutiere: Nawfel: j ai ecoute sur la radio ici que ls trence sont du par des music [Ich habe hier im Radio gehört dass die Trancen der Musik geschuldet werden] D.H.: ouiiii. c est vrai [Ja, das stimmt] Nawfel: et qui agit sur des gents qui ont de la histerie [Und dass sie auf die Leute wirkt, die von Hysterie befallen sind] D.H.: c est possible [Das ist möglich] Nawfel: d ou en change de voie et on dis des choses du passé qu on a pas pu dir [Von dort aus wechselt man die Perspektive und man sagt Dinge aus der Vergangenheit, die man sonst nicht sagen könnte] D.H.: oui c est vrai. la trance ouvre les portes [Ja das ist wahr. Die Trance öffnet die Pforten] Nawfel: c ets pourca qu on croit que c est le djin qui parle parceque qu o a le djin en soit cest dangreux [Deshalb glaubt man dass es der ğinn ist der spricht, denn der ğinn in einem drin ist gefährlich] D.H.: et c e a une logique, parce wue les djins (ou les choses qu on peut pas dire) habitent dans le corps et s en fuissent dans la trance [Und das hat eine gewisse Logik, weil die ğnūn (oder die Dinge, die man nicht aussprechen kann) im Körper leben und bei der Trance herauskommen] 31 Vgl. Gray 1979 S.28 cit. in Haller 2000 S.5. 32 Siehe auch Nabti 2007 S. 411.

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Nawfel: et dificle a se debaraerser [Und schwierig sich davon zu befreien] D.H.: oui. parfois c est mieux les garder dedans [Ja. Manchmal ist es besser, es drin zu behalten] Nawfel: et on remarque que c est seremonie de trense n est etablie qu avec des gents pas intelectuel ou inalphabete et aussi des gnets qui profite pour gaganer de l argent. toi tu as profité comme un spectacle. moi je les considere comme des indigéne hihi. si comme il n ont jamis vecu dans une sivilisation. d ou le role major de la sorcier ou du sorcier [Und man muss hinzufügen, dass die Trancezeremonie nur mit Menschen gemacht wird, die nicht intellektuell sind oder Analphabeten und dann gibt’s auch Leute, die davon profitieren und Geld daraus schöpfen. Du hast davon profitiert wie von einem Spektakel. Für mich sind das Eingeborene hihihihi. So, als ob sie nie in der Zivilisation gelebt hätten. Wo der Zauber oder der Zauberer die größte Rolle spielt] D.H.: oui ce sont les indigenes.... je sais pas si les ğnūn existent ou pas.... comme esprites dehors du monde des gens [Ja, das sind Eingeborene. Ich weiß nicht ob die ğnūn existieren oder nicht. Geister außerhalb der Welt der Menschen]33 Nawfel ist davon überzeugt, dass die Trancerituale von Scharlatanen (gnets qui profite) durchgeführt werden, um den Ungebildeten und Analphabeten, die er augenzwinkernd (hihi) als unzivilisierte Eingeborene (indigéne … il n ont jamis vecu dans une sivilisation) bezeichnet, Geld aus der Tasche (pour gaganer de l argent) zu ziehen. Er insinuiert höflich, dass ich mich auf dieses Spiel einlasse, weil ich danach suche (toi tu as profité comme un spectacle). Allerdings: nur weil Leute damit an der Nase herum geführt werden, bedeutet das nicht, dass es keine ğnūn gäbe: Nawfel selbst glaubt absolut (100/100) daran. Folgende Beobachtung soll verdeutlichen, dass nicht nur von Außenstehenden (Nawfel vertritt hier idealtypisch die modernistische Haltung im Islam), sondern auch innerhalb der Sufibruderschaften Autorität verhandelt wird: Richtige muqaddem gäbe es heute nicht mehr, sagt Ibrahim, der fuqra einer anderen Sufigemeinschaft; nur noch Leute, die Geld wollen. Kurz zuvor hat er noch seinen eigenen muqaddem als Freund bezeichnet; jetzt meint er, dessen Vater sei immer geradeaus gewesen, ein Mann von Ehre; der muqaddem dagegen sei ›zig-zag‹, der mache ›seine Sachen‹; er hält den muqaddem wohl für ein Schlitzohr, nicht jedoch für einen Gauner. Diese Geschichte erzählt Ibrahim, nachdem eine Frau in sein Café gekommen war und sich mit ihm unterhielt. Sie hatte sich über die Bruderschaft beschwert, in der während einer 33 Feldforschungstagebuch 20.01.2014.

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hadra Frauen ›betatscht‹ würden. An der Brust etwa (sie selbst hatte während des Gesprächs einmal ihre rechte Brust in die Hand genommen und gedrückt). Sie selbst habe gesehen, wie man taumelnde Frauen dort berührt habe. Darüber regen sich beide auf. Ibrahim meint, sowas gehe nicht: in der Bruderschaft gebe es doch Frauen, die dazu da seien, die anderen Frauen zu halten und ruhig zu stellen. Es sei ungewöhnlich, dass das ein Mann machen würde. Was würden denn die Ehemänner dabei denken, die sehen, wie ihre Frau von einem anderen Mann ›so‹ berührt werde! Entweder müssten das also andere Frauen machen, oder aber Männer des Vertrauens: die die Frauen und ihre Ehemänner dazu bestimmt haben. Ich denke mir, vielleicht ist der muqaddem ›der Mann des Vertrauens‹ für viele der Frauen. Schließlich: wenn da Frauen mit sexuellen Nöten hingehen, in die Jahre gekommene Unverheiratete etc., vielleicht geht es dann auch gerade darum, dass sie von einem Mann berührt werden? All diese Gedanken gehen mir während ich schreibe durch den Kopf.34 Dass Ritualspezialisten in der Öffentlichkeit mit derlei schlitzohrigem Tun in Verbindung gebracht werden, ist nicht auf den marokkanischen Kontext und beileibe nicht auf Ibrahims Bruderschaft, noch gar auf ›meine‹ Bruderschaft der Ḥamādša begrenzt. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist ein außergewöhnlicher Fall der Selbstbenennung eines Scharlatans als Schamane, der von Franz Boas35 dokumentierte Fall des Kwakiutl-Indianers Qesalid, der das Schamanenhandwerk erlernt, um den Schamanismus als Humbug zu entlarven. Allerdings hat Qesalid als Schamane großen Erfolg, so dass er zur Überzeugung kommt, dass Schamanismus tatsächlich wirksam sein könne.36 Auch ein muqaddem aus Fez gesteht »Moi-même je crois pas aux mluk […] mais je ne peux pas le dire devant les clients […] [Ich selbst glaube nicht an die Geister […] aber ich kann das vor den Klienten nicht zugeben […]].«37 In Crapanzanos Monographie38 über die Ḥamādša von Meknès wird zwischen den Ḥamādša der eigentlichen Stadt (medina) und denen der Slums (bidonvilles) unterschieden. Während sich erstere durch eine Betonung der sufistischen Spiritualität im Zusammenhang mit Allah (malik), eine größere Ernsthaftigkeit, eine größere Trennung zwischen Männern und Frauen und die Opfergabe nach Beendigung der Hadra auszeichnen, spielen bei letzteren, die eher als Schlitzohren wahrgenommen werden, die Spiritualität im Umgang mit den ğnūn 34 35 36 37 38

Feldforschungstagebuch 17.06.2014. Boas 1930. Haller 2005 S. 109. Nabti 2007 S. 410. Crapanzanos 1981 S.103ff.

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(mlouk), die Integration der Geschlechter und die Opfergabe während des Rituals eine entscheidende Rolle. Diese Unterscheidung basiert auf Befunden aus den 1970er Jahren in Meknès. Die Ḥamādša von Tanger in der Gegenwart wären demnach auf den ersten Blick jenen der bidonvilles zuzurechnen, obwohl ich eher von einer Gemeinschaft sprechen würde, in der beide Strömungen integriert sind: allerdings mit einer klaren Schlagseite auf die Seite der bidonvilles. Es ist daher nicht zu verwundern, dass jene unter den Ḥamdūši Tangers, die etwa die Integration der Frauen im Ritual oder den starken Fokus auf Aïsha Qandisha kritisch sehen, darüber reden, wer in der Gruppe ein Scharlatan oder Blender sei, wer nur wegen des Geldes teilnehme, wer in den Ritualen lediglich das Vergnügen suche und eigentlich in einer der Diskotheken besser aufgehoben wäre – und wer die Sache wirklich ernst nehme und ein wahrer Sufi sei. Der integrative Charakter der Gemeinschaft begründet sich unter anderem im rapiden Mitgliederverlust, den die Ḥamādša-Bruderschaften ganz allgemein im Verlauf des 20. Jahrhunderts und im Zuge der Modernisierung Marokkos erleben mussten.39 Ganz im Sinne der Modernisierungstheorie erwartete man, dass die Ḥamādša gänzlich verschwänden oder sich bestenfalls – etwa im Kontext des Tourismus – folklorisierten und kommodifizierten. Mit dem Verlust (vor allem) der Mitglieder (der medina) erfuhr die Bruderschaft auch einen Verlust an Wissen. Heute vermelden die Ḥamādša wieder eine Zunahme: an Mitgliedern, an ›ernstem Interesse‹ an den spirituellen Aspekten der Bruderschaft, an öffentlicher Bedeutung und politischem Zuspruch (Tourismus und Aufwertung durch das Religionsministerium). Der 18-jährige Khaled stammt nach eigenem Bekunden aus einer »echten« Ḥamdūši-Familie aus Fes. Ich treffe den jungen Metzger fast wöchentlich in der Zaouia, wo er mit inbrünstigem Ernst mit den Musikern singt, tanzt und ab und zu in Trance fällt. Er hat etwas Unnahbares, so dass wir erst am Ende meiner Forschung Worte wechseln und uns langsam annähern. Seinen rituellen Turban im traditionellen orange-weißen Muster schenkt er mir als Zeichen der Verbundenheit und der Anerkennung zum Abschied, damit ich ein Ḥamdūši werden würde, – auseinandergefaltet ähnelt er einem Palästinenserschal. Im vorherigen Kapitel wurde bereits erwähnt, dass Schlachthöfe und Metzgereien als Orte bekannt sind, an denen sich ğnūn mit Vorliebe aufhalten. Salmon40 berichtet, dass sich die Bruderschaft vor allem aus Metzgern rekrutiert. Sicherlich bezieht er sich vor allem auf Sidi Hammou, der als schlachtendes Geistwesen gilt. In Khaleds Familie sind es aber die Frauen, die zu den Ḥamdūši gehen. Khaled ist der einzige männliche fuqra seiner Familie. Er ist nicht nur 39 Calmès 2014 S.95. 40 Salmon 1905 S.105f.

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äußerlich ein ernster und verschlossener junger Mann, er sucht auch nach der spirituellen Öffnung, was ihm aber nicht immer gelingt. Er führt dies auf die »nicht echte« Atmosphäre bei den Ḥamdūši in Tanger zurück, in der nur wenige Angehörige der Bruderschaft die Wahrheit aus sufistisch-spiritueller Überzeugung suchen würden. Dies erzählt mir auch Hamza (* 1954), ein Ladeninhaber aus der Nachbarschaft: als er ein Junge gewesen sei, habe man in der zaouia Freitags gebetet, den dikhr gesprochen, gemeinsam gegessen und auch musiziert. Aber es habe keine verrückten Frauen gegeben und solche Dinge: früher sei man dem Weg der Sufis noch gefolgt, heute stehe Aïsha im Vordergrund.41 Sowohl er als auch Khaled unterscheiden – um dies mit Salmon42 auszudrücken – »ceux qui connaissent les vraies doctrines«von »ceux qui connaissent que des pratiques extérieures, superstitieuses«. Khaled erkennt in mir einen zwischen muḥibb und fuqra stehenden Mitbruder, allerdings einen Mitbruder, dem die Geisterwelt der Zaouia nicht ganz geheuer und mit allerlei Ängsten behaftet ist. Meine Selbstwahrnehmung während der Forschung ist die des nichtspirituellen Beobachters, der auch am Geschehen der Rituale und dem sozialen Leben der Bruderschaft teilnimmt – aber nicht auf spirituelle Weise. Ich erachte mich gewissermaßen als immun gegen die Anheischungen der Geistwelt; die vielfachen Warnungen wohlmeinender Freunde, mich diesen Welten nicht auszusetzen, da sie gefährlich seien, wischte ich souverän beiseite. Im Laufe der Forschung aber trat ich mehr und mehr nicht nur als Außenstehender, sondern auch als Jemand, der seine Spiritualität entdeckt hatte, in die Kosmologie der Ḥamādša ein – und zwar nicht nur analysierend von außen, sondern praktizierend, nachahmend und zum Teil ergriffen von innen. Die Entdeckung meiner Spiritualität – etwa der Vorstellung, dass Menschen nicht in jedem Fall die Schmiede ihres Glückes sind, so wie es der Neoliberalismus einpeitscht und wie dies schon im Christentum vorexerziert wurde, sondern dass sie manchmal von Wesenheiten zum Spielball gemacht werden, die von außen kommen; oder die Erfahrung der baraka durch Wunder, die sich in spontanen und ungeplanten Begegnungen entfalten, was in unserer durchrationalisierten und überregulierten deutschen Wirklichkeit sofort erstickt würde – war mir nicht geheuer, das merkten auch die Ḥamādša. D.H.: ah ok. Jejejeje. tu as eu les dyable toi? [Ah ok. Hahahaha. Hast du die Teufel schon mal gehabt?] Khaled: nnnnnnnn [Neeeeeee] D.H.: bien [Gut] 41 Feldforschungstagebuch 01.10.2015. 42 Salmon 1905 S. 101.

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Khaled: il ya bc de j ans qu il ans lais dyable [Es gibt viele Leute die die Teufel haben] D.H.: je sais. ca fait peur [Ich Weiss. Das macht Angst] Khaled: nn [Nein] D.H.: non? a moi oui [Nein? Mir schon] Khaled: hhhhh [Hahahahaha] D.H.: un peu. Hhhhh [Ein wenig. Hahahaha] Khaled: sa se vois [Das sieht man] D.H.: tu a vu que j ai peur? [Du hast gesehen dass ich Angst habe?] Khaled: oui en di rait que ta trop peur [Ja, man sagt dass du zuviel Angst hast] D.H.: en dirait ca.... [Man sagt das….] Khaled: ouiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii [Aber ja] D.H.: mais tu as pas peur [Aber du hast keine Angst] Khaled: nnnn. Nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn [Nö. Nöööööööö] D.H.: pq pas? pardon la question [Wieso nicht? Entschuldige die Frage] Khaled: quel question [Welche Frage?] D.H.: pq tu as pas peur [Warum du keine Angst hast] Khaled: je c pas c grasse a maprier et dieux [Ich weiss auch nicht, dank meiner Gebete und wegen Gott] D.H.: ah bien ;) [Ok] Khaled: ;) qu on en nait musulmans en na peur de rient [Wenn man als Muslim geboren wird hat man vor nichts Angst] D.H.: c ets tres bien et fort [Das ist sehr gut und stark] Khaled: qu and tais un vrais musulmans tais protejer de tous et ja mais quel quin poura te fair du mal [Wenn du ein wahrer Muslim bist, dann bist du vor allem geschützt und niemand kann dir jemals Böses antun] D.H.: wow. c est bien. nous les chretiens nous avons peur. un peu jejejejeje [Wow, das ist klasse. Wir Christen haben Angst. Ein wenig hahahahaha] Khaled. Hhhh. alors de viens musulmans. Hhhh [Hahahaha also werde Muslim hahahahaha] D.H.: inchallah. [So Gott will] Khaled: comme sa t aura ja mais peur [Dann wirst du nie mehr Angst haben] D.H.: inchallah. [So Gott will] In dieser Sequenz wird der Beobachter zum Beobachteten: Khaled merkt an, dass er selbst (sa se vois) und die anderen Ḥamdūši mich als ängstlich wahrnehmen (oui en di rait que ta trop peur), als jemanden, der sich aus Angst sehr vor dem direkten Kontakt mit den ğnūn sträube. Er führt das auf die Tatsache zurück, dass ich kein Muslim bin, denn als richtiger Muslim habe man einen starken Glauben

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und daher keine Angst (qu on en nait musulmans en na peur de rient). Als ich bestätige, dass »die Christen« vor den Geistern Angst haben, weil sie nicht an sie glauben, meint er, ich solle Muslim werden (alors de viens musulmans … comme sa t aura ja mais peur). Als ich Khaled von einer merkwürdigen Begegnung in Berlin erzähle, die mir nach meiner Rückkehr am 23.03.2014 widerfuhr, zeigt er sich nicht überrascht. Eines Abends fuhr ich zu einem Spätkauf am Kreuzberger Mehringdamm, um Zigaretten zu kaufen. Der junge Verkäufer sprach mich auf Türkisch an. Ich sagte, ich spräche kein Türkisch. Er schaute mich verdutzt an und seine Reaktion traf mich wie ein Stein: »Aber du bist doch Sufi!« Wie konnte er das erkennen? Ich trug weder meinen Sufischal noch sonst ein Kleidungsstück, das sich von einem typischen Kreuzberger Outfit unterscheidet: Jeans, schwarze Jacke mit Kapuze, schwarze Schuhe. Ich fragte verdutzt, wie er das sehe. Er meinte: »Das sieht man dir an.« D.H.: mais comment il peut voir? C c est bizarre [Aber wie konnte er das sehen? Das ist seltsam] Khaled: hhhh. tu porter la jelaba [Hahahaha. Du trugst den Djellaba] D.H.: dans le magasin? non. ni le Foulard... [Im Laden? Nein. Nicht einmal den Schal] Khaled: c un vywayons [Das ist ein Hellseher] D.H.: oui.... tres bizarre. il m a invite a une zaoua turc (dergah). tu crois koi? on peut voir que je suis sufi? [Ja. Sehr seltsam. Er hat mich in eine türkische Zaouia eingeladen. Was denkst du? Kann man sehen dass ich Sufi bin?} Khaled: Oui. Mois je. Di oui [Ja. Ich sage ja] D.H.: mais comment? [Aber wie?] Khaled: Il féaux le sentire [Das muss man spüren] Kennst Du Rumi?, fragt der Verkäufer Wir haben eine dargah in Neukölln, ein internationales Sufizentrum, du musst kommen. Ich sagte, ich kenne Rumi nicht, was ihn verwunderte. Ich beeilte mich zu sagen, ich käme von den marokkanischen Ḥamādša. Die kannte er nicht, meinte aber, Sufi sei Sufi und alle treffen sich dort. Wenn ich Hentschels43 Beschreibung seines eigenen, langsamen Hineingleitens in die Welt des Sufismus und der ğnūn lese, kann ich mich selber darin gut erkennen. Auch ich bejahe mittlerweile Trancen als Erkenntnisweg und prinzipiell auch die Existenz der ğnūn. Damit bin ich übrigens nicht alleine: 90%

43 Hentschel 1997 S. 14 ff.

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der Weltbevölkerung glauben an die Existenz ähnlicher Wesenheiten – die westliche Welt ist in dieser Hinsicht eher eine Ausnahme als die Regel.

D IE G EISTER UND DIE L ÜSTE Wechseln wir nun von der Perspektive der Teilnehmer zu der der Betrachter von außen. Wie schon erwähnt genießen die Ḥamādša in Marokko keinen besonders seriösen Ruf: Die weiblichen Adepten (muḥibbim) der Ḥamādša werden häufig als Verrückte, Prostituierte und promiske Frauen, die männlichen Ḥamdūši als zwielichtig diskreditiert. Schon Salmon44 bezeichnet den Kult und die Rituale um die ğnūn als eine Sache der Schwarzen, der Frauen und der Ungebildeten, während sich die Gebildeten und die bons musulmans davon abgestoßen fühlten.45 Man könnte annehmen, dass der Glaube an die ğnūn auch auf diese Gruppen beschränkt wäre. Dies ist jedoch eine Fehlannahme: der Glaube an die Existenz der Geistwesen ist so weit verbreitet, dass ich ihn als völlig selbstverständlich bezeichnen würde. Problematisch ist dagegen der Umgang mit den Wesen: nur Schwarze, Frauen und Ungebildete gäben sich den ekstatischen Riten der Verschmelzung mit den Wesen hin. Neben Scharlatanerie, Geldmacherei und Blendertum ist sexuelle Transgression eines der zentralen Merkmale der Verunsicherung und rituelle Spezialisten wie nordamerikanische Berdachen, sibirische Schamanen46 oder die pai der afro-brasilianischen Besessenheitskulte47 werden häufig damit in Verbindung 44 Salmon 1904 S.262. 45 Salmon 1904 S.262. 46 Ford & Beach 1968. »Während die Berdachen bei den Winnebago hochgeehrte und respektierte Männer waren, denen durch die Gnade des Mondes die Gabe der Zukunftsschau gegeben war, wurden gewöhnliche Transvestiten ›disgraced and dishonoured‹, verachtet und entehrt« Thayer 1980 S.290; Angelino & Shedd 1955 S.121125. Bei den Cheyenne wurden die Berdachen wegen ihres rituellen und sozialen Status hochgeschätzt. Die Dakota dagegen schätzten zwar die rituellen und zeremoniellen Kräfte der Berdachen, fürchteten sie aber wegen ihres ›exotischen Lebens‹ (Frauenkleidung, Homosexualität). Vgl. Thayer 1980; Haller 1992. 47 »Fry 1985 stellt für die afrobrasilianischen Kulte fest, daß nicht nur die männliche Teilnehmer am macumba Außenseiter (hier: bichas) seien, sondern auch die weiblichen Teilnehmer. Diese rekrutierten sich zu einem Großteil aus Lesbierinnen, Prostituierten und promisken Frauen.« Haller 1992; Landes 1940; Fichte 1976; Fry 1985; Parker 1986. »in Brasilien beruht die grundlegende Klassifikation der männlichen Geschlechtsrolle auf einer Zweiteilung in bicha und homem (Mann) bzw. homem mesmo (richtiger Mann). Beide unterscheiden sich sowohl im sozialen und sexuellen Ver-

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gebracht. So ist dies auch mit den Sufis48 ganz allgemein und mit den Ḥamdūši im Speziellen. Der Ruf liegt zum einen darin begründet, dass in der sufistischen Poesie oftmals die ›Schönheit des Herrn‹ gepriesen wird – und dies kann sowohl im spirituellen als auch im fleischlichen Sinne gemeint sein. Bei den Ḥamdūši kommt darüber hinaus hinzu, dass sie sich mit ğnūn einlassen. Nach Ibn Taymiyya in Darlegung der Universalität der Botschaft (Īḍāḥ al-dalāla fī umūm al-risāla) haben Menschen keine legitime Veranlassung, mit ğnūn unnötig in Kontakt zu treten.49 Satane dienen sich den »Frevlern und Aufbrausenden, Lüsternen und Vergnügungssuchenden, den Anhängern von Musik, Hämmerei und Klatschen« mit allerlei Tricks an.50 Der Klerus der malikitischen Rechtsschule, die in Marokko dominiert, betrachtet die Sufisten und vor allem den Umgang mit den ğnūn zuweilen als problematisch,51 insbesondere den Exorzismus.52 Besonders diskreditiert ist in den Augen der meisten malikitischen Islamgelehrten, dass die Ḥamdūši sich im Besonderen dem Geist der weiblichen Begierden Aïsha Qandisha zuwenden, und dass die Besessenheit eines Mannes

48 49 50 51

52

halten, als auch dem jeweils zugeschriebenen Status. Die bicha ist ein penetrierbarer (the insertee sex role), der homem ein penetrierender Mann (the insertor sex role). Bichas kleiden und verhalten sich effeminiert. Für die Machtbeziehung im homosexuellen Akt werden die gleichen Termini benutzt wie für die Machtbeziehungen im heterosexuellen Akt: bicha und Frau ›geben‹ (dar), der homem dagegen ›ißt‹ (comer). In der öffentlichen Meinung werden sowohl das Trancemedium der Besessenheitskulte als auch der pai mit der bicha assoziiert. Denn die Besessenheitsgeister sind weiblich. Die bicha überschreitet die Grenze zwischen den sozialen Geschlechtern. Obwohl sie genetisch ein Mann ist, hat sie zu den weiblichen Gottheiten Zugang. Auf diese Weise werden dem pai magische Kräfte zugeschrieben. Fry analysiert macumba im Sinne Turners als Antistruktur zur ›normalen‹ Gemeinschaft: diese zahle den Preis der magischen Kräfte für die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Ordnung. Die magischen Kräfte werden aus der Gemeinschaft hinaus nach außen, in die Antistruktur transportiert.« Haller 1992. Schimmel 2014 S.54. Krawietz 2002 S.255. Krawietz 2002 S.256. Vgl. Nünlist 2015, S. 5. Siehe auch: »Toutefois, il inquiète très souvent le clergé malékite et parfois le pouvoir politique lui-même. L’indifférence courante des soufis à l’égard du pouvoir est interprétée par celui-ci comme de l’arrogance, si ce n’est comme une insupportable insulte.« N.N., 2014g. Nünlist 2015 S. 286.

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durch eine andere ğinnīya, Lalla Malika, auf Homosexualität hinweist.53 Ğnūn verstehen es, sowohl Frauen als auch Männer zu verwirren und zu schlagen. Zillinger54 schreibt, sich auf Hammoudi55 beziehend, dass die Initiation eines Anhängers der Ḥamādša wesentlich eine Feminisierung des Mannes beinhaltet, da er Hausarbeiten erledigen und den Befehlen des Meisters bedingungslos folgen muss. Lebling56 schreibt:

Abbildung 21: Blick vom Dach der Zaouia auf das Tor zum Hauptsaal, Grenze zwischen den Ḥamādša und den Zuschauern aus der Nachbarschaft »Males who are unable for whatever reason to carry out expected roles of suitor, husband or family provider may undergo an experience of possession by Aisha Qandisha. Aisha’s emotional demands and jealous interference with relations with human women externalize apparent psychological conflicts. Many instances of possession by Aisha Qandisha occur after a failed love affair, an estrangement from a spouse or the death of a family member.«

53 54 55 56

Calmès 2014 S.113. Zillinger 2013 S.43. Hammoudi 1994 S.78. Lebling 2010 S.167.

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Es wurde bereits erwähnt, dass Menschen und ğnūn Ehen miteinander eingehen können. Diese Ehen sind nicht auf Ehen zwischen Männern und weiblichen ğnūn resp. Frauen und männlichen ğnūn begrenzt – auch gleichgeschlechtliche Ehen zwischen Menschen und ğnūn sind durchaus nicht unüblich. In Medien werden entsprechende Verbindungen zwischen Männern und männlichen ğnūn manchmal als ›homosexuelle Heiraten‹ diskreditiert.57 Auch die rituelle Transgression, bei denen eine besessene Person einen ğinn oder eine ğinnīya heiratet, und, sofern es sich um einen besessenen Mann handelt, dieser in Frauenkleidern auftritt, »ist ein ›öffentliches Geheimnis‹«58 und nicht unüblich in Marokko. Nathan59 schreibt, dass ğnūn dafür verantwortlich seien, wenn sich Männer seltsam verhalten: wie Tiere, wie Götter … oder wie Frauen. Dies berichten auch mehrere Zeitungen über die Wallfahrt der Ḥamdūši nach El Mghasieen in der Provinz Meknès, wo sich das Grab des Sidi Ali Ben Hamdouche befindet. Darin steht, dass die Polizei die Ḥamdūši verstärkt wegen homosexueller Umtriebe kontrolliert.60 Das Treffen der Ḥamādša-Bruderschaften in Meknès gilt aus Sicht der Behörden als Anlass für Schwule (gais) um sich zu treffen61 und wird dementsprechend mehr und mehr bedrängt. Denn Homosexualität ist gesetzlich verboten und sozial weithin geächtet. Die Online-Zeitung Le Mag spricht sogar von der Sorge, dass sich die Zeremonie des Marabout Sidi Ali Ben Hamdouche in einen Gay Pride Umzug verwandeln könne.62 Auch die Verbindung einer Frau mit einem männlichen ğinn scheint hinsichtlich Homosexualität gefährlich zu sein, gibt doch Badr-al-Dīn al-šīblī, syrischer Rechtsgelehrter im 14. Jahrhunderts, in seinem Buch Ākām al-marğān fi aḥkām al-ğānn (Korallenhügel: Rechtliche Bestimmungen zu ğnūn) Kunde davon »dass die Effeminierten (muḫannaṯūn) Kinder von ğnūn sind«.63 Im hanafitischmuslimischen Indien gelten die Angehörigen der hijra (des ›dritten Geschlechts‹) als Kinder von Dschinnen.64 Nach España65 werden die ğnūn für die ›perversidad de los hombres‹ [Perversität der Menschen] verantwortlich gemacht, und der Literaturwissenschaftler El-Ariss stellt für die arabische Gegenwartsliteratur fest,

57 58 59 60 61 62 63 64 65

Zillinger 2013 S.276ff. Zillinger 2013 S.277. Nathan 2000. Feldforschungstagebuch 18.01.2014. N.N. 2014c; Amine 2013; Bergeaud-Blackler & Eck 2011. Larbi 2013. Badeen & Krawietz 2002 S.48. Rosenbaum 2014 S.189. España 1954 S.336.

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dass homosexuelle Figuren häufig »Majnun-like character«66 besäßen. Ein weiterer Befund aus dem Umfeld des ğnūn–Glaubens verbindet sexuelle mit religiöser Transgression: Kareem (*1967) besitzt seit kurzem eine Wohnung in Tanger. Er stammt aus einer bürgerlichen irakischen Familie, ist aber in London geboren und aufgewachsen. Sein älterer Liebhaber Mehdi (*1956) entstammt einfachen Verhältnissen aus dem Stadtteil Rah Rah. Sie sind einige Wochen zusammen, als mir Kareem erzählt, Mehdi halte ihn für einen Juden und wolle von ihm dominiert, benutzt und beschmutzt werden. Er spiele das Spiel mit und lasse es offen, ob er Jude sei oder nicht. Das macht den älteren Herrn ziemlich an.67 Dieser Befund lässt sich durch Westermarck68 erklären. Er schreibt, dass sich Jungs, die sich prostituieren, sowie erwachsene Männer, die die passive Rolle einnehmen, sowohl im Diesseits als auch im Jenseits mit dem Urin jüdischer ğnūn waschen müssen. Auch Geertz69 ist hilfreich, denn weithin ist die Idee verbreitet, Juden seien passiv wie Frauen: und Mehdi möchte sich gerne diesen unterwerfen. Im Umfeld der Zaouia von Tanger selbst begegne ich bewusst jedoch nur einmal Homosexuellen. Am 13.01.2014 findet eine lila statt, keine hadra wie an den Freitagen, sondern eine ganze Feiernacht. Ich darf mich von dem liminalen Ort an der Tür entfernen und weiter in den Raum der Zaouia hinein. Jetzt platziert mich der muqaddem im Kreis der Bruderschaftsmitglieder und unmittelbar neben den Musikern, sowie bei 5 jungen Homosexuellen. Als ich mich setzen möchte sagt einer, dass ich mich da nicht hinsetzen könne, da liege Essen für Aïsha. Sah aus wie Katzenfutter, ich hab‘ fast reingefasst. Ich sehe zum ersten Mal Jungs unter den Gästen, die um die 20 Jahre alt sind und von ihrer Kleidung her als modern schwul erkennbar sind. Ein Kleiner sitzt hinter mir, der ist ziemlich ruhig; ein intellektuell aussehender mit Hornbrille und Zahnspange, der sich mit mir auf Französisch unterhält. Daneben ein Kleinerer mit einer schrägen Frisur der meint, er habe mich einmal auf dem schwulen Chatforum GayRomeo gesehen. Neben ihm ein etwas dicklicher junger Mann, der behauptet, er lebe in Holland. Neben ihm sein stiller, 66 67 68 69

El-Ariss 2013 S.116. Feldforschungstagebuch 05.01.2013. Westermarck 1968 S.272. Geertz 1997 S.60.

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unscheinbar wirkender Freund. Der Intellektuelle, der mir am nächsten sitzt, meint, ich solle den anderen nichts glauben, das seine alles menteure, also Lügner, die seien alle aus Tanger und noch nie von hier weggekommen. Der Kleine mit der vorwitzigen Frisur, der mich im Netz gesehen haben will, zwinkert mir permanent zu. Ich gucke immer freundlich hin, aber möchte mich nicht gemein machen, weil es meine erste lila ist und ich nicht zum privaten Vergnügen hier bin. Auch wenn der Intellektuelle langsam beginnt, mit mir zu ›füßeln‹. Ich sitze da und schaue nach oben zum Dach, sehe Yacin oben an seinem üblichen Platz sitzen und wir winken uns zu. Ich blicke mich um, sehe die Frauen im Raum und die Jungs am Tor und denke: ich hab’s geschafft, ich sitze bei den Musikern im Zentrum. Bei einer Lila, mittendrin. Die üblichen Frauen, ein Junge mit Down-Syndrom und Khaled, der bei den Musikern neben mir sitzt, geraten in Trance. Khaled reicht den Musikern und auch mir Wasser. Ich gehöre heute mit dazu. Es geschieht dass ich zum ersten Male in Trance gerate. Ich fange an mich zu bewegen und zu schütteln und kann mich nicht kontrollieren. Dann vergesse ich die Zeit. Als ich die Augen einmal zwischendrin aufmache bemerke ich, wie Oussama mich filmt, aber ich schließe die Augen und verbleibe in Trance. Vielleicht fühlen sich so die Leute, die von mir gefilmt werden, dies bemerken und in der Trance denken, dass das eigentlich egal sei. Jedenfalls macht Oussama diese Aufnahmen und als wir sie später mit Bluetooth übertragen wollen, gelingt es nicht. Vielleicht ist auch das ein Werk von Aïsha Qandisha. Hinterher nicken mir alle freundlich zu, so als gehörte ich dazu. Zohra reicht mir Wasser. Der stille, unscheinbar wirkende junge Mann in der Ecke – das merke ich erst langsam, weil ich selber aus einer Trance aufwache – wiegt sich nicht nur, sondern schlägt sich mit den Händen auf die Brust, hat das Gesicht verzerrt, die Augen verdreht, ist blass und er schreit »Aïsha, Aïsha«. Er muss gehalten werden von seinem Freund und die Musiker halten ihn, auch der Intellektuelle hält ihm ein Bein fest…. Er fängt an zu Schreien und um sich zu schlagen so gut er kann (was G1476 kaum geht weil er gehalten wird), man schafft es, ihn auf ein Kissen zu legen, wo er kurzfristig erschlafft. Aber die Musik geht weiter mit den Gaitas und Tamtams, er fängt dann an zu krampfen, Speichel läuft. Ich halte ihm den Kopf, die Anderen halten Beine und Arme und es dauert lange, bis er wieder ruhig ist. Nach dem cooling down öffnet er die Augen und sieht verzückt aus. Der Intellektuelle raunt mir angespannt zu, Aïsha sei heute anwesend, sie sei gefährlich und unberechenbar. Denn der zentrale Repräsentationsmodus der

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ğnūn ist die Tranceperformanz,70 und die wird am heutigen Abend stark zum Ausdruck gebracht. Ich frage ihn ob er hier sei wegen Aïsha, er meint, er sei hier um sich überraschen zu lassen. Bis auf die beschriebene Szene sind mir im Umfeld der Ḥamādša keine Homosexuellen begegnet. Mein Dolmetscher Adil hatte mich ja u.a. auf die Zaouia aufmerksam gemacht, weil der Kult um Lalla Aïsha auch viele Homosexuelle ansprechen würde. Die oben dargestellte Sequenz ist die einzige Beobachtung, die ich während eines Rituals in dieser Hinsicht machen konnte. Lalla Aïsha, so die weit verbreitete Überzeugung, wird von manchen marokkanischen Homosexuellen als ihre sainte matrone verehrt.71 Kein Zweifel: die anwesenden jungen Schwulen verehrten Aïsha Qandisha, den Geist der weiblichen Begierden, aus vollem Herzen. Gemäß einer Volkslegende, die ich allerdings einer OnlineZeitung entnehme und keine weiteren Befunde dafür gefunden habe, schlief Lalla Aïsha eines Nachts alleine in ihrem Zelt, wo sie von einem Unbekannten attackiert wurde, der sie vergewaltigen wollte. Durch göttliche Gnade verwandelte sie sich in einen Mann mit Bart, großer Körperkraft und einem Penis und sie verteidigte sich indem sie den Angreifer niederrang.72 Es wäre also vollkommen verfehlt die Begegnung von Menschen und ğnūn – ob in der Bruderschaft der Ḥamādša oder in den Bereichen des Alltages – auf die homosexuelle Thematik zu reduzieren. Der Glaube an ğnūn ist durch den Koran soweit und so tief in der Gesellschaft verbreitet, und er beeinflusst die unterschiedlichsten Bereiche des Alltagsdaseins wie Reinlichkeit, Ernährung und Spiritualität. Allerdings spielen Transgressionen eine bedeutende Rolle: Menschen werden zu Tieren oder verbinden sich mit ğnūn, Männer und Frauen überschreiten soziale und eben auch sexuelle Grenzen. Anhand dieser Transgressionen lassen unterschiedlichen Interpretationen des Glaubens an die ğnūn freilegen. Es gibt verschiedene wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Erklärungen für den Transgressionscharakter der ğnūnKulte; häufig stehen sie mit der dem Motiv der ›verrückten‹ Frauen in Verbindung. Bemühte man evolutionistische Erklärungsversuche, etwa die von Robertson Smith, dann betrachtete man den Glauben an die ğnūn als ein Überbleibsel aus der Zeit des Totemismus: denn die ğnūn tragen ähnliche Attribute wie die wilden

70 Leistle 2007 S.283. 71 Hier findet sich eine Ähnlichkeit zum sudanesischen Zar-Kult, der ebenfalls von Frauen, Homosexuellen oder Transvestiten getragen wird. 72 Larbi 2013.

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Tiere, sie sind also so etwas wie Tiergeister.73 Im Folgeschluss wäre der ğnūnGlaube ein Zeichen geringer Bildung und Vernunft und damit ein Relikt aus einer früheren Evolutionsstufe. Funktionalisten würden den Aïshakult hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Funktionen untersuchen. Der Rekurs auf die Geister bietet sowohl den Marginalisierten selbst als auch der Mehrheitsgesellschaft eine legitime Ausrede, um ungebührliches Verhalten nicht ahnden zu müssen. Funktionalisten würden ohne Zweifel feststellen, dass er den gesellschaftlich Marginalisierten und Geächteten eine Nische des Ausdruckes, der Transgression bietet, die sie in der Gesamtgesellschaft nicht besitzen. Arme Frauen und Homosexuelle gehören beispielsweise in diese Kategorie; erstere können sich wie Tiere benehmen, letztere wie Frauen. Es ist somit kein Wunder, dass Islamisten die Zaouia der Ḥamdūši als Transgressionsnische betrachten, die es zu diskreditieren gilt; das Motiv der Homosexualität bietet sich in geradezu exemplarischer Weise dafür an. Aus der Perspektive identitätsgeleiteter Westler und der europäisch-säkularen Moderne gibt es keine ğnūn – aber es gibt der Aufklärung bedürftige Ungebildete. Wie die Funktionalisten würden sie behaupten, die Zaouia biete einen Raum nicht nur für gesellschaftlich tabuisierte Begierden und Bedürfnisse, sondern für unterdrückte Identitäten. Dieses Wissen sei Allgemeingut, somit zögen die Ḥamdūši beispielsweise auch Menschen an, die man in Europa als schwul oder lesbisch bezeichnen würde. Medizinische und medizinhistorische Erklärungsweisen würden die Besessenen als an den Folgen einer Gehirnentzündung leidende (postenzephalitische) Patienten bezeichnen. Man würde auf ähnlich gelagerte Phänomene wie den sogenannten Veitstanz im christlichen Abendland im XIV. Jahrhundert verweisen. Auch dort habe man versucht »Kranke […] unter Begleitung von Flötenbläsern und Dudelsackpfeifen [zu den nächstliegenden St. Veits-Kapellen zu führen], […] um sie durch Musik und Tanz von ihrem grauenhaften Übel zu erlösen.«74 Die ğnūn wären damit externalisierte Personifikationen zerebraler Erkrankungen. Psychologische Ansätze wiederum würden ğnūn als externalisierte Personifikationen innerer Gemütsbewegungen interpretieren. Für die islamische Welt beispielhaft kann der Literat Masʿūdī (gest. 345/956) angeführt werden, der darauf verweist, »dass die Araber in Einsamkeit und Abgeschiedenheit leben. Wenn der Mensch auf seinen Reisen schreckliche Landschaften durchquere, fürchte er sich. Diese Angst bilde den Nährboden für Täuschungen, quälende Wahnvorstellungen und nichtige Vorahnungen von Unheil. Ein solches Umfeld 73 Westermarck 1968 S.383. 74 Winkle 200b S. 322.

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begünstige das Wahrnehmen von Stimmen und Phantomen. Besonders Personen, die unter Wahnvorstellungen leiden, seien davon betroffen. Masʿūdī erklärt diese Wahrnehmungsstörungen mit falschem Denken (sūʾ at-tafkīr) und einem Leben in unwegsamen, strukturlosen Gegenden. In seiner Isolation sehe der Mensch überall Gefahren und sei für die aus dem islamischen Dämonenglauben bekannten Vorstellungen empfänglich.«75 Psychiater in der Tradition der klassischen französischen Kolonialpsychiatrie hätten Schwierigkeiten zu definieren, was an den Kulten aus der Perspektive der Beteiligten und der Maghrebiner normal und was unnormal wäre. Für sie ist der Normalzustand der Kolonisierten schon per abnormal, da er vom europäischen Standard abweicht: »Colonial psychiatric descriptions and definitions of the abnormal normality of colonized populations led to a pathologization of normality.« Für sie sind Maghrebiner ohnehin »Lügner, Diebe, Vergewaltiger, Aufschneider und Faulenzer, hysterisch und unkontrollierbaren und unvorhersehbaren Mordimpulsen ausgegrenzt.«76 Insofern würden sie die Kulte als Zuspitzung des allgemeinen Charakters der Nordafrikaner ansehen. Begierden und Wünsche, die in der sozialen Welt nicht ausgedrückt werden können, ließen sich im Rahmen des Geisterglaubens sozialpsychologisch interpretieren.77 Das würde die Attraktivität des Aïshakultes bei Frauen und gleichgeschlechtlich Empfindenden erklären, da ihnen gesellschaftlich die Möglichkeit fehlt, ihre Begierden offen auszuleben – im Gegensatz zu heterosexuellen Männern, die über ein Repertoire öffentlicher Ausdrucksweisen verfügen.78 Die 75 76 77 78

Nünlist 2015, S. 35-36. Salouâ Studer 2014 S.350, Übersetzung durch den Autoren. Vgl. Guzder 2008; Nünlist 2008 S.1041; Nathan 2000. Vgl. für Spanien »Die Bedeutung der Sexualität für die männliche Identität manifestiert sich etwa in der ständigen verbalen und öffentlichen Bezugnahme auf männliche sexuelle Potenz, männliche sexuelle Bereitschaft und die männlichen Sexualorgane.« (Haller 1992) »Extroversion und Selbstdarstellung sind nicht auf den Bereich der Geschlechtsrollen beschränkt, sie spielen in der andalusischen Kultur eine bedeutende Rolle. Extroversion ist Mittel der öffentlichen Negation von Abhängigkeiten und wirksamer Schutzschild, um Konflikten und Angriffen aus dem Wege zu gehen. Introversion wird als Gefahr interpretiert, und Menschen mit introvertiertem Charakter wird unterstellt, ihre wirklichen ›Motive und die eigentlichen Ziele zu verdecken‹« (Keith 1983 S.68). Extroversion der Männlichkeit durch Gesten und verbale Äußerungen wird verschiedentlich (Aramoni 1972; Giraldo 1972; Gilmore & Gilmore 1978; Gilmore 1983; Santamaría 1985) als Kompensationsmechanismus für die wirtschaftliche Frustration der Taglöhner interpretiert. Extroversion ist für Männer ein hervorragendes Mittel, um ihre Männlichkeit zu bestätigen. Männer, die sich der Extroversion verweigern, werden für verweiblicht gehalten. Formen der Extroversion können sowohl bedeu-

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Begierden und Wünsche, die im Westen als innerlich und als psychisch beschrieben würden, werden von den Ḥamdūši als extern konzeptualisiert. Gleichgeschlechtliches Begehren oder auch das weibliche Begehren ist etwas, das von außen – z.B. von Aïsha – an die Menschen herangetragen wird: »Ainsi l’attraction sexuelle, la peur, les obsessions, et autres dispositions similaires […] sont souvent décrites par le Marocain […] en termes de possession par les esprits. [So werden sexuelle Anziehung, die Angst, die Begierden und andere ähnliche Dispositionen […] oftmals vom Marokkaner […] in Begriffen der Besessenheit durch Geister beschrie79

ben.]«

Es ist bedeutsam zu betonen, dass sozialpsychologische Sichtweisen nicht auf die entsprechende Disziplin beschränkt sind, auch unter Adepten marokkanischer Sufis ist diese Perspektive mitunter verbreitet.80 Evolutionisten, Funktionalisten, Modernisten und Sozialpsychologen gehen davon aus, dass es ğnūn nicht gibt, wohl aber universelle Identitätskategorien wie etwa Hetero- und Homosexuelle. In den muslimischen Kategorien geht es dagegen weniger um Identitäts- als um Handlungskategorien. Zumindest in den meisten Epochen. Für gläubige Sunniten gleich welcher Couleur, also auch für die malikitische Rechtsschule, die in Marokko dominiert, ist die Existenz von ğnūn im Koran verbürgt: daran wird – auch wenn sich viele Rechtsgelehrte eher ambivalent81 und tungstragende Objekte als auch verbal Äußerungen und Handlungen sein. Mit Extroversion ist die Übertreibung der Männlichkeit verbunden: die männlichen Attribute werden verstärkt herausgestrichen. Wenn Ethnologen von Hypermaskulinität sprechen, dann beziehen sie sich meist auf die extrovertierte Darstellung von Männlichkeit.« (Haller 1992) »To be man is to be macho« (Gilmore 1986 S.126). »Er muss seine Männlichkeit laufend unter Beweis stellen, muss allzeitig sexuelle Bereitschaft demonstrieren. Ein Mann, der mit einer Frau – die nicht gerade seine Mutter oder Schwester ist – zusammen ist, ohne seinen sexuellen Vorteil zu suchen, ist ein NichtMann. Er wird als flojo (Schlappschwanz) oder als maricón (Homosexueller) bezeichnet.« (Haller 1992). »His lust aroused, a real man makes this peremptory erotic energy known in action and in word. A man cannot let a pretty woman pass on the street without making a piropo« (Gilmore 1987 S.129f). 79 Rachik 2012 S.232. 80 Ein Aïssawa-Informant Nabtis (2007 S. 411) sagt: »dans les pays riches les gens vont voir un psychiatre, ici on fait une soirée [In den reichen Ländern gehen die Leute zum Psychiater, hier führen wir eine lila durch].« 81 Nünlist 2015, S. 41ff.

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einige sogar ablehnend82 verhalten – nicht gezweifelt.83 Interessant ist eine Beobachtung Rosenbaums84, die er heranzieht um darzulegen, dass es im arabischen und indisch-muslimischen Raum im 19. Jahrhundert verschiedene Rationalisierungsversuche gegeben hat, die die koranischen Aussagen »naturwissenschaftskompatibel« deuteten. Zentral im Glauben an ğnūn ist das Motiv des Unabsichtlichen: Menschen werden meist ohne ihr absichtliches oder bewusstes Zutun von ğnūn geschlagen. Menschen sind somit nicht bewusst verantwortlich für die negativen Seiten ihres Tuns, es sind die ğnūn, denen die Schuld zugeschrieben wird. Diese Position etwa vertritt Sami Abdessalam, Directeur du Centre Psycho-Médical, Ibn Sina (Paris), wonach die ğnūn als Blaupause für das Leid derer herhalten müssen, die innerhalb der Familie vergewaltigt wurden und diese Realität nicht akzeptieren wollen:85 Ein Muslim der leidet, einer der glaubt, von ğnūn besessen zu sein, hat Angst, sich der schockierenden sozialen Realität zu stellen.86 Diese Art von Fatalismus dockt an Grundbestandteile des Islam an: alles steht bereits geschrieben (auch das Schicksal der Menschen), es ist Gott der die Dinge lenkt, es sind die Dinge, die geschehen.87 Der Mensch kann nichts tun außer die Gebote befolgen. Folgsamkeit führt ihn nicht nur in ein sicheres Jenseits, sie schützt auch im Diesseits vor den ğnūn, allerdings: auch der malikitische Islam ist nicht blind und ignoriert nicht die Begehrlichkeiten der Menschen. Aber er unterscheidet zwischen den Begehrlichkeiten, die im Inneren der Individuen wurzeln, und jenen, die von außen – etwa von den ğnūn – kommen. Man ist allerdings davon überzeugt, dass der Kontakt mit ğnūn wenn möglich ignoriert, auf jeden Fall aber unterbunden werden muss, da sie die Menschen auf vielerlei Weise verwirren; gegen die ğnūn hilft nur das Lesen von Koransuren durch die fqih. Die Ḥamādša sind in den Augen der meisten Sunniten Muslime, die sich nicht an dieses Tabu halten, da sie sich geradezu mutwillig an die Schwellen zur Anderswelt begeben und über diese hinüberzutreten trachten. Salmon schreibt schon früh:

82 83 84 85 86 87

Nünlist 2015, S. 29ff. Nünlist 2015, S. 28ff. Rosenbaum 2014 S.171. ittaTV 2011, 09:00ff. ittaTV 2011, 10:00ff. Diese Haltung ist mir persönlich nicht fremd. Hier bin ich von meinem Grossonkel Samuel Wülser beeinflusst: »succede la volontà de dio. (…) l’uomo percorre il tempo della sua esistenza – nel senso biblico: gli è fissato un tempo, anche questa una struttura dell’esistenza, della vita – al interno di una grande volontà divina a lui in buona parte sconosciuta.« N.N. 1996 S. 68.

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»[…] cette croyance ne trouve plus de véritables adeptes que dans la population féminine, chez les nègres et les faibles d’esprit. Les bons musulmans et les gens instruits les jugent sévèrement. [[…] dieser Glauben findet nirgends mehr wahrhafte Anhänger als unter der weibliche Bevölkerung, den Schwarzen und denen, die schwach im Gauben sind. Die guten 88

Muslime und die Gebildeten verurteilen diese streng.]«

Auch aus der Perspektive der (radikalen) salafistischen Islamisten wird die Existenz von ğnūn nicht angezweifelt, da sie in der Heiligen Schrift verbürgt ist. Schon Ibn Taymiyya, auf den sich Salafisten oft beziehen, verweist darauf.89 Auch sie sind der Auffassung, dass der Kontakt mit den ğnūn unterbunden werden muss, da sie die Menschen auf vielerlei Weise verwirren; auch sie denken, dass gegen die ğnūn nur die fqih helfen, die die Geister vertreiben, exorzieren. Die Sufis sind für sie jedoch keine echten Muslime, sie setzen sich über die Gebote hinweg und paktieren mit den Geistern – da ist es kein Wunder, dass Sündiges und Schlimmes geschieht. Natürlich ist auch für die Ḥamādša und manche andere sufistischen Bruderschaften die Existenz von ğnūn im Koran verbürgt. Auch sie erkennen an, dass man sich von den ğnūn fern halten solle – alleine, ob dies gelingt, steht nicht im Behuf der Menschen selbst, sondern in dem der ğnūn. Aus der Perspektive der Ḥamdūši gibt es Menschen, die ihre inneren Gelüste haben und diesen nachgehen oder versuchen, sie zu kontrollieren; davon unterscheiden sie aber die Begierden, die von außen kommen, die ihnen widerfahren und die durch ğnūn verursacht werden. Die aus dem Inneren entstehenden Begierden kann man ausleben oder unterdrücken, die aus dem Äußeren kommenden Begierden können gebannt werden, indem man die Verursacher – die ğnūn – mit Ritualen, Gaben, Musik, Räuchersubstanzen und Trancen einbindet oder sie aus dem Körper vertreibt. Der Gebrauch der Räuchersubstanzen harmel und chebbah ist symptomatisch für die gleichzeitige Einbindung und Austreibung: ğnūn hassen harmel, aber sie lieben chebbah.90 Normale Menschen können sich gegen die ğnūn und ihre Verwirrungen nicht wehren – sie sind zumeist unbeabsichtigte Opfer der ğnūn und daher nicht für ihre Begierden verantwortlich.91 Anstatt die Geister zu vertreiben geht es den Ḥamādša darum, sie entweder in der Hadra zu beschwören und sich

88 89 90 91

Salmon 1904, S.269. Nünlist 2015, S. 28, 30ff. Westermarck 1968 S.288. Das wird in Crapanzanos (1980) besonders sichtbar.

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mit ihnen zu vereinen, oder, wenn sie den Leib des Klienten bereits besessen haben, ihre schädigenden Wirkungen zu bannen.92 Die hier vorgenommene Trennung in unterschiedliche Perspektiven generiert natürlich Idealtypen, die in der sozialen Wirklichkeit der Menschen, mit denen ich es zu tun hatte, nur selten rein vorkommen. So erinnert die Gegenüberstellung westlicher, salafistischer und sufistischer Kategorien an die Unterscheidung, die Favret-Saada93 in ihren Forschungen über Hexerei in der Mayenne vornimmt. In der alltäglichen Praxis sind die Kategorien meist miteinander verschränkt, und meistens sind sie auch nicht geschlossen.94 Dennoch bestimmen sie Tendenzen und beschreiben Kosmologien, die innerhalb bestimmter Milieus dominieren. Als Ethnograph und Ethnologe ziehe ich diese letzte Interpretation vor. Es wäre m.E. vollkommen verfehlt, die ğnūn auf westliche Weise – sei sie nun evolutionistisch, funktionalistisch, modernistisch oder sozialpsychologisch – zu reduzieren. Dies reproduzierte lediglich akademische Sichtweisen, die der inneren Logik der Ḥamdūši in keinster Weise gerecht werden. Ich hänge der Überzeugung von Edward Westermarck an, die Kosmologie der Glaubenden ernst zu nehmen und zu entschlüsseln – eine Reduktion der Phänomene auf Psychologie oder Funktion, so sehr dies uns im Westen nahe liegen mag, würde das Fremde nicht ernst nehmen, würde es wegerklären. Es kann daher in einem weiteren Schritt nur darum gehen, nicht eine Ethnologie des Sufismus zu entwickeln, sondern eine sufistische Ethnologie: die Entfaltung der Welt aus der Perspektive der Ḥamdūši.

D IE S UFIS ,

DER

K ÖNIG

UND DIE I SLAMISTEN

Wenn ich behaupte, dass eigentlich alle meine muslimischen Informanten – auch die modernistischen Intellektuellen – die Existenz der ğnūn bezeugen, dann tun sie dies allerdings auf unterschiedliche Weise: es gibt jene, die häufig von ğnūn reden und für die die Inanspruchnahme von Ärzten, Heilern und fqih auf derselben Ebene liegen (Yassine)95; andere reden nicht von den ğnūn und sie 92 Damit ähneln diese Praktiken auch dem traditionellen westafrikanischen Hexenglauben: Hexen müssen in die Gesellschaft reintegriert werden und nicht, wie es heute etwa die Pfingstkirchen machen, bekämpft. Mündl. Kommunikation mit Henning Christoph, 12.04.2015. 93 Favret-Saada 1980. 94 Darauf verweist etwa Dobler (2015) in seiner Kritik an Favret Saada (1980). 95 Im Falle von Yassine kann man nicht von Reserven im Sinne Hauschilds (2008) sprechen, da keine Lösung eine andere ersetzt.

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besuchen auch die Ḥamādša nicht aus eben dieser Angst (Ferdaouss). Wieder andere (z.B. Nawfel) ignorieren die ğnūn aus Furcht so gut wie möglich und argumentieren modernistisch; Nawfel: si tu me crois et tu pense que je suis aassez cultiv et intelignet pour comprendre tous. moi je croi e a eux. car c est sité dans le coran [Wenn du mir glaubst und denkst dass ich genügend kultiviert und intelligent bin um all das zu verstehen. Ich glaube an sie (die ğnūn). Weil das im Koran zitiert wird.] D.H.: je sais. et moi je crois que je sais pas quoi croire.,...[Ich weiß. Und ich glaube dass ich nicht weiß, was ich glauben soll] Nawfel: et ca peu exiter ces deux monde en parallele. si tu me dis si il ya extra trestres ou ovni je dirai que le coran n ap monsioné et j ai jamis vu de mes yeux. [Und das kann die beiden Parallelwelten verstören. Wenn du mir sagst, dass es Außerirdische oder UFOS gibt dann sage ich dass das im Koran nie erwähnt wurde und dass ich das nie mit meinen eigenen Augen gesehen habe] D.H.: oui je crois que une monde parallelle peut exister [Ja ich glaube dass eine Parallelwelt existieren könnte] Nawfel: donc je vie si comme il existe pa [Also ich lebe so als ob sie nicht existierte]96 Manche (z.B. Ziyad) tun alles, um sich den ğnūn nicht stellen zu müssen, daher gehen sie auch nicht sofort zu den fqih, sie konsultieren zuerst Psychologen und Ärzte97 – erst wenn das nicht mehr weiterhilft, stellen sie sich den ğnūn;98 Andere (wie etwa Manzoor, Aissam und die im einleitenden Zitat von Mrabet [Kapitel 3] erwähnten modernen Marokkaner) lachen über die Ḥamdūši als Überbleibsel einer alten Welt; und wieder andere (z.B. Nawfel) ärgern sich über Trancespezialisten, weil sie Scharlatane seien, die Ungebildeten das Geld aus der Tasche ziehen und dabei auch noch Heilung vorgaukeln – an die Existenz von ğnūn glauben sie dennoch. Und für wieder andere – vor allem für Intellektuelle, die die Zaouia besuchen – ist der Aïshakult in der Rue Gzenaya etwas Echtes, etwas Authentisches, nichts Inszeniertes oder Kommerzialisiertes. Die marokkanischen Sufis stehen in einem politischen Kontext, den es zu ergründen gilt. Der König entstammt einer Scherifendynastie (direkte Nachkommen des Propheten) und er besitzt magische Kräfte (Segenskraft = baraka), die er durch Handauflegen weitergeben kann. Dem Volksislam mit seiner 96 Feldforschungstagebuch 20.01.2014. 97 Ähnlich auch Zillinger 2013 S.79. 98 In Ziyads Fall kann man von Inanspruchnahme einer Reserve im Sinne von Hauschild (2008) sprechen.

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Wertschätzung der baraka, mit seinen magischen Praktiken, mit seinem Heiligenund Geisterglauben, kommt im Verlauf der Geschichte eine wichtige Rolle in der Stützung der marokkanischen Monarchie zu. So sahen französische Ethnologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts darin ein Gegengift gegen die antikolonialen Bestrebungen innerhalb Marokkos, weil der Volksislam ihrer Meinung nach jeglichem Wandel abhold war und ein Bollwerk gegen die Freiheitsbestrebungen darzustellen vermochte.99 Gleichfalls diente er den Kolonialherren als Begründung für die Rückschrittlichkeit des Landes und seiner Kolonisierungsbedürftigkeit durch Frankreich.100 Die an den Makhzen gebundene Trias aus baraka, Sharifismus und Sufismus markiert das, was in der Forschung ›marokkanischer Islam‹ genannt wird.101 In welcher Weise beeinflusst die Zunahme des Islamismus den traditionell immer schon starken Geisterglauben in Marokko? Die Zunahme islamistischer Versionen des Islam eliminiert den Glauben an ğnūn nicht, integrierende Ausdrucksformen allerdings kommen – wie im Beispiel der Diskreditierung der Ḥamdūši als schwul in den Medienberichten – unter Beschuss. Zillinger102 hat für Meknès festgestellt, dass in den Jahren seiner Untersuchung (2005-2009) die Feiern der Ḥamādša sich von halböffentlichen Räumen wie Straßen und Plätzen in geschützte Räume (umfriedete Gevierte) verlagerten. Denn der Umgang der Ḥamādša und der Gnawa mit der Welt der ğnūn ist nicht nur für westliche Modernisierer problematisch,103 sondern auch für die dominierende malikitische Rechtsschule104 und für integristisch-salafistische Modernisierer – wenngleich aus anderen Motiven; letztere »verurteilen den mystischen Zugang zur Religion als häretisch und unislamisch und versuchen ihn zu unterdrücken.«105 Zwar begreifen sich Salafisten explizit als antimodern, da sie sich auf die Prophetentradition und die frühen Altvorderen (NG# ( ‫ ا‬as-salafiyya) beziehen.106 Sie sind jedoch selbst zutiefst modernistisch, da sie sich in der Gegenwart an 99 Burke III 2014 S.174. 100 Burke III 2014 S.176. 101 Bemerkenswert hierbei ist es, dass die malikitische Rechtschule und ihre Vertreter, die Ulemas, in dieser Wahrnehmung kaum eine Rolle spielt und dadurch auch nur selten zum Gegenstand der Forschung wird. Damit geraten auch die innermuslimischen, jedoch aussermarokkanischen Einflüsse häufig aus dem Blickfeld der Forschung. Burke III 2014 S.176. 102 Mündliche Information. 103 Vgl. Salmon 1904 S.169: Der Geisterglaube wird dort Aberglaube der Schwarzen, der Frauen und der Ungebildeten bezeichnet. 104 Nünlist 2015 S. 286. 105 Zeino-Mahmalat 2014 S.35. 106 Seidensticker 2014 S.24ff.

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Reinheitsvorstellungen, die auch den europäischen Ideologien des 20. Jahrhunderts nicht fremd waren, orientieren.107 Es ist kein Wunder, dass sich bereits die ersten islamistischen Attacken gegen Lokalitäten richteten, die paradigmatisch für die Ambivalenz und die Vermischung standen .108 Für Salafisten handelt es sich bei den Sufis, die sich der Welt der ğnūn zuwenden, um politische,109 aber auch um spirituelle Konkurrenten, Politik und Spiritualität stehen in einer offensichtlichen Verbindung.110 Dialmy111 bezeichnet die Bruderschaften sogar als ›inneres Anderes‹ der Islamisten. Gerade die für Marokko typische Koexistenz zwischen der malikitischen Rechtsschule, der Ach’arīa-Doktrin und den Sufisten112 ist auch in Ländern wie Mauretanien und 107 In Marokko betrachten insbesondere die 1969 von Abdelkrim Mouti gegründete islamistische Chabiba-Bewegung und ihre Nachfolger wie die Regierungspartei Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung den marokkanischen Staat und die marokkanische Gesellschaft als unislamisch: [»Auf der gesellschaftlichen Ebene ist die Devianz [vom wahren Islam] in den Glaubensformen, den Riten und den sozialen Praktiken wahrnehmbar. Die Glaubenswelten der Marokkaner werden von den Heiligenkulten, den wahrgenommenen Phänomenen und der Abweichung von Fragen des Dogmas (Existenz Gottes, letztes Gericht …) dominiert (…) Was die sozialen Praktiken betrifft, so ist die Lüge weit verbreitet, genauso wie der Betrug, die Korruption und die Vetternwirtschaft. Auch die Ausweitung der Geschlechtermischung und der Entschleierung der Frau provozieren dergestalt soziales Übel, dass die marokkanische Gesellschaft für seinen hohen Konsum an Alkohol und Drogen bekannt ist.«] Dialmy 2000 S.9. 108 Djerba 2002, Casablanca 2003, Beyoğlu 2003, Bali 2005, Mossul 2014. 109 z.B. der tunesische Premierminister »Rachid Ghannouchi, leader of Ennahdha, the Islamist party heading the government coalition after the first free elections in October 2011, proved to be hostile to Sufism. Ghannouchi had never viewed Sufism favourably, joking in an interview, ›On this I fully agreed with Bourguiba, even if for very different reasons‹, and arguing that the veneration of Sufi sheikhs is neither compatible with democracy nor with Islam.33 The main direct challenge to the Sufis, however, has come from Salafism. The vandalism and ravaging of zawaya have increased in frequency and scope since 2011, with Salafis identified as the perpetrators on several occasions (International Crisis Group 201 S.4)« Werenfels 2013 S.12. 110 Diese Verbindung beleuchtet sowohl die Spiritualisierung der Landschaft als auch die akademischen Konzepte von Cultural Areas neu: die gegenwärtige marokkanische Außenpolitik versucht, die traditionalen Formen des Islam in Nord- und Westafrika zu stärken und greift damit auf die Idee einer mediterran-subsaharischen Kulturzone zurück. 111 Dialmy 2000 S.12. 112 Rhani/Hlaoua 2014 S.18.

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Mail verbreitet,113 und Marokko versucht seinen Einfluss in der Region über die Propagierung eines malikitischen Islam zu stärken, wie der Politologe Bakary Samba114 berichtet. Die jihadistischen Salafisten in Nord- und Westafrika wiederum beabsichtigen, die Malikiten als konturlos und die Sufibruderschaften als irrgläubig zu denunzieren und die Kultstätten der traditionalen Formen des Islam – die Heiligengräber beispielsweise – zu zerstören und zu schänden. Damit etablieren Bewegungen wie Ansar Dine in Mali über Boko Haram in Nigeria, die die bori-Kultur im Norden des Landes verfolgen, bis zu der Sufischreine zerstörenden115 Ansar-Al Sharia in Libyen, den Muslimbruderschaften in Ägypten, der Al-Shabaab in Somalia und der IS in Syrien nicht, wie sie vorgeben, einen »altvorderen«, sondern einen modernen, von Geistwesen, Heiligenschreinen und Mystizismen – kurz: von Ambivalenzen und Grautönen – bereinigten arabischislamischen Kulturraum zwischen Dakar und dem Oman. Damit wird Geschichte umgeschrieben – eine ähnliche Strategie wie die Zerstörung von Kulturgütern durch den IS – und die Bindungen des Maghreb nach Europa und in den Mittelmeerraum negiert. In ihrem Kampf gegen die Welt der Geister ähneln radikale Salafisten übrigens den christlichen Pfingstkirchen, die in Westafrika die Geister ebenso bekämpfen,116 und die ich als Salachristen zu bezeichnen geneigt bin. Im Tanger der Jahre 2013-15 konnte ich eine Abdrängung des Sufismus in geschützte Räume nicht beobachten. Dies liegt sicherlich auch an der offiziellen Politik des Königs, der für einen Ausgleich zwischen Islam und westlicher Moderne, sowie zwischen den unterschiedlichen islamischen Strömungen im Lande steht. »Fortschritt durch Frömmigkeit lautet die Devise – Marokkos König Mohammed VI., 42, hat die Religion als Mittel zur Modernisierung der Gesellschaft entdeckt. Neue Rechte für die Frauen, Stärkung der Bürgerfreiheiten: Der Herrscher über das 30-Millionen-Volk am nördlichen Rande Afrikas, das zu 99 Prozent aus Muslimen besteht, will sein Land durch eine tolerante Auslegung des Korans demokratisieren. Marokkos dreieinhalb Jahrhunderte alte Herrscherfamilie der Alaouiten, nach dem japanischen Kaiserhaus die weltweit älteste Dynastie, leitet ihre Abstammung direkt vom Pro-

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Aqejjaj 2014. Hubert 2014; vgl. auch Sakhtivel 2014. N.N. 2012. Hollenbach 2015.

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pheten Mohammed her. Als ›Amir al-Muminin‹, als Führer der Gläubigen, besitzt der 117

Herrscher allerhöchste Autorität.«

Der alaouitische König versucht, den radikalen Islamismus mit unterschiedlichen Mitteln einzuhegen. So stehen die Modernisierungsmaßnahmen in Tanger auch mit der ökonomischen Aufwertung des Nordens in Verbindung, wodurch es den Islamisten schwerer fallen soll, Gefolgschaft in den deklassierten Milieus zu finden. Der Norden gilt als wichtigstes Rekrutierungsgebiet der marokkanischen Jihadisten. Auf dem Gebiet der religiösen Organisation wurde bereits 2002 mit dem liberalen Historiker Ahmed Toufiq vom König ein Minister für Islamisches Recht und islamische Angelegenheiten118 ernannt, der selbst Mitglied der BoutchichyaSufibruderschaft ist.119 Toufiq versucht, die 35 000 Moscheen strenger zu kontrollieren, lässt illegale Gebetssäle schließen und verbietet den Verkauf von Kassetten der Hetzprediger.120 Durch die Ausbildung an der Theologischen Fakultät in Rabat, dem Dar al-Hadith al-Hassania, werden 50 Frauen, sogenannte Murschidat, neben 150 jungen Männern ausgebildet. 121 Die fertigen Doktoren »werden eine neue Debatte über den Koran in die Gesellschaft tragen.« Es gehe dem König darum, »die religiöse Staatsführung in eine Demokratie zu überführen. Deshalb müssten die Träger der Botschaft gewisse Freiheiten haben, sonst seien sie unglaubwürdig«.122 Die Ausbildung findet in den Traditionen der malikitischen Rechtsschule, der Ach’arīa und der Sufismen statt.123 Letzteren wird besondere Bedeutung zugemessen: sie gelten in ihrer Mehrzahl als quietistische Bewegungen die daher zum Einen geeignet erscheinen, den radikalen Salafisten einen nicht gewalttätigen Islam entgegenzustellen, zum anderen aber auch dazu geeignet erscheinen, den

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Zuber 2006. Ministre des Habous et des Affaires islamiques. Daadoudi 2008 S. 227. Zuber 2006. Während die Männer das Freitagsgebet in der Moschee leiten werden, sollen die Frauen dort Religionsunterricht erteilen. Ihr Studienprogramm umfasst auch die Geschichte anderer Religionen, dazu Psychologie und Sprachen wie Hebräisch, Griechisch oder Deutsch – fließend Englisch und Französisch wird vorausgesetzt. Nach dem Modell von Harvard sollen nur die Besten an die Theologiefakultät gelockt werden – mit einem monatlichen Stipendium von 200 Euro. In Marokko, wo ein Viertel der Diplomierten arbeitslos ist, kommt das einem Vermögen gleich. 122 Zuber 2006. 123 Rhani/Hlaoua 2014 S.18.

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Unmut eines Großteils der Bevölkerung über die Perspektivlosigkeit zu kanalisieren oder hinwegzutrösten.124 Auch spielt die sufistische Musik im Zeitalter der Globalisierung für die Außendarstellung Marokkos und seiner Nationalkultur eine zentrale Rolle. Man spricht sogar von einem ›Frühling des Sufismus‹.125 Die sufistischen Bruderschaften werden gestärkt, um einen Islam der Toleranz und der Öffnung voranzutreiben.126 Um ›die Leere auszufüllen‹ und nicht ›Dunkelmännern‹ das Feld zu überlassen, müsse die Religion in der heimischen Ausrichtung des Sufismus dem Volk besser vermittelt werden.127 In Tanger drückt sich dies durch die Wiederbelebung des Festes des Stadtheiligen Sidi Bouabid aus, bei dem sufistische Bruderschaften und Handwerkszünfte eine wichtige Rolle spielen. Dies bedeutet natürlich auch eine Politisierung des Sufismus und trägt damit zu einer neuen Form des politischen Islam bei.128 Auch die gegenwärtige marokkanische Außenpolitik versucht, die traditionalen Formen des Islam in Nord- und Westafrika mit ihren Sufibruderschaften, ihren Heiligengräbern und ihren mystischen Traditionen zu stärken. Denn wichtige Heiligtümer etwa der senegalesischen Muslime liegen in Marokko. So erlebt der Sufismus in Nordafrika gegenwärtig nicht nur eine kommerzielle129 und eine spirituelle Renaissance, sondern – nachdem er seit der Entkolonialisierung eine eher geringe Rolle spielte – zunehmend auch politische Bedeutung. Dies betrifft sowohl Entwicklungen innerhalb der nordafrikanischen Länder selbst130 als auch zwischenstaatliche131 und transsaharische Prozesse. 124 Burke III 2014 S.178ff. 125 Lanza 2011. 126 »Au Maroc, le régime a choisi de manière très volontariste de favoriser les confréries soufies pour contrer les vélleités fondamentalistes et littéralistes et pour favoriser un islam de tolérance et d’ouverture« [In Marokko hat sich das Regime auf sehr freiwillige Weise entschieden, die sufistischen Bruderschaften zu unterstützen, um die fundamentalistischen und literalistischen Auslegungen zu bekämpfen und um einen Islam der Toleranz und der Offenheit zu propagieren], sagt Souleymane Bachir Diagne, senegalesischer Philosoph an der Columbia University/New York. cit in: Ploquin 2014. 127 Zuber 2006. 128 Rhani/Hlaoua 2014 S.19. 129 Es kann eine Folklorisierung der Sufis durch den Tourismus und die neuen Medien (Gnawafestivals, Tarab Tanger, Tanjazz) beobachtet werden. 130 Werenfels (2013 S.1ff) bemerkt, dass dies von den Politikwissenschaften entweder von einer top-down Perspektive, »as a function of authoritarian regime strategies in response to challenges posed by political Islam«, oder wie im Kontext des »revival of spirituality, the appeal of traditional or new age Sufism« behandelt wird. Werenfels

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»In this arena, regime efforts at authoritarian upgrading merged with political realism and have been expressed in a soft power approach in which Sufism and Sufi actors have been attributed an important role. Maghrebi leaders have turned to transnational Sufi actors to expand their states’ economic and political networks in Africa, to bolster power plays with their neighbours, to mediate and mend fences during and after conflicts, to influence dias132

pora communities in the West, and to export a particular brand of Islam.«

Dennoch ist die Salafisierung mittlerweile in Marokko ganz allgemein sichtbarer, gerade das Jahr 2015 verzeichnet eine Welle der Prüderie und eine Reihe von aufsehenerregenden Aktionen gegen freiere Lebensweisen: in Agadir demonstrieren Jugendliche dagegen, dass am Ramadan an den Stränden Bikinis getragen werden;133 in Fes wird ein junger Transvestit von einem Mob gelyncht;134 in Inezgane werden zwei Frauen wegen des Tragens von Miniröcken attackiert;135 der Justizminister rät Homosexuellen, sich zu Frauen umoperieren zu lassen;136 in Tanger kämpfen islamistische Frauen für einen Frauenstrand (Burqa plage);137 in Al Hoceima, Tanger und Rabat werden Badende von vermummten Männern mit Säbeln und Tränengas attackiert.138 Auch wenn es zum Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht klar ist, dass all diese Attacken von Islamisten ausgeführt wurden, so passen diese dennoch in den sich wandelnden puritanischen Zeitgeist Marokkos. Auch in Tanger sind die Islamisten auf dem Vormarsch. Beispielhaft hierfür ist meine erste Begegnung mit der Reglementierung liberaler Muslime in der Öffentlichkeit. Auf einem Abendspaziergang (paseo) am Boulevard mit Yassine pöbelt ein älterer Mann ohne Bart einen Familienvater, der mit seinen beiden heran-

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selbst fokussiert auf die Sufis als Akteure mit eigenen Interessen: »Sufi actors taking advantage of expanded room to manoeuvre have, whether deliberately or not, moderated, diluted, altered, distorted, foiled, or enhanced the effects of top-down policies.« (2013 S.3) Wippel 2012 S.1205ff. Werenfels 2013 S.6. So wurde beim Staatsbesuch von König Mohamed VI in Mali im September 2013 vereinbart, »500 malische Imame in Marokko ausbilden zu lassen« und zwar in der malikitischen Rechtsschule. Zeino-Mahmalat 2014. Laabid 2015. Bennamate 2015a. Bennamate 2015b; Iraqi 2015. Charrad 2015a. Vgl. Chambost 2015; Ben Jelloun 2015; Jaabouk 2015. Charrad 2015b; N.N. 2015a.

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wachsenden Töchtern, die mit offenem Haar den paseo genossen, an. Sie seien keine guten Muslime. Der Vater reagiert offensichtlich nicht, Yassine raunt mir zu, der Mann sei ein Verrückter: so rede man nicht mit Fremden und beleidige sie.139 Vor allem das schnell wachsende im Armenviertel Bni Mekkada ist ein bevorzugtes Betätigungsfeld gewalttätiger Islamisten. 60% der Tanjawis sollen dort leben. »Accoudé au comptoir de sa petite épicerie, Mohamed, qui est né dans le quartier en 1963, se souvient quant à lui d’une autre atmosphère, à l’époque ›où les habitants avaient des idéaux et que le quartier était l’un des bastions de l’Istiqlal et du Parti Socialiste (USFP). Aujourd’hui, plus personne ne croit en rien, et surtout pas en les responsables politiques. Cela ne profite qu’aux salafistes et aux ferracha, qui imposent leurs lois.‹ [Auf den Tresen seines kleinen Gemüseladens gelehnt erinnert sich Mohammed, der 1963 im Viertel geboren wurde, an eine andere Atmosphäre, ›als die Bewohner Ideale hatten und das Viertel eine der Hochburgen der sozialistischen Partei USFP war. Heute glaubt keiner mehr an irgendwas, und ganz bestimmt nicht an die politischen Verantwortlichen. Das nützt aus140

schließlich den Islamisten und den Ferracha, die ihre Gesetzte aufzwingen.‹]«

Von Ziyad erfahre ich, dass er in einem Café in Bni Mekkada von zwei Bärtigen, also zwei Islamisten, gehört habe, die würden sich nach einem Taxi umschauen, in das sie eine Bombe platzieren könnten und das würden sie irgendwo in der Stadt hochgehen lassen, wo man gar nicht damit rechnen würde. Das sagt er mit weit aufgerissenen Augen.141 Wie der von mir beobachtete Vorfall auf dem Boulevard sind die Aktionen der Islamisten aber nicht auf Bni Mekkada beschränkt: mittlerweile agieren sie auch im Zentrum der Stadt. So wurde im August 2014 ein junger Trinker von einem selbsternannten Committee for the Promotion of Virtue and Prevention of Vice fast zu Tode geprügelt.142 Das Opfer erstattete Anzeige, man investigierte und fand heraus, dass die Täter aus Bni Mekkada kommen, wo die militanten Islamisten auch erfolgreich junge Männer und Frauen für den Jihad (im Sinne des militärischen Kampfes) in Syrien rekrutieren. Von dort stammt etwa der ISKämpfer »Ahmed Chaara, der berühmte Jihadist, der im Mai an der syrisch-

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Feldforschungstagebuch 14.04.2013. Kozlowski 2014. Feldforschungstagebuch 03.11.2014. El Barakah 2014.

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türkischen Grenze durch den marokkanischen und den französischen Geheimdienst festgenommen wurde.«143 Dem Jihadismus den Boden zu entziehen ist eines der sozialen und politischen Ziele der Modernisierungsmaßnahmen (vgl. auch Kapitel 5) und auch der Förderung der islamischen Vielfalt, wie etwa der sufistischen Strömungen, durch das Königshaus. Seit Sommer 2014 werden diese Ziele durch harte polizeiliche und geheimdienstliche Maßnahmen gegen die Jihadisten ergänzt.

E INE

MUSLIMISCHE , GAR EINE SUFISTISCHE

E THNOLOGIE ?

Jordá schreibt über Bowles Buch Das Haus der Spinne: »Die Muslime verkörpern das Rätsel des Menschen in Einklang mit sich selbst, zufrieden mit der Lösung, die sie für das Problem der Existenz gefunden haben; die innere Abgeklärtheit entstammte ihrer Verweigerung, Fragen zu stellen, die Existenz so zu akzeptieren, wie sie von ihren Sinnen wahrgenommen wird, jeden Tag frisch und neu, ohne den Versuch zu unternehmen mehr verstehen zu wollen als das was unmittelbar und einfach zum Leben erforderlich ist, im ihrem impliziten Glauben an die essentielle und absolute Unausweichlichkeit aller Dinge. Einschließlich des Verhaltens der Menschen.«144 Jordá geht es um die rohe und unbedingte Basalität des Daseins und der Bedürfnisse, die es als müßig ansieht, am Existentiellen zu zweifeln und das Schicksal als solches zu akzeptieren. Genau dies erfuhr ich immer wieder mit vielen meiner Informanten: Hinnehmen. D.H.: T es bien? [Geht’s dir gut] Khaled: Oui cv juste on oncle et ma tante son more c tou [Ja, es geht, bloß mein Onkel und meine Tante sind tot, das ist alles] D.H.: Je suis desolee mon ami [Das tut mir sehr leid, mein Freund]

143 Zouggari 2014. 144 Übersetzt durch den Autoren. Im Original bei Jordá 1993 S.156: »Los musulmanes encarnaban el misterio del hombre en paz consigo mismo, satisfecho con la solución que habian encontrado al problema de la existencia; la serenidad interior procedía de su negativa a plantearse preguntas, aceptando la existencia tal y como llegaba a sus sentidos, fresca y nueva cada día, sin tratar de comprender nada más que lo que valía directa y simplemente para vivir, son la creencia implícita en la esencial y absoluta inevitabilidad de todas las cosas, incluyendo el comportamiento de los hombres.«

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Khaled: Nn c pas grafe mon cher ami!! C la vie [Nein nein, das ist nicht schlimm mein lieber Freund!! Das ist das Leben] Diese Unterhaltung am 25.01.2015 mit Khaled ist typisch für den Umgang mit dem Tod: Er ist ein normaler Bestandteil des Lebens, Menschen kommen und gehen. Der Herr wird’s richten, wir können das Schicksal nicht beeinflussen, sondern nur die Gnade erfahren. al-ḥamdu li-Llāh! Von Gnade halten Europäer gemeinhin wenig; sie trennen zwischen Kultur und Natur, sie sind zutiefst von der Überzeugung geprägt, dass der Mensch ein erkennendes Subjekt und die Umwelt ein zu erkennendes Objekt sei – eine Vorstellung, die im Christentum verankert und in den modernen Säkularismus übergegangen ist.145 In Hegels Enzyklopädie heißt es: »Den Europäer interessiert die Welt; er will sie erkennen, sich das ihm gegenüberstehende Andere aneignen, in den Besonderungen der Welt der Gattung, das Gesetz, das Allgemeine, den Gedanken, die innere Vernünftigkeit sich zur Anschauung bringen. Ebenso wie im Theoretischen strebt der europäische Geist auch im Praktischen nach einer zwischen ihm und der Außenwelt hervorzubringenden Einheit; er unterwirft die Außenwelt zu seinen 146

Zwecken mit einer Energie, welche ihm die Herrschaft der Welt gesichert hat.«

Frobenius147 verlagert diese Trennung zwischen dem handelnden Menschen und der zum Objekt gemachten Umwelt, die er hyperboräisch nennt, in die Prähistorie. Dies betrifft auch den Umgang mit dem Spirituellen: auch wenn der Geisterglaube als ein akzeptables Forschungsobjekt betrachtet wird, so ist man 145 »In early Christianity, as Benson Saler (1977) has argued, there is a basis for making the distinction, given assumptions about the creator and creation. Natural law, as distinct from revelation, posits that God created a world with universal rules, though God is also capable of intervening—and one cannot often be sure which is happening, since even the Catholic Church takes a long time to certify miracles and saints. One thus has the basis for conceptions of a law- like natural and a supernatural. This conception was important for the early scientists, and to a large extent led to the scientific revolution in the West (Braudel 1994). The premise of God was largely dropped by many later scholars, and we now find Western academia, though not the public as a whole, dominated by a secularist framework that had its roots in theistic conceptions of the universe (Stewart 200 S.325). Thus, secularists largely hold this distinction, but often end up discounting the supernatural, thinking it implausible.« Jindra 2003 S.160. 146 Cit. in Kramer/Rees 2005 S.202¸ vgl. auch http://www.hegel.de/werke_frei/start free.html [letzter Zugriff: 20.11.2014]. 147 Frobenius 1933 S.186.

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der Überzeugung, dass Geister keine Subjekte sein und als tatsächliche Wesenheiten nicht existieren können.148 Nahe liegen dann psychologische Erklärungen,149 die den Geisterglauben auf problematische Gemütsbewegungen oder auf Geistes- und Nervenkrankheiten150 reduzieren, oder funktionale wie »[e]s entstehen aus den Toten die Gespenster, aus der Natur die Geister, die der Mensch sich zu Hilfskräften macht.«151 Ins Extreme getrieben ist diese Aktions- und Akteurszentriertheit nicht nur in den Sozialwissenschaften, die auf agency, social engineering, politics of und rational choice abheben, sondern auch insbesondere im US-amerikanischen Menschenbild, in dem Machbarkeit im Zentrum steht: »the universe is mechanistically conceived, man is its master.«152 Der Freiheit der Wahl, dem zentralen Kulturmuster der amerikanischen Gesellschaft (und im Neoliberalismus zur obligation to choose153 pervertiert), unterliegt genau dieses Machbarkeitsnarrativ. Im Westen steht der Mensch nach 300 Jahren der Modernisierung, der Aufklärung und der Säkularisierung alleine im Zentrum des Weltbildes.154 Ich beziehe mich hier v.a. auf das »republikanische Modell«, dem man etwa mit

148 Exemplarisch und durchaus typisch siehe Evanz Wentz schon im Jahre 1911 S.475: »I conceive the various beings, fairies, brownies, Iruntarinia, Djinns, or what you will, to be purely mythical. I am incapable of believing that they are actual entities, who carry off men and women; steal and hide objects (especially as the Iruntarinia do); love or hate, persecute or kiss human beings; practise music, vocal and instrumental; and in short ›play the pliskies‹ with which they are universally credited by the identical workings of the human fancy.« Vgl. auch Lohmann 2003 S.180 »The universality of spiritual experience indeed reveals that there is objective truth to the supernatural. That truth, however, is that the ›spirits‹ are found inside all our heads and not outside any of them.«. 149 Z.B. Evans Wentz 1911; Crapanzano 1981 S.27. 150 Vgl. Winkle 2000 a, b, c. 151 Frobenius 1933 S.186. 152 Du Bois 1955 S.1234; siehe auch Beeman 1986. 153 Haller 2007 S.183ff. 154 Frobenius schreibt dies im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten. In ihnen sieht er eine Rückkehr zum deutschen Wesen, das er als von Mystik und »Hingabebereitschaft« (1933 S.31) gekennzeichnet sieht. Die Aufklärung mit ihren Prinzipien des Rationalismus, Realismus und Materialismus bezeichnet er als »Lebensgefühl der Westvölker« und daher den Deutschen als wesensfremd. (1933 S.30). Die Mystik der romanischen Völker »hat sich niemals von der Scholastik zu trennen vermocht und lediglich in einer ›psychologischen Theorie des mystischen Andacht‹ kulminiert«. (1933 S.30).

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Taylor155 vorwerfen kann, »tendenziell dogmatisch und im Grunde genommen – zumindest unterschwellig – mit einer ›säkularistischen‹, also partikularen und dennoch als universalistisch ausgegebenen Weltanschauung liiert zu sein. Diese Bindung führe unweigerlich zu einer Schwächung der vermeintlichen Neutralität des Staates […]. Sie sorge (nolens volens) für eine Stabilisierung der in westlichen Gesellschaften ohnehin starken Vormachtstellung des […] ›abgepufferten‹, soll heißen: des desengagierten, distanzierten, disziplinierten, privatisierten, individualisierten und intimisierten, möglichst autarken und autonomen, in (tendenziell abgeschlossener) Immanenz existierenden rationalen Selbst. Diese geschichtsmächtige Ausgabe des ›neuzeitlichen Menschen‹ präsentiert sich […] bis heute als ein (möglichst weitgehend) auf (Zweck-) Rationalität, kalkulierende Kontrolle und instrumentelle Verfügungsgewalt, kurz: auf Selbstermächtigung [und ich würde ergänzen: auf den Imperativ zur Selbstreflexion, zur Selbsterkenntnis, zum Selbstbekenntnis und zur Selbstoptimierung] eingeschworenes Vernunft- und Handlungssubjekt.«156 Darin besteht wesentlich die »Gesamtdeutung der Moderne.«157 Das moderne Dasein verzichtet, wie Straub darlegt »in der bloßen Immanenz auf solche Transzendenzbezüge völlig und legt den Akzent unter anderem auf die ›innere‹ Quelle der Fülle und Erfüllung sowie die Autonomie des individuellen Vernunft- und Handlungssubjekts.«158 Der marokkanische Arabist und Publizist Rachid Boutayeb159 nennt dies eine »Die Ära der Leere«, denn sie »weist jede Form des Kollektivismus zurück und stellt die traditionellen Autoritäten mit ihrer Logik der Ehre und Rache in Frage. Sie verkörpert den Triumph des narzisstischen Individualismus. Das selbstreferentielle Ego [und nicht das Beziehungsgefüge der Wesenheiten] steht im Mittelpunkt.« Ganz eindeutig wird der Siegeszug dieses selbstoptimierten Individuums durch den neoliberalen Kapitalismus akzeleriert, so wie ich das in meinem Buch über Texas beschrieben habe,160 und so wie es der Philosoph Byung-Chul Han als Raubbau am eigenen Geist und Körper bezeichnet.161 In diesem Weltbild der abgepufferten Selbste und der Immanenz besitzen weder Transzendenz noch gar die Möglichkeit einer ontologischen Existenz der Geister einen würdevollen Platz. Denn sie widersprechen der Ermächtigung der Einzelnen unter dem Vorzeichen der Freiheit und verkörpern die transpersonalen 155 156 157 158 159 160 161

Taylor 2009 S. 234ff., 526-527, S. 899ff. Straub 2015a S.164. Straub 2015a S.108. Straub 2015a S.130. Boutayeb 2014 S.27. Haller 2007 S.175-210. Hayer 2014.

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Bindekräfte. Diese aber gilt es im Kapitalismus zu zerstören, um den Einzelnen jederzeit verfügbar zu machen. Der Glaube an Geistwesen und belebte Natur wird – im Kapitalismus – in das Reich des Irrsinns (z.B. ›Stimmen hören‹), der Kunst und Poesie (z.B. der Erlkönig und Wagners Rheintöchter), des Touristenkitsches (wie die Loreley, die Geister vom Mummelsee und die schöne Lau) oder der Angstvisionen (Horrorfilme wie Poltergeist oder The Fog – Nebel des Grauens) verweisen, während er in der DDR als »Instrument imperialistischer Manipulation, die die wahren Verhältnisse verschleiere« gesehen wurde »und den Interessen der Kapitalisten diene«.162 Die Welt wurde in den Masternarrativen der Wissenschaften und des Technologieglaubens entzaubert und durchrationalisiert, wie es Max Weber einmal formulierte. Weil diese Entzauberung unsere Kultur heute zutiefst grundiert, machen sich viele Menschen auf, um sich das Spirituelle auf individuelle Weise anzueignen – aus Gründen des Hedonismus oder der Selbstoptimierung. Das ist im Übrigen nicht erst in der Gegenwart so (wir denken an Fantasyspiele, New Age, Esoterik, Managerseminare in der Wildnis, Bungee-Jumping, den Besuch bei Wochenendschamanen oder die Konversion zu religiös-charismatischen Bewegungen), sondern lässt sich auch in früheren Epochen feststellen.163 Wer aber ernsthaft an diese Kräfte glaubt und sich von ihnen mitbestimmt fühlt, wird in den Behuf der Psychiatrie verwiesen. Das exklusiv anthropozentrische Menschenbild der Europäer wird auf der gesellschaftlichen Ebene kaum herausgefordert. In so unterschiedlichen Kulturen wie denen der brasilianischen Amazonasindianer,164 der sibirischen Tuwiner,165 der australischen Aborigines,166 der japanischen Shintoisten167 oder eben auch der des marokkanischen Volksislam steht der Mensch ebenfalls im Zentrum des Weltbildes – anders als in Europa steht er dort aber nicht alleine, er ist eingebettet in einen Kreis von Tieren, Pflanzen, Naturerscheinungen, Geistwesen und Göttern. In diesen Kulturen trennt man

162 Füßler 2014. 163 Vgl. Francisco de Goyas Stich »El sueño de la razón produce monstruos.« Reiner Stach, Kafkabiograph, versteht den Boom des Geistersehens in der Zwischenkriegszeit als dunkle Seite des Modernismus (Ulrich Rüdenauer 2014 Kafka, die frühen Jahre – Jetzt schon ein Klassiker. Deutschlandfunk/Büchermarkt vom 08.12.2014 [http://www.deutschlandfunk.de/kafka-die-fruehen-jahre-jetzt-schon-einklassiker.700.de.html?dram:article_id=305598, letzter Zugriff 08.12.2014). 164 Viveiros de Castro 2004. 165 Oelschlägel 2013. 166 Kinsley 1995 S.22-34. 167 Eller 2007.

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nicht – so wie im Abendland – zwischen Natur und Kultur, so dass die Auffassung, bei Geistwesen und Göttern handle es sich um übernatürliche Wesenheiten, nur im Westen entstehen konnte.168 Insofern könnte man bezüglich der Amazonasindianer, der Tuwiner und Anderer in Abgrenzung zum theozentrischen Weltbild des Christentums und zum anthropozentrischen Weltbild der Anthropologie und der Moderne von einem phäno- oder kosmozentrischen Weltbild sprechen. Dies erschwert es auch, von einer Wissenschaft der Anthropologie zu sprechen, wie dies heute so viele Ethnologen machen, um sich im internationalen Kontext bei den anthropologists anderer Nationen zu verorten: wenn Kulturen wie die der brasilianischen Arawaté-Indianer, die etwa Viveiros de Castro untersucht hat, bezüglich eines Personencharakters nicht zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und Naturerscheinungen unterscheiden, sondern alle diese Wesen eine Seele teilen, dann ist es kaum sinnvoll, den Menschen alleine zu betrachten. Nach Viveiros de Castro muss – nur weil wir modernen Betrachter die dort vollzogene Wesensgleichheit in Abrede stellen – dies noch lange nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Es ist mir an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass es mir aber mit Eduardo Kohn169 darum geht, die letztlich romantische Interpretation Viveiros de Castros der Wesensgleichheit zu verlassen, denn sie geht davon aus, dass die Wesen (und so auch die ğnūn) menschenartige Selbste besitzen und damit keine eigenständige ontologische Wirklichkeit besitzen. Kohn dagegen geht in seiner von Botanikern gestützten Analyse davon aus, dass etwa Bäume über Gerüche und über bestimmte Pilzarten miteinander und mit anderen Waldbewohnern jenseits der menschlichen Wahrnehmung und der anthropozentrischen Logik kommunizieren können170 und dass sie nichtmenschliche und nicht auf das Menschliche reduzierbare Selbste besitzen.171 Wenn wir dies auf die Geisterwelt übertragen, dann greift die an anderer Stelle des Buches präsentierte Interpretation, dass die ğnūn die eigensüchtigen Zwillinge des Menschen seien, zu kurz. Denn wenn wir wie die Sufis von Tanger davon ausgehen, dass die ğnūn tatsächlich existieren, dann besitzen auch diese distinkte, nicht gänzlich auf den Menschen zurückzuführende ontologische Eigenheiten, Logiken und Handlungsweisen,172 die es bestenfalls – um Kohns Schlüsselwort zu benutzen – für die Menschen nutzbar zu machen (›to harness‹) gilt. Dass ğnūn für die Sufis ontologische Eigenheiten und eigene Logiken besitzen, darauf verweist die Qualifizierung als eigensüchtig und uneinschätzbar. Die ontologischen Eigen168 169 170 171 172

Saler 1977 S.33f. Kohn 2013, 2014. Vgl. etwa Beiler et al. 2010, Song et al. 2010, 2015. Kohn 2013, S. 92. Kohn (2014, S. 281) spricht von specific properties.

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heiten, die Denk- und Handlungslogiken der ğnūn werden lediglich im Tranceund Besessenheitskult zugänglich und die Ritualspezialisten versuchen, diese für ihre Klienten nutzbar zu machen. Somit möchte ich, Viveiros de Castro modifizierend, von einer auf Differenz beruhenden Wesensgleichheit sprechen. Die mögliche Existenz einer solchermaßen gearteten Wesensgleichheit ist einer der Stachel des Zweifels, dem die Ethnologie im Umgang mit den Kulturen, die sie untersucht, und mit den Gegebenheiten, in denen sie als Disziplin institutionell arbeitet, immer ausgesetzt sein wird. Wenn es um Wesen geht, die wir bios und geos unterscheidenden Europäer als lebend bezeichnen – Tiere, Pflanzen – dann fällt uns sicherlich leichter, Kohns Ansatz nachzuvollziehen als wenn es um solche Wesen geht, von denen wir gemeinhin annehmen, dass sie tot wie Felsen oder imaginiert wie Totenseelen sind. Aber geos und Geistwelten sind (nur) aus der modernen europäischen Perspektive tot oder imaginiert, dagegen sind sie Kennzeichen der meisten Kulturen, die im Zeichen der Immanenz die klare moderne Trennung in erkennendes Subjekt und erkennende Objekte häufig nicht vollführen. Vor allem in afrikanischen und islamischen Weltbildern erfährt der Mensch, wenn wir Kramer folgen, der auf Lienhardt173 zurückgreift – im Gegensatz zum europäischen Weltbild – passio: er wird (auch) zum Objekt von Geistern und Gottheiten. Frobenius, der dies (allerdings für alle Menschen) bereits früher formuliert hat, spricht von der »Fähigkeit, ergriffen zu werden vom Wesen der Erscheinungen.«174 In den westlichen Wissenschaften stellt die Anthropologie den Menschen – und ausschließlich diesen – ins Zentrum ihres Interesses. Die Westler, so Nigel Barley in einem Interview, sind damit »[d]ie wirklich merkwürdigen Leute […]. Wenn man uns mit der Mehrheit der Menschen auf diesem Globus vergleicht, sind wir die Sonderlinge.«175 In diesem Weltbild ist es nicht vorgesehen, die Möglichkeit der Existenz von lebendem geos und von Geistwesen auch nur in Betracht zu ziehen, dies widerspräche dem Glauben an die menschliche Vernunft, an die Entscheidungs- und Handlungsautonomie des Einzelnen. Aus nichtwestlicher und auch aus sufistischer Sicht ließe sich diese Rolle des Sonderlings, diese Ausschließlichkeit, auch als Pathologie des Westens bezeichnen. Denn sie blendet die Einbindung des Menschen in die göttliche Kraft und in ein Netz von Wesenheiten aus, die für jeden Sufi und für die Mehrheit der Weltbevölkerung selbstverständlich vorliegen. Im Westen aber liegt die Wahrheit alleine im Inneren des Menschen verborgen, weshalb sie im Christentum mit den Methoden 173 Lienhardt 1961 S.151, cit. in Rees 2005 S.403. 174 Frobenius 1933 S.25. 175 Schnabel 2015.

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der Beichte und in den meisten Geistes- und Sozialwissenschaften über Selbstzeugnisse (z.B. Interviews, Fragebögen) ans Lichte gebracht werden muss.176 Auch das psychoanalytische Dreiinstanzenmodell funktioniert innerhalb dieser anthroprozentischen Logik. Übertrüge man dieses auf die marokkanische Kosmologie der Ḥamādša und der Gnawa, dann entspräche dem Über-Ich die göttliche Wahrheit des Koran und die daraus abgeleiteten gesellschaftlichen Ordnung. Dem Es entsprächen die ğnūn und das Ich müsste Wege finden, sich mit diesen externen Kräften ins Vernehmen zu setzen. Aber in der Psychoanalyse sind Über-Ich, Ich und Es im Individuum lokalisiert – die Aufgabe der Aufklärung war es ja, diese Instanzen im Inneren des Individuums zu verankern und ihn zum Herren seines Schicksals zu machen, damit er sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreie. Ironischerweise wäre solch‘ ein anthropozentrisches Weltbild ungewollt, jedoch wahrhaft religiös, weil es im Wortsinne des religere die drei Instanzen wieder (wenngleich innerhalb des Individuums) aneinander bindet. Dieser Vorstellung von Immanenz ist jedoch die Idee des Erleidens und Erduldens, viel grundsätzlicher noch die des Widerfahrenwerdens und des Ausgesetztseins zutiefst fremd. Es herrscht vielmehr der Imperativ der Selbstreflexion, der Selbstoptimierung, der Selbstvervollkommnung, der Selbstverwirklichung. Im Gegensatz dazu steht passio – um die Gegenstandshaftigkeit des Menschen im afrikanischen (und durch das Konzept des baraka auch im muslimischen) Weltbild zu bezeichnen. Hier setzt die Ethnologie an: sie nimmt all das ›Vormoderne‹ ernst, was seit Beginn der Aufklärung dem westlichen Selbstbild widerspricht und von ihm abgespalten wird: passio, Spiritualität, Hexerei, Magie, nichtrationale Erklärungsmuster, nichtmoderne Lebensweisen. Sie tut dies nicht aus trotziger Widerspenstigkeit gegen eine dominierende Wirklichkeitsauffassung, sondern auf der Grundlage der Erfahrung von Kosmologien und Formen der Daseinsbewältigung durch fremde, nichtwestliche Kulturen. Das ist der Stachel der Ethnologie, wie Rottenburg177 unter Rückgriff auf Waldenfels178 schreibt, »das Paradox des schlechthin Fremden […]. Der besondere Auftrag der Ethnologie lautet, möglichst getreue Darstellungen des Fremden zu liefern. Macht sie sich aber an diese Arbeit, überkommt sie gelegentlich der abgründige Zweifel, ihren Auftrag systematisch zu verfehlen. Auf der einen Seite erscheint es nämlich höchst fragwürdig, wie absolut Fremdes oder strikt Heteronomes – […] Alienität – überhaupt erreicht, geschweige denn begriffen werden kann.« 176 Vgl. Foucault 1983. 177 Rottenburg 2006 S.119. 178 Waldenfels 1997.

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Die Möglichkeit der Alienität zu denken entspricht dem Denken des Außen, von dem der marokkanische Philosoph und Soziologe Abdelkébir Khatibi spricht: weder das Ich noch das Andere sind assimilierbar. »Ich denke den Anderen an seiner unendlichen Grenze, die eine unbekannte Welt [in sich] trägt, die vom Denken eine innovative Art von Gewalt verlangt, zwischen den Kulturen, zwischen ihren Begegnungen und ihren Widerständen gegen den Grausamkeitstrieb der einen wie der anderen.«

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Mit der Expansion Europas nach Übersee gerieten auch die dortigen Welten der passio zwischen die Mahlsteine der Modernisierung. Unter Modernisierung verstehe ich zum einen die Aberkennung der Beseelung nicht-menschlicher Wesensformen wie Tieren, Pflanzen, Geistwesen und ›toten‹ Erscheinungsformen wie Landschaften und Steinen. Zum anderen verstehe ich darunter mit Rottenburg180 jene Reinigungsarbeit, die die Praxis der Vermischung zum Verschwinden bringt – was nicht nur die westlichen Versuche betrifft, ihre Versionen von Funktionalität, Rationalität, Fortschritt und immanent handlungsautonomen Individuen zu verbreiten, sondern sich auch auf andere Weise gewanden kann. So kämpften etwa die marokkanischen Nationalisten nach der Unabhängigkeit gegen die Sufis, denen sie Kollaboration mit dem Kolonialsystem, Obskurantismus und Rückschrittlichkeit vorwarfen, nicht nur aus politischen Gründen,181 sondern auch aus Modernistischen, die Beseelung von Geistern und Felsen verneinenden Gründen. Insofern ist der Umgang der Ḥamādša und der Gnawa mit der Welt der ğnūn nicht nur für westliche Modernisierer problematisch, sondern auch für die marokkanischen Nationalisten, viele marokkanische Intellektuelle und für islamistische Modernisierer – wenngleich aus unterschiedlichen Motiven. Aus Sicht der meisten Intellektuellen sind die Ḥamādša ein museales Relikt, das höchstens in der Welt der Kommodifizierung, etwa in der Weltmusik, eine Überlebenschance besitzt.182 Die islamistischen Modernisierer wiederum »verurteilen den mystischen Zugang zur Religion als häretisch und unislamisch und versuchen ihn zu unterdrücken.«183 Aus westlicher – zumal akademischer – Sicht, etwa aus der der Psychologie, ist die Beschäftigung mit Geistern als tatsächlich existierenden Entitäten Humbug: denn fraglos gibt es keine Geister. Aus islamischer 179 180 181 182 183

Khatibi 2008. Rottenburg 2006. Lanza 2011. El Asri 2014 S.53. Zeino-Mahmalat 2014 S.35.

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Perspektive aber ist diese Haltung alles andere als Unfug, sie ist offensichtliche Realität: denn es gibt Geister genauso wie es Gott gibt. Das ist fraglos und hinzunehmen. Ontologisch ließe sich sagen: die Ethnologie hat hier nicht die Aufgaben, Existenzen zu beweisen oder in Abrede zu stellen, zu werten und die eine Sicht als wahrer als die andere zu beurteilen. Unsere Aufgabe ist es nicht zu klären, ob es Geister gibt oder ob sie nicht existieren. Unsere Aufgabe ist es, beide Sichtweisen als real anzuerkennen, denn sie stellen gelebte Realitäten dar und strukturieren das Dasein. Unsere Aufgabe ist es, in die Welten einzudringen und Wissen über die Grenzen der Welten hinweg zu übermitteln. Eine sufistische Ethnologie müsste demgemäß die Verwobenheit von Magie, Religion und Wissenschaft zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen machen – nicht die Trennung dieser Domänen. Dies würde bedeuten, nicht den Glauben an ğnūn als erklärungsbedürftig zu erachten, sondern den Nichtglauben an ğnūn, oder allgemeiner, die Inabredestellung der passio – etwa in der westlichen Tradition der Aufklärung mit ihrem Glauben an die Trennung der Domänen. Es ginge dann darum, Erklärungskategorien über die Welt nicht aus der pathologischen Trennung zwischen magischem, religiösem und rationalem Denken heraus zu entwickeln – was die Grundlage westlichen Denkens seit der Aufklärung ist – sondern neue Erklärungskategorien aus der Verflochtenheit jener Sphären zu entwickeln, die wir im Westen als magisch, religiös und vernunftbezogen unterscheiden. Denn passio wird nicht über logische Operationen und Analyse bearbeitet, sondern über ekstatische Ausdrucksformen durch die Erbittung von Gnade (baraka) oder die Vereinigung mit dem Göttlichen (Tawhid) oder den Geistern. Das bedeutete natürlich auch, sich einem zentralen Phänomen der Aufklärung zu stellen, nämlich der Absonderung des Spirituellen in klar umgrenzte und des Ekstatischen in hochgradig policierte Nischen. Die Geister werden ins Innere verlagert. Im Westen wird Ekstase – das hat Foucault184 gezeigt – mit dem Vokabular des genuin Anderen belegt: Wahnsinn, Verrücktheit, Spinnerei, Heraustreten, Kontrollverlust, Außer-sich-geraten, Ausrasten, Irresein. Aus dieser Absonderung speist sich die westliche Kraft der Aufklärung und – daraus sich entwickelnd – die wissenschaftliche Denkweise. Wenn es auch heftige Auseinandersetzungen darum gibt, worin sich Wissenschaftlichkeit erweist, so gibt es dennoch zumindest diesen einen gemeinsamen Bezugspunkt: die Abtrennung der Geisterwelten, spiritueller und mehr noch ekstatischer Welten. Diese Trennung in Wahnsinn hier und Vernunft dort ist existenzbedingend für das wissenschaftliche wie für das moderne westliche Selbstbild. Wenn die Geister aber als Emanationen der Innerlichkeit umgedeutet werden (oder sufistisch ausgedrückt: wenn sich Geister manchmal mit Menschen verbinden), es 184 Foucault 1973.

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sie aber dennoch auch unabhängig davon gibt: wo sind sie sonst noch wirksam? Für die Sufis und die meisten Muslime ist das klar: sie leben in parallelen Sphären. Aber wo befinden sich diese? Wohin werden sie abgedrängt? Wohin verschwinden sie im Kontext der Migration? Machen sie, wie Viele dies vermuten, die marokkanischen Migranten verrückt – was heißen will: Machen sie sie zu Sklaven ihrer eigenen Gelüste, der Hybris der Selbstverwirklichung, der auch die Europäer anheimgefallen zu sein scheinen? Ist die Individualisierung, die Verwandlung der Migranten in ebenso abgepufferte Selbste wie die Europäer, das Resultat der Verführung durch die ğnūn, die ihnen einflüstern: dass ihr Euch für Individuen haltet und nicht mehr wisst, wie ihr mit unserer Existenz umgehen könnt, damit beherrschen wir Euch wirklich. Vielleicht ist dies gemeint, wenn Mrabet im einleitenden Beispiel (Kapitel 3) anführt, dass die ğnūn, nach Europa ausgewandert seien. … Eine sufistische Ethnologie schlösse sich natürlich an Edmund Leach an, der davon ausgeht, dass die Trobriander nicht zwischen Magie, Religion und Rationalität unterscheiden – der Westen im Übrigen aber auch nicht. Das würde aber auch bedeuten, die alte Frage danach zu erneuern, die dem Charakter der religionsethnologischen Forschung nachgeht und da lautet: wie können der Aufklärung verpflichtete Wissenschaftler ein Phänomen wie Religion erfassen, wenn sie selbst nicht an Spiritualität und Transzendenz glauben, sondern als Wissenschaftler ausschließlich dem rationalen Denken verpflichtet sind? Eine sufistische Ethnologie dagegen könnte diese Frage anders angehen: schließlich schließt die – Leach’sche (und sufistische) – Gleichzeitigkeit nicht aus, die Phänomene sowohl rational als auch spirituell und magisch zu betrachten. Aber nicht als exklusiv: entweder als rational, oder als spirituell oder als magisch. Man käme gewissermaßen zu einer phänozentrischen Betrachtungsweise, die es ermöglicht, die Phänomene sowohl aus einem speziellen und partiellen Blickwinkel (wie etwa der magischen, der religiösen oder rationalen Denkweise) zu betrachten, und dennoch die Verbundenheit in die Analyse einfließen zu lassen. Dies würde aber bedeuten, neben der rationalen Erkenntnissuche auch eine weitere Epistemologie zuzulassen, nämlich Ekstase als Erkenntnisweg: ist es Aufgabe der westlichen Wissenschaften, die Wirklichkeit mittels logischer Operationen aufzutrennen, in Komponenten zu zerteilen, diese zu sezieren und als getrennte Einheiten zu betrachten, so müsste eine sufistische Ethnologie im Sinn der Ḥamādša zusätzlich den entgegengesetzten Erkenntnisweg gehen: da die Welt in Komponenten getrennt ist, müsste sie auf dem Wege der Verzückung wieder zum Einen werden. Die unbändigen Kräfte, die ein Mensch im Zustand der Ekstase zu entwickeln vermag, das Auffangen von Kanonenkugel mit dem

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Kopf,185 das Tanzen auf Glasscherben und das Trinken kochenden Wassers, um nur drei Phänomene zu nennen, über die sich marokkanische Sufis im Umgang mit Geistwesen entäußern, lassen sich auf vernunftbasiertem Wege nicht befriedigend fassen. Rezitationen, Trance und Ekstase müssten als mögliche Erhebungs- und Erkenntnismethoden dieser Wissenschaft und an den Universitäten gelehrt werden. Folgen wir den Sufis, dann gibt es Geister nicht nur in den Köpfen der Menschen – es gibt sie wirklich. Um sich mit ihnen zu treffen genügt es manchmal auch, bloss laut zu lesen und damit Worte und Atem miteinander zu verbinden.

185 Harris 2011 S.288.

Kapitel 5 – Die Häfen der Modernisierung

»Der Verkäufer Aissam aus der Rue Sbou in der Medina meint, der Hafen würde ›uns‹ nicht betreffen, sondern nur die Leute mit viel Geld. Mit ›uns‹ meint er die ›clases populares‹ (so nennt er sie), die hier in der Medina leben. ›Wir haben nichts davon, nur die Rei1

chen.‹ Und sein Kollege Reda sekundiert, ›Die ganzen neuen großen Projekte mit der Freihandelszone oder hier am Hafen in Tanger: das kommt doch nur denen zugute, die eh 2

schon was haben, nicht den einfachen Leuten.‹«

»Alle – die jetzt im Fischereihafen etwas nebenbei verdienen, wird es im neuen Fischereihafen nicht mehr geben«, sagt der Maler Hassan Al Hamri (*1960). Ich denke an Soufiane, den armen Fischverkäufer. »Da wird dann nämlich stärker kontrolliert und überwacht, mit der neuen Technologie. So langsam wird dann das Bunte des Hafens verschwinden: Fischesäuberer, Träger, Wasserverkäufer, Kofferaufbewahrer, Papierausfüller – die gibt es 3

nicht mehr.«

Der Techniker Ayoub (*1990) und die Journalistin Martine (*1966) sehen das gelassener. Unabhängig voneinander vertreten sie eine identische Position, die den Pessimismus von El Hamri konterkariert: »Die Tanjawis finden immer einen Weg, ein Schlupfloch, um etwas zu verdienen.« Martine präzisiert mit einem Beispiel: »dann haben sie eben Videokameras im Hafengelände, um Illegale und Schmuggler zu überwachen – na und? Die Kameras gehen dann eben kaputt oder sie werden nicht kontrolliert… Im neuen Hafen von Tanger-Med war ein Chinese zwei Jahre lang für die Video-

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Feldforschungstagebuch 15.06.2013. Feldforschungstagebuch 14.10.2013. Feldforschungstagebuch 23.04.2013.

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kontrolle zuständig. Nachdem der abgezogen wurde, hat die Kontrolle auch nicht mehr ge4

klappt, trotz der Technik…«

Der Maler Hassan hat nicht viel Vertrauen in das große Projekt, das Tanger in eine goldene Zukunft tragen soll: nichts weniger als den Umbau der Häfen, gar den Umbau der Stadt. Die Chancen für die normalen und die armen Einheimischen sehen er, Reda und Aissam als gering an. Moussa (*1958), den ich in einer Armenkneipe kennenlerne, hatte lange Zeit im Hafen als Lastenträger gearbeitet. Seitdem sie den Handelshafen in der Stadt geschlossen haben, verkauft er auf der Straße Zigaretten.5 Und auch wenn Ayoub und Martine auf die Schlitzohrigkeit und den Pragmatismus der Tanjawis abstellen, die ihnen auch weiterhin Nischenjobs im neuen Hafen ermöglichen – den großen Sprung wird die Ökonomie für die Mehrheit der Bewohner wohl nicht machen. Dabei hatte Mohamed VI es sich nach seinem Amtsantritt im Jahre 1999 zur Aufgabe gemacht, dem Norden des Landes und insbesondere der Stadt Tanger neuen Schwung zu verschaffen. Dies war auch bitter nötig: Zu lange war der Norden Marokkos durch die Politik seines Vaters, König Hassan II, ignoriert und nötige Investitionen nicht getätigt worden. Die Vernachlässigung durch den Vater hat verschiedene ökonomische und politische Gründe, die zum Teil im Verhältnis des Herrschers zu der Region selbst, zum Teil aber auch in der allgemeinen Nationalisierungspolitik des Landes und der Verlagerung der politischen und der wirtschaftlichen Zentren in den Süden liegen. König Mohamed VI dagegen, den in Tanger alle Welt nur ›Sidna‹ (unser Herr) oder ›M VI‹ (M six oder M as-sādis) nennt, wählte Tanger zu seiner Lieblingsresidenz und initiierte eine Vielzahl von Modernisierungsvorhaben, um das Potential des Nordens zu heben. In diesem Kontext sind auch die Projekte, die die Häfen Tangers und die infrastrukturelle und urbanistische Neugestaltung Tangers betreffen und die zum Ausgangspunkt für meine Feldforschung wurden, zu verstehen. Denn Tanger erlebt seit den 2000er Jahren eine rasante Transformation, wie man sie lange nicht gesehen hat in einer nordafrikanischen Stadt. Mir ging es ursprünglich in meiner Forschung darum herauszufinden, wie die Bewohner der Altstadt Tangers, der Medina, und diejenigen Tanjawis, die vom Hafen lebten, mit diesem Umbruch umgehen, wie sie diesen Umbruch bewerten und wie sie ihr Dasein in diesem Kontext praktisch gestalten. Gerade hier – so hieß es – führte die ökonomische und mentale Misere dazu, dass sich viele Jugendliche als tatsächliche oder mögliche Jihadisten rekrutieren lassen und

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Feldforschungstagebuch 03.05.2013. Feldforschungstagebuch 05.08.2013.

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damit auch die Macht des Königs bedrohen. Den Jihadisten das soziale Unterfutter zu entziehen war eine der Absichten des Modernisierungsvorhabens. Die offiziellen Programme6 und die Zeitungsberichte,7 die die Transformation in hellen Farben zeichnen und von einer positiven bis euphorischen Grundstimmung getragen sind, sind eine Sache: sie versuchen zum Einen, Unternehmen und Investoren anzulocken, um sich in Tanger niederzulassen, zu produzieren und Kapital aus der Stadt zu schöpfen. Jedoch ist die Umgestaltung ein vom König getragenes Projekt, und der König, der zwar nicht mehr als heilig gilt, ist weiterhin unantastbar8 und darf in Marokko nicht kritisiert werden, da er seine Legitimität von der šarīfischen Abstammung von Mohammed über seinen Schwiegersohn Ali und seine Tochter Fatima herleitet. Über die genealogische Verbindung hinaus besitzen die Alaouiten auch spirituelle Autorität.9 Insofern ist es kein Wunder, dass die Fortschritte in der Gegenwart und die Segnungen für die Zukunft gepriesen werden. Aber ich bin weder Soziologe noch Ökonom, sondern Ethnologe. Ich frage nicht nach der ökonomischen Entwicklung und den politischen Prozessen als solchen, sondern ich frage nach den Bedeutungen, die ›einfache Menschen‹ diesen Prozessen zuschreiben. Denn meine Ausgangsfrage für die Forschung war ursprünglich, ob die Modernisierungsmassnahmen – wie beabsichtigt – auch dazu taugen, den in Nordmarokko starken Jihadisten das Wasser abzugraben. Mich interessiert mithin, ob die Modernisierungsprojekte für die Tanjawis attraktive Zukunftsperspektiven darstellen, was sie aus diesen Visionen machen, wie sie diese in ihren Alltag integrieren, was sie für sie bedeuten. Die Neugestaltung im Zuge der Modernisierungsvorhaben stellt somit für mich den Rahmen dar, innerhalb dessen ich die Formen der Daseinsbewältigung untersuche. Daher ist es angebracht, diesen Rahmen zuerst einmal zu skizzieren.

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Insbesondere die Webseite der Raumordnungsgesellschaft »La Société d’Aménagement pour la Reconversion de la Zone Portuaire de Tanger« SAPT 2012 [besucht 22.05.2014]. Vgl. die ZS Atalayar – Magazine Internacional de Actualidad de Espana y el Magreb, Num 7, Oct 2013, die sich nahezu ausschließlich der Chancen widmet, die die Umgestaltung für spanische Investoren verspricht. Borchers 2013. Leistle 2007, S. 26ff.

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D IE N EUGESTALTUNG T ANGERS

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N ORDENS

»Über eine Milliarde Euro Staatsgelder, dazu Kredite der Europäischen Union und private Investitionen aus Frankreich, Deutschland und den arabischen Emiraten ließ [M VI] in sein Lieblingsprojekt fließen, um Tanger zur Drehscheibe für den interkontinentalen Handel mit Europa, Asien und Amerika aufzupeppen«,

schreibt die Journalistin Zuber10 auf Spiegel Online. Damit sollen Arbeitsplätze für die heranwachsenden Generationen geschaffen und der Norden des Landes aus seiner Rückständigkeit herausgeholt werden. Hassan II, »der 1961 kurz nach der Wiederangliederung Tangers an Marokko den Thron bestiegen hatte, soll die Stadt gehasst haben: die lockeren Sitten, ihre rauschhafte Lebendigkeit, ihren zwielichtigen Ruf. Wer sich vor den Schergen des Monarchen in Sicherheit bringen musste, suchte in ihren Mauern Zuflucht und versteckte sich im Labyrinth ihrer Gassen. Aus Tanger und dem nahen Rif-Gebirge stammten die meisten Attentäter, die Hassan II. nach dem Leben trachteten. Der alte König strafte Tanger ab, indem er sie wirtschaftlich, kultu11

rell und sozial verhungern ließ.«

Die öffentliche Ordnung zerfiel in dieser Zeit, wirtschaftlich ging es bergab: Tanger verlor seinen Status als wichtigste Tourismusdestination des Landes, die Tourismusförderung wurde nach Marrakech und Agadir verlagert. Die 1970er bis 1990er Jahre werden mithin als die dunklen oder bleiernen Jahre beschrieben, in denen das Verbrechen, die Droge, die Korruption und das Versagen der öffentlichen Dienste die Stadt dominierten. Tanger in den 1980ern war schrecklich, vor allem der Schmutz, erzählt die amerikanische Tanjawia Elena Prentiss, Nichte des Ethnologen Carleton Coon. Heute gebe es sowas wie eine Straßenreinigung, damals habe jeder seine Müllbeutel auf die Straße gestellt und die Katzen hätten sich am Müll gütlich getan. Der Müll habe sich überall verteilt und wenn es regnete seien die Straßen gefährlich gewesen, weil eine dicke Schmiere aus Abfall darauf lag. Das habe sich gottseidank geändert.12 Der Intellektuelle Mohamed Laabi erklärt die Vernachlässigung Tangers durch die offizielle Politik folgendermaßen:

10 Zuber 2007. 11 Doering 2007. 12 Feldforschungstagebuch 31.07.2013.

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Hassan II hat nach den beiden Putschen in den 1970er Jahren (1971 und 1972) und dann nochmal nach Unruhen in den 1980ern sein Volk beschimpft und vor allem den Norden als contrabandistas [Schmuggler] und Verbrecher. Er hat dem Norden die kalte Schulter gezeigt. Dabei war die Nationalisierungspolitik der 1960er Jahre unter Hassan selbst schuld an der Misere des Nordens, die zu den Unruhen geführt hat: mit den Gesetz zur Marokkanisierung der Unternehmen – einem ausländischen Besitzer musste ein marokkanischer socio [Partner] beigestellt werden – verließen die Ausländer mit ihren Unternehmen in Scharen das Land, Unternehmen, die in den Jahrzehnten davor gerade in Tanger gute Arbeitsplätze geboten hatten. Es ist kein Wunder, dass in den Folgejahren, insbesondere den 1970ern und 1980ern, viele Leute ausschließlich vom Geschäft mit Haschisch gelebt haben, weil dies der einzige Wirtschaftszweig gewesen ist, in dem man überhaupt etwas verdienen konnte.13 Denn seit den 1970er Jahren konnte man in Tanger den Bau von bedeutenden Immobilien oder luxuriösen Villen beobachten, ohne dass sich dies auf ein erklärbares Immobilienfieber zurückführen ließ – schreibt Peraldi spitz, sich auf den sichtbaren Einfluss der Drogenwirtschaft auf die Stadt beziehend.14 Damit möchte ich nicht insinuieren, dass die Drogenwirtschaft lediglich ein Phänomen der ›bleiernen Jahre‹ war. Weit gefehlt, auch heute ist ihr Einfluss bemerkenswert – ich werde darauf an anderer Stelle näher eingehen. Allerdings scheint die Drogenökonomie die Stadt in der fraglichen Zeit maßgeblicher und umfassender beeinflusst zu haben als heute. Zwar konnte unter der ersten nachhassanischen Regierung des Ministerpräsidenten Driss Jettou die marokkanische Gesamtarbeitslosigkeit dank eines Rekordwirtschaftswachstums von 8,1 Prozent auf unter 10 Prozent gedrückt werden, vor allem im Norden aber hat die Hälfte der unter 25-Jährigen, haben gerade auch die Studierten, keine bezahlte Anstellung. Dies ist die Ausgangslage, vor deren Hintergrund sich die Modernisierungsinitiativen des jetzigen Königs entfalten. »Um den Wandel zu verwirklichen, hat der König einen seiner besten Technokraten, Mohammed Hassad, 54, als Wali, als Gouverneur, über die lang vernachlässigte Nordregion Tanger-Tétouan eingesetzt. Zuvor hatte der Ingenieur mit dem Diplom einer Pariser Elite-

13 Feldforschungstagebuch 20.07.2013. 14 Peraldi 2007a.

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schule Marrakesch, die einstige Hauptstadt der Berberdynastie der Almoraviden, zum Tou15

rismusmagneten des Landes gemacht.«

Tanger und sein Hinterland erleben im Zuge der Modernisierungsinitiativen einen bislang ungekannten Bauboom. Für 2012 hatte sich Tanger sogar – allerdings vergeblich – für die Ausrichtung der Weltausstellung beworben. Drei allgemeine Stoßrichtungen der Modernisierungspolitik König Mohammeds VI können konkretisiert werden: eine ökonomische, eine politische und eine gesellschaftliche. Die wirtschaftlichen Ziele der Modernisierungspolitik haben eine regionale und eine nationale Komponenten. Zum einen sollen infrastrukturelle Investitionen (insbes. Elektrizität, Baubranche, Trinkwasser) im Zusammenhang mit der Anlage eines neuen Wirtschaftshafen (Tanger-Med) Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen. Im Hinterland von Tanger wurden drei neue Sonderwirtschaftszonen auf einer Fläche von zehn Quadratkilometern für Logistik, Industrie und Handel eingerichtet. Dort sollen die bislang auf dem Gelände des Stadthafens TangerVille untergebrachten Textil-, Automobil- oder Flugzeugkomponentenindustrien angesiedelt werden und ein marokkanisches Label erhalten. Weil Marokko ein Freihandelsabkommen mit den USA und eine privilegierte Wirtschaftsbeziehung mit der EU eingegangen ist, können die Waren zollfrei importiert und exportiert werden. Der französische Autokonzern Renault erbaute mit seinem japanischen Schwesterunternehmen Nissan in Tanger ein Werk, in dem ab 2010 an erstmals Fahrzeuge für die Ausfuhr in die EU montiert wurden. Auch die Renault-Tochter Dacia produziert in Tanger, Volkswagen und Peugeot überlegen sich die Ansiedlung in der Stadt, und der spanische Modegigant Zara lässt den Großteil seiner Waren fertigen. Der drittgrößte Hersteller von Supraleiterfiberglas, die japanische Furukawa Electric, investiert 8 Millionen $ für den Bau ihrer ersten afrikanischen Produktionsstätte. Viele europäische Firmen haben ihre Callcenter um Tanger angesiedelt. Es ist geplant, 150.000 Arbeitsplätze insgesamt in der Region zu schaffen. Im Rahmen der Modernisierungspolitik soll auch der Tourismus gestärkt und gefördert werden. Auf nationaler Ebene sollen die Projekte den Norden Marokkos sowohl an den europäischen Wirtschaftsraum als auch an das Zentrum und den Süden des Landes angebunden werden. So ist der Hafen von Tanger-Med durch die Autobahn Tanger-Casablanca und die Hochgeschwindigkeitstrasse TGV mit dem Rest des Landes verbunden. Darüber hinaus wird auch immer wieder das Projekt

15 Zuber 2007.

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eines spanisch-marokkanischen Tunnels16 unter der Straße von Gibraltar diskutiert – allerdings seit Jahren ohne große Aussicht auf Realisierung. Politisch stehen die Modernisierungsvorhaben im Zusammenhang mit der Konsolidierung der Macht des alaouitischen Königshauses. Diese ist im Norden Marokkos insbesondere durch zwei Entwicklungen bedroht: zum einen soll der bislang systematisch vernachlässigte und traditionell rebellische Norden Marokkos durch die Infrastrukturmaßnahmen aufgewertet und dauerhaft in den nationalen Kontext eingebunden werden; zum anderen soll der Einfluss der Islamisten, die auch die Machtbasis des Königs unterminieren, eingedämmt werden. Denn Islamisten rekrutierten sich häufig aus dem Milieu der arbeitslosen Jugendlichen/Studierten Nordmarokkos. So konnten die Hintermänner der Selbstmordattentate in Casablanca (Mai 2003) in Tanger unterschlüpfen. Und mehrere Attentäter, die in Madrid Bomben in Nahverkehrszügen explodieren ließen (März 2004), stammten aus Tanger17 Da fundamentalistische Parteien wie die jetzige Regierungspartei Benkiranes, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (ḥizb al-ʿadāla wa-ttanmīya) bisher die einzige Kraft waren, die sich systematisch um die den sozialen Nährboden der Armut kümmerten, ist die royale Modernisierungspolitik auch als Strategie gegen die islamistische Opposition zum König zu verstehen. Über wirtschaftliche und politische Zielsetzungen hinaus strebt die Modernisierungspolitik auch die Schaffung und Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen an. In diesem Kontext sind beispielsweise die Rechtsreformen im Bereich des Mudawana (Familienrecht), die die Rolle der marokkanischen Frauen stärken, erwähnenswert. Die Modernisierungsvorhaben sind also bedeutsam für König, Volk und Vaterland, und es wird viel Geld investiert, was von vielen meiner Informanten mit Freuden registriert wird: Der König sei ein Segen für das Land und ein Geschenk des Herrn, bekräftigt der Kellner Mokhtar (*1953), al-ḥamdu li-Llāh! Sein Vater, König Hassan habe alles Geld in den Süden gepumpt und den Norden vernachlässigt. M VI habe entschieden, dass der Süden jetzt alles habe, nun sei der Norden dran! Die alten schmalen carreteras, die die Spanier in der Protektoratszeit angelegt haben, würden nun zu Autobahnen ausgebaut, die Verwaltung funktioniere und es gebe Arbeitsplätze!18

16 Vgl. N.N. 2006a; N.N. 2006b. 17 »Von den Marokkanern stammen mindestens fünf Täter aus der nordafrikanischen Hafenstadt Tanger.« Piper 2004. Z.B. Jamal Zougam, 30, aus Tanger. Darnstädt/Zuber 2004. 18 Feldforschungstagebuch 01.04.2013.

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All die schönen Projekte stehen aber vor einem Hauptproblem: der Korruption, wie mir der Verkäufer Aissam (*1989), den ich exemplarisch hier anführe, erklärt: »Wenn der Staat irgendwo Geld investiert versuchen die Leute, sich selber daran zu bereichern. Der König gibt Geld für Projekte und die Leute stecken es sich dann in die eigene Tasche. In Europa würde das nicht passieren, aber nicht deshalb, weil die Europäer bessere Menschen sind, sondern weil sie besser kontrollieren: man weiß dort, dass man ins Gefängnis kommen kann, während man hier immer irgendwie um die Strafe herumkommen kann, wenn man über Geld oder Beziehungen verfügt.« Ich muss an mein gestriges Gespräch mit einem pensionierten Polizeikommissar denken: es gebe immer die Möglichkeit eines Hintertürchens. Der Kommissar bekannte, er sei oftmals derjenige gewesen, der Fürsprache für die Delinquenten gehalten habe.19 Daher stellt die Kontrolle der Geldflüsse eine ganz besondere Herausforderung dar, der sich der König allerdings annehme: Es gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Vater und Sohn: zwar hat auch Hassan II hier und da Geld für Projekte ausgegeben (nicht im Norden), aber er habe sich nicht darum gekümmert, ob das Geld tatsächlich für ein Projekt verwendet wird oder in den Taschen des Empfängers verschwindet. M VI dagegen kontrolliert persönlich. Wenn er etwa einen Kredit für ein Projekt gibt, das zwei Jahre braucht, dann kommt es oft vor, dass er nach einem halben Jahr unangekündigt mit einer Motorradeskorte vorfährt und schaut, wie weit das Projekt ist. Wenn noch nichts geschehen ist, dann wandert der Empfänger ab ins Gefängnis! Er lässt sich den Fortgang des Projektes nicht von einem Präfekten oder Ministerialen erzählen, unterstreicht Mokhtar nochmals, sondern er kommt selber vorbei. Dabei führt er seinen Zeigefinger ans Auge womit er sagt: er schaut selber nach! al-ḥamdu li-Llāh!20 In dieser Aussage von Mokhtar, dem Kellner, die ebenfalls exemplarisch für viele Kommentare ist, die ich während meiner Forschung gehört habe, wird der König nicht nur als benevolenter und kluger, sondern auch als disziplinierter Monarch gezeichnet: es liegt ihm daran, dass seine Projekte tatsächlich verwirklicht und die zur Verfügung gestellten Gelder nicht zweckentfremdet werden und der allgegenwärtigen Korruption anheimfallen.

19 Feldforschungstagebuch 18.12.2013. 20 Feldforschungstagebuch 01.04.2013.

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Ein Beispiel hierfür ist das Fest zur Thronbesteigung, das in Anwesenheit des Königs in jedem Jahr in einer anderen Stadt abgehalten wird. 2013 sollte es in Tanger gefeiert werden, die Stadt war geschmückt und tagelang war der bevorstehende Besuch des Königs eines der Hauptgesprächsthemen in den Cafés und Straßen. Am 30.07. etwa sollte ein Defilee am Boulevard und an der Place des Nations, sowie ein Feuerwerk am Strand stattfinden. Die Feiern wurden kurzfristig abgesagt, denn: »Le roi est faché avec le wali de Tanger« [Der König ist über den Bürgermeister von Tanger verärgert], wie man mir erklärt, denn er habe so viel in die Stadt hineingepumpt und angestoßen und die Stadt würde sich nicht drum scheren. Es sei eine Art Bestrafung für die Faulheit der Stadtverwaltung.21 Die Neugestaltung der Häfen, für die ich mich ursprünglich interessierte, sind keine also singulären Projekte, sie sind in ökonomische, politische und gesellschaftliche Zielsetzungen eingebettet, die der König für den Norden Marokkos angestoßen hat. Davon ist nicht nur Tanger selbst, sondern die gesamte Küste bis ins Mittelmeer hinein, sowie das Hinterland, betroffen. In diesem Kapitel wende ich mich aber vor allem den Modernisierungsvorhaben zu, die die Stadt Tanger betreffen. Dazu gehören insbesondere 3 Vorhaben: • die Neugestaltung von Tanger-Med (Umschlaghafen) und • Tanger-Ville (Stadthafen), sowie jene Projekte, die unter den Namen • Tanger-Métropole gefasst werden.

Da im Zentrum meines Forschungsprojektes die Frage stand, wie die o.a. Entwicklungen die Daseinsbewältigung der Tanjawis beeinflussen, möchte ich zuerst die offizielle Hochglanzversion der Modernisierungsprojekte vorstellen, bevor ich aus ethnographischer Perspektive den Ist-Zustand beschreibe.

D ER NEUE Ü BERSEEHAFEN T ANGER -M ED »Ich glaube, dass die großen Transportfirmen das Mittelmeer als einen Teich sehen und langfristig zwei Hubs einrichten werden: einen im äußersten Westen und einen im Osten. Von dort werden die Waren auf kleine Zubringer verladen,« sagt Ben Gebara, Chef der In-

21 Feldforschungstagebuch 30.07.2013.

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vestmentbank Blue Ocean Group und einer der Köpfe des Tanger Med Piloting Committee. 22

Gebara war eine der treibenden Kräfte hinter der Gründung von Tanger-Med.

Die Funktionen des Wirtschaftshafens wurden aus dem alten Stadthafen Tangers ausgegliedert und etwa 40 km weiter östlich in das Dörfchen Ksar el-Sghrir verlagert. Dort entstand der neue Hafen Tanger-Med, der nicht nur die alten Aufgaben aus Tanger sondern auch neue Aufgaben übernimmt: der jetzige neue Hafen besteht aus dem Passagierhafen, den Terminals 1 (MAERSK) und 2 (Eurogate), sowie der Autoverladehafen von Renault und einer Anlage für Kohlenwasserstoffe. Im Juli 2007 wurde Tanger-Med nach einer Rekordbauzeit von weniger als fünf Jahren eingeweiht, es »ist der stahlgewordene Traum der marokkanischen Industrialisierung: Der Warenumschlag ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 2011 um 82 Prozent gestiegen.« 23 Ende 2008 ging ein zweiter Terminal, den ein internationales Konsortium unter der Leitung der deutschen Hafengesellschaft Eurogate betreiben wird, in Betrieb. Bis 2012 wurde Tanger-Med zum größten afrikanischen Tiefwasserhafens ausgebaut.

Abbildung 22: Tanger-Med (von Steffen Wippel)

22 Gerlach 2011. 23 Gerlach 2011.

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Marco Mignogna, Präsident des Managing Board von Eurogate Tanger S.A. und somit der höchste Repräsentant von Terminal 2, lädt meinen Kollegen Steffen Wippel und mich auf eine Tour durch ›seinen‹ Hafen ein. Am Eingang von Eurogate steigen wir in seinen Touareg um, wir fahren auf das Hafengelände ein und passieren damit die marokkanischen Grenzbeamten, die ich zuerst gar nicht als solche erkenne. Da das Terminal 2 von Eurogate innerhalb des Hafengeländes liegt, muss man hier gewissermaßen eine Grenze passieren. Mignogna wird durchgewunken, man kennt ihn, aber als der Grenzer Wippel und mich im Auto entdeckt, bedeutet er Mignogna anzuhalten. Aber der fährt unbeeindruckt weiter und schleust uns damit über die Grenze in den Hafenbereich. Man sei hier wie auf einer Insel, meint Mignogna. Für die Marokkaner sei es nicht kenntlich, was hier gelagert und umgeschlagen wird – es sei denn, die Fracht verlässt den Hafen und wird über die Grenze nach Marokko geliefert. Allerdings würden 97% der Container im Hafen umgeschlagen, nur 3% verließen das Hafengelände über den Bahnanschluss und kämen nach Marokko. Diese Container würden dann akribisch gescannt. Terminal 2 besitzt Lagerkapazitäten für 40.000 Container auf einer Fläche von 400.000 qm. (Aufs Jahr umgerechnet ist die Lagerkapazität von Tanger Med I 3 Millionen Container, die von Tanger Med II 5,2 Millionen).24 Im Hafenbecken von Terminal 2 können 3 große Schiffe von 450 M gleichzeitig anlegen (je Schiff ca. 16.000 BRT). Ich verstehe, dass 600 Menschen in Terminal 2 arbeiten. Im Hafen würden 2000 Menschen arbeiten; allein in Terminal 1 bei MAERSK arbeiten 900 Menschen. Nur 8 Ausländer arbeiten in Terminal 2, das seien momentan alles Italiener; es gebe ein marokkanisches Gesetz, das nicht mehr als 20 Ausländer im Terminal erlaube. Die Arbeiter kommen aus Tanger, Tetuán, aber auch von weiter her: Fes, Rabat, Casa. Mignogna meint, es gebe zu jeder Schicht Betriebsbusse nach Tanger und Tetuán. Auf Terminal 2 besitzt auch bereits MarjanMaroc einen Stapelplatz für Massengut (VRAC); MarjanMaroc ist jenes Unternehmen, dass – halb privat, halb ›Palastwirtschaft‹ – später, jetzt sich im Bau befindlichen Teil des Hafens untergebracht werden wird. Mignogna fährt durch die Containerstapel hindurch und zu den großen Ladekränen. Die seien vollautomatisiert, da gebe es keine Arbeiter mehr, nur noch Computerspezialisten, die die Kräne programmierten. Im Terminal 2 werden v.a. Container von Hapag-Lloyd, Hamburg Süd und CGM umgeladen. Eurogate ist ein deutsch-italienisches Unternehmen: die Container

24 N.N. 2013c.

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von Hamburg Süd, die wir sehen, gehen v.a. von Lateinamerika in den Mittleren Osten; CGM sei v.a. im Westafrikageschäft tätig.25 Die Hälfte der Kosten für Hafen und Infrastruktur stammen vom marokkanischen Staat, die andere Hälfte aus privaten, ausländischen Quellen (insbes. Kuwait, Dubai und den Emiraten).26 Jeweils 100 Millionen Euro investierten Eurogate, Betreiber MSC Tanger Med und die Europäische Investitionsbank in Tanger-Med. 27 In den Gesamtkomplex Tanger Med (Tanger Med 1 et Tanger Med 2, Infra- und Superstruktur, sowie Gesamtausstattung der Terminals) werden in den Jahren 2015-2016 35 Milliarden Dirham investiert.28

Abbildung 23: Tanger-Med, Terminal 2 Im Mai 2010 nahm Tanger-Med den Fährbetrieb nach Algeciras, Tarifa, Sète, Barcelona und Genua auf,29 bald soll Málaga dazu kommen:30 Der Hafen zählt schon jetzt zwei Millionen Passagiere jährlich. 25 26 27 28 29 30

Feldforschungstagebuch 20.03.2013 Peraldi 2007b. Gerlach 2011. N.N. 2013c. N.N. 2010b. N.N. 2014b.

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Eine Autobahn verbindet Tanger-Med mit der Zone Franche, wo sich bereits 100 Unternehmen angesiedelt haben, etwa Renault und Nissan.31 20 Milliarden Dirham wurden investiert, um Tanger-Med mit dem Hinterland zu verbinden.32

D ER S TADTHAFEN T ANGER -V ILLE In der Zeit der englischen Besetzung (1662-1684) wurde die erste Hafenmole Tangers gebaut (1678). Dadurch wurde der Handel mit England, Frankreich und Spanien begünstigt. Diese Mole wurde mit dem Abzug der Engländer 1684 wieder zerstört, so dass Waren und Passagiere bis zu Beginn des XX. Jahrhunderts von den Schiffen auf Barkassen umgeladen und von dort bei Ebbe an den Strand – die Passagiere von Trägern – gebracht werden mussten. 1882 wurde eine Holzmole gebaut,33 1897 im Auftrag der Kommission für Hygiene und Sauberkeit (Commission d’Hygiène et de Propreté) mit dem Bau einer weiteren Holzmole begonnen.34 Es soll der Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II am 31.03.1905 gewesen sein, der letztendlich zum Bau eines Wellenbrechers – einer festen Mole – führte: denn die unruhige See verzögerte den Landgang des Kaisers. 1908 wurde die 340 Meter lange Mole fertiggestellt.35 Nach einer anderen Quelle36 erhielt die deutsche Gesellschaft Sanger & Corner unter Beteiligung von Adolf Renschhausen, von dem in diesem Kapitel noch die Rede sein wird, 1912 die Konzession zum Bau einer Mole, 1914 wurde der Bau der Mole abgeschlossen. Dies beflügelte den Handel, die großen Handelslinien wie die spanische Transatlántica, der holländische Rotterdamsche Lloyd, die französische Messageries Maritimes, die schwedische Svenska Ostasiatiska Goteborg, die amerikanische Swedish-Americian-Line, die Marroquí de Navegación, die Compañía Paquet und andere. 1914 wurden die Deutschen enteignet, die Franzosen erhielten die Rechte über den Hafen.37 Allerdings war das französische Engagement diesbezüglich nicht besonders ausgeprägt, da sich mit der Errichtung des spanischen Protektorates in Nordmarokko die französischen Interessen in den Süden verlagerten und Tanger eine Konkurrenz zum Hafen von Casablanca hätte werden können. Pläne zum Bau eines großen Hafens wurden erstellt, das Kapital 31 32 33 34 35 36 37

Gerlach 2011; N.N. 2014a. N.N. 2013c. Mouline 1994 S.11. Hernández Muñoz 2011 S.47; Assayag 2000 S.250. Mouline 1994 S.11. Hernández Muñoz 2011 S.47. Mas Garriga 2013 S.8.

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stammte zu 30% aus Frankreich, zu je 20% aus Spanien, Großbritannien und Deutschland, zu 10% vom Sultanat und zu 10% von anderen Nationen.38 1921 schließlich wurde die Umsetzung der Pläne an die Société pour le développement de Tanger39 übertragen, erst 1925 begannen die Bauten. Tanger lebte lange maßgeblich von Hafen, von den Ex- und Importen mit Europa, auch der Schmuggel unterschiedlichster Güter in beide Richtungen ist eine traditionelle Einkommensquelle für die Stadt. 1927 wurde ein Wellenbrecher von 1200 m Länge fertiggestellt,40 1930 die Bassins für die Barkassen. Im Jahr 1928 konnten 72.000 Tonnen Güter umgeschlagen werden, 1932 waren es bereits 96.000 Tonnen. 1951 wurde mit dem Bau einer Hafenerweiterung begonnen, die man dann 1954 abschloss. Nunmehr konnten 30.000 Tonnen zusätzlich umgeschlagen werden.41 1955 stellte man den Bau der Mole des 1925 gegründeten Yachting Club International und des Fischereihafens fertig.42 Im Hafen landeten die Fähren aus Algeciras und Tarifa an, sowie zwischen 1954 und 1986 die Bland Line nach Gibraltar. Assayag43 behauptet, die prosperierendste Zeit des Hafens habe zwischen 1946 und 1960 gelegen. 1961 wurden neue Molen gebaut, mit denen sich die Grundfläche des Hafengeländes verdreifachte; dort errichtete man eine Freihandelszone (Zone Franche).44 Beim späteren Ausbau des Hafens wurde eine Hafenmoschee errichtet, zum Teil auf magischen Felsblöcken wie den Rocas de los Bloques, die sich seit Urzeiten im heutigen Hafengelände befinden.45 Häfen sind mehr als administrative und ökonomische Institutionen. Es mag angebracht sein, den Bhabha’sche Begriff des third space46 auf klassische Häfen und die angrenzenden Hafendistrikte anzuwenden, da sich hier Begegnungen, Austausch und Neuerungen zu entfalten mochten. Wissenschaftliche47, literarische48 und mediale Diskurse49 heben oft hervor, dass Häfen eine bestimmte soziokulturelle Atmosphäre schufen, die man als kosmopolitisch, offen, tolerant, 38 Hernández Muñoz 2011 S.52. 39 Hernández Muñoz 2011 S.53. Assayag (2000 S.251) spricht von der Société du Port de Tanger. 40 Assayag 2000 S.253. 41 Mas Garriga 2013 S.8. 42 Hernández Muñoz 2011 S.53. 43 Assayag 2000 S.254. 44 Hernández Muñoz 2011 S.59. 45 Feldforschungstagebuch 04.02.2015. 46 Bhabha 1994 S.37ff. 47 Braudel 1949; Fritze, K. et al. 1986; Roding & Lex 1996; Rudolph 1980; Smith 1977. 48 N.N. 2003. 49 Bonan 1997; Moati 1999.

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dynamisch und multikulturell bezeichnen kann.50 Hier interagierten Händler und Reeder, Seefahrer und Fischer, Hafenarbeiter und Zulieferer miteinander. Im Zuge der Industrialisierung siedelten sich in den Häfen vermehrt Unternehmen an, die die Handelsgüter – insbesondere die Rohstoffe – weiterverarbeiteten. Dadurch wurden die Hafenviertel nicht nur ein Lebensraum für diejenigen, die direkt im Hafen arbeiteten, sondern auch für die Industriearbeiter und ihre Familien, sowie für die Infrastruktur, die die Grundbedürfnisse dieser Menschen abdeckte (z.B. Kleinhandel, Kneipen, Garküchen, Bordelle). Obwohl die großen Hafenstädte der Vergangenheit als ›Tore zur Welt‹ auch heute noch immer häufig eine Aura der Internationalität und des Kosmopolitismus umgibt, hat sich die Funktion der Häfen als Plätzen der Kommunikation, des Austausches und des Handels v.a. seit den 1960er Jahren dramatisch verändert. Aufgrund des industriellen Wachstums (insbes. der Ölraffinerien), der Einführung von Containern und des größeren Bedarfs an Land wurden immer mehr mediterrane Häfen aus den Hafenstädten ins Umland verlagert.51 Diese Entwicklung der Beziehung zwischen Hafen und Stadt – im Fachjargon port-city interface genannt – erfolgte in den meisten großen Hafenstädten des Mittelmeerraumes bereits Mitte des 20. Jahrhunderts.52 Diese Phase der Hafenentwicklung hatte einen Einfluss auf die städtischen Hafendistrikte und die Hafenstädte als Ganzes. Die Organisation und Durchführung des Handels basiert nicht mehr auf der physischen Präsenz der Handelsbourgeoisie in den Hafenstädten selbst; heute wird dies durch die technologische Infrastruktur geregelt, ohne dass sich Kaufleute, Mittelsmänner und Kapitäne direkt begegnen müssen. Auch die Präsenz von Seeleuten in den Hafenstädten nahm kontinuierlich ab. Heute stammen die meisten Matrosen aus Billiglohnländern. Die Besatzungen sind kleiner und spezialisierter, die Liegezeiten in den Häfen nur noch kurz. Für den Landgang bleibt, wenn überhaupt, nur wenig Zeit, in den europäischen Häfen unterliegen die meisten Seeleute den Restriktionen des Schengener Abkommens. Die Arbeit in den Häfen wird heute in der Regel durch wenige Spezialisten wie Kranführer durchgeführt, deren Arbeitsschritte – wie etwa in Tanger-Med – hochgradig durchrationalisiert sind. Träger und andere Arbeitskräfte, die aufgrund ihrer Körperkraft beschäftigt waren, sind weitgehend überflüssig. Damit verlieren auch die traditionellen Formen der sozialen Organisation, wie etwa die Hafenarbeitergewerkschaften, und der gemeinsamen Freizeitaktivitäten im Hafendistrikt (Besuch von Hafenkneipen) an Bedeutung. 50 Hilling 1988 S.24. 51 Montanari 1988; Hayuth 1982. 52 Hoyle 1989 S.432, 2000 S.405.

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Der Niedergang der industriellen Produktion und die Rationalisierung der Arbeitsvorgänge im verarbeitenden Gewerbe beeinflussen die Hafenstädte ebenfalls. Heute werden die Hafendistrikte nicht nur durch das Verschwinden der Hafenarbeiter, sondern auch der Industriearbeiter geprägt. Dies wirkt sich auch auf die sekundäre Infrastruktur in den Hafendistrikten aus, die einstmals dazu dienten, die Bedürfnisse der Arbeiter und ihrer Familien zu erfüllen. Tanger war von diesen Prozessen erst im neuen Millennium betroffen. Der Stadthafen ist noch immer Fischereihafen und bis zum Sommer 2015 Standort für die Industrieproduktion, er war bis vor kurzem auch noch Handelshafen, in dem auch Container angelandet wurden – freilich nur in geringen Ausmaßen. Die Ursache liegt jedoch nicht darin begründet, dass der Handelshafen ausgelagert worden wäre, sondern weil Casablanca zum Haupthafen Marokkos entwickelt worden war. Allerdings ist auch in Tanger die physische Präsenz von Kaufleuten und Seeleuten in der Stadt nicht mehr notwendig, die Geschäfte werden genauso digital abgewickelt wie anderswo. Bloß die Hafenarbeiter und die Fischer waren bis vor kurzem (und sind es zum Teil heute) noch in Tanger-Ville tätig, viele verbrachten die Freizeit zusammen und verbringen sie noch immer in den Cafés, die am Hafen liegen (etwa im Renschhausengebäude). Bis vor kurzem und sogar zum Zeitpunkt der Feldforschung wird im Stadthafen sogar noch industriell produziert. Generell lässt sich sagen, dass die oftmals wenig erfolgreiche Umorientierung von Hafenvierteln auf neue ökonomische Aktivitäten zu einem sozialen und urbanistischen Niedergang der Viertel führte. Häufig werden die heruntergekommenen Viertel zum Lebensraum deklassierter Bevölkerungsgruppen und illegaler Auswanderer, sowie zur Bühne für Arbeitslosigkeit, Prostitution, Kriminalität und Drogenhandel. In Tanger waren diese Entwicklungen ebenfalls spürbar, gerade in der hafennahen Medina. Dies kann allerdings nicht auf die Veränderungen und Prozesse der Hafenwirtschaft zurückgeführt werden, es hat offensichtlich allgemeine politische Gründe, die in der planmäßigen Vernachlässigung des Nordens und dem Bedeutungsverlust Tangers in den 1970er1990er Jahren durch Hassan II begründet liegen. Nur in einigen mediterranen Hafenstädten konnten Hafenviertel erfolgreich durch Modernisierungsmaßnahmen aufgewertet werden – so wie in Barcelona, wo im Zuge der Olympischen Spiele 1992 die Hafenviertel Barceloneta und Barrio Chino umgestaltet wurden und wie der Hafen selbst zu Waren wurden (Tourismus, Gentrifizierung, Waterfront-Architektur, Promenaden, Aquaparks, Sport-

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anlagen, Spielplätze, neue Bars, Diskotheken und andere Freizeitlokalitäten). Die Neugestaltung des Stadthafens von Tanger und der anliegenden Viertel sind von offizieller Seite mit identischen Hoffnungen verbunden. Wirtschafts- und Fährhafen waren bis 2007 im alten Stadthafen von TangerVille untergebracht. Die Verlagerung dieser Funktionen veränderte den Stadthafen und das soziale Gefüge des städtischen Umfeldes selbst maßgeblich. Daher sollen mit spezifischen Modernisierungsmaßnahmen in Tanger-Ville der Stadt nicht nur neue Impulse verschafft werden, es sollen auch die negativen Effekte, die die Projekte im Umland – insbesondere der Bau von Tanger-Med – auf die Stadt haben, abgefedert werden. Die Maßnahmen im und um den Stadthafen zielen darauf ab, die historische Bedeutung Tangers zurückzugewinnen und Tanger wieder zu einer der ersten Touristendestinationen im Mittelmeerraum umzubauen. Dazu wurde im Frühjahr 2010 wird die Raumordnungsgesellschaft La Société d’Aménagement pour la Reconversion de la Zone Portuaire de Tanger (SAPT) gegründet, die die Projekte zur Neugestaltung des Stadthafens umsetzen soll.53 In der Gesellschaft sind Repräsentanten des Staates, der Stiftung Hassan II, der Stadt Tanger, der Nationalen Hafenbehörde (l’Agence Nationale des Ports) und der Entwicklungsbehörde für den Norden (l’Agence pour la promotion et le développement nord) vertreten.54 Zum Leiter wird M. Abdelouafi Laftit, ein Verwaltungs- und Finanzfachmann, der auch schon die Häfen von Safi und Agadir leitete, ernannt.55 Rund 600 Millionen Dh stehen dafür zur Verfügung, je 225 Millionen Dh kommen vom Staat bzw. von Fonds Hassan II pour le développement économique et sociale. Am 10. Dezember 2010 werden die Pläne für die Rekonversion des Stadthafens Tanger-Ville von S.M. Mohamed VI präsentiert. Damals hieß es: 56 Über 6 Millionen Dh sollen in das Projekt, das im März 2011 beginnen soll, fließen. Aus dem Fischereihafen wird eine Marina entstehen, der Fährhafen wird um einen Kreuzfahrthafen mit 3 Anlegestellen ergänzt. Darüber hinaus bestehen Pläne, den Hafen und die Stadt räumlich und kulturell miteinander zu verzahnen. Denn gegenwärtig befindet sich im port-city interface zwischen Hafen und Altstadt ein breiter Streifen, bestehend aus Straße, Parkplätzen und Brachland um den ehemaligen Stadtbahnhof.57

53 54 55 56 57

N.N. 2010c. N.N. 2010a. N.N. 2010d. N.N. 2010. Roaud 2013.

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Der Fischereihafen wird nach Westen verlagert. Er soll aus 11 ha Bassinfläche und 12 ha Hafenfläche, sowie einer Quailänge von 2537 Metern bestehen.58 Die Marina soll 2016 über 1600, später 3000 Ringankerplätze erhalten. Auf dem Gelände sollen Wirtschaftsunternehmen angesiedelt werden, ein Casino, Büros und Freizeitstätten entstehen. Der Fährhafen Gare Maritime soll für Schnellboote nach Spanien umgebaut werden. Es ist geplant, dass der Kreuzfahrthafen 3 Schiffe gleichzeitig aufnehmen kann. 2010 landeten nur 20.000 Kreuzfahrttouristen in Tanger an, die Stadt könne aber 10 Mal so viel aufnehmen.59 Schon im Plan für die Rekonversion des Stadthafens Tanger-Ville werden auch Projekte benannt, die nicht nur speziell den Hafen betreffen, sondern die Stadt als Ganzes – insbesondere die Altstadt: So werden mit den Baumaßnahmen im Kreuzfahrthafen für 2016 schon 300.000 Kreuzfahrttouristen erwartet, für das Jahr 2020 gar 750.000. Man geht davon aus, dass jeder Kreuzfahrttourist 900 Dh ausgibt, was einen enormen ökonomischen Impuls für die Geschäfte und Gaststätten der Medina erwarten lässt.60 Insgesamt sollen alle Maßnahmen zusammen aber bereits 2014 1,25 Millionen Touristen anziehen.61 Hotels mit 1600 Betten werden errichtet. Ein Museum soll gebaut werden, sowie ein Kongresszentrum und ein Multiplexkino. Mit der Hafenerneuerung geht eine Wiederaufwertung (revalorisation) der unmittelbaren Umgebung der Altstadt. Genannt werden die Kasbah und die Felsenküste gen Westen. Eine Seilbahn soll die Stadt mit dem Hafen verbinden Mit dem Bau von Tanger-Med sah sich die Altstadt von Tanger, die traditionell vom Hafen lebte, vor wichtige Fragen gestellt: Was geschieht mit dem Tourismus, wenn die Mehrzahl der Reisenden auf dem Weg in den Süden nicht mehr die Stadt direkt passieren muss sondern direkt von Tanger-Med in den Süden fahren kann? Was wird aus den Fischern, die vom Hafen aus direkt den zentralen Fischmarkt in der Altstadt beliefern? Was geschieht mit den Frauen der Altstadt, 58 59 60 61

Roaud 2013. N.N. 2010a. N.N. 2010a. N.N. 2010c.

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die in den Industriegebieten des Hafens arbeiten? Diese Fragen sind im Oktober 201062 noch ungeklärt, The Tangier American Legation Institute for Moroccan Studies (TALIM) setzt sie für das Seminar am 02. April 2011 auf seine Agenda. Abdelouafi Laftit und Mr. Mzerma präsentieren dort das Projekt: 63 Eine der Fragen konnte inzwischen geklärt werden: die Fischer werden nicht aus der Altstadt vertrieben, sondern finden in einen neuen Fischereihafen am Fuße des Altstadtviertels Dar Baroud Arbeit. Die bislang einfache Hafenmoschee wird durch eine neue, prunkvollere Moschee ersetzt und zu einer wichtigen Landmarke für die neuankommenden Gäste. Vom Tourismus soll die Stadt profitieren. Was die erhofften Arbeitsplätze in der neuen Marina betrifft, so sind die Erwartungen hoch, alleine: »is the human infrastructure – dominated by ›unofficial‹ or faux guides – ready for this influx?« Um die Bewohner der Altstadt wirklich von der Marina profitieren zu lassen, muss man Ausbildungsplätze schaffen, was heißt: die armen, schlecht ausgebildeten Jugendlichen der Altstadt in Dienstpersonal zu verwandeln, das dem erwarteten Nobeltourismus entsprechen kann.

D ER M ASTERPLAN T ANGER -M ÉTROPOLE Bereits im 2010er Plan für die Rekonversion des Stadthafens Tanger-Ville werden Projekte skizziert, die über den unmittelbaren Stadthafen hinausgehen. Im September 2013 stellt S.M. MVI den Plan Tanger-Métropole vor, in dem über den Hafen hinausgehende Projekte gebündelt und koordiniert werden. 7,6 Milliarden Dh sollen für das ambitionierte Vorhaben, dessen Laufzeit von 2013 bis 2017 angelegt ist, zur Verfügung gestellt werden:64 Eine Reihe von Verkehrsprojekten sollen den Verkehr in und um die Stadt herum entlasten. Dazu gehört eine dritte Autobahnachse (troisième axe autoroutière), eine Küstenstraße (d'une route côtière), eine Verdopplung der Provinizalstraßen, der Bau großer Umgehungsstraßen (la création de grandes voies de contournement comme celle reliant l'Atlantique à la Méditerranée ›Rocade des deux Mers‹), der Ausbau des Straßenbaues in den Stadtvierteln, der Bau eines innerstädtischen Parkhauses, der Bau eine Küstenumgehungsstraße (la création d'une voie côtière atlantique ›Rocade Océanique‹), der Ausbau der

62 Loftus 2010. 63 Loftus 2011. 64 N.N. 2013a; Mnebhi 2013; Aufait 2013b.

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Straße Char-Bendiban-Mekkada, um den Innenstadtverkehr zu entlasten65 und eine Unterführung an der Place de la Ligue Arabe.66

Abbildung 24: Tanger-Ville, Hafenumbau Neue Wirtschaftsprojekte werden angestoßen, so eine neue Industriezone im Süden der Stadt mit Autobahnanschluss. Sämtliche Verwaltungszentren werden aus der Innenstadt heraus in die Peripherien verlagert, um den dort lebenden Bürgern (der großen Mehrheit der Stadtbevölkerung) schnellen Zugang zu den kommunalen Diensten zu verschaffen. Die Märkte der Stadtviertel werden neu gebaut bzw. saniert. Schließlich werden auch Routen für Touristen in der Stadt angelegt und ausgewiesen. Neben den Verkehrs- und den Wirtschaftsprojekten steht die Verbesserung der Umweltsituation im Mittelpunkt von Tanger-Métropole. Dazu gehört vor allem die Reinigung der 65 Kilometer langen Uferachse zwischen Kap Malabata und Asilah, sowie die Reinigung der Flussläufe, die die Stadt durchqueren. Die Corniche wird neu strukturiert und in den Stadtvierteln werden verschiedene Grünflächen angelegt.

65 N.N. 2014h; Aufait 2014i. 66 N.N. 2014h; Aufait 2014i.

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Im Zusammenhang mit Tanger-Métropole stehen auch verschiedene Sozialprojekte, etwa der Bau von 25 neuen Schulen und 21 Kindergärten. Vier bestehende Schulen sollen ausgebaut und 166 Schulklassen, die in provisorischen Gebäuden untergebracht sind, sollen in feste Häuser verlagert und an die Wasserund Stromversorgung angeschlossen werden. Vier neue Krankenstationen sollen gebaut und sechs Gesundheitszentren ausgebaut werden. Das Hauptkrankenhaus Mohammed V im Viertel Val Fleuri soll saniert und durch eine Notaufnahme und ein neues Gesundheitszentrum ergänzt werden. Auch der Entwicklung von Freizeitprojekten wird im Masterplan TangerMétropole Aufmerksamkeit geschenkt. So soll eine Sportstadt nach internationalen Standards auf einem Gelände von 60 Hektar errichtet werden, mit einem Freibad nach olympischen Ausmaßen, einem Tenniskomplex, drei Multifunktionshallen. Sechs Fußballplätze sowie Plätze für Basketball, Volleyball und Pétanque werden entstehen. Zur Sportstadt gehören auch ein Hotel, eine Sportklinik und ein Geschäftszentrum, in dem ausschließlich Sportartikel angeboten werden. Darüber hinaus werden Jugend- und Frauenzentren neu gebaut bzw. bestehende ausgebaut. Schließlich sieht der Masterplan auch vor, Kulturprojekte zu finanzieren. So sollen die Grotten des Herkules, die Villa Harris und der Wald von R’Milat gepflegt werden. Ein Palais des Arts et des Cultures wird gebaut, ebenso ein großes Theater und elf neue Moscheen. Sieben bestehende Moscheen werden saniert. Von der Gesamtsumme sollen 2,46 Milliarden Dh in vernachlässigte Stadtviertel Tangers investiert werden, davon alleine 1,2 Milliarden Dh in das arme Stadtviertel Bni Mekkada mit seiner chaotischen und wildwuchernden Infrastruktur.67 Zwar gelten die Region Tanger und der Norden Marokkos generell als bevorzugte Rekrutierungsgebiete von Jihadisten68 für den Kampf in Syrien, emblematisch hierfür ist aber gerade dieses Viertel, in dem der gewalttätige Islamismus stark verwurzelt ist.69

E INE E THNOGRAPHIE

DES

H AFENS

UND DES

S TRANDES

Zum Zeitpunkt der Feldforschung erfüllt der Stadthafen von Tanger noch eine Reihe maritimer Aufgaben. Zum einen legen dort die Fähren nach der spanischen

67 Abjiou 2013. 68 Cembrero 2014. 69 N.N. 2014f. Mehr dazu siehe Kapitel 4.

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Stadt Tarifa an. Zwei Schifffahrtslinien verkehren hier jede Stunde alternierend. Es gibt ein Grenzkontrollgebäude für Personen und eines für Reisende mit PKW. Zum anderen befindet sich dort die Landemole für Kreuzfahrtschiffe, die Touristen für ein paar Stunden in die Stadt bringen. Im Fährhafen trifft man auf faux guides, legale und illegale Grenzhelfer, Grenzpolizisten, Familienangehörige, die auf ihre aus Spanien anreisenden Lieben warten, Reisende – zur Zeit meiner Forschung bin ich im Hafengelände selbst nicht auf Vertreter der in der Literatur als typisch beschriebenen illegalen Migrantengruppen gestoßen: Schwarzafrikaner, marokkanische Jugendliche und Kinder. Wohl aber in anderen Gegenden der Stadt. Der Fischereihafen befindet sich ebenfalls im Stadthafen, sowie die Fischmarkthalle (loja), von der aus die Lokale der Stadt und der Fischmarkt in der Medina beliefert werden. In einer weiteren Halle wird Eis für die Kühlung der Ware hergestellt. Die Ölspeicher von Afriquia und OiLibya befinden sich ebenfalls auf dem Gelände. Für die vielen Tanjawis, die aus Neugier und zum Zeitvertreib den Hafen betreten, gibt es auch eine Gasse mit Fischlokalen.

Abbildung 25: Tanger-Ville, Ausbesserungswerkstätten

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DER

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Ebenfalls auf dem Hafengelände befinden sich mehrere Fischereiassoziationen und Verbände70, sowie eine Reihe von Ausbesserungswerkstätten für die Boote, Geschäfte für Schiffszubehör, Transportunternehmen, ein Trockendock, und die Königliche Marinestation. Darüber hinaus wird auf dem Hafengelände bis zum Sommer 2014 noch immer produziert: In der Zone Franche arbeiten viele Frauen, beispielsweise in der Fischverarbeitung (Krabben, gambas) oder in der Textilindustrie. Firmen, die für die Fährunternehmen zollfreie Güter wie Parfum, Zigaretten, Alkohol und Elektronikwaren zuliefern, waren ebenfalls bis zum Abriss der Zone Franche dort ansässig.71 Heute jedoch befinden sich die meisten der Hafenunternehmen bereits in der neuen Zone Franche am Stadtrand oder in Chrafate, wo auch die Produktionsstätte von Renault angesiedelt ist. Im Fischereihafen traf ich auf Fischer und Matrosen, Netzflicker, große und kleine Fischhändler, Angler, Touristen, Tanjawis auf Hafenbesuch und Handwerker.

P ORTRÄT 1:

DER

F ISCHER – T AHA

15:15 Uhr in der Hafenbar Les Vagues. Heute sitzen vereinzelt ehemalige Seeleute vorm Lokal. Vom Brennstofflager der Unternehmen OiLibya und Afriquia her stinkt es wie immer nach altem käsigem Fisch. Ich muss mich jedes Mal überwinden, dort vorbei zu gehen. Kein Wunder, dass es hier nur so wimmelt vor räudigen Katzen. Eine Einäugige glotzt mich an. Gerade als ich das Hafengelände verlassen möchte, ruft jemand auf Spanisch nach mir, der auf der Brüstung des Gebäudes steht, in dem die Association de Jeunes Armateurs untergebracht ist. Ich schaue nach oben und sehe einen jungen Mann, wir unterhalten uns eine Weile über den Hafen. Nach etwa 5 Minuten fragt er mich, ob ich zu ihm auf die Brüstung hoch kommen möchte. Es ist ein junger Mann, der – wie viele andere Fischer hier auch – Fischfanghaken an Fangschnüre aus Nylon knüpft. Es sind insgesamt 150 Haken. Er erzählt vom Hafen, vom Fischen und den Booten, und irgendwann sind es so viele Informationen, dass ich mein Notizbuch heraushole und frage, ob ich mitschreiben darf. Kein Problem, sagt er. Und ich notiere. 70 Z.B. die Association des armateurs de la peche cotiere Port Tanger, Association Union des armateurs de peche de Tanger, Association independante des marins de Tanger, Association des jeunes armateurs de la peche maritime Tanger, Association proprietaires des bateaux peche artisanale de Port de Tanger. 71 Amiar 2014.

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Wir stehen weiterhin oben auf der Brüstung, unter uns der Fischereihafen, er fädelt seine Haken und erzählt. Taha ist 23 und bereits jefe (Leiter) einer barca. Als er 8 alt Jahre war, hat er im Hafen mit dem Reinigen von Booten angefangen zu arbeiten. Er ging nur ein Jahr auf die Schule und sowohl die Lehrerin als auch der heute 48-jährige Vater, der selber Fischer ist, meinten, er sei zu schwach für so eine körperlich schwere Arbeit, er solle erst einmal die Schule beenden. Aber er habe sich durchgesetzt, die Schule abgebrochen und mit der Arbeit im Hafen begonnen. Er fischt jetzt auf seiner barca immer mit den denselben drei Kameraden, man sei aufeinander eingespielt und könne sich aufeinander verlassen. Barcas sind kleine Fischerboote, es passen gerade einmal 4 Leute darauf. Sie fahren aufs Meer, meistens nach Bolonia und anderen Orte drüben an der spanischen Küste. Seine barca ist aus Holz, hat 15 PS und macht 7 Meilen in der Stunde; in Spanien dagegen seien die barcas aus Fiberglas und machten 14 Meilen pro Stunde. Barcas, so klärt Taha mich auf, unterscheiden sich von barcos: barcos nennt man hier die großen Fischereiboote, es seien fast schon Schiffe. Man unterscheidet drei Typen barcas: ein batel hat einen runden Boden, eine patera einen flachen. Die pateras sind schneller als die bateles. Dann gibt es noch die canoas fuera bordo, das sind pateras mit einem Kiel unten dran. Ich sage ihm, dass man in Gibraltar drüber unter pateras die Gummischnellboote versteht; die heißen hier in Tanger fantomas, erwidert Taha. Er zeigt mir eine fantoma, und zwar eine der königlichen Marinepolizei.

Abbildung 26: Schiff bei der Ausbesserung, April 2013

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Im Fischereihafen liegen 250 barcas und 360 barcos. Das sei zu viel, mehr seien nicht erlaubt, meint Taha, und die Zahl der barcos solle auch auf 300 gesenkt werden. Eine barca, wie er sie hat, kostet heute 20.000 € – der Preis sei enorm angestiegen, vor 5 Jahren kostete sie noch 8000 €. Während barcos pro Tour 3-4 Tage auf See sind, ist er mit seiner kleinen barca ›nur‹ gut 20 Stunden unterwegs: von morgens 6 Uhr bis zum nächsten Morgen um 4 Uhr. Zum Thunfischfang in der Zeit des Ramadan fahren sie bis 3 Meilen vor der Küste von Tarifa und arbeiten zusammen mit den spanischen Fischern. Wie lange er denn nach so einer Tour schlafe? Zehn-zwölf Stunden, denn die Anstrengung sei schon riesig. Normalerweise schlafe er bloß 7-8 Stunden.

Abbildungen 27a-c: batel

patera

canoa fuera bordo

Mit Blick auf die Menschen unter uns im Fischereihafen sage ich, dass hier nur wenige ajnabies (Ausländer) seien; ich meine damit Touristen. Er aber bezieht ajnabie nicht auf Touristen, sondern auf negros (Schwarzafrikaner = illegale Migranten): nein, Schwarze kämen hier in den Hafen garantiert nicht rein!, sagt er bestimmt. Ich frage nach contrabando, und er meint, die Haschischboote führen von der ganzen Küste – zwischen Laraich (span. Larache) am Atlantik bis zur algerischen Grenze am Mittelmeer – nach Spanien rüber; auch hier vom Stadthafen in Tanger. Die Boote im Fischereihafen dienen nicht nur dazu, Fische zu fangen, mitunter verläuft auch der Haschischhandel mit genau diesen Booten, wie mir Shakeeb, der selbst schon im Haschischhandel tätig war, erzählt. Die kleinen harmlosen Fischerboote, die aus dem Hafen auslaufen, seien die, mit denen Haschisch geschmuggelt würde. Das könne auf dreierlei Weise geschehen: Ein Boot fährt hinaus aufs Meer und trifft sich mitten auf dem Meer mit spanischen Fischern. Dort werden die Waren ausgetauscht: die marokkanischen

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Fischer tauschen Haschisch gegen Fisch, den sie von den spanischen Fischern erhalten, damit sie nicht leer in den Hafen von Tanger zurückkommen.72 Eine andere Möglichkeit besteht darin, große Fische auszunehmen und mit Beuteln voller Drogen zu stopfen. Das sei auch der Grund, weshalb auf den hiesigen Fischmärkten selten große Fisch verkauft würden: die brauche man für den Drogenschmuggel. Drittens könne man aufs Meer hinaus und die Waren im Meer ablegen; den genauen Ort markiert man einer Boje, die etwa 2 Meter unter der Wasseroberfläche verbleibt. Diese ist mit GPS ausgestattet und könnte von den Schmugglern der anderen Seite geortet werden, die die Waren abholen.73 Die Strecke über die Meerenge sei wegen der starken Meeresströmungen sehr beschwerlich – auch wenn zwischen Tanger und Tarifa die kürzeste Strecke zwischen den Kontinenten liegt. Zweimal, so Taha, habe er auf einer fantoma Haschisch transportiert, zweimal sei er von Saha bei Laraich aus losgefahren und von dort nach Spanien bei Sanlúcar de Barrameda in die Mündung des Guadalquivir eingefahren, wo man das Haschisch entlud. Aber das würde er heute nicht mehr machen, das sei ihm zu gefährlich. Zwar bekommt er 3000 € für eine Tour, aber das sei zu wenig für die Gefahr, die man eingehe. Ich frage mich, worin die Gefahr wohl bestünde und hake nach: ob es riskant sei, durch die Küstenwache oder die spanische Polizei erwischt zu werden. Taha macht eine abwertende Handbewegung: I wo, die sind alle bestochen: die marokkanischen Behörden hier und die spanischen drüben. Die seien nicht das Problem. Aber es passten 40 fardos (Bündel/Ballen) auf ein Boot und jedes fardo wiege 30 Kilo. Da sei die Navigation bei der starken Meeresströmung, die in der Straße von Gibraltar herrscht, einfach zu gefährlich. Wir sprechen über den Fischfang. Seit ein paar Jahren verfügten die Boote in der Regel über Navigationsgeräte und GPS; er wisse immer, wie tief das Meer unter ihm sei und wie weit er von der Küste entfernt ist. So könne man den Fischfang auch besser koordinieren. Besugo kostet 20 € das Kilo. Muränen werden gefischt, indem 4 Taucher mit Flaschen nach unten tauchen und ›die Viecher‹ erledigen. Ab 15. April gibt es 72 Vgl. Haller 2000 S.262: »Fast launches aus Gibraltar transportieren Haschisch von Marokko nach Spanien. Marokkanische Schiffe verlassen Marokko mit Haschisch an Bord, und in der Meerenge über- geben sie es einer launch, die es dann nach Málaga bringt oder was immer sie mit dem Zollbeamten ausgemacht haben; das ist alles mit ihm abgesprochen.« Interview mit Sir Joshua Hassan, 20.03.1996, vgl. auch Interview mit Minister Joe Moss, 12.04.1996. 73 Feldforschungstagebuch 13.12.2013.

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Schwertfische, pez espada, im Ramadan ist Thunfischsaison; ein Thunfisch von 300 Kilo bringe ihm 900 € ein, auf dem Markt werde dann vom Händler ein Kilo für 8 € weiterverkauft. Die Fische werden im Meer getötet und bereits tot ins Boot gezogen. Da brauche man viel Kraft, so einen Fisch von 300, 350 Kilo ins Boot zu hieven. Man brauche Arme wie Schwarzenegger!, meint Taha. Deshalb gehe er auch immer ins Bodybuildingstudio, abwechselnd mit dem Besuch des Karatestudios: ein Tag so, ein Tag so. Nächstes Jahr wolle er heiraten, im Mai dieses Jahres wolle er die Papiere dafür besorgen. Er möchte einen großen Thunfisch selber fangen für die Hochzeitsgäste: 450 Kilo, das wäre was! Taha verdient mindestens 50 € pro Fahrt, sagt er. Das sei mehr als auf einem der barcos, denn da müsste man den Gewinn mit viel mehr Leuten teilen. Und man sei länger auf See. Ich frage, ob er denn so etwas wie einen Verdienstausfall bekäme, wenn er einmal krank sei. Er meint, dass es mittlerweile eine Sozialkasse für Seeleute gebe, da bekäme er die Medikamente bezahlt und eine Ausfallsentschädigung. Dank Mohammed VI, der sei ein guter König, der habe diese Art der Sozialkasse eingeführt. Mohammed VI sei modern, alle jungen Leute würden auf ihn setzen. Außerdem würde der König Freiheit erlauben und alle Möglichkeiten offen halten: wer in die Moschee will, kann das genauso machen wie der, der in die Kneipe möchte oder in die Diskothek; man könne jetzt selber entscheiden. Taha wohnt in Mesnana, einem armen Viertel im Südwesten der Stadt. Er habe aber durch die Fischerei so gut verdient, dass sein Haus jetzt 3 Stockwerke habe – vor ein paar Jahren sei es nur ein Stockwerk gewesen. Er habe das alles durch eigener Hände Arbeit finanziert! Ich frage ihn nach dem neuen Fischereihafen und er meint, der wäre 2015 fertig, dann würden sie alle umziehen. Er freue sich schon drauf, der alte Hafen Tanger-Ville, in dem wir gerade stehen, sei nicht so toll, der sei zu eng, zu schmutzig. Ob das nicht teurer wird für ihn, die Liegegebühren? Er meint, man müsse gegenwärtig offiziell nur 5 € bezahlen, das sei sehr wenig, aber keiner würde das wirklich bezahlen. Die Bootsbesitzer würden sich weigern, die offiziellen Gebühren zu entrichten, stattdessen besteche man die Hafenpolizei, damit sie einen gewähren lassen. Drüben im neuen Fischereihafen würde es vielleicht teurer, aber bestimmt besser werden. Allerdings denkt er, dass es »im Jahr 2030 oder so« bestimmt kaum mehr Fisch in der Gegend gebe, weil so viele Leute hier fischen würden: Ausländer aus der EU vor allem. Als er seine Fangschnüre fertig entflochten hat, will er mit mir einen paseo machen und mir sein Boot zeigen, das im anderen Teil des Hafens liegt. Wir gehen dorthin, zuerst zeigt er mir ›seinen‹ Arbeitsplatz an Land – eine Art

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Verschlag in einer Halle, in der die Seeleute ihre Habseligkeiten aufbewahren. Die Halle befindet sich neben der Association des Propriétaires des Bateaux de Peche Artisanale de Port de Tanger. Diese kümmert sich um die Schlichtung von Streitereien zwischen den Besatzungen, wenn man mit einem anderen Boot auf See Schwierigkeiten habe. Denn auf See selbst fechte man keine Konflikte untereinander aus, man lasse sie ruhen, bis man wieder an Land sei und bis sich die Association darum kümmert. Danach zeigt er mir zwei Fischerverbände (almadrabas), jene von Tahadart und die von Kap Spartel. Solche almadrabas gibt es auch auf der anderen Seite der Meerenge, drüben im Campo de Gibraltar. Die almadraba Tahadart sei momentan aktiv, aber die almadraba Kap Spartel dürfe nicht arbeiten, die hätten Probleme mit der Polizei. Taha weist auf ein paar Seeleute hin, die vor Booten der almadraba Kap Spartel stehen; er meint, die würden jetzt die Zeit totschlagen und nur noch trinken. Danach gehen wir hinüber zur Baustelle des neuen Hafens, er bekräftigt noch einmal, dass er sich darauf freue, wenn er 2015 eröffne. Vor 3 Jahren sei mit dem Bau des neuen Hafens begonnen worden, man sei aber nicht so schnell vorangekommen, weil sich das Meer immer wieder Teile davon zurückhole. *** Fische werden im Hafen nicht nur angeliefert, sie dienen auch nicht nur dem Transport von Drogen, sondern sie werden natürlich auch an Kunden verkauft. Auf der Mole neben den Booten werden Fische verkauft. Sie liegen auf braunen Holzpaletten. Ich schaue die Fische an, die Verkäufer und Käufer. Es sind keine Händler, die hier einkaufen, sondern Hausfrauen, die den Fisch in Plastiktüten mit nachhause nehmen. Mich faszinieren vor allem die Krabben, sowie zwei Arten von Schollen: eine kleinere mit großen schwarzen Punkten, und eine größere mit Muster aus kleinen Punkten.

P ORTRÄT 2:

DER

F ISCHHÄNDLER – S OUFIANE

Der junge Mann, der die Fische feilbietet, erklärt mir, dass eine kleine Scholle besser sei, die koste 100 Dh, die größere dafür nur 50. Man müsse den Schleim abmachen und könne sofort anfangen zu braten. Der Händler stellt sich als Soufiane vor, fragt mich, ob ich welche kaufen wollte. Ich sage, heute nicht, ich hätte schon gegessen, schaue mir aber den Fang

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DER

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an und frage nach den Namen der Fische auf Arabisch. Ob er die Fische nur verkaufe oder auch selber fange? Er verkaufe nur, man würde aber zweimal am Tag rausfahren, morgens und abends, und abends gebe es die besseren Fische, die seien »blanco« (weiß). Man verkaufe hier aber den ganzen Tag:74 er und die anderen Fischverkäufer seien von 09:00 bis 23:00 hier im Hafen, sie kaufen den kleinen Fischerbooten den Fang ab und verkauften ihn hier am Kai. Ich schaue etwas irritiert auf den Lieferwagen, auf dem Soufiane sitzt: der ist übervoll mit Fischschuppen, Gräten und Fischresten. Seit ich vorher einen der Fische berührt hatte, habe ich einen schwarzen Öl- oder Teerfleck auf meiner Hand.75 Drei Krabben kosten 20 Dh. Soufiane klappt den Bauch einer Krabbe auf und zeigt den orangefarbenen Rogen. Den müsse man rauslöffeln, der sei sehr schmackhaft. Man könne die Krabbe in heißem Wasser mit etwas Salz zubereiten, mehr brauche man nicht dazu. Nur 20 Dh? Das sei aber sehr billig, meine ich. Naja, es gebe eben viele davon und die Leute hier hätten kaum Geld. Er stupst mich an und meint: eine Krabbe und die »chicas« (Mädels) wären begeistert. Ich sage, er sei ja noch jung, bei ihm würde eine Krabbe reichen, ich sei alt und müsse sicherlich 5 kaufen. Er lacht. Er gibt mir die Hand (Daumen an Daumen, so wie man das unter Männern macht). Neben uns schuppt ein anderer Händler einen Fisch für den Verkauf ab. An der Mole um die Ecke werden gerade Fische ausgeladen, sie kommen in bunten Plastikkisten an. Gelbe Säcke stehen am Ufer mit Eis, das wird dann auf die Fische drauf gehäuft. Auch hier sitzen ein paar Händler, etwa ein Junge mit 6 Fischen vor sich. Ob ich die möchte? Nicht heute, ich hätte heut schon gegessen. Wir kommen ins Gespräch, aber er spricht weder Französisch und auch nur ganz minimal Spanisch, so wie ich minimal Arabisch spreche. Denn ich sage »ana min Almaniya«. Ein Nachbar mischt sich ein und sagt »Schweinsteiger!«, und hebt bewundernd den Daumen. Ich stimme ein: ja, Schweinsteiger! Ob ich mit dem Auto da sei, ich könnte den Fisch dann gleich mitnehmen. Nein, heute nicht, ich habe schon gegessen, wiederhole ich. Aber ich käme bald wieder. Auch hier geben wir uns die Hand, Daumen an Daumen.76 Soufiane verkauft illegal Fisch, er verfügt über keine Lizenz. Ein paar Wochen später habe ich mich mit Soufiane ein wenig angefreundet: Soufiane wohnt im Viertel Aouama und ist täglich am Hafen. Er lebt dort, seit sein Vater die Mutter verlassen hat, er habe keinen Kontakt mehr mit ihm. Die Mutter zog mit der Kinderschar und der Großmutter zuerst ins Viertel 74 Feldforschungstagebuch 17.03.2013. 75 Feldforschungstagebuch 21.03.2013. 76 Feldforschungstagebuch 17.03.2013.

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Boukhachkhach, und als dieses nach kurzer Zeit saniert wurde, siedelte man die Armen nach Aouama in eine Gegend um, die den Namen Boukhachkhach II erhielt, um. Seine Mutter arbeitet in der Fabrik. Er zeigt mir zwei kleine Kindersportschuhe, die er gekauft hat. Eingeschweißt. Nur 10 Dh, für seinen Sohn! Er lächelt stolz. Wie alt denn der Sohn ist, will ich wissen. 3 Jahre. Ich sage: oooh, da wachsen sie ja schnell. Er lächelt als stolzer Vater: ja. Wie der Sohn heißt? Adam! Ein schöner Name, sage ich.77 Umgerechnet 75 Euro zahlt er für die jämmerliche Behausung, die ich zu einem späteren Zeitpunkt kennenlernen werde. Ein paar Tage später treffe ich Soufiane wieder am Hafen. Er steht hinter seinen Fischkisten, als er mich sieht, zieht er eine Kiste beiseite und winkt mich zu sich hinter den Verkaufsplatz. Er hat einen Stuhl, den er mir anbietet. Ich frage nach dem Sohn und der Tochter, die bald geboren werden soll. In ein oder zwei Wochen ist es so weit. Soufiane strahlt. M’zziane, bien hecho, [Sehr gut, gut gemacht] sage ich. Dann frage ich ihn, ob er sich 100 Dh verdienen möchte, er solle mir seinen Hafen zeigen. Er kritzelt seine Telefonnummer in mein Büchlein, ich werde ihn bald anrufen.78

Abbildung 28: Fischverkauf am Hafen

77 Feldforschungstagebuch 02.04.2013. 78 Feldforschungstagebuch 13.04.2013.

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Vier Tage später treffen wir uns am Hafen. Ich frage ihn nach den Gebäuden aus: In den Gebäuden, die mit Afriquia und OiLibya beschriftet sind, befinden sich die Öltanks, mit denen die Schiffsmotoren über Schläuche befüllt werden. In der Fischverkaufshalle (loja) kauften ausschließlich Kunden, die eine Lizenz erworben hätten, den Fisch; viel Fisch und größere Mengen. Die Kunden kämen vom Fischmarkt oben in der Medina oder von Hotels und Restaurants. Wieviel es koste, das Anrecht zu kaufen, weiß er nicht, aber es sei teuer. Es gäbe viele Händler so wie ihn, ihre Zahl sei sehr angestiegen; aber durch das schnelle Wachstum der Stadt bestehe auch eine große Nachfrage, so dass man eigentlich nicht mit den Kollegen ins Gehege käme. Wenn er Fisch von den Booten für 100 kaufe, verkaufe er ihn für 120 an Passanten und Hafenbesucher wie mich weiter. So würde er 20 Dh Gewinn machen. Sein eigener Umsatz schwanke aber sehr stark von Tag zu Tag. Manchmal verdiene er 100 Dh, manchmal gar nichts. Wenn er 100 Dh einnimmt, dann bleibe nach Abzug der Taxikosten (2 x 15 Dh) und des Kühlungseises (20 Dh) grad mal 50 Dh Gewinn. Das sei doch besser, als zu stehlen, meint er. Er mache das seit zehn Jahren so. Ich frage ihn, wie alt er sei… Ich solle raten, Vielleicht 26, 27? Nein, das sei viel zu alt!, meint er schockiert. Ich sagte, ich hätte gerechnet: wenn er das seit zehn Jahren mache und vielleicht mit 16, 17 angefangen habe…. Nein, er habe im Alter von 8 Jahren angefangen zu arbeiten, mit 14 habe er am Hafen angefangen – er sei also 24. Ob die Polizei und die Hafenmeisterei ihn manchmal kontrolliere? Nein, die würden ihn und Leute wie ihn in Ruhe lassen. Wenn man auf einem Schiff fährt, braucht man jedoch Papiere, auch als Seemann. Da werde man streng kontrolliert. Wir gehen durch den Hafen und zum neuen Fischereihafen, erklimmen aber den Hügel von Dar Baroud hoch zum Café Makina, einem unscheinbaren Café mit grandioser Sicht. Den Hang hoch über Schotter und Abfälle, ein Mann mit einem Widder kommt uns entgegen. Auf der Terrasse des Cafés lassen wir uns nieder und schauen über die Meerenge, die heute so diesig ist, dass man das andere Ufer nicht sehen kann. Im Nachbarhaus sei er geboren worden und er habe dort die ersten 4 Jahre verlebt. Er wisse, dass sein Vater das Haus an einen Spanier verkauft habe. Aber es stehe leer und verfalle. Seine Cousins wohnten noch in der Nachbarschaft. In den nächsten Monaten besuche ich das Makina öfters und sehe, wie Soufianes Elternhaus zuerst entkernt und dann wieder aufgebaut wird. Ich werde Zeuge eines typischen Umbauprozesses altstädtischer Architektur: ursprünglich ist das

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Haus ein beige verblichener mediterraner Bau mit Fenstern zur Straße, am Ende steht dort ein weiß gekalktes araboides Haus ohne Fenster, mit einer Metalltüre statt der alten schweren Holztore, dafür mit einem Patio nach innen. Viele Europäer, die wie der spanische Käufer Altstadthäuser erwerben, haben keine Ahnung von der Seele der Stadt, die sich auch architektonisch zeige, so der Heimatforscher Rachid Tafersiti.79 Sie bauen ihre Häuser nach orientalistischen Vorstellungen um und vermischen dabei die klassische Architektur religiöser oder administrativer Bauten mit denen von Wohnhäusern. Ich sitze noch immer mit Soufiane im Café Makina. Soufiane stopft seine Kif-Pfeife und raucht. Wir trinken Tee und schauen die Boote an, die vom Meer in den Hafen zurück fahren. Die See ist unruhig, nur mittelgroße und große Schiffe wagen sich hinaus. Er kommentiert die Schiffe, nennt ihre Namen und weist mich auf den Seegang hin, und wie das Schiff manövriere, um in den Hafen zu gelangen. Ich kann nur sehen, dass die Schiffe stark schaukeln. Gestern sind zwei Jungs hinter Malabata gestorben, ihre kleine patera ist gekentert. Eine Leiche hat man gefunden, die andere nicht. Jungs, so alt wie er, und mit Kindern. Schrecklich! Die Schiffsbesitzer seien Diebe (ladrones), meint Soufiane. Sie fahren nicht selbst zur See, auch wenn sie nur ein Schiff hätten, sie ließen andere für sich arbeiten und strichen das große Geld ein. Die Arbeiter werden mit wenig abgespeist. Nur die spanischen Schiffsbesitzer bezahlen ihre Mannschaften ordentlich, deshalb wollen alle bei einem Spanier arbeiten; die marokkanischen Besitzer seine Diebe. Manche besitzen nur ein Boot, andere 10 oder gar 20. Marokko sei ein reiches Land, alles gebe es hier an Reichtümern, aber dieser fließe zum Großteil an den König und den Hof. Die Parteien seien noch schlimmer, der König würde ab und an mal etwas Gutes tun, aber das sei auch nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Leute sterben in den Straßen, meint Soufiane.80 Seine Arbeit sei hart, manchmal auch langweilig, wenn lange kein Kunde kommt. Ob er sich nicht leicht erkältet, frage ich und zeige auf seinen

79 Feldforschungstagebuch 19.04.2013. 80 Der Topos des In-der-Straße-Sterbens (morir en la calle) ist ein Topos, der auch in anderen Kontexten häufig wieder bemüht wird, um die Kaltherzigkeit des Systems zu kennzeichnen.

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Trainingsanzug. Nein, denn er habe immer noch was dabei zum Anziehen, damit er für jedes Wetter gerüstet sei.81 Dass der Hafen für Soufiane nicht nur Arbeitsort ist, sondern in seinem Leben noch eine andere Rolle spielte, erfahre ich gegen Ende meiner Forschung. Denn ich habe zwar selbst während meiner Forschung keine Migranten beim Versuch, illegal auf eine Fähre zu kommen, gesehen. Aber viele meiner Gesprächspartner hatten solche Versuche selbst schon unternommen. Soufiane war dieser Versuch sogar gelungen. Das bemerke ich zufällig, als ich auf seiner Facebook-Seite Jugendfotos von ihm sehe, die offensichtlich in Spanien aufgenommen wurden. Er erzählt seine Geschichte: Von 2000 bis 2002 habe er in Spanien gelebt. In seinem Viertel Aouama gebe es viele Marokkaner, die aus Spanien zu Besuch kamen; die kamen immer mit großen Autos und mit Geschenken zurück. Das habe ihn immer sehr beeindruckt. Er hätte sich für Spanien interessiert, es hätte ihn gereizt dahin zu gehen und dann hätte er mit einem Freund geplant, sich unter einem Lastwagen zu verstecken und nach Spanien überzusetzen. Es sei pure Abenteuerlust gewesen, als Elfjähriger habe er in Europa keine Arbeit gesucht. Und man hätte sie nicht erwischt und sie hätten es bis Madrid geschafft. In Madrid habe er keine Verwandten oder Bekannten gehabt, er sei dort ganz alleine gewesen. Dann habe er irgendwann seine Mutter angerufen und ihr gesagt, wo er ist, und die hätte dann natürlich geweint. Es habe ihm aber gefallen in Spanien, in Madrid zu sein und er wäre in einem Colegio untergekommen. Wovon er gelebt habe? Im Colegio hätten sie einem alles gegeben – Essen, Schlafplatz, Klamotten. Sie hätten ihm auch eine Ausbildung gegeben, hätten ihn angelernt in der Küche. Dann, nach einem Jahr und elf Monaten, habe ihn die Polizei auf der Straße geschnappt. Die Polizei hätte ihn auf der Straße ohne Papiere angetroffen und dann hätten sie ihn nach Marokko ausgewiesen. Sein Freund, mit der er damals die Überfahrt gemacht habe, sei heute noch dort, der hätte einen Onkel in Algeciras und mittlerweile auch einen Arbeitsvertrag und Aufenthaltspapiere.82 Geschichten von Aufenthalten in Spanien höre ich von vielen meiner Gesprächspartner. Manche dieser Geschichten haben sich tatsächlich ereignet, häufig handelt es sich aber um phantastische Reisen, in denen sich meine Gesprächspar-

81 Feldforschungstagebuch 17.04.2013. 82 Feldforschungstagebuch 24.01.2014.

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tner eine Reise imaginieren, die sie gerne gemacht hätten oder gerne machen würden. Denn Spanien ist nicht nur unerreichbar nah, es ist nicht nur fast greifbar, weil man es sieht, das Spanische ist durch die enge Verflochtenheit der Stadt mit Spaniern und der spanischen Kultur – der Musik, der Küche, der Sprache, der Familiengeschichten, der Architektur – darüber hinaus auch verinnerlicht. Diese Verinnerlichung wird wiederum zur Abgrenzung von Marokkanern aus dem Süden bemüht, jenen Arobis, die aus dem französischen Teil des Landes kommen. Jenseits dieser Verinnerlichung wird das Spanische oder ein Besuch in Spanien in oberflächlichen Erstkontakten von faux guides, verhinderten Bettlern und manchen Händlern auch strategisch eingesetzt, um eine Nähe herzustellen, die dem fremden Besucher suggeriert, man sei anders als die anderen Marokkaner. Denn man weiß hier sehr wohl, dass sich Europäer häufig davor fürchten, von Einheimischen ausgenommen oder übers Ohr gehauen zu werden. Je Spanischer etwa ein faux guide auftritt, desto glaubhafter erscheint er für sein Gegenüber. Zu Beginn des Novembers 2013 gibt Soufiane seine Arbeit im Hafen auf; die Geschäfte mit dem Fisch laufen schlecht, wer es sich leisten kann, kauft den Fisch lieber direkt in der Markthalle, nicht beim illegalen Straßenhändler. Sagt Soufiane. Nun steht er am Grand Soco, dem Suq Barra, dem großen Marktplatz und verkauft, was ihm lukrativ erscheint: Wäsche. Unterhosen, lange Schlafhosen, Socken und Gürtel. Und Mützen für die Kälte, so wie Soufiane sie selbst im Winter trägt. Seine Waren kauft er im Fondak Waller, einer Markthalle am Rand der Medina, in der es alles gibt, was sich aus der zollfreien Zone von Ceuta bekommen lässt: Haushaltswaren, Drogeriewaren, Kleidung, Werkzeuge, Lebensmittel… Soufiane transportiert die Waren in einer Plastiktasche: Ich sehe, dass er die Socken sehr sorgfältig hineinlegt und auch die Klamotten sind ordentlich gefaltet. Es sieht so aus, als ob er sehr darauf achtet, dass er nicht jeden Tag alles wieder neu sorgfältig zusammenlegen muss sondern die Waren dann nur noch aus der Tasche zu heben braucht.83 Wenn er die Waren aus der Tasche auspackt, dann drapiert er sie ordentlich gefaltet und arrangiert sie akkurat auf eine weiße Plastikplane. Diese hat er nicht nur, um die Waren vor dem Schmutz des Bodens zu schützen, sondern um sie gegebenenfalls schnell wegtragen zu können. Denn auch hier verkauft Soufiane seine Waren illegal und manchmal wird er von der Polizei der Sécurité Nationale von seinem Platz vertrieben, bzw. er befürchtet beim Anblick der ankommenden Polizei vertrieben zu werden. 83 Feldforschungstagebuch 21.01.2014.

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Die Polizei sei eine Scheiße (mierda) und die Polizisten Hurensöhne (hijos de puta), die verscheuchten die Straßenhändler zweimal am Tag – die Haschischhändler dagegen würden nicht behelligt, weil sie die Polizisten schmieren. Die normalen Straßenhändler würden nur verscheucht, man nehme sie nicht fest. Was soll man auch mit ihnen machen? Es gebe so viele! Außerdem, sagt er, kämpfe er für seine Familie fürs Überleben, das werde man ja wohl noch tun dürfen. Und er mache das ohne mit Drogen zu handeln oder zu rauben, sondern auf ehrliche Weise. Wie könne man sowas nur verfolgen? Die Polizei treibt darüber hinaus Schutzgeld von den armen Straßenhändlern ein. Wer es sich leisten kann, zahlt täglich 10, 20 Dh – und wird manchmal trotzdem vertrieben. Willkürlich. Man sagt, die Polizisten sammeln das Geld ein und teilen es dann mit ihrem Vorgesetzten. Soufiane und seine Freunde Daoud und Abderrahman, die genauso wie er auf dem Suq Barra stehen und zu denen er solch ein Vertrauen hat, dass sie gegenseitig auf die Waren aufpassen, wenn einer einmal zum Beten, essen oder auf die Toilette muss, weigern sich, Schutzgelder zu zahlen; deshalb sind sie immer auf der Hut und müssen bereit sein, die Waren schnell zusammenzuraffen, um sich hinter Autos oder in einem Café zu verstecken. Abderrahman wurde von der Polizei vertrieben, er hat sich wohl mit der Polizei gestritten; als ich bei Soufiane stehe, schnappt der schnell seine Sachen und versteckt sich hinter einem Auto, weil die Polizei vorbeifährt. Nach einer halben Minute kommt er wieder hervor und postiert sich erneut an seinem Platz. Ich finde das sehr seltsam, denn die Polizei weiß doch, wer wo steht. Aber das ist wohl Teil der Machtausübung: man verunsichert, man weiß nie, wann die Polizei einschreitet. Willkür.84 Und erinnert an das von McMurray85 beschriebene Border Theatre: an der Grenze zwischen dem marokkanischen Nador und dem spanischen Melilla müssen sich die beim Schmuggeln ertappten Grenzgänger rituell vor den Grenzpolizisten erniedrigen, um so die Gültigkeit der Obrigkeit anzuerkennen und vielleicht eine geringere Bestrafung auszuhandeln. Soufianes Versteckspiel ist zwar anders als das Border Theatre, weil er nicht erwischt wird, aber da die Polizei weiß, wo er steht und ihn schnappen könnte, wenn sie es beabsichtigte, spielt er das Spiel des Versteckens – und damit der Bekräftigung der polizeilichen Autorität.

84 Feldforschungstagebuch 15.02.2014. 85 McMurray 2001 S.110ff.

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Tagsüber steht Soufiane vor der großen Moschee am Suq Barra. Meistens beginnt er um 15:00 mit dem Verkauf, gefrühstückt hat er nicht, er kann sich nur einen Kaffee leisten. Als erstes geht er in die Moschee zum Beten. Er hatte heute noch nichts gegessen, nach dem Aufstehen habe er geduscht, gebetet und dann an den Suq ohne gegessen zu haben. Ich hatte ihn in der Lecheria am Bab Fahs zu belegten Broten eingeladen, zum Panache und einem Stück Kuchen; das verzehrten wir dann im Café gegenüber der Moschee.86 Vor der Moschee werde man nicht von der Polizei verscheucht, eine Moschee würde respektiert werden. Denn die meisten Kunden sind Männer, die vom Gebet aus der Moschee herauskommen. Djellabas für größere Kinder oder Jugendliche kauft Soufiane für 95 ein, die verkauft er dann für 120, wenn er Glück hat für 130 Dh. Wenn es regnet kauft er Regenschirme für 15 Dh pro Stück und verkauft sie dann für 20 Dh weiter. Eine kurze Unterhose kostet ihn 15 Dh, wenn er Glück hat 13, er verkauft sie für 20 Dh, für ein Paar Socken verlangt er 5 Dh. Ein Armer kommt vorbei und guckt sich eine der langen Unterhosen an. Er hat nur 20 Dh für die Hose, die aber hat Soufiane 25 Dh gekostet, als er sie eingekauft hat. Also kein Gewinn, sondern sogar ein Verlust, daher verkauft er nicht. Der Arme geht und ich sage: oh je, ein Armer. Daraufhin Soufiane lakonisch: so arm wie ich.87 Mitgefühl kann er sich nicht leisten, warum sollte er auch. Schließlich kämpfen alle. Abends wechselt er auf die andere Seite des Platzes an die Apotheke vor der Rue de la Liberté, und später auf den Platz selbst. Wir ziehen um von der Moschee an den Eingang am Platz von Suq Barra, ich möchte beim Zusammenpacken helfen, aber Soufiane meint, ich wisse ja gar nicht, wie man was verstauen muss. Er packt etliche Kleidungsstücke in seine Tragetasche, der Rest verbleibt auf dem großen weißen Plastiktuch, von dem er die Zipfel zusammengreift und dieses Tuch dann hinunterträgt an die neue Stelle. Ich nehme ein paar andere Beutel und so ziehen wir zum neuen Standort. Dort breitet er das Tuch aus, arrangiert die Waren wieder sehr ordentlich und ansprechend. Ich darf wieder nicht helfen, weil ich nicht wisse, worauf man achten müsse. Soufiane baut den neuen Stand neben einer Bank auf, auf der 86 Feldforschungstagebuch 30.12.2013. Heute hat das Café keinen Namen, vormals hiess es Café Vallejo, dann Café Palomas, dann Café Ahmed. 87 Feldforschungstagebuch 03.12.2013.

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zwei Schwarzafrikaner sitzen, vor sich einen Karton mit ein paar Handys drauf.88 Soufiane fährt von Aouama mit einem Grand Taxi für 4 Dh zum Place Mabrouk (ein Petit Taxi würde 20 Dh kosten), dort steigt er aus und schleppt seine Waren in einer Plastiktragetasche die 3, 4 Kilometer zu Fuß, später zum Suq Barra. Eines Tages erwirbt er eine zusammenklappbare Sackkarre für 100 Dh, damit kann er 2 Taschen mit den Waren transportieren, denn der Weg von Mabrouk zum Suq Barra ist hügelig. Manchmal kann er seine Waren für 10 Dh in einem Abstellraum in der Medina abstellen, so dass er sie nicht jeden Tag von Aouama aus in die Stadt transportieren muss.

Abbildung 29: Straßenverkauf am Suq Barra Aber der Besitzer des Raumes ist unzuverlässig, nur er hat den Schlüssel und immer wieder kommt es vor, dass Soufiane nicht an seine Waren kommt, weil der Besitzer unauffindbar ist. Soufianes Freund und Kollege Daoud hat für seine Waren und für 20 Dh am Tag eine Unterkunft (habitación) am Place Takadoum in der Medina gemietet. Für seine Waren. Manchmal schläft er dort auch. Es sei

88 Feldforschungstagebuch 03.12.2013.

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ihm zu anstrengend, jeden Tag seine Waren von der 40er-Moschee in Bni Mekkada/Jirari 2, wo er wohnt, hierher zu bringen. Ich frage Soufiane, ob er seine Sachen da nicht abstellen kann, mit dem Hintergedanken, sie könnten sich die Kosten teilen. Soufiane entgegnet, er könne sich zwei habitaciones nicht leisten. In Aouama zahlt er schon 750 Dh Miete. Natürlich habe er großes Vertrauen in seinen Freund Daoud, aber er schäme sich, seine Waren dort öfters unterzustellen, obwohl Daoud ihm das anbietet. Manchmal mache er das doch, aber nicht regelmäßig.89 Mit seiner schwangeren Frau und den beiden Kindern wohnt Soufiane im schnell wachsenden Vorstadtviertel Aouama. In einem Raum in einem feuchten Erdgeschoss. Ohne Fenster. Hohe rotgestrichene Wände, abblätternder Putz und Schimmel. Drei Matratzen auf dem Boden um einen klapprigen runden Tisch. Zusammenbrechende Billigregale. Ein Loch im Boden. Nur ein Wasseranschluss. Keine Küche, nur eine kleine Gasflasche mit Aufsatz. Ein knallbuntes, zerschlissenes Plakat mit der Ka‘ba in Mekka, ein kleines Fernsehgerät mit kaputtem Plastikrahmen. Tritt ein, bat mich Soufiane, der mich zu Beginn des Abends am Suq Barra mit den Worten eingeladen hatte: »komm mit, jetzt zeige ich Dir mein Scheißleben«. Der Fernseher sofort eingeschaltet, Koransuren. Seine Frau krank in der Ecke, eine einzige Decke im Raum, darin ist sie gehüllt. Sie schaut mich nicht an, ihr Blick und ihre Gesten verraten tiefste Scham. Was sie hat? Fieber. War sie beim Arzt? Wieso Arzt – Soufiane ungläubig. Ich bin peinlich berührt, denn den Arzt kann er sich nicht leisten. Natürlich. Soufiane stopft seine Kifpfeife und knuddelt die Kinder. Greif zu. Auf dem Tisch süße Croissants. Die hat meine Frau gekauft, extra für uns. Und ein Glas Milch. 750 Dh zahlt er monatlich für diese Behausung, die ich mich innerlich weigere, Wohnung zu nennen. Dazu Strom. Nach einer halben Stunde gehen wir, in seine Stammkneipe. Als ich später Freunden meinen Schrecken über Soufianes Not erzähle, zucken sie mit den Achseln: ja, so ist das hier eben. Wegen der wachsenden Attentatsgefahr durch integristische Jihadisten patrouillieren seit Herbst 2014 regelmäßig Militärs auf dem Suq Barra. Soufiane kann dort nicht mehr arbeiten. Heute steht er wieder am Hafen, so wie zu Beginn unserer Freundschaft. ***

89 Feldforschungstagebuch 18.01.2014.

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Der Stadthafen von Tanger wird von zwei Stränden gerahmt: einem sich nach Osten hinziehenden breiten Sandstrand, der sich in Form einer Corniche etwa 10 Kilometer bis ans Kap Malabata erstreckt, wo ein Leuchtturm vom Beginn des XX. Jahrhunderts die östliche Begrenzung der Buch markiert; einen nach Westen verlaufenden, nur durch die Mündung des Judenflusses (Oued Lihoud) unterbrochenen Felsenstrand, der 14 Kilometer bis ans Kap Spartel reicht, wo sich Atlantik und Mittelmeer voneinander scheiden. Beginnen wir mit der dem Hafen gegenüber liegenden Stadtfront und folgen ihr gen Osten. Dar Baroud, das Haus des Pulvers, wird die Bastion und das Altstadtviertel, in dem diese liegt, genannt. Hier befinden sich das bereits erwähnte Café Makina und Soufianes Elternhaus. Dar Baroud überragt am westlichen Ende der Corniche den Hafen. Von hier aus zieht sich die alte portugiesische Stadtmauer gen Osten. Unmittelbar nach der Bastion folgt das alte Luxushotel Continental. Die Stadtmauer davor wird im Zuge der Wiederaufwertung (revalorization) seit 2013 freigelegt. Darunter liegen das alte Zollamt und das Bab Marsa, das Hafentor, das jahrelang zugemauert war, so dass Besucher ihren Weg über die weiter östlich liegenden Zugänge in die Stadt nehmen müssen. Es folgt das Borj el-Hajoui, heute ein gepflegtes Kulturzentrum, vormals portugiesisches Krankenhaus, dann Kühlhaus der Morgue, der städtischen Leichenhalle, danach vernachlässigter und vermüllter Drogentreffpunkt. Hier fand die bereits im vorigen Kapitel beschriebene öffentliche Aufführung der Ḥamādša statt.

P ORTRÄT 3: D ER ARTIST – M OHAMMED H AMMICH Im Borj l-Hajoui hängen Plakate, die künstlerische Veranstaltungen versprechen. Am Eingang ein geöffneter Raum, der nach Informationsbüro aussieht, daneben verschlossen Räume, aus denen heraus jedoch Lärm ertönt, junge Männer, die schreien. Ich vermute eine Theaterschule. Ich betrete das Büro und spreche den Mann an, der dort sitzt und der mich eintreten heißt, und zwar auf Englisch – er spreche kein Spanisch oder Französisch. Es ist Mohammed Hammich, der sich als der Lehrer der Jungen, deren Schreien ich gehört habe, vorstellt: Sie werden hier zu Akrobaten ausgebildet, vermeint Hammich stolz. Er zeigt mir Fotos, Plakate und Zeitungsartikel, mit denen er sein Büro ausgestattet hat: es sind die Artistes de Tanger, eine Gruppe von Jugendlichen, die menschliche Pyramiden bauen und andere künstlerische Dinge mit ihren Körpern. Hammich zeigt mir Fotos, auf denen er selbst als junger Mann zu sehen ist, eines zeigt seinen Sohn Younes, den heutigen Chef der Artistengruppe, und eines seine Tochter, die sich

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wie ein Schlangenmensch verbiegt. Er unterrichtet 23 Jugendliche und 60 Kinder, davon 20 Mädchen. Die Mädchen seien fixer als die Jungs, weil sie etwas lernen wollen und geradeaus (straight) seien. Die Jungs dagegen würden nur nach den Mädchen schauen und sich nicht so sehr auf die Akrobatik konzentrieren. Hammich (*1957) hat die Schule gegründet, um die Jugendlichen von der Straße zu holen – gerade diejenigen aus dem Hafenviertel hier in der Altstadt. Es sei besser, dass man ihnen etwas Sinnvolles beibringt, als dass sie Drogen nähmen oder Gauner würden. Denn es sei hier sehr einfach, abzugleiten und auf die schiefe Bahn zu geraten, gewalttätig und kriminell zu werden. Bei ihm lernten sie, mit ihrem Körper umzugehen, Disziplin einzuüben und etwa aus ihrem Leben zu machen.90

Abbildung 30: Die Artisten, April 2013 Die Artistenkunst ist – gerade für Tanger – eine althergebrachte Sache.91 Mohammed Hammich selbst fing ebenfalls schon als Kind mit der Artistik an, auch er habe einen Lehrer aus der Medina gehabt, der ihn in der Kunst der Körperbeherrschung unterwies. Später ging er mit dem Zirkus Knie und in den USA mit den Ringling Brothers auf Tournee. So war er auch schon in Las Vegas

90 Feldforschungstagebuch 09.03.2013. 91 Über die Tradition der artistes des Tanger vgl. Vaidon 1977 S.322; Escher 1997; Escher 2004.

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aufgetreten. Stolz zeigt er mir ein Foto, auf dem er neben Sammy Davis jr. zu sehen ist. Hammich nimmt mich dorthin mit, wo die Schreie der Jungen herkamen und öffnet eine der verschlossenen Türen. Etwa 20 elastische junge Männer in kurzen Leibchen á la Bezaubernde Jeannie üben sich akrobatisch und springen. Hammich erzählt, er habe die ganze Bastion mit eigenem Geld gesäubert, renoviert und zum Kulturzentrum umgebaut. Im Winter 2012, also kurz vor Antritt meines Feldforschungsaufenthaltes, wären die Arbeiten abgeschlossen worden. Er zeigt mir Fotos davon, wie es hier einmal aussah vor 2010: überall Müll und Dreck.92 Hier hätten Diebe die gestohlenen Ausweise der Touristen weggeworfen und das, was sie aus den Geldbörsen nicht brauchen konnten. Mohammed verdreht die Augen. Gerade hier, so sagt er, sei es noch heute ab 22:00 Uhr eine gefährliche Gegend, man solle sich hier nicht aufhalten. Er wolle den Kindern des Viertels eine Hoffnung geben, denn die Kinder seien die Zukunft, und wenn sie nichts Gutes lernten, dann lernten sie schnell etwas Schlechtes. Sein wirklicher Traum aber sei es, einen Zirkus ins Leben zu rufen. Das sei sehr schwer, denn in Marokko finde er keine Geldgeber für das Projekt. Ja, wenn man ein Hotel aufmachen wolle oder ein Restaurant, dann bekäme man Kredit. Aber bei Zirkus dächten alle bloß an Rummelplätze, denn in Marokko gebe es keine Zirkustradition. Er meine aber nur einen Artistenzirkus, auch mit Clowns, wo es ein 2-stündiges Programm gibt. Keine Tiere, denn er finde, Tiere dürfe man nicht in winzige Käfige sperren, das sei schlimm. Er möchte einen Zirkus mit marokkanischen und europäischen Artisten. Das Einzige, was er an Material brauche, seien Zelte und was dazu gehört. Wagen würde man nicht brauchen, denn da man von Ort zu Ort reise, könne man lokale Leute mit dem Transport beschäftigen und würde so auch noch Arbeitsplätze schaffen. Seine Augen leuchten. Ich bin ganz überwältigt von diesem Mann und drücke ihm die Hand und meine, er sei ein guter Mensch, denn Körper und Seele gehörten zusammen und er habe einen wunderschönen Plan. Er freut sich und lädt mich für nächsten Samstag ein.93 Seine Artisten waren auch schon international auf Tournee, er zeigt mir Plakate vom Altstadtfest in Düsseldorf sowie Plakate von Auftritten in Japan und der Schweiz.

92 Vgl. auch Guessous 2012. 93 Feldforschungstagebuch 09.03.2013.

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Am Samstag darauf komme ich zur Veranstaltung, zu der er mich eingeladen hatte, und auch später werde ich im Borj el-Hajoui an verschiedenen Veranstaltungen teilnehmen. Denn neben den Räumlichkeiten für die Akrobaten gibt es auch Räume für klassische Musik, für Maler, für Gnawas. Die Veranstaltung wird von der Stadt Tanger und der Amerikanischen Legation organisiert. Gegen 11:15 Uhr findet die offizielle Eröffnung statt: die Gäste stehen unten im Hof des Borj, oben auf der Dachterrasse haben sich ›die Offiziellen‹ versammelt. Eine junge Journalistin moderiert durch den Tag. Auf Arabisch und Amerikanisch-Englisch. Bevor sie beginnt, wird die marokkanische Hymne gespielt, dann die amerikanische Hymne The Star Spangled Banner, beide Male mit Applaus. Dann die Moderation: Es geht um die vielen Verbindungen zwischen den USA und Marokko, speziell Tanger, und es wird drauf verwiesen, dass hier das einzige Heritage-Site außerhalb der USA sei, nämlich die Legation. Links weht eine marokkanische Flagge, rechts die amerikanische. Es folgt der amerikanische Botschafter, der ebenfalls die vielfältigen kulturellen Bindungen betont, auch dass die USA an die Kraft des Individuum glauben und die heutigen Aktivitäten davon künden, dass die marokkanischen Organisatoren diese Kraft des Individuum beweisen würden. Dann beginnt ein Feuerschlucker und Feuerwirbler mit seinem Zauber; es schließen sich kleine Mädchen an, die vielerlei Kunststücke zeigen (auch der fünfjährige Sohn von Hammich ist dabei, der 40 (!) Liegestützen macht unter begeistertem Klatschen der Zuschauer). Die Mädchen wirbeln herum, dehnen sich und machen Pyramiden. Dann die jungen Männer in rosa Leibchen unter lebensfrohen Schreien und Rufen auf dem Dach. Saltos, Pyramiden, gewagte Figuren. Es folgen, ebenfalls auf dem Dach, die Gnawas. Es sind Abdellah Boulkhair El Gourd, der Meister, 8 Männer und ein Mädchen (die Tochter des Meisters, die auch schon bei den Kindern akrobatisch tätig war). Die Gnawas trommeln und klirren mit den Handzimbeln (metallische Kastagnetten, krakebs oder qraqab); sie sind mit weißen Kleidern und gelben Schuhen gekleidet, auf dem Kopf eine Haube mit Kordeln (Dreadlocks) und mit Schneckenhäuschen dekoriert. 94 Als ich Borj l-Hajoui verlassen möchte, sehe ich, wie Hammich sein Büro aufsperrt. Er hat mich entdeckt und begrüßt mich herzlich, aber doch zurückhaltender als die letzten Male. Er heißt mich in seinen Raum zu sitzen und wir reden, während draußen noch gefeiert wird. Dies sei ein schlechter Ort (This is a bad place) beginnt er. Mit seinen Kindern müsse er hier alles alleine säubern und reinigen; er wartet darauf, dass die Kinder kommen, um mit ihnen sauber zu 94 Feldforschungstagebuch 16.03.2013.

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machen. Gerade bei einem solchen Wetter mit leichtem Wind weht hier allerhand Unrat herein. Ob er denn alleine putze oder sich die Gnawa oder die Künstler nicht auch beteiligen? Nein, da helfe keiner mit, obwohl es eine einfache Sache wäre, sich dabei abzuwechseln. Der Gobernador de Tanger habe festgelegt, dass er der Verantwortliche sei, und alle Nachbarn im Viertel hätten dem zugestimmt. Er sagt das mit einem gewissen Stolz – aber das Gespräch begann mit der Klage darum, dass er es alleine putzen müsse. Aus den Steinfugen würde er den Unrat mit dem Löffel säubern! Straßenreinigung und die Polizei, die kämen nicht hierher, denen sei der Ort egal – außer wenn ein großes offizielles Ereignis wie das Fest stattfindet. Dann werde etwas getan – sonst nicht. Sein Arm sei wieder halbwegs geheilt. Er habe ihn sich gebrochen aufgrund einer Auseinandersetzung mit Jugendlichen, die hier zum Trinken herkämen. This is a bad place, wiederholt er. Vier Morde seien hier in letzter Zeit geschehen. Einmal habe eine betrunkene Frau eine andere von der Mauer gestoßen, einmal ein Mann einen anderen, und zwei seien mit Messern abgestochen worden. Alles bloß wegen Drogen und Alkohol. Schlimm. Ob die Trinker hier aus der Medina kommen? Nein, von woanders her, die aus der Medina tränken oben im Mendoubia-Park.95 *** Ich besuchte das Borj el-Hajoui während meiner Feldforschung mehrmals, wenn dort Kulturveranstaltungen stattfanden. Hammichs Initiative ist ein Gewinn für die perspektivlosen Jugendlichen der Medina, die bei ihm das Artistenhandwerk erlernen.96 Allerdings setzte sich die Besucherschaft bei allen Veranstaltungen, die ich in diesem Jahr besucht habe, zu mindestens 80% aus Intellektuellen, Künstlern, Vertretern der Stadt und aus Europäern zusammen. Manchmal waren Jugendliche aus der Mittelschicht der besseren Viertel anwesend, nur ganz sporadisch jedoch habe ich Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus der Altstadt als Zuschauer gesehen. Hinter dem Borj el-Hajoui führt die Rue de la Marine ins Zentrum der Medina, zum Suq Dakhel oder Zoco Chico. An das Borj schließt sich das Dar Dbagh an, das Tor der Färber. An der Stadtmauer am Dar Dbagh befand sich seit 1884 der erste Leuchtturm der Stadt. In einem Hinterhof tritt der in der Altstadt in unterirdische Rohre gezwängte Fluss Oued Ahardan zutage. Bis vor 20 Jahren 95 Feldforschungstagebuch 17.04.2013. 96 Siehe http://www.youtube.com/watch?v=DgRGPkBslHA.

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wuschen sich dort die Kinder, wenn sie vom Baden im salzigen Meer auf dem Weg nachhause kamen. Hier befindet sich auch das in Kapitel 3 beschriebene Heiligtum des Sidi Mimoun. Es folgt die Daraj Cine Merican – die Treppe des amerikanischen Kinos – sowie das Cine Merican selbst (heute Casino). Hier führt die Rue de la Poste, in der sich viele billige Hotels und Pensionen befinden, in denen u.a. die schwarzafrikanischen Migranten wohnen, in die Altstadt hinein, zum Suq Dakhel, wo Camille Saint-Saëns seinen Danse Macabre komponierte.97 Die Stadtmauer verlässt hier die Hafenfront und biegt entlang der Rue de Portugal, die ebenfalls in die Medina führt, nach Süden ab. Dieser Teil der Medina ist sichtbar mit heterosexueller Prostitution98 verbunden: die Cafés der Rue de la Poste,99 das Ende der Rue de Portugal und der Vorläufer des Café Haitam. 100 Das Haitam ist heute ein ruhiges Café, modernisiert und mit einer Mischung Abbildung 31: Café Haitam, Rue de Portugal

97 98

aus naiven Bildern von Berberfrauen und okzidentalistischen Bildern von Wasserfällen und Tulpenfeldern dekoriert. Von der Dachterrasse hat man

Siehe https://www.youtube.com/watch?v=MMDuHAsCZ_c. Vaidon (1977 S.296) spricht von 16 europäische und 15 marokkanisch geführten und registrierten (!) Bordellen in der Altstadt. »Amusingly the medinas Calle Comercio (Business $reet) consisted almost entirely of houses of prostitution whereas calle cristianos (street of the Christians) didn’t boast a single shop managed by a Christian.«. 99 Im Volksmund nannte man die Rue de la Poste aufgrund der vielen Bordelle auch Calle de las Fulanas (Gasse ›jener‹ Frauen). 100 Eine entsprechende Videosequenz, die vom Autor erstellt wurde, befindet sich auf: https://www.youtube.com/watch?v=GG4_D5F1wTM.

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eine großartige Sicht über den Hafen und das Renschhausengebäude, die ganze Corniche hoch bis zum Ende des Strandes und zum Kap Malabata im Osten.101 Früher war das Haitam ein Bordell mit dem Namen Orida. Das Orida musste 1998 wegen eines Skandals schließen: da habe es ein Mann mit einer Minderjährigen getrieben, danach sei der Laden geschlossen worden. Das Mädchen lebe jetzt in Fès. Ich konnte trotz intensiver Nachforschungen nicht in Erfahrung bringen, ob hier im Regelfall minderjährige Mädchen zu Diensten sein mussten und nur durch einen Zufall bekannt wurde, dass der Mann das Mädchen vielleicht besonders schlimm behandelt hatte. Jedenfalls sei der Fall bekannt, ›jeder‹ wisse das in Tanger, wurde mir von vielen Informanten bedeutet, wobei Niemand etwas Genaueres sagen konnte oder wollte. Daraufhin schloss das Bordell und öffnete 2004 erneut als Café.102 Wir verbleiben an der unmittelbaren Stadtfront gegenüber dem Hafen und treffen auf das Renschhausengebäude. Adolf Renschhausen103 und sein Unternehmen waren mit der Fabrikation von Zigarren ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der

101 Feldforschungstagebuch 26.04.2013. 102 Feldforschungstagebuch 30.10.2013. 103 »Nach wechselvoller Laufbahn in Schule und kaufmännischer Lehre in Berlin, Göttingen und Ostrowo nach 1887 Tätigkeit in Hamburg. Nach Stationen in Barcelona und Oran 1890 Eintritt in die französisch-schweizerische Firma BorgeaudReutemann in Tanger, die 1897 in das deutsche Handelsregister umgeschrieben wurde, mit Renschhausen als Teilhaber; Übernahme der Filialen in Marokko von Melilla bis Mogador mit Sitz in Tanger; 1906 alleiniger Inhaber. 1905 Auftrag zum Ausbau des Hafens in Tanger. Ihm gehörten weiter eine Tabakfabrik, eine Gesellschaft für Bodenkultur. 1910 mit anderen Deutschen zu 30% an der Société Marocaine des Travaux Publics beteiligt. Mehrere Ämter in Tanger, u.a. in der europäischen Hygienekommission am Ort, Vorsitzender des deutschen Schulvereins. Galt als einer »der bedeutendsten Hausbesitzer« am Ort. Das 1909 errichtete Maison Renschhausen war eines der größten und repräsentativsten in Tanger, nach dem Krieg ein Hotel (Majestic). Verließ Tanger im Juli 1911, lebte in Kötzschenbroda. Erwarb 1911 die 1873 errichtete, für ihn umgebaute ›Villa Tanger‹, die er 1927 an die Stadt Dresden für 65.000 Mark verkaufte, die es als Städtisches Säuglingsheim nutzte (heute Kindertagesstätte). 1912 Kgl. Sächsischer Kommerzienrat. Im Mai 1914 Routinebesuch in Marokko, vor Kriegsbeginn abgereist. Sandte 1915 Ausarbeitungen an das Auswärtige Amt in Berlin und arbeitete der ›Nachrichtenstelle Orient‹ zu. 1921 Rückkehr nach Laraich (nach französischen Angaben 1919/20). Seit 1923 nahm er die Geschäfte eines Vizekonsuls in Laraich wahr, konnte aber wegen spanischer Vorbehalte erst 1931 mit dem Amt betraut werden, das er bis zu seinem Tod inne hatte. Starb in Laraich und liegt dort (wie seine Frau) begraben«. Mai 2014.

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Stadt, er selbst war (als Attaché in Laraich) auch politischer Repräsentant für die deutsch-marokkanischer Beziehungen. Sein Firmensitz am Hafen, das seinen Namen trägt, umfasst 64.000 qm.104 Es ist das erkennbare architektonische Emblem zum einen der Stadt generell (hier kamen und kommen noch immer die Reisenden vom Hafen aus an), zum anderen aber auch für die neuen Modernisierungsprojekte der Stadt (es liegt genau gegenüber des Areals für die Hafenumgestaltung und ist damit eine wichtige Landmarke). Das Renschhausengebäude ist das markanteste Objekt in der Stadt. In einem Teil des Gebäudes befand sich das Hotel Majestic, das 1929 mit dem Luxus der Zeit warb: Meerblick, 42 Zimmer mit fließend heißem und kaltem Wasser, zehn davon mit integriertem Badezimmer, Telefone im Zimmer, Vollpension zwischen 60 und 130 Francs am Tage.105 Das Gebäude selbst gehört heute einem spanischen Investor. Meine Schwester hat lange die Abrechnungen der Mieter verwaltet, erzählt mir ein Informant. Sie habe beim zuständigen Notar und Anwalt gearbeitet, auf dessen Konto die Mieter die Miete einzahlten – die Wohnungen im Renschhausen kosteten 80 Dh im Monat, das Hotel 400 Dh. Das sei vor 15 Jahren gewesen. Denn man habe die Mieter raushaben wollen – so jedenfalls die Absicht des neuen spanischen Eigentümers damals, und damit das nicht gehe, hätten die Mieter dem Anwalt das Geld treuhänderisch überwiesen. Um zu belegen, dass sie die Miete zahlen und nichts schuldig bleiben.106 Die Obergeschosse sind zum Teil noch bewohnt. Früher befand sich hier die spanische Bibliothek. Im Erdgeschoss des Renschhausen gibt es Cafés und Imbisslokale für Touristen und Einheimische. Auf der Terrasse des Komplexes befindet sich ein Antiquitätenladen.

P ORTRÄT 4: D ER ANTIQUAR – M USTAFA B EN AMAR Ende Oktober 2013 lerne ich Mustafa Ben Amar, einen ehemaligen Schreiner kennen, der im Renschhausen eine Art Antiquariat betreibt.107 Mein Freund José möchte ihn mir vorstellen; nun aber hängen auch Djellabas vor der Tür und

104 105 106 107

N.N. o.J. Abensur 2009 S.105. Feldforschungstagebuch 30.10.2013. Eine entsprechende Videosequenz, die vom Autor erstellt wurde, befindet sich auf: https://www.youtube.com/watch?v=dtMRdClEfmo.

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José meint etwas enttäuscht, dass Mustafa jetzt wohl auch »auf Touristen« mache. Wir betreten den Laden, ich sehe dort jedoch keine typischen Touristenwaren, sondern alte Plakate, Karten, Haushaltsgegenstände (etwa Schreibmaschinen, alte Kameras), andere Artefakte aus der Zonenzeit. Mustafa sagt, er sei Tanjawi, ein echter, aus Mediouna – einem kleinen Dorf an der Straße nach Kap Spartel. Heute liege dieser Ort ganz nah an der Stadt, früher jedoch war der Ort ohne die heutigen Verkehrsmittel weit entfernt. Mustafa bezeichnet sich als »roumano«, als Römer. José sagte ihm, ich sei ein deutscher Professor, der ein Buch über Tanger schreiben wolle. Nachdem wir uns freundlich verabschiedet haben, meint José, er möge diesen Mann irgendwie, es sei ein einfacher Mann, der seiner Liebe für Tanger Ausdruck verleihe, ohne durch das marxistische Säurebad der Kolonialismuskritik gegangen zu sein, einer, der einfach seine Heimatstadt möge und allem, was er dazu bekommen könne, habhaft werde.108

Abbildung 32: Mustafa Ben Amars Laden Mustafa (*1960) wohnt heute mit Frau und Kindern im Stadtviertel Aouama und arbeitet seit 30 Jahren im Renschhausengebäude, ursprünglich als Schreiner. Erst seit 2008 besitzt er das kleine Antiquariat. Mehrmals wöchentlich besuche ich ihn 108 Feldforschungstagebuch 30.10.2013.

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in den letzten 3 Monaten meiner Feldforschung, wir kommen ins Gespräch, freunden uns an, bleiben auf Facebook auch nach meiner Abreise miteinander in Kontakt. In der Schreinerei habe er viel arbeiten müssen, jetzt habe er den Laden, da sei es geruhsamer (tranquilo) und er sei froh darüber. Er habe eine Begeisterung für Fotos von Tanger, er holt einen Klarsichtordner mit Hunderten von Postkarten. Aus allen Zeiten. Etliche Karten sind original, manche lediglich Kopien. Tanger sei seine Leidenschaft, der Laden hier sein Leben (es mi casa). Bei jedem Foto sagt er mir, was darauf abgebildet ist: hier der Suq Barra (soco de fuera), da Bab Fahs, hier Suq Dakhel (soco chico). Um mich selber als Kenner einzuführen, kommentiere ich die Fotos indem ich auf Dinge verweise, die nicht darauf zu sehen sein, also etwa: ah, die Rue d‘Italie, dann muss hier links das Cine Alcazar sein. Oder: der Soco Chico – dann ist dahinter die alte Banque de Maroc. Er meint dann auch, ich sei ja ein richtiger Tanjawi. Ich: nein, rein deutsch. Aber die Großeltern? Nein, nie in Tanger gewesen. Bei den Postkarten sind auch manche Briefe darunter, ich entdecke einen an Elisa Chimenti – tatsächlich. Ja, das sei eine Schriftstellerin, sagt er. Ich werfe ein, dass ich Buch Cuentos Sefardíes besäße.109 Mustafa liebt die Juden und die jüdische Kultur. Wahrscheinlich stamme sein eigener Name auch aus einem jüdischen Dorf, zwinkert er mir zu. Die Juden seien das Licht der Welt (la lumière du monde), sie wären produktiv und würden arbeiten, sie feierten nur einen Feiertag, aber die Muslime hätten 3 Feiertage – Freitag, Samstag, Sonntag – es sei klar, dass die Muslime einfach fauler seien. Die Juden Tangers seien früher ganz arm gewesen, so wie die meisten Muslime auch; aber sie hätten ihre Kinder auf gute Schulen geschickt, etwa nach Gibraltar. Dadurch hätten sie die Welt kennengelernt. Die Juden kennten das Judentum, das Christentum und den Islam – die Muslime dagegen kennten nur den Koran. Sie seien sehr beschränkt. 110 Zumeist ist Mustafa mit einem seiner 5 Söhne im Renschhausen. Vorne im Laden lagern die Paraphernalien, im hinteren Raum arbeitet der 16-jährige Seifeddine, der nicht die Schule besucht, mit Holz.111 Als ich Mustafa eines Tages nicht antreffe, rede ich alleine mit seinem Sohn Seifeddine. Ich sage: ich hörte Dich hämmern in der Werkstatt – was machst du denn da? Einen Stuhl? Er sagt: nein. Er geht nach hinten in den Arbeitsraum und kommt mit einem kleinen 109 Feldforschungstagebuch 05.11.2013. 110 Feldforschungstagebuch 27.12.2013. 111 Feldforschungstagebuch 27.12.2013.

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Holzhäuschen zurück. Ich sage: ist das für chleyn (Kaninchen)? Nein, das sei ein palomar, für Tauben. Ein kleines weißes Taubenhäuschen. Er ist sichtlich stolz darauf und strahlt.112 Seifeddine sei der Einzige seiner Söhne, der mit Holz arbeite und lackiere, er selber würde das nimmer machen, er wäre tranquilo und kümmere sich nur noch um den Laden und die Kunden. Ich solle, wenn ich in Deutschland zurück sei, Werbung machen für sein Geschäft. 113 Er bittet seinen Sohn, aus dem hinteren Raum einen Holzblock zu bringen, den er mir stolz präsentiert. Der Block ist 1 Meter lang und sehr hart. Mustafa meint, dieses Holz habe er aus dem Hafen geborgen; früher habe er sein Holz für den Bau von Möbeln immer im Hafen gekauft, und zwar die Holzkisten, in denen die Waren transportiert wurden. Mit diesem Holz habe er dann gearbeitet, das sei gute, stabile Qualität gewesen. Was das Holz betrifft, so bekäme man heute höchstens kleine, dünne Latten, in einem Laden oder in einer Großschreinerei zu kaufen, aber die Qualität sei nicht mehr gegeben, anders als beim Holz vom Hafen. Heute gebe es das nicht mehr, weil die Waren alle in Containern befördert werden.

Abbildung 33: Der Hafen und die Corniche Mustafa ist ein ehrlicher Liebhaber seiner Stadt, die Trouvaillen seien für ihn persönlich alle sehr wichtig. Das befriedige ihn mehr als die Jagd nach Geld. Er 112 Feldforschungstagebuch 21.01.2014. 113 Feldforschungstagebuch 27.12.2013.

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sagt: en la noche mucho pensar, muchos problemas y mañana – finito. Er sagte mir damit, man darf nicht so viel Denken und Problematisieren und soll hier und jetzt leben, denn morgen sei man tot. Wenn Gott wolle, drücke er auf die Fernbedienung und man sei tot.114 Er wolle aus dem Laden ein kleines Museum machen. Er habe vor, die Briefmarken in Rahmen an die Wand zu hängen. Die Werkstatt sei hinten nochmal doppelt so groß wie der Verkaufsraum. Man könnte hier schon einiges draus machen. Wenn es ihm ums Geld ginge, dann würde er ein Café draus machen, sagt er. Ihm aber gefalle es mit den Leuten zu reden, sie kennenzulernen, dann Geschäfte zu machen – aber nicht Geld auf die Schnelle wie die jungen Leute heutzutage. Sein ältester Sohn würde ihn immer abschätzig und mitleidig anschauen und sagen, er sei ein Verrückter, der kein Geld und kein Auto habe. Mustafa sagt selbst, dass er arm sei; er habe 5 Söhne und 2 Töchter und wenn die Kinder sich etwas leisten wollen, dann müssten sie eben hart arbeiten. Er sage seinem ältesten Sohn: wenn du dir was leisten willst, geh’ doch in die Fabrik und arbeite da. Dann kannst du dir so allmählich etwas leisten – aber die Kinder wollen alles sofort und ganz schnell.

Abbildung 34: Renschhausengebäude

114 Feldforschungstagebuch 12.12.2013.

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Ich sage, 7 Kinder hast du? Er sagt augenzwinkernd: ja, wenn ich nachhause gehe, dann vögel ich einfach drauf los. Er sei arm und habe sonst nicht viel zu tun, fügt er selbstironisch hinzu.115 Mustafa hat sich auf die neue Zeit eingestellt, er freut sich auf den neuen Hafen, mit dem sich einiges für ihn – zum Guten – ändern werde.116 Mustafa betreibt seinen Antiquitätenladen auch deshalb, weil die Arbeit als Schreiner am Hafen nichts mehr hergibt. Er ist einer von denen, die vom Hafen gelebt haben und er hat jetzt aus seiner Schreinerei diesen kleinen Liebhaberladen mit dem alten Zeug gemacht. Er sagt, jetzt sei das nicht mehr möglich als Schreiner, also würde er zuversichtlich in die Zukunft schauen, denn jetzt sei er unabhängig; der Hafen würde sich ja verändern. Irgendwann würden sich hier im Renschhausengebäude Cafés geben, in denen der Kaffee nicht mehr 10 Dh, sondern 40 Dh kosten würde, alles würde moderner und schicker werden, und er selbst sei eben da mit seinem Laden für jene Touristen, die das alte Tanger kennenlernen wollen. *** Dem Renschhausengebäude gegenüber, zwischen Promenade und Hafengelände, liegt der alte Bahnhof der Stadt aus den 1930er Jahren,117 stillgelegt seit einigen Jahren, und dahinter der Eingang zum bisherigen Fischereihafen Tanger-Ville sowie zur Zone Franche, in der noch zum Zeitpunkt der Feldforschung vor allem Frauen in vielfältigen Produktionsstätten etwa der Textil-, der Fisch- und der Elektroindustrie arbeiten. Aus diesem Grunde habe ich in den Cafés im Renschhausen meinen ersten Beobachtungsposten während meiner Forschung eingerichtet. 29.03.2013: Ich setze mich heute an die Caféwand, also in die zweite Reihe, ganz rechts an ein Tischchen. Wieder sind nur Einheimische im Café, die ärmlich oder wie Hafenarbeiter aussehen. Ich beobachte und bin mit meinem Jackett, der guten hellen Hose, den schwarzpolierten Schuhen, der Sonnenbrille und dem Ordner ein Fremdkörper. Die Straßenhändlerin Salima ist wieder da, ich sitze etwa 3 Meter hinter ihr. Ich grüße sie und sie grüßt zurück. Auch der Mann, der die weißen Hemden verkauft, ist wieder da. Ich beobachte ihn die ganze Zeit, er steht da mit ausgebreiteten Armen, über denen die Hemden hängen, und schaut mal nach 115 Feldforschungstagebuch 27.12.2013. 116 Feldforschungstagebuch 27.12.2013. 117 Mas Garriga 2013 S.4.

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links, mal nach rechts, aber er spricht niemanden an. Die Parkplatzwächter haben wieder die gelben Ikea-Westen an, heute aber haben sie drüber noch orangefarbene Warnwesten. Ein armer Schnorrer und zwei Prostituierte laufen vorbei. Eine zahnlose Dürre mit schäbigen Klamotten steht vor Salima und ruft etwas in das Haus hoch, vor dem ich sitze. Salima und der macarra grinsen, soviel kann ich sehen. Die Dürre schimpft, sie trägt ein schäbiges Haarband. Ob es eine Prostituierte ist oder eine Verrückte oder eine Drogenabhängige – oder alles zusammen – kann ich nicht sagen. Ich beobachte sie eine ganze Weile. Sie verlässt die Szenerie. Kinder spielen auf dem Platz vorm Renschhausen Fußball, sie tragen Trikots von Real Madrid und Barça. Ein schmutziger Obdachloser mit dreckiger Djellaba und wirrem Haar schleppt sich über die Szenerie. Dann wieder Einer, der sich eine Zigarette bei Salima aus der Camel-Schachtel fischt. Die Dürre kommt zurück, sie schimpft nicht mehr sondern geht zur Fetten und umarmt sie, gibt ihr einen Kuss. Dann geht sie weiter Richtung Dar Dbagh, fixiert einen nach bravem Familienvater aussehenden Mann, der sich vor ihr flüchtet, sie aber immer hinterher. Sie sind schon weit weg, ich kann nicht verstehen, was sie zueinander sagen, denn der Mann dreht sich um und scheint ihr was zu sagen. Geht dann weiter, sie hinterher. Für einen Moment denke ich, dass er sie mitnimmt. Aber der Mann verschwindet in einem kleinen Lieferwagen und fährt davon. Die Dürre trottet zurück über den Parkplatz. Wie ich da so sitze und fotografier, kommt ein schmutziger, heruntergekommener alter Mann auf mich zu und spricht mich auf Spanisch an. Er kenne die Stadt gut und sei ein echter Tanjawi – das übliche blabla. Er habe gutes Haschisch. Auch Kif, er könne mir alles besorgen, was ich brauche. Ich sage, es tut mir leid, ich rauche nicht. Er gibt nicht auf. Ich weise auf meinen Ordner und sage: »Entschuldigung, aber ich arbeite.«. Da sagt er: »Da haben sie aber Glück.«. Und er verabschiedet sich mit einem guten Tag, trottet wieder auf dem Platz auf der Suche nach neuen Ansprechpartnern. Die Szenerie ist trostlos und hoffnungslos. Der Verkäufer mit den Hemden hat nichts verkauft, die Prostituierten haben Niemanden mitgenommen (ich hab jedenfalls nichts gesehen), die Dürre hat keinen abgekriegt und die macarras haben keine Touristen abgefischt. Oben auf der Brüstung der Rue de Portugal sitzen die schwarzafrikanischen Migranten, dort und am Dar Dbagh, und verkaufen ihre Ware. Plastiktelefone und Uhren und sonstige Dinge dubioser Qualität.118 Ich gehe die Treppe am Renschhausen hinauf auf die Terrasse, wo sich eine Frauenhilfsorganisation eingerichtet hat. Die Fassade des einst prunkvollen 118 Feldforschungstagebuch 29.03.2013.

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Gebäudes ist schäbig geworden. Man kann, wenn man die Fassaden entlang hochschaut, durch einige Fenster den Himmel dahinter sehen, d.h. das Dach muss an manchen Stellen kaputt oder ganz weg sein.119 Am oberen Ende der Treppe befindet sich rechter Hand Mustafas Laden. Auf der Terrasse schläft ein schmutziges obdachloses Kind in Lumpen und es riecht nach Urin; es dämmert unter dem Wappen der Falange, das die spanischen Frankisten während der Besatzung in den 1940er Jahren dort angebracht haben, vor sich hin. Votre Hotel, das erste Hotel, in dem der Vater des Friedhofwärters Yassine gearbeitet hat, liegt gleich gegenüber – das ›Votre‹ sieht aus, als ob es mit dickem Bleistift hingeschrieben worden sei.120 Etwas weiter davon entfernt liegt das Hotel Nabil, es befindet sich hinter einer kleinen Gasse, die von der Avenue den Hügel hoch führt. Heute ist es ein Stundenhotel. Damals aber war es ein Hippie-Hotel mit 20 Zimmern. Es gehörte Yassines Onkel. Er selbst und eine Schwester wurden dort geboren. Früher gab es dort einen schönen Garten, da habe er als Kind gespielt zwischen all den Hippies. Heute gehört es nicht mehr der Familie, es sei verkauft.121 An der Terrasse des Renschhausengebäudes lag früher der 1923 erbaute Kursaal, ein Veranstaltungsort. Westlich davon befand sich bis zum Sommer 2014 die Casa Petri, die ehemalige Villa der Familie des faschistischen Konsuls von Italien. Vor einigen Jahren wurde das Grundstück an einen Verwandten des Königs verkauft, mittlerweile ist es abgerissen. Neben der Casa Petri führt die Rue de la Plage in die Altstadt hinauf. Der Name erinnert daran, dass sich hier bis ca. 1870 noch die Düne befand, die hinunter zum Stadtstrand führte. Im Meer selbst lagen der Düne gegenüber die Felsen von Moulay 'Abdelqâder, die ähnlich wie der Felsen von Lalla Jmila jene Frauen anzog, die einen Kinderwunsch hatten.122 Hier ist es angebracht, auf das angrenzende Viertel etwas genauer einzugehen, weil es historisch gesehen die erste Erweiterung der Medina darstellt und insofern für die Entwicklung der Stadt bedeutsam ist.

119 120 121 122

Feldforschungstagebuch 21.01.2014. Feldforschungstagebuch 16.04.2013. Feldforschungstagebuch 02.05.2013. Vgl. auch Michaux-Bellaire 1921 S.330 »de l'autre côté de la ville, un rocher qui avance dans la mer, vis-à-vis de la rue de la Plage, porte le nom de Moulay 'Abdelqâder: les femmes le blanchissaient à la chaux et allaient lui demander des enfants.«

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Die Rue de la Plage wurde von dem Architekten Diego Jimenez Armstrong geprägt, von dem viele Gebäude in Tanger stammen, etwa das Teatro Cervantes von 1913. Auftraggeber war die Familie Peña Orellana, eine alte Familie in Tanger, denn nach der Legende wurde der erste Namensträger als Matrose, der sich an einem Baumstamm geklammert hatte und 1805 bei der Schlacht von Trafalgar über Bord ging, hier an Land gespült. Die Familie erwarb das ganze Gelände, das damals Strand war, und als die Stadt expandierte, war man auf einmal reich geworden, und gehörte zu den besten Familien der Stadt.123 Die Rue de la Plage führt den Hügel hinauf und endet an der Rue de la Liberté, der alten Rue du Statut. Im oberen Teil der Straße befindet sich der Haushaltswarenmarkt Fondak Waller, untergebracht in einem alten hofähnlichen Geviert, das ursprünglich tatsächlich ein Hotel (Fondak) war. Auf der anderen Seite der Straße der Fondak Shisra (Baum),124 einem von der Anlage her flohmarktähnlichen Ensemble von überdachten Hütten und Ständen, auf dem Obst und Gemüse, Brot, Hühner, Eisenwaren, alte Haushaltswaren und allerlei andere Waren verkauft werden. Während der Fondak Waller moderne Waren feilbietet, besteht das Angebot im Shisra vielfach aus Waren, die gebraucht aussehen. Im Waller werden geschmuggelte Waren aus Ceuta verkauft, der Fondak Shisra ist der Markt der einfachen Tanjawis. Beginnt man, von hier oben die Rue de la Plage wieder hinunter zum Meer zu gehen, dann befindet sich links der alte jüdische Friedhof, rechts das Viertel Brâmil, benannt nach den Wasserträgern, die einst in den hiesigen Quellen ihre Krüge befüllten.125 Heute ist es als Barrio Español bekannt, weil dort in der Zonenzeit ausschließlich spanische Arbeiter wohnten. José kennt den spanischen Charakter des Viertels noch aus seiner Kindheit in den 1960ern: das dörflich Andalusische der clases populares. Die Gassen dieses Viertels tragen Namen von Physikern – Ohm, Volta, Galvani, Newton. 1892 wurde hier die erste Elektrostation Marokkos auf Geheiß von Sultan Moulay Hassan I vom Ingenieur Taylor errichtet.126 In diesem Viertel steht auch die Kirche, die jeder nur Nuestra Señora del Arenal nennt, die aber in Wirklichkeit Sagrado Corazón heißt – das erste Gebäude in diesem Teil der Stadt.127

123 Feldforschungstagebuch 27.04.2013. 124 Eine entsprechende Videosequenz, die vom Autor erstellt wurde, befindet sich auf: https://www.youtube.com/watch?v=UtY8s-UsYGc. 125 Michaux-Bellaire 1921 S.191. 126 Mas Garriga 2013 S.1. 127 Feldforschungstagebuch 30.10.2013.

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Auf der Anhöhe hinter dem spanischen Viertel das an den Boulevard Pasteur angrenzende Malerviertel mit den nach Rembrandt, Goya, Delacroix, Velázquez und Murillo benannten Straßen. Folgte man dem Boulevard in östlicher Richtung, gelangte man zur Aussichtsplattform Sour Al Maâgazine, in die Rue de la Liberté und den Fondak Waller. Unten an der Hafenpromenade Avenida d’España (heute: Avenue Mohamed VI), nach der Einmündung der Rue de la Plage beginnt das Areal der großen Hotels, das sich bis weit in die Mitte der Corniche hin zieht. Eines der ersten Hotels war das Hotel New York, das dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet wurde, mit Pavillons und Terrassen, die bis ans Meer reichten. Später wurde es in Hotel Cecil umbenannt.128 Von diesem einst nobelsten Hotel der Stadt, in dem vor allem der britische Adel zu logieren pflegte, sind heute nur noch Teile der Fassade vorhanden, das Gebäude selbst ist entkernt. Auch hier ist es angebracht, auf das angrenzende Viertel kurz einzugehen, da es im literarischen Mythos der Stadt eine entscheidende Rolle spielt. Am Hügel hinter dem Cecil befinden sich Pensionen, so das Hotel Mouniria mit dem Tanger Inn, in dem die Schreiber der Beatgeneration – Ginsberg, Kerouac, Capote, Orton – sich eingemietet hatten. William Burroughs schrieb hier im Drogenrausch seinen Roman Naked Lunch. In unmittelbarer Nähe befand sich die Villa Eugenia,129 das prachtvolle Anwesen der aus Gibraltar stammenden Familie Chappory, das im neuen Millenium der Errichtung der innerstädtischen Mall Tanger-Boulevard zum Opfer fiel. An der Avenida d’España selbst folgen viele Hotels, etwa das Hotel Marco Polo, das der Familie Saccone aus Gibraltar gehört, in die eine der Petri-Töchter eingeheiratet hatte. Dann das Hotel Rif, das Tangeria, das Hotel Solazur und Andere. Gegenüber der Hotelfront, getrennt durch die Avenida d’España, befindet sich der Strand von Tanger. Dieser ist schon Ende des 19. Jahrhunderts als Freizeitraum entdeckt und genutzt worden130 und nicht – wie Daus131 schreibt – erst in den 1920er Jahren. 1915 waren die ersten Umkleidekabinen eingerichtet 128 España 1954 S.161. 129 Ein Einblick in das Anwesen ist über die Links https://www.youtube.com/ watch?v=rpfKqwKBtqE und https://www.youtube.com/watch?v=CV7JvDvjwaM möglich. 130 Mas Garriga 2013 S.6; Abensur 2009 S.99. 131 Daus 2000 S.301.

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worden,132 bereits zuvor gab es die ersten, ausschließlich für Frauen eingerichteten Badepavillons Pepa la Sevillana und Katy la Gibraltareña.133 Es waren vor allem die europäischen Bewohner und die Expatriierten, die den Strand für die Freizeit nutzten – kaum jedoch die Muslime der Stadt. Diese nutzten den Strand v.a. aus ökonomischen und spirituellen Gründen: um zu fischen, zu schmuggeln, um die Meeresgeister anzurufen, oder um die europäischen Badegäste als Kunden zu gewinnen und um sie fester an sich zu binden. Fotos aus dieser Zeit zeigen die ersten Badepavillons und Bars, das Apollo Plage, Tous les Sports, Les Flots Bleus, Le Deportivo, La Guinguette, das Rialto. Auf dem Tanzboden des 1938 gegründeten Miramar fanden Flamenco- und Tanzwettbewerbe statt. Die meisten Nationalitäten Tangers hatten ›ihre‹ Lokalitäten, in denen man sich vornehmlich traf. Die Engländer und die Amerikaner etwa trafen sich im Sun Beach, auf dessen Terrasse Tennessee Williams sein Stück Die Katze auf dem heißen Blechdach schrieb.134 »Früher gab es viele Gruppen von Christinnen und Jüdinnen, solteronas [alte Jungfern], Schwestern oder Freundinnen, die in Gruppen durch die Stadt gingen oder an den Strand, heute gibt es nur noch die drei betagten Schwestern Perla, Fortuna und Rica aus der jüdischen Gemeinde, die in leichte Sommerkleidern und mit Sonnenschirmen an den Strand 135

gehen. Das sind die Letzten, die übrig geblieben sind,« meint der Tanjawi José.

Entlang der Corniche verbindet die bereits erwähnte Hafenstrasse (heute die Avenida Mohamed VI, früher die Avenida España, davor Bulevar Frente al Mar) die Stadt mit dem Kap Malabata. 100 Palmen aus der spanischen Stadt Elche wurden der Stadt im Jahre 1924 von Gonzalo Mora y Fernández, Marqués von Casa Riera und Vater der späteren belgischen Königin Fabiola, geschenkt. Weil die Palmen damals wie Besen aussahen, nannte man die Straße von den Tanjawis anfänglich Avenida de las Escobas (Avenue der Besen); einige der Palmen stehen hier noch heute. Zu Ehren des Herzogs wurde die Straße offiziell Avenida España genannt. Zwischen dem breiten Sandstrand und der Straße befindet sich eine Promenade mit Diskotheken und Nachtclubs. Die Avenida war Schauplatz vieler 132 Assayag 2000 S.295. 133 Assayag 2000 S.292. Darüber hinaus ist der Begriff des Freizeitraumes natürlich nur anwendbar, wenn Zeit in Arbeits- und Freizeit eingeteilt wird. Für den marokkanischen Raum ist dies schwierig; so fällt die alte Aktivität der Frauen, die Meeresfelsen aus spirituellen Gründen aufzusuchen, sicherlich nicht in einen Bereich, der ›Arbeit‹ zuzurechnen wäre. 134 Vaidon 1977 S.327. 135 Feldforschungstagebuch 01.01.2014.

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Freizeitvergnügen in der Zonenzeit, von Blumenkorsi über die 1913 eingeführten Karnevalsumzüge, Pferderennen, Rummelplätze und Theateraufführungen. Die Pferderennen fanden bis in die 1930er Jahre statt, sie begannen am Renschhausengebäude und endeten nahe der Villa Harris am östlichen Ufer der Bucht. Die Terrasse des Hotel Cecil diente als Schautribüne für das Spektakel.136 Die großen Verbindungsstraßen gehen von der Avenue Mohamed VI in die Stadt ein. Das Ende dieser Gegend wird durch den Kanal markiert, an dem McDonalds, das Café Panorama und der neue Stadtbahnhof liegen. Die Colline du Charf, einstmals östliches Hügeldorf, erhebt sich hier, alter Bezugspunkt für die einlaufenden Schiffe;137 heute aber erstrecken sich weitere Hotel- und Wohnanlagen entlang der Hafenstrasse gen Osten und verdecken den Blick auf die Colline du Charf: der neue Bahnhof, die Viertel Bellavista, Sania und Ghandouri. Die Fahrt die Corniche entlang an einem (mittlerweile wieder verlandeten) See, den man angelegt hatte zu Vergnügungszwecken; Hotelbauten aus den 1960ern, die aber nie richtig als Hotel funktionierten sondern heute Wohnungen sind, denen man von außen ansieht, wie modern sie einmal gemeint waren, wie heruntergekommen sie aber mittlerweile sind; ein Hotelkomplex, der im Golfstil errichtet wurde, ähnlich wie die Großbauten in Dubai; am Wad el Halk das Resort der Villa Harris, einstmals im Besitz des bedeutenden Korrespondenten der Londoner Times, Walter Burton Harris, dann Club-Polynesie,138 dann Club-Med, heute vollkommen heruntergekommen, leer und der Renovierung harrend:139 »The association Tingitania, have also launched a petition for the protection and rehabilitation of the Villa Harris, the president Yassine Madani explained at the time ›Our goal with the launch of this petition is to raise awareness to the fate of Villa Harris. We want to rehabilitate the house and make it more accessible to the people of Tangier.‹ Despite all 140

these efforts, so far nothing has really changed and the place continues to wither away!«

Die Überreste des Fort Ghandouri141 und des alten Lazaretts für Infektionskrankheiten, das auch als Gefängnis genutzt wurde. Hier hat sich in den letzten 2 Jahren ein neues Wohngebiet entwickelt. Dann das Hotel Mövenpick. Und es

136 137 138 139 140 141

Mas Garriga 2013 S.5. Mouline 1994 S.11. Vaidon 1977 S.267. Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=mpu_bbuhPJQ. Antinoff 2013. Laredo 1936 S.287ff.

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wird weiter gebaut, Neubauten fressen sich tiefer in die Landschaft, nicht nur hier an der Küste. Die Küstenstraße wird zur Landstraße, die zum Hafen Tanger-Med führt. Zuerst müssen wir aber eine Brücke überqueren, die für den Schmuggel eine wichtige Rolle spielt. Shakeeb erzählt, wie die Drogen verschifft werden. Das geschehe unter der Brücke am kleinen Fluss, der kurz vor dem Ortsteil Mnar ins Meer fließt. Dort würden die Boote beladen und die führen dann ganz ruhig durch die Mündung aufs Meer. Das seien vielleicht 300 bis 400 Meter.142 Die Drogen würden vom Berg herab unter die Brücke geschleppt. Noureddine erzählt, dass sein Cousin 100 Kilo Haschisch auf seinem Rücken vom Berg hinunter an die Straße/ans Meer schleppt, 4 Mal pro Nacht. Da verdient er 6000 Dh pro Nacht. Das sei ein guter Verdienst. Ein Kilo verkaufe man in Spanien für 1000 Dh. Man müsse schon sehr stark sein, um so viel zu schleppen – sein Bruder jedenfalls, der einmal versucht habe, mit dem Cousin zu arbeiten, sei zu schwach gewesen für diese Arbeit.143 Links und rechts von der Brücke, so Shakeeb, gebe es dann Wächter, die Schmiere stehen, damit sie nicht entdeckt würden. Ich sagte, das sei doch seltsam, denn die Polizei sei doch ohnehin mit in den Drogenhandel involviert. Shakeeb meint, seit Amtsantritt der Regierung Benkirane sei das nicht mehr so einfach, denn der habe den Drogen den Kampf angesagt, und würde das auch durchziehen. Ich werde schon sehen, dass Benkirane deshalb hier im Norden bei der nächsten Wahl keine Stimmen mehr bekommen wird. 144 Es schließt sich das Viertel Mnar an, in dem der einstige Herr der Stadt, der Drogenbaron Ahmed Bounekkoub, im Volksmund zärtlich H’midou oder augenzwinkernd Derdib (der Schakal)145 genannt, seine als segensreich geschilderte Wirkung entfaltete. Der besitzt in Tanger den Status eines Volkhelden: Shakeeb erzählt, H’midou sei ein guter Mann. Zu ihrer Hochzeit habe Shakeebs Mutter 30.000 Dh von ihm erhalten und an 3Aid würden 2 Lastwagen voller

142 143 144 145

Feldforschungstagebuch 13.12.2013. Feldforschungstagebuch 13.10.2013. Feldforschungstagebuch 13.12.2013. Im Hocharabischen bedeutet Dib sowohl Wolf als auch Schakal, im marokkanischen Dialekt dagegen nur Schakal (Boncourt 1978 S.32). Dank an Ferdaouss Adda für den Hinweis.

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Hammel zu den Armen gebracht und an anderen Festen Lastwagen mit Kleidung, so dass sich jeder bedienen könne.146 Auch Mokhtar erzählt, dass H’midou ein guter Mann sei, erstens gebe er den Leuten in Mnar Arbeit; zweitens tue er viel Gutes, lade die Armen jeden Freitag zur Speisung ein, es gebe Couscous und dann noch 200 Dh dazu. Schließlich habe er auch eine Moschee finanziert, sowie 50 Talib (also Schüler), die dort den Koran lernen147 Noureddine erzählt, H’midou habe den Leuten Hammel und Geld und Geschenke gemacht – er habe seine Leute versorgt. Soufiane meint, am Namensfest bekämen die Leute einen Hammel, an 3Aid, oder Geschenke für die Kinder nach Ramadan, z.B. Kleider. Die seien sehr großzügig. Gute Leute. Die sorgen für die Leute. H’midou sei um die 70 Jahre alt.148 H’midou wird als ein typischer Patron beschrieben. Durch seine ›guten Taten‹ schuf er sich »an enormous network of loyal foot soldiers and villagers eager to protect him. He supplied jobs, built mosques, delivered social services and kept the despised authorities at 149

bay.«

Der Vater von H’midou sei ein einfacher Bauer aus den Bergen gewesen150, er selber sei ein Fischer gewesen. Seinen Namen habe er von einer einflussreichen Dame erhalten, die selber im Drogenhandel aktiv gewesen sei. Shakeeb erzählt folgende Geschichte: die Küstenwache sei immer eingeweiht gewesen in die Schmugglertransaktionen der Dame, so dass man deren Boote nicht verfolgt habe; einmal hätte aber ein neuer Fahnder die Regeln dies Spiels nicht gekannt, er habe die Verfolgung des Bootes angeordnet. In der Not habe der Kapitän das Boot an Land gesetzt und sei geflohen. H’midou hätte die Waren am Strand an sich genommen und dann von der Dame den Namen bekommen, die anfing, mit ihm Geschäfte zu machen. Jedenfalls wurde H’midou zum dominierenden Patron des Nordens, für viele Jahre. Nicht nur Drogenhandel selbst und die Verteilung der dadurch erwir-

146 147 148 149 150

Feldforschungstagebuch 13.12.2013. Feldforschungstagebuch 17.06.2013. Feldforschungstagebuch 20.01.2014. Ketterer 2001. Feldforschungstagebuch 17.06.2013.

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tschafteten Güter in die armen Sektoren der Gesellschaft, sondern v.a. die Investition in die unterschiedlichsten Sektoren der ›ehrenwerten‹ Wirtschaft.151 Derdib gehört viel in Tanger. Zum Beispiel der Block, in dem sich das Café Giralda befindet. H’midou habe eigentlich die halbe Stadt gehört.152 Lange gab es viele Verbindungen zwischen der Drogenwirtschaft und den offiziellen Stellen. »Both Dib and Yakhloufi avoided jail time in previous cleansing campaigns in 1992-1993, relying on the protection of key Moroccan officials. Only a few of these officials were investigated in the mid-1990s. Abderrahman Arbain, a member of a prominent family and head of the conservative RNI party in the Tangier neighborhood of Bni Makkada – ground zero for drug operations in Tangier – was arrested in March 1996 but quickly released. The Dib trial revealed other links between drug traffickers and government officials, including two advisors to former governors in the Tangier province, three civilian police colonels, the military police colonel in charge of coastal surveillance and three former chiefs of the Tangier urban judiciary and national security police services. Some of these officials were fired, arrested and tried, but it is clear that the cleansing campaign of the 153

mid-1990s did little to curb the growth of the drug trade or its ties to official Morocco.«

Letztendlich aber stellte Derdib eine Gefahr für die Souveränität des Königs dar: Informanten erzählten mir, er habe Hassan II, der den Norden planmäßig vernachlässigte, einen Handel vorgeschlagen: er (H’midou) würde sich um die Entwicklung des Nordens kümmern. Das habe der König natürlich abgelehnt, da er die Machtkonzentration in seinem Land nicht zulassen konnte. Ketterer154 argumentiert ähnlich: »When money and power became centralized around a few drug barons, the monarchy moved against them. Too much power in too few hands presented a clear and present danger to the monarchy in a way that the small dealers hadn't.«

151 »Dib was […] involved in complex real estate transactions in Tangier, money laundering operations and other elements of organised crime.« Ketterer 2001. EMCDDA MONOGRAPHS 2008 S.270. 152 Feldforschungstagebuch 20.01.2014. 153 Ketterer 2001. 154 Ebd.

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Ob die beiden nachstehend angeführten Lokalitäten tatsächlich Derdib oder einem anderen Drogenhändler gehören, vermag ich nicht zu sagen. Entscheidend jedoch ist, dass es sich in beiden Fällen um Investitionen in renommierte und alteingeführte Etablissements der Stadt Tanger handelt: An einem guten und gutbesuchten Restaurant, Princess Palace, gehen wir vorbei: das gehöre auch einem Drogenboss, es sei da um Geld zu waschen.155 Die Konditorei La Maddalena war früher eine der renommiertesten Konditoreien gewesen. Die Besitzer hatten es an einen Drogenschmuggler verkauft (dem es noch heute gehören soll). Der habe nichts vom Konditorenhandwerk verstanden und die gelernten Konditoren entlassen, so dass man die Sachen heute vergessen könne.156 Nach dem Vergnügungspark Mnar Parc folgt das Kap Malabata mit dem östlichen Leuchtturm der Bucht von Tanger, sowie das Castillo Garazino, ein in den 1920er Jahren von einem italienischen Tanjawi als Burg erbautes Restaurant. Heute steht auch dieses Gebäude leer. Dahinter liegen rund 40 Kilometer Küstenstraße nach Ceuta entlang der Straße von Gibraltar, mit Sidi Kankouch, Ksar Sghrir und dem Hafen Tanger-Med. Auf der europäischen Seite gegenüber der Städte Tarifa, Algeciras und Gibraltar. Die Orte, von denen aus die Drogen verschifft werden, wechseln: der Fluss unter der Brücke, der Stadthafen, der Strand von Sidi Kankouch nördlich von Tanger, wo Derdib ein Hotel mit einem eigenen, unterirdischen Hafen besaß, der an alte James-Bond-Filme gemahnt. Um 2007 gab es die letztendlich nicht verwirklichte Idee, im Drogenhafen von Sidi Kankouch eine Pflegestation für verletzte Delphine einzurichten.157 Derdib habe seit den 1960er Jahren 600 Tonnen Haschisch transportiert. Er blieb über viele Jahre hinweg unangetastet. Dies liegt nicht zuletzt an dem wirtschaftlichen Nutzen, den der Haschischhandel im großen Stil für die marokkanische Wirtschaft besitzt: »Selon un rapport établi à la demande de l’OFDT, le Maroc occupe la place de premier producteur mondial de cannabis, fournissant 80 % des produits dérivés consommés en Europe. Ce même rapport rédigé en 2001 estime à 12 milliards d’euros les bénéfices de cette agriculture, dont une très faible partie revient aux agriculteurs. [Nach einem Bericht der französischen Drogenbeobachtungsstelle OFDT nimmt Marokko den ersten Platz in der 155 Feldforschungstagebuch 30.07.2013. 156 Feldforschungstagebuch 27.04.2013. 157 N.N. 2006c.

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Weltrangliste der Cannabisproduktion ein, vor dort kommen 80% der in Europa konsumierten Cannabisderivate. Derselbe Bericht schätzt, dass 2011 12 Milliarden Euro an die Cannabisproduzenten fließt, davon geht jedoch nur eine sehr geringe Marge an die 158

Bauern].«

Meine Informanten meinten, Protektion durch offizielle und »höchste« Stellen sei der Grund für die Duldung gewesen. Mokhtar etwa ist überzeugt: Natürlich weiß der gobernador von H’midou (Derdib), aber man würde ihn in Ruhe lassen, denn wenn man etwas gegen ihn unternähme, hätte man hier eine Revolution, weil er so viel Gutes tut für die Armen. Außerdem seien immer Polizisten auf der Gehaltsliste von Derdib – die würden zwar immer wieder ausgewechselt, und gegen neue ersetzt, aber das nütze nichts, weil es dann eben andere Polizisten gebe, die sich dann schmieren lassen.159

Abbildung 35: Hafen von Sidi Kankouch Schließlich habe er die Protektion verloren. Der gobernador habe Derdib gesagt, man habe ihn lange Zeit in Ruhe gelassen, aber jetzt könne man das nicht mehr so einfach, weil die Amerikaner ihren 158 Peraldi 2007a. 159 Feldforschungstagebuch 17.06.2013.

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Krieg gegen die Drogen ausgerufen hätten, da müsse man dann härter vorgehen.160 Andere Informanten wie Shakeeb machen die Politik von Premierminister Benkirane für die Festnahme und das Gerichtsverfahren verantwortlich. Und wieder andere Stimmen betonen, dass Derdib eine Gefahr für die Macht der Monarchie darstellte.161 Denn der Schmuggel und die öffentliche Hand sowie die Polizei und die Justiz sind in Marokko und – wie ich in meiner Arbeit über Gibraltar herausgearbeitet162 habe – in dieser Weltgegend ganz allgemein aufs Engste miteinander verflochten. Als er 1996 verhaftet und ihm der Prozess gemacht wurde, offenbarte das Gerichtsverfahren, was Jedermann in Tanger mit einem Gähnen quittierte: »The Dib trial revealed other links between drug traffickers and government officials, including two advisors to former governors in the Tangier province, three civilian police colonels, the military police colonel in charge of coastal surveillance and three former chiefs of the Tangier urban judiciary and national security police services. Some of these officials were fired, arrested and tried, but it is clear that the cleansing campaign of the 163

mid-1990s did little to curb the growth of the drug trade or its ties to official Morocco«

Das Problem der Kämpfer gegen den Haschischhandel liegt darin, dass sie den einzigen funktionierenden Erwerbszweig für große Gruppen von Tanjawis zu beseitigen trachten. Die meisten armen Tanjawis: »love Dib because he is illiterate, because he is one of them, a poor boy made good. With no jobs, no future and no meaningful political representation in Tangier, the drug business 164

is the only game in town. Take it away and you have an explosion.«

160 Feldforschungstagebuch 17.06.2013. 161 »Through their wealth and organization, Dib and Yakhloufi had become leaders of a quasi-state in the north. More than the international pressure, this presented a serious challenge to the monarchy.« Ketterer 2001. 162 Haller 2000. 163 Ketterer 2001. 164 Ebd.

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V ON

DER

S TADT

ZUM

ATLANTIK

Kehren wir zurück in den Stadthafen und nehmen den Weg von dort aus nach Westen. Der Stadthafen selbst liegt am westlichen Ende der Corniche, von hier aus knickt der Felsenstrand nach Westen ab. Von diesem Felsenstrand ist heute nicht mehr viel übrig, jedenfalls nicht bis zum Oued Lihoud: die Felsen am und im Wasser wurden eingeebnet und einem Teilprojekt des Modernisierungsvorhabens – dem Bau der Umgehungsstraße entlang der Küste – geopfert. Unmittelbar hinter dem Knick wird seit einigen Jahren der neue Fischereihafen gebaut, in den die Fischerboote, die bislang noch im Stadthafen arbeiten, ab 2016 umgesiedelt werden sollen.

Abbildung 36: Das Café Makina, innen (2013) Dazu wurde dem Meer ein Stück Land abgetrotzt, auf dem sich ebenfalls die Zentrale von Amendis/Veolia165 befindet. Über dem Stadthafen und dem neuen Fischereihafen thront das Altstadtviertel Dar Baroud, wie die gesamte Altstadt eingefasst von den alten portugiesischen Stadtmauern. Hier oben liegt das bereits erwähnte Café Makina, ein altes Fischercafe, in dem bis vor kurzem vor allem 165 Amendis ist das lokale Tochterunternehmen des französischen Gas-, Abfall-, Wasserund Elektrizitätsunternehmens Veolia.

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ehemalige Fischer und Jungs aus der Nachbarschaft spielten, rauchten, Tee tranken, träumten und nach Spanien hinüberschauten. Soufiane hatte mich zum ersten Mal hierher gebracht. Das Café Makina wurde für mich zu einem magischen und gleichsam meditativen Ort in der Stadt, hierher zog ich mich oft zurück auf meinen Spaziergängen und Exkursionen durch die Stadt. Das Makina verhieß für mich jene Erfüllungen, die Viele im viel berühmteren Café Hafa in Mershan finden. Denn das 1921 gegründete Hafa zog Schriftsteller der Beat- und der Hippiegeneration an, hier saßen Paul Bowles, Mick Jagger und die unvermeidliche Uschi Obermaier – das Café findet sich in jedem Reiseführer. Heute ist das schöne Terrassencafe mit seiner traumhaften Aussicht über die Straße von Gibraltar von Jugendlichen der Mittelklasse bevölkert. Mir selbst sagte das weniger hypertrophe Café Makina mit den unprätentiösen Besuchern und den kiffenden alten Hafenarbeitern und Fischern eher zu. Im Gastraum sind viele Bilder vom alten Tanger aufgehängt, auch Boote aus Holz stehen auf Konsolen. Der Tee kostet 5 Dh.166 Bin gerne hier, es ist unaufgeregt. Wahrscheinlich wird sich das ändern wenn die Hafenfront erst einmal restauriert und es von dort mehrere Zugänge nach Dar Baroud hinein geben wird. Noch aber ist es hier erfreulich ruhig. Unter der Terrasse gibt es nur noch eine weitere Ebene, die als Terrasse hergerichtet wird; darüber, also gewissermaßen vor der oberen Terrasse, soll sich im Spätsommer Wein über eine Pergola ranken. Die Treppe von der oberen zur unteren Terrasse (die noch nicht in Betrieb ist), wird ebenfalls mit einem pergola-ähnlichen Gitter bedacht, wo Weinreben hochranken sollen. Zwei Jungs mühen sich damit die Weinreben hier hochzulegen. Der Junge am Nachbartisch hat ein feines Gesicht mit Bart, lang bewimperte Augen, darunter eine Rötung, wie sie oft bei Bekifften vorkommt. Er hat einen Ordner dabei, offensichtlich lernt er etwas. Er zündet sich einen Joint an, und ich reiche ihm einen Aschenbecher. Er bedankt sich. Dann redet er mich auf Arabisch an, ich entschuldige mich, dass ich so schlecht Arabisch könne. Darija sei doch einfach, das lernt man hier als Kind im Bauch der Mutter. Ich sage, ich sei schon ein paar Jahre aus dem Bauch raus, das sei dann schon etwas schwerer. Woher ich komme? Deutschland. Er zeigt auf den Ordner, wo Maschinenteile abgebildet sind. Er liebe Deutschland, weil das so bekannt ist für seine Ingenieure und den Maschinenbau. Außerdem liebe er Automotoren. Er lernt gerade auf sein baccalauréat, also 166 Feldforschungstagebuch 19.04.2013.

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seine Abiturprüfungen. Jetzt seien gerade Ferien gewesen und er habe noch nicht gelernt, dabei seien es bloß noch ein paar Wochen! Heute erst habe er angefangen – er deutet wieder auf seine Unterlagen. Er komme manchmal hierher, wohne aber im Stadtviertel Idrissia. Das Café Makina sei ein Ort, wo sich sein Geist öffne. Wenn er auf das Meer schaue und auf Spanien und ich sage, ja, El Boughaz öffne die Sinne. Hier sei Ruhe. Ich sage im Hinblick auf seinen Joint: damit geht das sicher noch besser. Ja, aber er könne eigentlich nicht lernen, wenn er rauche, und nimmt einen Zug.167 Vom Café Makina führte ein Pfad hinunter, früher zur Felsküste, an der geangelt wurde. Das Meer schwappte hier unmittelbar unterm Makina an die Felsen. Noch bis vor kurzem kraxelten hier Jungs mit Angeln oder Badezeug den Pfad hinauf oder herunter. Manchmal ein Widder. Bis vor Kurzem – denn zwischen Mai und Oktober 2015 wird der Geist des Lokals durch die Umbaumaßnahmen im Rahmen des Stadtumbaus ausgetrieben: die Freilegung der alten Stadtmauern beseitigt die untere Terrasse und reduziert die obere um die Hälfte; von einer Terrasse ist sie zu einem besseren Austritt geworden.

Abbildung 37: Terrasse des Café Makina (2013)

167 Feldforschungstagebuch 22.04.2013.

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Heute befinden sich unterhalb des Makina die Küstenstraße und die Promenade: hat man doch weiter unten bereits das Amendis/Veolia gebaut und direkt vor der Nase. Und weiterhin ist man am Hämmern und Klopfen unten im neuen Hafen. Folgen wir dem Küstenverlauf nach Westen, dann sehen wir das Stadtviertel Bouqnadel, das sich außerhalb der Stadtmauern an die Steilküste schmiegt – illegal sei es gebaut worden und immer wieder würden Häuser Erdrutschen zum Opfer fallen. Der Turm von York Castle, der früheren Heimstatt des Lord Bute, neigt sich schon schief gen Abhang. Auch in dieser illegal zusammengeschusterten Nachbarschaft, die bislang noch viel Raum für das einfache Tanger lässt, geraten die Hütten an der Felsenfront zu Spekulationsobjekten. Auch hier suchen Europäer nach Grund und Boden für ihren Traum vom Blick auf die Meerenge. Es folgt das Stadtviertel Mershan mit den Felsen der phönizischen Gräber, sowie dem emblematischen Café Hafa. Unten an der Küstenstraße sollen die Diskotheken angesiedelt werden, die sich momentan noch an der Corniche befinden. Die Modernisierung wird also noch mehr von der einst von ğnūn bevölkerten magischen Küstenlandschaft zum Verschwinden bringen. Schon jetzt existiert der Felsen von Lalla Jmila nicht mehr, der schon in Kapitel 3 beschrieben wurde. Nur wenige spirituelle Orte, wie etwa die Felsen von Ghanam (7ajra d Ghanam)168 im gleichnamigen Garten (gharsa d’Ghanam), der Fels von Sidi Hammou,169 dem Ehemann von Aïsha Qandisha, oder das Tälchen von Sidi Mimoun170 am Daraj Mericain befinden sich heute noch an Ort und Stelle. Es schließt sich der kleine Sandstrand von Merqala an, wo der Judenfluss – der Oued Lihoud – in das Meer einmündet. Seinen Namen hat der Fluss von den Juden, die 1492 nach der Eroberung Granadas durch die christlichen Könige hierher geflohen und an der Mündung angelandet sind.171 Hier sei es vor allem des Nachts gefährlich, erzählen mir viele Informanten, die einen beziehen sich auf die Schmugglerboote, die von hier aus mit Menschen oder Drogen ihre Fahrt

168 Eine entsprechende Videosequenz, die vom Autor erstellt wurde, befindet sich auf: https://www.youtube.com/watch?v=49VV8gj3ls0. 169 Feldforschungstagebuch November 2014. Vgl. auch Michaux-Bellaire 1921 S.330 »Plus à l‘est, au bas de la Qaçba, au bord de la mer, on voit Sidi Bou Qnadel et Sidi Hammou«. 170 Michaux-Bellaire 1921 S.330 »Au bas du plateau du Marchan, au bord de la mer, on trouve Lalla Djemila et Sidi Mimoun. La première est une roche abordable à marée basse; le deuxième est un canon qui se trouvait au Bordj Bou 'Amaïr, non loin de cette roche. Il y a un canon Sidi Mimoun dans presque tous les ports marocains et on lui prête les exploits.«. 171 Laredo 1936 S.4.

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nach Spanien beginnen, die anderen sprechen von ğinnīyat, die auch heute noch nicht verschwunden seien und so manchen jungen Mann um den Verstand gebracht und in den nassen Tod gelockt haben sollen. Westlich von Merqala erstreckt sich eine felsige Küste unterhalb von La Montagne, dem Berg der Reichen mit ihren Villen, oder von R’Milat, dem Waldpark mit Ausflugslokalen und der zerfallenden Villa Perdicaris. Dieses Gebäude, das bereits im Kapitel 1 erwähnt wurde, ähnelt einem schottischen Schloss. Ion Perdicaris war ein amerikanischer Geschäftsmann, der sich die nach ihm benannte Villa 1872 erbauen ließ. 200 Bäume und Pflanzen auf dem Anwesen – z.B. die Eukalyptusbäume – wurden zum Teil aus Australien importiert. 1904 wurde die Villa Schauplatz eines internationalen Zwischenfalles, da der berberische Rebell Raissouli den Amerikaner entführt hatte, um von den Amerikanern Geld und Unterstützung in seinem Bestreben, als Herr des Nordens anerkannt zu werden, einzufordern. Die amerikanische Regierung kam den Forderungen Raissoulis nach. 1975 wurde der Zwischenfall verfilmt und zu einer heterosexuellen Liebesgeschichte umgelogen: Sean Connery (in der Rolle des Raissouli) entführte Candice Bergen (in der Rolle von Perdicaris’ Frau), in die er sich verliebte. Heute ist dieses jeden Romantiker zum Schmelzen bringende Anwesen im Zerfall begriffen, es wurde jedoch in den Plan von TangerMétropole als schützenswertes Erbe mit einbezogen. Und schließlich, nach langen Windungen vorbei an der Abfahrt zum Dorf Mediouna oder zum amerikanischen Radiosender, Kap Spartel am Scheidepunkt zwischen Atlantik und der Straße von Gibraltar. Seit 1864 befindet sich dort der Leuchtturm am Eingang zum Mittelmeer. Man muss nicht bis zu Jules Verne zurückkehren um im Leuchtturm Le Phare du bout du monde zu sehen.172 So jedenfalls nannte ihn die austro-ungarische Familie Gumpert, die den Leuchtturm in seinen ersten Jahrzehnten betrieb. Heute ist das Kap ein beliebtes Ausflugsziel für Fremde und Einheimische. Wir befinden uns jetzt gut 12 Kilometer westlich von Tanger, von hier bricht die afrikanische Küste ab gen Süden: zuerst die Strände von Achakkar, dann Asilah und Laraich, schließlich die ehemalige französische Zone und Casablanca. Weiter südlich dann El Aayoune, Nouakchott, Dakar und weiter, bis nach Kapstadt.

L A M ISÈRE Vor dem Hotel Continental werden die alten Stadtmauern und Tore freigelegt, ich nehme an, weil der Fährhafen in Zukunft wichtiger werden soll und die 172 Bouziane 2014.

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Touristen nicht mehr über die Dar Dbagh und die Rue de Portugal in die Stadt sollen, sondern über diese Seite der Stadtfront. Dort, wo die Küstenstraße nach Westen (unterhalb des Café Makina) abbiegt, sitzt Abdelouaheed, der faux guide vom Hafen, der mich schon öfters angesprochen hatte und mir den Hafen zeigen wollte. Ich hatte kein Interesse daran gezeigt. Er grüßt und wir führen ein kurzes Gespräch. Wie es ihm geht? Naja, hay que buscarse la vida en el puerto. [man muss sich den Lebensunterhalt im Hafen suchen]. Aber die Polizei würde »Leute wie ihn« immer vertreiben, da könne man nichts machen. Ob ich rauche? Ich sage: nein, ich rauche nicht mehr, habe es aufgegeben vor langer Zeit. Ob ich für ihn 2 Dh hätte? Ich sage, nö, 2 Dh habe ich nicht für Dich, aber 20. Die drücke ich Abdelouaheed in die Hand.173 Schuldbewusst.

Abbildung 38: Freilegung der Stadtmauer am Hotel Continental (2014) Das schlechte Gewissen, in besseren Umständen und in einem freien Land geboren zu sein, während es den Tanjawis hier schlecht geht, verfolgt mich in unterschiedlich starker Ausprägung meinen ganzen Aufenthalt lang. Es hat auch meine Interaktionen immer wieder geprägt. Auch dies ist im Übrigen keine

173 Feldforschungstagebuch 22.04.2013.

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individuelle Nabelschau, denn vielen Europäern in Tanger und natürlich in weiten Teilen der Welt geht es ähnlich. Selbstverständlich haben viele Tanjawis Strategien entwickelt, um diesen Umstand zu ihrem Vorteil und Frommen nutzen zu können, warum auch nicht? Sie kennen die Europäer zu gut, um nicht auch ihre Schwächen zu kennen. Viele Beziehungen, die ich aufgenommen hatte, hinterfragte ich nach diesen Mustern – meinen eigenen und denen der Einheimischen, die mir begegneten. Manchmal hat diese Frage mich sogar in meiner Forschung dominiert. Ich bin dabei zu der Erkenntnis gekommen, das die meisten vom Tangervirus befallenen Europäer – und also auch ich – ihre genuine Geneigtheit und Hilfsbereitschaft zum Ausdruck geben wollen, weil sie von den Tanjawis als freundliche Individuen auf Augenhöhe anerkannt werden wollen. Sie befinden sich dabei in einem Dilemma, weil sie glauben, als abgepufferte174 Individuen aufzutreten und dabei doch ihre eigene Einbettung in ökonomische und freiheitliche Macht- und Hierarchieverhältnisse ausblenden wie dümmliche Kinder. Die Tanjawis dagegen sind zumeist viel realistischer, weil sie weniger Handlungsspielraum haben als die Europäer: sie kennen die tatsächlichen Augenhöhen und wissen, dass sowohl sie selbst als auch die netten Europäer in den Machtverhältnissen gefangen oder in sie eingebunden sind – ganz gleich, wie sehr sich beide redlich zu bemühen versuchen, diese zu unterlaufen oder zu überwinden. Und tatsächlich sind die Verhältnisse so verheerend, dass nahezu jeder meiner Freunde und Informanten früher oder später von der Einladung nach Europa und vom Visum, das ich verschaffen könnte, gesprochen hat. Es liegt mir fern meine Bindung zum einzelnen Informanten letztendlich auf dieses Ansinnen zu reduzieren: das Leben ist komplexer, die Motivationen zum Eingehen und Pflegen einer Beziehung ebenso, und vielfache Wünsche und Projektionen auf beiden Seiten ließen auch jenseits der ›Einladung nach Europa‹ gegenseitige Bindungen entstehen. Dennoch muss auch dieses Ansinnen, so unangenehm es für beide Seiten ist, realistisch gewürdigt werden: schließlich haben auch die Tangerbegeisterten Erwartungen, die sie von den Einheimischen erfüllt haben möchten, und warum sollten diese umsonst sein? Ein Tausch ist ein Tausch. Das Schwelgen von der Augenhöhe kann der Europäer sowieso nicht lange pflegen, denn es erweist sich schnell als Illusion: so gut er sich wähnt, er kann die Welt nicht retten, auch nicht die Welt der Wenigen, die er als Freunde bezeichnet. Das gute Selbstbild wird schal und man muss aufpassen, dass dadurch das Bild der Tanjawis nicht ebenfalls schal wird, weil man sich selbst zugunsten einer Illusion betrogen hat und es leicht geschehen kann, diesen Betrug ungerechterweise auf die Einheimischen zu projizieren.

174 Straub 2015a S.105.

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Zurück zu Abdelouahed. Ich treffe kaum auf Jemanden, der ernsthaft große Erwartungen an die Segnungen des Hafenprojektes hat. Allerdings leben die meisten meiner Bekannten in prekären Verhältnissen, manche gar in der blanken Not – aber genau diese Informanten habe ich gesucht. Ich war nicht auf der Suche nach Gewährsleuten aus der Mittelschicht, sondern nach jenen aus den clases populares, wie die Spanier sagen würden. Den einfachen Menschen der Medina, den kleinen Ladenbesitzern und den Straßenhändlern, den Verkäufern, Barbieren, Fischern und jenen, die eine Gelegenheit beim Schopfe fassen, wenn sie sich ihnen bietet; als repräsentativ hierfür möchte ich jene Haltung markieren, die zum Ausdruck bringt, dass die Stadt als Ganzes oder aber einzelne Personengruppen von der Neugestaltung profitieren werden – man selbst jedoch nicht. Denn die sichtbaren Zeichen des Wandels sind – die Marina, die Teleferique, die Hafenfront – an den Bedürfnissen der Ober- und Mittelschicht, sowie der Investoren und Touristen ausgerichtet – nicht aber an denen der einfachen Tanjawis. Explizite Absicht der Modernisierungspläne ist es ja auch, das aus faux guides, Bettlern, Schmugglern, Dieben, illegalen Migranten und Prostituierten bestehende Personaltableau, mit dem die Touristen als Erstes in Kontakt kommen, zu beseitigen. Die Begegnung von Touristen mit einem faux guides wurde in der Literatur immer wieder als erste Begegnung auf marokkanischem Boden beschrieben. Etwa von Uschi Obermaier, die in ihren Erinnerungen schreibt: »Am Busbahnhof bot sich mir ein Kerl als Führer an und besorgte mir ein Hotel. ›Willst Du mit mir schlafen?‹, fragte er. ›Nö‹, sagte ich.«175 Es sind dies die mythischen Figuren von Tanger,176 weil sie in den literarischen und filmischen Mythos von Tanger einfließen – oder um es mit Malo177 auszudrücken: Figuren, die von fremden Europäern als Sensationsgründen zu dem emblematischen Vertretern Tangers hochgejubelt werden. Menschen wie Abdelouaheed. Es ist verständlich, dass viele Bewohner der Altstadt bzw. jene, die ihren Lebensunterhalt mit den von offizieller Seite unerwünschten Gewerken bestreiten – etwa die inoffiziellen Stadtführer (faux guides) wie Abdelouahed – eine skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber den Modernisierungsvorhaben haben: ihre Möglichkeiten werden dadurch noch weiter eingeschränkt. Heute müssen die guides eine Plakette tragen, die sie erst nach erfolgreicher Absolvierung eines Masterstudienganges am Institut für Tourismus erhalten; kontrolliert wird dies von der Touristenpolizei, die seit einigen Jahren darauf achtet, dass Gäste nicht belästigt werden. Natürlich schränken solche Modernisie175 Obermaier 2007 S.83. 176 Daus 2000 S.296-302. 177 Malo 1953 S.49.

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rungen den offiziellen Aktionsraum der armen, ungebildeten aus der Medina und anderen Stadtteilen zusätzlich ein. Das merkt man bereits jetzt schon zu bestimmten Anlässen: Ob ich wisse, was heute in der Plaza de Toros stattfinde, fragt Zacharia. Da sei ein Internierungslager der Polizei, da werden etwa beim Königsbesuch alle Bettler, Irren und jugendlichen Streuner hineingepfercht, die man in der Stadt auftreiben kann. Dann werden die dort registriert und untersucht, ob nach ihnen bereits gefahndet werde.178 Andere, die ihren Lebensunterhalt mit Tätigkeiten bestreiten, die nicht ins Bild des modernen Marokko passen, können an Tagen, in denen der König oder seine Verwandten in der Stadt weilen, nicht arbeiten. Zum Beispiel Soufiane, der nach seinem Job am Hafen Kleidung am Suq Barra verkaufte, dem Hauptplatz der Stadt, und den ich bereits im Porträt 2 vorgestellt habe. Entsetzt schreibt er im April 2014: »el ray va avolver a tanger en estas deias. […] biene ray no comer pobre porque no pue179

demos bender

[Der Keenich kommt nach Tanger dieser Daage […] kommd der Keenich

kann der Arme nich essen weil wir nichts verkaufen könn.]«

Soufiane konnte ganze drei Wochen lang nichts am Suq Barra verkaufen, weil die Polizisten, die normalerweise Schutzgeld kassieren, ihn und seine Kollegen vertreiben, um den Platz ›sauber‹ zu halten. Man muss im Übrigen nicht illegal arbeiten, um von solchen Maßnahmen betroffen zu sein. Etwa Rahman (*1990), der – im Besitz einer Plakette und daher – offizielle Parkplatzwächter vor einem Nobelhotel ist. Wenn dort wichtige Gäste absteigen, ist sein Straßenabschnitt gesperrt, so dass er seiner Arbeit nicht nachgehen kann. Da er von den Trinkgeldern lebt, verdient er in dieser Zeit natürlich nichts. Weitere Gründe für die skeptische Haltung gegenüber den Segnungen der Modernisierungsprojekte sind, dass diese dermaßen viele Zuwanderer aus dem Hinterland anziehen, dass es auch bei besten Absichten nicht zum Nutzen der Mehrheit gereichen können wird. Darüber hinaus würden für die Projekte im Hafen spezielle Jobs benötigt, für die es einer entsprechenden Ausbildung bedürfe – und die gibt es nicht; und schließlich sorge die Zunahme der schlecht bezahlten (und ohne jeglichen Rechtsschutz ausgestatteten) Arbeitsplätze in der Zone Franche für zunehmende Verelendung und Entwürdigung, weil die Löhne 178 Feldforschungstagebuch 02.11.2013. 179 Facebookkonversation mit Soufiane 04.04.2014.

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auf dem Niveau der 1980er Jahre verharrten, die Preise und Lebenshaltungskosten jedoch um ein Vielfaches gestiegen seien. Begegneten vor allem die jungen Marokkaner dem Amtsantritt des jungen Königs mit großen Hoffnungen,180 so sind diese einer großen Ernüchterung gewichen. Diese Ernüchterung hat verschiedene Ursachen: die politischökonomische Situation in der Gegenwart, die polizeiliche Willkür und die Klassenjustiz, soziale Gründe und die sexuelle Misere, sowie die fehlenden Perspektiven für die Zukunft. Die politisch-ökonomische Situation wird von den Informanten eindeutig eingeschätzt: die Modernisierung hilft nur den Reichen, wir Armen werden immer ärmer. Auch wenn einzelnen Aspekten durchaus gute Seiten abgewonnen werden und die Maßnahmen der Stadt als Ganzes neue Hoffnung geben, so seien diese dennoch Elitenprojekte von Großkopfeten, die sich das Geld gegenseitig hin und her schieben; für die Kleinen bleibe nichts übrig. In Tanger herrsche unkontrollierter Wildwuchs, anders als etwa in Marrakesch, wo es Bauvorschriften (man muss etwa die rote Fassadenfarbe und den gedrungenen Stil beibehalten) gebe, sowie eine Stadtplanung, die funktioniere. In Tanger dagegen herrsche überall nur Korruption.181 »Mindestens ein Viertel der Jungakademiker ist arbeitslos, 20 Prozent der Marokkaner müssen mit weniger als einem Euro am Tag auskommen, mehr als 40 Prozent sind Analphabeten. König Mohammed, dessen Holding ONA (Omnium Nord Africain) viele Wirtschaftszweige beherrscht, schwimmt dafür in einem Privatvermögen, das ›Forbes‹ auf 2,5 Milliarden Dollar schätzt. Der Sohn treibt es ärger als sein 1999 verstorbener Vater. ›Obwohl die korrupten Praktiken schon unter König Hassan existierten‹, zitiert die Enthüllungsplattform WikiLeaks aus einem vertraulichen Bericht der US-Botschaft, ›ist die Kor182

ruption unter Mohammed VI. noch weiter institutionalisiert worden.‹«

Schon Hassan II war einer der reichsten Männer der Welt, der größte Grundbesitzer Marokkos und »er verfügte über große Anteile an zahlreichen marokkanischen Großunternehmen.«183 Die eine Hälfte des Staatsetats sei Militär und Verwaltung, die andere vom Hof. 33 Minister gebe es in Marokko. 33! Das sei unglaublich. Soviel gebe es in Europa nicht! Und der König kontrolliere etwa die Nahrungsmittelindustrie. Er 180 181 182 183

Vgl. Khallouk 2008 S.129ff. Feldforschungstagebuch 26.05.2013. Schulze 2011. Wippel 1999 S.539.

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habe viele Paläste und alleine die Blumen würden Unsummen kosten: könnte der König sich nicht mit einem Palast begnügen?184 Mohammed VI hatte sich bei seinem Amtsantritt 1999 drei Zielen verschrieben, wobei das erste Ziel die Beseitigung der Massenarmut war.185 Dieses Ziel hat sich nach Auffassung meiner Informanten nicht erfüllt. M VI, der sich »König der Armen« nennen lässt, erwirtschaftet als Unternehmer 6 % des marokkanischen Bruttoinlandsprodukts.186 »Denn er ist fast überall beteiligt, an Immobilien genauso wie an den Phosphatvorkommen in der Westsahara.« Reda spricht über den König und dass der und seine Freunde 75 Prozent des Erwirtschafteten in Marokko in die eigenen Taschen stecken: die Supermarktketten Marjane und Acima, Phosphate und Fisch, Lesieur Speiseöl und Coca Cola – alles fließe an den Hof. Alleine für die Blumen eines Palastes benötigt man an einem Tag 30.000 Dh, sagt Reda. Alleine für die Blumen! Er bekräftigt dies durch die Wiederholung. Er sei ja für den König und die Monarchie, man solle ihm den Strom zahlen und das Essen und die Autos und alles was er braucht – wenn man ihm dann noch zusätzlich 2000 Dh gebe, was hier der Durchschnittslohn sei: ob ich denn glaube, dass er damit leben kann. Sicherlich nicht. Also: Er darf schon was bekommen: Aber muss es denn soooooo viel sein? Das Leben sei teurer geworden. Die ganzen neuen großen Projekte mit der Freihandelszone oder hier am Hafen in Tanger: Das kommt doch nur denen zugute, die eh schon was haben, nicht den einfachen Leuten.187 Mounir Majidi, ein alter Freund des Königs und Vermögensverwalter, habe als unsichtbarer ›Wirtschaftsminister‹ mehr Macht als jeder andere Marokkaner. Und er weiß sie zum Nutzen seines Chefs einzusetzen: bei Banken und Versicherungen, in der Telekommunikations-, Bau- und Autobranche. Die beiden wichtigsten königlichen ›Geschäftspartner‹ ONA und SNI (Société Nationale d’Investissements) sind omnipräsent. Dort heißt der König auf gut Französisch auch schlicht der ›patron‹. Es sind also nicht die Paläste, Rennställe, Golfplätze, Gemälde- und Sportwagensammlungen, die das Gros des Vermögens von M VI ausmachen, sondern seine finanzielle Beteiligung an allem, was in Marokko wächst.188 184 185 186 187 188

Feldforschungstagebuch 27.06.2013. Khallouk 2008 S.129ff. Wieland 2011. Feldforschungstagebuch 14.10.2013. Wieland 2011.

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Wohin geht das Geld für den Reichtum Marokkos? Phosphate, Öl, Landwirtschaft? Alles ins Umfeld des Hofes. Etwa was die Fischerei betrifft: in ganz Marokko gebe es 2 Lizenzen für Fischfang, das sind Freunde vom Hof. Die könnten die Preise festsetzen, wie sie wollen: entweder an die EU verkaufen oder dann, wenn das nicht geht, an die Einheimischen. Faisal meint, er wisse nicht ob der König schlecht beraten wird, weil man ihm sage, dass es den Marokkanern gut gehe; oder ob er von den ›wahren‹ Umständen weiß und es ihm egal ist.189 Unter meinen Informanten finden sich grob drei Redeweisen über die Modernisierung und die Misere wieder: a) die offizielle Version wird unterstrichen, dass alles auf dem besten Wege sei; b) der König habe gute Absichten und mit den Vorhaben starke Impulse gesetzt, aber die ›Leute um ihn herum‹/die Mentalität der Marokkaner würden alles blockieren bzw. durch Korruption ausbremsen; Musa ereifert sich: Das Problem in Marokko sei, dass der König weitgehend alleine dastehe mit seinen Ideen, die Parteien seien daran nicht interessiert, und der König selbst sei sehr unter Druck, von allen Seiten. Er habe das mit Sorge verfolgt, beispielsweise zeige sich das im Körper des Königs (Musa presst seinen Hals und sein Kinn dick, und ich sage, ich hätte auch schon bemerkt, dass der Kiefer des Königs immer dicker werde und seine Schultern unbeweglicher; Musa stimmt zu). Denn auf ihm lastet die Einheit des Landes, wenn er nicht wäre, dann flöge alles auseinander.190 Ähnlich sieht das Said, ein anderer Informant: der König (M VI) sei krank, der würde sich täglich etwas spritzen – und Said meint, man sehe dem König an, dass er so ein rundes Gesicht habe, der müsse eine Krankheit haben.191 c) der König enttäuscht, er gibt nichts von seinem Reichtum ab und habe die Leute nur ärmer gemacht. Im Laufe meiner Forschung bin ich – zu Beginn einer Bekanntschaft – immer auf die erste Version gestoßen: es ist die offizielle Version, da man den König nicht kritisiert, die Spitzel und Geheimniszuträger der Polizeibehörden (chivatos) entweder tatsächlich anwesend sind oder aber als anwesend vermutet werden, 189 Feldforschungstagebuch 13.03.2013. 190 Feldforschungstagebuch 19.04.2013. 191 Feldforschungstagebuch 16.04.2013.

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und weil man dem Fremden ein positives Bild von Marokko vermitteln will. Je tiefer ich jedoch in das Alltagsleben der Tanjawis eintauchen durfte, desto deutlicher wurde diese Haltung aufgeweicht – entweder in die eine Richtung (b) oder – seltener – in die andere (c). Obwohl der König als unantastbar gilt und Kritik an ihm nicht geäußert werden darf, erfahre ich – und das ist der Vorteil bei langandauernden Feldforschungen – nach und nach nicht nur Kritik an den Ministern und an der Politik, sondern an Sidna (unserem König) selbst. Der Unmut unter den jungen Armen Tangers – und ich vermute Marokkos im Ganzen – über die Verhältnisse ist riesig. Ob sich die Demonstrationen der Lehranwärter gegen die Perspektivlosigkeit des Arbeitsmarktes im Januar 2015, die blutig niedergeschlagen wurden und im Land viel Solidarität erfahren, zu Auflehnungen gegen das System als Ganzes ausweiten, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Januar 2016) nicht sagen, ist aber nicht ausgeschlossen. Dies liegt sicherlich auch an den hohen Erwartungen, die der König als Hoffnungsträger zu Beginn seiner Herrschaft geweckt hat. Zwar hat sich das formale Rechtssystem verändert, Frauen- und Umweltrechte wurden verabschiedet und ein parlamentarisches System mit einer gewählten Regierung eingeführt. Die erlebte Realität ist für die Armen der Stadt jedoch eine der Benachteiligung, der Chancenlosigkeit, der polizeilichen Willkür und der Klassenjustiz. Der Straßenhändler Marouane ist nicht in der Rue de Liberté zu finden, weil überhaupt kein Straßenhändler zu sehen ist. Irgendein hohes Tier muss im Hotel Minzah abgestiegen sein, sogar weite Teile des Gehweges sind gesperrt. Auch die gegenüberliegende Seite, wo der Junge normalerweise steht, ist frei von Händlern, dafür besetzt mit unauffällig-auffälligen Polizisten in Zivil. Noureddine meint: kannst Du jetzt verstehen, warum wir hier fâché [verärgert] sind? Weil das alles nicht demokratisch abläuft und die Macht hier machen kann, was sie will.192 Wie in Porträt 2 dargestellt, zahlen die Straßenhändler Schutzgeld an die Polizisten. Das bestätigt auch Vater Ghandari, ein ehemaliger Polizeikommissar: Die meisten Polizisten sind korrupt. Leute, die auf der Straße etwas verkaufen, die werden von der Polizei verscheucht oder müssen Schutzgeld zahlen.193

192 Feldforschungstagebuch 21.08.2013. 193 Feldforschungstagebuch 15.12.2013.

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Polizisten – und das sei das Schlimmste – verhalten sich dabei durchaus willkürlich: mal verlangen sie 10 Dh am Tag, mal 20 Dh, an anderen Tagen wird die Ware konfisziert und man muss sie dann zurückkaufen, an anderen Tagen kann man die konfiszierte Ware nicht einmal auslösen, weil die Polizisten diese selber weiter verkaufen. Zur Willkür kommt die Klassenjustiz: Im Taxi, vor uns ein BMW 520. Schwarz. Der Fahrer erzählt, da sitze der Polizeichef drin. Am Straßenrand stehen Polizisten, die grade einen Unfall aufnehmen, sie salutieren bei der Vorbeifahrt und der BMW hält an. Humilde und dienstbeflissen beugt sich der Polizist ans Autofenster und redet mit dem Polizeichef. Ehrfurcht in seinem Gesicht. Der Taxifahrer erzählt einmal sei er dazugekommen, da habe sich ein spanischer Autofahrer auf der Straße mit einem Marokkaner gestritten, einem Freund des Königs. Der Polizeichef kam dazu, die gesamte Straße wurde abgesperrt, die Autos aus der abgesperrten Zone herausgelotst und der Spanier verhaftet, sein Auto abgeschleppt.194 Die vorgenannten Gründe hängen ursächlich mit der Institution des Makhzen zusammen. Damit wird das an den bereits vorgestellten ›marokkanischen Islam‹ angelehnte alaouitische Herrschaftssystem bezeichnet, das den Hof und die hohen Staatsbediensteten, -beamten und staatlichen Würdenträger meint, die in einer persönlichen Loyalitätsbeziehung zum König stehen.195 Entscheidend hierbei ist, dass der König drei offizielle Titel trägt:196 Sultan (weltlicher Machthaber), Kalif und Imam (religiöser Oberherr).

194 Feldforschungstagebuch 24.10.2013. 195 Das System des Makhzen geht in seiner heutigen Form weitgehend auf die Politik des französischen Generalresidenten Louis Hubert Lyautey zurück. Nach seiner Erfahrung in Algerien, dass die Umwandlung dieses Landes in einen gleichberechtigten Teil Frankreichs scheitern müsse, etablierte er in Marokko eine französische Version des Systems des Indirect Rule, indem er die alaouitische Dynastie innerhalb des Protektorats stärkte, gleichzeitig aber eine parallele, französische Struktur errichtete. »Lyautey s’attache à restaurer le Trône alaouite dans sa splendeur passée. Fasciné par cette Monarchie surgie du fond des âges et épargnée par la modernité, ce conservateur esthète veut rétablir la pompe du Sultanat.« (Vermeren 2006) Der amerikanische Historiker Edmund Burke III (Burke 2014; Amine 2014) argumentiert ähnlich: die Idee eines marokkanischen (an den Makhzen gebundenen) Islam sei das Produkt der französischen Kolonialpolitik, vorangetrieben u.a. durch die französischen Ethnologen. 196 Burke III 2014 S.2.

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Wenn meine Informanten von den ›Freunden des Königs‹ reden, dann beziehen sie sich auf den Makhzen. Hassan II betrachtete sie als loyale Diener des Thrones (khudama) und behandelte sie auch als solche – »not as agents or representatives of modern political institutions with formal political authority.«197 Gefolgschaft und Kooptation bilden die Grundpfeiler dieses Systems. Von den khudama wurden unbedingte Loyalität und Zurückhaltung bzw. Nichtzurschaustellung ihrer Stellung eingefordert, dafür wurden sie reich mit »immense state-subsidized benefits and services« belohnt. Der Politikwissenschaftler Maghraoui198 argumentiert, dass Staatsbedienstete ihren öffentlichen Aufgabenbereich wie ein persönliches Lehen betrachten dürfen. Unter Mohammed VI gibt es zwar viele neue Rechte, in der Praxis aber, so Maghraoui, habe sich nicht viel geändert.199 Maghraoui schrieb dies im Jahr 2001 – der Diskurs meiner Informanten zeichnet 13 Jahre später ein nämliches Bild. Aus der modernisierungstheoretischen Perspektive der Politikwissenschaften, der westlichen Demokratie und der Zivilgesellschaft mutet dies als Anachronismus an, die Pflegschaftsbeziehungen als Klientelismus und Patronage, der Tausch von öffentlichen Dienstleistungen gegen ›kleine Morgengaben‹ als Korruption. Es steht mir hier als Ethnologe nicht an, das System des Makhzen nach diesen Maßstäben zu beurteilen – das ist nicht unsere Aufgabe. Mir geht es darum, diese Befunde zu dokumentieren und die Perspektiven freizulegen, mit denen die Armen Tangers diese Befunde bewerten. Und diese Perspektiven sind nicht sehr optimistisch.200 Zu diesen ökonomischen, politischen und rechtlichen Aspekten gesellen sich soziale Gründe (keine staatliche Altersabsicherung, ein korruptes Gesundheitssystem), sowie – insbesondere für die Jugendlichen – die sexuelle Misere. Diesem letzten Aspekt wird in diesem Buch ein eigenes Kapitel (Nummer 7) gewidmet, so dass ich ihn hier an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber anführe. Am Schlimmsten werden aber nicht die gegenwärtige wirtschaftliche, soziale, sexuelle und rechtliche Situation wahrgenommen, sondern die fehlenden Perspektiven für eine gedeihliche Zukunft, die besser werden würde als die Gegenwart. Dies liegt aus der Wahrnehmung meiner Informanten nicht nur daran, 197 Maghraoui 2001. 198 Ebd. 199 »A youth with no powerful connections to protect him may be forced to sign a police report and spend months in jail for a crime he didn't commit. A victim of a traffic accident may never receive compensation because of a twisted police report in favor of the party at fault. A divorced woman may have to share her children's allowances with a court clerk whose cooperation is necessary to enforce verdicts.«. 200 Vgl. die Beiträge in Taïa (2009).

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dass sie nicht daran glauben, selber von der Modernisierung zu profitieren, weil die Projekte eh nur dazu gedacht seien um die Reichen reicher zu machen; es liegt auch daran, dass sie der marokkanischen Gesellschaft keine Entwicklung zutrauen, weil man den Mitbürgern zutiefst misstraut. Für Geertz etwa sind Misstrauen und Missgunst eine Obsession der Marokkaner.201 Nach Geertz sind diese jedoch kein unveränderliches Kennzeichen charakterlicher Art, sondern Ausdruck der Unsicherheit über die Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers, insbesondere des Handelspartners auf dem Markt. Hier sind zwei Einlassungen angebracht: Geertz’ Einschätzung entspringt vermutlich seiner eigenen Unsicherheit, denn Marokkaner wissen sehr wohl das Gebaren auf einem ihnen vertrauten Markt einzuschätzen. Auch wenn es eine weite Grauzone der nichteinschätzbaren Handelspartner gibt, so wissen sie wohl vertrauenswürdige von windigen Händlern zu unterscheiden. Zweitens lassen sich die Unsicherheiten des Handelns auf dem Suq nicht so ohne weiteres auf andere gesellschaftliche Felder übertragen. Ich vermute, dass das Misstrauen sich aus unterschiedlichen Quellen speist, die innerhalb der marokkanischen Erfahrung liegen: politisch vor allem aus der ehemaligen Allgegenwart der Geheimpolizei und der chivatos, die bis heute nicht nur nachwirkt – sondern zum Teil noch immer aktiv ist; Ich solle nicht immer allen alles erzählen, überall wären Leute unterwegs, die alles aufschreiben und weiterleiten, erklärt mit Vater Ghandari, der ehemalige Polizeikommissar. Es gibt noch heute drei Brigaden bei der Polizei, die beim inoffiziellen Geheimdienst arbeiten würden. Ich weiß nicht, ob ich das als wohlwollende Mahnung begreifen soll und entgegne, es gebe doch die chivatos. Vater Ghandari meint: genau, die stehen auf keiner Gehaltsliste, sie bekommen aber regelmäßig von den Dienststellen Schecks, je nachdem welche Informationen sie liefern: der eine bekäme 500 Dh, der andere 2000… Dazu gehören auch viele Frauen, die als Zuträgerinnen in Diskotheken für die Polizei arbeiten.202 Die zweite Ursache wird mit dem Begriff des schwarzen Herzens (des corazón negro oder 9alb khal), bezeichnet: ein schlechter Mensch sein, was bedeuten kann, einen schlechten Charakter zu haben (im Sinne des spanischen ser) oder etwas Schlechtes zu tun (im Sinne von estar), immer aber das Streben nach eigener Bereicherung und nach der Bereicherung der eigenen Kleingruppe (meist der Kernfamilie) auf Kosten oder unter Schädigung der Anderen. Neidische und missgünstige Menschen. 201 Geertz 1979 S.201; Vgl. auch Rachik 2012 S.211. 202 Feldforschungstagebuch 17.12.2013.

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Alle meine Informanten reden ständig darüber, diskursiv ist das corazón negro allgegenwärtig, immer aber steht es im Zusammenhang mit Geld: Geiz, Bestechlichkeit, Abzieherei, Übervorteilung und Korruption. Touristen sind geizig, wenn sie das Geld zusammenhalten; Polizisten und Ärzte muss man bestechen. Jeder denke nur daran, sich die eigenen Taschen zu füllen nach dem Motto: rette sich wer kann! Dieser Befund gemahnt an Banfields203 amoral familism, den er in den 1950er Jahren für das ländliche Italien attestiert: die Süditaliener bezögen sich auf die kleinste Einheit, die Familie, der es zu dienen gilt, weil man sich von der staatlichen Gewalt nichts Gutes erhofft. Natürlich bedarf es der Anpassung dieses Befundes an den Kontext von Tanger: als Familie gilt hier nicht die weitere Familie, sondern kleinste Einheiten, die zumeist die Cousins ausschließt und manchmal nicht einmal die Geschwister inkludiert. Laut Banfield ist die Familie diejenige Einheit, auf die man sich verlassen, der man vertrauen kann, weil der Staat oder andere soziale Organisationsformen entweder zu schwach oder zu unmoralisch und korrupt sind. In den Aussagen meiner Informanten kommt genau dies zum Ausdruck: dem Staat ist nicht zu vertrauen und jeder kämpft gegen jeden. Die Marokkaner sind alle mierda (Scheiße), man kann Keinem trauen, sagt der Handyverkäufer Zacharia. Wenn ein Handy 100 Dh kostet und der Kunde sagt, er hätte nur 80 und bringe morgen die restlichen 20 vorbei – dann wird der nie wieder auftauchen und die 20 Dh nie nachzahlen. Alle denken nur an sich. Europäer halten ihr Wort, Marokkaner jedoch nicht. Ich sage, er sei doch selber Marokkaner – er meint, er würde aber so denken wie ein Europäer.204 Und der Schreiner Mustafa erzählt etwas Ähnliches: den Kunden kann man nicht trauen. Neulich war ein Kunde im Geschäft, der wollte einen Tisch. Mustafa verlangte 140 Dh, hat sich aber auf 80 runterhandeln lassen. Er wollte eine Anzahlung von 20, die bekam er auch. Er hat dann tagelang an dem Tischchen gearbeitet, aber der Kunde sei bis heute nicht vorbeigekommen. Das war vor acht oder zehn Tagen.205 Und schließlich auch Said, der mir wieder und immer wieder erzählt, dass er »die Marokkaner« nicht mag. Man könne ihnen nicht trauen. Sie seien »zig-zag«, wie Schlangen, die nur ihren Vorteil suchen.206 Keinem könne man trauen! Alle würden nur ihren Vorteil suchen und sofort etwas klauen,

203 204 205 206

Banfield 1958. Feldforschungstagebuch 14.08.2013. Feldforschungstagebuch 26.12.2013. Feldforschungstagebuch 25.07.2013.

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wenn sich die Gelegenheit ergebe. Was für eine schlimme Mentalität, schimpft er.207 Als unterstützendes Konzept zum corazón negro, das sich verstellt, um Profit fürs Eigene herauszuschinden, wird zig-zag angeführt: man legt Dinge so aus wie man sie im Moment braucht und ein Wort ist kein Wort. Ganz häufig habe ich dies über die Marokkaner gehört, insbesondere wenn man sie mit der Geradlinigkeit von Sprechen und Handeln kontrastiert: diese werden den Spaniern, vor allem aber den Juden zugeschrieben: die tun, was sie sagen, man kann ihrem Wort vertrauen, weil Wort und Tat in eins gehen, anders bei den Marokkanern: Vater Ghandari sagt, die wahren Freunde seien meistens Christen oder Juden, den Muslimen dagegen könne man nicht trauen, die würden das eine sagen und das andere machen. Die Marokkaner seine immer nach dem eigenen Vorteil aus. Er liebt die Juden, weil die nicht zig-zag seien hätten und man ihnen trauen kann. Ein Jude sei mehr wert als 1000 Marokkaner.208 Wie erklären die Einheimischen diesen Befund: man ist selbst Marokkaner, unterstellt aber pauschal allen anderen Marokkanern, dass sie Schlitzohren und Vertrauensunwürdig wären? Aissam treffe ich wieder einmal vor der Berberapotheke in der er arbeitet. Auch er meint, er möge die Marokkaner nicht. Ich sage, alle meine marokkanischen Freunde würden das sagen: sie mögen die Marokkaner nicht. Wieso? Er antwortet, dass er das auch nicht so genau wisse, aber schon von klein auf habe er gewusst, dass man den Marokkanern nicht trauen kann.209 Marokkaner hielten ihr Wort nicht. Das bedeute nicht, dass er einzelne Marokkaner nicht mag, aber im Grunde würde sich jeder nur selbst bereichern wollen, wo es nur geht. Das sei keine Frage des persönlichen Charakters, sondern des gesellschaftlichen Systems: wenn man hier aufwachse, dann kenne man die Regeln ganz genau, aber weil es niemanden gebe, der einen bestraft oder sich darum kümmert oder rügt, würde sich jeder egoistisch verhalten. Wer nicht raube, der lüge, und wer nicht lüge, der stehle, und wenn er nicht stehle, dann sei er schwul. Jeder habe ein Laster. Der Unterschied sei, dass in Europa Laster geahndet würden. Hier in Marokko könne man sie ausleben – jeder mache, was ihm grade in den Sinn kommt, weil es keine Instanz gebe, die einschätzbar und ungeachtet des Ansehens kontrolliere. Jeder suche seinen Vorteil. In Europa gebe es feste Preise und man kaufe oder man kaufe nicht; hier 207 Feldforschungstagebuch 14.04.2013. 208 Feldforschungstagebuch 15.12.2013. 209 Feldforschungstagebuch 05.12.2013.

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gebe es keine festen Preise und niemand wisse, wieviel etwas wirklich wert sei. Jeder versuche, einen möglichst hohen Preis herauszuschlagen, deshalb könne man niemandem vertrauen. Jeder versuche sich zu bereichern oder die Regeln zu übertreten. Nicht nur die Europäer würden abgezogen, die Marokkaner würden sich auch immer gegenseitig abziehen. Das sei ganz normal und der Regelfall. Natürlich geschehe dies auf niedrigerem Niveau als mit Europäern, denn die Marokkaner würden zumindest das Regelwerk kennen; aber übers Ohr gehauen würden alle. Deshalb könne man niemandem vertrauen.210 Aus der Innensicht meiner Informanten – und ich kann hier guten Gewissens verallgemeinern, weil ich Aissams exemplarisch vorgestellte Perspektiven von fast allen Gewährsleuten erfahre – gibt es keine Hoffnung, dass man der marokkanischen Misere anders entkomme (nicht durch Modernisierung und nicht durch Demokratisierung) als durch die eigene Schlitzohrigkeit: Land und Moral seien eben ›so‹ [korrupt/auf den eigenen Vorteil bedacht], da müsse man sich anpassen und diese Haltung übernehmen, sonst gehe man unter. Wenn wir uns an die Bemerkungen an anderen Stellen dieses Buches erinnern, in denen ich die Freiheiten für das Individuum rühme, die sich im marokkanische System durch die fehlende Allgegenwart des Staates bieten, dann verweisen die obigen Äußerungen über das Misstrauen in den Anderen auf die Rückseite derselben Medaille. Man kann die Generation der heutigen Jugendlichen in Tanger grosso modo als eine generatión perdida, eine verlorene Generation beschreiben. Das betrifft nicht nur die Armen, die mich besonders interessierten, auch die oftmals gut Ausgebildeten verfügen kaum über Entfaltungs- und Zukunftschancen im Land. Dies unterminiert auch die Identifikation mit dem Staat, den Viele ganz offen als pais de mierda bezeichneten. Viele sind frustriert und demotiviert, denn die große Hoffnung auf die Reformzeit des Königs ist seit den Attentaten von Casablanca 2002 ins Stocken geraten. Auch viele Intellektuelle haben sich im Elfenbeinturm eingeschlossen, es herrscht ein großer desencanto mit den Hoffnungen auf M VI.211 Der König hat hier viel angestoßen, aber seine Hofschranzen und er selbst profitieren von den Großprojekten am Meisten. Die jungen Leute seien sehr desillusioniert, denn es gebe heute zwar mehr Rechte, aber die persönlichen Lebensperspektiven für einen Großteil der Leute seien äußerst begrenzt.212

210 Feldforschungstagebuch 18.12.2013. 211 Feldforschungstagebuch 26.07.2013. 212 Feldforschungstagebuch 31.07.2013.

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Als im Frühjahr 2011 im Zuge der Arabellionen auch in Marokko Tausende auf die Straßen gehen, reagiert der König rasch. Er lässt sein Volk über eine neue Verfassung abstimmen, er lässt vorgezogene Parlamentswahlen abhalten und kommt so den Forderungen nach mehr Demokratie zuvor. König Mohammed VI sei sehr klug, er habe wählen lassen, so dass man jetzt alle Schuld auf Premierminister Benkirane schieben kann. Denn Benkirane habe gar nichts fürs Volk getan und werde bald abgewählt, mit Sicherheit.213 Tatsächlich nahm der König damit den Protesten den Wind aus den Segeln. Wenn es Probleme gebe, könne man nun alles auf die Regierung schieben – der König sei fein raus und könne seine Macht hinter der Regierung kaschieren. 214 Denn seine eigene Macht beschränkt Mohammed VI. kaum. Er hat immer noch das letzte Wort. Den König in Frage zu stellen, ist tabu.215 Je länger man jedoch in Tanger lebt, desto mehr hört man allerdings immer mehr kritische Stimmen, die sich in der Regel nicht grundsätzlich antimonarchistisch äußern. Vielmehr kontrastieren sie die Politik des Königs aufgrund der Perspektivlosigkeit häufig mit der seines Vaters kontrastiert. Zum Nachteil des jungen Königs: Unter Hassan II habe es ein gut funktionierendes System der Spitzel (chivatos) gegeben. Der König habe alles gehört, was gesprochen werde, denn die chivatos hätten ein großes Netzwerk gehabt und Alles weitergetragen. Da sei zwar alles überwacht gewesen und auch korrupt, aber es habe geregelte Abläufe gegeben und die Leute hätten beispielsweise den Straßenverkehr respektiert. Heute sei alles frei, jeder mache was er wolle, und weil die Leute keinen Gemeinsinn haben und nur an sich dächten, sei das Chaos groß. M VI sei ein guter König, der das Land wie Europa machen wolle. Aber er habe es mit diesem blöden Volk zu tun, das eine harte Hand brauche, sonst würde nichts funktionieren. Die Demokratie jedenfalls sei mit diesen Leuten nicht zu machen.216

213 214 215 216

Feldforschungstagebuch 13.03.2013. Feldforschungstagebuch 14.10.2013. Borchers 2013. Feldforschungstagebuch 26.07.2013.

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Heute habe man mehr Freiheiten und früher war es eine Diktatur; aber die Freiheit, die es jetzt gebe, so Reda, sei letztlich Augenwischerei. Man könne zwar alles frei sagen mittlerweile, aber es habe keine Konsequenzen. Der Strand von Tanger und die Discos: das sei Hawaii, Malibu, Brasilien… C’est le bordel la bas, sagt er. Man könne sich vergnügen, damit man nicht an die wahren Probleme des Landes denken muss. 217 Dazu kommt, dass man früher gut leben konnte, was die Preise und das Einkommen betrifft. Die sogenannten Freiheiten seien reine Ablenkungsmanöver. Man habe jetzt zwar Freiheit, aber nichts zu essen:218 Auf dem Fernsehbildschirm erscheint Hassan II. Noureddine meint, das sei der gute König. Ich frage, weshalb. Heute könne man doch alles sagen, damals war es eine unterdrückte Gesellschaft. Ja, sagt Noureddine, aber damals hätte man 1500 Dh im Monat verdient, damit konnte man aber gut leben. 200 Dh hätten ausgereicht, um die legumes eines Monats zu kaufen. Heute verdiene man nur 300 Dh mehr als damals, aber die Preise seien astronomisch. Alles sei teurer geworden, mit 1000 Dh für legumes komme man gerade mal bis zur Monatsmitte.219 Nun lassen sich diese Miseren aus sozialwissenschaftlicher Sicht trefflich im Kontext der Migration diskutieren. Und tatsächlich sieht der König bei Amtsantritt den Kampf gegen Armut, Analphabetentum und fehlende Grundversorgung als zentrale Aufgabe der Zukunft,220 um die Jugendarbeitslosigkeit, sowie die Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit unter den Jugendlichen, die einen immensen Migrationsdruck schaffen, zu begegnen.221 Die ganz überwiegende Mehrheit der sozialwissenschaftlichen Forscher, die sich heute mit Tanger oder dem Norden Marokkos beschäftigen, legen denn auch ihren Fokus auf die Migrationsfrage222 – sowohl die der Marokkaner selbst als auch die der Schwarzafrikaner, die von hier aus versuchen, nach Spanien, insbesondere in die Exklaven Ceuta und Melilla zu gelangen. Und viele meiner Informanten sind entweder schon 217 218 219 220 221 222

Feldforschungstagebuch 14.10.2013. Feldforschungstagebuch 14.10.2013. Feldforschungstagebuch 16.10.2013. Wippel 1999 S.539. Wippel 1999 S.538. Ribas Mateo 2003; Ribas Mateo 2005 S.223-276; Lahlou 2003; Driessen 1995, 1996, 1999; Nyberg Sorensen 2000; Carr 1997; Rickmeyer 2009; McMurray 2001.

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einmal legal (Aissam), zumeist aber illegal (Ziyad, Omar, Soufiane) migriert, bzw. reden davon nach Europa zu gelangen (Manzoor, Yassine, Noureddine, Nadir). Es gibt also viele Gründe, sich mit Migration zu beschäftigen. Allerdings verleitet die Beschäftigung mit Migration dazu, auf Formen der – unvollständigen, abgebrochenen oder auch gelungenen – Migration zu fokussieren und diejenigen, die nicht migrieren, aus dem Blickfeld geraten zu lassen. Ich selber habe in diesem Kapitel daher eher darauf geschaut, wie die Tanjawis das Leben vor Ort bewältigen. Denn tatsächlich träumen oder reden viele nur von der Migration und auch diejenigen, die zurückkehren, müssen ihr Dasein vor Ort bewältigen: sie müssen ihr Leben absichern, viele meiner Informanten – Soufiane, Yassine, Marouane, Noureddine – kämpfen ums nackte Überleben. Sie können nicht am Glitzer der modernen Welt, der ihnen nicht nur in Form der Modernisierungsprojekte, sondern auch über das Fernsehen, die Cyberwelt und die Schaufenstergeschäfte und Restaurants der Mittelklasse entgegen tritt, teilhaben. »I don’t like McDonalds, it is all prestige,« vermittelt mit beispielsweise Yassine – der die Produkte der in Tanger als Leuchtturm der Moderne geltenden Burgerkette natürlich auch nicht erwerben und konsumieren könnte. Alles nur Gehabe. Dahinter verbirgt sich der Hass gegen die Klassengesellschaft, an deren Segnungen man nicht teilnehmen kann. Womit ich nicht behaupten möchte, dass es in vorbezeichnetem Zitat nur um den tatsächlichen Konsum bei McDonalds geht: vielmehr steht McDonalds hier als Symbol für die Welt, zu der man keinen Zugang hat. Ein vormodernes Ethos – wollte man sich in die Logik der Modernisten begeben – des Authentischen, des Wahren und des Angesichtigen wird dieser Welt des Glitzers entgegengehalten. Oder, in Yassines Worten: »Der Modernismus ist eine Gefahr, die Leute werden voneinander separiert – etwa durch die Wohnformen: man denke nur noch an prestige und Geld und an sich selbst.«223 Beim Ethnologen schlug diese Haltung eine Saite an, die er nur zu gut aus seiner eigenen Kindheit kennt, aus dem Diskurs seiner Eltern gegen Ausdrucksformen der Moderne: den Supermarkt, den Tennisclub. Er erinnert sich aber auch daran, dass es im Fall seiner Eltern nicht in jedem Fall um die finanzielle Unmöglichkeit der Partizipation am Konsum ging, sprich: nicht, weil man es sich nicht leisten konnte, wurden diese Segnungen verteufelt oder verächtlich gemacht. Sondern weil man – wie von Bourdieu in Die feinen Unterschiede dargelegt – andere Vorstellungen davon hatte, was wahr und was real ist: der Konsum von Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten, körperliche Bewegung, ohne dafür wie im Tennisclub bezahlen zu müssen. Dass also auch in den Augen der Freunde in Tanger nicht nur die Unmöglichkeit der Partizipation zur 223 Feldforschungstagebuch 24.04.2013.

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Ablehnung der Glitzerwelt führt, sondern vielleicht auch andere Vorstellungen davon, was wahr, richtig und gut ist, lässt sich zumindest nicht beiseite wischen. Ein Ansatz, der ausschließlich auf die ökonomische Teilhabe als Erklärungsmodell abhebt, muss zwangsläufig jeden gegenläufigen Diskurs als Ausdruck des Defizitären werten, da er selbst in der modernistischen Logik gefangen ist. Es wäre verfehlt, den Widerwillen gegen die Modernisierung alleine aus einer Perspektive heraus zu interpretieren, die Fortschritt fraglos zum Maßstab nimmt und so von vorneherein den Widerwillen als defizitär qualifizierte. Aus einem solchen Blickwinkel wäre Yassines Haltung überholt, ein Anachronismus. Vielmehr produzieren Modernisierung und Konservatismus gleichermaßen Vorteile und Preise, die man zahlen muss, nur: diese sind im Alltag miteinander verwoben. So haben meine Gewährsleute in Tanger gewiss modernistische Wünsche, deren Realisierung sie anstreben, was ihnen aber vor Ort nicht möglich ist, Wünsche nach Besitz und Konsum, nach persönlicher Freiheit und nach sexueller Entfaltung. Said ist unglücklich mit seiner Frau, emotional und sexuell. Er möchte eine blonde Europäerin, die nicht so verklemmt sei wie seine Frau, und der er sexuell zu Diensten sein kann, sagt er. Seine Frau, der er das Handy weggenommen hat, damit sie nicht mit der Außenwelt kommuniziert und die über keinen Hausschlüssel verfügt, damit sie die Wohnung nicht alleine verlassen kann. Aber diese Wünsche sind eingewoben in reale Lebensumstände, die nicht nur hemmen, sondern auch schützen. Und die es ermöglichen, andere Wünsche zu realisieren. Manchmal gehen die Bedürfnisse mit den bestehenden sozialen Netzwerken, in denen sie leben – der Familie, der Nachbarschaft – in eins, manchmal stehen ihnen die sozialen Bindungen aber auch im Wege. Der Zugriff der Religion auf alle Bereiche des Daseins wird in der Regel als beglückend, manchmal jedoch als Last empfunden. Und häufig wollen die Gewährsleute beides zugleich: die Welt der Wünsche und die Welt des Vertrauten. Oder eben doch die Migration. Es ist die hier dargestellte Perspektivlosigkeit, die gerade jetzt, zum Zeitpunkt der Drucklegung im Frühjahr 2016, junge Marokkaner in die EU treibt. Und die als Wirtschaftsflüchtlinge und Sextäter diskreditiert und in die Illegalität getrieben werden. So gehen wir mit Menschen wie Soufiane, Rahman, Reda, Abelouaheed und Marouane, die wir in diesem Kapitel kennengelernt haben, wenn sie denn nach Europa kommen nicht erst seit dem Jahreswechsel 2015/16 um. Um die Not zu lindern und zu ihrem, dem nationalmarokkanischem wie dem europäischem Nutzen beizutragen, habe ich einen Lösungsvorschlag: Marokko und die anderen Maghrebstaaten müssen in eine privilegierte Partnerschaft mit der EU geführt werden. Dies bedeutet: das abgelegte Desertec-Projekt

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muss reaktiviert werden. Europa erhält die Sonnenenergie und Marokko die Hilfe bei der Implantation eines fundierten Ausbildungsprogrammes, sowie Möglichkeiten zur legalen Einreise für seine Bürger. Die Vorteile: meine Informanten bekommen zwei Zukunftsperspektiven im eigenen Land; der marokkanische Staat als Ganzes erhält das Geld für die Sonnenenergie und wachsenden Wohlstand; Europa bekommt einen sicheren Partner im Süden, sowie die Unabhängigkeit von der Ölindustrie und dem Nahen Osten. Und weniger Menschen werden auf der Fahrt über das Mittelmeer sterben. Ja, wenn ich mir was wünschen dürfte. Die miteinander konkurrierenden, oftmals widersprüchlichen Begierden und die anhaltende Perspektivlosigkeit für die Gestaltung eines guten Lebens sind es auch, die mich vermuten lassen, dass viele derer, die ich während der Forschung kennengelernt habe, leicht zur Beute von Jihadisten werden können. Tatsächlich ist das größte Viertel Tangers, Bni Mekkada, die bedeutendste Rückhaltzone des Jihadismus in Marokko. Ich möchte in der Folge auf eine traditionelle Möglichkeit der Bearbeitung der existentiellen Dilemmata eingehen: das Geschichtenerzählen.

T AGTRÄUMEREIEN Auch wenn Migration immer in den Köpfen präsent ist: all die oben erwähnten Fragen des Daseins müssen dennoch gestaltet werden – und zwar vor Ort. Ob in der Realität des Handelns oder im Tagtraum. Auch deshalb sind die Orte des Träumens in Tanger so wichtig, Orte wie früher das Café Hafa, die Felsen von Mershan, das Café Makina. Zur Realität des Handelns und des inneren Tagträumens kommt die Realität der Sprache. Ich schließe mich Borneman224 an, »an analysis of daydreaming and reverie in the ethnographic encounter does not reveal the point of difference between two already constituted cultures or two public selves but, instead, discloses knowledge of unconscious intersubjective exchange that points to future communicative possibilities. The creation of the intersubjective third subject in the interlocution-based encounter can form the basis for an autonomous (with respect to the ego) ›inner other‹ that reveals an alternative sense of reality in which the anthropologist, at least momentarily, also takes part. Moreover, if the experience and the storytelling of this understanding are of sufficient depth and texture-crafted to include the conditions of articulation but allowed to me and era crossdomains, they can (and, one hopes, will) also stimulate readers to reverie, to associations that will increase their unconscious receptivity to what is being communicated.«

224 Borneman 2011 S.235.

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Denn in meiner Feldforschung habe ich häufig großartige oder auch nur großspurige Erzählungen über Pläne erfahren, die meine Informanten schon erlebt haben, oder die sie realisieren wollten: was man alles machen möchte. Bei den Geschichten, die darüber erzählt werden, was man schon alles im Leben erreicht habe, ist es für mich nicht immer einfach gewesen zu erfahren, ob dies wirklich so war, oder ob es nur Grand Cinema – der einheimische Begriff für ›Jemandem etwas vorgaukeln‹ –, ist. Typisch hierfür ist das bereits im Kapitel 4 über die Ḥamādša bemühte Beispiel der jungen schwulen Besucher: Einer der Jungs behauptet, er sei in Tanger lediglich zu Gast und lebe eigentlich in Holland. Sein Freund, der mir am nächsten sitzt, meint später im Verlauf des Abends, ich soll den anderen nichts glauben, das seien alles menteure, also Lügner, die seien alle aus Tanger; der, der angeblich in Holland lebt, habe Marokko nie verlassen.225 Freunde wiesen mich häufig auf das Grand Cinema, hin, das mir Andere vorführten: Grand Cinema werde häufig auch für Fremde inszeniert, um ihnen Geld aus der Tasche zu ziehen. Denn der Europäer bietet im Tanger der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit eine naheliegende Gelegenheit, um Vorteile abzuschöpfen, um von ihm zu profitieren. Ich sitze im Café Tingis. Schon von weitem sehe ich Yaqoub, den verrückten Gnawi, den ich neulich in Mokhtars Café getroffen habe, mit seinen irren Augen. Er winkt und kommt zu mir, setzt sich neben mich. Ich solle mit zu seinem Vater, dem Maler. Ich sage, ich habe keine Zeit. Und ich fühle mich nicht wohl. Was es denn sei? Der Magen, sage ich. Er sei auch »spiritu« (spirituell), sagt er, und legt seine Hand auf meinen Bauch. Dann beugt er sich runter, bläst auf die Stelle und küsst meine Stirn. Das helfe. Er will meine Telefonnummer und notiert seinen Namen in meinem Feldforschungstagebuch: »Yaqoub D., Tanger, Pintur & Gnawi«. Ob ich ihm eine »ayuda« (Unterstützung) hätte? Ich will ihm 20 Dh geben, aber er will 50. Ich sage: 25, aber er besteht drauf: 50. Ich gebe ihm 50 und muss lachen. So ein verrückter Vogel, der sein Spiel hier abzieht. Dafür hat er was verdient, denke ich, und die 50 sind mir deswegen nicht zu schade. Ich muss herzlich lachen, als er abzieht und durch die Gassen ruft »soy Gnawi!«. Ein Verrückter.226 Übrigens, meint Mokhtar ein paar Tage später zu mir, der Junge, der letztes Mal hier war (Yaqoub D.), dieser Gnawa, dem solle ich nicht trauen. Der sei 225 Feldforschungstagebuch 13.01.2014. 226 Feldforschungstagebuch 05.04.2013.

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drogenabhängig. Er sei gar kein Maler, sondern würde mir seinem älteren Bruder zusammenleben, der allerdings ein anständiger Kerl sei. Er sei kein Maler und habe auch nie ein Bild vorbeigebracht, so wie er es mir versprochen hatte, als ich letztes Mal gegangen bin, sei er wieder zu ihm (Mokhtar) gekommen und habe ihn um Geld für etwas zu Essen angebettelt. Ich solle bloß nie mit dem mitgehen, der sei nicht zurechnungsfähig. Ich muss innerlich grinsen, weil er mich ja neulich im Café Tingis um 50 Dh erleichtert hat.227 Ich stelle die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Geschichten hinten an und nehme solche Geschichten erst einmal als das, was sie offensichtlich sind: phantastische Selbstdarstellungen – Grand Cinema eben. Das Geschichtenerzählen hat in Marokko eine große Tradition,228 was sicherlich auch mit der passio, der Hinnahme der Umstände und Dinge, über die ich in den Kapiteln 3 und 4 geschrieben habe, zusammenhängt: vielen Formen des marokkanischen Islam ist diese Unterwerfung unter die Schicksalserfahrungen des Daseins zutiefst zu eigen. Wenn man geschehen lässt, geschehen schließlich nicht nur schlimme Dinge, sondern eben auch Wunder. Das ist es, was Burroughs meint: »No soy ni musulman ni Christiano, pero le debo mucho al Islam: en ningún otro sitio del mundo podría haber encontrado en contacto con Dios. Nunca había conocido la paz de espiritu antes de dejarme penetrar por el sentido profundo de la expresion ›Tal es la voluntad de Alá‹, y eso significa:›No te preocupes, puede ser que consigas lo que quieres o que no lo consigas‹. Desde que he comprendido esto todo lo que deseo viene hacia mi. [Ich bin weder Muslim noch Christ, aber ich verdanke dem Islam vieles: an keinem anderen Ort auf der Welt hätte ich mit Gott in Kontakt treten können. Niemals hatte ich den geistigen Frieden kennengelernt, bevor ich mich vom tiefen Sinn des Ausdruckes ›Das ist der Wille Gottes‹ (al-ḥamdu li-Llāh!) durchdringen ließ. Und das meint: ›Sorge Dich nicht, es kann sein dass Du das bekommst was Du Dir wünscht, oder dass Du es nicht bekommst.‹ Seit ich dies begriffen habe kommt alles, was ich mir wünsche, zu mir.]«

229

So ist derjenige, an den Grand Cinema gerichtet ist, nicht nur der Andere, sondern auch der Erzählende selbst. Die Erzählkunst und die Freude an den Geschichten mit der Inabredestellung von agency als Leitmotiv kann die alltäglich erlebte Ohnmacht mit der göttlichen Segenskraft (baraka) verbinden: wenn man sich schon im Leben nicht realisieren kann, dann zumindest im Grand

227 Feldforschungstagebuch 09.04.2013. 228 Adda 2011. 229 Cit. in Jordá 1993 S.157.

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Cinema.230 Ich weigere mich aber, Grand Cinema auf die Funktion des Ersatzes für nicht vorhandene Handlungsmächtigkeit zu reduzieren: dies stellte die marokkanische Realität wieder als defizitär und im Verhältnis zur europäischen Realität als untergeordnet dar. Denn vielleicht besteht die Qualität des Daseins ja gerade in der passio, und actio ist eine Abirrung. Noureddine spricht von seiner Idee, eine Association der Freunde der Juden hier in Tanger zu gründen. Das möchte er der jüdischen Gemeinde vorschlagen. Er ist ganz Feuer und Flamme: man müsse doch zusammenleben können, das ist ihm ein Herzensanliegen.231 Einen Tag später reden wir erneut über die Association. Ich sage, dass es wichtig wäre, etwas ganz Konkretes voranzutreiben wie etwa eine Veranstaltung mit Essen. Denn das Zusammenleben zwischen Juden und Muslimen mag es in Tanger nimmer geben (weil es kaum mehr Juden gibt), aber in der cuisine sei das Zusammenleben durch die gemeinsamen Gerichte nach wie vor konserviert. Man könne sich etwa überlegen, die Frauenselbsthilfeorganisation Darna mit einzubeziehen, denn die führen bereits ein Lokal, über das sie sich finanzieren. Damit könne man auch Interessierte von außerhalb für die Ideen gewinnen. Noureddine hängt sehr am gemeinsamen Ziel des Zusammenlebens, zu dem man Freiheit brauche, und man müsse gleich etwas Großes wagen, eine Association. Ich sage, man brauche erst ein Fundament, etwas Solides, mit dem man sich dann nach außen wagen kann, bevor man große Brötchen backen kann232 Einige Zeit später hat Noureddine eine neue Idee für die Association. Er möchte eine kleine Broschüre oder ein Büchlein herstellen, in dem für Touristen die wichtigen Bauten des kosmopolitischen Tanger vorgestellt werden und das man dann in den Hotels auslegen kann. Das wäre doch so ein kleines konkretes Projekt, von dem ich immer geredet hätte. Was ich davon hielte? Ich beglückwünsche ihn und sage, das sei eine ausgezeichnete Idee, sowas gebe es tatsächlich noch nicht. Wir sprechen den ganzen Abend darüber, und ich rate, nicht nur Kirchen und Religiöses aufzunehmen, sondern auch Schulen, Straßennamen, Handelshäuser und Konsulate.233 Wieder einige Zeit später sitze ich mit Noureddine in einem Café, er hat viele neue Ideen für die Association, etwa ein Restaurant zu machen, um für die Association zu werben. Ich sage, er solle realistisch sein: er 230 Vgl. Mayblin (2014) über Matthijs van de Ports Buch Ecstatic Encounters: Bahian Candomblé and the Quest for the Really Real: »Survival generates a baroque mindset that insists on the absent presence of ultimate meaning.«. 231 Feldforschungstagebuch 17.07.2013. 232 Feldforschungstagebuch 18-07-2013. 233 Feldforschungstagebuch 27.07.2013.

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habe bislang Niemanden, die mitarbeiten würden, er müsse etwas machen, um Mitstreiter zu finden. Ich würde ihn gerne unterstützen, aber ich gehe nach Deutschland zurück; Sein Freund Anwar sei gesundheitlich nicht auf der Höhe und zwei weitere Freunde würden sicherlich Input geben, aber niemand werde die Arbeit machen. Er solle sich daher eine kleine Sache suchen, die er selbst realisieren kann, im Notfall alleine. Er hat die Idee eines YouTube-Videos, in dem er sein Projekt vorstellt und um Mitstreiter sucht.234 Letztendlich hat Noureddine keinen Anlauf unternommen, seine Ideen tatsächlich zu verwirklichen. Es geht in diesem Beispiel auch nur vorgeblich um Noureddines Pläne – viele meiner Informanten teilten mir ihre Träume und Wünsche mit, die sie zu verwirklichen trachteten, die sie aber nie in Angriff nahmen. Der Ethnologe ist jedenfalls ein guter Resonanzboden, um die eigenen Träume fliegen zu lassen, ihnen Realität zu verleihen. Erzählen ist auch eine Reserve, also eine tradierte Form, auf die die Erzähler zurückgreifen, wenn sie über keine andere Form des Ausdrucks und der Realisierung verfügen. Ich vermute, dass in Zeiten der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, so wie sie heute in Tanger dominiert, die Träume umso höher fliegen: Träume vom anderen Ort (Europa), Träume aber auch vom geglückten Selbst vor Ort. Aber Erzählen ist in Marokko mehr als nur ein Ersatz für unrealisierte Träume: das Träumen ermöglicht auch einen Schutz vor der Realisierung und damit vor dem Heraustreten aus dem vorbestimmten Plan Gottes. Allerdings sind auch die Jihadismen Träme, die häufig realisiert worden sind. Um sie zu unterbinden bedarf es neuer Perspektiven – die der Modernisierung durch das königliche Versprechen haben sich mittlerweile abgenutzt.

234 Feldforschungstagebuch 08.08.2013.

Kapitel 6 – Hamid und die Hammel

Tanger heute. Nicht mehr international, kein Bowles, kein Burroughs, stattdessen Hamid und seine Familie, der Hammel am Opferfest 3Aid el Kebir. Hamid geboren vor 31 Jahren in El Jadida, ein Arobi, ein Schreckbild der echten Tanjawis, so nennen sich stolz die hier Geborenen. Ein Mann aus dem Süden also, von dort, wo das Unheil herkommt. Das Fremde, das den Charakter der Stadt so nachhaltig verändert haben soll. Aber die Eltern sind aus Nouinouich, einem dörflichen Stadtteil Tangers, und dem meinen am Fernsten: bei mir in Mershan im Westen, die gute Gegend mit der guten Luft, der Königspalast, die Villen der Reichen, Malcolm Forbes und Liz Taylor, die Dienstboten, das Café Hafa, die alten Europäer und wohlhabenden Juden – letztere in freilich vergangener Zeit. Nouinouich dagegen ein Vorort im Osten, wenngleich heute Bestandteil der Stadt, selbstverständlich. Der Großvater mütterlicherseits ein Kohleträger, den Buckel krumm, mit 102 Jahren im August dieses Jahres verstorben. Fatma, seine Tochter verheiratet und Anfang der 1980er mit dem Mann nach El Jadida. Tanger war damals am Tiefpunkt: Drogen, Korruption, verfallende Sitten und keine Hoffnung. In El Jadida das Versprechen auf Besseres, der Vater fand es in bei einer Anderen. Fatma mit den sechs Kindern 1998 zurück nach Nouinouich, zum Opa mit dem krummen Rücken. Familie soll schützen und halten, doch der Alte war alt, musste selbst gehalten werden. So wie Fatma heute mit 75 Jahren, Brustkrebs und fahl. Echte Tanjawia, kaum Geld. Ein Salon, ein Eingangsbereich, die Küche, ein Zimmer geteilt mit der Tochter (dort der PC voller Viren) und eins für die drei jüngeren Söhne. Das Bad ohne Dusche. Im Patio der Hammel am 3Aid el Kebir. Im Treppenhaus grillt man das Fleisch. Chalid, bald 50, mit jugendlichem Gesicht, das Glück schöner Gene, so wie all die Geschwister. Der Islam seine Rettung, als pater familias schlitzt er den Hammel. Für den Herrn, das Opfer eine glückliche Pflicht vor dem Allmächtigen. Es gibt keine Wahl: Gott hat den Menschen die Schafe gegeben, ihm zum Opfer. Die Hammel wissen es, sind glücklich gar vor ihren Schöpfer zu treten. Chalid

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mit großer Angst war 14 beim ersten Mal. Der Traum in der Nacht davor, der Hammel wird ihn schlachten. Am nächsten Tag der Vater: jetzt musst du es tun. Viele Leute dabei, ihm beim ersten Schlachten zur Seite, und Chalid sehr stolz. Der Vater aber, man schlachtet nicht, um Anderen zu gefallen, sondern allein wegen Gott. Nur darauf kommt’s an. Zwei Minuten Gedanken die kreisen und er schneidet. Im Leben der Punkt, wo man was tun muss: ja oder nein. Sich nicht im Ungefähren halten, sich entscheiden. So wird man ein Mann. Ein guter Moslem. Sicherheitsanlagen verkauft er, Kameras zur Überwachung und so Sachen. Ein Auto, ja, ein Betriebswagen. Geschieden. 18.000 Dh zahlt er der Frau für die Trennung. Eine neue Freundin, mit der lebt er nicht in Nouinouich – aber wie leben damit?

Abbildung 39: 3Aid el Kebir Salma, kaum jünger als Chalid, sich kümmernd um die kleinen Geschwister, unverheiratete Replik der Mutter. Ein Job als directrice in einem Textilgeschäft und beim Schächten kann sie nicht zusehen, wie gut, dass die Grippe grassiert. Der nächste, Jaouad, lang und dürr, ein dunkles Gesicht und die Augen so leuchtend und groß. Handballer in der Jugendmannschaft der Nationalen, dann eine Liebe mit Einer, die auszog nach Italien auf einem wankenden Boot. Um in den Armen eines Fremden zu enden. Absturz und heute nur Haschisch auf dem Sofa vorm Fernsehgerät. Wenn er doch nur tot wäre, es ging allen besser, so sagt

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UND DIE

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er. Geschlitzt hat er nur einmal, dann eine Angstneurose. Und zwei Wochen mit Fieber. Jetzt reicht er dem Bruder die Messer und schaut. Dina dann, die Schöne, ein guter Job als Sekretärin in einem Bauunternehmen, mit gutem Gehalt. Aber einer armen Liebe, der sie nach Marseille folgt. Mit Visum. Das abläuft. Trotzdem geblieben im Untergrund. Jetzt mit einer Freundin im Osten Marseilles, die Liebe eine Stunde entfernt in einem anderen Viertel. Sie putzt Treppen und er auf dem Bau. Die Liebe besteht, aber Hunger und kaum Hoffnung im neuen Europa der Krise und der Barmherzigkeit. Europa kein Traum mehr. Man kommt fast nicht hinein und was soll man dort auch. Hamid als Fünfter, mit der Liebe für Israel. Der Vater des Vaters – nicht der mit dem Rücken – algerischer Söldner der Franzosen und Jude, konvertiert zum Islam. Ein Halt für den Jungen, er lernt Hebräisch. Diplom als Autoelektrotechniker, kein Glück auf der Suche nach so einer Arbeit. Aber ein guter Job als Verkäufer in einem Brillengeschäft. Sein Chef verlagert das Geschäft nach Casablanca und Hamid endet vorerst am Fließband eines japanischen Autoproduzenten in Gzenaya. Freihandelszone am Flughafen, Zone Franche, Sklavenhaltung im Zukunftsversprechen der Modernisierung. Die Arbeit nur durch Fürsprache eines Kollegen von Chalid gefunden, ohne Beziehungen geht in Marokko gar nichts. 1900 Dh im Monat, neben Salma der einzige andere Brotverdiener, denn Chalid hält sein Geld für sich. Die Gehälter heute kaum besser als unterm alten König, damals aber mit 200 Dh im Monat wars Essen bezahlbar. Jetzt kostet das 1000 und mehr. Strom und Miete, davon gar nicht zu reden. Geschlitzt hat er noch nie, doch dem Hammel zieht er die Haut ab wie ein Teufel. Chalid kann’s nicht alleine, Jaouad ist keine Hilfe. Und Othman, der Jüngste, erträgt nicht das Schächten. Einmal hat der es versucht, Kopfschmerzen danach und Fieber, unerträglich. An 3Aid el Kebir hält er höchstens die Beine des Hammels, verschwindet dann klanglos zu Freunden. Ein Cousin nahm ihn mit zum Haschisch aus dem Rif – der Cousin verdient gut im Sold eines Herrn, der Kontrolleure aus Spanien und Marokko kontrolliert. Aber Othman ist schwach, kann die 100 Kilo pro Nacht nicht tragen über die Ziegenpfade vom Berg an die Straße, wo man die Lastwagen belädt. Kein Job, kein Geld für die Familie.

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Die Eingeweide im Bottich, der Schädel des Hammels glotzt blutig und leer, das Fleisch am Haken. Fatma und Salma in der Küche, dann Leber, Lunge und Herz am Spieß. Die Söhne helfen noch Nachbarn beim Schächten am 3Aid. zweimal. Für Gotteslohn sagt Chalid. Jaouads müdes Glühen, die Schulter von Hamid schmerzt noch drei Tage. Und Schlaf bis zum Morgen. Tanger in Nouinouich. Nicht mein Mershan, nicht die Medina der Schreiber und nicht die Kasbah der Touristen.

Abbildung 40: Ausnehmen der Innereien

Kapitel 7 – Die nackte Angst

Beladen mit Plastiktüten, in denen sich befindet, was zu einem Abendessen werden soll, stehe ich vor meiner Wohnungstüre und fingere nach dem Schlüssel. Ich hatte Besuch aus Deutschland, Gerhard, ein alter Freund, war nun schon eine Woche in Tanger und wir wollten seine nahende Abreise mit einem Festessen für etliche befreundete Tanjawis feiern. Meine erste Wohnung verfügte über einen typisch marokkanischen Empfangssalon, in dem rund 40 Gäste Platz finden könnten. Es ist später Vormittag und ich betrete meine Wohnung. In der Küche sitzen Gerhard und Nadir, den er kennengelernt hatte, in einer angespannten Diskussion in französischer Sprache. Das Gespräch verstummt, als sie mich sehen und sie schauen sich betreten an. Wir grüßen uns und ich platziere stumm meine Einkäufe auf der Arbeitsfläche der Küche. Ich frage, ob jemand Kaffee möchte. Ist wohl besser, meint Gerhard, und bald brüten die beiden über ihren Tassen. Ich kann mir schon denken, worüber sie so heftig gesprochen hatten, bevor ich den Raum betrat. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie so vorfand. Immer noch dasselbe?, frage ich. Nadir legt sofort los, anscheinend froh, weitermachen zu können: »Wenn ich jetzt sterbe, was sage ich meinem Schöpfer? Wie kann ich ihm in die Augen schauen? Ich brauche eine Frau, dann werde ich das nicht mehr machen.« Seine Stimme klingt gehetzt. »Ich habe meine besoins (Bedürfnisse), aber ich liebe Frauen.« »Ja gewiss«, sagt Gerhard leicht bitter: »Du liebst Frauen. Das hat man ja gemerkt.« Nadir schaut ihn an und sagt, noch immer gehetzt: »und dir mangelt es bloß an Islam, Du musst auch gerettet werden, es ist nicht gut, was wir machen. Das, was wir hier machen, hat der Teufel in die Welt gesetzt.« Ich sage, dass es auch Tiere gibt, die sich gleichgeschlechtlich betätigen, auch die wurden von Gott geschaffen. Er lässt das nicht gelten: »Tiere können nicht reflektieren, sich nicht entscheiden, die Menschen schon. Wir können uns kontrollieren.« Gerhard und Nadir hatten eine kurze Anziehung gespürt und waren in dieser Woche wohl ein-, zweimal miteinander im Bett gelandet. Gerhard hatte mir

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danach von ihrem ersten Rendezvous in leuchtenden Farben erzählt. Auf Nadirs Gesicht habe ein entspanntes Leuchten geglommen. Er atmete ruhig und beseelt, hatte Gerhard gesagt. Ein Lächeln habe seinen Mund umspielt. Gerhard fühlte sich im 7ten Himmel, und als Nadirs Augen langsam bebten habe er gedacht: wie er genießt! Doch je weiter er zu sich gekommen wäre, desto mehr habe sich eine Spannung in sein Gesicht geschlichen, erst zaghaft, dann mit leicht bitteren Zügen, schließlich, ganz schnell, mit Angst. Er habe die Augen geöffnet, an die Decke gestarrt und hervorgestoßen: das mache ich nie mehr! Bei dieser ersten Begegnung habe er Gerhard gesagt, dass er bisexuell sei und ob er denn schwul sei oder auch auf Frauen stehe … Nadir habe es als bizarr empfunden, dass man in Deutschland einen Mann heiraten könne. Mir selber gegenüber hatte Nadir dies auch geäußert: zwei Männer die heiraten? Das geht doch nicht! Nadir saß nun in der Küche und redete zu uns beiden. Er habe, so sagt er, ein großes Problem: seine Religion bestrafe Homosexualität und Schwule, und er denke, es gebe nichts Schöneres, als eine Frau zu lieben, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen. Man muss doch den Fluss des Lebens weitergeben und man sei doch kein Tier, das nur seinen Bedürfnissen nach lebe. Ich sage, die Weitergabe von Leben geschehe doch nicht nur durch Fortpflanzung, sondern auch durch gutes Beispiel, Liebe und Freundschaft, die man gebe. Das findet er sehr beängstigend und meint, er wolle nun lieber nicht mehr über Religion reden.1 Doch, insistiert Gerhard, darüber müssen wir reden. Er schaut Nadir ins Gesicht: Du findest doch, was wir hier machen sei gegen die göttliche Ordnung und schlecht. Dann musst Du aber oft bestraft werden, denn du trinkst Bier, rauchst Haschisch und machst ›es‹ mit Männern. Nadirs Augen flackern unsicher. Er fragt wieder wie bereits bei Gesprächen zuvor, ob wir ›a l’aise‹ (entspannt) seien mit dem Schwulsein. Wir bejahen. Gerhard, mit dem ich keine intime Beziehung pflege, mit dem mich aber eine enge Freundschaft verbindet, erzählt, dass seine Familie ihn von Anfang an akzeptiert habe und ich sage Nadir, bei mir war das anders, deshalb könne ich seine Ängste bezüglich der Angst davor, dass seine Familie, die Freunde und Nachbarn etwas über sein Begehren erführen verstehen. Wenn er mit seinen Heterofreunden zusammen ist, die ihn alle für einen Heterosexuellen halten, mache man oft schmutzige Witze über Schwule, meint Nadir, und er mache mit. Das betrübe ihn. Er fragt, was denn die Wahrheit über Homosexualität sei, ich sei doch Wissenschaftler und müsse das wissen. Ich will mich nicht auf die Wissenschaft beziehen und sage, richtig ist, was einem das Herz sagt. Das Hirn verdreht und kann lügen, das Herz nicht. Das gefällt ihm.

1

Feldforschungstagebuch 24.05.2013.

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Für einen Moment. Dann hat er wieder diese gehetzten Blicke: die Wahrheit sei seine Religion und er werde in ewiger Verdammnis enden.2 Gerhard, der diese Art von Gespräch schon öfters und ihm fruchtlos erscheinend mit Nadir geführt hatte, verschwindet auf den Balkon, um sich bei einer Zigarette abzureagieren. Nadir hat nach wie vor Gewissensbisse, er sagt er sei gai, aber wie verträgt sich das mit der Religion? Ich sage, Gott will dass wir glücklich sind und er hat dich so geschaffen, wie es ihm gefällt. Ja, aber der Mensch könne doch wählen zwischen dem guten Weg und dem schlechten. Ich sage, das stimmt nicht, die Bedürfnisse sind da, und die kann man nicht wählen, sondern die hat Gott gegeben. Er meint, ihr Europäer seid alle so frei und glücklich, er sei Marokkaner, da sei das anders. Er glaubt, wenn er eine Frau habe mit der er glücklich sei, wäre er nicht mehr mit Männern zusammen. Ich sage, das stimme nicht, ich kenne viele Männer, die verheiratet sind und trotzdem Männer lieben. Nadir hilft das nicht. Er sagt, er habe seine besoins, aber er würde jeden Tag den Herrn anflehen, dass er ihm die Bedürfnisse nimmt und eine Frau gibt, weil es böse und schlecht sei, Männer zu begehren. Wenn er jetzt sterben würde – was würde er seinem Gott dann sagen können? Meine Antwort ist: Gott hat dich gemacht wie du bist und das ist richtig so, denn er macht keine Fehler. Und du bist ein guter Mensch. Ja, aber seine Religion3 sage etwas anderes. Ich sage, die Religion wird von Menschen gemacht, aber Gott ist grösser. Damit kann Nadir aber nichts anfangen, für ihn ist der Islam die Wahrheit, der Koran stammt direkt von Gott. Er leidet sehr darunter, dass er diese Bedürfnisse hat. Ob er denn mag, was er mit Gerhard zusammen im Bett mache? Ja, er liebe es… aber er will eine Frau, damit er gerettet werde und nicht von Gott verdammt wird. Es ist eine Endlosschleife, leider habe ich das Rauchen aufgegeben und kann mich nicht wie Gerhard auf dem Balkon mit einer Zigarette entspannen. Ich sage: tut mir leid, ich kann dich nicht trösten. Er sagt: ich trinke und rauche und habe das Bedürfnis nach Männern, und Gott wird mir das nie vergeben. Ich denke: Es will ihm nicht in den Kopf, dass die Heilige Schrift von unheiligen Menschen gemacht wurde und nicht von Gott persönlich: es gibt hier keine Aufklärung, sondern nur Dogma. Schreckliches Dogma.4 Das ist Kultur. In der Begegnung zwischen Nadir und mir bzw. Gerhard treten gegensätzliche und vielleicht unvereinbare Kulturmuster zutage. Hier die Deutschen, die in einer Gesellschaft leben, in der die Verwirklichung des Inneren und dessen Heraustragen ins Äußere ein zentraler Wert darstellt. Dem Körper und seiner 2 3 4

Feldforschungstagebuch 26.05.2013. Vgl. Dialmy 2009, S. 60: »Dans la logique islamique, l’homosexualité est une deviance par rapport à la frontière des sexes biologiques impose par Dieu.« Feldforschungstagebuch 07.11.2013.

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Freiheit kommt eine zentrale Stellung zu. Mit dem marokkanische Philosophen Rachid Boutayeb, der David Le Breton zitiert, lässt sich sagen: »Der westliche Körper ist der Ort der Zäsur, die objektive Festung der Souveränität des Ego. Er ist der untrennbare Teil des Subjekts, der ›Individuationsfaktor‹ innerhalb von Kollektiven, in denen soziale Spaltung üblich ist. Unsere Körperkonzeptionen sind verbunden mit dem Aufkommen des Individualismus als sozialer Struktur, mit dem Aufkommen eines rationalen, positivistischen und laizistischen Naturdenkens, mit dem schrittweisen Rückgang der lokalen Volkstraditionen.5 In der westlichen Gesellschaft wird der Körper als ein Zeichen des Individualismus gedacht, als Ort seiner Differenz und seiner Freiheit.«6 Von den Fesseln der Religion haben sich Gerhard und der Ethnologe auf unterschiedliche Weise befreit, für beide aber ist Religion etwas Menschengemachtes und Gott nicht zu erschauen: dessen Wirken und die Interpretation dieses Wirkens durch den Menschen fallen nicht in eins. Ich bin zu diesem Zeitpunkt noch Agnostiker (Gerhard ist Katholik) und ich versuche, mich auf den Dialog mit einem zutiefst religiös geprägten Gegenüber dadurch einzulassen, dass ich auf ein gemeinsames Drittes – den nicht zu erschauenden und erkennbaren Gott – rekurriere. Darin sehe ich eine Möglichkeit, meinem Gegenüber vielleicht doch einen Teil seiner Ängste zu nehmen. Hier kommt zum Tragen, dass der Europäer heilen möchte, Trost spenden, er erträgt es nicht, die Differenz bestehen zu lassen, weil er selber unter dem Leid dieses Leidenden mitleidet. Er erkennt sich selbst in dessen Verzweiflung. Darüber hinaus ist der Europäer – ob Agnostiker oder nicht – davon überzeugt, dass er so gemacht wurde, wie er ist, und dass sein Begehren daher nichts Schlechtes sein kann. Diese Argumente hatte er sich lange in der Auseinandersetzung mit dem christlichen Umfeld seiner Herkunftskultur erkämpft, und nun überträgt er diese Argumente auf Nadir, dessen Fall aber nur auf den ersten Blick ähnlich gelagert ist. Denn Nadir lebt in einem Umfeld, in dem diese Form der Aufklärung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht nur kaum denkbar ist, sondern in dem salafistische Interpretationen weiter an Boden gewinnen und die lokalen Denk- und Glaubensformen und damit auch die lokalen sexuellen Umgangsweisen zutiefst umpflügen. Auf der anderen Seite Nadir, für den sich der Wille Gottes eins zu eins im Koran abbildet: den Menschen, die den Koran geschrieben haben, spricht er keine Wirkmächtigkeit (agency) zu, vielmehr waren sie bloße Vehikel für die göttliche Botschaft. »Im Diesseits gehört der Körper Gott. Die Zugehörigkeit erfordert eine binäre Logik bezüglich von Seele und Körper. Deshalb ist die Beziehung des muslimischen Subjekts zu seinem Körper eine repressive und verachtende; es ist 5 6

Le Breton 2008 Boutayeb 2014 S.56.

K APITEL 7 – DIE NACKTE A NGST | 273

eine von halluzinierender Angst begleitete Beziehung«, schreibt Boutayeb.7 Und weil der Körper Gott gehört, wird dieser Gott ihn verdammen, sagt Nadir, weil er seine besoins hat und diesen nachgeht. Wenn er bloß eine Frau hätte, würde ihn das vor der ewigen Verdammnis schützen. Die Worte des Europäers können ihm kein Trost sein, der versteht seine Schuldhaftigkeit nicht, denn es ist keine Schuldhaftigkeit vor den Menschen, wie die Europäer meinen, sondern eine vor Gott selbst. Im Islam ist »[d]ie Beziehung des Menschen zu Gott […] unbedingte Hingabe«8 und Unterwerfung – und nicht, wie der Europäer es zu verstehen vorgibt, eine Freundschaftsbeziehung. Denn »[d]er Jargon der Barmherzigkeit ist ein christlicher«9 – deshalb verfängt auch der Trost des Europäers, der auf den verstehenden Gott rekurriert, bei Nadir nicht. Das ist der entscheidende Unterschied. Gerhard und Nadir hatten sich auf einer Datingseite kennengelernt. Ich weiß nicht mehr, wer den Kontakt hergestellt hatte, aber ein erstes angesichtiges Treffen zwischen den Beiden fand unweit des Hauses am Fußballstadion statt. Sie hatten zuvor die Nummern ihrer Mobiltelefone ausgetauscht, denn Nadir wollte nicht, dass sie am vereinbarten Treffpunkt direkt miteinander reden. Vielmehr sollte Gerhard, wenn er ihn sähe, wieder in die Wohnung zurückgehen, er würde dann in einem Abstand von vielleicht 30 Metern folgen. Sprechen würden sie mithilfe der Telefone. Man würde ihn in dieser Gegend kennen und er wolle nicht mit einem Europäer gesehen werden – was die Leute dächten, wenn sie ihn mit dem blonden Europäer sähen, wäre ja wohl klar: ein junger Marokkaner, der mit Europäern geht, würde nicht nur ihre Freundschaft suchen, sondern Verruchtes. Das Motiv des ›mit Europäern Gehens‹ ist in Tanger wohl bekannt unter den Einheimischen, schließlich hat es eine fast 150 jährige Tradition: früher war es ein Zeichen des Aufstieges und war wohl angesehen – heute ist es Zeichen der Dekadenz und schlimmer noch: des Verbrechens gegen die Gesetze und gegen Gott. Obwohl es sowohl früher als auch heute häufig um dasselbe ging: Soziale Beziehungen mit und ohne Sex. Als sie zum Haus gelangen, ruft Gerhard Nadir an und sagt ihm, er müsse sich schon überwinden und mit ihm das Haus betreten. Schließlich gäbe es einen Hauswächter, und der habe ein wachsames Auge. Nadir bekommt Panik. Gerhard sagt zu ihm: schau, wir machen das folgendermaßen. Wir gehen zusammen laut redend auf das Haus zu, so als ob wir alte Bekannte wären. Wir werden über deine Mutter reden und ich spreche so mit dir, als sei sie eine Kollegin von Dieter und du der harmlose Sohn dieser Kollegin. Nadir meint, das sei eine gute Idee. Er 7 8 9

Boutayeb 2014 S.46. Boutayeb 2014 S.69. Boutayeb 2014 S.70.

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legt auf und Gerhard wartet an der Straßenecke, bis er zu ihm stößt und sie so wie verabredet sprechen. Der Hauswächter ist da, Gerhard grüßt ostentativ und tauscht Höflichkeiten in Anwesenheit von Nadir aus, so als ob es das Selbstverständlichste von der Welt sei.10 Nadir erzählt später, er sei sehr nervös gewesen. Nadir traut sich nicht, in das Haus einzutreten weil er Angst davor hat, dass die Nachbarn ihn sehen. Dass es jemand mitbekommt. An einem der Tage, die Nadir mit Gerhard verbringt, sage ich zu ihm: »Du hast mir deine Facebook-Seite geschickt, da steht, dass du dich für Männer und Frauen interessierst.« Er sagt: »Natürlich habe ich das geschrieben.« Ich: »Damit schreibst du, dass du dich sexuell für Männer und Frauen interessierst.« Er: »Nein, das habe ich geschrieben, weil ich mit beiden Kontakt haben will, da geht’s nicht um Sex.« Ich: »Doch, jeder wird denken du bist bisexuell.« Er: »Nein!« Ich: »Doch!« Er tat mir gegenüber so als habe er das nicht gewusst. Er wusste vermutlich, was er damit tat, aber später kann er das nicht akzeptieren und macht diese ›soziale‹ Geschichte daraus. Er spielte den Naiven. Er konnte es nicht verbalisieren. Was bedeutet das? Er lebt in einem System in dem er leidet und er fügt sich diesem. Es ist mir unwohl, über Nadir zu schreiben, so als ob er ein Fall wäre, den ich wie ein Insektenforscher seziere. Ich habe ihn als netten und vertrauenswürdigen jungen Mann kennengelernt, er war ein Urlaubsabenteuer für Gerhard, und ich hatte den Kontakt mit ihm auch nach der Abreise des Freundes weiter gepflegt. Ich schreibe aber dennoch über Nadir, weil er in seiner nackten Angst typisch ist für viele junge Tanjawis. Er lebt in einer totalitären Welt in der man ihm von Beginn an in der Schule vermittelt, dass er in der Hölle enden wird, wenn er sich Allah nicht gänzlich unterwerfe. Ein Freund, der Gymnasiallehrer ist, hatte mir gesagt, dass die Religionsstunden die einzigen Stunden seien, in der die Kinder zuhören und nicht unaufmerksam sind. Da herrsche eine totale Stille und der Lehrer erzählt ihnen von der Hölle. Und was die Menschen in der Hölle erwartet. Marokko ist ein Land, in dem es nur einen akzeptierten Lebensentwurf für einen Mann gibt: den mit einer Frau verheirateten Ehemann. Er muss sich unterwerfen und die religiösen Regeln einhalten. Ein anderes Modell gibt es nicht, das wäre eine Gefahr.11 Nimmt das westliche Subjekt »seinen Körper und 10 Feldforschungstagebuch 24.05.2013. 11 Deshalb existiert in Marokko keine Kenntnis von anderen Kulturen und Modellen. José sagt, das wäre auch verboten. Es ist verboten, eine andere Religion zu studieren. Vielleicht gibt es in einer Universität ein Institut – dort kann man dann schon etwas etwa über den jüdischen Glauben etwas lernen. José hat gelesen, dass man ausgewiesen werden kann, wenn man in Marokko einem Marokkaner eine Bibel schenkt. Und das, wo die Bibel doch auch im Koran anerkannt wird. Vgl. auch Dialmy 2009.

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seine Sexualität […] sich selbst wahr und seine Beziehung zu den anderen«, so duldet der »religiöse Diskurs [in der islamischen Kultur] […] diese Autonomie nicht, er verurteilt sie als Sünde, als Arroganz, als Akt der Auflehnung gegen die göttliche Macht.«12 Insofern ist es klar, dass Homosexualität im identitären Verständnis nicht vorgesehen ist. Nadir lebt mit einem tiefen Bedürfnis nach sexueller Erfüllung mit Männern. Ob er sich darüber hinaus tatsächlich auch von Frauen angezogen fühlt und somit das wäre, was wir im Westen als bisexuell bezeichnen, kann ich nicht bezeugen. Sein Bedürfnis nach Männern ist aber so stark, dass er massive Angst davor hat: vor der Verdammnis durch Gott, vor dem Entdecken durch Familie, Nachbarn, Freunde … Nadir überzeugen zu wollen wäre genauso übergriffig wie sein Versuch, die Europäer davon zu überzeugen, dass sie heiraten müssten, um gerettet zu werden. Nadir versucht seinen deutschen Freunden Gutes angedeihen zu lassen, und diese versuchen das ebenso. Sie können aber genauso wenig über ihre Schatten springen wie Nadir: beide Partien kommen trotz bester Absichten an ihre Grenzen. Für Nadir gibt es keinen anderen Weg als den, zu heiraten und ein schuldbeladenes Leben zu führen, im Verborgenen. Aus westlicher Sicht wird er unglücklich sein, seine Frau ebenso; sofern er nicht bisexuell ist. Aber: diese Interpretation geht von der Annahme aus, dass Ehe, sexuelle Identität und sexuelle Erfüllung aneinander gebunden sein sollen. Dabei ist dieses Modell auch im Westen weder historisch alt noch entspricht es irgendeiner biologischen oder naturalistischen Vorgabe. Warum also sollte Nadir nicht heiraten und seine besoins wie Generationen vor ihm in der arabischen Welt auch außerhalb der Ehe ausleben – mit wem auch immer? Wer die Reputation Tangers als dem ersten San Francisco der Moderne kennt wird sich fragen, wie aus der einstmals so freien Stadt Lebensverhältnisse entstehen können, die Männer wie Nadir in die Verzweiflung stürzen.

T ANGER

ALS

S EHNSUCHTSORT

»En el zoco de los chicos somnambulan los deseos [Im Zoco der Jungs schlafwandeln die Begierden (Wortspiel: Zoco Chico = Kleiner Markt/Zentum der Medina; chicos = 13

Jungs)]«

12 Boutayeb 2014 S.29-30. 13 Unbekannter Autor.

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Marokko als Ganzes,14 insbesondere aber Tanger selbst, haben eine lange Geschichte als sensuelle, emotionale und sexuelle Sehnsuchtsorte europäischer und nordamerikanischer Besucher. »Tangier was an especially attractive place for foreigners to rive during the postwar years because of its proximity to Europe and its long history of sexual tourism and intercultural exchange. Its residents were able to experiment with and even to invent forms of promiscuity that were not available elsewhere. A thriving economy of commercial sex ensured that sexual adventure was readily available to the wealthy in Tangier and that national, cultur15

al, and linguistic divisions were bridged through intimate physical contact.«

Dies betraf – vor allem in der Zeit der Internationalen Zone – den Umgang mit Homosexualität und mit heterosexueller Prostitution gleichermaßen. So sind »die Prostituierten Berberfrauen im Hohen Atlas Marokkos in das Leben der ländlichen 16

Gemeinden integriert. Schon für die Protektoratszeit wird festgestellt, dass Frauen mit loser Moral keineswegs unverheiratet bleiben und häufig auch angesehene Ehepartner finden. Auf den Märkten, die auch die unverheirateten Berberinnen geschminkt und mit ihren besten Kleidern besuchen, scheuen sie sich nicht, ihr sexuelles Interesse an potentiellen Partnern zu zeigen: es wird als normal angesehen, dass Mädchen ihre Erfahrungen sammeln, bis sie den Richtigen finden. Aber die Suche nach einem Ehemann und Prostitution hängen zusammen: ältere geschiedene Frauen und Witwen gehen sexuelle Bindungen ein, um einen neuen Ehemann zu finden. Es wird als selbstverständlich betrachtet, dass der Partner seine Frau finanziell unterstützt. Wird die Frau zu abhängig von ihrem Freund und gelingt es beiden nicht, eine Ehe einzugehen, dann endet sie häufig als Prostituierte. In der ländlichen Gegend von Ain Leuh im Berbergebiet Marokkos gingen 1990 zwischen 7 und 10% 17

der weiblichen Bevölkerung der Prostitution nach.

Vor allem für geschiedene Frauen ist

die Prostitution des eigenen Körpers, des der Tochter oder Schwester eine Haupteinnahmequelle. Die Autoren und Autorinnen des Sammelbandes Sexualtiés au Maghreb. Essais 18

d’Ethnographies Contemporaines

wenden sich gegen eine orientalistische oder kultur-

alistische Perspektive auf Sexualität im Maghreb, wonach sich diese entweder über die islamischen Texte dekodieren oder über eine maghrebinische Sexualkonstellation entschlüs14 15 16 17 18

Vgl. Houel (2013 S. 77) über die weite Verbreitung der Prostitution in Marokko. Mullins 2002 S.6. Qadery 2010. Venema 2004 S.54. http://www.siawi.org/article2188.html, http://anneemaghreb.revues.org/236.

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seln ließe. Diese Autoren suchen vielmehr nach den regionalen und lokalen Partikularitäten der Praxis, die es nicht erlauben, Schlüsse etwa auf die Rolle der Prostituierten im Ma19

ghreb zu ziehen.«

Vielmehr gilt es regionale und lokale Partikularitäten zu unterscheiden. Und auch wenn es heute in Tanger anders ist, so war es doch sehr lange eine Stadt mit solchen Partikularitäten. Für das Jahr 1923 und damit den Beginn der Zeit der Internationalen Zone von Tanger etwa wird bezeugt, dass Madame Simones École d’Amour »nur eines von 46 Bordellen der Stadt [war]. Es gibt käufliche Körper für jeden Geschmack: Frauen und junge Männer, dunkel und hellhäutig, Freudenhäuser für Christen, Muslime und Juden.«20 Heute ist heterosexuelle Prostitution in Tanger ein Phänomen, das von meinen Tanjawiinformanten mit einem Ausdruck von Abscheu mit den Zuwanderern aus Arobia, dem Süden, erklärt wird – so wie dies am Beispiel von Yassine in Kapitel 2 dargestellt wurde. Jenseits der Wahrnehmung der Prostitution als fremd scheint sie heute tatsächlich von den Zuwanderern dominiert zu werden.21 Tanjawis selbst würden so etwas nie tun, so der Brustton der Überzeugung meiner meist jungen Informanten. Entweder wollen Sie eine moralische Geographie wider besseres Wissen behaupten, um sich selbst auf der besseren, edleren Seite zu platzieren; oder aber sie verfügen nicht über das Wissen um die sexuelle Geschichte, die gerade ihre Stadt lange prägte. Ich vermute eher Ersteres, denn der Hafen als traditionelle Prostitutionsszenerie sowie die Existenz von Bordellen22 wie dem Orida in der Rue de Portugal und Anderen in der Rue de la Poste sind weithin bekannt. Gleichgeschlechtliche Sexualität ist ebenfalls lange und intensiv bezeugt. Als Homosexualität in Europa und den USA noch einen Straftatbestand darstellte, konnte man ihr in der internationalen Stadt Tanger weitgehend straflos nachgehen. Dies lag zum einen an der Rechtslage, zum anderen an der sensuellen und oftmals sexuellen Zugänglichkeit vieler junger Tanjawis. Gerade dies zog die vielzitierten Künstler, Wissenschaftler, Literaten und wohlhabenden Sprösslinge der Oberschichten in Scharen nach Tanger: Maréchal Louis-Hubert Lyautey, Caid McLean, Walter Harris, Eugène Delacroix, Edward Westermarck, Jean Genet, Paul und Jane Bowles, Joe Orton, Truman Capote, Allen Ginsberg, William Burroughs, Juan Goytisolo, David Herbert, Gore Vidal, Tennessee 19 20 21 22

Haller 2012. Magiera 2012. Corvest 2009 S.27. Smihi 2000-2005

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Williams, Malcolm Forbes, Roland Barthes, Yves Saint-Laurent. Sie legten in ihren Werken vielfältiges und beredtes Zeugnis über das sinnliche Leben in der Stadt ab.23 Vaidon24 schreibt: »Tanjawi boys, too, eagerly made themselves available by the hundreds, from ten years upward, and the police never tried to register them because there were too many. A Spanish-managed boys' brothel, well known to the police, did a good business, one of the comeons being a photograph album of youths at the beck and call of the place. You selected your companion from the photographs and within minutes the boy would be at your disposal.«

Erstaunlich ähnlich utilitaristisch porträtiert der Dokumentarfilm Mon beau petit cul des Schweizers Simon Bischoff25 die Beziehungen älterer europäischer Herren, die sich in Tanger auf Dauer niedergelassen haben, mit jungen einheimischen Männern. Weit davon entfernt, ein eindeutiges Ausbeutungsverhältnis zwischen alten Europäern und jungen Einheimischen abzubilden, zeichnet der Film eine vielschichtige und differenzierte Perspektive auf die Beziehungen. Die klassische romantische Liebe spielt dabei für die meisten porträtierten Europäer und Marokkaner kaum eine Rolle, Zuneigung und Fürsorge dagegen häufig schon. Für eine gewisse Zeit leben die jungen Männern als Gespielen und Angestellte in den Häusern der Europäer; wenn sie älter werden und sich eine Ehefrau suchen, ändert sich der Charakter der Beziehung und die Europäer unterstützen dann das junge Ehepaar – gewissermaßen als gute Onkel – finanziell, das sich wiederum um den Europäer kümmert. Es gibt viele literarische Texte über die marokkanischen Partner schwuler Europäer und Amerikaner in Tanger. Zumeist treten sie dort jedoch ausschließlich hinsichtlich ihrer körperlichen Vorzüge auf – nicht jedoch als Personen mit Seelen, Geschichten, Ängsten, Narben.26 Und auch nicht als Liebende, sondern vor allem eben als erotischer Partner. Als Ethnologe möchte ich jedoch Formen der Daseinsbewältigung nachspüren, mich interessieren die Lebenswege, die Wünsche, die Sehnsüchte und Probleme meiner Gegenüber – wenn ich über ihre körperlichen Vorzüge schreiben wollte, dann verlagerte ich meine Aktivitäten in das Genre der Reisepornographie. Darum aber geht es mir an dieser Stelle nicht, sie stehen nicht im Vordergrund dieses Kapitels.

23 24 25 26

Schmidtke 2000 S.379. Vaidon 1977 S.296. Bischoff 1997. Schmidtke 2000 S.399ff.

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Die gleichgeschlechtliche Zugänglichkeit der Einheimischen ist nicht ausschließlich eine Projektion westlicher Künstler und Schriftsteller, die sich in Tanger niedergelassen haben, so wie dies von Vertretern der Orientalismusthese oftmals nahegelegt wird. Schon der frühe Ethnograph Westermarck spricht davon, dass etwa Päderastie bei den nordmarokkanischen Gebirgsbewohnern »übermäßige Ausübung«27 erfahre, und »dass sich in manchen Gegenden Marokkos so ungemein viele Männer von ausgesprochener Verkehrtheit im Sinne der […] Befriedigung ihrer Geschlechtslust das eigene Geschlecht dem anderen vorziehen.«28 Der in französisch-Algerien geborene Journalist Houel schreibt 1911, dass gleichgeschlechtliche Sexualität unter Männern in Marokko üblich sei.29 Für die Kolonialadministration stellte sie ein weit verbreitetes und offensichtliches Problem dar, davon zeugen die Schriften französischer Kriminologen, Gerichtsmediziner und anderer Ärzte:30 »Einigkeit herrscht unter den Gerichtsmedizinern […] darüber, dass gegen dieses ›Laster‹ mit aller juristischen Strenge vorgegangen werden muss. [Der Leiter des Institut Pasteur in Tanger, Paul] Remlinger äußert gar die Befürchtung, das ›homosexuelle Laster‹ (le vice homosexuel), das wie alle Laster ansteckend sei, werde sich mehr und mehr unter den Europäern ausbreiten und begründet hiermit die Notwendigkeit, geeignete Maßnahmen zu 31

ergreifen, um dem vorzubeugen.«

Remlinger bezog sich dabei vermutlich auf eine gerade in der Medina Tangers weit verbreitete, nicht tabuisierte und übliche Einrichtung: die ma7alat. Ma7al ( ) bedeutet im Arabischen wörtlich nichts anders als Ort, in Tanger bezeichnet es jedoch eine private Lokalität (garçonnière), in denen Männer und Jungs miteinander feierten, ihre Siesta verbrachten und auch miteinander in puncto Liebe aktiv waren: emotional, erotisch und sexuell. Frauen wussten davon, es

27 28 29 30

Westermarck 1909 S.374. Vgl. auch Houel 2013 S.117ff. Westermarck 1909 S.375. Houel 2013 S.117. Vgl. Schmidtke 2000 S.392: »Die von den Verfassern mit Abscheu konstatierte weite Verbreitung zwischenmännlicher Sexualpraktiken (le mal / le vice homosexuel / cette degoftante pratique / ce hideux peche) sowie das fehlende Unrechtsbewußtsein seitens der einheimischen Bevölkerung werten sie als Indiz für den Verfall der Moral unter den Einheimischen und ihren niederen Charakter.« 31 Schmidtke 2000 S.393. Siehe auch Christian Houel (1911), der in seinem Buch L’Amour au Maroc schreibt: »S’il y a beaucoup de prostituées au Maroc, il y a encore davantage de sodomites.« (cit. in Jobin 2014).

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waren keine heimlichen Treffpunkte. In den ma7alat waren die Muslime jedoch unter sich.32 Mit den indigenen Geschlechtsrollenkonzepten sind oftmals spirituelle Kategorien verbunden. Es sei daran erinnert, dass im Umfeld des Glaubens an ǧnūn sexuelles Begehren oftmals mit deren Wirken erklärt wird, so wie ich dies in Kapitel 4 herausgearbeitet habe. In vielen Fällen gilt dieses Begehren als von außen verursacht, der Begehrende damit als besessen. So hängt der Kult um Aïsha Qandisha unmittelbar mit weiblichen Begierden zusammen. Der integrative Umgang mit den Geistwesen weist auch auf einen integrativen Umgang gleichgeschlechtlicher Begierden, so diese als von den ǧnūn kommend interpretiert werden, hin. Lokale Traditionen wie die ma7alat oder die Geschlechtertransgression im Glauben an die ǧnūn widersprechen der koranischen Konzeption von Homosexualität. Im Koran wird in der Geschichte von Lot auf bestimmte Formen gleichgeschlechtlicher Sexualität Bezug genommen.33 Liwat ist eine Ableitung des Namens ›Lut‹, der koranischen Version des biblischen Namens ›Lot‹ und wird in Wörterbüchern häufig als Übersetzung für den Begriff ›Homosexualität‹ angegeben. Über die Bedeutung des Wortes liwat gibt es aber unterschiedliche Auffassungen. Der tunesische Soziologe Abdelwahab Bouhdiba34 übersetzt liwat generell mit homosexualité, aber auch mit homosexuel. Aber in der arabischen Sprache gibt es, abgesehen von »modernen Kunstschöpfungen«35, keine exakte Entsprechung für die Termini ›Homosexualität‹ und ›Homosexueller‹. Denn »jedes Wort [bezieht sich] entweder auf zwischen-weibliches oder auf zwischenmännliches Verhalten oder Verlangen. Zweitens bezeichnet kein arabisches Wort 32 Feldforschungstagebuch 24.05.2015. 33 Lot sagt im Koran (7, 81): »Ihr gebt euch in Sinnenlust wahrhaftig mit Männern ab, statt mit Frauen.« und an anderer Stelle (29, 29): »Wollt ihr euch denn mit Männern abgeben...?« (Vgl. Schmitt 1985a S.11f). An anderer Stelle (4, 15-16) können wir lesen, daß die Anzeige einer solchen Obszönität vor Gericht nur erfolgen kann, wenn dafür vier Augenzeugen vorhanden sind (Rahman, 1987 S.120ff.) Ein Ankläger, der keine vier Augenzeugen beibringen kann, wird mit acht Peitschenhieben bestraft. Bei Rahman (1987 S.123) finden wir folgende Darstellung von Umars Gesetzgebung: »Adultery/fornication/homosexual intercourse was defined as the actual physical penetration, and to prove it four eye witnesses were required by law (the Qur'an had required four witnesses, not eye-witnesses).« Rechtsausleger beziehen diese beiden Suren sowohl auf heterosexuelle außereheliche als auch auf homosexuelle Beziehungen. Von anderen Interpretatoren wiederum wird angenommen, die beiden Suren bezögen sich zusätzlich auf Hurerei. 34 Bouhdiba 1986 S.44. 35 Schmitt 1985a S.11.

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ausschließlich jedes zwischen- männliche Verhalten oder jede zwischen-männliche Beziehungen oder zwischenmännliches Verlangen allgemein. Das ist so, wenn auch in den Wörterbüchern anderes steht«, schreibt der Islamwissenschaftler Schmitt. Er legt dar, dass liwat mit Homosexualität oder Päderastie übersetzt wird. »In der Tat jedoch bekam das Wort im klassischen Arabisch die Kernbedeutung ›Arschficken‹ oder lateinisch ›pedicatio‹ oder ›analgenitales Eindringen‹; meist bezieht sich das Wort auf die Penetration eines Knaben durch einen Mann; der Begriff schließt aber die Anal-Penetration von Männern und Frauen durch Männer ein. [...] Wenn man Araber, die Deutsch, Englisch oder Französisch sprechen, bittet, ›Homosexueller‹ zu übersetzen, so sagt fast jeder ein Wort, welches den Gefickten bezeichnet; ein Maghrebiner könnte z.B. ma'bun sagen, oder atai, was ›den-Arsch-Gebender‹ bedeutet, oder zamel, was sich von ›weich, zart‹ herleitet; im arabischen Osten hörte man eher manyak/manyuk, was ganz wörtlich ›Gefickter‹ heißt, oder hau’el, was ursprünglich mädchenhafte Berufstänzer bezeichnete«.36 Als penetrierbar gelten Frauen, Wahnsinnige, Kinder, Sklaven, Nichtmuslime, kurz: jeder Mensch, der nicht in die Kategorie des moslemischen Mannes fällt. »In der islamischen Gesellschaft ist das Geschlecht des Objekts jedenfalls nicht das wichtigste Merkmal der Einteilung, sondern die Rolle die im Akt eingenommen wird: penetriert man den Körper des Anderen, steckt man den Penis in dessen Anus, Vagina oder Os oder wird man penetriert, nimmt man den Penis auf. Die einen sind Männer, die anderen sind Nicht-Männer; dazu gehören neben Frauen und Mädchen, […] Eunuchen, Zwitter, Transvestiten und alle Gefickten.«37 Boutayeb38 schreibt über die Vormacht des Phallus: »Den Penis bzw. seine sexuelle Potenz zu verlieren, gleicht in einer penis-zentrischen Gesellschaft einem symbolischen Tod. Der Penis ist in dieser Gesellschaft eine ‚Kondensation von sexuellen, familiären und sozialen Fähigkeiten,39 er macht den Mann oder

36 Schmitt 1985a S.11-13. 37 Schmitt 1985a S.8. Vgl. auch Schmidtke 2000 S.386: »Im islamischen Kulturraum definiert sich die soziale Geschlechtskategorie eines Menschen nach der im geschlechtlichen Verkehr eingenommenen Rolle. Die Frage des biologischen Geschlechts des Sexualpartners ist hierbei unerheblich. Einem Mann, der im Geschlechtsverkehr mit einem männlichen Partner die dominante, aktive Rolle des Penetrierenden einnimmt, kommt die gleiche soziale Geschlechtskategorie zu wie einem Mann, der diese Rolle im Verkehr mit einer weiblichen Partnerin einnimmt. Aus Sicht eines solchen konventionellen Mannes stellen Frauen wie ›bartlose‹ Knaben (amrad, P1. murd) gleichermaßen begehrenswerte Sexualobjekte dar.«. 38 Boutayeb 2014 S.44. 39 Vgl. Khalaf/Gagnon 2006 S.117.

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seine Herrschaft aus.« Allerdings ist Tanger in dieser Hinsicht noch heute eine Ausnahme innerhalb Marokkos: der Soziologe Dialmy hat herausgefunden, dass einzig in Tanger die Meinung dominiere, auch penetrierte Homosexuelle verlören ihren Status als Mann nicht.40 Zu den Nicht-Männern gehören auch Knaben. Die Ethnologen Carlton Coon41 und Edward Westermarck42 etwa bezeugen die Verbreitung der Knabenprostitution im Rif. Tatsächlich konnte ich im Felde beobachten, wie über gleichgeschlechtliche Päderastie und Sex mit Nichtmuslimen gesprochen wurde. Man zeigt mir eine unvollendete Villa im Stadtviertel Mershan. Sie sei von einem Muslim gebaut worden, seit den 1940er Jahren. Das sei ein Pädophiler gewesen, aber das sei damals viel weniger problematisch gewesen als homosexuell zu sein, denn Jungs (Kinder) seien keine Männer gewesen, es sei daher kein Zeichen von Homosexualität und damit verwerflich gewesen, ›es‹ mit Jungs zu machen.43 Sowohl über die Sexualpartner bartloser Knaben44 als auch von männlichen Nichtmuslimen wurde mit einer gewissen Nachsicht gesprochen. Die Knabenliebe, so etwa Westermarck, sei in den muslimischen Ländern weit verbreitet.45 Die europäische Begrifflichkeit der Homosexualität lenkt den Blick auf den sexuellen Charakter einer Ausrichtung, einer Beziehung. Dabei ist diese sexuelle Komponente nicht immer und notwendigerweise an eine emotionale Ausrichtung auf das eigene Geschlecht gekoppelt (es gibt gleichgeschlechtliche Akte aus anderen Beweggründen), noch ist die emotionale Ausrichtung immer notwendigerweise an eine sexuelle Begierde gebunden. Beaumont46 etwa benutzt 40 Während etwa 42,37% der Tanjawis dieser Meinung sind, sind es in Agadir nur 31,71% und in der Hauptstadt Rabat gar nur 15,09%. Dialmy 2009, S. 62. 41 Coon »berichtet von Märkten im Rif-Gebirge, auf denen Knaben, die aus ihren Familien entführt wurden, als Sexualobjekte und Bedienstete feilgeboten werden« (Schmidtke 2000 S.395). 42 »[Westermarck] gibt an, unter den arabisch-sprechenden Bergbewohnern Marokkos werde eine Art päderastischer Initiation gepflegt, indem etwa Heilige andere durch Sexualkontakte an ihrer Baraka teilhaben lassen, oder indem homosexuelle Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern bzw. zwischen Handwerksmeistern und Lehrlingen Voraussetzung seien für den Lernerfolg der jeweiligen Schützlinge.« (Westermarck (1909 S.375) cit. in: Schmidtke 2000 S.395). 43 Feldforschungstagebuch 04.11.2013. 44 Vgl. Westermarck 1909 S.374; Schimmel 2014 S.54. 45 Westermarck 1909 S.375. 46 Beaumont 2010.

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dafür den Begriff der homosensualité, die in Marokko weit verbreitetet ist: die physische und affektive Sinnlichkeit zwischen Männern. Männer gehen manchmal Hand in Hand, Freunde legen den Kopf auf die Schultern eines Freundes, wenn Jungs zusammensitzen, umarmen sie sich häufig. Wüsste Beaumont von den ma7alat Tangers, dann führte er diese ebenfalls als Befunde auf. Von westlichen Besuchern wird dieses Verhalten häufig als Zeichen der Existenz schwuler Identitäten gedeutet.47 Diesem Argument möchte ich nicht folgen: Homosensualität hat nicht immer etwas mit homosexuellen Begierden und Handlungen oder gar Identitäten zu tun. Allerdings schafft die homosensuelle Sphäre, die die Welten von Männern und Frauen zwar scheidet (eine Überschreitung aber nicht unmöglich macht), einen Raum der Ambivalenz, in dem auch das Ausleben eines erotischen bzw. sexuellen Begehrens möglich ist, das bezogen auf das begehrte Objekt nicht eindeutig ist. Denn neben der Homosensualität und der Homosexualität als Identitätsangebot gibt noch sehr viel mehr Männer, denen es weitgehend egal ist, mit welchem Geschlecht sie Sex haben – es geht in erster Linie um die eigene persönliche Befriedigung. Dies steht für die Meisten im Vordergrund, nicht das Geschlecht des Gegenübers. Die homosoziale Welt ermöglicht es, dass dieser homosensuelle Impuls ausgelebt werden kann. Damit möchte ich weder sagen, dass die gleichgeschlechtlich aktiven Tanjawis eigentlich Heterosexuelle sind, die es eben mit Männern leichter haben; noch dass sie alle verkappte Homosexuelle sind. Viele sind eher dies: sensuell und sexuell. Was sagt uns die Erfahrung, dass jeder zweite Taxifahrer, jeder dritte Maurer oder Polizist sexuell zugänglich ist? Dass es um etwas anderes als um Geschlecht oder Identität geht. Dieses andere kann natürlich Geld oder die Erwartung eines anderen materiellen Vorteils sein, meistens geht es aber nur um dies: um das eigene Vergnügen, oder, um es mit pikiertem Wortschatz auszudrücken, um Triebabfuhr. Pasolini drückt dies treffend aus: »Einen Jugendlichen […] zum homosexuellen Verkehr zu bewegen, bedeutet nicht, ihn von der Heterosexualität abzubringen, Es gibt ein ›autonomes‹ Moment im sexuellen Leben, und das ist die Autoerotik, und zwar nicht nur im psychologischen, sondern auch im körperlichen Moment.«48 Die sozial-

47 Schmitt 1985a S.17. Hier unterscheiden sich die sexuelle und die sensuelle Praxis traditioneller islamischer Gesellschaften schon früh von christlichen Auffassungen. So unterscheidet sich die mittelalterliche orientalische Konzeption von Homosexualität deutlich von der inquisitorialen. Während in jener schon mollicies (Zärtlichkeiten) zwischen Männern Anlass zur Bestrafung sind, haben in dieser Intimitäten wie ›Händchenhalten‹, Streicheln und gegenseitige Masturbation nichts mit liwat zu tun. 48 Pasolini 1979 S.117.

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wissenschaftliche Fachliteratur spricht von ›sekundärer sexueller Entspannung‹.49 Dabei spielt es keine Rolle, ob derjenige, mit dem man ›es‹ macht, eine Frau oder ein Mann ist, auch wenn man es vielleicht mit Frauen lieber machen würde. Hier geht es um Verfügbarkeit – eines Partners und manchmal auch nur eines Raumes, in dem man ›es‹ machen kann – nicht so sehr um Profit oder Begehren. Paul Bowles spricht davon, dass das Konzept des Homosexuellen erst seit den 1950er Jahren an Boden gewonnen hat. »There never was such a concept at all before, but as it's become more urbanized, there has come up a younger generation which could be called homosexual, I suppose. They're all bisexual, but there are also now those who are very obviously homosexual, more than bi. But that's conditioning—15 years ago, it was taken for granted all over Morocco that anybody slept with anybody. No holds barred. But nowadays—I've asked, I've gone into it with them, and they say it's old-fashioned to be bisexual, because you can see on television 50

and in the films that there's no question of it; therefore it's out of style.«

Bowles benutzt hier den Begriff des Bisexuellen für die marokkanischen Geschlechtspraktiken. Nach meiner Auffassung aber wäre es falsch, diese Praktiken mit der Kategorie ›bisexuell‹ zu beschreiben, da dies an eine dezidierte Identität gebunden wäre. Ich bevorzuge es, vielmehr Begriffe wie Ungerichtetheit oder Orgasmusorientiertheit zu benutzen. Orgasmus ist Orgasmus.51 Liwat werden in mehreren Suren scharf verdammt. Gott habe die Welt in zwei sich notwendigerweise ergänzende Konzepte geteilt, nämlich die der Männlichkeit und der Weiblichkeit. Die Verbindung beider Konzepte (nafs) sei Wille Gottes. Der liwat verletze die antithetische Harmonie zwischen Mann und Frau und sei somit eine Revolte gegen Gott. »Plus qu’une dépravation, plus qu’une recherche d’un plaisir raffiné, l’homosexualité est contestation de l’ordre du monde tel que l’a voulu Dieu, et qui est fondé sur l’harmonie et la séparation radicale des sexes [Mehr als eine Entgleitung, mehr als die Suche nach einem raffinierten Vergnügen, ist die Homosexualität eine Herausforderung an die

49 Der Begriff der sekundären sexuellen Entspannungsmöglichkeit (secondary sexual release) ist Whitam & Mathy (1986) entnommen. Die Autoren bezeichnen damit die vor allem in Lateinamerika und im Mittelmeergebiet verbreitete Praxis, Verkehr mit emisch als homosexuell gewerteten Personen als Möglichkeit der sexuellen Entladung für ›richtige Männer‹ anzubieten, wenn Frauen nicht zur Verfügung stehen. 50 Rogers 1974. 51 Vgl. Beaumont 2010, Beispiel Samir.

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Ordnung der Welt, so wie Gott sie gewollt hat. Diese basiert auf der Harmonie und der radikalen Trennung der Geschlechter].«52 Nun wissen Ethnologen, dass zwischen Dogmatik und gelebter Praxis unterschieden werden muss. Es wäre unseriös, die koranische Konzeption auf die tatsächliche Praxis oder den Umgang konkreter islamischer Gesellschaften […] zu übertragen. Der Islam ist Religion vieler Völker und Kulturen mit verschiedenen Traditionen. In seinem Buch La Sexualité en Islam vermutet Bouhdiba53 – Remlinger und Westermarck darin nicht unähnlich – dass die rigide Verdammung der Homosexualität durch den Islam eine Reaktion auf deren hartnäckige Permanenz in der Praxis sei. Auch unterscheidet Bouhdiba die rechtliche Einheit des Islam einerseits von der Vielfalt lokaler Traditionen des Glaubens und andererseits von der Praxis.54 Diese Vielfalt zeigt sich auch in der unterschiedlichen Konzeption der Homosexualität in den verschiedenen islamischen Weltgegenden. Im islamischen Iran des Ayatollah Chomeini wurde jede Form der Homosexualität mit dem Tode bestraft, in Ägypten steht Sex mit Jungen und Mädchen unter 16 Jahren unter Strafe. Im Oman ist eine bestimmte homosexuelle Rolle, die des xanith, institutionalisiert.55 In Marokko herrschte einmal Gleichgültigkeit gegenüber dem penetrierenden Partner im homosexuellen Akt, aber Verachtung gegenüber dem Penetrierten.56 In einer ersten Zusammenfassung lässt sich mit Schmitt57 sagen, dass die klassischen Klassifikationsachsen bezüglich sexueller Identität nicht – wie im Abendland – über das Geschlecht des Sexualobjekts verlaufen, sondern über die Rolle, die im Akt eingenommen wird. Wer die im gleichgeschlechtlichen Akt die aktive Rolle einnimmt, riskiert seinen Ruf als Mann nicht. Allerdings wird von ihm erwartet, dass er seinen sozialen und religiösen Pflichten nachkommt, sprich: 52 Bouhdiba 1986 S.46. 53 Bouhdiba 1986 S.245. 54 Bouhdiba spricht etwa von einem arabischen Islam, einem malayischen Islam, einem jemenitischen Islam usw. 55 Wikans (1977) Forschung in Sohar, einer Stadt im Norden des Oman, stellt die Existenz von drei statt zwei Geschlechtern (gender) fest: Männer, Frauen und xaniths. Xaniths sind männliche transsexuelle Prostituierte, die weibliche Kleidung und weibliche Gesten annehmen; der männliche Freier wird generell nicht als homosexuell angesehen. Der xanith kann jedoch heiraten und so in die Kategorie der Männer überwechseln. Transsexualität bedeutet bei Wikan nicht etwa ein Wechsel des biologischen Geschlechts (sex) – etwa durch chirurgische oder hormonelle Eingriffe – wie es der Begriff nahelegte, sondern sie bezeichnet damit einen Wechsel des kulturellen Geschlechts (gender) durch Transvestitismus. 56 Westermarck 1909 S.1090. 57 Schmitt 1985a.

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verheiratet ist, für Nachwuchs sorgt und sich in der Öffentlichkeit diskret verhält.58 Die sexuellen Phantasien der Europäer, die indigenen Sexualkonzeptionen, die sozialen Räume der ma7alat und die spirituelle Begründung von Begierden bilden für Tanger ein Amalgamat, das gleichgeschlechtliche Sinnlichkeit und Sexualität zwischen Männern begünstigte und die Stadt zum ersten San Francisco der Moderne werden ließ, wie mir viele Informanten bezeugten. Ich möchte dieses Amalgamat als ›alte Moralpraxis‹ bezeichnen, denn sie bezog sich sowohl auf die moralische Bewertung der homosensuellen und homosexuellen Praxis, als auch auf die sensuellen und sexuellen Praktiken selbst. Diese goldene Zeit der alten Moralpraxis war zum Teil – was die rechtliche Situation und die Präsenz von Europäern betrifft – an das Regime der Internationalen Zone gebunden, zum Teil war sie jedoch unabhängig davon. Es endete mit der Eingliederung Tangers in den neuen Nationalstaat Marokko im Jahr 1956 vorerst brüsk: schon »1958 gingen die Behörden kurzzeitig massiv gegen die homosexuelle Subkultur Tangers vor. Dies veranlasste den größten Teil der homosexuellen Ausländer, die Stadt für immer 59

zu verlassen.«

In den Folgejahren jedoch scheint sich die Situation wieder entspannt zu haben. Ich kann nicht erkennen, wann die Pönalisierung gleichgeschlechtlichen Verhaltens auf der Alltagsebene einsetzte; Schmidtke60 setzt den Zeitpunkt der langsamen, aber stetigen Verschlechterung der Situation auf die 1970er Jahre an. In dieser Zeit verschwanden etwa die ma7alat.

D IE M ODERNISIERUNG

DER

G ESCHLECHTLICHKEIT

Marokko galt aufgrund der vorab dargelegten Umstände lange als ein Ausnahmefall in der islamischen Welt und aus der Perspektive des Westens als paradig58 Dass diese Situation durchaus lustverstärkend wirken kann, kommt nicht nur in folgendem Zitat zum Ausdruck: »S’il assume son orientation sexuelle, ce jeune de l’autre bord ne l’affiche pas devant tout le monde: ›Je préfère que ce soit discret, sinon ça perd de son charme‹. [Wenn er seine sexuelle Orientierung annimmt, dann wird ihn der andere Junge niemals vor allen anderen ansprechen. ›Ich ziehe die Diskretion vor, sonst verliert das seinen Zauber.‹]« Picard 2009 S.30. 59 Schmidtke 2000 S.407; Siehe auch Finlayson 1992 S.307ff. 60 Schmidtke 2000 S.407.

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matisch-sinnliche Region. Aber auch dieses muslimische Land hebt sich nicht mehr so sinnenfroh von den sexuellen Moralitäten anderer islamischer Weltgegenden ab wie früher. So ist Sexualität zwischen Männern heute ein Straftatbestand des marokkanischen Strafgesetzbuches (Artikel 489) und wird mit bis zu 3 Jahren Haftstrafe geahndet. Verschiedene Entwicklungen trugen dazu bei, jenseits der rechtlichen Situation auch die alte Moralpraxis in den Folgejahren zu transformieren. Dies hat sicherlich mit drei Entwicklungen zu tun, die Homosexualität als soziales Phänomen auf globaler Ebene betreffen: Einerseits haben sich die kolonialen Haltungen zu Sexualität, wie sie beispielsweise von Remlinger zum Ausdruck gebracht wurden, auf die einheimischen Gepflogenheiten ausgewirkt und westliche Identitätskonzeptionen in den arabischen Raum transportiert.61 Der westliche Konsumimperialismus der schwulen Touristen, wie Schmidtke62 dies nennt, ist eine zweite relevante Entwicklung. »Die überproportionale Visibilität westlicher Homosexueller in den diversen Homosexuellenkolonien Nordafrikas sowie in anderen Gebieten des islamischen Raums, gepaart mit der wachsenden Visibilität Homosexueller im Westen seit den Emanzipationsbemühungen Mitte der 1960er Jahre und der damit einhergehenden Entkriminalisierung von Homosexualität hat dem islamistischen Diskurs ein glaubhaftes Indiz für die vermeintliche Dekadenz des Westens an die Hand gegeben. Hieraus wird der Vorwurf abgeleitet, Homosexualität – und in jüngster Zeit auch AIDS – seien, sofern sie im islamischen Raum vorkommen, Importe aus dem dekadenten Westen.« Dieser Diskurs schließt an den antiwestlichen Diskurs der 1970er Jahre an, als man Syphilis und andere Geschlechtskrankheiten als westlichen Einflüssen geschuldet markierte. Drittens wurden mit der Entdeckung der islamischen Welt als einem Hauptgegner des Westens nach dem Zerfall des Eisernen Vorhanges alte kulturelle Differenzen und Stereotype zwischen dem Westen und der islamischen Welt zusätzlich akzeleriert und politisiert. Homosexualität ist hier für beide Seiten ein Schlüsselsymbol im Abgrenzungskampf geworden. Dies hat auch tiefere historische Ursachen: als arabische Denker im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert nach den Gründen für den Niedergang der islamischen Welt suchten, wurde die im Vergleich zu Europa lockere Sexualmoral verantwortlich

61 »Cependant, comme l’a montré Joseph Massad (2007), à partir de la période coloniale, les pays islamiques ont commencé à utiliser certaines catégories occidentales de la sexualité, notamment la dichotomie hétérosexuel/homosexuel.« Rebucini 2011. 62 Schmidtke 2000 S.410.

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gemacht.63 Die Gründung der Muslimbruderschaft im Jahre 1928 in der ägyptischen Stadt Ismailia steht unmittelbar damit in Verbindung. »In deren Gründungsprogramm wird explizit darauf verwiesen, die ägyptische Jugend vor den korrumpierenden Auswirkungen des europäischen Milieus, insbesondere vor Alkohol und Prostitution zu schützen. Der Muslimbruderschaft galt es nicht nur, ein politisches Programm gegen die politische Ordnung des Kolonialismus aufzustellen, sondern darüber hinaus die ›fremden‹ Lebensweisen der NichtMuslime und der durch die Europäer korrumpierten modernen Muslime zurückzuweisen.«64 Seither haben sich die Sexualmoralitäten aber verkehrt: der Westen ist liberaler, der islamische Welt ist prüder geworden. Im Westen werden heute die Rechte der Homosexuellen oftmals diskursiv als edelster Ausweis von Demokratie zur Selbstbeschreibung bemüht (und in der Auseinandersetzung auch mit anderen Weltgegenden – Russland, Iran, Zimbabwe – eingesetzt); in der islamischen Welt dagegen wird Homosexualität als Symbol für die Verkommenheit und Dekadenz des westlichen Lebensstiles gebrandmarkt.65 In diesen durchaus plausiblen Erklärungen werden, wie so häufig in der Postkolonialismusdebatte, die Einflüsse der islamischen Dogmatik und die des Westens oder zumindest die Bezüglichkeiten zur Dogmatik und zum Westen thematisiert. In Abrede gestellt werden dabei Bezüglichkeiten lokaler Traditionen, die erstens anders sind als die der islamischen Dogmatik, und zweitens weitgehend unabhängig sind von westlichen Einflüssen. Gerade in Tanger ist das bedeutsam: zwar wird in der Bezeichnung der Stadt als schwulem Mekka, ja als erstem San Francisco, aus heutiger postkolonialer Perspektive das homosexuelle Begehren auf die amerikanischen und europäischen Besucher reduziert. Dieser ideologisch verengte Blick wird aber den Traditionen der Stadt nicht gerecht. Denn dass ›weiße‹ Besucher Tanger immer wieder aufsuchten, um sich sexuell zu befreien, bedeutet nicht, dass die ma7alat, die Präferenz für Knabenliebe, die Transgressionen im ǧnūn-Glauben und die Homosensualität der marokkanischen Männer ausschließlich ein Produkt weißer Phantasien wäre und sich damit auf koloniale Gelüste und Machtbeziehungen reduzieren ließe, so wie Edward Said und seine Adepten dies behaupten würden.66 Vielmehr handelt es sich um weitgehend innermuslimische Traditionen. 63 64 65 66

El Feki 2013 S.41ff. Haller 2012. Feldforschungstagebuch. Vgl. Ben Jelloun 2009 Leaving Tangier: A Novel. Penguin Books S.131, cit. in Walonen 2011 S.23. »In our country the zamel is the other guy, the European tourist, never

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Unter die Räder kommen in so einem Umfeld heute nicht nur traditionellere Formen der gleichgeschlechtlichen Sinnlichkeit, sondern auch andere, vormals unverdächtige Sinnlichkeiten. Ein 15-jähriger Schüler und seine 14-jährige Freundin aus Nador wurden im Oktober 2013 von der Polizei festgenommen, »weil sie ein Kussfoto von sich auf Facebook veröffentlichten. […] Wegen ›Erregung öffentlichen Ärgernisses‹ lautete die offizielle Begründung für die Festnahme, die […] bereits am Donnerstag erfolgt war. Marokkanischen Medienberichten zufolge ist auch der 15-jährige Freund des Pärchens, der das Foto geschossen hatte, verhaftet worden. […] Das Handeln der marokkanischen Polizei erzürnte jedoch viele Bürger – möglicherweise steht den Behörden jetzt weiterer Ärger ins Haus: Aus Solidarität mit den Inhaftierten gab es vor dem Gefängnis eine Mahnwache, bei der die Freilassung des Paares gefordert wurde. Zudem veröffentlichten inzwischen zahlreiche jugendliche Facebook-Nutzer ebenfalls Fotos, die sie beim Küssen zeigen.«67 Auch in der Stadt Tanger selbst werden die Verhältnisse immer rigider, prüder, gefährlicher. Nicht nur – wie mich viele wohlmeinende Seelen warnten – schwule Ausländer stehen in Gefahr, sondern auch Einheimische.68 Der christliche Tanjawi José verzweifelt daran. Für ihn lässt sich die schwindende Toleranz oder gar Akzeptanz gegen Gleichgeschlechtliches nicht nur in der muslimischen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch in der jüdischen Gemeinde Tangers feststellen. So wird im jüdischen Altenheim Raquel Soudry, die berühmteste Lesbierin Tangers aus der Zeit der Internationalen Zone und überall nur als ›Carlitos‹ bekannt, wegen ihrer Homosexualität misshandelt.69 the Moroccan, and no one ever talks about it but it’s not true, we’re like all the other countries [in terms of the range of sexual acts and roles that are performed], except we keep quiet about those things. We’re not the kind to go on TV to admit we like men«. 67 Feldforschungstagebuch 05.10.2013; N.N. 2013d. 68 Chankou 2001; N.N., 2014e. 69 »Era un personaje en tanger. no hay un verdadero tangerino que no la cconoce, todos la conocen. se aceptaba. ella era asi y punto. para la gente ella era asi un travesty. pero la gente se burlaba, era el arquetipo de la homexual. es decir que se decia por ejemplo esta es como carlito. u otro carlito.: era la referencia. la lesbiana mas famosa porque no se ocultaba. se vestia como un hombre. se sentia hombre. [...] cuando aun habia los europeos, cuando era jovencita, ellla llevaba siempre una chaqueta de cuero negro. y una pulsera de plata como un hombre. se parecia a un hombre en todo. [Sie war eine Persönlichkeit in Tanger. Es gibt keinen echter Tangerino, der sie nicht kennt.

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Bei meinem Besuch im jüdischen Altenheim wird mir vom Präsidenten der jüdischen Gemeinde, der mich durch das Haus führt, ›Carlitos‹ vorgestellt. Sie sei eine Lesbe und wohne seit 20 Jahren im Altenheim. Mit der sei nicht gut Kirschen essen, meint der Präsident abschätzig. Sie habe Depressionen, sei halb dement und nicht gut zu Fuß. Diese Frau habe viele Probleme verursacht. Sie wohnte im oberen Stock und habe mit einer einfachen Frau aus Tetuán – beide wohnten früher im Untergeschoss des Heims – eine lesbische Beziehung aufgebaut. Manchmal hätten sie zusammen die Nacht verbracht. Da müsse man natürlich einen Riegel vorschieben, sowas gehe gar nicht, meint der Präsident. Er habe dann dafür gesorgt, dass Carlitos nur noch oben bleibe und die andere nur noch unten. Er sei in ihr Zimmer gegangen, habe sie zur Rede gestellt und ihr einen Kopfstoß gegeben – er reckt seinen Kopf so vor wie einstmals Zinédine Zidane im Finale der Fußball-WM 2006 gegen den italienischen Spieler Marco Materazzi. Die Stirn angeknallt, um ihr zu zeigen, was hier geht und was nicht. Und er habe sie geschlagen. Die Frau sei sehr gefährlich, eines Tages habe sie randaliert und weil die Schwestern ihrer nicht mehr Herr wurden, sei er – der Präsident – in ihr Zimmer gegangen. Dann habe sie ein Messer genommen und ihn an der Wange verletzt. Es sei keine große Wunde gewesen, aber geblutet habe es doch. Dann habe man sie in nach Bni Mekkada [die Psychiatrische Klinik] gebracht. Niemand wollte die Sorge um Carlitos übernehmen, auch das spanische Konsulat nicht, obwohl sie spanische Bürgerin sei und eine spanische Pension bekommt. Da sie Jüdin sei, habe man sie dann hier aufgenommen. Nachdem sie randaliert habe, habe er selbst in einem der leeren Zimmer eine Metallgittertüre angebracht, dahinter habe man sie dann eingesperrt. Das komme im Altenheim normalerweise sehr selten vor. Er zeigt mir diese Tür, die sich zwei, drei Zimmer von Carlitos’ Zimmer entfernt befindet. Wir gehen bei Carlitos vorbei und der Präsident betritt ihr Zimmer. Mir sagt er, ich solle sie nur von der Türe aus anschauen, diesen ›richtige Kerl‹, aber nicht mit ihr reden, sie sei sehr gefährlich. Ich fühle mich ganz schrecklich, dass diese Frau wie ein Tier vorgeführt wird. Der Präsident sagte: warum grüßt du uns nicht, sag doch Alle kennen sie. Sie wurde akzeptiert, so war sie halt und Schluss. Für die Leute war sie eben so, eine Travesti. Aber die Leute amüsierten sich, sie war der Archetyp der Lesbe. Damit will ich sagen, dass man beispielsweise sagte, ›Du bist wie Carlitos‹ oder ›ein anderer Carlitos‹. Sie war der Bezugspunkt, die berühmteste Lesbe, weil sie sich nicht versteckte, sie kleidete sich wie ein Mann, sie fühlte sich als Mann. […] als es noch Europäer gab, als sie noch jung war, trug sie ein Jackett aus schwarzem Leder, einen Armreif aus Silber wie ein Mann. Sie war in allem wie ein Mann.]« Feldforschungstagebuch 22.12.2013.

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guten Tag, was ist heute wieder mit dir los? Er war sehr barsch zu ihr. Die arme Frau wand sich sichtlich unangenehm in ihrem Sessel.70 Die Problematisierung des Sinnlichen wird von meinem Informanten José, dem spanischen Tanjawi, beklagt. Als Jahrgang 1962 kennt er die Veränderungen von Tanger, die ihn an manchen Tagen verzweifeln lassen. Der ›Fall Carlitos‹ ist für ihn nur ein Beispiel dafür, an dem sich seine Verzweiflung und Wut über die Veränderung seiner Stadt ins Negative kristallisiert. Im Fall Carlitos kennt José die Beteiligten seit seiner Kindheit gut: »Leute wie dieser Präsident sind Idioten, brutos [Grobiane] und catetos [Hinterwäldler], die wären aufgrund des Zerfalls der jüdischen Gemeinde in Positionen gekommen, die sie früher niemals bekommen hätten. Das ist ein treffendes Beispiel dafür, wie heruntergekommen die Moral heute in Tanger ist; früher wäre das nie möglich gewesen. In Israel ist sowas auch nicht möglich. Die gebildeten Juden sind alle weggezogen, es gab früher viele Schwule aus den besseren Schichten der jüdischen Gemeinde, in der Familie Pimienta zum Beispiel, oder Momy Nahon und andere. Mit solchen Leuten hätte sich der Präsident sicherlich nie angelegt, aber mit einer Jüdin aus armem Hause wie Carlitos traut er sich das 71

eben.«

Das Beispiel von Carlitos entstammt zwar der jüdischen Gemeinde und ist auch auf die spezifische Situation zurückzuführen, dass diese nicht mehr von gebildeten und kultivierten Mitgliedern geprägt sei. Für José stehen diese Entwicklungen aber im Zusammenhang mit der Verrohung der Gesamtgesellschaft, die zunehmend verarme, verrohe, von Perspektivlosigkeit geprägt sei und sich mehr und mehr auf enge Weise islamisiere. José erzählt eine Begebenheit neulich vom Strand. Er habe sich mit einem Jungen unterhalten, da sei ein Polizist gekommen und meinte, was sie denn zu reden hätten. José wird zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, aggressiv und meint, er habe den Polizisten angeschrien, was das seine Sache sei und er solle sich trollen, sonst würde er ihn anzeigen. Der Polizist sei daraufhin gegangen, aber drei Bärtige [Islamisten] standen dabei und meinten, sie wüssten, was er hier mache, sie seien aus Frankreich und man werde ihn schon noch bekommen. José habe Angst, denn diese Leute würden einfach Menschen töten. Er habe zu ihnen gesagt, wenn sie Franzosen seien, würden sie hier ein Verbrechen begehen und wenn man sie erwische, dann helfe es auch nicht, wenn sie sich 70 Feldforschungstagebuch 19.12.2013. 71 Feldforschungstagebuch 20.12.2013.

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vor dem Gericht die Bärte rasierten und sich unschuldig gäben. Er habe aber so viel Angst gehabt, dass er schnell das Terrain verlassen habe, denn mit diesen Leuten ließe sich nicht spaßen. Ein spanischer Lehrer, der schwul gewesen sei, sei in seiner Nachbarschaft umgebracht worden, nicht von den Nachbarn, sondern von den Bärtigen. Es sei höllisch gefährlich hier.72 José ist verbittert und hat klare Ansichten über den Islam, den er heute erlebt: So wie es der Homosexualität geh, so gehe es auch anderen konkurrierenden Entwürfen oder Praktiken: Frauen die sich befreien wollen, der Konsum von Alkohol, öffentliche Tanzveranstaltungen... Homosexualität sei nur die beste und sichtbarste Form, in der sich alles kristallisiert. »Was ist zum Bespiel aus den Transvestiten in Tanger geworden? Es gibt keine mehr. La Moni, die Flamenco getanzt hat, wurde von Islamisten umgebracht. Jemand wie [die Almodóvar-Schauspielerin] Bibi Andersen, die ja von hier stammt, ist drüben in Spanien – mein schwedischer Zahnarzt hat mir erzählt, dass die Andersen früher in seinem Warte73

zimmer Flamenco getanzt hat«, sagt José.

José verknüpft dies mit ›dem Islam‹. In ihm gebe es kein Bewusstsein über die Notwendigkeit der Entfaltung der Persönlichkeit, alles sei auf Unterordnung ausgelegt. Das werde schon physisch eingeübt durch den – für ihn – Unterwerfung ausdrückenden Akt des Betens. »Wenn der Tag in 5 Gebete eingeteilt ist, dann bist du den ganzen Tag damit beschäftigt. Ich habe einen Freund, wenn man ihn anruft ist er am Beten oder vor dem Beten, er hat keine Zeit zum Essen.« Es sei nicht möglich zu denken und zu kritisieren. Denn Denken sei eine Gefahr. Wer denke, stelle eine Gefahr dar. »Wann starben die Götter der Griechen? Als die Menschen anfingen zu denken. Als man sah, dass die griechischen Götter Geschichten waren, aber keine Realität. Die Muslime sind submissiv unter den Koran und wenn sie etwas denken oder fühlen, was dem Koran nicht entspricht, weil es harām ist, dann müssen sie das abspalten. Sie müssen gehorchen, beten, das Grab muss einfach sein. Dieses Leben zählt nicht, sondern was zählt ist das Sterben, ist die Ewigkeit.« »In der Jugend leben die Leute, sie trinken, lieben – aber mit einem schrecklichen Schuldgefühl. Dann, langsam durch den sozialen Druck, geben 72 Feldforschungstagebuch 28.07.2013. 73 Feldforschungstagebuch 29.04.2013.

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sie das langsam auf. Bis zu dem Punkt, dass sie das, was sie getan haben, negieren. Die, die in den Bars saufen, sind keine Trinker, sondern das sind Alkoholiker, Kranke, die den Alkohol nicht lassen können. Weil sie krank sind, auch durch die Gesellschaft, denn eine der Möglichkeiten der Gesellschaft zu entfliehen ist der Alkohol. Eine Möglichkeit der Transgression. Eine Form der Rebellion. Wer trinkt und das zugibt sagt damit auch: ich bin ein Rebell. Und in einer armen Gesellschaft, in der Antidepressiva nicht verfügbar sind, ist Alkohol eine der Möglichkeiten, die man sich leisten kann. Wenn man einen Betrunkenen sieht und dann jemand fragt, ob der Alkoholiker sei, sagt der: der hat Probleme. Denn wer ein Problem hat, auch wenn es nur vorübergehend ist, geht in die Bar und betrinkt sich.«74 José redet sich in Rage. An manchen Tagen kann er seiner ätzenden Bitterkeit nicht entkommen. Vorfälle wie die Kenntnis von Carlitos’ Schicksal, die Begegnung mit den Bärtigen am Strand und der Schändung des christlichen Friedhofes im April 2014, bei der um die 80 Gräber75 zerstört wurden76 – unter anderem Gräber seiner Familienangehörigen – haben ihn tiefgreifend traumatisiert: »Das kann nicht die Tat von ein paar Betrunkenen gewesen sein, wie es die örtliche Presse nahelegt. Das ist Profanierung, auch wenn der Erzbischof um des Friedens mit den marokkanischen Autoritäten Willens das Gegenteil behauptet.« José fühlt sich zunehmend umstellt von einem verengenden Lebensstil, er fühlt sich zunehmend heimatloser in seiner Heimatstadt, die er zu behalten versucht, indem er sich leidenschaftlich ihrer Geschichte zuwendet. Andererseits gibt es Tage, an denen er zärtlich nicht nur vom vergangenen Tanger seiner Kindheit, sondern auch von dem der Gegenwart spricht. Wenn er sagt, dass Tanger noch immer gewisse douceur de vivre besitze, die die Stadt von anderen marokkanischen Städten unterscheidet. José: »queda […] une certaine douceur de vivre peut etre. les conflits sont moins violents ou virulentes que dans d'autres lieux.77 [Es bleibt vielleicht

74 75 76 77

Feldforschungstagebuch 29.04.2013. Die Angaben schwanken zwischen 60 und 100 Gräbern. N.N. 2014d. Feldforschungstagebuch 27.12.2013.

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dennoch eine gewisse Leichtigkeit des Lebens. Die Konflikte hier sind nicht so gewalttätig oder virulent wie in anderen Orten (Marokkos).]« Im Vergleich zu Casablanca und zu Rabat sei die Straßenkriminalität in Tanger gering, die Stadt sei noch immer mediterran geprägt, eine gewisse Offenheit gegenüber dem Fremden sei noch immer zu spüren. Und die Jungs seien noch immer zugänglicher als in anderen Gegenden des Landes. Aber auch wenn José vor gut 50 Jahren in Tanger geboren wurde, dort aufwuchs und dann zum Studium nach Spanien ging, bevor er wieder in die Heimat zurückkam: er ist ein Europäer und begreift sich der Aufklärung und der Befreiung des Individuums verhaftet. Seine Haltung zur Freiheit des Individuums hat ihn, wie er sagt, schon früher von der seiner muslimischen Gefährten aus Kindheit und Jugend getrennt. Aber die Tanjawis von damals, so seine Version, genossen dennoch das leichte Leben, die Freiheiten und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, die Tanger im Gegensatz zu anderen Städten des heutigen Marokko genoss. Heute, unter der Regierung der islamistischen Partei von Premierminister Benkirane und dem zunehmendem Einfluss salafistischer Strömungen insbesondere wahhabitischer Provenienz, die ich schon im Kapitel 4 diskutiert habe, verenge sich auch die gesellschaftliche Haltung zu individuellen Freiheiten. Wahrscheinlich greifen diese Erklärungen aber nicht zur Gänze: die Modernisierung unter salafistischen Vorzeichen ist sicherlich ein bedeutender Einfluss auf die Verprüderisierung der marokkanischen Gesellschaft. Nicht vergessen werden darf aber auch die konsumkapitalistische Modernisierung nicht, die die Entstehung einer neuen Mittelklasse mit neuen Werten begünstigt: beide Modernisierungsformen reichen sich gewissermaßen die Hände, indem sie entsagungsvolle, auf die heterosexuelle Kleinfamilie zugeschnittene Konsumund Moralwerte befördern – ähnlich der Umformung der Gesellschaft Süditaliens in den 1950er und 1960er Jahren: »Die Massen […] sind zu einer noch zusätzlichen Verschärfung ihrer Angst verdammt: wenn sie sie jedoch nicht hatten (wie in Rom, in Süditalien, Sizilien, in den arabischen Ländern), dann sind sie sogleich bereit, die traditionelle Toleranz des Volkes zu verleugnen und die Intoleranz jener neuen, künstlich geformten Masse anzunehmen […]«78. Diese ›künstlich geformte Masse‹ ist für Pasolini das Resultat der konsumistischen Modernisierung: sie produziert »Paarbeziehungen und [ist darauf angelegt] (heterosexuelle) Bedürfnisse zu multiplizieren, [sie] schafft ganz zwangsläufig die Gier nach Konsumgütern«79. 78 Pasolini 1979 S.119. 79 Pasolini 1979 S.118.

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Pasolini verweist hier auf den Prozess der Verdrängung der populären Toleranz gegenüber homosexuellem Verhalten im volkstümlichen Süditalien durch die Herausbildung einer neuen, auf Konsum ausgerichteten Unter- und Mittelklasse, die ihre Wurzeln (nämlich die jenseits der Reduktion auf die heterosexuelle Paarbeziehung beruhenden sozialen Bindekräfte) verloren hat. Was Pasolini insbesondere auf das Süditalien der Nachkriegszeit bezieht, lässt sich heute mühelos auf die clases populares in Marokko übertragen, deren traditionell legerer Umgang mit Homosexualität einer Verabscheuung durch die neuen, auf heterosexuelle Paardyaden ausgerichteten marokkanischen Konsumklassen gewichen ist.

W AS

WEISS DENN SCHON DIE

E THNOLOGIE ….

Was vermag ein Ethnologe eigentlich darüber zu vermelden, was Einheimische in ihrer Liebesbeziehung und/oder beim Sex miteinander machen?80 Die rationalistische Vorstellung von Natur als etwas Gegebenem, dass es ohne kulturelle Brille und nur durch die Mittel der Vernunft zu erkennen und zu erfassen gelte, haben so unterschiedliche Arbeiten wie die Sperlings (1997) über die Primatologie oder Viveiros de Castros (2004) über den indianischen Perspektivismus widerlegt. Heute mag es im akademischen Rahmen selbstverständlich sein, Geschlecht und Geschlechtlichkeit als kulturell geprägt zu betrachten. Feministische und queere Ansätze in den Kulturwissenschaften haben dies bis zur Neige ausformuliert. Dass Gesundheit und Krankheit und manchmal sogar die vorgeblich natürlichen Krankheitssymptome selbst immer auch kulturgebunden sind, weiß man ebenfalls und spätestens durch die Ethnomedizin der 1950er Jahre.81 Auch die Einsicht darin, dass Körper kulturell geprägt sind und sich in Körpern kulturelle Werte und Normen zu habitualisieren vermögen, ist dank Marcel Mauss und Pierre Bourdieu eine der großen – aber bereits alten – Erkenntnisse. Gleiches gilt, und das möchte ich mit diesem Text ebenfalls zeigen, für die Körperlichkeit des Sexes. Sich der Sexualität in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive zu nähern, ist zwar ebenfalls keine neue Entwicklung; diese Sicht hatte aber lange keinen maßgeblichen Einfluss auf die Disziplinen. In den 1930er Jahren forderte

80 Die folgenden Passagen habe ich wörtlich aus meinem Text Die Mediterranée als Sehnsuchtsraum: Phantasien und Praktiken des Sexuellen übernommen (Haller 2012). 81 Vgl. Drobec 1955.

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Hirschfeld – allerdings vergeblich – eine dezidierte Sexualethnologie ein.82 Diese hatte es für eine kurze Zeit mit der von Friedrich Salomon Kraus herausgegeben Zeitschrift Anthropopyteia bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben. Obwohl zum Mitarbeiterstab der Zeitschrift bedeutende Größen wie Karl von den Steinen, Franz Boas und Giuseppe Pitrè gehörten, fand das Interesse an Sexualität im Zentrum des Faches kaum Gehör. Und schon zuvor untersuchte der finnische Ethnologe und Soziologe Edward Westermarck menschliche Sexualität. In seiner Doktorarbeit wandte er sich gegen die Annahme der sexuellen Promiskuität als Verhaltensnorm in der Urgesellschaft. Später forschte er über Sexualität in Marokko. In seinem Buch The Origins of Sexual Modesty (1921) interpretierte er sexuelle Scham als Nebenprodukt der evolutionären Anpassung, nämlich der natürlichen Aversion gegen Inzest. Westermarck und Hirschfeld hatten kaum Einfluss auf den Umgang der Ethnologie mit Sexualität. Angestoßen durch psychologische und psychiatrische Arbeiten83 wandten sich erst ab den 1960er Jahren wieder Ethnologen der Sexualität zu. Es handelte sich vor allem um Forschungen über Homosexualität, Transvestitismus und ›Dritte Geschlechter‹. Diese wichen von einer als fraglos angenommenen sexuellen Norm ab und erschienen rund um den Globus in so vielfältigen kulturellen Erscheinungsformen wie den nordamerikanischen Berdache84 bzw. Two-Spirits,85 der indischen hijra,86 der pakistanischen khusra,87 der albanischen sworn virgins,88 den xanith des Oman89 und den mahus von Tahiti,90 dass man sie als erklärungsbedürftig betrachtete. Lange wandte man sich diesen Phänomenen v.a. im Kulturvergleich zu.91 Auch jenseits dieser als Gay and Lesbian Studies markierten Forschungen – in der Anthropology of Women und angestoßen durch die feministische Ethnologie – beschäftigte man sich zunehmend mit Geschlechterrollen und Identitäten. In all diesen Studien ging es aber vor allem um Identitäten, Rollen, Macht- und Dominanzverhältnisse in ihrer kulturellen Prägung und weniger um sexuelle Praktiken.

82 83 84 85 86 87 88 89 90 91

Hirschfeld 2006. Opler 1980; Hooker 1965. Z.B. Callender; Kochems 1983. Lang 1990, 1994; Carocci 1997. Nanda 1985. Pfeffer 1995. Grémaux 1996; Young 2000. Wikan 1977. Levy 1971. Ford & Beach 1968; Churchill 1968; Klein 1974; Fitzgerald 1977; Davis & Whitten 1987.

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Wenn sich die Ethnologie darauf besinnt, dass sie auch über eine kulturhistorische Tradition verfügen, dann eröffnet sich – gerade für den Mittelmeerraum – zusätzlich eine Unzahl weiterer Quellen, aus denen geschöpft werden kann: Artefakte, historische Dokumente jeglichen Genres, religiöse und juristische Quellen, Poesie, Literatur und Malerei. Der Frage was Ethnologen durch Sex mit natives erfahren, widmet sich Stephen Murray in seinem Text Male Homosexuality in Guatemala: Possible Insights and Certain Confusions from Sleeping with the Natives. Er stellt heraus, dass Ethnologen die Intimität der natives mit den Fremden, mit der Intimität verwechseln, die natives untereinander erleben.92 Murray hebt hervor, dass Fremde den Einheimischen, die Sex mit ihnen haben, häufig die Möglichkeit der Transgression bieten, gerade jenseits der heimischen Üblichkeiten zu experimentieren. Sex zwischen natives und Fremden verweist also häufig gerade nicht auf die ›sexual role flexibility‹ der fremden Kultur. Denn beide Partner befinden sich vielleicht außerhalb ihrer eigenen Kultur, was Murray als ›(liminal) interculture‹ bezeichnet. Der Fremde nimmt dann an, er partizipiere an der fremden Sexualkultur, dabei tut er gerade das nicht. Denn die natives tun vielleicht, was sie glauben, dass der Fremde erwartet, und der Fremde tut, was er glaubt dass die natives erwarten. Nachkoitale Gespräche mit jemandem von außerhalb der lokalen Hackordnung sind, so Bolton93, eher ehrlich, weil man eher sicher sein kann, dass der Fremde wieder geht und nichts verrät. Der postkoitale Raum ist ein ›safe space‹. Auch mögen Fremde gerne vergessen, dass natives Sex auch aus anderen Gründen durchführen als nur aus Begehren und Vorlieben – nämlich wegen upward mobility, wegen erhoffter Kontakte, wegen erwarteter Gegenleistungen. Oder bloßer Neugier. Murrays Schlussfolgerung: Sex mit natives ist kein Königsweg, um in deren Sexualitäten Einsicht zu gewinnen. Ich selbst bin geneigt Murray zuzustimmen: ein Königsweg ist dies bestimmt nicht. Wenn man sich aber über ein Jahr im Feld aufhält und mit vielen Einheimischen – auch mit denen, mit denen man gelegentlich die Bettstatt teilte – die vielfältigsten sozialen Beziehungen pflegt, die sozialen Netzwerke teilt und Konversationen auch auf dem Markt, am Küchentisch, im Café, bei der Arbeit geführt wird, dann kann man sicherlich mehr über das erfahren, was Einheimische mit Einheimischen anstellen, als wenn sie ausschließlich im safe space des postkoitalen Deliriums stattfindet.

92 Murray 1996 S.236-260. 93 Bolton 1992.

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Wie kann man etwas über gleichgeschlechtliche Praktiken unter Einheimischer erfahren, wenn man selbst nicht dabei ist? Indirekten Zugang können Ethnologen gewinnen, wenn sie Literatur als Selbstzeugnisse lesen, wenn sie den Raum analysieren und wenn sie den Diskursen lauschen, die im Feld über Sexualität gepflegt werden. Was die literarischen Selbstzeugnisse von Marokkanern, die sich gleichgeschlechtlich betätigen, betrifft, so möchte ich mich als Ethnologe weitgehend zurückhalten. Schmidtke hat die »Romane und Erzählungen Mrabets, Layachis und Choukris, die alle drei aus ländlichen Verhältnissen stammen« analysiert. »Sie geben aus ihrer Sicht Auskunft über homosexuelle Beziehungen zwischen Ausländern und Marokkanern sowie über gleichgeschlechtliche Verhaltensmuster innerhalb der marokkanischen Gesellschaft. In dieser gegenüber den westlichen literarischen Zeugnissen spiegelbildlichen Verkehrung der Perspektive bestätigen sich viele der Merkmale, die aufgrund der literarischen Zeugnisse der Ausländer als kennzeichnend für ihre homosexuellen Beziehungen mit Einheimischen identifiziert wur94

den.«

In Guatemala, so Murray, es gibt kaum einen Ort, an dem man Sex haben und dabei verweilen kann. Auch in Marokko und sogar in Tanger ist dies kaum möglich: man wohnt bei der Familie, selten lebt Jemand alleine, und wenn er dies tut, so hat die Nachbarschaft ein wachsames Auge auf die Besucherschaft. Folgendes Gespräch mit Nawfel, der sich mit seinem italienischen Chatpartner treffen möchte, verdeutlicht das Dilemma:95 D.H.: il etait a Essaouira? [War er in Essaouira?] Nawfel: non il es on itaie [Nein er ist in Italien] D.H.: ah ok. mais il veut venir? [Ah ok. Aber möchte er kommen?] Nawfel: oui. donc il atend que je lui donne date presis pour que il reserve avnat [Ja. Also wartet er bis ich ihm die genauen Daten sage. Damit er schon mal reserviert] D.H.: ooooh bien. Il doit louer un appartement de vacances, alors c est possible de le visiter sans le regard des gardiens [Ahh gut. Er muss eine Ferienwohnung mieten, dann ist es möglich ihn zu besuchen, ohne dass Wächter darauf achten] Nawfel: oui il veu cherche maison meuble par internet [Ja er möchte eine möblierte Wohnung übers Internet suchen] D.H.: ah super. il te plait? [Ah klasse. Gefällt er Dir?] 94 Schmidtke 2000 S.402. 95 Feldforschungstagebuch 16.11.2013

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Nawfel: oui [Ja] D.H.: oooooh super [Ooh klasse] Nawfel: surtout pour le sex [Vor allem für den sex] D.H.: quand il va venir, ton fantasme italien? [Wann wird er den kommen, deine italienische Begierde] Nawfel: j ai pa doner acord encors [Ich habe ihm noch nicht mein Einverständnis gegeben] D.H.: pq? tu ne veux pas vraiment? [Warum? Magst du ihn in Wirklichkeit gar nicht treffen?] Nawfel: il a preposer venir dans ville tou pret de moi. et je peu venir le voir chaque nuit apres tarvail. comme rabat [Er hat vorgeschlagen, in ein Dorf nahebei zu kommen. Und ich kann ihn jede Nacht nach der Arbeit besuchen. Wie Tabat.] D.H.: wow, bien ;)Ca serait une bonne idee, non? mais pq tu as pas donne accord? [wow, gut. Das wäre eine tolle Idee. Aber warum hast du ihm dein Einverständnis noch nicht gegeben?] Nawfel: habitulement je dors tou le temps a la maison. je vais dir qoi a mes parent de mon absebece la nuit [Normalerweise schlafe ich jede Nacht zuhause. Was werde ich meinen Eltern sagen, wenn ich nachts nicht daheim bin?] D.H.: que tu visites une pute? c est plus acceptable? [Dass du eine Nutte besuchst? Ist das eher akzeptabel?] Nawfel: nonplus ca [Gar nicht] D.H.: ou il peut venir quand tu as vacances et voyages a autre ville quelques jours pour vacancee... [Oder er kommt wenn du Ferien hast und du reist dann einigen Tagen in eine andere Stadt] D.H.: et le encontres a lui? [Und du triffst ihn dann dort?] Nawfel: si j ai peu avoir vancanses [Ja wenn ich Ferien haben könnte] D.H.: hmmm. tu as un ami a autre ville et peux officiellement le visiter – mais etre avec le italien? [Hmmm. Hast du einen Freund in einer anderen Stadt, den du offiziell besuchen könntest …. In Wirklichkeit aber den Italiener besuchst?] Nawfel: nonnnnn. j ai ami que j ai vesite dernier fois a safi [Nein. Ich habe einen Freund den ich das letzte Mal in Safi besuchte] D.H.: tu le peux ›utiliser‹ comme excuse de voyage? ou bien, ca veut dire ne le pas voir pour la nuit, mais dans l apres midi ou le soir seulement. ca c est aussi pas mal, non? [Kannst Du ihn als Vorwand für eine Reise benutzen? Oder, [den Italiener] nicht in der Nacht zu besuchen, sondern bloß am Nachmittag oder am Abend? Das ist doch auch nicht schlecht, oder?] Nawfel: je veu paser la nuit avec [Ich will aber die Nacht mit ihm verbringen]

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D.H.: ok.... hmmm. j ai pas plus des dees comment faire .... :( des idees [Ok…. Hm, ich habe keine anderen Ideen mehr, was du machen könntest…] Nawfel: laiser au temps [Man wird sehen mit der Zeit] D.H.: ou tu peux avoir des choses officiels a Rabat. Ou de travail... comme excuse. et pour cela reste a rabat pour la nuit? pardon, mes idees ne sont pas tres bien... [Oder du kannst offiziell etwas in Rabat zu erledigen haben. Oder für die Arbeit… Als Ausrede- Und dann nachts in Rabat bleiben? Entschuldige, meine Ideen sind nicht so toll… ] Es gibt in Essaouira und in Tanger keine schwulen Lokale. Aber es gibt Örtlichkeiten, wo Schwule cruisen, und auch Örtlichkeiten, an denen man Sex miteinander haben kann. Zugegeben, gecruist wird in Tanger fast überall auf den Straßen und in den Cafés. Ähnliches schreibt Rebucini96 über Marrakech.97 Allerdings gibt es in Marrakech wie in Tanger Straßenzüge, Plätze und Ecken, die massiver frequentiert werden als andere. Um sie zu schützen, werde ich sie in diesem Text nicht identifizieren. Nawfels Dilemma mit dem italienischen Freund weist darauf hin, dass es selten geschützte Räume gibt, in denen man sich privat als sexuelles und als liebendes Paar entfalten kann. Die meisten Marokkaner leben allseits und ständig von Familie, Nachbarn und Freunden beäugt. Zusammen mit Familie oder Geschwistern in derselben Wohnung. Fremde Partner sind schon aus diesem Grunde privilegiert und werden von vielen bevorzugt: meist wohnen sie in einem eigenen Appartement oder, wenn sie sich länger in Tanger niederlassen, im eigenen Haus – ohne familiären Anhang. Und sie sind nicht in die lokalen Netzwerke eingebunden. Manche Paare gehen, wenn sie es sich leisten können, in ein Stundenhotel, wo die Concierges für ein Trinkgeld die Augen zudrücken; Taxis, öffentliche

96 Rebucini 2011 97 »Les espaces de rencontre et de séduction à Marrakech sont généralement des espaces publics qui ne se différencient guère des espaces occupés principalement par les hommes. De fait, les lieux publics au Maroc sont des lieux à prééminence masculin – et les grandes villes comme Marrakech ne font pas exception. Les femmes n’en sont pas exclues mais en ont un usage différent. En règle générale, si elles ne sont pas en famille ou accompagnées d’un homme, les femmes restent discrètes dans l’espace public urbain qu’elles traversent plus qu’elles n’occupent. Les hommes, au contraire, sont présents de façon massive et constante au sein d’un espace public qu’ils s’approprient. À Marrakech, les rues, les places et dans une moindre mesure les jardins sont donc des lieux façonnés par le genre masculin. Jour et nuit, les hommes les traversent, les occupent, y font la sieste, s’y retrouvent ou y observent les passants.«.

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Duschen, abgelegene Ecken am Strand, Baugelände und tagsüber die meist leeren Obergeschosse von Cafés sind Orte des schnellen Vergnügens, nicht aber des liebevollen Kennenlernens. Sex zwischen Einheimischen kann zum Problem werden, wenn die Partner im selben Ort wohnen und der eine etwas vom anderen weiß, und das möglichweise Dritten verraten würde. Nadirs Angst, mit Gerhard gesehen zu werden, legt beredtes Zeugnis hiervon ab. Bei Fremden kann man eher sicher sein, dass sie dem sozialen Umfeld nichts ›verraten‹. Das schreibt Murray über Guatemala. Für Tanger kann ich das ebenso bezeugen. Was meine Informanten mir generell über ›die Marokkaner‹ erzählt haben und was ich im Kapitel 5 über den Hafen ausgebreitet habe, trifft auf die gleichgeschlechtlich Aktiven in komprimierter Form natürlich noch mehr zu: man misstraut den Anderen, nicht nur weil man von ihnen ausgenutzt werden würde, sondern weil sie einen zusätzlich ›verraten‹ könnten. Faysal (*1990) sagt, man könne Marokkanern nicht vertrauen, sie würden viel klatschen, reden, reden, reden. Alle würden alles wissen wollen, deshalb müsse man sehr diskret sein. Das findet er schrecklich, deshalb fängt er nichts mit Marokkanern an: damit sie nichts weitererzählen. Wir verabschieden uns. Als ich wenig später in der Stadt bin und die Rue de la Liberté hochgehe, sehe ich, wie Faysal eine Patisserie betritt, und wir nicken uns unmerklich zu. Er war ja erst vorhin bei mir zuhause, nun ist wieder alles discret. Als er den Laden verlässt, schauen wir durcheinander durch. Dann schicke ihm eine SMS: je suis discret, pas de problème ;) [Ich bin verschwiegen, keine Sorge ;)]98 Discrétion ist das Schlüsselwort, das immer wieder fällt und zum Verständnis von Homosexualität in Marokko unbedingt erforderlich ist. Diskretion bedeutet: die Rolle des normkonformen Mannes zu spielen; etwa nicht von anderen Marokkanern gesehen zu werden, wenn man ein fremdes Haus betritt; in der Öffentlichkeit auf den Hintern von Frauen zu stieren; in den Chaträumen des Internet sein Gesicht nicht zu zeigen. Man nennt das discrétion, und es ist das Einverständnis, soziale Normen nicht zu brechen. Aber oftmals – sicherlich nicht immer – ist es wie bei Nadir pure Angst und Verzweiflung. Ich erzähle einem heterosexuellen Freund davon, dass auf den schwulen Chatforen in Deutschland die meisten Teilnehmer mit Porträtfoto abgebildet seien, hier in Marokko jedoch zu 90% ohne. Man beschreibt sich selbst als 98 Feldforschungstagebuch 03.01.2014.

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discret und man sucht einen diskreten Partner. Und dass dort alle behaupten, sie seien bisexuell und aktiv. Wenn man dann zweimal jemanden im geschützten Privatraum getroffen habe, seien viele darauf aus, dass man sie dominiert, denn sie seien passiv, wollten das aber durch nach außen getragene Männlichkeit überdecken. Mein heterosexueller Freund sagt, so habe er sich das immer vorgestellt, genauso.99 Gar nicht diskret ist der fast 30-jährige Ibrahim, er hat einen guten Job in der Zone Franche am Flughafen bei einem spanischen Unternehmen und er wohnt mit seiner Mutter und den Geschwistern in einem Altstadtviertel, wo ihn Jedermann kennt und er sich zu Europäern setzt und mit ihnen flirtet. In der Rue de la Liberté greift mir jemand an die Schulter und sagt »Hallo Dieter«. Schreckhaft drehe ich mich um, es ist Ibrahim. Er sagt: komm wir gehen ein wenig spazieren, ich zeige dir, wie ich Leute anmache. Ich sage: ok. Wir gehen zusammen die Rue de la Liberté hoch. Er sagt, er gehe nicht ins [immer wieder literarisch als schwuler Treffpunkt porträtierte] Café de Paris, da säßen zwar viele ausländische Tunten, aber auch viele Polizisten und Geheimdienstleute. Komisch, denke ich mir, ich habe ihn da schon ab und zu gesehen. Ich sage: Polizisten und Geheimdienst sind überall, auch in deinem Viertel. Er sagt: ja, aber in meinem Viertel kennt man sich gegenseitig: Viele, die dort arbeiten, machten es auch mit Männern, auch wenn alle dort verheiratet sind.

E RKLÄRUNGSVERSUCHE »No me mires con esta mirada que no se decirte no. [Schau mich nicht an mit diesem 100

Blick/ ich weiß dann nicht wie ich Dir Nein sagen kann.]«

Heute wird die Zugänglichkeit von Männern im arabischen Raum allgemein und in Tanger im Speziellen für gleichgeschlechtlichen Sex häufig auf zweierlei Weise erklärt: Als Möglichkeit, zu profitieren, etwa Geld zu machen; diese Erklärung ist marktorientiert, sie bietet gleichgeschlechtliche Sexualität im postkolonialen Kontext als Ware für die Fremden dar;101 99 Feldforschungstagebuch 16.11.2013. 100 Unbekannter Autor.

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Als Überbleibsel der bereits weiter oben vorgestellten kulturspezifischen Geschlechtsrollenkonzeption,102 die sich von der westlichen Erklärungsform, der nach dem biologischen Geschlecht des begehrten Partners in Homo- und Heterosexuell differenziert, d.h. das Begehren an distinkte Identitäten bindet, unterscheidet. Diese kulturspezifische Erklärung differenziert nicht nach dem Geschlecht des Sexualpartners, sondern entweder a) nach der Position innerhalb des Geschlechtsaktes aktiv/passiv) oder b) nach der homosensuellen Nähe, die auch Sexuelles ermöglicht, dieses aber nicht in den Mittelpunkt stellt; einen ebenfalls traditionell marokkanischen, die die Sexualität den Übergang zwischen Jugendlichen und Erwachsenen markiert. Der spanische Besucher Miguel erzählt, dass er nach einem sexuellen Treffen mit einem Einheimischen von diesem gebeten wurde, ihm 500 Dh zu geben, seine Mutter sei im Krankenhaus und er sei arm. Miguel interpretiert dies folgendermaßen: sein Partner ist tatsächlich schwul (d.h. er hatte Spaß am Sex mit Männern), er möchte sich aber vor dieser Erkenntnis dadurch schützen, dass er hinterher ein Geschenk einfordert oder eben eine Unterstützung für die Medikamente der kranke Mutter. Damit, so Miguel, würden sie vor sich selbst rechtfertigen, dass sie nicht schwul sind, sondern es wegen eines Vorteils machen – was sich dann einigermaßen rechtfertigen lässt. Würden sie das Geld vorher einfordern, dann wäre es wie Prostitution; und so möchten sie ja nicht sein.103 Auch wenn diese Interpretation sicherlich manchmal den Kern treffen mag, so wäre ihre Verallgemeinerung eine – im Übrigen von Europäern häufig durchgeführten – Reduzierung des Phänomens auf das psychologische Moment. Miguel geht davon aus, dass es einen Wesenskern gebe, der im Inneren des Menschen stecke und der sich nach außen tragen, sich befreien muss, um glücklich zu leben. Wie könnte es anders sein, in Spanien selbst ist das ja auch so. Diese Geschichte eröffnet aber auch noch eine zweite Interpretation: Miguel nimmt an, dass sein marokkanisches Gegenüber sich mit der Gabe von Geld nicht als prostituierend, sondern als leidend placiert und somit den sexuellen Kontakt als Notlage definiert; damit wäre er auf zweierlei Weise vom Haken: er wäre weder ein Prostituierter noch ein Schwuler, sondern einfach ein Mann, der arm ist und Bedürfnisse hat. Doch wie sieht es mit Miguel selbst aus? Er akzeptiert diese 101 Vgl. Dialmy 2009, S. 60. 102 Schmidtke 2000 S.379. 103 Feldforschungstagebuch 29.05.2013.

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Positionierung und gibt dann das Geld. Dadurch placiert sich Miguel selbst auch außerhalb des prostitutiven Rahmens: die Geschichte des Marokkaners gibt ihm Gelegenheit, sich selbst nicht als Freier zu sehen – was Miguel zweifellos würde, geschähe ihm diese Begegnung in Spanien. Diese gegenseitige Entlastung knüpft an historische Beziehungsmuster an, denn Tanger hat eine lange Geschichte homosexueller Beziehungen, in denen die Gabe eine zentrale Rolle einnimmt: Sex gegen Geld oder Geschenke. Denn die Tanjawis sind arm und die Fremden reich. Gerade Bowles zeichnet für Tanger ein lakonisches Bild davon, was geschieht, wenn westliche Phantasien und einheimische Körper aufeinandertreffen. In seinem Buch Sheltering Sky entpuppt sich der Sex des amerikanischen Protagonisten Port mit einer einheimischen Prostituierten als schmutziges Geschäft, die Beziehung seiner Frau Kit mit einem einheimischen Tuareg als sprachlos desillusionierte Zwangsbegegnung, die keinen Raum für Romantik lässt. Auch der anfangs von Bowles geförderte Mohamed Choukri, 1935 im RifGebirge geboren, beschreibt in Das nackte Brot seine eigene sexuelle Karriere als Stricher mit europäischen Männern, pragmatisch und ungeschminkt realistisch, bar jeder romantischen Note. »Genitalia take up as much space as cheap restaurants and are treated with the same open, precise and shameless interest,« schreibt Al-Ahram in ihrem Nachruf auf den Schriftsteller.104 Der Spanier Miguel befindet sich wie die Kunden Choukris im Zwangsgehäuse der Identität: wer mit Männern schläft, der muss das auch mögen – selbst wenn er es für Geld macht. Es fällt ihm schwer zu denken, dass er als aufgeklärter Europäer für Sex bezahlt und dass es vielleicht er selbst ist, der seine Identität als befreiter Schwuler dadurch schützen muss, dass er seine Gabe von 500 Dh als Hilfe der Linderung eines einheimischen Identitätskonfliktes umdeutet. Tanger ist eine Stadt der Armen, und viele Menschen brauchen Geld. Sex mit einem bedürftigen Europäer ist kein Vergehen und eine leichte Möglichkeit, sich etwas zu verdienen. Ein anderer Erklärungsversuch betont Folgendes: Weil Frauen für Sex schwer zugänglich seien, betätigten sich viele Männer gleichgeschlechtlich. Westermarck etwa spricht davon, dass kulturell determinierte Homosexualität durch »dem normalen Verkehr ungünstigen Umstände« begünstigt werde.105 Dieser Ansatz ist 104 Al-Ahram Online 2003. 105 Westermarck (1909 S.372ff.) nennt »die Abneigung der jungverheirateten Ehepaare gegen zu viele Kinder«, den »Mangel an Personen des anderen Geschlechts«, etwa den »Mangel an erreichbaren Weibern«, die »Abschließung der Weiber«, »einem hohen Grade weiblicher Keuschheit«, »die erzwungene Ehelosigkeit der Mönche und

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heteronormativ und geht ebenfalls von einem identitären Wesenskern – allerdings von einem heterosexuellen – aus, der sich nicht entfalten kann, weil Frauen abgetrennt seien von der männlichen Sphäre und schwer zugänglich. Mann-männlicher Sex wäre hier eine Notlösung, ein Ersatz für das eigentlich Gewünschte. Die nichtzugänglichen Frauen werden als Ursache für homosexuelles Verhalten gesehen. Ich möchte das Argument umdrehen und argumentiere stattdessen, dass mann-männlicher Sex nicht Folge, sondern Ursache für die Geschlechtertrennung ist. Denn sehen wir es einmal so: in Tanger waren Frauen offiziell im muslimischen Bereich nicht zugänglich und sind es heute auch nicht: es gilt die Reinheit der Frau zu bewahren und nur dem künftigen Ehemann, sie zu besitzen. Das ist die Norm. Die Praxis war aber in der Zonenzeit und ist auch noch heute sehr komplex, viele Frauen waren damals zugänglich und sind es noch heute: Prostituierte,106 Christinnen und Jüdinnen damals, heute zeugen alleinerziehende Mütter und viele Prostituierte davon, dass – wenn man will – ein Zugangsverbot zu Frauen in der Realität durchaus umgangen wurde – und wird. Natürlich finden wir in der schwulen Welt Tangers tatsächlich auch Männer, die nicht an Frauen herankommen, weil sie zu arm, zu hässlich, zu gehemmt oder zu ungeschickt sind. Diese versuchen mitunter, über den Umweg der Schwulen die Geschlechtertrennung zu überwinden: Cybermen, ein schwules Datingportal: Hier begegne ich oft Männern, die mich anschreiben und mich fragen, ob ich verheiratet sei oder eine Frau habe. Wenn ich mich als Europäer zu erkennen gebe, werde ich oft mit folgenden Ansinnen konfrontiert: Sie suchen einen Mann, der die ›femme‹ im Bett spielt oder aber sich Damenwäsche anzieht. Manchmal bin ich nicht ehrlich auf den Seiten des Portals und behaupte, ich wäre mit einer Frau verheiratet. Wenn ich dies mache, dann werde ich nahezu immer gefragt, ob ich mich meinem Chatpartner zusammen mit meiner Frau zur Verfügung stellen würde. Häufig erfahre ich Phantasien, die entweder darauf abzielen, dass mein Partner mich vor den Augen meiner Frau dominieren will, oder aber meine Frau vor meinen Augen. Das sind sehr verbreitete Phantasien.107 Ich nehme an, dass die Bezeichnung eines Partners als femme vor allem auf ein Sprachproblem zurückzuführen ist: viele Schwule suchen einen passiven Mann, Priester«, »die Unbildung und Eintönigkeit der Frauen« und »eine militärische Lebensweise«. Für all diese Erklärungen bietet Westermarck Beispiele aus jeweils unterschiedlichen Kulturen. Ähnlich argumentiert Carrier 1980. 106 Smihi 2000-2005. 107 Feldforschungstagebuch 10.10.2013

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wissen aber nicht, wie sie dies auf Französisch ausdrücken sollen (das ist auch mein Sprachproblem, denn ich chatte in dieser Sprache, nicht auf Darija). Wenn die Damenwäsche ins Spiel kommt, dann spielt hier sicherlich die Lust an der Transgression eine zentrale Rolle: ein Mann als Frau bedeutet einen doppelten Tabubruch und für Viele wahrscheinlich einen potenzierten Lustgewinn; Andere mögen darin eine Möglichkeit sehen, ihr Begehren nach einem Mann durch den Verweis auf Damenwäsche vor sich selbst zu kaschieren, gewissermaßen zu heterosexualisieren. Wieder andere vielleicht stehen lieber auf einen Mann in Frauenkleidern als dass sie gar keine Frau abbekommen. Die häufigen Phantasien, einen Europäer vor seiner Frau oder seine Frau vor seinen Augen zu dominieren, kann eine postkoloniale Verarbeitungsstrategie sein: endlich Weiße zu demütigen. Sie kann zweitens aber auch Ausdruck von dem sein, was wir in Europa als Bisexualität bezeichnen. Sie kann schließlich auch eine Strategie sein, über den Umweg ›Homo‹ überhaupt an eine Frau heranzukommen. Trotz dieser Beobachtungen finden und fanden sich in Tanger viele Männer, die weder aus finanziellen Erwägungen noch aus sexueller Not heraus gerne mit anderen Männern Liebesbeziehungen eingingen (etwa in den ma7alat) und auch weiterhin eingehen. Einige identifizieren sich – wie man es im Westen macht – als Schwule, für die Meisten aber spielt die Ausbildung einer distinkten Identität traditionell keine Rolle. Sie bezeichnen sich als ›normale Männer‹. Viele meiner Informanten bezeichneten die Einnahme der Rolle eines verheirateten Heterosexuellen in der Öffentlichkeit geradezu als Grundbedingung dafür, um ihren Begierden nachzugehen. Dies bestätigen auch die Informanten von Bergeaud-Blackler & Eck108 die damit die diskrete Form der Homosexualität an Religion und Gesellschaft anbinden. So sagt ihnen Hicham, ein Informant: »Moi je suis d'accord […] [que la société] soit fermée, mais fermée avec respect car on est islamique, l'Islam est contre çà [l’homosexualité]; et moi je pense qu'il viendra un jour ou j'arrêterai tout çà, je vais pas rester gay. On (nous, les homos marocains) est fermé avec respect, ça veut dire qu'on ne veut pas attirer l'attention, on est normal, on s'habille normalement, et dans ce cas on doit être respecté […]. Il y a des lignes rouges qu'on veut pas passer, on doit s'y arrêter, on ne peut pas dépasser la limite«. La limite est à la fois religieuse et sociale: »Si c'est ouvert on va avoir des problèmes sociaux. Pour le moment il y a des homo qui font la rue, c'est à peu près 5%, mais si c'est ouvert, il y en aura partout et on n'aura plus une société marocaine, on n'est pas des Européens ni des Américains, on vit en Afrique au Maroc. On garde toujours nos origines. C'est contre la religion et contre la société, il y a une ligne rouge«. [Ich bin damit einverstanden, […] dass die Gesellschaft sich 108 Bergeaud-Blackler & Eck 2011.

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abschottet, aber abschottet mit Respekt, weil man islamisch ist und der Islam ist gegen die Homosexualität; und ich glaube dass der Tag kommt, wo ich mit all dem aufhöre, ich werde nicht auf ewig schwul bleiben. Man – die marokkanischen Homos – ist abgeschlossen mit Respekt, das heißt man will nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, man ist normal, man kleidet sich normal, und auf diese Weise muss man respektiert werden […]. Es gibt rote Linien, die man nicht überschreiten darf, dort muss man Stopp machen, man darf die Linien nicht übertreten.]« Die Linie ist sowohl religiös wie auch sozial. »Wenn das alles offen ist, dann werden wir gesellschaftliche Probleme bekommen. Im Moment gibt es Homos, die auffallen, das sind vielleicht 5%; aber wenn alles offen ist, dann sind sie überall und man wird keine marokkanische Gesellschaft mehr haben. Man ist nicht wie die Europäer oder die Amerikaner, man lebt in Marokko in Afrika. Man pflegt immer seine Wurzeln. Das ist gegen die Religion und gegen die Gesellschaft, es gibt eine rote Linie.]«

Bergeaud-Blacklers Informant Hicham spricht hier genau die Trennlinie an, die westliches vom islamischen Selbstbild scheidet: während im Westen die inneren Begierden nach außen getragen werden müssen, um zu einer stimmigen Identität zu gelangen und sich damit ›selbst‹ zu verwirklichen, gilt es in Hichams Kultur als normal, die inneren Begierden und die äußeren Formen getrennt voneinander zu halten. Aus westlicher Perspektive wäre eine solche Haltung heuchlerisch, da das Individuum sich ›selbst‹ verleugnete; aus marokkanischer Perspektive ist die westliche Idee der Stimmigkeit von Innen und Außen ein Vergehen gegen die gesellschaftliche und die religiöse Ordnung. Viele meiner männlichen Informanten beschreiben die Beziehung zwischen Eheleuten folgendermaßen: Männer wollten ihre Frauen besitzen – vor allem als Sexpartnerinnen, Ehefrauen und Mütter ihrer Kinder, was nicht bedeute, dass sie a) im Idealfall ihre Frau nicht auch lieben und b) nicht weiter außerhaus sexuell aktiv sind. Denn viele Ehen werden nicht aus dem Grunde geschlossen, die man im Westen als Liebe bezeichnet, sondern aus der Pflicht heraus, dem sozialen Ideal an Männer zu entsprechen. Nachdem, was man mir immer wieder beschreibt, kann ich schließen, dass viele Männer die Bedürfnisse nicht kennen, die Frauen hegen und sie häufig am Prinzip der eigenen Triebabfuhr orientieren. Bezeichnend scheint mir hier folgendes Zitat: »Beaucoup de Marocains considèrent que la vie familiale n’a rien à faire avec la vie sexuelle, dit Salim en riant. À partir du moment où vous faites ce que les autres attendent de vous, vous faites ce que vous voulez à côté! [Für viele Marokkaner hat das Familienleben nichts mit dem sexuellen Leben zu tun, sagt Salim. Von dem Moment an, von dem sie 109

machen was die anderen von ihnen erwarten, können sie alles andere nebenher tun.]«

109 Picard 2009 S.30.

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Demgemäß fällt das Urteil über die Geschlechter eindeutig aus: Frauen – so meine Informanten unisono – wollen einen Mann, sie wollen heiraten. Sie seien beziehungsfixiert, um versorgt zu sein. Für Frauen sei Erfüllung nur in der Mutterschaft und in der Ehe zu suchen – aber ob sie dort auch gefunden wird, ist eine Frage, die sicherlich nur individuell beantwortet werden kann. Frauen wollten Männer kontrollieren und besitzen, auch für sie gibt es nur einen akzeptierten Lebensentwurf gibt – den der Ehefrau und Mutter. Der nachvollziehbare weibliche Versuch, Männer an Haus und Hof zu binden, wird von die meisten meiner männlichen Informanten als Bedrohung empfunden. Die Heldin in Smihis Film El Chergui (1975) beispielsweise bemüht magische Ritualen, um ihren Mann – der sich eine zweite Ehefrau nehmen möchte – fester an sich zu binden; und wie oft haben meine verheirateten Informanten davon gesprochen, dass ihre Frauen oder auch die Frauen anderer Männer Magie praktizierten, um sie an sich zu binden. Said (*1976) ist mit seiner Cousine verheiratet. Er vertraut sich mir an: Töchter werden einmal so wie ihre Mütter, und er habe gedacht, dass das Mädchen auch nicht übel sein könne, wenn die Mutter – seine Tante – so nett sei. Aber nach der Heirat habe sich das alles geändert: die Mutter sei eine Hexe, die sei bösartig und hätte ihren Mann verhext (er benutzt das Wort Hexer, »sorcerer«). Wie er das meine? Na, die habe den Onkel verhext, also ihren Mann, der sei früher witzig und nett gewesen und mache jetzt alles, was seine Frau wolle. Er sei wie eine Marionette. Dann schimpft er auf den Onkel – also seinen Schwiegervater – weil der ihm vor der Ehe verboten habe, die zukünftige Ehefrau mal ins Café oder ins Kino auszuführen. Wenn die Ehe scheitern würde, dann sei der Onkel daran schuld, weil er ihm damals verboten habe, die zukünftige Frau besser kennenzulernen. Er habe den Charakter der Frau nicht gekannt. Sie habe, wie ihre Mutter, ein schwarzes Herz (corazón negro).110 Eine Woche später erzählt mir Said, man müsse Bronze mit Kohle schmelzen, das banne den bösen Blick. Sein Onkel und Schwiegervater habe dies so gemacht, weil er die Hexerei seiner Frau fürchte. Man könne auch andere Substanzen mit Kohle verbrennen, der Aschenrauch (zwahda) vertreibe den bösen Blick.111 Wenn man in seiner Entscheidungsfähigkeit gebannt sei, dann könne man auch getrocknete Chamäleons benutzen; man würde sie trocknen, in Teile zerschneiden, zermörsern und dann mit anderen Dingen verbrennen.112

110 Feldforschungstagebuch 21.03.2013. 111 Feldforschungstagebuch 27.03.2013. 112 Feldforschungstagebuch 20.07.2013.

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Viele Frauen leiden darunter, die Erwartungen an sie nicht zu erfüllen: keinen Mann zu finden (oder wenn er gefunden wird, ihn auf Dauer zu binden), keine Kinder zu bekommen, die eigenen Bedürfnisse nicht leben zu können. Dies jedenfalls wurde mir im Umkreis der Trancekulte immer wieder so vermittelt. Ich vermute, dass die überdurchschnittliche Präsenz von armen Frauen aus der Unterschicht als Klientinnen der Trancebruderschaften im Übrigen auch genau damit zusammenhängt: besessen durch Aïsha Qandisha, den Geist der weiblichen Begierden, versuchen sie mit diesen dort in Ausgleich zu kommen: sie fallen in Ekstasen. Insofern stellen diese Praktiken werden in Tanger durchaus Quellen der Stärkung für Frauen in einem patriarchalen System dar, wie Smihi seinen Film interpretiert. »(D)errière de [l’oppression de la femme arabe] se cachent la presence et la force d’un pouvoir féminin très fort qui n’est pas décelable à un premier niveau, à cause des cloisonnements apparents, concrétisés par le voile, extérieur mais aussi intérieur. Parce qu’elle se trouve opprimée, la femme, par une sorte de force ‘naturelle’, arrive à renverser ce rapport et à créer un pouvoir qui échappe complètement au pouvoir patriarcal.« [Hinter der Unterdrückung der arabischen Frau versteckt sich die Präsenz und die Stärke einer sehr starken, weiblichen Macht, die auf den ersten Blick aufgrund der augenscheinlichen Abschottungen, die durch den Schleier ausgedrückt werden, weder äußerlich noch innerlich nachweisbar zu sein scheint. Weil sie sich als unterdrückt wiederfindet schafft es die Frau – durch eine Art natürlicher Stärke – diesen Befund umzustürzen und eine Macht zu generieren, die der patriarchalen Macht komplett entgleitet.]113 Diese Aussagen treffe ich auf Grundlage meiner Feldforschung – und die habe ich vor allem unter armen Männern, den zumeist Ungebildeten und Nichtmodernen durchgeführt. Sicherlich käme ich zu anderen Aussagen über Geschlecht und Sexualität, wenn ich mich den modernen Mittelklassen zugewandt hätte oder Zugang zur Welt der Frauen gehabt hätte. Kehren wir zurück zu Hichams Feststellung: es sei gerade die der discrétion eigene Trennung in innen und außen, die ein Ausleben des Inneren ermöglicht. Gleichgeschlechtliches Begehren und gleichgeschlechtliche Praxis sind aus dieser Perspektive nur gefährlich, wenn sie an eine soziale Formation, eine distinkte soziale Identität gebunden ist. Man könnte annehmen, dass der Befund – nämlich dass es gerade die discrétion ist, die Freiräume eröffnet – eigentlich ein rundum glücklicher Befund sein müsste. Als Ethnologe geht es mir aber nicht darum, den positiven oder negativen Gehalt eines solchen Befundes zu festzustellen, sondern ihn zu kontextualisieren. Sicherlich ist es so, dass viele meiner Informanten dem Informanten von Bergeaud-Blackler zustimmen mögen. Für andere wiederum ist 113 Smihi 2006 S.123

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die discrétion jedoch ein Gefängnis, unter dem sie leiden. Denn die Gepflogenheiten etwa der ma7alat sind verschwunden und die Einhaltung der Uneindeutigkeit, von der Hicham spricht, ist oftmals nicht mehr möglich. Heute sehen sich viele junge Männer dazu gezwungen, sich zu einem Identitätskonzept zu bekennen, das von den meisten Marokkanern gehasst wird. So schreibt der Schriftsteller Abdellah Taïa: »Il n’y a pas si longtemps j’étais encore un adolescent homosexuel dans la ville de Salé livré quotidiennement aux mâles sexuellement frustrés du quartier, insulté, violé, battu, obligé de baisser continuellement la tête dans l’espoir qu’on me laisse tranquille. En vain. Tout le monde savait l’enfer qu’on m’obligeait à vivre. La violence inouïe. Personne ne m’a défendu. Personne. J’ai payé dans mon petit corps le prix des contradictions vertigineuses de ce pays. Ce qui m’est arrivé petit arrive aujourd’hui encore à beaucoup de jeunes Marocains homosexuels. [Vor gar nicht langer Zeit war ich noch täglich als ein heranwachsender Schwuler in der Stadt Salé den sexuell frustrierten Männern des Viertels ausgeliefert, wurde beleidigt, vergewaltigt, geschlagen, genötigt den Kopf zu senken in der Hoffnung darauf, dass man mich in Ruhe lässt. Umsonst. Alle kannten die Hölle, in der ich zu Leben gezwungen war. Hanebüchene Gewalt. Niemand hat mich verteidigt. Niemand. Ich habe mit meinem kleinen Körper den Preis der schwindelerregenden Widersprüche dieses Landes bezahlt. Das war mir zugestoßen war passiert noch heute vielen jungen marok114

kanischen Schwulen.]«

Und viele junge Männer, die ich kennengelernt habe, leiden unter der Vorstellung, dass sie eine Frau – häufig eine Cousine – heiraten müssen, die sie weder lieben noch sexuell begehren. Die im Westen ausschließlich hinsichtlich der in der Entscheidungsfreiheit eingeschränkten Braut diskutierten arrangierten Ehen werden auch von vielen jungen Männern als ungewollte Bürde empfunden. Auch sie nehmen sich häufig als Opfer wahr. So ist es vielmehr angebracht, discrétion als Spielregel zu erkennen, unter der es sich sowohl trefflich leiden lässt als auch den gewieften Spielern ein Feld köstlicher Möglichkeiten zu eröffnen weiß.

N ADIRS L EID :

VOM

B EGEHREN ZUR I DENTITÄT

Für Nadir jedenfalls ist discrétion eine Last, denn sie ist nicht nur an soziale Normen gebunden und ihre Nichteinhaltung hat strafrechtliche Konsequenzen: sie führt auch direkt ins Höllenfeuer der ewigen Verdammnis. Er leidet unter den 114 Taïa 2015.

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Bedingungen, die die discrétion legitimieren und absichern. Denn die meisten jungen Leute wohnen mit ihren Eltern zusammen, es wird stark überwacht von der Nachbarschaft, wer mit wem in welchem Haus verschwindet. Darüber hinaus sind homosexuelle Handlungen gesetzlich verboten. Diese Männer beziehen sich auf den westlichen Diskurs und haben eine sexuelle Identität für sich angenommen. Manche Marokkaner treten für die Anerkennung der homosexuellen Lebensweise auch mit spektakulären Aktionen in der Öffentlichkeit ein. So küssten sich zwei Männer im Juni 2015 demonstrativ vor dem Hassan-Turm einer Moschee in Rabat, um Rechte einzufordern. Sie wurden verhaftet und zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches war es noch nicht klar, ob die Höchststrafe von 3 Jahren Gefängnis verhängt werden würde.115 Und einige wenige Berühmtheiten wie der sich als homosexuel bezeichnende Schriftsteller Abdellah Taïa treten nicht nur allgemein für eine Entkriminalisierung der Homosexualität ein, sondern sprechen öffentlich über konkrete Fälle wie den der drei Männer aus dem Ort Taourirt, die zu 3 Jahren verurteilt wurden.116 Es gibt also zunehmend marokkanische Männer, die sich wie im Westen über das begehrte Geschlecht definieren und für die Anerkennung dieses Begehrens eintreten. In Chatrooms bezeichnen sie sich als gay. Joseph Massad117 wirft den westlichen Schwulenbewegungen vor, in anderen Kulturen und insbesondere in der muslimischen Welt nach der Befreiung von Homosexuellen zu streben – also von der universellen Existenz einer Kategorie ›Homosexueller‹ auszugehen. Mann-männliche Sexualität und Erotik, die nicht an eine solche Kategorie gebunden ist – wie etwa die arabische Homosensualität und -sozialität – würde aus der Perspektive der Schwulenaktivisten einer Befreiung bedürfen, um das wahre Selbst einer schwulen Identität freizulassen. Die Kategorie ›Homosexueller‹ sei eine eurozentrische Kategorie, die so in andere Weltgegenden exportiert würde. Massad verfällt hier in einen kruden saidistischen Reflex, der auf der Annahme einer kulturellen Authentizität basiert und divergierende, vielfältige Positionen als unrein und falsch brandmarkt.118 Sicherlich ist es so, dass historisch gesehen jegliches homosexuelle Begehren langsam an eine distinkte homosexuelle Identität gekoppelt wurde – in Europa. Michel Foucaults Werk zeugt von genau dieser Einsicht. Es ist sicherlich auch wahr, dass diese Koppelung von Begehren und Identität an die Betrachtung, 115 116 117 118

N.N. 2015b; N.N. 2015c; Roudaby 2015. Taïa 2015. Massad 2002. Dies zeigt sich schon in seiner Terminologie, etwa wenn er despektierlich von den »Westernized Egyptian gay-identified men« spricht, die am 11.05.2001 auf einem Ausflugsboot in Kairo von der ägyptischen Polizei verhaftet wurden. Massad 2002 S.380.

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Vermessung und Verwaltung anderer Kulturen angelegt wurde – etwa durch Reisende, Missionare, Mediziner und Kolonialadministratoren. Dies allerdings bedeutet im Umkehrschluss zweierlei nicht: dass es auch historisch gesehen in nichteuropäischen Kulturen Individuen gegeben hat, die eben nicht nur homosensuell und homosexuell praktizierten, sondern sich auch ausschließlich damit identifizierten (ob mit einer eigenen Bezeichnung oder ohne). Und dass die heutige Welt komplexer ist, als es sich Massad mit seinem Reinheitsbedürfnis erwünscht: ob importiert oder nicht, heute koexistieren auch im arabischen Raum neben homosensuellen und homosexuellen Praktiken Menschen, die sich im europäischen Sinne darüber identifizieren. Die Aufhebung der Geschlechterschranken und das Eintreten der Frauen in die Sphäre der Männer zerstört die Ambivalenz der Homosensualität, die sich zwischen Männern entfaltet. Die Modernisierung macht diese Sinnlichkeit zunichte. Bedeutsam ist hier die Beobachtung, dass die in Europa sozialisierten Marokkaner nicht mehr so homosensuell bzw. für männliche Nähe zugänglich sind wie die hiesigen Jungs aus den barrios populares: sie gehen nicht nur sexuell, sondern auch sozial mit Mädchen. Und zwar zu jeder Zeit. In der europäischen Moderne erfahren marokkanische Migranten die Konfrontation mit klaren Identitätsvorstellungen und Reinheiten. Homosensualität wird in diesem Wandlungsprozess suspekt,119 sie wird zum Schlachtfeld eines Kulturkonfliktes, weil auf einmal die gewohnte Uneindeutigkeit markiert werden muss. Das Geschlechterleben in Marokko wird von der großen Fassade der Diskretheit und Konformität dominiert, darunter aber kann allerlei Verschiedenes stattfinden, und es gibt viele fließende Übergänge. In Europa dagegen herrscht der Imperativ der großen Transparenz, und das protestantische wie auch das inquisitoriale Gebot, dass außen und innen übereinstimmen müssen. Dies schafft klare Kategorien. Mein Informant José sagt dazu: El morbo se va, se pierde. [Die Lust verflüchtigt sich, sie geht verloren]. Die Moderne ›befreit‹ die Sexualität, weil sie eine Bekenntnismöglichkeit, aber auch einen Bekenntniszwang schafft.120 Gleichzeitig befreit sie sie aber auch im Zeichen des Konsumismus und macht sie so verfügbar. Die Blicke, die Berührungen, die Vieles versprechen können und Dinge offen halten, verschwinden. In Europa dagegen befinden wir uns im engen Gehäuse der Identität: innen und außen müssen übereinstimmen, und beides muss optimiert werden. Statt Dinge offen zu halten und Wunder zu ermöglichen ist dies eher auf die Fokussierung und Bündelung von Kraft, Aufmerksamkeit und actio ausgerichtet. Für manche Einheimischen ist gerade die Freiheit des Individuums – wie es im Westen 119 Ähnlich argumentiert auch Beaumont 2010. 120 Vgl. Foucault 1973, 1977.

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vorgezeichnet wird – erstrebenswert. Ein Informant (*1986) etwa sagte mir, er möchte dies: ein Haus mit Garten und einen Mann, mit dem er auch öffentlich leben kann, nicht nur hinter den Mauern des Hauses.121 Die Aufhebung der sozialen, aber auch der räumlichen Gendergrenzen und der Eintritt der Frauen in die männliche Domäne hat etwas mit der Herausbildung einer homosexuellen Identität zu tun: Jungs und Männer müssen sich für die eine oder andere Sache entscheiden, der unklare homosensuelle Übergangsbereich – in dem vieles oder gar alles möglich scheint (todo es posible) – wird bereinigt, klare Grenzen werden gezogen zwischen denen, die mit Frauen gehen und denen, die mit Männern gehen. Mann-männliche Sinnlichkeit wird dann nur noch Letzteren zugemessen bzw. an eine distinkte Homo-Identität gebunden.122 Ambivalenzen und Übergänge werden beseitigt, Eindeutigkeiten postuliert. Die Unterscheidung in traditionale und moderne Formen der Homosexualität, so als seien sie nicht analytische Konzepte, sondern als kämen sie in der empirischen Realität auch in dieser Form getrennt vor, leitet in die Irre. Meine eigenen Forschungsbefunde entkräften etwa Rebucini,123 der argumentiert, dass die homoerotischen Praktiken – also ob aktiv oder passiv – ohne entscheidenden Einfluss auf die soziale Position und die Respektabilität eines Mannes bezüglich seines Rufes als Mann seines sexuellen Leumundes seien. Das mag vielleicht in Idealfällen zutreffen; die meisten meiner Informanten jedenfalls haben eine – im wahrsten Wortsinne – Höllenangst vor der ewigen Verdammnis im Jenseits und dem Verlust des Gesichtes im Diesseits: egal ob sie mit einem Mann in der aktiven oder in der passiven Rolle erwischt würden. Denn auch in Tanger haben die Vorstellungen von klaren Grenzen und sexuellen Identitäten an Boden gewonnen: durch den westlichen Modernismus und den salafistischen Islamismus gleichermaßen. Beide bedrohen das von Rebucini beschriebene homoerotische Modell heute zutiefst, was sich darin zeigt, dass die jungen Männer Tangers heute sehr wohl im Zwiespalt homoerotischer Nichtfestlegung und homosexueller Festlegung leben. Discrétion ist besonders wichtig geworden – nach Aussagen meiner Informanten ist sie heute wichtiger als früher. Dies liegt nicht nur in der Tatsache begründet, dass Homosexualität einen Straftatbestand darstellt, sondern darüber hinaus auch ein soziales Vergehen, das mitunter mit dem Tode bedroht wird. Damit sind wir wieder bei Nadir angelangt, der durchaus stellvertretend für Viele steht. Er lebt nicht mehr glücklich in der homosensuellen Ambivalenz, die die vorangehenden Jahrzehnte und die marokkanische Kultur lange Zeit prägte und Vieles ermöglichte, sondern im identitären Gehäuse der Entscheidungsnotwendigkeiten. 121 Feldforschungstagebuch 22.08.2013. 122 Feldforschungstagebuch 28.07.2013. 123 Rebucini 2011.

Nachwort

Es musste wohl so kommen: Tanger hat mich in seinen Bann geschlagen wie so viele Besucher vor mir. Natürlich. Diese Stadt, die so nahe an Europa liegt und die erste ist in Afrika, wenn man die Meerenge von Norden nach Süden überquert. Dieser Treffpunkt der Kontinente, diese einstmalige Verschmelzung muslimischer, christlicher und jüdischer Einflüsse, diese paradigmatische Stadt für das gedeihliche Nebeneinander im mediterranen und gleichermaßen atlantischen und arabischen Raum, dieses Beispiel für die Salafisierung einer paradigmatischmediterranen Kosmopole. Tanger ist nicht marokkanisch und nicht islamisch, ist nicht christlich oder spanisch und schon gar nicht jüdisch, sondern von allem etwas. Eben die weiße Taube auf dem Schulterblatt Afrikas. Noch immer. Dass ich dort für eine Zeit forschen würde war eigentlich seit Jahren absehbar: von Sevilla aus hatte ich mich forschend in den Süden hinunter bewegt, nach Gibraltar und damals schon immer die andere Seite vor Augen. Es würde mich nicht wundern, wenn ich einmal in Dakar oder Tombouctou enden würde. Wenn der Herr mir die Gnade erweist, inchallah. Vorerst aber Tanger. Diese Stadt bezieht, wie schon Gibraltar auf der anderen Seite, ihre Kraft, ihre Energie, bereits aus dem Zusammenspiel einer wilden Natur, den Winden vom Mittelmeer und vom Atlantik, dem Licht, den Strömungen zwischen den Kontinenten und Meeren, der Angesichtigkeit der anderen Seite, die an guten Tagen zum Greifen nahe liegt. Mich selbst hat die Stadt, was das Verständnis von meinem Fach betrifft, zutiefst verändert. Hatte ich in meiner Arbeit über Sevilla in den 1980er Jahren noch eine vornehmlich kulturhistorische Zugangsweise zu meinem damaligen Gegenstand, dem Zusammenhang zwischen Machismo und Homosexualität gepflegt, so arbeitete ich in den 1990er Jahren in Gibraltar eher unter ethnosoziologischen Vorzeichen: ich wollte erkunden, wie eine Gesellschaft mit der Transformation von einer Militär- auf die Finanzwirtschaft umgeht. Nach einem Umweg über Texas, wo ich Formen der politischen Repräsentation und den

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sozialpsychologisch gefärbten Fragen nach der Schaffung und Bekräftigung des Individuums als dem Masteragenten des neoliberalen Kapitalismus nachspürte, gelangte ich wieder zurück in ›meine‹ Region am Eingang des Mittelmeeres. In Tanger wurde ich, trotz einer ursprünglich sozialwissenschaftlichen Fragestellung – der Effekte der Umgestaltung der Häfen auf die städtische Kultur – auf unerwartete Weise in Bereiche geführt, die man fachintern eher der kulturanthropologischen oder auch der kulturmorphologischen Sichtweise zuordnen könnte: den Welten der Spiritualität, der Magie, der Trance und der Geistwesen. Ich muss gestehen, dass ich mich bislang in meinem beruflichen (und privaten) Dasein um solche Phänomene nicht sonderlich geschert hatte. Vielleicht lag das daran, dass ich zuvor vor allem in einem säkularisierten Europa geforscht hatte, in dem Spiritualität keine zentrale Bedeutung für die Lebensgestaltung meiner Informanten besaß. In Tanger dagegen war dies anders: nicht nur, dass Marokko eine islamische Gesellschaft ist, in der das, was im Westen als Religion bezeichnet wird, ohnehin enger mit den anderen Domänen des Daseins verwoben ist als in Europa, wo man darauf bedacht ist, die Domänen fein säuberlich zu trennen. Neben der Welt des Korans hatte ich es in Tanger auch mit einer Welt des magischen Realismus zu tun, die ich bislang vor allem aus den Arbeiten von Kollegen kannte – nicht aber aus eigener forschenden Anschauung. Einer Welt der Trancen und der ğnūn, der religiösen Rituale und der Spiritualität. Im Rückblick auf meine bisherigen Arbeiten lässt sich feststellen, dass die Beschäftigung damit einer gewissen Logik folgt: nach den Geschlechtergrenzen, denen ich in Sevilla nachspürte, und nach den politischen und ethnischen Grenzen, die in Gibraltar im Mittelpunkt standen, traten in Tanger die Grenzen zwischen Menschen und spirituellen Kreaturen in den Vordergrund. Dabei lag in allen drei Mittelmeerforschungen mein Hauptaugenmerk auf Überschreitungen, Grenzgänger, Transzendenzen und auf Transgressionen: Transvestiten und Schwule in Sevilla, Schmuggler und Konvertiten in Gibraltar, Trancebruderschaften in Tanger. Grenzgänger bewegen sich in gefährlichen Kontexten, an den Rändern des Erlaubten und sie wagen – durchaus nicht immer harmlose – Begegnungen zwischen getrennten Domänen. Das Interesse an der Transgression hat sicherlich biographische Hintergründe, die in der Erfahrung des Fremdseins in der eigenen Kultur wurzelt. Ein Dasein an der Peripherie des Selbstverständlichen kann aber nicht nur Ungemach und Leiden bedeuten, sondern gleichsam zu einer Schärfung des Blickes auf das vermeintlich Normale führen und damit als privilegierter Standpunkt der Betrachtung auf gesellschaftliche Zusammenhänge dienen. Schon während meines Dissertationsprojektes in Sevilla1 ging ich davon aus, dass man weder Hetero1

Haller 1992.

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noch Homosexualität verstehen könnte, wenn man sie getrennt voneinander betrachtet, sondern dass sie ohne einander nicht denkbar sind, da sie sich gegenseitig bedingen. Später2 spitze ich diese Erkenntnis zu, indem ich formuliere, dass es beispielsweise die Aufgabe einer wahrhaftigen Queer Anthropology sein müsse, nicht queere Lebensentwürfe in den Mittelpunkt zu stellen, sondern heterosexuelle Lebensweisen zu kulturalisieren.

Abbildung 41: Die Straße von Gibraltar – Dreifaches Grenzland: Belyounech/Marokko (vorne links), Gibraltar (im Hintergrund), Ceuta/Spanien (rechts hinter dem Zaun der EU-Außengrenze) Die Bezüglichkeit des Einen zum Anderen ist dabei nicht lediglich die eines photographischen Negativs, sondern es gibt verschiedene Berührungspunkte und Übergänge. Dies findet sich auch in meiner Studie zum Grenzland Gibraltar3 wieder: zwar zeichnet der Diskurs der Gibraltarianer ein moralisches, politisches und ökonomisches Bild der spanischen Seite jenseits der Grenze, jedoch finden sich vielfältige Verknüpfungen auf der Ebene der Alltagspraktiken, vom Grenzhandel über grenzüberschreitende Familien- und Freundschaftsnetzwerke bis hin zur Residenzwahl. Gibraltar und sein Hinterland erweisen sich hier allem

2 3

Haller 2002. Haller 2000.

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propagandistischen Abgrenzungsgetöse zum Trotz als ein Raum, der vielerlei Chancen eröffnet, als ein Raum ›im eigenen Recht‹. Die Studie wurde in einer Zeit durchgeführt, in der europäische Binnengrenzen wenngleich nicht gänzlich verschwanden, jedoch im Zuge des SchengenAbkommens weitgehend überwunden waren. Die Grenze zwischen Spanien und Gibraltar stellte damals innerhalb der EU einen Anachronismus dar, da hier noch sämtliche traditionellen Grenzfunktionen in Kraft waren. Mit den Renationalisierungstendenzen seit 2015 kehren in Europa auch die Binnengrenzen, teilweise in ihrer alten Funktion, zurück. Als Exkurs sei darauf verwiesen, dass auch meine Forschung in Texas4 Grenzziehungsprozesse zum Thema hatte. Es ging um die Individualisierung im Zuge der Identitätspolitik, in der ein ständiges Abgrenzen, Sich-Bestimmen und -Bekennen des Einzelnen und seiner Bedürfnisse akzelleriert wurde. Diese ständige Ausdifferenzierung wird zu einem zentralen Mechanismus, der den Motor des Kapitalismus am Leben hält. In Tanger schließlich kommen mehrere Aspekte meiner vorherigen Grenzforschungen zu Tragen: die Welt der Menschen ist ohne die Welt der ğnūn der nicht zu verstehen. Trotz der kategorialen Scheidung von Mensch und ğinn sind die Übergänge nicht nur im metaphorischen, sondern häufig auch im tatsächlichen Sinne fließend. Statt mit Grenzlinien wie im Falle der Staatengrenzen haben wir es hier mit zonal und temporal gelebten Grenzkonzeptionen zu tun, die eine geringere Trennschärfe aufweisen. Obwohl ich von allen Sprachen, derer ich mich in meinen Feldforschungen bediente, das Darija Tangers am Schlechtesten beherrsche, trat ich in Marokko am Tiefsten in lokale Lebenswelten ein. Meine Ausgangsfrage war weit gefasst und nicht präzise. Ich wollte die Effekte der urbanistischen Modernisierung, der Tanger unterworfen war, untersuchen und daraufhin abklopfen, ob die königliche Absicht, damit auch dem im Norden starken Jihadismus den Boden zu entziehen, Früchte trägt. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, wo und mit welchem Fokus ich dieser Frage nachspüren würde. Vielmehr versuchte ich mich bewusst davon zu lösen, mich von einer im deutschen akademischen Kontext entwickelten Fragestellung freizumachen und mich auf die Kunst des Schauens und Treibenlassens einzulassen: wohin würde mich meine Forschung führen? Ich versagte es mir im Vorfeld, mich tiefergehend mit fachlichen Arbeiten zu Marokko zu beschäftigen in der Annahme, dass sich dadurch die Fragen aus dem Feld entwickeln würden und ich so einen freieren Blick auf die Dinge erhielte. Dieses Vorgehen widersprach dem Vorgehen bei 4 Haller 2007

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meiner vorherigen Forschung in Gibraltar, wo ich über exzellente Sprachkompetenz und eine generalstabsmässige Forschungsplanung verfügte, die ich auch konsequent ein- und umsetzte: ich wusste dort bereits zuvor, wen ich ansprechen wollen würde, welche Themen ich anschneiden würde und welcher Spur ich nachgehen würde. Das hatte den Vorteil, dass ich eine Unmenge von Interviews und Gesprächen dokumentieren konnte, die Datenmenge am Forschungsende war eigentlich kaum zu verarbeiten. Aber sie ging auf Kosten des Wohlbefindens und damit sicherlich auch des informellen Kontaktes zu den Einheimischen, den wir Ethnologen eigentlich anstreben. In Gibraltar fühlte ich mich wie eine ›Datenerhebungsmaschine‹ – so jedenfalls beschrieb ich mich damals in meinen Feldnotizen – die Termin um Termin abhakte und abends erschöpft mit einer Flasche Wein und hastig zusammengeschustertem Essen vor dem Fernseher ungesund zusammenbrach. Alle Beziehungen im Feld standen, wenn ich es im Nachhinein betrachte, im Dienste einer zielgerichteten, auf logozentrischer Basis zu beantwortenden Fragestellung. In Tanger dagegen wollte ich die Sache anders angehen: zum Einen, weil ich die Forschungsmethode in Gibraltar tatsächlich als körperlich ungesund empfand, zum anderen, weil ich erfahren hatte, dass mir mein Forscherhabitus in Gibraltar viele Türen verschloss, mir viele Wunder versagte: ich hatte dort zwar viel über Geschichte, Sozialstruktur, auch über inoffizielle Diskurse erfahren, aber am privaten Leben meiner Informanten hatte ich kaum teilgenommen. Und schliesslich hatte ich nach meinen drei vorherigen Feldforschungen die Erfahrung gemacht, dass unsere Forschungsmethode tatsächlich explorativen Charakter besitzt und sich die Fragen, denen man letztendlich in der Forschung nachgeht, häufig eben doch erst durch die Erfahrung des Feldes herausschälen. In Tanger konnte ich daher anders vorgehen als zuvor – nicht nur aufgrund meiner andalusischen, gibraltarianischen und texanischen Vorerfahrungen, sondern auch, weil ich in Tanger keine Qualifikationsarbeit durchführte wie damals jenseits der Meerenge. Aus dem Sevillamaterial entstand meine Promotion. Aus dem Gibraltarmaterial wollte ich meine Habilitationsschrift machen, das Projekt wurde von der DFG finanziert. In Tanger dagegen war ich weder an den Erwerb einer weiteren akademischen Qualifikationsanforderung gebunden, noch an eine Stiftung, die mich finanziert hätte. Ich war somit weitgehend frei und konnte erforschen, was sich ergab. Das ist eine große Freiheit und sollte eigentlich der Normalzustand für explorative wissenschaftliche Forschung sein: sich nicht durch Fragescheuklappen von Anfang an einzuengen, sondern breit im Feld nach den relevanten Fragen, die aus der Kultur kommen, der wir uns zuwenden, zu suchen. Dieses Vorgehen wird heute durch die getakteten, zielorientierten und ökonomisierten Arbeitsbedingungen an den Universitäten immer unmöglicher, so dass ich

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es eine große Gnade empfand, diese alte und sinnvolle Herangehensweise in Tanger pflegen zu können. Das bedeutete, dass ich versuchen konnte, die Dinge und die Fragen an mich herankommen zu lassen – und nicht schon von vorneherein nach ihnen gezielt zu suchen. Entgegen kam mir hierbei natürlich die Tatsache, dass ich mich nicht – wie in den Forschungen zuvor – in einem euroamerikanischen Kontext bewegte, in dem Zeitregelments, Kommunikationsformen, die Säkularisierung und die Wertekonstellation letztendlich das Individuum als zentralen Akteur privilegieren. In Tanger hatte ich es mit einer Weltvorstellung zu tun, in dem Individuen aus westlicher Sicht als unfreier gelten, weil sie und ihre Optimierung, Besserung und Handlungsfähigkeit nicht als alleinige Bezugspunkte im Zentrum stehen, sondern weil der Mensch in einen Kosmos äußerer Kräfte gestellt wird, die ihn mitunter zu deren Spielball machen: Allah, baraka, die Welten der Geistwesen. Ich erfuhr dies auch als Entlastung: hier liegt es nicht ausschließlich am Individuum, Schmied des eigenen Glückes zu sein, sondern es sind auch äußere Kräfte, die Gedeih und Verderb des Einzelnen maßgeblich mitbestimmen. Ein generalstabsmässiges Forschungsvorgehen mit klaren Fragen, Terminen und Zielen, so wie ich es in Gibraltar pflegte, wäre in Tanger in jedem Fall zum Scheitern verurteilt gewesen. Sitzen, zuhören, zuschauen, sich zurücknehmen, berühren, machen, erwiesen sich für fruchtbarer als direkt zu fragen und nachzubohren. Dass die Kultur Tangers dies nicht nur erlaubt, sondern geradezu erfordert, führte nicht nur zu den ungeplanten Wundern und Begegnungen, von denen ich im Buch immer wieder spreche, sondern öffnete mich auch persönlich dafür, spirituelle Erfahrungen machen zu können, so wie ich sie in Deutschland nie machen könnte. Denn Spiritualität ist in Tanger in den Alltag verwoben, sie ist keine abgespaltene Domäne wie zuhause, der man sich punktuell zuwendet, wenn es das alltägliche Zeitregime erlaubt. Vielmehr dominiert sie das Zeitregime in Tanger. Von daher habe ich die Kultur Tangers durch die Spiritualität, die alles zusammenhält, als ganzheitlicher empfunden als die des Abendlandes, in denen die Separierung in klar abgegrenzte und policierte Domänen Grundbestandteile des gesellschaftlichen, geistigen und politischen Lebens ist. Dass im Alltag diese alles zusammenhaltende Spiritualität nicht nur beglückende Erfahrungen ermöglicht, sondern auch Schattenseiten wirft, unter denen viele Tanjawis leiden – das sei unbenommen. Ich selber habe erfahren, dass die Spiritualität zumindest die Leiden des Daseins heilkräftig zu lindern vermag, etwa wenn es darum geht, Schicksalsschläge hinzunehmen; gleichzeitig bindet sie die Individuen ein in eine Apathie, die gerade jemanden, der von einer handlungsfetischistischen Kultur wie der Deutschen geprägt ist, leicht in die Verzweiflung zu treiben vermag. Diese kulturellen Grundmuster, die sich

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diametral entgegenstehen, manifestieren sich natürlich nicht überall im marokkanischen Alltag, sie sind vor allem Erklärungsblaupausen – in der Alltagswelt sind die Menschen, die ich in meiner Forschung ein Stück weit auf ihrem Weg begleiten durfte, natürlich mit beiden Entwürfen vertraut, sie kennen die Alternative des europäischen Weges. Auch wenn sie von den Meisten abgelehnt wird, so ist sie doch für Viele eine Möglichkeit zu träumen: es könnte auch anders sein. Träume vom anderen Leben vor allem in jenen Bereichen des Alltages, in denen die hinnehmende Spiritualität zur Stützung der bestehenden Machtverhältnisse dient: das Wohlstandsgefälle, die unabgesicherten Risiken des Daseins etwa im Bereich der Gesundheit und des Alters, die Perspektivlosigkeit vor allem für die junge, oftmals gut ausgebildete Generation. Ob Träume allerdings ausreichen, um dem Jihadismus ein Gegengewicht zu bieten, mag ich stark bezweifeln. Denn die Verzweiflung ist groß und vielfach nähren die Träume Vorstellungen, die das Unterfutter des Jihadismus darstellen: eine von Ambivalenzen und Sünden bereinigte Welt der Eindeutigkeit. Ich hatte vor Antritt meiner Forschung nicht damit gerechnet, dass die 14 Kilometer zwischen Gibraltar und Tanger kulturell eine so große Kluft darstellen würde. Ursprünglich hatte ich nicht gedacht, dass diese einst europäischste Stadt Afrikas sich derart stark vom nahen Sevilla, vom nahen Gibraltar unterscheiden könnte. Diese Erfahrung der Differenz hat auch meinen beruflichen Blick auf das Konzept der Fremdheit umgekrempelt: bislang hatte ich die Meinung vertreten, dass Fremdheit als methodisches Prinzip und als relationale Erfahrung sowohl ›um die Ecke‹ als auch in der vorgeblich ›eigenen‹ Kultur und in der ›fremden‹ Kultur gleichermaßen erfahren werden könnte. Auf der ontologischen Ebene halte ich nach wie vor an dieser Überzeugung fest, bloß: auf der Ebene der empirischen Befundlage macht es durchaus einen Unterschied, ob ich mich in der Fremdheit einer anderen abendländischen Ordnung (etwa Sevillas oder Gibraltars) bewege, oder ob die Fremdheit in einer anderen kosmologischen Ordnung wurzelt. Insofern muss ich frühere Positionen revidieren: es ist zwar nach wie vor ebenso angebracht, in kulturell eigenen Kontexten wie in ferneren Umfeldern zu forschen. Aber es ist ein Unterschied, ob die Forschung in einer Gesellschaft durchgeführt wird, in der das Individuum alleine im Zentrum des Universums steht, oder in einer Gesellschaft, in der das Individuum mit anderen Wesenheiten interagiert.5 Tanger hat mich verändert, persönlich, vor allem aber auch professionell. Da draußen sind andere Welten, andere Kosmologien, andere Selbstverständlichkeiten – Ethnologen haben das schon immer gewusst. Diese anderen Welten haben, dem Masternarrativ der alternativlosen Globalisierung zum Trotz, noch 5

Eine ähnliche Wendung macht Bargatzky (Haller 2008 S.10).

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immer ihre eigenen Logiken. Die Erfahrung dieser Logiken, die man im professionellen Jargon gemeinhin Kulturschock nennt, würde ich für meine Forschung als Kulturergriffenheit bezeichnen: der Begriff des Schocks gemahnt zu sehr an einen schreckhaften Moment, ähnlich dem der Heimsuchung durch die ğnūn. Ergriffenheit dagegen trifft den Kern eher: ich wurde von Tanger ergriffen, ohne von einem Schock geschlagen worden zu sein – das liegt sicherlich an der Vorerfahrung in der Region um die Straße von Gibraltar. In Tanger war ich ergriffen – einen Schock erlebte ich vielmehr nach meiner Rückkehr nach Europa, wo ich sehr lange unter Depressionen, Orientierungsschwierigkeiten, körperlichen und seelischen Malaisen, Heulkrämpfen und Taubheiten litt – so als habe der ğinn Tangers von mir Besitz ergriffen, würde mich reiten. Das Schreiben dieses Buches ist auch ein Versuch, mich mit diesem ğinn zu versöhnen, ihn ruhig zu stellen und seine baraka zu erwirken. Europa und gerade Deutschland mit seiner tumben Hybris der Überlegenheit aufgrund der Werte vom Funktionieren, der Perfektion und der Kontrollwut, von der Machbarkeit, der (Selbst)Optimierung, des Zuwachses, der Reduktion des Menschseins auf das zahlenmäßig Messbare und der Individualisierung, haben Vieles in der Welt auf die Beine gestellt – und zwar nicht nur zum Schlechten, wie es uns die postkolonialen Kritiker weismachen wollen. Aber sie haben auch Vieles verloren und werden, wenn sie sich nicht gewahr werden, dass ihre Werte nicht jene sind, die die restliche Welt teilt und wie selbstverständlich und freudig darauf wartet wie einstmals die Cargo-Kult-Gesellschaften, so als sei es göttliche baraka, bald nur ein Schatten ihrer selbst sein. Denn die Erfahrung dieser anderen Logiken wird unsere eigene Gesellschaft bald in den Grundfesten erschüttern: auch wenn Europa zum Zeitpunkt der Drucklegung eine massenhafte Einwanderung von Flüchtlingen erlebt, so ist das westliche Lebensmodell nicht mehr, wie in den nachkolonialen Zeiten, alleiniger Leitstern der Intellektuellen und Massen der sogenannten Dritten Welt. Viele in den ehemaligen Kolonien haben sich davon abgewandt, heute konkurriert es dort mit chinesischen, saudischen, indischen und brasilianischen Lebensentwürfen als Vorbildern (um nur die wichtigsten zu nennen). Die Erfahrung der anderen Logiken birgt daher nicht nur die Möglichkeit in sich, dass diese kulturrelativen Welten schön faszinierend und sich gegenseitig bereichernd erfahren werden, auch können sie nicht nur für kurze Zeit schockierend sein, sondern manchmal ganz existentiell gefährlich für Leib und Seele – und das gilt sowohl für Individuen als auch für Kulturen als Ganzes. Die Ethnologie weist mit der langandauernden Teilnehmenden Beobachtung einen Weg, um mit dieser schockierenden oder auch ergreifenden Differenzerfahrung professionell umzugehen. Diese Erfahrung wird man als Ethnologe nie wieder los. Man wird sehen, wie es sich damit gedeihlich leben lässt – ‫( ا‬al-ḥamdu li-Llāh!).

Literatur

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