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German Pages [219] Year 2016
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András Wienands (Hg.)
System und Körper: Kreative Methoden in der systemischen Praxis
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 23 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40263-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Jana Kiewitt © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Ich widme dieses Buch allen, die so wie ich noch nie lange und gern auf ihrem Stuhl sitzen konnten. Und ich widme dieses Buch meinen Eltern! Dafür, dass sie mich eine Kindheit lang a usgehalten haben.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 András Wienands Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Joseph Richter-Mackenstein und Jessica Casanova Mit Familien körperlich werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Gudrun Bassarak Drachenei und Elfenspiegel. Musiktherapeutisch-systemische Methoden in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Thomas Reyer und Sandra Anklam Der Widerspenstigen Zähmung oder vom Zensieren innerer Zensoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Katinka Unger und Mischa Straßner Mein Sex. Dein Sex. Unser Sex! Mit Humor und Risikofreude eine selbstbestimmte Sexualität entfalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Stefan Schäkel Sprechende Wände. Ein integratives Medium zur Prozessbegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Wiltrud Brächter Narrative systemische Sandspieltherapie mit Kindern und Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Bärbel Smikalla-Weier und Günter Weier Körper, Bewusstsein und menschliches Wachstum. Die körperorientierte Psychotherapie nach Albert Pesso (PBSP) 127 7
Anett Renner SACHT entfacht. Mit systemischer Achtsamkeit Ressourcen entdecken und Gefühle nutzen für ein konstruktives Miteinander und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Martin A. Luger Das System im Körper. Überlegungen zur Komplementarität von systemischer und somatischer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Frauke Nees Improvisationstheater schafft Lust auf Veränderung: Innerer Kritiker meets inneren Querdenker . . . . . . . . . . . . . . . . 185 András Wienands Warum die Seele nicht doof ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
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Inhalt
Vorwort
Als mich Günter Presting vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Anbetracht des Erfolgs des ersten »System und Körper«-Bands fragte, ob ich einen zweiten Band herausgeben möchte, habe ich mich sehr gefreut. Mit dem zweiten Band bot sich mir die Möglichkeit, das Thema Körper um das Thema des kreativen Handelns im Therapieraum zu erweitern. Denn solange wir handeln, sind wir in und mit unserem Körper unterwegs. Wir verkörpern Gedanken, Gefühle und Worte. Dabei den Fokus nicht auf den Körper zu richten, sondern auf den Prozess des kreativen Gestaltens, empfinde ich als große Bereicherung für den therapeutischen Prozess. Das gemeinsame Gestalten wird so zum Medium der Kommunikation. Wir reden nicht mehr über das, was sich vor einer Woche zwischen den Beteiligten zugetragen hat, sondern konzentrieren uns auf das, was jetzt zwischen ihnen geschieht. Das schafft einen großen und vor allen Dingen wirksamen Spielraum für Interventionen. Dies zu reflektieren und in Folge zu modifizieren, ist so wirksam, weil es eine unmittelbare Rückmeldung auf jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Handlung im aktualisierten Kontext gibt. Anstatt neue Gedanken, Gefühle und Handlungen im Therapieraum lediglich vorzubereiten, um sie dann in der »Realität« auf ihre Nützlichkeit hin zu erproben, wird der Therapieraum zur Realität. Dieses direkte und schnelle Feedback erleichtert das Ausprobieren und gegebenenfalls Erlernen von neuen, hilfreichen und lösenden Gedanken, Gefühlen und Handlungen enorm. Mir scheint, als würden die Möglichkeiten, auf kreativem Wege Interaktion zu stiften, derer wir uns dann im therapeutischen Geschehen bedienen können, noch zu selten genutzt. Von daher möchte ich mit dem vorliegenden Band ein Plädoyer für die unter-
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Vorwort
schiedlichsten Formen des kreativen Miteinanders im Therapieraum verknüpfen. Und dabei gilt wie immer: Jeder auf seine Weise! Das gilt für Therapeutinnen und Therapeuten sowie Klientinnen und Klienten selbstverständlich in gleichem Maße. In diesem Sinne habe ich Ihnen ein Potpourri der unterschiedlichsten Möglichkeiten zusammengestellt, Ihre Klienten in Interaktionen zu verwickeln, um sie dabei unterstützen zu können, diese so zu gestalten, wie sie sich das wünschen und vorstellen. Dabei wünsche ich Ihnen ganz viel Freude. Denn systemische Therapie darf allen Beteiligten, bei allem Leid und aller existenziellen Tiefe, immer auch Spaß machen! András Wienands
András Wienands
Einleitung
Joseph Richter-Mackenstein und Jessica Casanova stellen in ihrem Beitrag »Mit Familien körperlich werden« Möglichkeiten vor, Familien via symbolischem Spiel, das heißt nicht-sprachlichen Interaktionsangeboten, in ein kreatives Miteinander eintauchen zu lassen. Dem Therapeuten bietet sich so die Möglichkeit, aktuelles Geschehen im Therapieraum aufzugreifen, um den emotionalen Dialog der Familienmitglieder zu moderieren. Dabei wird gewickelt, geschnitten und geklebt, ob nun der Sohn den Vater zu einem Geschenk verpackt oder der Vater den Sohn in stiller Trance mit Fäden umlegt. Dem kreativen Miteinander sind keine Grenzen gesetzt. Gudrun Bassarak zeigt in ihrem Beitrag mit dem Titel »Drachenei und Elfenspiegel. Musiktherapeutisch-systemische Methoden in der Praxis«, wie Musik – das Hören und das Machen – im therapeutischen Raum zu einem zentralen Element werden kann, um Stimmungen, Gedanken und Handlungsimpulse zu gestalten. Wo Worte manchmal nicht weiterkommen, kann Musik immer noch die Seele erreichen. Und obwohl wir alle immer und überall Musik hören, nutzen wir dieses einfache und doch seelisch kraftvolle Element in Therapie und Beratung viel zu selten. Thomas Reyer und Sandra Anklam lassen den Leser in ihrem Text mit dem Titel »Der Widerspenstigen Zähmung oder vom Zensieren innerer Zensoren« an rund 22 Interventionen teilhaben, die das Ziel haben, den inneren Zensor in seiner negativen Wirkung zu begrenzen. Beginnend mit dem »Fuck-Up-Afternoon« folgen viele weitere kreative Möglichkeiten, dem inneren Antreiber etwas entgegenzusetzen und Konfliktparteien zur Kooperation einzuladen – ob nun die inneren oder die äußeren. Zentral bleibt: Wird erst ein-
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mal gemeinsam im Therapieraum »gefuckt-up«, wird vieles möglich, was zuvor undenkbar schien. Katinka Unger und Mischa Straßner stellen in ihrem Beitrag »Mein Sex. Dein Sex. Unser Sex! Mit Humor und Risikofreude eine selbstbestimmte Sexualität entfalten« eine Möglichkeit vor, in einem Mehrpersonen-Setting die eigene Sexualität in ihren vielfältigen Facetten (wieder) zu entdecken. Spielerisch, humorvoll und liebevoll-provokativ führen sie dabei durch die drei Etappen ihrer Arbeitsweise mit der abenteuerlichen Welt der eigenen und partnerschaftlichen Sexualität. Mit diesem Modell bietet sich eine wundervolle und vor allen Dingen humorvolle Möglichkeit an, mit den männlichen und weiblichen Patienten im Gruppensetting das ja immer schnell brisante Thema Sexualität anzugehen. Spaß und Tiefgang sind garantiert. Stefan Schäkel lässt in seinem Beitrag »Sprechende Wände. Ein integratives Medium zur Prozessbegleitung« den verbalen Dialog durch einen bildlich-symbolischen Dialog an großen Papierwänden begleiten. Auf diese Weise wird neben dem Reflektieren immer auch ein Erspüren des Gesagten möglich, wodurch im Beratungs prozess eine vertiefte Wahrnehmung der eigenen Erlebnisebene möglich wird. Durch die Verbindung von der kommunikativen mit der gestaltenden Ebene erschließt sich ein integrativer Ansatz, der die unterschiedlichen Wahrnehmungskanäle verbindet und sinnlich »sprechen lässt«. Insbesondere für Klienten, denen es schwerfällt, Zugang zu ihren Gefühlen zu bekommen, oder aber auch Klienten, die dazu neigen, in ihren Gefühlen zu ertrinken, kann dieser sanfte Weg der bildlichen Ausgestaltung von allem, worüber gesprochen wird, sehr helfen. Wiltrud Brächter stellt ihr Konzept des narrativen Sandspiels in ihrem Beitrag »Narrative systemische Sandspieltherapie mit Kindern und Familien« vor. Durch das Modellieren des Sandes und das Agieren via Figuren wird die ganze Familie in einen Spieldialog eingeladen. Die Kontaktaufnahme mit Sand als therapeutischem Medium lässt in eine Ebene der Wahrnehmung eintauchen, die mit einem veränderten Zeiterleben und mit Tranceprozessen einhergehen kann. Wird genug Zeit gelassen, entsteht eine Art Selbstvergessenheit, bei der tief in die Szene eingetaucht wird, die man erschafft. So kann
Einleitung
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eine Brücke zu Bereichen der Wahrnehmung und Erinnerung entstehen, die dem Alltagsbewusstsein bisher verschlossen geblieben ist. Bärbel Smikalla-Weier und Günter Weier beschreiben in ihrem Beitrag »Körper, Bewusstsein und menschliches Wachstum. Die körperorientierte Psychotherapie nach Albert Pesso (PBSP)« die wichtigsten Elemente der Pesso-Psychotherapie, einer den Körper integrierenden Form der Psychotherapie. Neben den Elementen von Bühne und Struktur wird das Konzept der historischen und heil samen Szene oder der realen und symbolischen Ebene vorgestellt. Der Körper ist dabei immer wieder zentrales Medium für Entwicklung und Veränderung. Anett Renner lädt in ihrem Beitrag »SACHT entfacht. Mit systemischer Achtsamkeit Ressourcen entdecken und Gefühle nutzen für ein konstruktives Miteinander und Gesundheit« den Leser ein, die Tools des Systemischen Ressourcenmanagements (SRM) kennenzulernen. Der Text zeigt Wege auf und gibt Übungen an die Hand, um Klienten dabei zu unterstützen, stressbedingten Burnout zu vermeiden und die Achtsamkeit sich selbst und anderen gegenüber zu erhöhen. Ein gelungenes Ressourcenmanagement und das Thema Achtsamkeit stehen dabei im Vordergrund. Martin Luger diskutiert in seinem Beitrag »Das System im Körper. Überlegungen zur Komplementarität von systemischer und somatischer Praxis« die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der systemischen Vorgehensweise und der Feldenkraismethode, um anhand von praktischen Übungen Achtsamkeit durch Bewegung im Therapie- und Beratungsraum zu ermöglichen. Der Nutzen somatischer Marker oder der gefühlten Bedeutung wird auf diese Weise für den therapeutischen Prozess sichtbar gemacht. Insbesondere in der Arbeit mit Paaren lassen sich Elemente der Feldenkraismethode hervorragend nutzen, um im Miteinander wieder mehr Bewusstsein zu erzeugen und die Achtsamkeit gegenüber dem, was gesagt und getan wird, zu erhöhen. Frauke Nees stellt in ihrem Text mit dem Titel »Improvisationstheater schafft Lust auf Veränderung. Innerer Kritiker meets inneren Querdenker« kreative Methoden aus dem Improvisationstheater vor, die im Rahmen Systemischer Therapie und Beratung auf leichte und beschwingte Art Angst vor Veränderung nehmen können. Der
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»innere Rebell« kann dabei helfen, alte Gewohnheiten aufzubrechen, während der »innere Kritiker« den Rebellen wiederum erdet. Eine Entwicklung durch Kooperation, die Lust macht aufs gemeinsame Experimentieren. András Wienands setzt sich am Ende des Bandes mit der Frage auseinander, »Warum die Seele nicht doof ist«. Er plädiert bei allem Willen zur Veränderung und dem Glauben an die Machbarkeit von Veränderung für einen Fokus, der nahelegt, dass das, was die Seele an Störendem, Lästigem und Symptomatischem erfunden hat, immer auch eine sinnhafte Dimension beinhaltet. Trotz klarem Ziel zur Veränderung kann es daher auch sinnvoll sein, erst einmal innezuhalten und sich zu fragen, was die Seele denn nun schon wieder auf der Bühne des Lebens zur Darstellung gebracht hat.
Joseph Richter-Mackenstein und Jessica Casanova
Mit Familien körperlich werden
Problemaufriss und Begründung zur Körperarbeit mit Familien Alle Indizien deuten seit Jahrzehnten darauf hin, dass Psychotherapie und wohl auch Beratung (Warschburger, 2009) in ihrer Wirksamkeit wesentlich bestimmt sind von extratherapeutischen Variablen – also Dingen, Situationen, Zusammenhängen usw., auf welche in Therapie und Beratung nicht unmittelbar Einfluss genommen wird – sowie der Beziehungsausgestaltung zwischen Klienten und Therapeuten (Asay u. Lambert, 2001; siehe Abbildung 1). Beide Variablen zusammen klären allein schon rund 70 % der Varianz des Erfolgs auf. Mit 15 % für Erfolgserwartung und Hoffnung seitens der Klienten sowie 15 % für therapeutische Methoden und Techniken lässt sich die restliche Varianz begründen.
extratherapeutische Variablen 15 % 40 % Klient/-in-Therapeut/-inBeziehung
15 %
therapeutische Methoden und Techniken 30 %
Erfolgserwartung und Hoffnung
Abbildung 1: Wirkvariablen Therapie/Beratung (Asay u. Lambert, 2001)
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Das liest sich für viele selbst nach Jahren noch immer recht ernüchternd. Der mögliche Schreck verfliegt jedoch, vergegenwärtigen wir uns, dass eine hohe Interdependenz zwischen diesen Variablen besteht. Therapeutische Haltung (wie z. B. systemisch-konstruktivistische Weltsicht, Neutralität und Lösungsorientierung) und die daraus hervorgehenden Handlungen in Anwendung von Methoden und Techniken sind wesentlich bestimmend sowohl zur Realisierung einer hilfreichen therapeutischen Beziehung als auch in der Stärkung positiver Erwartungen und in der Hoffnungsbildung.1 All dies hat natürlich letztlich Einfluss auf die Herausbildung sich ändernder Verhaltens-, Erlebens- und Denkweisen unserer Klientel (u. a. Kriz, 2014). Grawe (2000) markiert fünf Prozessvariablen therapeutischen Erfolgs: a) therapeutische Beziehung, b) Ressourcenaktivierung, c) Problemaktualisierung, d) motivationale Klärung, e) Problembewältigung. Die gelingende therapeutische Beziehung steht also am Anfang (vgl. auch Grawe, 2000). Dies trifft natürlich ebenso auf die Arbeit mit Familien jüngerer Kinder zu. Bei einer inklusiven Arbeit jedoch geht es über die Ausgestaltung einer klassischen therapeutischen Beziehung zu allen Familienangehörigen hinaus insbesondere um die Stärkung der wohl wichtigsten Beziehung für die kindliche Entwicklung, nämlich der zwischen Bezugspersonen und Kind. So ist es auch naheliegend anzunehmen, dass die hohe Wirksamkeit familieninklusiver Interventionen im Vergleich zu allen anderen psychotherapeutischen Interventionsformen wesentlich auf diese Beziehung und ihre Stärkung zurückzuführen ist (Bratton, Ray, Rhine u. Jones, 2005). Trifft es nämlich zu, dass Menschen elementare Grundbedürf1 Wie einige wenige andere Autoren auch, macht besonders von Schlippe (2015) darauf aufmerksam, dass gerade die Haltung wesentlich ist und erst vor diesem Hintergrund Methoden und Techniken ihre spezifische Blüte (z. B. als systemisch) entfalten.
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nisse haben, deren Regulation wesentlich in zwischenmenschlichen Beziehungen erst gelernt wird, so spielen Eltern eine zentrale Rolle hierbei und damit letztlich auch bei der Vermeidung und Überwindung vieler kindlicher Psychopathologien. Schauen wir uns diesen Zusammenhang mal ein wenig näher an. Epstein (1990), und ähnlich unter anderem bereits Fromm (1976), formuliert fünf Grundbedürfnisse des Menschen: 1) Lustgewinn/Unlustvermeidung, 2) Bindungssicherheit, 3) Selbstwerterhöhung und -schutz, 4) Orientierung und Kontrolle, 5) Kohärenz. Es fällt hierbei nun auf, dass die ersten vier Bedürfnisse in ihrer Erfüllung oder Frustrierung wesentlich direkt abhängig sind von Umgebungsbedingungen, während das fünfte – da es sich quer zu diesen legt und die Ausbalancierung der ersten vier anstrebt – wesentlich internal realisiert wird (Epstein, 1990). Das Herstellen von Kohärenz und die damit einhergehende Regulation zur Erfüllung oder Kompensation der vier anderen Bedürfnisse aber ist zentral abhängig von zwischenmenschlichen Erfahrungen, also den erlebten Reaktionen einer primären sozialen Umwelt. Die Art und Weise elterlicher Reaktionen auf Bedürfnisäußerungen und Frustrationen des Kindes spiegelt dem Kind auf Dauer also wider, wie es Kohärenz realisieren kann.2 So verstärkt es oder internalisiert es diese Strategien (u. a. im Sinne innerer Arbeitsmodelle). Der Umgang mit den Grundbedürfnissen ist also wesentlich abhängig von primären und sekundären Bindungserfahrungen über die Kindheit hinweg (u. a. Dornes, 1993; Bierhoff u. Grau, 1999) – wobei die Erfahrung von Bindungssicherheit wohl als das zentrale Grundbedürfnis zu Beginn unserer personalen Entwicklung gelten kann. 2 Über diese Erfahrungen hinweg erfährt das Kind zudem, wie die primären Bezugspersonen zu ihm und seinem Verhalten stehen (u. a. Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2015; Geuter, 2015). Es lernt also zudem etwas über sein Selbst.
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Zur Realisierung »gesunder« Erfahrungen bedarf es eines fein abgestimmten und befriedigenden Koordinierens des Fürsorgesystems der Eltern mit dem Bindungsverhaltenssystem3 des Kindes (Bowlby, 1969). Dabei sollen die Reaktionen auf Bindungsverhalten die elementarsten Grundbedürfnisse des Kindes befriedigen helfen; allerdings ist die körperliche Nähe und gefühlte Sicherheit zur primären Bezugsperson als wichtiger einzuschätzen als beispielsweise Essen und Trinken (vgl. u. a. Lohaus u. Vierhaus, 2013). Als wesentliche Eigenschaften der Bezugspersonen um des Kindes Grundbedürfnisse zu befriedigen gelten (unter anderem nach Fonagy, 2003): Feinfühligkeit, Herzlichkeit, Offenheit, Gleichklang (gemeinschaftliches Abstimmen), angemessene Stimulation, Authentizität, Reflexivität und die Empfänglichkeit für unangenehme Affekte. Allem voranstehend und in der Regel auch Voraussetzung für die restlichen Eigenschaften ist die Feinfühligkeit. Diese klärt als Faktor allein bereits 48 % der Gesamtvarianz der hilfreichen Eigenschaften zur Herstellung von Bindungssicherheit auf (van IJzendoorn u. de Wolff, 1997). Die gelingende Koordination von Bindungsverhalten und Fürsorgeverhalten, die gelingende Interaktion also, welche letztlich zur Bedürfnisbefriedigung oder stellvertretenden bzw. begleitend-unterstützenden Regulation führt, wird in der kindlichen Entwicklung wesentlich – je jünger, umso mehr – nicht-sprachlich realisiert. Es handelt sich vor allem um ein nonverbales Dialogisieren in Form von »social referencing«, »proto-conversation«, »give-take-games«, »provocation-action-games«, »affect-attunement«, »selective attunement« und »tuning« (u. a. Grossmann u. Grossmann, 2015; Dornes, 1993; Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2015). Menschen setzen sich also nicht nur mit ihrer dinglichen Umwelt zuerst einmal körperlich auseinander, sondern eben auch mit ihrer unmittelbar sozialen 3 Fürsorgeverhalten: Damit gemeint ist die Reaktion auf das Bindungsverhalten des Kindes; unter anderem Befriedigung der Bedürfnisse nach Nähe, Wärme, Nahrungsaufnahme usw., oder sogenannte Containerfunktionen wie Trost, Anteilnahme usw. Bindungsverhalten: Dazu gehört Schreien, Lächeln, Weinen, Blickkontakt, Imitation – später auch komplexere Verhaltensweisen, die Nähe herstellen oder garantieren (z. B. Klammern, Kuscheln, Küssen, Jammern, Feilschen etc.).
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(u. a. Geuter, 2015; Reichenbach, 2011; Eckert, 2004; Kriz, 2015). Von diesen nonverbal-leiblichen Dialogen, welche oft auch tonisch-emotionale Dialoge genannt werden (Seewald, 2007), ist letztlich auch die Entwicklung des Selbst wesentlich bestimmt (Damasio, 1999, 2002), ohne dass auf diesen Zusammenhang hier näher eingegangen werden kann (siehe Geuter, 2015). Gelingender und einfühlsamer tonisch-emotionaler Dialog und Feinfühligkeit stehen wiederum in augenscheinlich engem Zusammenhang.
Fazit Wir können abschließend festhalten, dass Haltung, Techniken und Methoden zur Realisierung therapeutischer Beziehung und Beeinflussung von Hoffnung sowie extratherapeutischer Veränderung in der Arbeit mit Kindern wesentlich methodisch auf die heilsame Beziehung zwischen Eltern und Kindern ausgerichtet sein sollten. Zudem sollte die therapeutische Arbeit wesentlich auf körper bezogene Methoden in der Eltern-Kind-Interaktion ausgelegt sein. Denn wie wir gerade zeigten, spielt der Körper in Form von tonischemotionalem Dialog bzw. affektmotorischer Interaktion dabei eine zentrale Rolle.
Praxis körperorientierter Beziehungsarbeit mit Familien Das wesentliche Wirkmoment in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern ist die elterliche Begleitung des Kindes im alltäglichen So-Sein. Besonders deutlich wird das im begleitenden Spiel, einer Art des Spiels, in welchem sich Eltern auf die Themen der Kinder einlassen, dieses begleitend unterstützen, ohne zu viel Führung zu übernehmen (VanFleet, 2005). Zusammenzuhängen scheint dies unter anderem mit der Feinfühligkeit von Eltern und dem damit einhergehend ausgewogenen Verhältnis von Führen und Folgen in einfühlsamer, authentischer und zudem strukturierend leitender Präsenz des Alltags (VanFleet, 2005). Eltern realisieren demnach im »gesunden« Miteinander die Bedingungen zur Erfüllung der oben formulierten Grundbedürfnisse. Dies aber passiert eben wesentlich über den tonisch-emotionalen Dialog (Seewald, 2007), über affekt-
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motorische Kommunikation (Dornes, 1993; Geuter, 2015) und zwar umso mehr, umso jünger die Kinder noch sind, umso stärker Verstehen also auf nicht-sprachliche Kommunikation angewiesen ist – bis mindestens also zum zwölften Lebensjahr (Richter, 2012). Elementarstes Medium, wenn man so sagen kann, um gelingende (intime und damit verstehende) Eltern-Kind-Beziehung zu realisieren, also den Wirkfaktor in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern, ist nach all dem, was wir oben bereits gezeigt haben, – und zwar noch vor dem Einlassen auf symbolisches Spiel – die körper liche Nähe selbst. Dabei kann es jedoch nicht allein um die Quantität der Nähe oder des direkten Kontakts gehen – schließlich erleben wir in der Praxis Eltern in ambivalenter Bindung zum Kind oder überbehütende Eltern oft in intensivem Körperkontakt mit ihren Kindern. Vielmehr geht es um Qualität in Form eines spürenden und authentisch zustimmenden Sich-Einlassens auf einen tonischemotionalen Dialog (Eckert, 2000, 2004).
Beispiele und Übungen für körperorientierte Beziehungsarbeit Die nun vorzustellende Praxis ist sicherlich keine neue Erfindung. In der Psychomotorik (Motopädie, Mototherapie bzw. Motologie) ist eine solche Praxis alltäglicher Standard in der Arbeit mit Kindern (u. a. Eggert, 2008; Passolt u. Pinter-Theiss, 2003). Wir wollen diese Praxis jedoch unter der Perspektive psychosozialer Förderung der Eltern-Kind-Beziehung nutzen. Dabei beginnen wir mit Übungen, welche eher bewegungsintensiv sind und den Körperkontakt auf ein Minimum halten, präsentieren dann Übungen, welche das Körperschema/Körperbild4 in den Blick nehmen und bereits mehr 4 Körperschema wird unter anderem bei Geuter (2015) verstanden als somato- sensorische (taktil-haptisch, visceral) und senso-motorische (vestibulär- kinesthetische, visuell etc.) Repräsentanz des Körper-Ichs im Raum und in Ausdehnung. Als Körperbild wird hingegen sowohl Körperkonzept (bewusstseinsfähige Beschreibung des einen Körperselbst), Körperempfinden (Erleben seines Selbst als und mit Körper) als auch Körperaffekt (die emotionale Einstellung zum eigenen Körper) verstanden. Körperschema und Körperbild sind dabei als wesentliche Referenzpunkte (Stichwort somatische Marker u. a.
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bewusste Nähe realisieren, und schließen endlich mit solchen Übungen5, welche die unmittelbare körperliche Berührung im Zentrum haben. Besonders die Eltern werden hierbei immer wieder angeleitet, sich auf das gegenwärtige Erleben zu konzentrieren und feinfühlig mit dem Gegenüber mitzuschwingen. Übung: Klammerfangen
Jedes Familienmitglied bekommt fünf bis zehn Wäscheklammern, die an den Kleidern so befestigt werden, dass sie für dritte Personen gut zugänglich sind. Nun geht es darum, schnellstmöglich viele Klammern zu ergattern – und zwar indem die Spielpartner sich mit viel List und Reaktionsvermögen gegenseitig »berauben«. Beendet wird das Spiel mit einem Signal. Klammerfangen ist ein freudevolles, lustiges Spiel, bei dem mehrere Ziele verfolgt werden können. Elternteil und Kind fokussieren sich auf das gemeinsame Bestreben, dem anderen viele Klammern wegzuschnappen. Oft werden die Bewegungen des Gegenübers hierbei sehr genau beobachtet, dessen Körpersprache und -reaktion, um den anderen so weit wahrzunehmen, dass antizipierend vorgegriffen und somit der ersehnte Schatz erobert werden kann. Darüber hinaus können sich die Spielpartner Achtung und Aufmerksamkeit schenken. Ein Aufeinander-Eingehen in Art eines Bewegungsdialogs wird realisiert. Aus einer schlichten Variante des klassischen Fangenspiels wird eine Übung zur Kontaktaufnahme aus der systemisch-psychomotorischen Betrachtungsebene. Kind und Elternteil bekommen hierbei die Möglichkeit, sich mit einer gemeinsamen Körperlichkeit auseinanderzusetzen. Zeit: 5 Minuten Material: fünf bis zehn Klammern pro Familienmitglied
im Sinne Damasios [1999, 2002, 2007]) des Selbst zu begreifen. Besonders das Körperbild entwickelt sich hierbei entscheidend auch über Beziehungen im oben beschriebenen Sinne. Wir verhalten uns eben auch körperlich (leiblich-symbolisch) in und zur personalen sowie dinglichen Welt als auch zu uns selbst. 5 Übungen aus der Vegetotherapie bzw. Bioenergetik (vgl. Reich, 1969).
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Übung: Igelball (Noppenball, Sensorikball)
Igelbälle gibt es in vielfältigsten Formen, Farben und Strukturen. Sie gehören zu jenen Materialien, welche sich in der therapeutischen Praxis vielseitig verwenden lassen und sowohl spannungsreiche als auch ruhigere Aktivitäten erlauben. Als ruhige Aktivitäten gelten unter anderem Massagen. Massagen sind nicht nur wirksame Mittel, die körperintensives Spüren intendieren, bei welchen sich Kind und Elternteil fallen lassen können, auch eigenleibliches und zwischenleibliches Spüren werden in besonderer Weise angeregt. Voraussetzung hierzu ist natürlich, dass sich die Familienmitglieder sowohl auf das eigene als auch auf das gemeinsame Erleben bewusst konzentrieren. Zeit lassen ist die Devise. Der Igelball wird mit leichtem Druck, in verbaler oder auch nonverbaler Absprache mit dem Gegenüber, linear oder kreisförmig über den gesamten Körper bewegt. Eine Vorbedingung besteht darin, die Reaktionen des anderen genau zu beobachten: Die Mimik und die leichten Veränderungen der Körperspannung geben dem Massierenden Hinweise darüber, wie es dem Partner geht. Die Idee, eine Annäherung auf körperlicher Ebene anhand eines solchen Mediums anzustoßen, kann sich innerhalb familieninklusiver Angebote als hilfreich erweisen sowie mögliche Barrieren und Blockaden schrittweise »abbauen«. Entscheidend ist es, dabei die Grenzen und Schutzmechanismen aller Beteiligten stets zu beachten. Die nonverbale Sprache auf tonischer Ebene spricht oft Bände, doch erst eine aufmerksame Zuwendung lässt manche »Botschaft« sichtbar werden. Zeit: 10–15 Minuten Material: unterschiedliche Igelbälle, Sensorikbälle, Noppenbälle, eine angenehme Unterlage (Matte)
Übung: Körperzeichnen und -legen
Variante Körperumfangübung: Ein Familienmitglied legt sich auf einen körpergroßen Packpapierstreifen (unterlegt mit einer Gymnastikmatte). Das Gegenüber nimmt Wachsmalstifte und fährt damit den Körperumriss nach. Hierbei ist es sehr wichtig, sich Zeit zu nehmen. Es
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geht darum, dem liegenden Familienmitglied den eigenen Körper erfahrbar zu machen. Daher wird zugleich beim Nachziehen des Körpers dieser an der am Stift befindlichen Stelle berührt. Ein oft festzustellendes Phänomen ist, dass Menschen bei dieser Übung ihres eigenen Körpers anders bewusst werden als im Alltag. Das intensiviert sich oft dadurch, dass sie schließlich vor ihrem gezeichneten schematischen Umriss stehen. Dieser Umriss ist oft ein positiv empfundenes Zerrbild, mehr Astralleib als anatomischer Körper. Eine Alternative zu den Wachsmalstiften sind Seile und Wollfäden, mit welchen der Körper nachgelegt wird (siehe Abbildung 2).
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Abbildung 2: Körperumfangübung mit Wollfäden
Zeit: 15–25 Minuten Material: Matten, Packpapier, Wachsmalstifte, Seile, Wolle Variante Körperflächeübung: Mit Bierdeckeln kann man die »Grenzen« der gesamten Körperoberfläche »spürbar« machen: Durch Vibration, leichten Druck oder behutsames, federleichtes Auflegen und Abnehmen lassen sich hierbei vielseitige Eindrücke auslösen, welche ausgehend von der Hautoberfläche tiefere Ebenen zu erreichen vermögen. Die Mimik, die tonischen Regungen und der Augenkontakt geben hierbei wertvolle Informationen zur Befindlichkeit; diese sollten aufmerksam und »mehrstimmig« gedeutet werden und können anhand kurzer Rückmeldungen bestätigt werden. Die ganze Situation zielt auf das gegenseitige feinfühlige Beobachten und Achten der Befindlichkeiten des Gegenübers aus körpernaher Perspektive. Zeit: 15 Minuten Material: Matte, Bierdeckel
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Übung: Atemgleichklang
Die Atmung – ebenso das Atemmuster – eines Menschen ist individuell und erfolgt im Alltag ohne größere bewusste Steuerung. Elternteil und Kind sollen bei der nachfolgenden Übung je nacheinander die Atmung des Gegenübers erspüren, aufnehmen und versuchen leicht zu verändern. Hierzu legt sich ein Familienmitglied hin und das andere setzt sich an dessen Seite. Dann legt das sitzende Familienmitglied eine Hand auf den Bauch des Gegenübers und versucht sich zuerst in das Atmen einzufühlen, indem die Hand der Atembewegung des bzw. der Liegenden folgt. Entsteht der Eindruck, den Rhythmus aufgenommen zu haben, also gemeinsam im Atmen zu schwingen, so kann nun versucht werden den Rhythmus zu verändern. Das wird erreicht, indem der Druck mit der Hand auf dem Bauch entweder leicht erhöht oder gesenkt, die Geschwindigkeit der Auf- und Abbewegung erhöht oder verringert wird. Lässt sich das Gegenüber auf die Rhythmusveränderung nicht ein, so wird wieder versucht, sich auf den Rhythmus der bzw. des Liegenden einzustellen. Es gilt, die Reaktionen des Gegenübers genau und feinfühlig zu beobachten, um Wohlbefinden, Unmut oder Unbehagen aufzuspüren und die Situation dementsprechend anzupassen. Neben dem genauen Erspüren von Atemmustern gibt diese Übung in der Reflexion die Möglichkeit, sich anhand einer intimen, körperlich intensiven Spürsituation mit Macht und Widerstandsgefühlen auseinanderzusetzen. Zeit: 5–10 Minuten Material: nach Wahl eine Matte oder einen Stuhl
Übung: Fesseln
Immer wieder wird in Therapie die Erfahrung gemacht, dass Kinder im symbolischen Spiel gern gefangen nehmen und fesseln. Das Fesseln selbst hat hierbei natürlich recht vielfältige und zudem individuelle Bedeutung. Es geht unter anderem darum, jemanden an sich zu binden, um Sicherheit und Geborgenheit, um Verlustangst und um
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Macht. Wichtig ist zu verstehen, dass Fesseln Vertrauen voraussetzt und – im behutsamen Miteinander – zugleich stiften kann. Im Rahmen familieninklusiver systemisch-psychomotorischer Therapie gilt es, über einen begleiteten feinfühligen Umgang der Familienmitglieder Letzteres zu unterstützen. Der Auftrag an die Familie lautet dabei, dass sich paarweise nacheinander gefesselt werden soll. Hierzu stehen vielfältige Materialien zur Verfügung: Packpapier, Seile, Kreppklebeband, Klopapier, Wollfäden oder sogar Frischhaltefolie (siehe Abbildungen 3–5). In Absprache der Paare untereinander vereinbaren diese dann Material und Art des Fesselns. Soll es zudem darum gehen, so zu fesseln, dass Personen sich nur unter Unterstützung selbst befreien können? Sollen gegebenenfalls sogar Personen miteinander gefesselt, verbunden und verknotet werden? Diese Fragen müssen die Familienmitglieder – je für sich und während des gesamten Spiels – abstimmen. Und natürlich ist darauf zu achten, ob sich alle Beteiligten wohl damit fühlen. Im Anschluss kann sich dann im Gespräch über die Erlebnisse ausgetauscht werden, gerade auch über die durch das Fesseln und Gefesseltwerden ausgelösten wider-
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Abbildung 3: Fesselübung mit unterschiedlichen Materialien
Abbildungen 4 und 5: Fessel übung mit Klopapier und Bändern
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sprüchlichen Gefühle (z. B. vonMacht und Ohnmacht, Lust und Unlust, Freude und Angst, Geborgenheit, Sicherheit und Unsicherheit). Zeit: 30 Minuten Material: Matte, Seile, unterschiedliche Materialien zum Fesseln (Packpapier, Aluminiumfolie, Frischhaltefolie, Klopapier, Kreppklebeband etc.)
Übung: Strömen
In der einfachen Variante geht es bei der Übung darum, den Kopf und die Füße des Gegenübers zu halten und der eigenen »Intuition« und dem Körpergefühl folgend diese so (in der Regel minimal) zu bewegen, dass der Eindruck bei der/dem Haltenden sowie Gehaltenen entsteht, es bewege sich die Lebensenergie frei strömend durch den gesamten Körper (vom Herzen zu Kopf, Armen, Becken, Beinen bis hin zu den Füßen). Hierzu setzt sich der/die Haltende in eine bequeme Position zuerst neben den zu Haltenden/die zu Haltende und nimmt Kontakt über das Handauflegen in der Körpermitte (Unter- bis Oberbauch) auf. Nach einer Weile wird sich abwechselnd – je nach Eindruck der/des Haltenden – vor Kopf und oder Füße gesetzt und mit beiden Händen haltend oder berührend der Kopf oder die Füße minimal nach hinten, rechts, links, oben oder unten bewegt. Ziel ist aus der oben beschriebenen Perspektive in erster Linie der Kontakt selbst. Darüber hinaus wird natürlich die Feinfühligkeit der Familienmitglieder füreinander sensibilisiert. Zeit: mindestens 10–20 Minuten Material: Matte
Mit Familien körperlich werden
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Gudrun Bassarak
Drachenei und Elfenspiegel Musiktherapeutisch-systemische Methoden in der Praxis
Musiktherapeutisch-systemische Interventionen für Kinder und Jugendliche sind ohne die Einbeziehung des Körpers nicht denkbar. Sie sind ebenso wie körpertherapeutische Interventionen handlungs- und erlebnisintensivierend. Sie haben zum Ziel, den jungen Klienten bzw. Klientinnen und ihren Bezugspersonen behilflich zu sein, über das Erleben der vertrauensvollen therapeutischen Beziehung und neuer hilfreicher Erfahrungen einen Weg zu einer weniger leidvoll erlebten Lebenssituation zu finden. In der klinischen Praxis erfordert der Einsatz musiktherapeutisch-systemischer Interventionen das Wissen des Therapeuten bzw. der Therapeutin um eigenes kreatives Potenzial, um die Interventionen und Techniken unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Gegebenheiten gezielt auf das individuelle Denken, Handeln und Fühlen des Klienten bzw. der Klientin und seine/ihre aktuelle Situation abstimmen zu können.
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Wer bin ich? Ich bin der, der alles kann Und doch nichts tut. Ich bin der, der alles kennt Und doch nichts weiß. Ich bin der, der alles fühlt Und doch nichts zeigt. Ich bin der, der ständig traurig ist Und doch nicht weint. Ich bin der, der ständig denkt Und doch nicht weiß, worüber. Refrain: Doch macht euch auf! Wir kämpfen trotzdem! Brüder und Schwestern, Das Feuer ist in uns! Wir sind nicht allein! Wir kämpfen, bis wir – Wir kämpfen, bis wir – Bis wir siegen! Wir sind die, die alles können Und doch nichts tun. Wir sind die, die alles kennen Und doch nichts wissen. Wir sind die, die alles fühlen Und doch nichts zeigen. Wir sind die, die ständig traurig sind Und doch nicht weinen. Wir sind die, die ständig denken Und doch nicht wissen, worüber. Refrain 2x
Songtext von Tobias, 16 Jahre alt
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Tschuung, tschitsche, tschuung, tschitsche, tschuung tschitsche … Aus dem Zimmer des 14-jährigen Lothar Amadeus dringen merkwürdige Geräusche. Die rhythmischen Beats wabern lautstark durch das elterliche Reihenhaus, lassen die Füllmasse in den Türblättern herabrieseln und bringen scheinbar die Tapeten zum Abrollen. »Das ist doch keine Musik!«, schreit der Vater. »Du wirst dir noch die Ohren verderben mit diesem ewigen ›Tschuung, tschitsche, tschuung, tschitsche‹!« »Hör doch mal was Richtiges«, ruft die Mutter, »und Hausaufgaben musst du auch noch machen.« Lothar Amadeus hört nichts, laut singt er: »Jäääääää, jääääää, jääääää!« Er befindet sich gerade auf der Bühne vor Tausenden von Zuschauern und spielt in der Phantasie mit der Luftgitarre in seiner Lieblingsband mit … Ganz anders verlief die Entwicklung des 16-jährigen Tobias, von welchem die vorangestellten Verse mit dem Titel »Wer bin ich« stammen. In der Entwicklungszeit, in welcher das Ablösen vom Elternhaus ein entscheidender Schritt auf dem Weg der Identitätsentwicklung ist, sorgte er sich um seinen schwerkranken Vater, bei dem er lebte, und litt darunter, als Kind von seiner – nach seinen Beschreibungen – psychisch hochgradig belasteten Mutter verlassen worden zu sein, während andere Geschwister weiterhin bei ihr wohnten. Infolge der andauernden emotionalen Überlastung erkrankte er schließlich so schwer, dass er auf eine Station für Kinder- und Jugendpsychosomatik aufgenommen werden musste. Dort erhielt er als Bestandteil des multiprofessionellen Behandlungskonzepts systemisch orientierte Musiktherapie. Zu Therapiebeginn hat Tobias kaum Zugang zu eigenen Gefühlen. Seine Wahrnehmungen sind vor allem von Sorgen um seine Angehörigen und seiner Angst, ebenso zu erkranken wie der Vater, bestimmt. Die Mutter steht ihm nicht zur Verfügung. Im Verlauf der Therapie setzt er sich intensiv mit seiner Lebensgeschichte auseinander und entdeckt seine musikalische und dichterische Kreativität als Ressource. Sein Songtext, den er während seines Aufenthalts in der Klinik schreibt und auch selbst zur Gitarrenbegleitung singt, zeugt auf symbolische Weise davon, wie es ihm gelungen ist, Blockaden seiner durch Angst gehemmten Fähigkeit zu mentalisieren aufzulösen. Tobias kann inzwischen eigene Affektzustände als »richtig« wahrnehmen und sich der
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eigenen Gefühle bewusst werden. Er ist auch in der Lage, Affektzustände seines Gegenübers wahrzunehmen, und kann sich Vorstellungen von dessen Gefühlen bilden; so schreibt er die erste Strophe in der Ich-Form, während er in der zweiten Strophe als »wir« spricht. Tobias reflektiert, wie man sich selbst in Bezug zum anderen fühlen kann, wie seine eigenen Gefühle ihre Berechtigung haben, denen anderer ähneln können oder sich von diesen unterscheiden können. Im Refrain des Liedes bringt er zum Ausdruck, wie er sich in seiner inneren Welt als Held oder Anführer sieht, der dazu aufruft, die Veränderungsenergie, welche aus der schwierigen Lebenssituation erwachsen ist, gemeinsam zu nutzen, um von der lähmenden traurigen Passivität zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit und zu Aktivität zu finden. Im Nachgespräch über den Songtext wird Tobias geholfen, sich selbst und den anderen zu mentalisieren. Das heißt, er wird unterstützt, sich sozusagen von einem neutralen, »äußeren« Standpunkt aus eine Vorstellung von der Interaktion zwischen sich selbst und dem anderen zu machen und sich darüber bewusst zu werden, dass es sich bei diesen Vorstellungen um eine Annahme über die wahrgenommenen Absichten und Motive seines Gegenübers handelt, nicht aber um eine Wahrheit. Tobias wagt es schließlich, seinen eigenen Song mit einer von ihm erfundenen Melodie vor den anderen Jugendlichen in der Therapiegruppe vorzutragen, was wiederum Ausgangspunkt für intensive Gespräche in der Gruppe wird. Im künstlerisch-kreativen Ausdruck hat Tobias einen Weg gefunden, seine Visionen symbolisch zum Ausdruck zu bringen, und hat damit einen tiefen Eindruck bei seinen Mitpatienten und in der Folge bei den Kolleginnen und Kollegen des interdisziplinären Teams hinterlassen.
Kreativität und neurobiologische Perspektive Nach Gerald Hüther (2013, S. 78) lässt sich inzwischen mithilfe bildgebender Verfahren (funktioneller Magnetresonanztomografie) »nachweisen, dass im Gehirn eines kreativen Menschen gleichzeitig mehr und entfernter liegende Netzwerke aktiviert werden, wenn er ein bestimmtes Bild betrachtet, einem Gedanken folgt oder ein Problem löst. Hirntechnisch können kreative Lösungen also nur dann gefunden werden, wenn es einem Menschen
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gelingt, sehr viele, sehr verschiedene und bisher voneinander getrennt abgelegte Wissens- und Gedächtnisinhalte gleichzeitig wachzurufen und die für die Aktivierung dieser Inhalte erforderlichen regionalen Netzwerke auf eine neue Weise miteinander zu verknüpfen. Kreativ sein heißt also nicht in erster Linie, Neues zu erfinden, sondern das bereits vorhandene, aber bisher getrennte Wissen auf eine neue Weise miteinander zu verbinden.« Und Hüther (2013, S. 78) betont: »Für jeden Menschen heißt das, dass er, um seine Potenziale entfalten und sich weiterentwickeln zu können, auf Begegnungen und Austausch mit anderen Menschen angewiesen ist.« Das Medium Musik ermöglicht – sofern es auf die individuelle Situation des Klienten passend abgestimmt ist – ein unmittelbares Gemeinschaftserleben zwischen Menschen auch ohne Worte.
Musiktherapeutisch-systemische Interventionen Musik ist eine Kategorie zur Beschreibung von unterschiedlichen physikalischen und akustischen Phänomenen, deren Elemente Klang, Rhythmus, Melodie, Harmonie und Form von individuellen, kulturellen, ontogenetischen und transgenerationalen Aspekten beeinflusst werden. Die Musikwahrnehmung findet innerhalb der eigenen biologischen Grenzen statt und ist nicht von Mensch zu Mensch übertragbar. Musik stimuliert das emotionale Erleben und fördert das Entstehen innerer Bilder. Da Musik starke emotionale Reaktionen beim Klienten auslösen kann, muss ihr Einsatz sehr reflektiert erfolgen und auf die persönliche sozio-emotionale Situation des Klienten, sein Entwicklungsalter sowie seine aktuelle Affektlage abgestimmt sein. »In der Therapie gehen wir von einer Musik-Auffassung aus, die Ähnlichkeit mit dem Musikbegriff aus dem klassischen Griechenland des 5. und 4. Jahrhundert vor Christus hat: ›Musiké techne‹ – ›die Kunst der Musen‹ – bezeichnet die Einheit von Dichtung, Musik und Tanz als umfassende Ausdrucksform des Menschen in seiner ganzen Person« (Bassarak, 2009a, S. 101).
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In den letzten Jahren habe ich eine Reihe von praxisbezogenen Beiträgen zu dem Themenkomplex Musiktherapie in Verbindung mit familientherapeutischen Interventionen, Systemischer Therapie und Beratung sowie Systemischer Kinder- und Jugendlichentherapie in den Arbeitsfeldern Sozialpädiatrie und Kinder- und Jugendpsychosomatik veröffentlicht (Bassarak, 2003, 2004, 2008, 2009a, 2009b, 2009c, 2010, 2011, 2014a, 2014b, 2015). In diesem Beitrag möchte ich, darauf aufbauend, körperorientierte musiktherapeutisch-systemische Techniken als Einladung zum Ausprobieren und Weiterlernen beschreiben und sie – soweit es geht – erlebbar machen. Alle Fallbeispiele verstehen sich eingebettet in systemische Vorgehensweisen mit intensiver Einbeziehung der Eltern oder jeweiligen Bezugspersonen. So führt beispielsweise die sorgfältige Erarbeitung des Therapieauftrags, verbunden mit konstruktiven Fragen (beispielsweise: »Woran würden Sie merken, dass die Therapie erfolgreich war?«) häufig schon zu ersten Schritten der Veränderung. Nachfolgend lade ich Sie ein, einmal die Wirkung von Musik anhand dreier ausgewählter klassischer Musikstücke selbst auszuprobieren. Übung: Musik zeigt Wirkung
Suchen Sie sich die drei Musikstücke und sehen Sie sich beim Hören der Musikstücke Abbildung 1 an: 1. Johann Joachim Quantz: Konzert Nr. 161 (QV 5:174) G-Dur für Flöte und Streichorchester (daraus: 3. Satz Presto), 2. Remo Giazotto: Adagio g-Moll für Streicher und Orgel (angeblich nach einem Thema von Tomaso Albinoni, dem das Werk viele Jahre lang zugeschrieben wurde), 3. Ludwig van Beethoven: Ouvertüre c-Moll op. 62 zu Collin’s Trauerspiel »Coriolan«. Hören Sie nun die drei Musikstücke nacheinander an und machen Sie sich jeweils Notizen zu Ihren Assoziationen dabei. Während des Hörens können Sie sich folgende Fragen stellen: –– Was haben Sie wahrgenommen? –– Wie ist die Stimmung?
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Abbildung 1: Skulptur von Ute Laux, Foto von Gudrun Bassarak
–– Wohin bringt Sie die Musik? –– Wo spüren Sie das in Ihrem Körper? Sie können sich während des Hörens auch darüber Gedanken machen, was wohl der Mensch empfinden mag, dessen Hände auf dem Bild zu sehen sind. Sie können das Bild und die Musik zusammen auch als Ausgangpunkt für eine kreative Neuschöpfung verwenden, etwa ein gemaltes Bild, ein Gedicht oder eine Geschichte. Möglicherweise hatten Sie beim Hören der drei sich im Affekt stark unterscheidenden Musikstücke auch ganz unterschiedliche Assoziationen.
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Das Arbeiten mit Bildern in Verbindung mit sorgfältig ausgewählter Musik ist eine Technik der rezeptiven Musiktherapie (Frohne-Hagemann, 2004). Eine jugendliche Klientin beschrieb nach dem Hören der Stücke von Giazotto und Quantz das Bild so: »Ein kleines Kind, was behindert ist, was auf Hilfe angewiesen ist … Eine Mutter, die es fürsorglich halten tut … Ein Kind, was viel durch hat und sein Leben lang nicht mehr normal sein wird. Ein Kind, was eine Krankheit überstanden hat und trotzdem immer mit den Folgen kämpfen muss. Aber hinter all dem steckt ein lebensfrohes Kind, dass so weit wie möglich alles entdecken will … mit einer Mama, die alles dafür tut, dass es ihm gut geht.«
Musikimagination – Johanna, 12 Jahre alt Eine gute Möglichkeit, mit einem älteren Kind oder einer/einem Jugendlichen über stärkende und belastende Lebensereignisse ins Gespräch zu kommen, ist die Arbeit mit Methoden der Musik imagination (Bassarak, 2010, 2014; Frohne-Hagemann, 2004, 2014). Im Folgenden beschreibe ich eine mögliche Vorgehensweise. Übung: Musikimagination
Ich teile ein Blatt Zeichenkarton im A3-Format in vier Felder und bitte das Kind bzw. die Jugendliche/den Jugendlichen, in drei davon jeweils ein Bild zu malen. Ich erkläre, dass ich zu jedem der zu malenden Bilder ein anderes Musikstück auswählen werde. Das vierte Feld bleibt zunächst frei. Nacheinander lasse ich dann die drei oben genannten Musikstücke erklingen. Auch wenn die meisten Menschen den Konzertsatz von Quantz eher als heiter und fröhlich, das Adagio von Giazotto eher als traurig und die Coriolan-Ouvertüre von Beethoven eher als wütend und ohnmächtig empfinden, so ist das Musikerleben dennoch individuell. Das Bild, welches das Kind bzw. der/die Jugendliche zu der Musik gemalt hat, wird vom Therapeuten nicht interpretiert. Im Nachgespräch wird das Kind bzw. der Jugendliche angeregt, etwas zu den Bildern zu erzählen.
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Vorsichtig erkundige ich mich nach den eher fröhlich und den eher traurig empfundenen Teilen des Bildes. Mit Behutsamkeit kann man erfragen, wann das Kind oder die/der Jugendliche etwas so Fröhliches oder Trauriges, wie auf dem Bild zu sehen und in der Musik erklungen ist, erlebt hat. Man kann auch eine Figur (z. B. vom Familienbrett) zu Hilfe nehmen, mit dieser von Bild zu Bild gehen und mit dem Kind bzw. dem/der Jugendlichen besprechen, was wohl die Figur auf dem jeweiligen Platz fühlt. Auf einem einfachen Zahlenstrahl könnte man biografische Aspekte eintragen und erhielte so wichtige Hinweise auf Erlebnisse des Kindes bzw. des/der Jugendlichen, welche für es bzw. ihn mit besonderen Emotionen verbunden sind. Wenn es für das Kind bzw. den Jugendlichen in dieser Situation wichtig ist, seine Emotionen – beispielsweise Trauer – therapeutisch unterstützt zum Ausdruck zu bringen, kann man auch sagen: »Kannst du mal einen Augenblick selbst die Figur sein?« Dafür muss ein stabiles Vertrauensverhältnis zum Therapeuten bestehen; er muss sich bewusst sein, dass diese Technik heftige Emotionen auslösen kann, und er muss wissen, wie er damit zum Wohle des/der Klienten/Klientin umgehen kann. Die 12-jährige Johanna lebt bei ihrer von schwerer körperlicher Krankheit betroffenen alleinerziehenden Mutter. Außerdem leidet die Mutter an schwerwiegenden Depressionen. Ihre Erkrankungen erfordern längere stationäre Aufenthalte. Der getrennt von der Familie lebende Vater hat sich nahezu vollständig von seiner Tochter zurückgezogen. Johanna leidet sehr darunter, fühlt sich in sie überfordernder Weise für die Mutter verantwortlich und leidet unter Verlustängsten. Oftmals rastet sie aus und hat Schwierigkeiten beim Lernen in der Schule. In einem fortgeschrittenen Stadium der Therapie arbeite ich mit der oben beschriebenen Technik (Abbildung 2). Im Nachgespräch kann Johanna zum Ausdruck bringen, was sie in ihrem eigenen Leben als so fröhlich empfindet wie die erste Musik und ihr Bild dazu. Sie nennt den baldigen Frühling und Blumen, die sie sehr liebt. Zum zweiten Bild sagt sie, die Musik habe sich traurig angehört. Da habe sie an ihre Mama gedacht, und sie erzählt, wie traurig sie besonders abends vor dem Einschlafen sei. Zum dritten Bild beschreibt sie, die
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Musik sei so richtig wütend gewesen. So wütend sei sie auf ihren Vater, der sich einfach nicht mehr meldet, und sie berichtet über »Zoff« mit einer Freundin. Jetzt darf sich Johanna für das letzte Bild selbst eine Musik aussuchen. Sie wählt eine aktuelle Filmmusik, den Sänger fände sie »total süß« …
Abbildung 2: Bild von Johanna
Während in Johannas Bild schon Bewältigungsstrategien und im Nachgespräch auch eine gute emotionale Schwingungsfähigkeit sichtbar werden, zeigt sich das Bild einer anderen, ebenfalls psychosomatisch erkrankten Jugendlichen eher karg (Abbildung 3). Im Nachgespräch mit dieser Klientin offenbarten sich deutliche Suizidphantasien, welche sie gut vor anderen versteckt hielt. Für systemisch und körpertherapeutisch tätige Therapeutinnen und Therapeuten, welche kein Musikinstrument spielen, aber gern Musik in die Therapie integrieren wollen, ist eine Weiterbildung in Guided Imagery and Music (GIM) und musikimaginativen Methoden sehr zu empfehlen. Bei intensiver Selbsterfahrung werden Methoden und Techniken vermittelt, die unter Einsatz von ausgewählter Musik in der Imagination mithilfe innerer Bilder psycho-
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Abbildung 3: Bild eines suizidgefährdeten Mädchens
therapeutisch verwendet werden können. Diese Methode und die therapeutischen Techniken lassen sich hervorragend mit Methoden der systemischen Therapie kombinieren. Im Folgenden stelle ich eine therapeutische Technik vor, welche einfach anzuwenden ist und vielseitig eingesetzt werden kann.
Der Elfenspiegel – Jolina, 5 Jahre alt Jolina und ihre Mutter haben – bildlich gesprochen – den Gesprächsfaden verloren. Im Zusammenhang mit einer sehr konflikthaften Trennung mit fortbestehender Unversöhnlichkeit der getrennt voneinander lebenden Eltern ist Jolina mehr und mehr verstummt. Spreche ich sie an, blickt sie zur Mutter und wartet darauf, dass diese für sie antwortet. Auch der Mutter ist anzumerken, dass sie von den zurückliegenden Ereignissen noch stark betroffen ist. Sie macht sich Gedanken, weil Jolina nicht mehr mit ihr spricht. Mein Impuls ist, einen Beitrag zu leisten, Jolina und ihre Mutter wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Ich sage zu Jolina, ich hätte einen Zauberspiegel. Mit diesem könne man unbekannte Welten kennenlernen. Vorbereitend habe ich einige
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verschiedenfarbige Blätter im A3-Format mit abstrakten Bildern versehen. Der »Elfenspiegel« ist eine Spiegelfliese (10 x 10 cm) aus dem örtlichen Baumarkt. Bewegt man die Spiegelfliese langsam über das Bild, eröffnet sich durch das entstehende Spiegelbild eine magische Welt voller Geheimnisse (Abbildung 4). Ich bitte nun Jolina, den Spiegel ganz langsam über das Bild gleiten zu lassen und fordere sie und ihre Mutter auf, sich ihre Entdeckungen zu schildern. Dazu lasse ich, ohne das zu besprechen, ein Musikstück erklingen – das Konzertstück für Harfe und Orchester Ges-Dur op. 39 von Gabriel Pierné, von welchem Mutter und Kind gleichsam eingehüllt werden. Zunächst nickt Jolina, wenn ihre Mutter etwas entdeckt hat: »Schau mal, die schönen Blumen!«, doch bald ist sie selbst gefesselt von den Entdeckungen, die sich für sie auftun: »Guck mal, Mama, ein langer Fisch – und noch einer – und eine Prinzessin – und ein Schloss. Da wohnt bestimmt ein Prinz drin.« Mutter und Tochter bemerken gar nicht, wie sie miteinander ins Gespräch gekommen sind. Auch ältere Kinder und Jugendliche haben Freude an den imaginativen Entdeckungsreisen (Abbildung 5). Die dazugehörige Musik kann man zuvor gemeinsam auswählen.
Abbildung 4: »Elfenspiegel«
Abbildung 5: Mithilfe des »Elfenspiegels« im Gespräch
Als Nächstes stelle ich zwei therapeutische Vorgehensweisen vor, bei denen die Verbindung zwischen Musik und Körper im Mittelpunkt steht. Sie können beispielsweise als körperorientierte Techniken in die Familientherapie oder in die Gruppentherapien von psychosomatisch erkrankten Kindern und Jugendlichen integriert werden.
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Ziel dabei ist unter anderem, über das Vermitteln positiver Körpererfahrungen zu einer positiven Beeinflussung des seelischen Befindens zu kommen.
»Drachenei« und »Kranichjahr« – geeignet für die Arbeit mit Einzelpersonen und Gruppen Übung: »Drachenei«
Ein Drache hat Kraft, kann Feuer speien, hat eine schützende Außenhaut, ist stark und kann fliegen. Man kann sich einen Drachen zum Freund machen, ihn besiegen und zähmen, man kann ihn mit allerhand magischen Kräften bezwingen oder sich gar selbst in einen Drachen verwandeln. Zunächst muss ein Drache jedoch aus dem Ei schlüpfen. Die Therapeutin erzählt von einem kleinen Drachen in einem Ei. Dieser tastet die Außenhaut von innen ab, was man mit Händen und Füßen gut nachmachen kann. In der Phantasie kann man regelrecht fühlen, wie die Schale beschaffen ist: an einigen Stellen rau, an anderen Stellen glatt, hier hart, dort weich … Die Drachenkinder im Ei probieren, wie sie sich im Ei bewegen können. Es wird schließlich immer enger. Die Drachen wachsen. Schließlich können sie sich kaum mehr im Ei bewegen. Mit aller Kraft stemmen sich die kleinen Drachen mit ihren Flügeln und Krallenfüßen gegen die feste Schale des Eis. Das braucht viel Kraft. Schließlich zerbricht die Schale. Die Drachen mit ihrer noch weichen und verletzlichen Haut schütteln die Reste des Eis von sich und stehen dann auf zunächst noch wackligen Füßen. Den meisten Klienten macht es viel Spaß, diese Phantasien nachzuvollziehen und nachzuspielen. Die Therapeutin lässt dazu eine Musik laufen, die zum Bewegen und zur humorvollen Betrachtung der noch unzulänglichen Bewegungsund Flugversuche einlädt, zum Beispiel Nr. 4 aus »L’Horloge de Flore« von Jean Françaix mit dem Titel »12 Uhr. Nyctanthe du Malabar«. Die Geschichte geht weiter: Auf wackligen Füßen mit flatternden, noch untauglichen Flügeln bewegen sich die jungen Drachen durch den Raum. Dabei rempeln sie die anderen Drachen an, spucken schon mal ein wenig Feuer. Die Drachen wachsen und wachsen. Die Therapeutin lässt zur Unterstützung erneut Musik laufen, etwa »Love Theme for Nata« von Andrea Morricone (aus der Musik zum Film »Cinema Paradiso«).
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Schließlich können die Drachen fliegen. Die Therapeutin macht es vor, »fliegt« mit ausgebreiteten Flügeln durch den Raum und vermeidet es dabei, die Klienten anzuschauen. Ihre Aufmerksamkeit ist sichtbar auf ihre eigenen Empfindungen beim Fliegen gerichtet. Somit lädt sie ihre Klienten dazu ein, ebenfalls ganz bei ihren eigenen Wahrnehmungen und Körperempfindungen zu bleiben. Sie können so – ohne das Gefühl, beobachtet, bewertet oder gar »diagnostiziert« zu werden – die Bewegungen genießen. Diese Geschichte ist nicht als starre Vorlage gedacht, sie kann mit kreativer Gestaltungsfreude modifiziert werden.
Während bei der therapeutischen Technik »Drachenei« vor allem Autonomieentwicklung, das Erleben von Kraft sowie auch Spielen und Spaß-Haben im Mittelpunkt stehen, geht es im Folgenden vor allem darum, in einer Gruppe ein Gemeinschaftserlebnis zu erzeugen und positive Körpererfahrungen zu vermitteln. Dabei können auch Aspekte des Embodiments (Hüther, 2006) integriert werden. Die dazugehörige Geschichte, in der es um Kraniche geht, könnte sich folgendermaßen entwickeln: Übung: »Kranichjahr«
Die Kranichküken sind noch in ihren Eiern. Sie fühlen, wie sich das Ei von innen anfühlt. Mit aller Kraft stemmen sie sich von innen gegen die Eierschale. Die Kranicheltern bewegen von Zeit zu Zeit vorsichtig die Eier. Die Kranichküken wachsen weiter. Immer wieder stemmen sie sich gegen die Eierschale und lassen ihre jungen Muskeln erstarken. Schließlich wird es ihnen so eng, dass sie sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen können. Sie beginnen, sich aus dem Ei herauszupicken. Schließlich ist es geschafft: Alle Kranichküken gucken aus ihrem Ei heraus und können einander sehen. Die Kranicheltern helfen ihnen, die Eierschale von ihren Körpern abzulösen. Erschöpft von der Anstrengung atmen alle tief durch. Sie machen ein kurzes Nickerchen. Nachdem sie sich erholt haben, probieren sie ihre ersten Schritte aus. Dabei vollführen sie mit ihren noch federlosen Flügeln lustige Bewegungen, um das Gleichgewicht zu halten. Die Klientinnen und Klienten können nun mit wackligen Beinen ausprobieren, wie sich wohl ein
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frisch geschlüpftes Kranichküken fühlen mag. Schließlich begrüßen die Kranichmütter ihre Küken mit Musik. Auch hier bewegt sich die Therapeutin passend zur Geschichte, die sie erzählt. Ist man als Therapeutin in der Lage, selbst ein Musik instrument zu spielen, kann man die Gruppe anleiten, einen einfachen Rhythmus zu klatschen und dann, etwa mit einer Flöte, improvisierend durch die »frisch geschlüpften Küken mit ihren Kranicheltern« gehen. Der gemeinsame Rhythmus und das Hören der Musik bringen ein Gemeinschaftserlebnis mit sich. Und so könnte es im Kranichjahr weitergehen: Die Jungen wachsen heran und beginnen, mit ihren erstarkenden Flügeln zu schwingen. Schließlich beginnen sie ihre ersten Flugversuche. Im Herbst sammeln sich die Kraniche. Sie bereiten sich auf ihren langen Flug vor. Die jungen Kraniche sind nun stark genug. Sie üben sich im Fliegen. Vielleicht ist nochmals eine kurze Ruhephase angebracht. Man könnte sie so einleiten, dass zunächst alle erst einmal nacheinander ihre Flügel, ihre Beine, ihren ganzen Körper, Hals und Gesicht kräftig anspannen und wieder entspannen. Dann könnte die Therapeutin vormachen, wie man entspannt in sich zusammensackt und in Ruhe innehält. Aus diesem Nickerchen heraus könnte mit dem Fliegen begonnen und dabei bewusst tief durchgeatmet werden. Man könnte langsame Flugbewegungen vollführen, wie es die Kraniche tun, und mit ruhigem Flügelschwingen durch den Raum gehen. Dazu passen Raschelgeräusche, die sich so anhören, als raschelten die Federn der Flügel. Auch hierzu könnte man entweder auf einem Instrument improvisieren oder Musik von einem Datenträger abspielen.
Verklanglichen und »Vertonen« klassischer familientherapeutischer bzw. systemischer Methoden Klassische familientherapeutische bzw. systemische Methoden lassen sich »vertonen«. So kann eine systemische Skulpturarbeit mit Musikinstrumenten dargestellt oder eine musikalische Tierfamilie – als Modifikation der Methode »Familie in Tieren« – verklanglicht werden. Die Musik fördert in Ergänzung zum verbalen Dialog den emotionalen Dialog. Beispiele für den Einsatz dieser Methoden und
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Techniken finden sich bei Bassarak (2009a, 2009b, 2011) und Timmermann (2003).1
Ausklang Der Einsatz von auf die individuelle Situation des Patienten abgestimmter Musik bedeutet, einen Beitrag zu leisten, seine kreativen Potenziale und damit seine Selbstheilungskräfte zu stärken. In der systemischen Therapie werden primär psychische Symptome und herausforderndes Verhalten vor allem als beziehungsgestaltende Fähigkeiten und als Ausdruck von Beziehungsbedürfnissen und Ängsten gesehen. Ihr Auftreten zeigt an, dass sich in den Bezugssystemen Individuum, Familie, Kindergarten/Schule, Gesellschaft, Umwelt etwas ändern muss, damit sich die Lebenssituation des psychisch erkrankten bzw. belasteten Kindes oder Jugendlichen verbessern kann. Analog dazu können auch künstlerisch-kreative Gestaltgebungen als Ausdruck von Beziehungsbedürfnissen und Ängsten sowie als beziehungsgestaltende Fähigkeiten angesehen werden. Solche Äußerungen können ebenfalls die umgebenden Bezugssysteme zur Veränderung anregen. Körperlich manifestierte Symptome können zwar Angst binden und den seelischen Schmerz bis zu einem gewissen Grad anästhesieren. Sie führen aber bei den davon Betroffenen zu neuem Leid. Der künstlerische Ausdruck ist jedoch schon Teil eines Lösungswegs vom Erstarren im Zustand des Leids hin zu dem Gefühl, die eigene Lebenssituation selbstwirksam, in Gemeinschaft mit anderen, mit weniger Belastungen als bisher gestalten zu können. Eine professionelle therapeutische Begleitung vorausgesetzt, unterstützen durch Musik stimulierte emotionale Erlebnisse und Erfahrungen auf sehr effektive und nachhaltige Weise das Bewusstmachen von Problemen sowie Zusammenhängen zwischen Symptomen und Aspekten der Lebenssituation und tragen wesentlich zur Aktivierung eigener Lösungs- und Entwicklungskompetenzen der Klienten bei. 1 Informationen zu Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie weitere Literaturempfehlungen finden sich auf der Homepage der Deutschen Musik therapeutischen Gesellschaft (DMtG).
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Giovanni Pico della Mirandola beschreibt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Wirkung von Musik, die sich aus der engen Beziehung von Körper und Seele ergibt, folgendermaßen: »Medicina sanat animam per corpus, musica autem corpus per animam.« »Die Medizin heilt die Seele auf dem Wege über den Körper, die Musik aber den Körper auf dem Wege über die Seele« (zit. nach Plahl u. Koch-Temming, 2005, S. 23).
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Gudrun Bassarak
Bassarak, G. (2010). Von schwarzen Flecken, Herzbotschaften und der Lebensuhr – Musikimagination in der Behandlung von Kindern mit psychischen Problemen. Jahrbuch Musiktherapie/Music Therapy Annual, Band 6: Imagination in der Musiktherapie/Vol. 6: Imagery in Music Therapy, 151–178. Bassarak, G. (2011). Grenzen und Grenzöffnungen – Systemgrenzen als Funktionen biologischer, psychischer und gesellschaftlicher Systeme und ihre Bedeutung für die Musiktherapie. Jahrbuch Musiktherapie/Music Therapy Annual, Band 7: Grenzen und Übergänge/Vol. 7: Borders and Transitions, 105–131. Bassarak, G. (2014a). Youngster-GIM (YGIM) in der Behandlung psychosomatisch erkrankter Kinder und Jugendlicher im stationären und ambulanten Setting. In I. Frohne-Hagemann (Hrsg.), Guided Imagery and Music. Konzepte und klinische Anwendungen (S. 207–230). Wiesbaden: Reichert. Bassarak, G. (2014b). Mentalisieren in der Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen. In Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft e. V. (Hrsg.), Jahrbuch Musiktherapie/Music Therapy Annual, Band 10: Mentalisierung und Symbolbildung in der musiktherapeutischen Praxis/ Vol. 10: Mentalization and Symbol Formation in Music Therapy Practice, 119–152. Bassarak, G. (2015). Psychische Symptome als Ausdruck emotionaler, kognitiver und sozialer Dissonanzen. Konsequenzen für die Musiktherapie mit Kindern und Jugendlichen. Musiktherapeutische Umschau – Forschung und Praxis der Musiktherapie, 36 (4), 311–321. Frohne-Hagemann, I. (2014). Definitionen und Anwendungen: Guided Imagery and Music (GIM), modifiziertes GIM und musikimaginative Methoden (MI). In I. Frohne-Hagemann (Hrsg.), Guided Imagery and Music. Konzepte und klinische Anwendungen (S. 85–114). Wiesbaden: Reichert. Frohne-Hagemann, I. (Hrsg.) (2004). Rezeptive Musiktherapie. Theorie und Praxis. Wiesbaden: Reichert. Hüther, G. (2006). Wie Embodiment neurobiologisch erklärt werden kann. In M. Storch, B. Cantieni, G. Hüther, W. Tschacher (Hrsg.), Embodiment: die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen (S. 73–97). Bern: Huber. Hüther, G. (2013). Kommunale Intelligenz. Potenzialentfaltung in Städten und Gemeinden. Hamburg: Ed. Körber-Stiftung. Plahl, C., Koch-Temming, H. (Hrsg.) (2005). Musiktherapie mit Kindern. Grundlagen – Methoden – Praxisfelder. Bern: Hans Huber. Timmermann, T. (2003). Klingende Systeme. Aufstellungsarbeit und Musik therapie. Heidelberg: Carl-Auer.
Thomas Reyer und Sandra Anklam
Der Widerspenstigen Zähmung oder vom Zensieren innerer Zensoren »Entspanne dich. Laß das Steuer los. Trudle durch die Welt. Sie ist so schön«. Kurt Tucholsky1
Wozu Zensoren zensieren? Sei es in einer belastenden Situation oder Beziehung, in einer Prüfungssituation, in einem festgefahrenen Beratungsmoment oder live auf der Bühne – die äußere Anforderung, genau jetzt sinnvoll zu handeln, kann zum Handlungsdruck werden. Er kann dann entstehen, wenn sich ein Handelnder im Zwiespalt zwischen Alternativen sieht und die Erwartung, ausgerechnet das Allerbeste zu tun, zur inneren Lähmung führt. Klienten/innen berichten hierzu häufig von inneren Auseinandersetzungen mit Gedanken, die wie eine vertraute Stimme ihr momentanes Tun und Denken bewertet und hemmt. Die hier präsentierte Sammlung von Methoden und Interventionen entstand in der Kursarbeit der systemischen Beratungsweiter bildung und als Förderung der in vielen Arbeits- und Lebens bereichen hilfreichen Improvisationskompetenz. Hierfür setzen wir bewusst einen Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit den »inneren Zensoren« (oder auch »inneren Antreibern«): Wenn es gelingt, den inneren Konflikt mit bewertenden Ideen, Motiven und Erwartungen – egal ob fremd- oder selbstgesetzt – in eine neue Form zu bringen, ist die Wahrnehmung und Kreativität wieder offen für die Jetzt-Situation und erlaubt adäquates Handeln. Im günstigsten Falle gelingt es, die inneren Konfliktpartner zu differenzieren und zu einer wertvollen Kooperation zu bringen.
1 Tucholsky, 1929/1956.
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Thomas Reyer und Sandra Anklam
Konzepte für die Veränderungsarbeit Beschrieben werden hier konkrete Methoden und Interventionen für die Arbeit mit Gruppen oder einzelnen Klienten. Sie sind für viele Kontexte geeignet: für Selbsterfahrung, Teamentwicklung, Familientherapie, Gruppentherapie, Paarberatung, Einzelberatung oder Weiterbildung. Kreative Formate profitieren sehr von der Gruppensituation, da hier Interaktionspartner mit individuellen, häufig vergleichbaren Anliegen in Kontakt treten und sich gegenseitig unterstützen können. Eine günstige Gruppengröße umfasst etwa acht bis zwölf Personen. Auf folgende Konzepte aus der systemischen, therapeutischen und theaterpädagogischen Arbeit wird hierfür zurückgegriffen: ȤȤ Embodiment und Bewegungserfahrung (Storch et al., 2010), ȤȤ Inneres Team/innere Antreiber/Ego-States (Satir u. Baldwin, 1999; Schulz von Thun, 1998; Watkins u. Watkins, 2003), ȤȤ Transaktionsanalyse (Barnes, 1980), ȤȤ Reframing und narrativer Ansatz (White u. Epston, 2002; vgl. Reyer, 2013), ȤȤ Hypnotherapie bzw. hypnosystemische Therapie (Schmidt, 2005), ȤȤ interaktive Präsenz (Stern, 2005; Bleckwedel, 2008), ȤȤ Improvisationstheater (Johnstone, 1993; Lösel, 2004), ȤȤ Drama und Theatertherapie (Anklam u. Meyer, 2014). Die Ansätze werden nachfolgend im Zusammenhang mit den Vorgehensweisen benannt. Für ein weitergehendes Studium sind abschließend Literaturverweise genannt. Ein tragendes kreatives und fehlerfreundliches Setting zu etablieren, braucht etwas Zeit und Aufbauarbeit – die Reihenfolge der Darstellung berücksichtigt dies.
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Umgang mit Misserfolgen »Bei einer Fuck-Up-Night kann jeder über berufliches Scheitern sprechen […]. Es muss ja nicht jeder die gleichen Fehler machen.« Anne Hemmes2
Für die Auseinandersetzung mit Blockaden und inneren Zensoren sollen frühzeitig die gängigen sozialen Bewertungsschemata in der Gruppe relativiert werden. Eine Einstiegsphase ist besonders dazu geeignet, eine nützliche Wertsetzung zu etablieren, in diesem Kontext können das sinnvollerweise folgende Botschaften sein: ȤȤ »Hier kommt es nicht darauf an, wer was am besten kann – jeder von uns hat ganz eigene Stärken.« ȤȤ »Jeder von uns hat ganz eigene, auch peinliche Misserfolge hervorgebracht. Auch das verbindet uns.« Um den Kontakt auch zu schambesetzten Ereignissen und Erlebnissen zu ermöglichen, soll mit dem »Fuck-Up-Afternoon« das eigene Bekenntnis zu Misserfolg und Scheitern bewusst mit einem Applaus und freundlichem Lachen belohnt werden. Vorbild sind die so genannten »Fuck-Up-Nights« (vgl. auch fuckupnights.com), auf der sich junge Unternehmer/-innen zu ihren Misserfolgen bekennen, sich dabei häufig selbst in einer überzeichnenden Weise selbstkritisch darstellen, sodass hieraus ein heiteres Event wird. Gleichzeitig gelingt es, das Ideal eines immer erfolgreichen Unternehmertums abzubauen und aus Fehlern zu lernen. Individuell wird hier außerdem eine innere Distanz zum Erlebten und der Bewertung unterstützt, die heilsam sein kann. Ein weiterer heilsamer Aspekt ist mit der bewussten Entscheidung verknüpft, sich in eine als unverschuldet oder ohnmächtig erlebte Situation zu begeben und mit den begleitenden Gefühlen und Themen aktiv zu spielen. Dies ist ein Akt der Selbstermächtigung und ein Erleben von Selbstwirksamkeit: Ich begebe mich bewusst und aktiv in eine Situation mit herausforderungsbezogenen Gefühlen!
2 Hemmes, 2014.
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Die Scham auf der Bühne ist eine andere Scham als diejenige, die ich in einer realen Situation erlebt habe: Jetzt kann ich sie selbst gestalten. Warm-up: Fuck-Up-Afternoon
Für unser Vorhaben wird eine einfache Bühne mit Vorhang oder Bühnenaufgang sowie ein Redepult eingerichtet. Die den Teilnehmenden gestellte Aufgabe lautet: »Berichte auf mitreißende Art von einem für dich bedeutsamen Misserfolg!« Sie bekommen eine Vorbereitungszeit von 5 bis 10 Minuten und treten dann nacheinander auf. Aufgabe der Zuschauenden ist es, für jeden Auftritt lautstark zu jubeln und zu applaudieren, das gehörte Bekenntnis uneingeschränkt zu »feiern« (Abbildung 1). Dies mag anfangs irritierend erscheinen und braucht mitunter »Anheizen« durch die Kursleitung, vor allem mithilfe einer »spektakulären« Ankündigung der Auftritte, entfaltet aber schnell eine befreiende Wirkung. Es ist nicht zu erwarten, dass jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer sich in gleichem Maße mit einer verletzlichen, schambesetzten Seite zeigt. Der Fuck-Up-Afternoon kann daher (unausgesprochen und mit der Gruppe nicht reflektiert) auch als »Test-Ballon« genutzt werden, wie es in der Gruppe gelingt, mit Scham, Misserfolg und Scheitern umzugehen – bevor dann ein persönlich bedeutsameres Thema in die Gruppe gebracht werden kann.
Abbildung 1: Motto beim Fuck-Up-Afternoon: Heiter scheitern!
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Umgang mit Querschlägern »Alles ist gut, was man gerne tut, egal ob hyperventiliert, oder ausgeruht!« Die Fantastischen Vier3
Auch in ganz alltäglichen Situationen geschieht es, dass wir uns in unseren Handlungen »blockiert« fühlen, weil etwa ein eigener Plan oder inneres Skript durch andere Personen oder äußere Ereignisse durchkreuzt wird. Das wäre an sich unproblematisch, kann aber eine Verunsicherung durch die erforderliche Neuorientierung auf die Situation hervorrufen – hier kann ein blockierender Handlungsdruck entstehen. Folgende Paarübungen bieten mit den anschließenden Reflexionsfragen eine Möglichkeit, eigene Handlungs- und Bewertungsmuster im Umgang mit unerwarteten Situationen zu hinterfragen und zu ändern. Übung: Ein-Wort-Geschichten
Erst im Plenum üben, dann mit dem Sitznachbarn spielen: Gemeinsam soll eine kleine Geschichte im Erzählen erfunden werden – allerdings so, dass abwechselnd jede Person nur ein einziges Wort sagt (Interpunktionszeichen zählen hier als ein Wort). Als Startpunkt wird ein kurzer Titel vorgeschlagen, der auch etwas mit dem eigenen Thema oder Anliegen zu tun haben kann. Es wird so lange weitererzählt, bis die Geschichte einen (halbwegs) sinnvollen Schlusspunkt erreicht.
Übung: Bild mit Abwechslung
Kleingruppen mit zwei bis drei Personen malen gemeinsam ein Bild auf ein großes Blatt Papier (z. B. Flipchart) – ohne miteinander zu reden. Die Personen wechseln sich ab, Zug um Zug, jede/r darf den Stift nur ein Mal aufsetzen, egal ob für Punkt oder Linie oder Flächenschraffur. Wird der Stift abgesetzt, ist die/der Nächste dran; jede/r Teilnehmende hat 3 »Smudo schweift aus«, 1993.
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eine eigene Farbe. Es wird so lange gemalt, bis das Bild fertig oder die vorgegebene Zeit – 5 bis 15 Minuten – abgelaufen ist. Abschließend soll gemeinsam ein Titel für das Bild gefunden werden. Optional gibt es dann eine Vernissage, bei der nach einer feierlichen Eröffnung und einem Galerie-Rundgang die »Kunstwerke« von »Kritikern« und »Künstlern« besprochen werden.
Übung: Führung mit zwei Richtungen
In Kleingruppen mit zwei bis drei Personen wird zunächst festgelegt, wer führt und wer folgt. Die führende Person leitet die folgende Person wortlos mit einem Stab oder Seil zu einem vorher durch die führende Person still festgelegten Platz, der als Fixpunkt dient. Die folgenden Personen sollen sich zuvor einen anderen Fixpunkt aussuchen und ansteuern. Es folgt ein Austausch über das Erlebte, dann der Rollenwechsel.
Reflexion: Spannungsfeld Planung vs. Spontaneität
Zunächst reflektieren die Teilnehmenden in Paargesprächen: –– Wie reagiere ich, wenn mein Vorhaben nicht so aufgeht wie gedacht? –– Was macht mein Vordenken/meinen Plan so wichtig? –– Wie nutze ich Querschläger, wie nutze ich Aha-Effekte? –– Welche Rolle spielt der Druck zu handeln für mich? –– Wobei hilft er mir? Woran hindert er mich? –– Was geschieht, wenn ich ein Risiko eingehe und etwas Unbekanntes ausprobiere?
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Improvisationstraining für schnelles Agieren im Hier und Jetzt »Scheitere und werde glücklich!« Keith Johnstone4
Insbesondere die Anforderung, im Hier und Jetzt zu agieren, zeigt eine große Nähe zu Konzepten, die das situative Handeln für die Rolle von Therapeutinnen bzw. Therapeuten und Beraterinnen bzw. Beratern reflektieren: Daniel Stern (2005) beschreibt den »Moment of Meeting« (sogenannte »Begegnungsaktionen«), in dem idealerweise ein kreatives Spannungsfeld zwischen Therapeut/-in und Patient/-in entsteht. Diese Spannung führt zur gemeinsamen Suche nach »Punkten des Zueinander-Passens« und löst sich in einen gemeinsamen kreativen Improvisationsprozess auf. Diese kooperative Aktivität bietet ein fast grenzenloses Feld von Handlungsmöglichkeiten, der ideale Rahmen für Lernen und gestaltete Veränderung. Jan Bleckwedel (2008) beschreibt einen ähnlichen Prozess aus der Perspektive eines Therapeuten: Das Pendeln zwischen Innen- und Außenwahrnehmung, zwischen »Leibachtsamkeit« und »Kontextsensibilität« hin zu einer gleichzeitigen Achtsamkeit für sich, die Klienten/innen und den Prozess nennt er »interaktive Präsenz«. Dieses »Ganz-da-Sein« trägt die kreative Kooperation und wandlungsfähige Interaktion zwischen Therapeuten und Klienten. Eine sehr nützliche Schule für eine pragmatische Auseinandersetzung mit inneren Blockaden findet man im Improvisationstheater nach Keith Johnstone (1993), auch bekannt unter dem Schlagwort »Theatersport«: Ursprünglich gedacht als eine Methode für Schauspieler/-innen, auf der Bühne präsent und authentisch agieren zu lernen, hat es sich als eigenes Bühnenformat etabliert. Hier geht es darum, die (szenische) Situation zu erfassen und schnell, ohne zögern und nachdenken, zu reagieren – das sind nützliche Kompetenzen auch für andere Lebensbereiche, über die Theaterbühne hinaus. Folgende einfache Übungen aus dem Improvisationstheater können den Mut in die eigene Intuition schulen und die interaktive Präsenz einüben helfen:
4 Johnstone, 1993.
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Übung: Geschenke-Runde
Die Spieler/-innen sitzen im Kreis werfen einander reihum pantomimisch Gegenstände wie einen Ball zu (mit Geräusch). Alternativ machen die Spieler/-innen sich reihum pantomimisch Geschenke (nicht zu detailgenau!). Die beschenkte Person nutzt oder zeigt das Geschenk so, dass alle »sehen«, was es ist. Variiert werden kann die GeschenkeRunde, indem anstatt Geschenken pantomimisch etwas sehr Ekelhaftes weitergegeben wird. Für die Übung sind rund 10 Minuten vorgesehen.
Übung: Gerüchteküche
Einer fängt an, dem Nachbarn oder der Nachbarin im Kreis etwas zu erzählen, die Nächste erfindet etwas hinzu, steigert das Gerücht, zum Beispiel: »Hast du schon gehört? Angela Merkel will auswandern?« »Hast du schon gehört? Angela Merkel will nach Chile auswandern und mit Margot Honnecker eine WG aufmachen.« Und so weiter.
Übung: Dein Hamster ist tot
Die Gruppe steht im Kreis. A konfrontiert B mit einer erfundenen schlechten Nachricht, beispielsweise: »Dein Hamster ist tot!« B deutet diese Nachricht möglichst glaubhaft in eine für ihn gute Nachricht um, etwa: »Oh, das ist ja großartig, jetzt krieg ich endlich das Pony!«
Übung: Rhythmusmaschine
Eine Person beginnt eine sich wiederholende rhythmische Bewegung mit Geräusch zu improvisieren. Eine zweite Person kommt dazu und positioniert sich mit ergänzender oder auch kontrastierender Bewegung im Kontakt zur ersten Person. Eine dritte Person kommt dazu etc. Die/ der Anleitende dirigiert das Tempo und die Intensität. Als Variante lässt sich bei dieser Übung auch ein Name für die Maschine erfinden, zum Beispiel Problemlösemaschine, Glücksmaschine oder Sockenzählmaschine.
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Übung: Phantastische Schatzkiste
Die Gruppe steht im Kreis um eine offensichtlich leere Schatzkiste. Nacheinander – sobald man jeweils offen für eine nichtgeplante Idee ist – ziehen die Teilnehmenden einen imaginierten Gegenstand aus der Kiste, nutzen oder zeigen den Gegenstand so, dass alle »sehen«, was es ist. Als Tipp kann den Teilnehmenden angeboten werden, sich zunächst einen Gegenstand auszudenken und dann spontan einen anderen aus der Kiste greifen.
Übung: Clownpferd
Die Teilnehmenden gehen durch den Raum, wählen einen beliebigen Gegenstand, untersuchen ihn staunend und ganz genau, so, als ob sie so etwas noch nie gesehen hätten. In Paararbeit erkunden sie ihre Gegenstände, berichten sich gegenseitig, wie das Ding beschaffen ist und wofür es gemacht sein könnte. Dabei bitte bewusst das »Normale« vermeiden! Tipp: Den Gegenstand in seiner normalen Funktion schon zu kennen, kann die Kreativität blockieren – stattdessen besser mit der Vorstellung spielen, nichts zu wissen. Dazu hilft es, im Stil neugieriger Kinder nachzufragen: »Warum?«, »Was kann das noch?« …
Übung: Impulse geben und empfangen
1. in Paaren einander gegenüberstehen: A gibt einen Bewegungs impuls (z. B. winkt), B reagiert (z. B. streckt die Zunge heraus). 2. in zwei Reihen einander gegenüberstehen: Einen Satz (mit Emotion) festlegen, z. B. »Du bist schuld!« oder »Ich habe keine Angst vor dir!«, Reihe A geht einen Schritt nach vorn, wiederholt den Satz und steigert von Schritt zu Schritt die Intensität des Satzes. Reaktion von Reihe B: 1. reagiert verbal; 2. reagiert nonverbal, markiert Grenze (sobald unerträglich).
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Insgesamt lässt sich das Spielen im Improvisationstheater mit einer Reihe von Maximen beschreiben (vgl. Johnstone, 1993; Lösel, 2004). Diese können wie folgt präsentiert werden: Goldene Impro-Regeln ••Sag ja! Nimm die Situation so an, wie sie ist. ••Sei stets offen für innere und äußere Eindrücke! Folge deinem ersten Impuls! ••Sei stets offen für Impulse deines Gegenübers! – Nutze sie jetzt! ••Versuche nicht, originell zu sein. Nutze das, was da ist! ••Scheiter heiter und werde glücklich! ••Du musst das Ende (bzw. die Lösung) nicht kennen. ••Unterstütze deine Mitspieler/-innen in ihren Impulsen. Lasst einander glänzen! ••Sei sorglos! Du trägst die Verantwortung für das Geschehen nie allein. ••Mache es dir leicht.
Worst-Case-Szenario (alles halb so schlimm?) Das Erleben von situativer Handlungsunfähigkeit im Sinne einer »Blockade« lässt sich als sinnvolles Verhalten auffassen, wenn es damit zuallererst gelingt, eine Entscheidung zu vermeiden, deren Auswirkungen man in der Situation nicht vorweg denken kann. Dies entspricht einer Vermeidung von fatalen Fehlern, egal ob dies rational erscheint oder nicht. Die individuellen Motive »dahinter« können Ausdruck in der Gestaltung eines »Worst-Case-Szenarios« finden: die mitunter düstere Phantasie, die mit einem Scheitern durch vermeintlich falsches Handeln oder Ähnlichem verbunden sein kann. Zunächst machen hier viele Teilnehmer/-innen die überraschende Erfahrung, dass selbst mit etwas Überzeichnung ein konkretes Worst-Case-Szenario als zu bewältigen erscheint. Für eine lösungsorientierte Auseinandersetzung mit einer »Blockade« ist
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es darüber hinaus sinnvoll, diese in ihrer Bedeutung und Bewertung zu verflüssigen und zu verändern. Dies kann mit dem im Folgenden beschriebenen Reframing-Angebot gelingen, das über die distanzschaffende »Übersetzung« in eine ästhetische Form (Bild, siehe Abbildung 2) die Zuschreibung von Ressourcen erleichtert, die wiederum in eine andere ästhetische Form (Gedicht) findet. Der persönliche, teilweise belastende Bezug zur Worst-Case-Idee geht nicht verloren – mit jedem gestaltenden Schritt kommt aber eine positiv konnotierbare Facette hinzu, die letztendlich eine neue individuelle Rahmung inklusive neuer Handlungsoptionen ermöglichen kann.
Abbildung 2: Worst-Case-Szenario dargestellt als Bild
Intervention: Worst-Case-Szenario und Reframing mit Bild und Gedicht
Die Gruppenleitung führt die Teilnehmenden wie folgt durch die Übung: 1. Stelle dir – bezogen auf dein Anliegen – deine Worst-Case-Situation vor. Male ein Bild dazu! (allein, 10 Minuten) 2. Sammle in deiner Kleingruppe Ressourcen zu deinem Bild. Notiere sie! (in Dreiergruppen, 10 Minuten)
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3. Schreibe ein Gedicht aus möglichst vielen der passenden Begriffe bzw. Ressourcen! (allein, 10 Minuten) 4. Trage das Gedicht vor! (auf einer »Bühne«, mit anderen Teilnehmern als Publikum) Ein individuelles Worst-Case-Szenario könnte so aussehen: Das Anliegen »Ich möchte mein Zeitmanagement verbessern« mag zum Malen eines Bildes anregen, auf dem sich eine Person mit der Last einer übergroßen Uhr überfrachtet, sich verheddert, nur lose Enden hält. Eine Assoziationsrunde der Kleingruppe liefert die Begriffe: bunt, wild, kreativ, virtuos, verspielt, Fülle, Lebendigkeit, üppig, vielfältig, komplex, ausgewogen, leicht. Damit lässt sich folgendes Gedicht vortragen: »Ich bin die virtuose Königin der Zeit. Die Leichtigkeit mein Zepter im komplexen Uhrwerk der wilden Momente. Fülle Minuten, Stunden und Tage und trage die Waage auf bunten Schultern nach Haus.«
Innere Stimmen und der Zensoren-Chor Dem Idealbild eines ganzheitlichen Menschen würde es entsprechen, jederzeit kongruent mit seinen Gedanken und Gefühlen zu sein. Die alltägliche Erfahrung sieht allerdings anders aus: In vielen Situationen drückt die innere Wahrnehmung eine Vielstimmigkeit auch widersprüchlicher Gefühle, Ansprüche, Bewertungen, Motive aus, die sich als »innere Anteile« unterscheiden lassen. Hierzu gibt es mehrere therapeutisch bedeutsame Konzepte: von Virginia Satirs Teile-Arbeit (Satir u. Baldwin, 1999) über Friedemann Schulz von Thuns Inneres Team (1998) bis zur Ego-State-Therapie (Watkins u. Watkins, 2003). Das Konzept der inneren Stimmen erweist sich immer wieder als nützlich für psychische Veränderungsarbeit: Es ist offenbar von jedermann schnell nachzuvollziehen und für die Selbstreflexion transferierbar. In einem ersten Schritt geht es darum, diese Stimmen als Ich-bezogene Aussagen (etwa in der Form »Du bist/kannst/ hast/möchtest/ …«) oder Aufforderungen bzw. Verbote (zum Beispiel »Du darfst/darfst nicht/sollst/musst/ …«) zu konkretisieren.
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Vorbereitung: Sammlung der hinderlichen Botschaften
Folgende Aufgaben werden an die Teilnehmenden herangetragen: –– »Betrachte dein aktuelles Anliegen.« –– »Sammle alle inneren Stimmen, die dich in diesem Zusammenhang zu behindern scheinen. Schreibe deren Sätze auf Karten.« Eine Teilnehmerin formuliert beispielsweise als ihr Anliegen: »Ich möchte aushalten können, nicht gemocht zu werden, wenn ich Klienten/Klientinnen konfrontiere.« Dazu identifiziert sie möglicherweise folgende innere, behindernde Stimmen: »Du bist unprofessionell.« – »Du musst immer für Harmonie sorgen!« – »Du bist ein böses Mädchen.« – »Du kriegst nie wieder einen Auftrag.« Eine solche Sammlung in klaren Sätzen schafft bereits eine äußere, überblickbare Ordnung dessen, was internal widersprüchlich und unentwirrbar erscheinen mag. Die Sätze liefern auch die Basis für die weitere Veränderungsarbeit. Hier geht es vor allem darum, die Teilnehmenden in eine aktive Rolle im Kontakt mit diesen Sätzen zu bringen – dies ermöglicht bereits einen ersten Unterschied zu dem Erleben, den inneren Botschaften »ausgeliefert« zu sein.
Für folgenden Sprechchor geht es primär nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern genau um die Erfahrung, die Stimmen regulieren und damit in ihrer Wirksamkeit verändern zu können. Intervention: Sprechchor mit hinderlichen Botschaften bzw. Negativ-Sätzen
Die Gruppe bildet stehend einen Kreis. Jede/r wählt sich einen eigenen Satz aus, stellt sich in die Mitte, teilt ihren/seinen Satz mit. Die Gruppe intoniert diesen Satz auf zunächst frei gestaltete Weise. Die Person in der Mitte soll zunächst für rund eine Minute den Klang wahrnehmen und erleben. Dann darf sie den gesamten Chor sowie einzelne Stimmen dirigieren und gestalten (pianissimo, forte, gruppieren, singen, flüstern, jaulen, deklamieren, stottern etc.) oder wie in einem Tonstudio klanglich gestalten (lauter, leiser, stumm schalten, Echo, mit Bass, rückwärts,
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etc.). Der Chor endet, wenn die steuernde Person das Zeichen gibt und die Runde verlässt. Diese Form kann für viele Sätze wiederholt werden, solange die Energie und Experimentierfreude reicht.
Ein anderes, kürzeres Format kann vergleichbar intensive, irritierende Eindrücke liefern. Hier geht es um die wirksame Verflüssigung spontaner Bewertungsschemata wie richtig – falsch, gut – böse: Intervention: Stärken-Schwächen-Jubel-Buh
Die Gruppe bildet stehend einen Kreis. Jede/r wählt sich eine persönliche Stärke oder Schwäche aus, stellt sich in die Mitte mit dem entsprechenden Bekenntnis (»Ich kann gut …« oder »Ich schaffe es nie …«). Die Gruppe reagiert jeweils genau anders als erwartet: Wird eine offenkundige Stärke genannt, folgen Buhrufe und Schmähungen der Gruppe; handelt es sich um eine Schwäche, wird lautstark applaudiert und gejubelt. Falls die Einordnung Stärke – Schwäche uneindeutig ausfällt, entscheidet jede Person spontan über Jubel oder Buh. Es sollen so viele Stärken und Schwächen probiert werden, wie die gemeinsame Spiellust erlaubt.
Externalisierter Dialog mit dem inneren Zensor Die Auseinandersetzung mit inneren hinderlichen Stimmen kann inhaltliche Gestalt annehmen, indem die Stimme zu einer Figur gestaltet wird. Die Externalisierung bedeutet, dem inneren Dialog damit eine äußere Form zu geben. Die äußere Repräsentation als Figur erleichtert die eigene Distanzierung und einen Dialog mit der nun eigenständigen Perspektive. Wirksam ist insbesondere die Gestaltung und Erkundung der inneren Beziehung mit Körperskulpturen, wie im Folgenden beschrieben. Intervention: Skulpturelle Externalisierung mit dem inneren Zensor
Zunächst soll jede/r Teilnehmende (z. B. eine Teilnehmerin) aus den zuvor gesammelten inneren Stimmen diejenige auswählen, die am stärksten die Rolle eines »inneren Zensors« übernimmt, das heißt die
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Stimme repräsentiert, deren Kommentare bewerten und bremsen oder zu Erfolg und Perfektion antreiben. Mithilfe eines (z. B. männlichen) Partners als Stellvertreter bildet die Teilnehmerin eine Körperskulptur, die diesen inneren Zensor zeigt. Sie gibt ihr einen Satz oder einen charakteristischen Klang (siehe Abbildung 3).
Abbildung 3: Beispiel für eine hinderliche Botschaft des inneren Zensors
Mit einem weiteren Partner als Stellvertreter bildet die Teilnehmerin eine Skulptur, die eine Gegenstimme zeigt, ebenfalls mit Satz oder Klang. Dann wird die Teilnehmerin aufgefordert, in Bewegung, möglicherweise auch sprachlich begleitet, die eigene Position in der Beziehung mit und zwischen den eingerichteten Skulpturen zu erkunden. Die Skulpturen dürfen darauf reagieren, allerdings nicht ihre Position verändern. Die Teilnehmerin kann eine eigene Schlussposition wählen und in einer Gegenrede Widerspruch zum inneren Zensor vortragen oder einen Auftrag geben oder eine neue Idee für die zukünftige, kooperative Beziehung vorschlagen. Abschließend ist für die Arbeit mit Externalisierungen die Vorstellung wichtig, den externalisierten eigenen Anteil wieder »zurückzunehmen«, das heißt neu zu internalisieren. Eine Integration nach Veränderung des inneren Dialogs entspricht einem gelungenen Reframing mit entsprechenden neuen Verhaltensmöglichkeiten. Eine Teilnehmerin entscheidet sich beispielsweise für den inneren Zensor mit dem Satz: »Du bist unprofessionell!« Sie stellt eine andere
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Teilnehmerin (Protagonistin) breitbeinig, mit erhobenem Zeigefinger, einer Hand in die Hüfte gestützt und abschätzigem Blick auf einen Stuhl. Die Protagonistin kennt den Zensoren-Satz nicht – der Satz, der ihr spontan einfällt, lautet: »Das schaffst du nie!« Dann wählt die Teilnehmerin eine weitere Spielerin aus und bildet eine »Gegenstimmen-Skulptur« (Antagonistin). Diese Spielerin positioniert die Teilnehmerin mit geöffneten Händen und Armen, geneigtem Kopf und einem Lächeln im Gesicht. Der Satz, der der Antagonistin aus ihrer Haltung heraus einfällt, lautet: »Alles ist gut!« Die Teilnehmerin bewegt sich zwischen den beiden Skulpturen hin und her – verweilt mal näher bei der einen, mal näher bei der anderen Figur und lässt die beiden auf sich wirken. Die Skulpturen werden im nächsten Schritt eingeladen, sich kurz über ihre »Erbauerin« zu unterhalten. Die Teilnehmerin schaut und hört zu. Abschließend bedankt sie sich bei beiden für die gehörten Komplimente und entlässt die Stellvertreterinnen aus ihren Rollen.
Abschiednehmen: hinderliche Botschaften auf den Scheiterhaufen Einige innere Stimmen mag man als so hinderlich oder destruktiv erleben, dass man sie am liebsten für immer wegschicken möchte. Der erste Impuls, einen solchen störenden Anteil zu »verdammen«, ist zwar leicht nachvollziehbar, aber wenig erfolgversprechend – denn wenn der betreffende Anteil keine selbststabilisierende, positive Funktion hätte, wäre dieses Exil schon längst gelungen. Allerdings kann es gelingen, von der konkreten Form einer hinderlichen Botschaft Abschied zu nehmen – mit vollem Respekt für die innere Stimme, die sie äußert. Damit öffnet sich der Raum für eine neue sprachliche Formulierung mit entsprechend veränderter Wirkung. Ob ein solcher Abschied gelingt, hängt wesentlich davon ab, wie stark das innere Commitment zu dieser Entscheidung ausfällt. Dies lässt sich durch ein feierliches äußeres Bekenntnis verstärken, das in einer Gruppenzeremonie wie dieser erfolgen kann:
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Intervention: Feierliches Verbrennen hinderlicher Botschaften
Die individuell vorbereitende Aufgabe für die Teilnehmenden lautet: 1. »Sammle die Sätze, die dir wenig hilfreiche Botschaften über dich oder dein Handeln mitteilen.« 2. »Entscheide dich, von welchen dieser Sätze du dich endgültig trennen möchtest.« 3. »Schreibe diese Sätze auf je ein Blatt.« Die Zeremonie soll arbeitsteilig von Kleingruppen vorbereitet werden. Dazu gehört: –– Feuermachen (Feuerschale, Brandschutz-Vorkehrungen beachten), –– »Ritual« gestalten, –– begleitendes Lied (um-)dichten. Diese Zeremonie passt natürlich gut in die dunklen Abendstunden. Nach dem gemeinsamen Ritual und Lied am Feuer treten die Teilnehmenden nacheinander einzeln vor und verabschieden still oder mit begleitenden Worten ihre Sätze ins Feuer. Der Abend kann nachdenklich und stimmungsvoll ausklingen. Das gestaltete Ritual zur Verbrennung einer Botschaft könnte beispielweise im vor der Gruppe als Zeugin gesprochenen Satz liegen: »Liebe Botschaft [kann laut ausgesprochen oder still ins Bewusstsein genommen werden]! Du hast mich lange Zeit begleitet und mir gute Dienste geleistet. Jetzt ist deine Zeit vorüber. Ich übergebe dich dem Feuer und mache Platz für eine neue Botschaft.« Ein Liedbeispiel aus einer Kurswoche, gesungen zur Melodie von »Die Gedanken sind frei«, lautet: »Die Zensoren sind frei, wer kann sie erraten, sie fliegen vorbei, wie innere Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger sie schießen. Es bleibet dabei, die Zensoren sind frei.«
Inneres Team mit Torte und Sekt Der Gesamtprozess, die inneren Stimmen oder Anteile neu zu gewichten, damit sie als persönlich angemessen und förderlich erlebt werden, gelingt nicht nur durch die Relativierung der blockierenden Aspekte: Es braucht auch eine Unterstützung der positiven, fördernden Kräfte.
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Dazu sollen die Teilnehmenden wieder den Blick auf das ganze Ensemble innerer Stimmen lenken, die für das formulierte Anliegen relevant sind. Hier geht es nun um eine neue Entscheidung und kreative Ausgestaltung eines bisher nicht ausreichend wirksamen Anteils. Intervention: Inneres Team im Tortendiagramm
Die Aufgabe für die Teilnehmenden und ihre möglichen Partner/-innen lautet: 1. »Sammle die Mitglieder deines Inneren Teams auf einer Liste! (Du bist in dieser Runde die Chefin, der Chef oder die Teamleitung.)« 2. »Wie viel relativen Raum erhalten diese Teammitglieder derzeit? Visualisiere dies in einem Tortendiagramm!« (mit bunten Stiften auf großem Papier) 3. »Wähle davon eine Teamrolle aus, die du für dein Anliegen deutlich unterstützen möchtest. Gestalte sie mithilfe einer Partnerin oder eines Partners als Skulptur mit einem Satz oder einem Klang!« Die Entscheidung für den konkretisierten Anteil soll nun innerhalb der Gruppe öffentlich gemacht werden, um eine höhere Verbindlichkeit der eigenen Entscheidung zu erzielen. Außerdem bringt die Aufmerksamkeit der Gruppe eine positive Würdigung der gezeigten Facetten. Beides gelingt mit einer anschließenden »Ausstellungseröffnung«:
Sharing: Vernissage der guten Kräfte
Mit einer kleinen Rede wird angekündigt, dass nun die Vernissage der künstlerischen Skulpturen mit anwesenden Künstlern/Künstlerinnen eröffnet wird. In einem »Galerie-Rundgang« – mit pantomimisch angedeutetem Sektglas in der Hand – werden der Reihe nach die »Kunstwerke« von den »Künstlern/Künstlerinnen« vorgestellt, erläutert und zum Klingen gebracht. Das »Ausstellungspublikum« reagiert anerkennend und fragt interessiert nach Details des künstlerischen Prozesses (z. B. Material, künstlerische Absicht, Schöpfungsprozess, künstlerische Krisen etc.). In dem Tortendiagramm einer Teilnehmerin finden sich beispielsweise innere Anteile wie: die Skeptikerin, der Störenfried, der Angs-
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thase, Buddha, der Clown, der Schweinehund, die Liebende. Die Teilnehmerin entscheidet sich dafür, dem Clown in sich mehr Raum geben zu wollen, und formt eine Teilnehmende in eine auf einem Bein stehende, grimassierende Skulptur, die den Betrachtenden mit beiden Händen eine lange Nase macht. Während der Vernissage erwacht der Clown kurz zum Leben, hüpft vom einen Bein auf das andere und ruft laut aus: »Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt!«
Imagination des Unmöglichen Mit dem dargestellten Prozess kann es gelingen, die eigenen inneren Stimmen neu aufzustellen und auch kritische Stimmen wertschätzend zu reintegrieren. Zum Abschluss mag es wohltuend sein, ausgehend von diesen Ressourcen eine Reise ins Unmögliche zu wagen: Es handelt sich um eine Phantasiereise zu einem angenehmen, aber als unmöglich eingeschätzten Erleben. Wir möchten nicht behaupten, dass dies erreichbar sei, allerdings lässt sich mit Mitteln der selbstinduzierten Trance, wie sie in der systemischen hypnotherapeutischen Arbeit genutzt wird, ein innerer Zustand erreichen, der dem Zustand im Erleben des Unmöglichen ähnelt. Hier geht es um die Konstruktion innerer Bilder mit sensorischen Ankern, die anschließend in die Bewegung gebracht werden sollen. Unabhängig davon, wie weit diese Vorstellung mit dem zuvor formulierten Anliegen zu tun hat, kann dieses innere Erleben eine sehr gute Stärkung und Aktivierung schenken. Intervention: Imagination des Unmöglichen
Die Teilnehmenden suchen sich einen angenehmen Platz, machen es sich auf Bodenmatten liegend bequem und schließen die Augen. Die Gruppe wird von der Leitung mit wenigen Worten und deutlichen Pausen begleitet, die Teilnehmenden vollziehen dies still nach. Es wird Zeit gegeben, Körperteil für Körperteil zu spüren und dann vollkommen zu entspannen. Darauf folgt die Einladung: »Entscheide dich für etwas Angenehmes, das dir vorläufig unmöglich erscheint. – Stelle dir vor, wie sich das anfühlt.« Es folgt die Fokussierung auf unterschiedliche sensorische Aspekte der inneren Reise. Immer wieder wird
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eingangs der Unterschied benannt: »Äußerlich bist du vollkommen entspannt und unbewegt, aber innerlich spürst du es …« – »Was nimmst du wahr?« – »Was siehst du?« – »Was tun deine Beine, deine Arme?« – »Was riechst du?« – »Was spürst du auf der Haut?« – »Was denkst du?« – »Was spürst du an den Händen?« – »Was fühlst du?« (vgl. sensorische Anker). Die Übung schließt ab mit einer Einladung in die Entspannung: »Dein Körper ist entspannt, dein Geist ist ruhig.«
Verstärken: Spuren in Bewegung
Aus der entspannten Position am Boden heraus werden die Teilnehmenden eingeladen, nicht das Unmögliche zu probieren, sondern genau nachzuspüren, welche Spuren diese innere Reise in ihnen zieht: »Wo im Körper kannst du die Spuren fühlen?« Sie bleiben entspannt, bis die Musik startet: »Sobald die Musik beginnt, folge diesen Spuren in die Bewegung. Nimm die Impulse auf und führe sie weiter.« Hier kann ein fließendes, tragendes Musikstück gewählt werden. Später folgt die Ergänzung: »Wenn du magst, nimm mit deiner Bewegung Kontakt zu anderen auf. Du entscheidest für dich, wann der Kontakt beginnt und wann er endet.« Die Bewegungssequenz endet, kurz bevor die Bewegungs- und Kontaktimpulse an Energie verlieren. Ein Teilnehmer entscheidet sich beispielsweise für die Vorstellung, er könne fliegen. Er tritt eine innere Reise mit Flügeln an, erlebt die schwingenden Arme, spürt den Wind, sieht Häuser und Wälder von oben, riecht frische klare Luft, spürt Kribbeln im Bauch. Der nachklingende Impuls bringt ihn in schwingende Bewegungen weit durch den Raum, geführt von seinen Schultern. Im improvisierten Kontakt mit anderen Teilnehmenden empfindet er diese Bewegungsqualität besonders intensiv und angenehm. Unterstützt von der Musik entstehen kurze, teils verträumte, tänzerische Begegnungen.
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Und die Moral von der Geschicht’? »[W]er, wie, was – wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm!« Sesamstraße5
Möglicherweise denken Sie an dieser Stelle: »Wie soll das denn gehen?« – »Mit meinen Klientinnen und Klienten würde das so nicht funktionieren!« – »Das klingt ja theoretisch ganz gut, aber für mich, in meiner Praxis? Niemals!« – »Das würde ich mir oder meinen Klientinnen und Klienten niemals zutrauen oder gar zumuten.« – So oder so ähnlich könnten nun Teile Ihres Inneren Teams argumentieren. Wenn dem so sein sollte, laden wir Sie ganz herzlich ein, mit diesen Stimmen und Anteilen in eine spielerische Auseinandersetzung zu gehen, Ihr persönliches Worst-Case-Szenario zu erkunden und das Unmögliche zu imaginieren: Viel Vergnügen beim Experimentieren, Zähmen, Zaudern und Scheitern! »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.« Samuel Beckett6
Literatur Anklam, S., Meyer, V. (2014). Life, On Stage. Handbuch Theatertherapie. Berlin u. a.: Schibri-Verlag. Barnes, G. (Hrsg.) (1980). Transaktionsanalyse seit Eric Berne/Was werd’ ich morgen tun? Berlin: TA-Verlag. Beckett, S. (1983/1990). Worstward Ho. Aufs Schlimmste zu (2. Aufl.). Aus dem Englischen von Erika Tophoven-Schöningh. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 6 f. Bleckwedel, J. (2008). Systemische Therapie in Aktion. Kreative Methoden in der Arbeit mit Familien und Paaren. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Die Fantastischen Vier (1993). Smudo schweift aus. In Die 4. Dimension. Sony Music Entertainment. Dörner, Di. (1992). Die Logik des Misslingens: strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek: Rowohlt.
5 Sesamstraße, 1973. 6 Beckett, 1983/1990, S. 6 f.
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Hemmes, A. (2014). Scheitern im Job: »Ich hab’s total verbockt«. Süddeutsche Zeitung, 18. 07. 2014. Zugriff am 27.07.2016 unter http://www.sueddeutsche. de/karriere/scheitern-im-job-ich-habs-total-verbockt-1.2049499 Johnstone, K. (1993). Improvisation und Theater. Berlin: Alexander-Verlag. Lösel, G. (2004). Theater ohne Absicht: Impulse zur Weiterentwicklung des Improvisationstheaters. Ein Herz-, Hand- und Hirnbuch für Improvisationstheater. Planegg: Impuls-Theater-Verlag. Reyer, T. (2013). Wie wir uns selbst erfinden – Narrationen als Geschichten, die unsere Welt ordnen. Jahrbuch der Akademie Remscheid für Kulturelle Bildung. Satir, V., Baldwin, M. (1999). Familientherapie in Aktion: die Konzepte von Virginia Satir in Theorie und Praxis (5. Aufl.). Paderborn: Junfermann. Schmidt, G. (2005). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Schulz von Thun, F. (1998). Miteinander reden 3 – Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Reinbek: Rowohlt. Sesamstraße (1973). Der, die, das. Titellied. Musik: Ingfried Hoffmann, Text: Volker Ludwig. NDR. Stern, D. N. (2005). Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Storch, M., Cantieni, B., Hüther, G., Tschacher, W. (2010). Embodiment – Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen (2. Aufl.). Bern: Huber. Tucholsky, K. (1929/1956). Die Kunst, richtig zu reisen. In Kleine Geschichten. Ausgewählte Werke. Teil: Schloss Gripsholm und anderswo (S. 165–205). Berlin: Volk und Welt. Zugriff am 04.08.2016 unter http://gutenberg.spiegel. de/buch/kleine-geschichten-1191/6 Watkins, J. G., Watkins, H. H. (2003). Ego-states – Theorie und Therapie: Ein Handbuch. Heidelberg: Carl-Auer. White, M., Epston, D. (2002). Die Zähmung der Monster: der narrative Ansatz in der Familientherapie (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.
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Mein Sex. Dein Sex. Unser Sex! Mit Humor und Risikofreude eine selbstbestimmte Sexualität entfalten Sex und Liebe sind zeitlose Probleme. Egal, wie alt ich werde, ich werde nicht schlauer. Woody Allen1
In unserer sexualtherapeutischen Arbeit begleiten wir Menschen, deren Freude am Sex getrübt ist oder die ihr Sexualleben sogar als belastend empfinden, auf einem selbstbestimmten und aktiven Ausweg aus ihrer erotischen Defensive. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie unter ihrem als zu gering empfundenen sexuellen Verlangen leiden, ob sie mit ihrem sexuellen »Funktionieren« oder den eigenen »Fähigkeiten« unzufrieden sind. Es kann sein, dass sie sich einen sexuell engagierteren bzw. weniger bedrängenden Partner – oder eine ebensolche Partnerin – wünschen oder nicht wissen, wie sie ihre erträumte Sexualität ausleben können. Im Gegensatz zu einem klassischen paartherapeutischen ZweierSetting entscheiden wir uns bewusst für einen Mehrpersonen-Ansatz in einer Workshop-Gruppe, den wir als »Relationale Sexualtherapie«2 bezeichnen. Die sexuelle und geschlechtliche Identität ist dabei für uns nicht entscheidend und auch nicht, ob sich die Teilnehmenden jung oder alt fühlen oder ob sie mit keinem, einem oder
1 Zit. nach Augsburger-Allgemeine (2010). Die Klaviatur des Humors – Woody Allen in Zitaten. Zugriff am 31.07.2016 unter http://www.augsburger-allgemeine.de/freizeit/kino/Die-Klaviatur-des-Humors-Woody-Allen-in-Zitatenid8771641.html 2 Angelehnt an systemische Methoden »kollektiver Psychotherapiekulturen« (Schweitzer, 2016), an Erkenntnisse aus der Forschung zu Netzwerkintervention bzw. sozialer Unterstützungsförderung (Nestmann, 2008) und mit Bezug auf »Relationale Hilfeansätze« (Straßner, 2016), sehen wir die Bezüge innerhalb einer Gruppe als eigenständige Ressource in Veränderungsprozessen. Unter »Relationale Hilfe- und Therapieformen« fassen wir beispielsweise auch systemische Mehrpersonentherapien sowie Netzwerk- oder Gruppentherapien (wie die Multifamilientherapie).
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mehreren Partnern/Partnerinnen leben möchten. Entscheidend ist nur, dass sie etwas an ihrer aktuell erlebten Sexualität ändern wollen. Spielerisch, humorvoll und liebevoll-provokativ führen wir in drei Etappen durch die abenteuerliche Welt der eigenen und partnerschaftlichen Sexualität. Im ersten Abschnitt – »Mein Sex« – öffnen wir einen Raum für die (Wieder-)Entdeckung der eigenen Sexualität mit ihren vielfältigen Facetten. Wir fragen uns, wer wir – auch unabhängig von unserer partnerschaftlichen Sexualität – waren, sind und sein möchten. Wenn wir über ein individuelles sexuelles Spektrum verfügen, so gilt dies selbstredend auch für unsere Partner. Im zweiten Teil – »Dein Sex« – untersuchen wir, was diese Erkenntnis bedeuten kann und wie viel jede/r Einzelne überhaupt darüber wissen will. Erst in einem dritten Schritt – »Unser Sex!« – befassen wir uns damit, was unsere jeweilige Einzigartigkeit für eine gemeinsame, zum Beispiel partnerschaftliche Sexualität bedeutet und welche Wege es gibt, in innerer Freiheit und Integrität damit umzugehen. Mit dem vorliegenden Text möchten wir einen möglichst anschaulichen Eindruck von unserer Denk- und Arbeitsweise vermitteln. Deshalb gliedert der Dreischritt unserer Workshop-Struktur auch diesen Beitrag.3
Selbstbestimmt aus der Lust-Defensive: Vom Nicht-Können zum Anders-Wollen Im Bett läuft nur noch selten etwas oder seit Langem gar nichts mehr. Der eine Partner will andauernd, der andere nie. Der eine kommt zu früh, der andere gar nicht. 3 Wir bieten unsere Workshops in verschiedenen Varianten an: Eintägig und mehrtägig, für Einzelpersonen, die – auch unabhängig von ihrem Partner – an ihrer Sexualität etwas verändern möchten, aber auch für Paare. Bei der letztgenannten Version trennen wir die Partner in einzelnen Übungen und moderieren anschließend das Zusammenkommen in gemeinsamen Übungen. In diesem Text versuchen wir, unsere Arbeitsweise verdichtet vorzustellen und konzentrieren uns daher auf die Workshop-Version für Einzelpersonen. Der beschriebene dreigliedrige Ablauf bildet die Grundlage bei jeder der Varianten.
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Mit solchen oder ähnlichen Problemen sehen sich viele Menschen konfrontiert. Doch nach wie vor ist es ein Tabu, darüber zu sprechen, wenn wir mit unserer Sexualität auf die eine oder andere Weise unzufrieden sind. Tun wir es doch, neigen wir dazu, defizitorientierte Beschreibungen zu wählen: Wir beschreiben uns selbst als unzulänglich, bezichtigen unseren Partner der Unfähigkeit oder des Widerstands oder wir bemängeln die Qualität unserer Beziehung. Klagen wir beispielsweise über vermindertes sexuelles Verlangen, unabhängig davon, ob es sich um unser eigenes oder das unseres Partners handelt, dann klingt das möglicherweise so: ȤȤ Mit dir stimmt etwas nicht, wenn du nicht kannst oder (mich) nicht willst. ȤȤ Mit mir stimmt etwas nicht, wenn ich nicht kann oder (dich) nicht will. ȤȤ Wenn wir nicht mehr so viel Sex haben, dann kann doch mit unserer Beziehung irgendwas nicht stimmen. ȤȤ Es ist doch klar, dass man nicht mehr wild übereinander herfällt, wenn man schon so ewig zusammen ist wie wir! In solchen Überzeugungen drückt sich meist Ratlosigkeit aus. Man könnte umgekehrt auch sagen, solche Gedanken machen uns ratlos und passiv: Wir würden gern eine andere Sexualität erleben, doch wir glauben, dass es nicht in unserer Hand liegt, etwas zu ändern. In unseren Workshops hinterfragen wir solche Glaubenssätze und laden mit Gegenfragen zu einem mutigen Blick hinter die Beziehungskulisse ein: ȤȤ Du willst es so, wie es jetzt läuft, also nicht mehr. Was willst du dann? ȤȤ Welche Bedürfnisse, die gesehen werden wollen, verstecken sich in deiner Lust bzw. Unlust oder hinter deinen körperlichen (Nicht-) Reaktionen? ȤȤ Welches Risiko würdest du eingehen, wenn du deine Bedürfnisse ernst nehmen und zeigen würdest? Der systemische Sexualtherapeut Ulrich Clement führt in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Nicht-Können und Anders-Wollen ein. Dieser Perspektivenwechsel ist ein erster großer
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Schritt – raus aus der Lust-Defensive, rein in sexuelle Selbstbestimmung und neue Vitalität. Wir gehen davon aus, dass wir uns alle ein Leben lang weiterentwickeln und sich unsere individuellen Bedürfnisse entsprechend verändern – auch in sexueller Hinsicht. Ist die Sexualität ein Teil meiner persönlichen Entwicklung, so bin auch ich selbst – und nur ich – für mein erotisches Glück verantwortlich. Das gilt übrigens auch und gerade in langjährigen Partnerschaften. Aber um etwas zu verändern, bedarf es eines hohen Maßes an Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und innerer Freiheit im Kontakt mit den Personen, die mir sehr nahe sind und vor deren Ablehnung ich mich fürchte. Das sind Qualitäten, die wir oft erst im Laufe unseres Lebens festigen.
Wie wir arbeiten Wir sehen eine deutliche Verbindung von persönlichen Reifungsprozessen dieser Art und sexueller Zufriedenheit in Beziehungen. Probleme rund um unsere Sexualität bewegen uns meist so sehr, dass wir auch bereit sind, aktiv zu werden und einen Entwicklungsschritt zu gehen. Hier setzen wir mit unseren Workshops an, die sich zwar sehr konkret auf Sexualität beziehen, aber zugleich eine weitreichendere persönliche Entwicklung anstoßen können. Das wirkungsvolle Veränderungspotenzial, das Sexualität birgt, sehen wir vor allem darin, dass dabei sämtliche Sinne einbezogen sind und dass Sexualität sozial bezogen ist. Durch den Einbezug von Körper und Beziehung lassen sich eindrückliche Erfahrungen machen, die wir zum Lernen benötigen. Diesen Umstand nutzen wir für unsere Arbeitsweise, die wir im Folgenden näher beschreiben. Veränderungen mit allen Sinnen Grundlegende innere Veränderungen vollziehen sich niemals nur in kognitiven Verständnisprozessen, sondern werden vor allem von emotionalen Ereignissen ausgelöst. »Jede wichtige Entscheidung wird zunächst emotional getroffen. Danach schminken wir eine rationale Begründung darüber, weil wir uns dann sicherer und wohler fühlen« (Höfner, 2013). Deshalb wollen wir unseren Teilnehmern/Teilnehmerinnen in erster Linie emotionale Eindrücke
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auf mehreren Sinnesebenen ermöglichen, statt nur Wissen zu vermitteln. Wir arbeiten mit kleinen Filmen, mit Sketchen und Musik, mit verschiedenen Lichtstimmungen und Projektionen, mit Alltagsgegenständen, die als Ausstellungsexponate assoziativ Bedeutung bekommen, und mit persönlichen Anekdoten. Vor allem aber spielen wir gemeinsam, um die gewohnte Komfortzone zu verlassen – zum Beispiel »Flaschendrehen« oder eine Variation von »Wahrheit oder Pflicht«. Dabei darf es gern albern zugehen. Es wird gemeinsam gelacht – mit der Zeit vielleicht sogar über sich selbst. Aspekte, die als beschämend, verängstigend oder ausweglos empfunden werden, sind dadurch besser auszuhalten. Die Identifizierung mit den entsprechenden Gedanken nimmt ab und Neues wird denkbar. Denn es ist ja »nur ein Spiel«, aus dem man jederzeit aussteigen kann. Eine andere, damit verwandte Seite unserer Arbeitsweise verdankt sich dem »Provokativen Stil« Frank Farrellys und Eleonore Höfners. Dabei konfrontieren wir unsere Teilnehmer/-innen auf liebevoll- humorvolle Weise mit den Überzeugungen, die sie sexuell blockieren, indem wir diese spiegeln und dabei so weit überspitzen, bis sich ihre komischen Aspekte zeigen. Dieser Stil funktioniert nur, wenn wir frei von Bewertungen und Zynismus sind und einen vertrauensvollen Kontakt hergestellt haben. Ein guter Indikator dafür, ob solch eine Intervention ankommt, ist, dass unsere Teilnehmer/-innen befreit über sich selbst lachen können, und zwar immer ein bisschen mehr als wir Provokateure. Vor allem jedoch zeigt sich das Gelingen einer Provokation darin, dass die Teilnehmenden bisherige Glaubenssätze überprüfen und sie sich selbstbestimmt dazu positionieren können. Eine provokative Intervention wäre es zum Beispiel, den »Nutzen« von sexuellen Funktionsstörungen bis zur Absurdität zu betonen, verbunden mit dem Ratschlag, diese unbedingt beizubehalten, ja eher noch zu verstärken, etwa um die frei gewordene Zeit künftig für sich selbst sinnvoller nutzen zu können. Vielfalt der Gruppe als Raum der Möglichkeiten Während unsere Teilnehmer/-innen gemeinsam spielen und lachen, können sie sich im sicheren Rahmen des von uns moderierten Gruppenkontexts offenbaren und austauschen. Dabei entscheidet jede/r
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selbst, wie viel sie/er einbringen möchte. Die Teilnehmenden und wir Trainer profitieren von der Vielfalt in der Gruppe und den verschiedenen Facetten von Sexualität, die damit verbunden sind: Veränderung der Sexualität zwischen Jugend und Alter, hetero-, homound bisexuelle Neigungen, monogame und polygame Modelle, Unterschiede in der Spanne geschlechtlicher Identitäten, Sexualität in besonderen Lebenssituationen, wie zum Beispiel während oder nach einer Schwangerschaft, und viele mehr. Dabei wird einerseits deutlich, wie sehr unsere Vorstellungen von Sex kulturellen Normen unterliegen, andererseits aber auch, wie viele verschiedene Möglichkeiten es jenseits davon gibt. Idealerweise gewinnen wir so neue Sichtweisen und Ideen, die uns erlauben, eigene Positionen und bisherige Lösungsversuche zu variieren. In der Gruppe erfahren wir zudem gegenseitige Unterstützung und Ermutigung: »Das gestehen sich andere auch zu!« So hat uns eine Teilnehmerin zurückgemeldet, dass sie sich plötzlich in der Lage sah, sich nicht mehr schuldig dafür zu fühlen, dass sie beim Sex gelegentlich an ihren Ex denkt, denn das täten andere ja offenbar auch. Unsere Teilnehmer/-innen bekommen aber nicht bloß bestätigendes Feedback, sondern auch irritierendes Reframing: »Das willst du nicht? Ich dachte, das will jeder!« Außerdem kann Ex-Kommuniziertes, also Aspekte, die bisher aus der gemeinsamen Sexualität ausgeklammert wurden, probehalber ausgesprochen werden (Clement, 2006): »Ich träume davon, dominiert zu werden!« Auf diese Weise ist es möglich, Blockaden und Tabus zu relativieren. In einem unserer Workshops erkannte ein Teilnehmer, dass es für ihn entlastend war, dass andere Teilnehmer, die er als durchaus attraktiv erlebte, ebenfalls wiederholt von ihren Partnern zurückgewiesen worden waren. Weil diese Menschen in seinen Augen dadurch aber keineswegs an Attraktivität einbüßten, empfand er plötzlich die selbst erlebte Zurückweisung als weniger abwertend und kränkend: »Vielleicht stimmt mit mir ja doch alles und ich könnte mich, auch unabhängig von der Bestätigung meines Partners, attraktiv und liebenswert fühlen!«
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Mittendrin statt nur dabei – die Trainer spielen mit Als gemischtes Doppel leiten wir Therapeuten als Trainer die Workshops, verstehen uns aber auch als gleichwertige Mitspieler. Das bedeutet, dass wir nicht nur Übungen anleiten und Theorie vermitteln, sondern unsere persönlichen Erfahrungen und Positionen in den gruppentherapeutischen Prozess mit einbringen. So können wir als Teil der Gruppe glaubwürdiger auftreten. Dabei kommt es durchaus vor, dass auch wir, die wir jeweils unterschiedliche Erfahrungen gesammelt haben, nicht derselben Meinung sind oder Schwerpunkte verschieden setzen, was wir dann auch kommunizieren und kommentieren. Als Trainer zeigen wir die Bereitschaft, uns mit der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen, machen aber gleichzeitig deutlich, dass auch wir Hemmungen, Unsicherheiten und Begrenzungen haben und uns ebenfalls auf einem individuellen Weg befinden. Wir sorgen mit einer mutigen, aber angemessenen Sprache und mit Humor für Auflockerung und sprechen unsere spontanen Beobachtungen aus. Dadurch wird »der Mensch hinter dem Therapeuten wieder sichtbar« (Höfner u. Schachtner, 2007, S. 35) und unsere Positionen werden als gleichwertig mit denen der anderen Teilnehmer/-innen wahrgenommen. »Außerdem ist ein authentischer Therapeut für den Klienten ein überzeugenderes Modell zur Nachahmung als einer, der sich verhalten hinter seiner Expertenrolle verschanzt. Der Therapeut sagt, was er denkt, und zeigt seine Gefühle« (Höfner u. Schachtner, 2007, S. 40).
Unsere Workshops Unsere Workshops bieten mit anderen Worten keine Bedienungsanleitung, nicht den einen guten und richtigen Weg, um garantiert wieder mehr Spaß am Sex zu haben. Stattdessen präsentieren wir verschiedene Ideen, um die eigenen Denk- und Verhaltensmuster, die sich über die Jahre verfestigt haben, zu erkennen und zu hinterfragen. Dabei eröffnet sich eine Landschaft, in der wir unseren eigenen Standort bestimmen können, und wir werden frei, verschiedenste Wege zu gehen. Für den Einstieg in unsere drei großen Etappen bewegen wir uns jedoch noch auf vertrauten Pfaden – ein Vorspiel zum Warmwerden.
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Das Vorspiel Unsere Workshops beginnen mit räumlichen Skalierungen und auflockernden Spielen, für die wir von Anfang an unsere Sitzplätze und damit auch ein Stück weit unsere Komfortzone verlassen müssen. So werden alle – physisch wie psychisch – gleich ein bisschen beweglicher. Der Aufwärmphase unseres Workshops widmen wir viel Zeit, damit sich aus der Summe der Teilnehmer/-innen eine vertrauensvolle Gruppe bilden kann. Übung: Skalieren und »Never ever«
Denkbare Fragen für eine räumliche Skalierungsübung wären: –– Wie alt warst du, als du deine ersten sexuellen Erfahrungen ge macht hast? –– Wie lange dauerte deine bisher längste Beziehung? –– Für wie experimentierfreudig hältst du dich selbst im Bett? Dann positionieren sich alle ihrer Antwort entsprechend und in Relation zueinander im Raum. Der eigene Standort kann, wenn erwünscht, anschließend kommentiert werden. Wir ermutigen unsere Teilnehmer bald dazu, auch selbst skalierbare Fragen zu formulieren – eine Möglichkeit, die in der Regel gern aufgegriffen wird. In einer anderen Übung, die wir »Never ever« nennen, arbeiten wir mit Antwortschildern, auf deren Vorderseite »Doch, hab ich!« steht und auf der Rückseite »Stimmt!«. Weil die Teilnehmer ihre Antworten hier nicht selbst verbalisieren müssen, ist dieses Spiel besonders gut für den Anfang geeignet. Nun werden Behauptungen in den Raum gestellt, die auf potenzielle Tabus abheben: –– Niemals habe ich jemals heimlich SMS im Handy meines Partners oder meiner Partnerin gelesen. –– Niemals habe ich jemals beim Sex an meine/n Ex gedacht. –– Niemals hatte ich jemals sexuelle Phantasien mit einer gleich geschlechtlichen Person.
Vorab stellen wir klar, dass Lügen an dieser Stelle immer erlaubt ist. Es geht schließlich nicht darum, eine Beichte abzulegen, son-
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dern darum herauszufinden, was eine Behauptung in mir auslöst: Fühle ich mich unwohl, wenn ich mich dazu äußern soll? Werden hier meine Tabuthemen berührt? Bin ich vielleicht überrascht, dass andere in der Gruppe ganz entspannt Antworten geben, die ich selbst zu geben nie wagen würde? Spiele wie diese machen es den Teilnehmenden leichter, sich in die Thematik einzufinden, sich aufeinander zu beziehen und aufgeschlossen den nächsten Schritt zu gehen. Mein Sex In diesem ersten Hauptteil unserer Workshops widmen wir uns ausschließlich uns selbst als sexuellem Wesen. Denn häufig sehen wir nur noch unsere aktuell mit anderen praktizierte Sexualität und die Verantwortung, die unser Gegenüber dafür zu haben scheint. Abhängig vom Partner – Wenn du mich magst, mag ich mich auch
Wenn wir unsere sexuelle Zufriedenheit an unseren Partner delegieren, so basiert das meist auch auf einer geläufigen Vorstellung von Intimität. Sie entspricht dem, was wir als Kinder brauchten, um gesund aufzuwachsen: dass unsere Eltern unsere Bedürfnisse und Äußerungen voll positiver Aufmerksamkeit anhören, uns akzeptieren und lieben, uns bestätigen und unsere Gefühle empathisch nachempfinden. Kinder brauchen die körperliche Berührung und Versicherung ihrer Eltern, um sich zu entspannen und sich in ihrer Haut wohlzufühlen (Ahlers, 2015). So entwickeln wir ein gespiegeltes Selbstempfinden, das von Akzeptanz und Berührung sowohl getragen als auch abhängig ist. Deshalb wird es so wichtig für uns, die Gedanken, Gefühle, Bewertungen und Motive anderer zu »lesen«, ein Prozess, der auch »mentales Spiegeln« genannt wird. Dabei versuchen wir herauszufinden, wie unsere Umwelt zu uns steht und wie wir das zu unseren Gunsten beeinflussen können. Für Kinder ist es daher wesentlich einfacher, die Wünsche anderer Menschen wahrzunehmen, als ihre eigenen zu erkennen (Schnarch, 2011). Diese Vorstellung einer fremdbestätigten Intimität nehmen viele von uns mit in ihre erwachsenen Beziehungen, und dazu den Anspruch, dass sich unser Partner selbst auch so bereitwillig offenbaren möge, wie wir das tun. Wir delegieren dann die Erfüllung
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unserer Bedürfnisse an unser Gegenüber, das uns fortlaufend Wertschätzung entgegenzubringen hat. Das Bedürfnis nach Bestätigung wird sehr unmittelbar und intensiv befriedigt, wenn jemand, den wir gut finden, uns berühren möchte und begehrt (Ahlers, 2015). Das funktioniert in der Anfangsphase der frischen Verliebtheit meist noch sehr gut. Doch diese Abhängigkeit trägt stets ein Verletzungsmoment in sich. Denn sobald wir nicht mehr bekommen, was wir wollen, bemängeln wir enttäuscht und frustriert den Egoismus, die Ignoranz und die Lieblosigkeit des anderen – die Distanz, fehlende Wertschätzung, Maulfaulheit und Unreife unseres Partners. Oder wir werten uns verunsichert selbst ab, weil die Bestätigung, zum Beispiel in Form von Begehren, ausbleibt. Oft fühlt es sich dann einfacher an, allein zu bleiben, immer wieder neue Beziehungen zu beginnen oder gleich mehrere bestätigende Partner um sich zu scharen. Beziehungen, die auf einem »Wir-Gefühl«, einer verschmolzenen Form von Intimität basieren, und nicht auf zwei sich begegnenden »IchGefühlen«, sind sowohl besonders anfällig für Schuldzuweisungen und Konflikte als auch für eine Dynamik abnehmenden sexuellen Verlangens. Die Kunst, sich selbst zu bestätigen – Ich mag mich auch, wenn du mich gerade nicht magst
Im Gegensatz zu dem eher kindlichen Bild von Intimität, das auf Fremdbestätigung basiert, hat David Schnarch eine ungewöhnliche Alternative eingeführt, die er als »selbstbestätigte Intimität« beschreibt. Es handelt sich dabei um eine emanzipierte Form der Selbstoffenbarung und Selbstkonfrontation in Gegenwart von anderen – selbst wenn man von diesen dafür nicht das bekommt, was man sich wünscht (Schnarch, 2011). Diese Form eines subjektiven Intimitätsempfindens kann als ein Angebot verstanden werden, das nicht unbedingt angenommen werden muss. Es ist leicht nachvollziehbar, dass dazu ein hohes Maß an persönlicher Stabilität und Offenheit gehört, gerade wenn der Partner gelangweilt, ängstlich, verletzt, traurig, unzufrieden oder gar feindselig reagieren könnte. Das ist etwas, das wir mit unseren ausgeprägten Spiegelungsfähigkeiten sofort wahrnehmen, selbst wenn der Partner es nicht ausspricht. Sich unter diesen Umständen trotzdem mitzuteilen, sich treu zu
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bleiben und gegebenenfalls sich selbst beruhigen und bestätigen zu können, ist in der Regel mit einem längeren Lernprozess verbunden. Dieser basiert auf der Erkenntnis, dass es nicht in erster Linie die Aufgabe meines Partners ist, mich zu mögen, zu ehren und auch zu befriedigen, sondern meine eigene. Mein erotisches Profil – Wer bin ich und was will ich? Wir gehen daher mit unseren Teilnehmern einen Schritt zurück aus der mit der Paardynamik assoziierten Sexualität und den damit potenziell einhergehenden sexuellen Verstrickungen. Stattdessen kommen wir sozusagen heim, lernen uns selbst wieder besser kennen und fragen uns: ȤȤ Wer bin ich als sexuelles Wesen, auch unabhängig von meiner Beziehung oder meinen Sexualpartnern? ȤȤ Was gehört eigentlich alles zu meiner Sexualität?
Um uns diesen großen Fragen anzunähern, haben wir auf der Basis des »Individuellen sexuellen Profils« von Ulrich Clement (2008) einen Fragebogen für unsere Teilnehmer/-innen entwickelt, der ihnen einen ungewöhnlichen Blick auf ihre Sexualität ermöglicht. Darin wird unter anderem ihre sexuelle Biografie abgefragt, also die Erfahrungen, die sie schon gesammelt haben – wer sie sexuell schon waren, was sie gemacht und gedacht haben. Außerdem bekommen aktuelle Phantasien und Wünsche in diesem Fragebogen Platz. Dabei wird unterschieden zwischen Wünschen als Ideen, die man tatsächlich gern realisieren würde, und Phantasien, mit denen man sich zwar möglicherweise selbst stimuliert, die man aber niemals würde in die Tat umsetzen wollen. Weiter stellen wir Fragen nach den »Talenten im Bett«, die sich die Workshop-Teilnehmer selbst zuschreiben. Wir fragen, wie der aktuell praktizierte Sex aussieht und was sie sehr oder nicht so sehr daran mögen. Anschließend bekommen alle Teilnehmer einen Briefumschlag, in dem der beantwortete Fragebogen verschlossen wird: Sinnbild der Tatsache, dass die individuelle Sexualität im Wesentlichen nur mir selbst gehört, mein Schatz und meine Verantwortung ist. Zugleich bilden die hier formulierten Antworten die Basis für alle folgenden Übungen.
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Die Gruppe wird zu einem intimen Raum, in dem mit selbstbestätigter Intimität experimentiert werden kann, und zwar dadurch, dass Aspekte der eigenen Sexualität freiwillig veröffentlicht werden. Oder eben nicht. Dein Sex Im zweiten Teil unserer Workshops beschäftigen wir uns damit, was es für uns und unsere Sexualität bedeutet, wenn wir annehmen, dass nicht nur wir selbst über eine komplexe Sexualität verfügen, sondern auch unser Partner. Denn müssen wir nicht davon ausgehen, dass es da vielleicht Facetten gibt, die uns noch gar nicht bekannt sind? Das gilt auch (und vielleicht vor allem) in sehr eingespielten Beziehungen, in der die Partner viele sexuelle Erlebnisse teilen, sich viel voneinander erzählen und sich vielleicht sogar sexuell stets treu geblieben sind. Wir provozieren daher unsere Teilnehmer freundlich und fragen: ȤȤ Nachdem du dich selbst in den Blick genommen hast – glaubst du wirklich, die Sexualität deines Partners bzw. deiner Partnerin zu kennen? ȤȤ Ist er/sie nicht – genau wie du – ein sexuelles Individuum, das sich im Laufe seines Lebens verändert? ȤȤ Weißt du wirklich, was er/sie denkt und fühlt, was er/sie mag und was nicht und wie zufrieden er/sie mit eurem Sex ist? ȤȤ Könntest du tatsächlich den Fragebogen für das sexuelle Profil deines Partners bzw. deiner Partnerin ausfüllen? Und fändest du es überhaupt erstrebenswert, all das im Detail zu wissen?
Zur Veranschaulichung gehen wir in unserem nächsten Spiel einen Schritt weiter. Es handelt sich um einen Spiele-Klassiker, bei dem wir übereinander etwas herausfinden können, das wir uns freiwillig vielleicht nicht unbedingt sagen würden: »Flaschendrehen«. Die meisten fühlen sich bei diesem Spiel in ihre Jugend zurückversetzt. In eine aufregende Zeit, in der alles im Leben noch neu und möglich war und doch unmöglich und unerreichbar erschien. Eine Zeit, in der wir ständig unsere Komfortzone verlassen haben, vielleicht etwas ängstlich, aber doch von Neugierde und Lebenslust angetrieben.
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Übung: Flaschendrehen
Wir bieten dieses Spiel mit vorgegebenen Fragen an. Die Flasche wird gedreht und die Person, die zuletzt an der Reihe war, darf entscheiden, ob sie eine von uns vorbereitete Frage ziehen möchte oder ob sie selbst eine Frage formulieren will. –– Wie würdest du reagieren, wenn dein Partner vorschlagen würde, einmal eine Form des Partnertauschs auszuprobieren? –– Angenommen, dein Partner sagt dir, dass er den Sex mit dir mag, gibt dir aber indirekt zu verstehen, dass er den tollsten Sex mit jemand anderem hatte. Wie würdest du damit umgehen? –– Angenommen, dein Partner würde vorschlagen, sexuelle Domi nanz- und Unterwerfungsphantasien auszuleben. Welche Gefühle wären damit bei dir verbunden? 4 Wie immer haben die Teilnehmer die Möglichkeit, unverfänglich zu antworten, zu schwindeln oder aber, sich mit Risikofreude in die selbstbestätigte Intimität zu stürzen.
Sind Unterschiede bedrohlich?
Fragen wie diese auch an den eigenen Partner zu richten, kann unangenehm sein, da seine Antworten sich womöglich verletzend, abwertend, überfordernd, beunruhigend oder gar abstoßend anfühlen. Außerdem muss damit gerechnet werden, dass der Partner nicht nur antwortet, sondern selbst vergleichbare Fragen stellt. Individuelle Unterschiede zwischen den Partnern können aber nicht nur unangenehm, sondern sogar regelrecht bedrohlich wirken, wenn gegenseitige Bestätigung, Rückversicherung der Liebe und bedingungslose Rücksichtnahme zentrale Erwartungen an die Partnerschaft sind. Wenn das eigene emotionale Gleichgewicht von der Bestätigung des Partners abhängig ist, können Unterschiede dazu führen, dass wir laufend mit Spiegelungsprozessen beschäftigt sind. Das bedeutet, dass wir ständig versuchen, die Gedanken und Gefühle 4 Diese Fragen sind unter anderem von Ulrich Clements »Think Love. Das indiskrete Fragenbuch« (2015) inspiriert.
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unseres Partners zu erfassen und zu prüfen. Wir hoffen, dabei ein positiv gespiegeltes Selbstempfinden zu erfahren: Wenn wir erleben, dass der Partner uns begehrenswert findet, finden wir uns ebenfalls begehrenswert. Wir versuchen herauszufinden, ob unser Partner uns sieht, achtet und bewundert, ob er glücklich mit uns ist und uns »wirklich« liebt oder ob er vielleicht doch bloß so tut. Da wir aber auf der Basis eigener Kriterien, also unserer eigenen inneren Wirklichkeit, spiegeln, können wir letztlich immer nur interpretieren. Unsere Wahrnehmung ist folglich enorm anfällig für Projektionen. In dem, was unser Partner zu denken scheint, in dem, was er tut oder auch nicht tut, entdecken wir beispielsweise unseren eigenen Selbstzweifel. So kommt es, dass wir uns durch unsere Interpretationen selbst verletzen, um uns dann beleidigt oder vorwurfsvoll zurückzuziehen. Erschwerend kommt hinzu, dass wir uns in der Regel Partner aussuchen, die ähnlich viel (oder wenig) fremdbestätigte Intimität brauchen wie wir selbst. Wenn sich jedoch beide abhängig von der Bestätigung des anderen machen, so entsteht leicht eine sich gegenseitig verstärkende Dynamik des wechselseitigen Belauerns, Enttäuschens und Manipulierens. Diese Pattsituation aus vorwurfsvollen Zuschreibungen, negativen Selbstbeschreibungen und Machtspielen ist Ausdruck einer sogenannten »emotionalen Verschmelzung«. Sie fühlt sich in der Regel paradoxerweise wie ein konfliktreiches SichAuseinanderleben an, obwohl wir uns laufend in die Angelegenheiten unseres Partners einzumischen versuchen (Schnarch, 2011). Ein anderer Weg, um mit Unterschieden im Wollen umzugehen, die sich unerträglich anfühlen, ist es, gezielt nur Harmonie und Paar-Konsens zu betonen. In einer verharmlosenden Vermeidungsdynamik werden dann Unterschiede nivelliert oder gleich ganz ausgeklammert. In vorauseilender Rücksichtnahme5 kann man sich 5 Clement skaliert das in den »Intensitätsstufen antizipierter Rücksicht« (2006): Stufe 0: Grenz-Übertretung (Ich tue, was ich will; gegebenenfalls auch als Übergriff); Stufe 1: Grenz-Markierung (Ich tue es nicht, wenn du sagst, dass du es nicht willst; das heißt, der Partner hat die Grenze offen formuliert); Stufe 2: Grenz-Akzeptierung (Ich tue es nicht, wenn ich vermute, dass du es nicht willst); Stufe 3: Ex-Kommunikation (Ich sage es nicht, wenn ich weiß, dass du es nicht willst; Einigung auf ein sexuelles Tabu, das Nicht-Gemeinsame wird ausgegrenzt); Stufe 4: Latenz des Wunsches (Ich will es nicht und
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selbst und den Partner schonen und Selbstzweifel in Schach halten. Zudem bleiben wir so über längere Zeit in der bewährten und vertrauten Paar-Komfortzone, in der wir uns sicher und verbunden fühlen. Dazu werden allerdings auch mittels Sprachlosigkeit, unbefriedigender Kompromisse oder gar Selbstverleugnung die Unterschiede regelrecht ex-kommuniziert. »Paar-Mikado« nennt Ahlers (2015) das: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. ȤȤ Das Thema Sex ist doch völlig überbewertet. Mein Mann und ich sind beide nicht mehr so naiv, zu glauben, dass Sex das A und O einer Beziehung sei. Wir zeigen uns auf ganz andere Weise, dass wir uns lieben. ȤȤ In unserer Lebensphase, in der die Kinder noch klein sind, fehlt es ohnehin hinten und vorne an Energie. Da ist Sex einfach nicht dran, es gibt echt Wichtigeres. ȤȤ Durch die Omnipräsenz von Pornographie in unserer Gesellschaft meint ja plötzlich jeder, dass die absurdesten Sexualpraktiken völlig normal seien. Ich bin wirklich froh, dass wir uns da einig sind und diesen Quatsch nicht mitmachen müssen. Eine solche Dynamik kann auch erklären, weshalb viele von uns früher oder später ein eingespieltes sexuelles Repertoire entwickeln, das aus erotischen Kompromissen besteht. Ulrich Clement nennt das den »kleinsten gemeinsamen sexuellen Nenner«, bei dem wir, zugunsten des partnerschaftlichen Friedens, auf persönliche wie auch gemeinsame erotische Entwicklung verzichten. Dieser Sex funktioniert einigermaßen zuverlässig und tut keinem weh, löst aber auch keine euphorischen Höhenflüge aus. Und gerade wenn beim Sex auf Dauer Langeweile oder sogar Frust aufkommt, kann es sich irgendwann lohnenswerter anfühlen, gar keinen Sex mehr zu haben, sich von seiner Lust zu verabschieden und seine Zeit anderweitig zu nutzen.
denke es nicht einmal mehr, wenn ich vermute, dass du es nicht willst; der Wunsch ist »eingeschlafen«, die Unterschiede sind emotional nicht mehr präsent).
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Persönliche Differenzierung – Ich bin ich und du bist du
Man kann sowohl die oben genannten Konflikte als auch die unbefriedigenden sexuellen Kompromisse als Lösungsversuche im Umgang mit Unterschieden ansehen. Sie mögen belastend sein, aber sie ergeben für uns einen Sinn. Deswegen verändern wir daran erst dann etwas, wenn wir in eine Krise geraten und uns dazu gezwungen sehen. Beispielsweise weil wir infolge rücksichtsvoller oder ängst licher Zurückhaltung, durch die wir Verunsicherungen in der Beziehung vermeiden wollten, mit unserer Sexualität unzufrieden werden. Oder weil keine unserer Liebesbeziehungen über die oxytocingetränkte Phase der fremdbestätigten ersten Verliebtheit hinausgeht. Oder weil wir das Gefühl bekommen, uns mehr und mehr selbst zu verraten und dabei unsere Integrität zu verlieren. Anschließend an das Konzept der selbstbestätigten Intimität konstatiert David Schnarch einen engen Zusammenhang zwischen der Lebendigkeit des sexuellen Verlangens und einem persönlichen und gleichzeitig bezogenen Wachstumsprozess, den er als »Differenzierung« bezeichnet. Er versteht darunter die Entwicklung eines selbstbestätigten emotionalen Gleichgewichts in der Interaktion mit wichtigen Menschen (Schnarch, 2011). Es handelt sich dabei also keineswegs um einen isolierten Prozess der Selbstbezüglichkeit, sondern um eine Form des intensiven und nahen Kontakts, in dem man es schafft, bei sich zu bleiben und sich nicht vereinnahmen zu lassen oder abhängig zu machen. Einswerden und anders bleiben! Dieses Paradoxon beschreibt gut das Spannungsverhältnis, das eine gelingende Beziehung trägt (Ahlers, 2015). Solch eine Form der Intimität zu entwickeln, in der wir uns unserem Partner anders zumuten, zu unseren Eigenheiten und damit auch Unterschieden stehen und dafür womöglich auf Bestätigung verzichten müssen, fühlt sich in der Regel zu Beginn beängstigend und nicht gut an. Sie kann jedoch ein großes Potenzial für unser Begehren in sich tragen. Denn darin liegt sowohl die Möglichkeit, etwas Neues über den Partner zu erfahren, das ihn aufregend, selbstbestimmt oder fremd erscheinen lässt, als auch die Freiheit, sich selbst zu offenbaren und zu sich selbst zu stehen. Um mit unseren Annahmen über das Unbekannte und die verborgenen Anteile unseres Partners zu spielen, bieten wir verschie-
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dene Übungen an. Eine davon nennen wir »Mein Partner, das unbekannte Wesen«. Übung: »Mein Partner, das unbekannte Wesen«
Für dieses Spiel wird jeder dazu angehalten, eine Frage zu formulieren, die mit einer Prozentangabe beantwortet werden kann. –– Wie viel Prozent der erotischen Wünsche deines Partners glaubst du zu kennen? –– Wie viel Prozent würdest du gern kennen? –– Wie viel Prozent deiner eigenen erotischen Phantasien möchtest du gegenüber deinem Partner auf keinen Fall preisgeben? Die Teilnehmer antworten, indem sie Prozentzahlen aufschreiben und sichtbar in die Luft halten. Dabei ist es spannend zu beobachten, wie verschieden die Antworten ausfallen und wie sehr diese Unterschiede zu Irritationen in der Gruppe führen können. Die eine denkt: Ist doch selbstverständlich, dass ich das alles wissen will, will doch jeder! Ich würde es ja gar nicht aushalten, nicht alles zu wissen! Dagegen denkt sich ein anderer: Auf gar keinen Fall soll er mir all das offen baren. Das würde mich komplett überfordern, abturnen und unter Druck setzen! Den Partner ein Stück weit aus der liebevollen oder ängstlichen Umklammerung zu entlassen, kann ebenso ein Ergebnis dieser Übung sein wie sich selbst die Erlaubnis zu geben, etwas mehr oder aber auch weniger von sich zu zeigen. Das kann viel Mut erfordern.
Ich im Spiegel meines Partners – meine Projektionen gehören zu mir
Übungen, die Differenzierungsprozesse anregen sollen, können – besonders, wenn sie von zwei Partnern gemeinsam durchgeführt werden – starke innere und auch partnerschaftliche Spannungen auslösen. David Schnarch benennt »Four Points of Balance« (Schnarch, 2011, S. 98), die eine Orientierung geben, wie wir uns innerlich dieser Herausforderung stellen können: 1. ein stabiles und flexibles Selbst, 2. ein stiller Geist und ein ruhiges Herz,
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3. angemessenes Reagieren, 4. sinnvolle Beharrlichkeit. Damit kann beispielsweise gemeint sein, dass ich selbst für meine emotionale Stabilität sorge, indem ich mich und meine Ängste wahrnehme, sie ernst nehme und ihnen begegne, ohne sie die Kontrolle über mich übernehmen zu lassen. Begegne ich unangenehmen Themen oder gerate ich in einen Konflikt, laufe ich nicht davon und weiche nicht aus. Und wenn ich auf Widerstand stoße und zunächst erschrecke, wütend werde oder enttäuscht bin, versuche ich, mich selbst zu beruhigen. Ich bemühe mich, gefasst und angemessen zu reagieren und weiter für das einzustehen, was mir wichtig ist. Wie sich solche zwar guten, aber in stressvollen Situationen sicherlich schwer zu befolgenden Vorsätze einhalten lassen, wollen wir anhand einer »Umkehr-Übung« veranschaulichen. Dazu vorab ein kleiner Exkurs: Mentales Spiegeln, wie wir es oben beschrieben haben, kann sich fatal auswirken, wenn wir in einer Phase sind, in der wir uns von der Bestätigung anderer abhängig gemacht haben. Grundsätzlich handelt es sich dabei jedoch um eine hochentwickelte soziale Kompetenz, von der wir in unseren Beziehungen durchaus profitieren können. Beispielsweise können wir uns durch die Spiegelung der Erregung unseres Sexpartners stimulieren lassen. Wir können uns aber auch motivlos darauf ausrichten, was unser Partner gerade braucht und verständnisvoll handlungsfähig bleiben, ohne in die gleiche Problemtrance zu verfallen. Die Voraussetzung dafür ist jedoch unsere Bereitschaft, uns aufrichtig in den Blick zu nehmen. Das gilt ganz besonders dann, wenn wir unruhig werden, uns bedroht fühlen oder glauben, dass unser Partner Stress in uns auslöst. Wir können damit beginnen, uns klar zu machen, dass wir immer auf der Grundlage unserer inneren Wirklichkeit spiegeln und unser Differenzierungsprozess folglich immer nur bei uns selbst beginnen und enden kann: Wenn wir beispielsweise überzeugt sind, dass unser partnerschaftliches »Sex-Problem« ein geteiltes ist, so verbinden wir doch jeweils ganz individuelle stressvolle Überzeugungen damit und folglich erleben die Beteiligten im scheinbar gemeinsamen Konflikt völlig verschiedene Probleme (Giesen, 2015). Gerade Situationen, in denen wir solchen »Beziehungsstress« erleben, sind gute Gelegen-
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heiten, um zu prüfen, was das mit uns selbst zu tun hat: Die Kränkung, wenn wir zurückgewiesen werden; die Verletzung, wenn unser Partner uns »betrogen« hat; der Übergriff, den wir bei einer Annäherung unseres Partners erleben; der Selbstvorwurf, wieder zu früh gekommen zu sein; die erlebte Unfähigkeit, einen Orgasmus mit dem Partner zu erleben und so weiter. Wenn wir uns während eines solchen inneren Dramas darauf beschränken, lediglich unserem Partner die Schuld für unsere unangenehmen Gefühle zu geben, bleiben wir in der Defensive. Übernehmen wir jedoch Verantwortung für das, was gerade in uns passiert, und heißen unseren emotionalen Aufruhr als Anlass willkommen, um unsere Projektionen, Glaubenssätze und die dazugehörenden Gedanken zu überprüfen, kann sich das Blatt wenden. Wir haben mit einem Mal die Chance, unsere stressvollen Erfahrungen selbstbestimmt gegen neue Erfahrungen einzutauschen. Dafür müssen wir zunächst wahrnehmen, welche Gefühle und Gedanken wir in Bezug auf unseren Partner haben, um dann herauszufinden, auf welchen Projektionen sie basieren: ȤȤ Welche Begehrlichkeiten und Bedürfnisse delegiere ich an meinen Partner, die ich mir selbst nicht erlaube oder ermögliche? ȤȤ Welche meiner eigenen Ängste und Abwertungen projiziere ich gerade auf meinen Partner? ȤȤ Welche Verantwortung will ich dadurch loswerden? Dabei können die bereits angekündigten Umkehrungen hilfreich sein, mit denen wir in Anlehnung an Byron Katies »The Work« sowie kognitive Therapieansätze der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie nach Becks und Ellis arbeiten. Die Erkenntnisse sind oft verblüffend und können sich emotional tief verankern. Ein Beispiel: Ich habe das Gefühl, dass sich mein Partner seit meiner Schwangerschaft nicht mehr wirklich sexuell für mich interessiert, mich beim Sex nicht mehr ansieht und auch meine Bedürfnisse nicht mehr wahrnimmt. Er beteuert zwar immerzu, dass er mich noch begehrenswert findet, wenn ich ihn frage, aber ganz offensichtlich ist das nicht wahr und er sagt das nur, um mich nicht zu verletzen.
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Mögliche Umkehrungen wären: Ich finde mich seit meiner Schwangerschaft nicht mehr attraktiv. Ich mag mich nicht mehr im Spiegel ansehen. Ich habe meine Bedürfnisse vernachlässigt. Oder auch: Mein Partner findet mich sexy, sieht mich und weiß, was ich brauche. Es können noch weitere Umkehrungen gefunden werden. Im nächsten Schritt werden für jede der Umkehrungen drei Beispiele gesucht, die zeigen, dass die Umkehr-Behauptungen ebenso wahr sein können wie die ursprünglichen Überzeugungen.6 Unser Sex In den ersten beiden Abschnitten unseres Workshops haben wir spielerisch sowohl die individuellen Eigenheiten als auch die Unterschiede der Partner erforscht. Wir haben dadurch verdeutlicht, dass sich bei jedem gemeinschaftlichen Sex die unterschiedlichen sexuellen Profile der Beteiligten begegnen. Wie man sich nun in einer Partnerschaft den erotischen Herausforderungen der Differenzierung mit mehr Leichtigkeit stellen kann, zeigen wir im dritten Teil. Das sexuelle Paar-Profil: Gemeinsamkeiten
Eine Möglichkeit, sich Unterschieden anzunähern, kann darin liegen, dass wir uns erst einmal der geteilten Sexualität versichern. Je nachdem, wie viel Selbstoffenbarung bereits stattgefunden hat und wie viele Aspekte die Partner gemeinsam ausleben, ist die gemeinsame Schnittmenge der sexuellen Profile größer oder kleiner. Sie kann als das sexuelle »Paar-Profil« (Clement, 2008, S. 124) betrachtet werden, das wie ein Fundament die notwendige Stabilität für riskante Veränderungen schafft. Um uns dieser Grundlage bewusst zu werden, stellen wir unseren Teilnehmern/ Teilnehmerinnen Fragen wie diese: ȤȤ Wo passt dein Begehren gut mit dem deines Partners zusammen? ȤȤ Welche erotischen Wünsche und Vorstellungen teilt ihr? ȤȤ Und was funktioniert bei euch immer wieder zuverlässig?
6 Ralf Giesens Buch »Beziehungsprobleme gibt es nicht« (2015) verdeutlicht, wie »The Work« konsequent auf Beziehungsthemen angewendet werden kann.
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Meist fällt es leicht, auf solche Fragen Antworten zu finden, denn sie stehen ohnehin im Fokus der meisten partnerschaftlichen Selbstbetrachtungen, vor allem, wenn sie auf gegenseitige Bestätigung und Gleichheit ausgerichtet sind. No risk no fun – Das Spiel mit Unterschieden
Wenn sexuelle Entwicklung stagniert, kann eine Chance in einem bestimmten Aspekt von Differenzierung liegen: sich eben nicht mehr nur der partnerschaftlichen Gemeinsamkeiten bewusst zu werden, sondern dem Partner oder der Partnerin mehr von sich zu offenbaren. Das kann bedeuten, dass man zu seinen aktuellen und unerfüllten sexuellen Wünschen steht – auch und gerade dann, wenn sich diese von denen des Partners, der Partnerin unterscheiden. Blicken wir zurück: Neben der gegenseitigen Bestätigung erleben wir am Anfang einer Beziehung häufig gerade die Unterschiede als bereichernd, weil beide Partner sie als spannende Ergänzung wahrnehmen. Das Unbekannte und sogar Beängstigende, das in der Eigenständigkeit des neuen Partners liegt, fühlt sich aufregend an, macht uns neugierig und stimuliert uns. Darin zeigt sich ein Zusammenhang von Verlangen und persönlicher Differenzierung. Aber ist das auch noch oder wieder in eingespielten Beziehungen möglich? Sicher nicht ohne Risiko. Das zeigt sich typischerweise in verstrickten Erwartungserwartungen, also in Vermutungen, die wir über die möglichen Hoffnungen bzw. Befürchtungen unseres Partners anstellen: Ich könnte meinen Partner verletzen, weil er dann glaubt, dass ich unzufrieden bin; ich könnte ihn unter Druck setzen, weil er das Gefühl bekommen könnte, etwas erfüllen zu müssen; er könnte sich von mir distanzieren, weil meine Wünsche ihn möglicherweise befremden. Und ich habe Angst, infolge meiner Offenbarung auf die Bestätigung meines Partners verzichten zu müssen, von der ich aber doch abhänge. Andererseits geht es ihm ja aber möglicherweise genauso. Vielleicht geht er mit mir sehr behutsam um, weil er denkt, dass ich genau das von ihm erwarte, träumt aber in Wahrheit von ganz anderem, härterem Sex, den ich mir schon lange gewünscht hätte, aber nie einzufordern wagte? Es kann also auch ein Geschenk an den Partner sein, ausdrücklich zu sagen: Das hier habe ich dir noch nicht von mir gezeigt und
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möchte es nun tun. Willst du es sehen? In jedem Fall aber ist es ein Geschenk an mich selbst, weil ich dabei meine Differenzierungs fähigkeit weiterentwickle. Indem wir mit solchen vermuteten Unterschieden in unseren Workshops spielen, experimentieren wir mit dem Zusammenhang von Risiko und Lust. Dazu stellen wir den Teilnehmenden verschiedene Fragen, die sie erst einmal für sich allein beantworten, je nach Workshop-Variante aber auch im Austausch mit einer anderen Person oder sogar mit dem Partner: ȤȤ Welchen erotischen Wunsch, von dem du vermutest, dass ihn dein Partner nicht teilt, würdest du gern einmal mit ihm in die Tat umsetzen? ȤȤ Was glaubst du, wie dein Partner auf einen solchen Vorschlag reagieren würde? ȤȤ Unter welchen Umständen würdest du ihm davon erzählen? ȤȤ Hast du eine Idee, welchen Wunsch, der sich von deiner Sexualität unterscheidet, dein Partner wohl gern einmal mit dir in die Tat umsetzen würde? ȤȤ Wie gern oder ungern würdest du ihm diesen Wunsch erfüllen? ȤȤ Würdest du gern noch von weiteren Wünschen erzählen oder erfahren? Auch hier geht es in erster Linie darum, sich selbstbestimmt und frei zu fragen: Was will ich, was will ich nicht und unter welchen Umständen, auf welche Weise könnte ich es vielleicht doch wollen? Eine etwas fortgeschrittenere Selbstoffenbarungsübung, mit der wir spielerisch zu mehr Risikobereitschaft einladen, nennen wir: »Das erotische Kopfkino«7.
7 Dieses Spiel ist eine Variation der Übung »Das ideale sexuelle Szenario« von Ulrich Clement (2008).
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Übung: »Das erotische Kopfkino«
Die Teilnehmenden denken an ein für sie perfektes sexuelles Erlebnis. In allen Farben und aller Ausführlichkeit sollen sie sich ausmalen, wo, mit wem, wann, wie lange, wie oft sie gern welchen Sex haben würden und was da sonst noch alles passieren soll. Sie entwerfen ihren erotischen Lieblingsfilm, in dem sie selbst die Hauptrolle spielen. Nun schreiben sie auf verschiedene Kärtchen jeweils einen Satz, der im Drehbuch stehen könnte. Wenn eine Teilnehmerin beispielsweise davon träumt, einmal auf den Küchentisch gelegt zu werden und den Rock hochgeschoben zu bekommen, schreibt sie: Ich lege dich auf den Küchentisch und schiebe dir den Rock hoch. Der eigene Wunsch wird also zur Handlungsoption des Gegenübers. Wir bitten die Teilnehmer/-innen, auch atmosphärische Beschreibungen zu formulieren, damit anschließend ein lebendiges Kopfkino entstehen kann. Der Nachbar pocht ungehalten gegen die Wand, weil wir so laut sind. Wenn die Karten fertig beschriftet worden sind, bekommt jede/r den Stapel eines anderen Mitspielenden. Dann setzen sich alle in einen Kreis und eine Person fängt an, eine Karte vorzulesen, von der sie denkt, dass sie am Anfang besonders gut passt. Du fährst mir beim Mittagessen in der Kantine unter meinen Rock, obwohl wir uns kaum kennen. Dann liest eine andere Person weiter, die glaubt, dass sie eine passende Fortsetzung auf der Hand hat. Ich bin überrascht, bemerke die irritierten Blicke der anderen und weiß nicht, was ich tun soll. Und so weiter. Dieses Spiel ist vor allem in der Gruppenkonstellation amüsant, kann aber auch sehr gut mit dem eigenen Partner gespielt werden, indem die Partner ihre Stapel einfach tauschen. So kann mein Partner nur »machen«, was ich vorher formuliert habe, denn seine Aktionskarten stammen ja allesamt aus meiner Feder. Er entscheidet aber, ob er eine Karte spielt – und wenn ja, welche.
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Das wird ein Nachspiel haben
Nach dieser letzten Übung holen wir ein abschließendes Feedback ein: ȤȤ Was waren die stärksten Eindrücke? ȤȤ Wie geht es unseren Teilnehmern/Teilnehmerinnen jetzt: Sind sie sortiert oder verwirrt, entmutigt oder hoffnungsfroh, erschöpft oder energiegeladen? ȤȤ Mit welchen Impulsen gehen sie zurück in ihre Partnerschaft? Auch wir berichten von unseren Eindrücken: Was war spannend für uns, was hat uns vielleicht überrascht und wie haben wir die Gruppe erlebt? Damit haben alle diese Tour geschafft, der erste Gipfel ist bezwungen. Und jetzt? Erst einmal Luft holen? Kuscheln? Die Zigarette danach? Oder gleich noch mal? Wenn sich die Teilnehmenden im Kontakt mit uns wohl und doch herausgefordert gefühlt haben, haben auch wir unser Etappenziel erreicht – wenn sie mit uns lachen und sich selbst Vertrauen schenken konnten und wenn sie Lust bekommen haben, etwas zu riskieren. Denn persönliche Differenzierung ist kein Spaziergang, sondern eher mit einer Alpenüberquerung vergleichbar. Unsere Workshops helfen bei der Orientierung und zeigen Möglichkeiten auf, in welche Richtung es gehen kann. Sie setzen Impulse für Veränderungen, die am Ende aber jeder selbst herbeiführen muss. Dabei mögen Ängste, Bedenken und Trägheit anfangs schwer wiegen. Und tatsächlich ist behutsam abzuwägen, wie viel Herausforderung ich selbst aushalte und wie viel Konfrontation meine Beziehung aktuell vertragen kann, ohne existenziell ins Wanken zu geraten. Aber um etwas zu verändern, bedarf es nicht der totalen Selbstoffenbarung. Es kann schon viel bewegen, wenn ich meinem Partner zunächst nur ein kleines, neues Detail von mir zeige. Und je häufiger ich zu mir selbst stehe und es wage, klar aufzutreten, desto freier werde ich mich fühlen. Und das macht Lust auf mehr. In jeder Hinsicht.
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Die schönste Nebensache der Welt »Liebe ist die Antwort. Aber während man auf sie wartet, stellt Sex ein paar gute Fragen.« Woody Allen8
Persönliche Differenzierung weist weit über den Bereich der Sexualität hinaus. Die Notwendigkeit, zu lernen zu uns selbst und unserem (Anders-)Wollen zu stehen, betrifft nicht nur das konkrete »Was« sexueller Praktiken oder das »Wie« unserer Sexualität. Denn immer, wenn wir in der Beziehung zu anderen im inneren Kontakt mit uns selbst bleiben wollen, bekommen wir die Gelegenheit, mit Selbstbestimmung und innerer Freiheit zu experimentieren. Und weil wir beim Sex existenzielle Erfahrungen mit anderen machen, ist er ein besonders dankbares Übungsfeld für persönliche Differenzierung: Bittere Enttäuschung und schmerzhafte Verstörung können wir hier genauso erleben wie große Glücksmomente und die Verwirklichung starker Sehnsüchte. Wo könnte es also aufregender und berauschender sein, gleichzeitig in Berührung mit anderen und mit sich selbst zu sein, als bei der schönsten Nebensache der Welt?
Literatur Ahlers, J. C. (2015). Himmel auf Erden und Hölle im Kopf. Was Sexualität für uns bedeutet. München: Goldmann. Augsburger-Allgemeine (2010). Die Klaviatur des Humors – Woody Allen in Zitaten. Zugriff am 31.07.2016 unter http://www.augsburger-allgemeine.de/ freizeit/kino/Die-Klaviatur-des-Humors-Woody-Allen-in-Zitatenid8771641. html Clement, U. (2006). Systemische Sexualtherapie (3. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Clement, U. (2008). Guter Sex trotz Liebe. Wege aus der verkehrsberuhigten Zone. Berlin: Ullstein. Clement, U. (2015). Think Love. Das indiskrete Fragenbuch. Berlin: Rogner & Bernhard. Giesen, R. (2015). Beziehungsprobleme gibt es nicht. Mit THE WORK zur glücklichen Partnerschaft. München: Goldmann. 8 Zit. nach Paul Zsolnay Verlag München (2015). Programm Herbst 2015. Zugriff am 31.07.2016 unter https://www.hanser-literaturverlage.de/files/vorschau_zsolnay_h15.pdf
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Höfner, E., Schachtner, H.-U. (2007). Das wäre doch gelacht! Humor und Provokation in der Therapie (7. Aufl.). Reinbek: Rowohlt. Höfner, E. (2013). Ernsthafte Beratung mit Humor? Der provokative Ansatz. Zugriff am 14.03.2016 unter http://www.provokativ.com/LEHRMAT/Veroeff/ Humor.html Nestmann, F. (2008). Netzwerkintervention und soziale Unterstützungsförderung. In K. Lenz, F. Nestmann (Hrsg.), Handbuch Persönliche Beziehungen (S. 955–978). Weinheim u. München: Juventa. Paul Zsolnay Verlag München (2015). Programm Herbst 2015. Zugriff am 31.07.2016 unter https://www.hanser-literaturverlage.de/files/vorschau_zsolnay_h15.pdf Schnarch, D. (2011). Intimität und Verlangen. Sexuelle Leidenschaft wieder wecken (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Schweitzer, J. (2016). Heilung als Gemeinschaftsleistung. Blick auf kollektive Psychotherapiekulturen. In F. Früchtel, M. Straßner, C. Schwarzloos (Hrsg.), Relationale Sozialarbeit. Versammelnde, vernetzende und kooperative Hilfe formen (S. 127–141). Weinheim: Beltz Juventa. Straßner, M. (2016). Relationale Sozialarbeit jenseits von Gemeinschaft. In F. Früchtel, M. Straßner, C. Schwarzloos (Hrsg.), Relationale Sozialarbeit: Versammelnde, vernetzende und kooperative Hilfeformen (S. 34–53). Weinheim: Beltz Juventa.
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Sprechende Wände Ein integratives Medium zur Prozessbegleitung
Ziel ist es, »den Spielraum der engen Welterfahrung so zu erweitern, dass sich in der beraterischen Begegnung neue Horizonte auftun. Neue Perspektiven, die nachvollziehbar das Mitsein in der Welt ermöglichen. […] Diese Erweiterung des Spielraums geschieht im Begegnungsraum zwischen Klient, sich gestaltendem Werk und Berater« (Eberhart u. Knill, 2009, S. 44). Im Rahmen meiner eigenen Coaching- und Supervisionsausbildung entwickelte sich mein Interesse, mit einem einfach und schnell zu handhabenden bildnerischen Verfahren im systemischen Kontext zu arbeiten. Dabei sollte der zeitliche und organisatorische Bedarf möglichst gering sein und wenig Vorbereitungszeit erfordern. Dieser Prämisse folgend, ist eine einfache Handhabung angestrebt, die sich auch spontan umsetzen lässt. Zugleich zielt mein Anliegen auf eine Verknüpfung von Sprache und Gestaltung ab, um so unterschiedliche menschliche Ausdrucksformen integrativ zu nutzen. Erfahrungen von Klienten/Klientinnen und Teilnehmern/Teilnehmerinnen sollen sich auf diese Weise möglichst organisch in einer »Stunde« ergänzen. Ich beabsichtige, einen Prozess zu initiieren oder ein vorhandenes Prozessgeschehen mit kreativen Mitteln mehrdimensional zu begleiten. Aufgrund dieser ersten Zielformulierungen ist schon zu erkennen, dass die Verwendung der Sprechenden Wand auch in einem Kontrastverhältnis zu dem Workshop »Mein Lebensweg« (Schäkel, 2010) steht, der 2010 auf dem Kongress »Tauge nichts und freue Dich!« der Gesellschaft für Systemische Therapie und Beratung stattfand und vor allem die bildnerische Gestaltung in den Vordergrund der Wahrnehmung und Umsetzung im Rahmen biografischer Arbeit rückte. Meine erste Umsetzung einer Sprechenden Wand bestand in einer intuitiven Gestaltung auf einem großen Bogen Papier (1,20 × 2 Meter)
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zu einer Arbeitssituation, die mich persönlich belastete. Die auslösende Situation transformierte ich zu einem kleinen grafischen Gebilde, das eine geometrische Figur beinhaltete und durch die farbliche Gestaltung und Akzentuierung einer Außengrenze meine Situation abstrahiert darstellte. Der zackige Außenrand einer Form versinnbildlichte meine Verletzung, aber auch den daraus resultierenden Ärger. Anstelle eines Tagebuchblattes wählte ich ein großformartiges Papier, da sich die Grundkonstellation des beruflichen Kontakts ja in den folgenden Tagen wiederholen würde. Die waagerechte Ausrichtung des Bildraums ermöglichte so die Integration auch der zeitlichen Dimension. Ein Falz auf der horizontalen Mittellinie führte schon zu einer Blattaufteilung mit einer oberen und einer unteren Hälfte und der Falz stand für einen imaginären, ausgeglichenen, aber auch neutralen Punkt. Schon durch diese einfachen Markierungen eröffnen sich persönlich geprägte Wahrnehmungen, sodass beispielsweise die obere Hälfte mit positiven Assoziationen verknüpft wird, die für den weiteren Prozess eine zunehmende Bedeutung generieren können. Dabei können kulturell übernommene oder persönliche Vorstellungen eine prägende Rolle spielen. In den folgenden Tagen skizzierte ich für einzelne Erlebnisse und Kontakte weitere geometrische Formen (manche noch mit einem Begriff pointiert), die ich farbig ausgestaltete und die jeweils für eine bedeutende Situation oder ein Erlebnis standen. Entsprechend meiner Erfahrungsebene und variierend, wie die jeweilige Situation sich positiv oder negativ auf mein emotionales Erleben ausgewirkt hatte, bekamen die Formen eine passende Außenhaut. Das Skizzieren mit einfachen geometrischen Formen ließ sich jeweils in wenigen Minuten umsetzen. Die Verwendung des großen Blattes ermöglichte es, auf einen Blick zu sehen, was sich, ausgehend von der Initialsituation, entwickelt hatte. Es eröffnete mir die Möglichkeit, meinen Blick offen zu halten und andere, hilfreichere Interaktionsmuster in meinem Umfeld bewusster wahrzunehmen, etwa Ausnahmen und Musterunterbrechungen zu erkennen. Insgesamt half mir diese grafische Darstellungsweise, die ursprünglich negativ konnotierte Erfahrung zu relativieren und aktiv zu bewältigen.
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Im Rahmen meiner Dozententätigkeit in der Ausbildung von Erziehern, Heilpädagogen und Integrationserziehern bin ich auf das Konzept der Sprechenden Wände in der Reggio-Pädagogik gestoßen. Für die konzeptionelle Entwicklung meiner eigenen Arbeit hat sich dieses Konzept in Folge als äußerst anregend erwiesen, ich nutze es beispielsweise als Methode für Selbstcoachingprozesse.
Die Sprechende Wand Der Begriff der Sprechenden Wände entlehnt sich der Reggio-Pädagogik. In den an dieser Konzeption ausgerichteten Kindergärten verdeutlichen die Sprechenden Wände, die an den gemauerten »stummen« Wänden hängen, die aktuellen Themen, Aktionen und längerfristigen Aktivitäten der Kinder in der Einrichtung. Dazu wird mit der Kombination von Fotos, geschriebenen Texten, selbstgestalteten Bildern und Collagen, die auf Papierbögen montiert sind, gearbeitet. »Hier werden Projekte in allen Phasen dargestellt, von der Planung über die Durchführung bis zu den Ergebnissen und der kritischen Auswertung. Häufig werden Fotos als Serien präsentiert, um Arbeitsprozesse in ihrer Entwicklung, ihrem Ablauf deutlich und nachvollziehbar zu machen. Detailaufnahmen oder Vergrößerungen zeigen die Neugier und die Freude der Kinder beim Entdecken einer für sie neuen Welt. Die Sprechenden Wände werden im Verlauf eines Projekts permanent weiter entwickelt, umgehängt und/oder da neu gestaltet, wo Projekte eine, andere, auch für die Mitarbeiterinnen überraschende, Veränderung erfahren. Sie sind also nicht statisch, sondern prozessorientiert, spiegeln immer nur einen momentanen Stand der Erkenntnis und der Arbeit wider. Durch eine spezifische Weise der Anordnung von Materialien oder etwa der farblichen Hervorhebung von Details ermöglichen sie den Erzieherinnen, die Gedankenwege der Kinder zu strukturieren, sichtbar zu machen und noch ein Stück weit besser zu verstehen, wie Kinder ihre Welt begreifen und sich aneignen« (Ullrich u. Brockschneider, 2009, S. 68).
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In dieser Darstellung werden die Grundlagen der Sprechenden Wand sehr klar und nachvollziehbar formuliert, zugleich wird die Vielfalt möglicher Handhabungsebenen im Rahmen von Prozessen benannt. Insbesondere die Berücksichtigung dynamischer, also sich entwickelnder Ebenen des Kommunizierens, der Informationsweitergabe und Projektentwicklung tritt als Qualität in Erscheinung. Der prozessorientierte Blick und die Berücksichtigung auch momentaner Erfahrungszustände lassen sich intuitiv mit dem Konzept zirkulärer Prozesse und der Annahme der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit verbinden (von Schlippe u. Schweitzer, 2007).
Praktische Überlegungen Das einfachste und praktikabelste Medium für die Sprechende Wand bildet Papier. Durch die Leichtigkeit und Flexibilität des Materials ist es transportabel, lässt sich einfach fixieren und bildet eine tragfähige Unterlage für zweidimensionale Erweiterungen und Ergänzungen. Von einfachen Packpapierbögen über Tapetenbahnen bis hin zu großformatigen Papierrollen (z. B. auch im Format von 1,20 × 20 Meter) ist für jedes Projekt eine passende Variante erhältlich. Während oder nach der Gestaltung kann das verwendete Papier an eine Wand befestigt werden, sodass auch eine Betrachtung aus der Distanz möglich ist und sich so eine Gesamtschau und ein Überblick über die aktuellen Themen und möglichen Prozessvariablen ergibt. Sofern alle Beteiligten zweidimensional arbeiten, lässt sich die Sprechende Wand platzsparend zusammenrollen oder gegebenenfalls falten. Beim Falten sollte darauf geachtet werden, dass die vorhandenen Bildmotive, Symbole nicht geknickt werden, denn der optische Eindruck eines zerknickten Motivs ist kontraproduktiv. Gegebenenfalls können Klienten auf diese Weise ihre Gestaltung mit in ihr persönliches Umfeld nehmen. Sie können das im Setting Gestaltete und Thematisierte in den folgenden Tagen auf sich wirken lassen und weitere Anregungen daraus schöpfen. Ebenso könnten sie einzelne Aspekte der Sprechenden Wand weiterentwickeln und zu ihrer jetzigen Erfahrung aktualisieren, indem sie direkt Veränderungen auf ihr vornehmen. Beide Ebenen, die des Wirken-Lassens
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und die des Veränderns, können eine reflektierende und vertiefende Gesprächsgrundlage für den folgenden Coaching- oder Supervisionstermin bilden.
Gestaltungsvariablen Primär bildet die Sprechende Wand ein veränderbares Trägermedium, das jeweils einen aktuellen Stand wiedergibt. Wird das Medium nicht weiterbearbeitet, so verankert es bedeutsame Erfahrungen und Informationen sichtbar über den einzelnen Termin hinaus. Grundsätzlich lädt die Sprechende Wand dazu ein, sie in Folgeterminen wieder zu betrachten und auf variable Bedeutungsebenen abzufragen: Was wirkt stimmig? Was wirkt weniger stimmig? Wodurch kommt der Eindruck der Stimmigkeit zustande? Lässt sich dieser Eindruck auf den Prozess oder das Leben des Klienten übertragen? Welche Gedanken oder Gefühle sind parallel dazu entstanden? Was wurde an der sprechenden Wand verändert? Oder was würden die Klienten gern verändern? Welche Bilder würden andere bedeutsame Personen anstelle des Klienten entwickeln oder einfügen? An welcher Stelle und aufgrund welcher Motivation? Retrospektiv lässt sich thematisieren, was sich in der Wahrnehmung und im Verlaufe des letzten Termins verändert hat. Ebenso gut kann es sein, das wichtige und essenzielle Erfahrungen gar nicht weiter modifiziert werden, da sie schon im ersten intuitiven Gestaltungsvollzug passend und stimmig dargestellt wurden. So weist Schmidt (2010, S. 74) darauf hin, dass jedes Erleben »mit einer bestimmten Physiologie [verbunden ist], zu der auch die Körperkoordination gehört. Die Körperkoordination stellt ein wichtiges Element im jeweiligen unwillkürlichen Erlebnismuster dar« und kann sich auch in der Stimmigkeit einer Gestaltung nonverbal widerspiegeln. Diese unwillkürlichen Erlebnismuster, die kaum bewusstseinsfähig sind, werden in der Arbeit mit der Sprechenden Wand vielfältig aktiviert, können in der Prozessbegleitung ins Bewusstsein treten oder als prägnantes Muster von der Therapeutin oder vom Coach angesprochen werden (Schmidt, 2010). Dies kann über das aktive Gestalten und die Nutzung des verwendeten Raums
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direkt im Termin geschehen, aber ebenso im Rahmen einer reflexiven Betrachtung angesprochen werden, sodass sich weitere Feedbackschleifen zwischen äußerer und innerpsychischer Gestalt(ungs) wahrnehmung entwickeln. Durch den Wechsel zwischen aktiver Gestaltung, Planung und sprachlicher Reflexion, der Entwicklung neuer, komplexerer und selbstidentifikatorischer Wahrnehmungen, werden im Rahmen eines ganzheitlichen Erlebens unterschiedliche Gehirnareale synchron aktiviert und so die Integration rationaler wie emotionaler Entscheidungselemente (Damasio, 2004) gefördert. Zugleich lassen sich die unwillkürlichen Muster aktiv in den Veränderungsprozess integrieren und als basales Veränderungselement zur positiven Musterunterbrechung berücksichtigen (Schmidt, 2010). Grundsätzlich sollte den Klienten vermittelt werden, dass die Sprechende Wand eine Art sichtbare Karte für den lebendigen Prozess des Coachings und der Therapie darstellt und nicht einen verhaltenstherapeutischen Fahrplan beabsichtigter Verhaltensmodifizierung. »Überarbeiten und Verbessern«, »Stimmigkeit herstellen und im weiteren Prozess überprüfen«, »Wege entwickeln und Wahrnehmungen verknüpfen« sind Metaphern, die für die Prozessdynamik der Sprechenden Wand stehen. Dies schließt auch die Integration von Hindernissen und Fehlschlägen im Rahmen eines ressourcenorientierten und resilienzfördernden Verlaufs mit ein (Schmidt, 2010; Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2006), die sich als Darstellungsvarianten und nicht ausschließlich über eine sprachliche Determinierung berücksichtigen lassen. Zugleich bietet die Sprechende Wand aber immer wieder ein sichtbares Modell erfolgreicher Veränderungen, die sich im Coaching- oder Therapieprozess ergeben haben. Klienten können zu einem späteren Zeitpunkt, etwa nach der Beendigung des begleiteten Prozesses, hilfreiche Veränderungsmuster, persönliche Stärken und Ausnahmen des bisherigen Problemerlebens auf der Sprechenden Wand sichtbar wiederfinden und diese Aspekte jederzeit visualisieren und so verankern.
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Vernetzung, Symbolebenen, Kommunikationsmöglichkeiten Im Gegensatz zur ausdrucks- und symbolorientierten Perspektive der Kunsttherapie gewinnt in der Arbeit mit der Sprechenden Wand nicht unbedingt das einzelne künstlerische Werk an Bedeutung, sondern die Einbindung von Bildern, Symbolen, Texten, Sinnsprüchen im Sinne einer Vernetzung. Diese Vernetzung von unterschiedlichen Bedeutungsebenen führt zu der Konstruktion eines für den Klienten stimmigen Zusammenspiels verschiedener Lebens- und Wahrnehmungsbereiche, die sonst möglicherweise dissoziiert nebeneinander bestehen und nicht in einem systemischen Zusammenhang gesehen werden. Vernetzung kann sich dabei auf einzelne Personen sowie auf soziale Gruppen beziehen. Die Sprechende Wand zielt auf eine Verbindung von Sprache und Gestaltung, um neben den linearen Denkmustern der Sprache (Zeitablauf, Ursache-Wirkungs-Prinzip, sprachliche Werturteile) auch die Deutungsvielfalt gestalterischer Werke zu nutzen und so die Wirksamkeitskräfte einer ästhetischen Stimmigkeit mit den Kräften einer verbalen Klärung und Durcharbeitung zusammenzuführen. Beide Ebenen der Symbolbildung (Sprache und bildnerisches Gestalten) sind somit gleichberechtigte Informationsträger im Rahmen eines systemischen und dynamischen Prozesses. Die Bildanteile ermöglichen es immer wieder, die Gesprächsführung auf der Basis des Sichtbaren, Benennbaren und Anschaulichen zu halten. Bilder, Farben, Farbtönungen sprechen dabei sinnlich an und bleiben auf der Empfindungsebene vielfältig deutbar. Während der sprachliche Vollzug auch immer eine Syntax des zeitlichen »Nacheinanders« intendiert, werden bildnerische Symbole auf der optischen Ebene nicht zugleich, aber relativ synchron wahrgenommen. Dadurch ermöglichen sie in einem zirkulären Betrachtungsprozess auch einen Perspektivenwechsel, der sich nicht auf Ursache-Wirkungs-Komponenten beschränkt, vielmehr simultane Erlebnisebenen und Verknüpfungen sinnlich vor Augen führt und so multiple Verknüpfungsformen ermöglicht. Vergegenwärtigen sollte man sich in diesem Zusammenhang die Ausgangslage, die jeder Art von symbolischer Kommunikation zugrunde liegt:
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»Symbole erfüllen (nach Bertalanffy) drei interessante Phänomene: (1) Symbole repräsentieren, indem sie losgelöst von der realen Präsenz einer Sache oder eines Ereignisses anstelle des Objektes oder Ereignisses stehen, das sie repräsentieren. (2) Im Gegensatz zu angeborenen Instinkten und durch Übung erworbene Fertigkeiten werden Symbole durch Traditionen überliefert. (3) Anders als konditionierte Signale werden Symbole nicht von außen festgelegt, sondern frei erschaffen« (Papoušek, 2003, S. 28). Symbole ermöglichen uns also über etwas zu kommunizieren, das sie vertreten und versinnbildlichen. Zugleich treten sie in ein Spannungsfeld von traditioneller Überlieferung (deswegen sind sie vermeintlich allgemein verständlich) und individuell gestalteten Symbolen, die beispielsweise zunächst nur für eine Person bedeutsam oder verständlich sind, mit der Zeit aber auch für andere Personen zu Kommunikationsmitteln werden können. Die Sprechende Wand ermöglicht also explizit die Metakommunikation über die Verwendung und Wahrnehmung der verwendeten Symbol-Sprache, womit sowohl die verbale Sprache als auch das Gestalten und das Gestaltete, wozu auch die räumliche Anordnung gehört, gemeint sind. Es ergeben sich im Austausch multiple Bezugsebenen. So lassen sich beispielsweise Gestaltungselemente schon vor einer Gestaltung auf ihre mögliche Inszenierungsebene hin differenzieren. Schwebt den Klienten für ihr Thema, für ihren Prozess, eher ein Drehbuch vor oder ein Theaterstück? Und mit welchem Titel: »Kampf der Gegensätze«, »Hauptsache Harmonie«, »Keine Experimente« oder »Samstag gehört Vati mir«? Dieses Vorgehen bietet sich an, wenn schon zu Beginn des Prozesses für die Klienten eine thematische Klarheit vorherrscht. Die Fokussierung auf eine Inszenierungsebene vor dem Beginn der Gestaltung beinhaltet für Klienten durch die mögliche Überspitzung auch eine tendenziell provokante Haltung. Sie kann potenziell aber als sehr anregende, aktivierende und starke Musterunterbrechung erlebt werden, wenn zwischen Klient/-in und Berater/-in eine tragfähige Beziehung etabliert ist. Einfache und naheliegende Ebenen des Austausches können sich auf die offensichtlichen und vermeintlich »simpelsten« Gestaltungselemente beziehen und ermöglichen den Klienten, erste Überlegun-
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gen zu ihrer Gestaltung zu entwickeln und zu formulieren, sodass ein Wechselspiel zwischen Imagination und Handlungsplanung initiiert wird. Soll die Sprechende Wand eine lineare Ausrichtung von links nach rechts erhalten? Oder ist vielleicht eine Kreisform, ähnlich eines Mandalas, passender, sodass ein Thema, eine Person oder eine Gruppe den Mittelpunkt bildet und mehrere Themen im Außenbereich angesiedelt sind? Ist ein Hochformat eher für ein Thema zu hierarchischen Strukturen geeignet? Ist es ein Querformat, das eher zeitliche Strukturen wiedergibt? Fordert ein quadratisches Format zum Austarieren von Disbalancen auf? Die Aneignung, das Gestalten und Arbeiten mit der Sprechenden Wand lässt sich selbst in einem zirkulären Prozessgeschehen verorten. Klienten können an beliebigen Punkten ansetzen, dabei kann es sich um eine sprachliche Metapher oder Redewendung handeln, die als im Moment bedeutsam empfunden wird oder einfach gerade »da ist«. Genauso gut kann ein Gegenstand, ein Foto oder Bild als erste Setzung für die sprechende Wand genutzt werden. Eine spannende Möglichkeit wäre, die Klienten das Format für die Sprechende Wand selbst wählen zu lassen. Die sinnlich erfahrbare Ausdehnung lässt sich dann auf räumliche Stimmigkeit und verwandte Assoziationsfelder hin thematisieren. Im Idealfall wird so der Zugang zu unbewussten Erlebnismustern und Selbstkonzepten, die im prozeduralen Gedächtnis abgespeichert sind (Rieforth u. Graf, 2014; Schmidt, 2010) ermöglicht und kommunizierbar. Vielleicht mag der Klient verschiedene Themen als Wort, Grafik oder als Bild setzen und noch nicht in das System einer Sprechenden Wand fixieren und einpassen, sondern diese Gewichtung im Prozess entwickeln und zu einem späteren Zeitpunkt vornehmen. Analog lässt sich das vergleichen mit den spontanen Skizzen in der bildenden Kunst, die den Anstoß zu einem komplexen Gemälde beinhalten, den Prozess der endgültigen Komposition entwickeln, zunächst aber erste Eindrücke und Ideen sammeln. Eberhart und Knill (2009) trennen in ihrem multimodalen Kunsttherapiemodell die Ebene des ästhetischen Gestaltens von einer anschließenden verbalen Sequenz, in der sie das entstandene Werk auf seine verschiedenen Bedeutungsebenen und Komponenten hin gemeinsam mit den Klienten durcharbeiten. Sie empfehlen vor allem
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ein Vorgehen, das von der Oberfläche ausgeht, dem, was sichtbar und offensichtlich zu sehen ist. Dies soll eine vorgelagerte Festschreibung oder überhastete Deutung durch die Coaches und Therapeuten verhindern. Zugleich können die Klienten die Bedeutungsebenen jeweils autonom und somit selbstwirksamer im Dialog entdecken, da sie ihre eigenen Zuschreibungen entwickeln. Deutungszuschreibungen von außen, vor allem über den Kopf des Gestaltenden hinweg, können so vermieden werden. Dies wäre für mich einer der Gründe dafür, beispielsweise auf die inszenatorischen Aspekte und die sich daraus ableitenden Konsequenzen erst nach der Etablierung einer tragfähigen Beziehung abzuzielen. Ebenso können aber auch Coaches und Supervisoren aus ihrer Wahrnehmung heraus Situationen, Eindrücke, Vermutungen oder Beobachtungen spiegeln und in Kontakt bringen, sich dabei mit Aspekten des Selbsterlebens des Klienten kongruent oder komplementär identifizieren (Rieforth u. Graf, 2014). Anstelle einer oktroyierten Deutung bietet es sich an, diese Überlegungen als Frage an die Klienten zu formulieren, so haben diese »eigene Wahlmöglichkeiten [und können] im Rahmen eines gemeinsamen Dialogs mögliche Gründe und Zusammenhänge entwickeln« (Eberhart u. Knill, 2009, S. 127). Im Rahmen eines Prozesses lässt sich auch mit der psychischen Ebene assoziativer und dissoziativer Empfindungen arbeiten: Zu welchen Gestaltungselementen und deren Äquivalenten fühlt sich der Klient oder die Klientin assoziiert (hingezogen) und von welchen Ebenen, »Symptomen«, »Situationen« etc. möchte er/sie sich vielleicht stärker dissoziieren (diese loswerden oder deren Intensität verringern). Die Mehrdeutigkeit von Bildern und Symbolen eröffnet immer wieder die Möglichkeit, Interpretationsebenen zu erproben, die treffende Ebene einer Interpretation zu finden oder die Stimmigkeit der eigenen Wahrnehmung auf einem höheren Niveau weiterzuführen. Dabei besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass die sprachlichen und bildlichen Symbole von jeder Person im Rahmen unterschiedlicher Bezugssysteme gesehen und interpretiert werden. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Bei einer Zeichnung, die mit schwarzen Lineaturen überzogen ist, kann dies als Wunde oder Verletzung
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gelesen werden. Interessant zu dieser einen hypothetischen Zuordnung ist es aber, wenn die Klientin etwa feststellt, es seien Risse dargestellt. Es handle sich um einen sehr festen Boden, der so kompakt, versiegelt sei, dass er keine Veränderung zuließe. Die Risse seien also notwendig, damit sich die festen Strukturen verändern können, sodass wieder Neues, Lebendiges im eigenen Leben entsteht. Hilfreich ist hier bisweilen das aktive Einbeziehen von Vergrößerungen oder Fokussieren einzelner Details, die dann – auch über mehrere Termine hinweg – ihren spezifischen Bedeutungsinhalt entwickeln können. Zugleich bietet die Sprechende Wand aber auch die eigentlich auf der Hand liegende Möglichkeit, mit dem Gesamtüberblick zu arbeiten. Wie umfangreich ist ein angestrebtes Projekt oder welche und wie viele Ebenen beinhaltet der Prozess? Wie viel Energie steht dem gegenüber, um Veränderungen anzugehen? Die Sprechende Wand kann also zur Intensivierung und Distanzierung gleichermaßen genutzt werden und bietet den Klienten neben den bereits genannten Möglichkeiten auch diese, ihren Prozess selbstgeleitet mitzuführen und beispielsweise zu lernen, eigene Wahrnehmungsmuster zu erkennen und aktiv zu beeinflussen.
Gruppenprozesse Sprechende Wände im Rahmen von Gruppenprozessen regen die Kommunikation an, da die Teilnehmer/-innen nicht nur das Feld der verbalen Kommunikation nutzen und somit auch nicht Gefahr laufen, in den immer gleichen verbalen Zuordnungsmustern zu bleiben. Durch die Unvorhersehbarkeit und tendenzielle Offenheit der Gestaltungen und Raumaufteilung können sich alle Mitglieder einer Gruppe in ihren bisherigen Wahrnehmungsmustern herausgefordert sehen, da sie eventuell das persönliche Symbol eines einzelnen Mitglieds nicht hinreichend verstehen und nicht in ihr bisheriges Muster einordnen können. Gegebenenfalls müssen sie diese neuen Reize erst einmal integrieren und verstehen (wollen). – Ein Faktor, der wiederum die Entwicklung einer nachfragenden Kommunikation begünstigt und die soziale Interaktion belebt. So kann sich ein System wieder öffnen und neue Handlungsmuster entwickeln.
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Gerade Gruppen könnten zielgerichtet mit Alternativbildern, zum Beispiel auch mit überarbeiteten Fotokopien, zu Schnittstellen arbeiten. Dabei ist eine Dynamik und Zirkularität zwischen »Probehandeln«, »Probebetrachten«, »Probebenennen«, »Abwägen« durchaus intendiert und kann somit die allgemeine Kommunikation untereinander in der Gruppe fördern. Anhand einer prozessorientierten Umsetzung lassen sich durch die möglichen Wechsel zwischen dem Erstellen der Sprechenden Wand, retrospektiver Betrachtung und einer fokussierten Weiterentwicklungsphase notwendige Klärungen und Handlungsabsprachen oder verbindliche Aufgabenteilungen ausarbeiten. Durch die Sprechende Wand kann es offensichtlich werden, dass für ein Team eine bestimmte Aufgabenstellung zu komplex ist und in Teilbereiche ausdifferenziert werden müsste oder dass im Gegenteil eine Fokussierung auf die bedeutsamsten Aspekte ansteht. Durch das Erstellen einer Sprechenden Wand, müssen sich die Teilnehmer/-innen aktiv aufeinander beziehen und vermitteln somit auch Aspekte ihrer Interaktionsfähigkeit und Teamstruktur. Somit bietet die Sprechende Wand immer wieder die Chance, das operationalisierte Handlungen, Interaktionsmuster und die Teamatmosphäre bewusst und einer Reflexion zugänglich werden, indem beispielsweise ein Coach oder eine Supervisorin ihre Wahrnehmung in diesen Bereichen zur Verfügung stellt.
Ausblick Eine besondere Stärke der Sprechenden Wand scheint mir insbesondere in der Klärung komplexer Zusammenhänge zu liegen, wie sie sich gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche manifestieren und in denen die monokausalen Lösungsideen nicht mehr als angemessen empfunden werden. Die Spannweite reicht dabei von den ethischen Konflikten, die sich beispielsweise im Rahmen einer Legalisierung von Sterbehilfe oder pränataler Diagnostik ergeben, bis in die privaten Bereiche der beruflichen und familiären Rollenverteilung und des eigenen individuellen Familienverständnisses. In privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Bereichen stehen ähnlich komplexe Herausforderungen an, die vor allem dadurch geprägt sind, dass es zur Entwicklung einer stimmigen Lösung kom-
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plexer Austauschprozesse bedarf, die aber zur Nachvollziehbarkeit und inhaltlichen Vermittlung auch eine Dokumentation benötigen. Die Sprechende Wand kann dafür ein nicht nur sprachlich fixiertes, Komplexität vermittelndes, sondern insbesondere auch ein einfach zu handhabendes Medium bieten.
Literatur Damasio, A. R. (2004). Descartes’ Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Berlin: List. Eberhart, H., Knill, P. J. (2009). Lösungskunst: Lehrbuch der kunst-und ressourcenorientierten Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Papoušek, H. (2003). Spiel in der Wiege der Menschheit. In M. Papoušek, A. v. Gontard (Hrsg.), Spiel und Kreativität in der frühen Kindheit (S. 17–55). Stuttgart: Pfeifer bei Klett-Cotta. Rieforth, J., Graf, G. (2014). Tiefenpsychologie trifft Systemtherapie – Eine besondere Begegnung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schäkel, S. (2010). »Mein Lebensweg«– Kunsttherapie und systemische Ansätze. In A. Wienands (Hrsg.), Tauge nichts und freue dich! System und Körper, Band 2 (S. 51–60). o. V. Schlippe, A. v., Schweitzer, J. (2007). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schmidt, G. (2010). Liebesaffären zwischen Problem und Lösung – Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg: Carl-Auer. Ullrich, W., Brockschneider, F.-J. (2009). Reggio-Pädagogik auf einen Blick. Freiburg u. a.: Herder. Welter-Enderlin, R., Hildenbrand, B. (Hrsg.) (2006). Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg: Carl-Auer.
Wiltrud Brächter
Narrative systemische Sandspieltherapie mit Kindern und Familien
In der Sandspieltherapie arbeiten Kinder, Jugendliche oder Erwachsene in einem Sandkasten von gut überschaubarer Größe, in dem sie ohne thematische Vorgabe ein Sandbild gestalten. Nach und nach entsteht durch das Modellieren des Sandes und das Hineinstellen von Figuren eine Szene, bis die Gestaltung zu einem Abschluss kommt und das Sandbild gemeinsam mit der Therapeutin oder dem Therapeuten betrachtet werden kann. Der Körper der Klienten wird dabei weder physisch berührt noch zu Bewegungen angeregt; sie werden auch nicht aufgefordert, im Sinne eines »felt sense« (Gendlin, 1981) körperlichen Empfindungen nachzuspüren. Welcher Bezug besteht dennoch zum Thema dieses Bandes, zu einer Verbindung von System- und Körpertherapie?
Sandspiel als Ausdrucksmedium jenseits von Sprache Margaret Lowenfeld, Begründerin der Sandspieltherapie, sah im Sandspiel eine Mitteilungsmöglichkeit präverbalen Erlebens, das nach ihrem Verständnis auch im späteren Leben als basale Wahrnehmungsform weiter bestehe. Die besondere therapeutische Bedeutung der Methode lag für sie darin, Kindern eine Äußerungsform vorsprachlichen Erlebens zur Verfügung zu stellen, das von ihnen sonst nicht kommuniziert werden könne. In einer von ihr in den 1920er Jahren in London gegründeten psychologischen Kinderklinik stellte Lowenfeld Kindern Sandkästen und Miniaturfiguren zur Verfügung, mit denen sie sogenannte »Welten« errichten konnten. Im Gegensatz zu den vorherrschenden spieltherapeutischen Konzepten ihrer
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Zeit1 lehnte Lowenfeld es ab, die Gestaltungen der Kinder anhand eines festgelegten theoretischen Rasters zu interpretieren. In einem dialogischen Prozess sollten vielmehr Kind und Therapeut/-in als gleichberechtigt miteinander Forschende einen Zugang zum Verständnis der Sandbilder finden (Lowenfeld, 1935/2009, 1939, 1969). Noch stärker in den Vordergrund trat der meditative Charakter der Methode bei Dora Kalff, die die Sandspieltherapie in den 1950er Jahren mit der Analytischen Psychologie C. G. Jungs und Elementen des Zen-Buddhismus verband (Kalff, 1966). Statt kommentierend zu benennen und zu spiegeln, was vom Kind in den Sand gestellt wird, vollzieht sich der Gestaltungsprozess bei Kalff bevorzugt schweigend. Die Therapeutin nimmt die Atmosphäre des Sandbilds auf und fühlt sich in die verwendeten Symbole ein, die gemäß der Archetypenlehre Jungs verstanden, jedoch dem Kind gegenüber nicht gedeutet werden. Sandspieltherapeuten in der Tradition Kalffs betonen die Nähe des Sandspiels zu körperlichem Erleben: Beim Sandspiel werde eine ganzheitliche geistige, seelische und leibliche Tätigkeit angeregt; das In-die-Hand-Nehmen und Formen des Sandes bewirke eine Kontaktaufnahme mit inneren Welten, die anschließend im Sandbild ausgedrückt werden. Dora Kalff konstatiert im Sandspiel eine »Polarität […] von Körper und Psyche. Das Bild wird physisch im Sand gestaltet, so dass wir sagen können, dass innere Inhalte eine körperliche Form finden« (Kalff, 2005, S. 8). Ein Sandbild zu bauen, ist mit einer besonderen Erfahrungsqualität verbunden. Die Kontaktaufnahme mit dem Sand lässt einen in eine Ebene der Wahrnehmung eintauchen, die mit einem veränderten Zeiterleben und mit Tranceprozessen einhergeht (Brächter, 2011). Den nassen oder trockenen Sand zu berühren, ihn rieseln zu lassen, im Sand zu graben, ihn aufzuhäufen, zu formen und zu befestigen, Figuren hineinzustellen und das Gebaute auf sich wirken zu lassen, kann lange zurückliegende (Spiel-)Erfahrungen aktualisieren. Wird genug Zeit gelassen, entsteht eine Art Selbstvergessenheit, bei der man tief in die Szene eintaucht, die man erschafft. Es kann eine 1 Melanie Klein beispielsweise deutete in ihrer analytischen Spieltherapie die Spielhandlungen von Kindern engmaschig vor allem triebtheoretisch (vgl. z. B. Klein, 1927).
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Brücke zu Bereichen der Erinnerung entstehen, die dem Alltagsbewusstsein zuvor verschlossen waren und nur im Körpergedächtnis gespeichert sind. Dabei können auch pränatales Erleben oder Geburtserlebnisse berührt werden (Blaschke, 2001; Hartmann, 2015). Timo, fünf Jahre alt und wegen zahlreicher Ängste in Therapie, gestaltet im Sand wiederholt eine Szene, in der ein Maulwurf unter der Erde von Baggern bedrängt wird. Immer wieder stoßen Baggerschaufeln in den Sand und drohen den Maulwurf zu verletzen. Um das gleichförmig reproduzierte, posttraumatisch wirkende Spiel zu unterbrechen, frage ich, wer dem Maulwurf zur Hilfe kommen könnte. Angeregt durch meine Frage, stellt Timo weitere Tierfiguren in den Sand. Der Maulwurf taucht aus der Erde auf und schließt Freundschaft mit den Tieren. Gemeinsam drängen sie den Bagger aus dem Sandkasten hinaus. Timo möchte sein Sandbild den Eltern zeigen. Im Elterngespräch berichtet die Mutter anschließend von ihrer Assoziation beim Betrachten des Bildes: Bei einer Fruchtwasseruntersuchung wurde Timo von der eindringenden Nadel verletzt.2
Zugang zu sprachlich nicht erreichbaren Ego-States und Möglichkeiten der Traumatherapie Sandbilder können die äußere Lebenssituation eines Kindes spiegeln oder auch unterschiedliche Ich-Zustände eines Kindes zum Ausdruck bringen.3 Die zweite Betrachtungsweise, bei der alle Aspekte des Sandbilds als Anteile des Unbewussten eines Kindes verstanden werden, liegt nahe an Konzepten des Inneren Teams und anderer Teilemodelle. Oft bietet Sandspiel Zugang zu Szenen der frühen Kindheit, die mit Worten vom Kind nicht darstellbar wären. Der Kontakt zu früh entstandenen, sprachlich nicht erreichbaren und in ihrem Erlebnisgehalt dissoziierten Ich-Zuständen macht die Methode besonders wertvoll für den Ansatz der Ego-State-Therapie (Fritzsche, 2013) und der Traumatherapie. 2 Die hier vorgestellten Fallbeispiele stammen aus meiner Praxis und wurden anonymisiert. 3 Vgl. auch die Deutungsebenen der »Objektstufe« und »Subjektstufe« bei von Gontard (2007, S. 138 f.).
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Marco, sieben Jahre alt, kann nach einer von Vernachlässigung und Gewalt geprägten Kindheit keine Ruhe finden. Im Spiel wählt er stets die Rolle eines starken, mit Waffen ausgestatteten Helden, der in einem Zustand permanenter Wachsamkeit Schwächere vor Angriffen schützt. Auf meine Anregung, für das im heutigen Rollenspiel bedrohte Kind einen sicheren Ort zu gestalten, wechselt Marco die Spielebene und wendet sich dem Sandkasten zu. Die dort entstehende Szene erweckt einen Eindruck großer Verlassenheit: Völlig allein liegt ein Baby in einer Krippe auf dem Gipfel eines Berges. Für einen Moment verharrt Marco vor dem Sandbild und betrachtet das Gebaute. Er scheint zu erfassen, dass die Grundbedürfnisse des Babys nach Kontakt, Zuwendung und Spiegelung in keiner Weise befriedigt sind: Rasch stellt er einen Spiegel neben die Krippe, »damit es sich wenigstens selbst sehen kann und nicht ganz allein ist«, bevor er wieder ins Rollenspiel einsteigt und den nächsten Angriff abwehrt. Damit es auch etwas hören kann, stellt er ein Grammophon hinzu.
Abbildung 1: Baby allein mit Spiegel und Grammophon
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Ego-State-Therapie verfolgt das Anliegen, hilflose und traumatisierte Ich-Zustände in Sicherheit zu bringen, sie mit Ressourcen zu versorgen, ihnen Hilfsfiguren als Symbolisierungen kraftvoller Ich-Zustände zur Seite zu stellen und ihnen Gelegenheit zur Nachreifung zu bieten. Wird, wie bei Marco, ein solcher Ich-Zustand im Sandspiel sichtbar, ist es möglich, sich ihm therapeutisch zuzuwenden, ihn mit ressourcenreichen Anteilen in Kontakt zu bringen und ihn auf neue Weise ins Innere Team zu integrieren. Wie sehr sich Sandspieltherapie dazu eignet, diese therapeutischen Ziele umzusetzen, habe ich an anderer Stelle ausführlich beschrieben (Brächter, 2014). Ein erster Schritt hierzu besteht darin, im traumatischen Erleben eingefrorene Szenen wieder in Bewegung zu versetzen und Perspektiven zu erweitern.
Sandspiel und Narrative Therapie: Bilder in Bewegung bringen In meinem Entwurf einer systemischen Sandspieltherapie (Brächter, 2010) lehne ich mich an hypnosystemische und narrative Konzepte an. Viele der zu Beginn einer Therapie gebauten Sandbilder wirken wie in einer Problemtrance erstarrt (Schmidt, 2004). Metaphorisch stellt das Kind dar, in welcher Situation es sich gefangen fühlt. Solche Sandbilder nutze ich als Ausgangspunkt einer Geschichte, in der vom Kind eigene Lösungswege erschlossen werden können: Jans Sandbild zeigt am Fuß eines Gebirges ein Dorf, das von einem Vulkanausbruch bedroht ist. Im Vergleich zu den hoch aufragenden Hängen sind die Häuser der Menschen winzig klein, Menschen und Tiere scheinen dem Geschehen hilflos ausgeliefert. Nachdem wir die Szene eine Weile gemeinsam betrachtet haben und Jan mir die Geschichte des Dorfes erzählt hat, bitte ich ihn, sich vorzustellen, dass sein Sandbild eine Momentaufnahme aus einem Film sei. Wie würde seine Geschichte weitergehen? Jan, der zuvor wie gebannt auf die bevorstehende Gefahr geblickt hat, entwickelt sofort neue Ideen: Dem Dorf kommen Techniker zur Hilfe, die sich mit vulkanischen Prozessen auskennen. Sie errichten eine Messstation im Inneren des Vulkans: Wenn der Druck ansteigt, werden die Menschen gewarnt. Zusätzlich werden Ventile angebracht, durch die der Druck entweichen kann. Lava kann durch Abflussrinnen
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an der unbewohnten Seite des Berges abfließen. Die Menschen können sich wieder sicher fühlen, sie profitieren sogar noch von der Nähe des Vulkans, weil sie das Lavagestein zum Bauen verwenden können und aus der Lava später einmal fruchtbare Erde entsteht. Touristen kommen ins Dorf, um das Geschehen zu verfolgen.
Mein Impuls, »eingefrorene« Sandbilder in Bewegung zu bringen, deckt sich mit dem Bedürfnis vieler Kinder, ihre Geschichten »weiterzuspielen«. In dieser Weiterführung des Sandspiels liegt die Besonderheit narrativer Sandspieltherapie. »Welchen Geschichten erlaubst du, dein Leben zu regieren?«, umschreibt Michael White (1989) den Ausgangspunkt Narrativer Therapie. Narrative Therapie versucht, einschränkende und problemverstärkende Erzählungen über die Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen zu dekonstruieren und neue Geschichten entstehen zu lassen, in denen Klienten die Autorenschaft über ihr Leben zurückgewinnen. Neben der Externalisierung von Problemen liegt dabei ein besonderes Augenmerk auf »unique events« – einzigartigen Ereignissen, die sich von der bisher dominierenden Problemsicht unterscheiden und denen durch sorgfältiges Nachfragen ein größeres Gewicht gegeben wird. In der narrativen Sandspieltherapie geschieht diese Arbeit auf der Ebene des Spiels. Kinder sind nach dem Bau eines Sandbilds noch stark von der gerade geschaffenen Szene gefangen genommen, die sie gleichzeitig an der Seite der Therapeutin/des Therapeuten von außen betrachten können – in diesem Zusammentreffen von innerer Aktivierung und Außenperspektive sah Margaret Lowenfeld eine »außerordentliche Kraft« der Sandspieltherapie (Lowenfeld, 1939, S. 87 f., zit. nach Mitchell u. Friedman, 1997, S. 42). Ich nutze diese besondere therapeutische Situation, um Kinder zur Fortsetzung ihrer »Sandbildgeschichte« anzuregen. Feste innere Bilder, im Sandbild externalisiert, geraten in Bewegung; hypothetische, zukunftsorientierte Fragen lenken den Blick auf Wünsche und mögliche Hilfsfiguren.4 4 Kann das Kind zwar Wünsche für eine Figur benennen, sich aber nicht vorstellen, wie eine Veränderung in die gewünschte Richtung initiiert werden könnte, ist es möglich, in einem zweiten Sandkasten den gewünschten Zu-
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Begreifen Kinder ihr Sandbild als veränderbar, so löst sich die ängstlich-angespannte Stimmung auf, mit der zuvor auf das Bild geblickt wurde. Mit der Veränderung des affektiven Zustands gehen neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten einher (Ciompi, 1998). Aus dem Problembild heraus entsteht eine Suche nach dem gewünschten Zustand; das Kind gestaltet anschließend in seinem Spiel selbsttätig den Veränderungsprozess. Während es die Figuren bewegt, können deren Handlungen von der Therapeutin wertschätzend kommentiert werden. Hypnotherapeutisch ergibt sich die Möglichkeit, über Bande zu spielen und selbstwertstärkende Kommentare indirekt an das Kind zu richten – in Jans Geschichte beispielsweise über die Fähigkeit der Techniker, feine Anzeichen zunehmender Spannung zu erkennen und rechtzeitig dafür zu sorgen, dass innerer Druck gefahrlos entweichen kann. Zutrauen in Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten der Figuren bezieht das Kind auf sich. Werden im Sandkasten neue Handlungsmöglichkeiten erschlossen und im Spiel wirkungsvoll geankert, gelingt oft ein Transfer in den Alltag.
Sandspieltherapie und Resilienz Die Entwicklung von Sandspielgeschichten ist jedoch keine Standardintervention. Viele Sandbilder verweisen auf Problemsituationen, die vom Kind allein nicht zu lösen sind. Hierzu gehören »Überlebenserzählungen« (Grossmann, 2003, S. 61), die schwierige Lebensbedingungen thematisieren. Statt der Anregung zu einer Veränderungsgeschichte geht es hier zunächst um ein Mitaushalten des Gezeigten und um den emotionalen Beistand durch eine erwachsene Bezugsperson, der in der Resilienzforschung eine bedeutsame Rolle beigemessen wird. Svens Welt ist zerrissen, seit seine Mutter in einer Klinik psychiatrisch behandelt werden musste und für längere Zeit von ihren Kindern getrennt war. Was ihn heute zur Darstellung drängt, lässt sich nicht in einem einzigen Sandkasten unterbringen. stand bauen zu lassen und dort eine Umgebung zu gestalten, in der es der Figur gut geht (auch im Sinne eines »sicheren Ortes« in der Traumatherapie).
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Im ersten Sandkasten errichtet Sven die Wohnung einer Familie, in der die Mutter geschwächt im Bett liegt. Den schwierigen emotionalen Gehalt seiner Geschichte kleidet Sven anschließend in die Form eines Märchens: Durch ein großes Unglück ist die Familie verarmt, es ist nicht mehr genug da, um alle zu versorgen. Zwischen seiner Frau und seinen Kindern hin- und hergerissen, bringt der Vater die Kinder in den Wald. Lange Zeit verweilt Sven dabei, die Selbstversorgung der Kinder in dieser schwierigen Zeit zu gestalten: In einem zweiten Sandkasten baut er ihnen Zelte aus Stöcken und Tüchern und fügt alles hinzu, was sie zum Überleben im Wald brauchen. Beim Weitererzählen bricht seine Geschichte abrupt ab: Ab und zu bringt der Vater den Kindern Essen vorbei; dadurch reicht das Geld jedoch nicht mehr für seine Frau und sie stirbt. Sven lässt mich an Emotionen teilhaben, die er gegenüber den noch immer stark belasteten Eltern nicht zeigen kann. Auf Symbolebene können seine Angst um die Mutter, aber auch Gefühle von Verlassensein, Verzweiflung und Wut Ausdruck finden. In Kommentaren zum Spielgeschehen spreche ich die vermuteten Gefühle der Kinder an; Sven kann sie mit mir teilen und von Schuldgefühlen entlastet werden. Als Sven nach dem tragischen Ende seiner Geschichte betroffen auf den Sandkasten blickt, frage ich ihn, ob es einen Moment gab, in dem sich die Geschichte auch anders hätte entwickeln können. Sven denkt nach, er betrachtet die Handlung aus einer Außenperspektive, die ihn wieder in einen stabilen emotionalen Zustand bringt: Selbstverständlich hätte es eine andere Möglichkeit gegeben. Die Familie hatte nur gedacht, das Geld würde nicht reichen. Sie hatte vergessen, dass es Gott gibt; er hätte für alle gesorgt.
Sandbilder als Brücke ins Familiensystem Die vorsprachliche, tranceartige Ausdrucksmöglichkeit des Sandspiels umgeht mögliche familiär bestehende Tabus. Die Methode konfrontiert daher mitunter mit Themen, die in der familiären Kommunikation bisher nicht angesprochen wurden. In einer systemisch orientierten Therapie verbleiben die Sandbilder nicht im geschlossenen Raum der Kindertherapie, sondern werden zu einer Brücke, über die Anliegen von Kindern auch in Gespräche mit den Eltern
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eingebracht werden können. Dabei stelle ich Kindern frei, ob sie ein Sandbild zeigen möchten oder nicht.5 Viele Sandbilder thematisieren Sorgen um einen Elternteil infolge von Sucht, psychischer Probleme oder familiärer Gewalt; auch eigene Misshandlungserfahrungen können deutlich werden. Oft erkennen sich Eltern in Figuren wieder, die ihr Kind im Sandbild verwendet hat. Sandbilder bieten den Anstoß, die darin enthaltenen Botschaften des Kindes im Elterngespräch zu reflektieren. Bezieht ein Vater beispielsweise einen Stein, der beinah kleine Tiere überrollt hätte, auf das eigene impulsive Verhalten seinem Sohn gegenüber, kann dies eine nachhaltige Unterbrechung dieses Musters bewirken. In Streitsituationen helfen Sandbilder dabei, Eltern die Sicht des Kindes zugänglich zu machen. Der Fokus rückt ab von Konflikten auf Verhaltensebene und richtet sich wieder stärker darauf, wie ein Kind sich fühlt. Unter dem Eindruck der Bilder können Eltern und Kinder oft auf neue Art miteinander kommunizieren und sich in Beziehung setzen. »Vincent, acht Jahre alt, hat in den letzten Jahren einen großen Teil seiner Sehkraft verloren, erst in jüngster Vergangenheit haben ihm Operationen wieder zu einem klareren Sehen verholfen. Zusammen mit einer hohen Impulsivität und schnellem Tempo bewirkten seine Wahrnehmungsprobleme, dass er in Schule und Familie häufiger ›aneckte‹. Im Sandkasten baut Vincent aus blauer Folie einen großen See. Er füllt ihn mit Wasser und schüttet Sand hinein, um das Wasser einzutrüben. Einen großen Teil der Therapiestunde verbringt er anschließend damit, durch Rohre Luft ins Wasser zu pusten, damit es wieder klar wird. Symbolisch setzt er sich mit der Behinderung und Heilung seiner Sehkraft auseinander. Am linken Bildrand ist während des Bauens ein Loch entstanden, aus dem Vincent Sand für das Eintrüben des Wassers genommen hat. Er umstellt es mit Warnschildern, damit niemand ›aus Versehen‹ hineinfällt. 5 Wie ein Kind damit umgeht, kann Hinweise auf seine Situation in der Familie geben (vgl. Brächter, 2010, S. 84 ff.).
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Die Szene, die ich schließlich auf dem Foto festhalten soll, zeigt noch eine weitere Gefahr: Ein Kind ist aus einem Boot gefallen und droht im See zu ertrinken. Vincent gibt seiner Geschichte ein gutes Ende: Die Eltern sind rechtzeitig zur Stelle, um das Kind zu retten und wieder ins Boot zu ziehen. Auf dem Abschlussbild sitzen sie neben dem gefährlichen Loch […]. Noch erschöpft und mit Sand beschmiert halten sie ihr Kind auf dem Schoß« (Brächter, 2010, S. 62).
Sandspiel in der Familientherapie Familientherapie verlief in den Anfängen vorwiegend auf Gesprächsebene. Die obigen Beispiele deuten an, welche Perspektiven sich eröffnen, wenn Sandspiel in Therapien eingeführt wird. Sandspiel erweitert das Themenspektrum der Therapie; es bietet Zugang zu subtilen Themen auf der Ebene von Beziehungs- und Bindungsgestaltung, die in einer verbal orientierten Auftragsklärung oft nicht erfasst werden können. Sandspiel lässt sich im Familiensetting auf verschiedene Arten nutzen. Vorstellen möchte ich hier die Arbeit mit Sandbildskulpturen und Sandbildgeschichten. Sandbildskulpturen Verlegt man Familienskulpturen in den Sandkasten, entstehen Darstellungsmöglichkeiten, die weit über die sonst üblichen Skulpturen auf dem Familienbrett hinausgehen. Sandspielfiguren heben in ihrer sehr unterschiedlichen Ausgestaltung bestimmte Ich-Zustände hervor, in denen sich Menschen in einer Konfliktsituation begegnen. Da im Sand auch der Raum zwischen den Figuren gestaltet werden kann, ermöglichen sie darüber hinaus auch die Externalisierung von Beziehungsthemen. Figuren können in sehr unterschiedlichen »Klimazonen« stehen; Berge oder Schluchten können andeuten, dass die Mitglieder einer Familie es nicht leicht haben, zueinanderzufinden. »Tim, sieben Jahre alt, baut zusammen mit seiner Schwester ein Bild der Familie: Als Seelöwe lebt er mit seiner Mutter, einem Pinguin, in einer Landschaft aus Eis; der Vater steht als Elefant in einer viel hei-
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ßeren Klimazone unter Palmen am See. Die Schwester hat sich als Katze ein gemütliches Zimmer eingerichtet, gut verschlossen, damit kein kalter Wind hereinweht. Zu Beginn der Therapie hatte Tim von Misshandlungserfahrungen berichtet, die im Therapieverlauf beendet und bearbeitet werden konnten. Wichtigstes Thema ist für Tim noch immer die brüchige Verbindung zu seinem Vater, der als Elefant über das dünne Eis nicht in seine Richtung gehen könnte. Der Vater, der sich früher durch die Verträumtheit seines Sohnes oft zurückgewiesen fühlte, ist gerührt über Tims Bemühungen, die Brücke zu ihm zu verbreitern. Beide beginnen, sie durch Steine zu stabilisieren; anschließend gehen sie mit ihren Figuren aufeinander zu. Die Mutter, bisher meist in der Vermittlerrolle zwischen Vater und Sohn, ist erleichtert zu sehen, dass Brückenbauen hier »Männersache« zu sein scheint. Auf ihren Wunsch errichten alle vier gemeinsam eine Plattform, auf der sich die Familie treffen kann» (Brächter, 2010, S. 89).
Die Skulpturtechnik kann erweitert werden, indem ein Symbol für ein Problem hinzugefügt wird. Mit Kindern als Indexpatienten werden dabei meist Symptome externalisiert, aufgrund derer ein Kind zur Therapie vorgestellt wurde. Bei der Suche nach einem geeigneten Symbol hilft oft ein körperorientierter Zugang: Ich frage das Kind, wo es seine Wut oder Angst am meisten spürt, wie sie sich anfühlt, welche Farbe sie hat; anschließend wählt es eine Figur, die dieser Beschreibung am meisten entspricht. Interessant ist für die anschließende Reflexion, welcher Platz für das »Problem« gewählt wird, zwischen wem es steht und was es in der Skulptur bewirkt. Für Eltern kann es eindrucksvoll sein zu erleben, wie wenig von ihrem Kind hinter einem »wütenden Dino« noch zu sehen ist. Externalisieren lassen sich auch Elternverhalten oder Familienklima. Stehen zwei Sandkästen zur Verfügung, können parallel verschiedene Sichtweisen eines Konflikts dargestellt werden. Eltern und Kind oder Geschwister erhalten Raum zur Darstellung ihres Erlebens; implizit wird die Botschaft gegeben, dass es mehr als eine »Wahrheit« gibt (vgl. Brächter, 2010, S. 99 ff.).
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Gemeinsam konstruierte Sandbildgeschichten Bei der Methode gemeinsam konstruierter Sandbildgeschichten gestalten Eltern, Kind und Therapeut/-in ein Sandbild, indem sie reihum Gegenstände in den Sand stellen. Anschließend wird aus der so entstandenen Szene heraus gemeinsam eine Geschichte gespielt. Als Koautoren der Sandbildgeschichte schaffen Eltern dabei aktiv einen Rahmen, der ihrem Kind Entwicklungsschritte ermöglicht. Auch für ihre Elternrolle können dabei wichtige Impulse entstehen. Anna, sechs Jahre alt, baut zusammen mit ihren Eltern ein Sandbild. Hintergrund sind Sorgen der Eltern anlässlich des Schulbeginns, da sich Anna außerhalb der Familie bisher sehr schüchtern und ängstlich zeigt. Das klar strukturierte Vorgehen erleichtert es Anna und den Eltern, sich auf den Prozess einzulassen. Ich eröffne die Runde, in dem ich eine Grasfläche in den Sand lege. Wie auch in den folgenden Runden vergewissere ich mich durch Blickkontakt oder durch Fragen, ob die von mir gewählten Gegenstände aus Annas Sicht passend sind. Die Eltern schließen sich diesem Vorgehen an. Ein Baum kommt hinzu, der Vater stellt als erste Figur einen Hund auf die Wiese. Anna setzt eine Mädchenfigur vor sich in die äußerste Ecke des Sandkastens.
Abbildung 2: Gemeinsames Sandbild, Status eins
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Anschließend beginnt die Mutter, ein Haus zu errichten, in dem gekocht wird. Hinter die Kochstelle setzt sie eine Mutterfigur, die ein kleines Kind auf dem Schoß hält. Annas Mädchen blickt aus der Ecke des Sandkastens auf die Szene, es sitzt allein auf einem hohen Stein. Während sich die Sandfläche in der Nähe des Hauses füllt, bleibt die Umgebung des Mädchens leer, sodass von der Szene eine große Spannung ausgeht. Der Versuch des Vaters, eine Sonnenblume direkt neben den Stein zu setzen, wird von Anna abgelehnt: Die Blume sei zu nah.
Abbildung 3: Gemeinsames Sandbild, Status zwei
Die weitere Gestaltung des Sandbilds löst die Spannung nicht auf; die Distanz des Mädchens zum Rest der Szene bleibt bestehen. Mit immer mehr Details entsteht das Bild einer heilen, bäuerlich wirkenden Welt, zu der Anna mit ihrer Figur Abstand bewahrt. Es entsteht ein Teich, auf dem eine Ente schwimmt, ein Klettergerüst steht ungenutzt im Garten. Später stellt der Vater noch eine männliche Figur auf, die mit einer Schaufel ihrer Arbeit nachgeht. Laut Anna sitzt das Mädchen auf dem Stein, weil es schauen will, was passiert.
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Abbildung 4: Gemeinsames Sandbild, Status drei
Als sich auch weiterhin kein Beginn einer Handlung abzeichnet, wende ich mich mit einer Frage an Anna: Wäre es in Ordnung, ein etwas wilderes Tier mit hineinzusetzen, damit sich vielleicht etwas Spannendes ereignen könnte? Sofort wird Anna hellwach und stimmt zu. Sie beginnt selbst, nach einem solchen Tier Ausschau zu halten, und reicht mir einen roten Drachen an. Er soll direkt ins Zentrum der Szene, vor den Eingang des Hauses gestellt werden. Das Sandbild gerät in Bewegung, bei den Eltern ist Aufregung spürbar. In einer spontanen Reaktion verschließt die Mutter die Öffnung des Hauses; der Vater stellt eine Zauberin neben den Drachen, um ihn in Schach zu halten.
Abbildung 5: Gemeinsames Sandbild, Status vier
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Erneut lehnt Anna die Figurenwahl des Vaters ab: Die Zauberin sei überhaupt nicht nötig, da sich das Mädchen selbst gut mit Drachen auskenne. Sie störe dort nur und solle weggehen. Noch skeptisch, lässt der Vater die Zauberin in den Hintergrund treten. Der Drache wendet sich dem Hund zu, die beiden beschnüffeln sich. Da nun der Ausgangspunkt einer Geschichte gefunden scheint, rege ich an, die Figuren zum Weiterspielen zu verteilen. Vater und Mutter entscheiden sich zunächst für im Sandbild vorhandene Tierfiguren; als Hund und Katze verfolgen sie das Geschehen. Anna zeigt ihnen stolz, wie gut sich das Mädchen mit Drachen auskennt: Es weiß, was Drachen gern fressen, holt Futter für den Drachen herbei, pflanzt um seinen Stein herum Drachenfutter an und erweitert den dort entstehenden Raum so, dass der Drache bei ihm wohnen kann. Die Eltern lassen sich davon überzeugen, dass der Drache nicht so gefährlich ist, wie sie zunächst dachten. Während sich Annas Figur um den Drachen kümmert, wechselt die Mutter von der Katze zur Mutterfigur im Haus und beginnt, Currywurst zuzubereiten. Der Vater nähert sich seiner Frau und kommt zum Essen vorbei, auch das Mädchen verlässt seinen
Abbildung 6: Gemeinsames Sandbild, Status fünf
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Stein und geht zu den Eltern. So wie der Drache, kann es jetzt zwischen seinem eigenen Raum und dem Raum der Familie hin und her pendeln. Ein weiterer Handlungsschritt wird möglich, als die Mutter dem Mädchen vorschlägt, zwei Kinder von nebenan zum Essen einzuladen, es seien genug Currywürste für alle da. In die Szene, anfangs beengt und starr, zieht Leichtigkeit ein, es wird gelacht und Neues erprobt. Gestärkt durch die Imagination, dass der Drache das Mädchen wie ein unsichtbarer Helfer begleiten könnte, wagt es Anna, die Mädchenfigur zu den Nachbarskindern zu führen. Währenddessen müsse jedoch jemand anderes auf den Drachen aufpassen und ihn füttern, falls er Hunger bekäme. Die Mutter verlässt ihr Haus und lässt sich von Anna in diese Aufgabe einführen, anschließend bewegt Anna die Mädchenfigur zu den Kindern und spricht sie an. Im Abschlussbild stehen alle gemeinsam am Haus und essen Currywurst. Auch für den Drachen ist gesorgt.
Selbsterfahrung im Sandspiel und Supervision Anna und ihre Eltern sind keine reale Familie, sondern wurden in einem Ausbildungsseminar im Rollenspiel erfunden.6 Die Rückmeldungen der Teilnehmer/-innen zeigen, wie stark die emotionale Beteiligung beim Sandspiel selbst in diesem Kontext erlebt wurde. Die »Eltern« berichten von einem starken Bedürfnis nach Sicherheit, aus dem heraus Haus und Berufsrolle als vertrauter Ausgangspunkt gewählt wurden. Sie fühlten sich schnell in die möglicherweise selbst unsicheren Eltern eines ängstlichen Kindes ein. Beide Stellvertreterinnen schildern eine spürbare Aufregung, als der Drache kam. In der Reflexion werden zirkuläre Prozesse in der Familie deutlich: Mit dem Drachen gewinnt das Mädchen Zugang zu einem temperamentvollen Ego-State, der auch den Eltern noch fremd ist; den Entwicklungsschritt hin zu anderen Kindern kann es nur machen, wenn auch die Mutter Kontakt zu ihrem »Drachen« bekommt. Der Vater teilt mit, wie schwer es war, helfen zu wollen und dabei zurückgewiesen zu werden. Auch die Mutter hätte ihre Tochter gern schon 6 Einführungsseminar in die Narrative systemische Sandspieltherapie im Systemischen Institut Augsburg Volkmar Abt, 20./21.2.2015.
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viel früher zu sich gerufen und konnte es kaum ertragen, sie für sich allein an einem eigenständigen Platz zu sehen. Diese Impulse zurückzuhalten und den Abstand auszuhalten, hat die Dynamik der weiteren Handlung erst möglich gemacht. Sandspieltherapie selbst zu erproben, vermittelt einen Eindruck davon, wie tief diese Methode berühren kann. Umso wichtiger ist eine gute Rahmung durch die Therapeutin bzw. den Therapeuten, die/der Gefühle der Beteiligten aufnimmt und wertschätzend kommentiert. Die veränderte Zeitwahrnehmung beim Sandspiel zu erleben und zu spüren, welche Anregungen in einer Situation passend sind und wie viel Raum gelassen werden muss, ist eine wichtige Voraussetzung, Klienten selbst therapeutisch im Sandspiel zu begleiten. Aufgrund der hohen Erlebnisintensität von Sandspieltherapie kann die Selbsterfahrung in der Methode nicht hoch genug eingeschätzt werden, sodass ein Schwerpunkt meiner Weiterbildungen auf der eigenen Erfahrung »im Sand« liegt.7 In der Supervision bietet Sandspieltherapie ein wertvolles Medium, um sich der Situation einer Familie aus einem erfahrungsbezogenen Zugang zu nähern und sich auch in schwer nachvollziehbare Fallkonstellationen leichter einzufühlen.
Literatur Blaschke, V. (2001). Geburtstraumatische Erfahrungen und die Suche nach der zweiten Geburt. Sandspiel-Therapie, 11, 29–40. Brächter, W. (2010). Geschichten im Sand. Grundlagen und Praxis einer narrativen systemischen Spieltherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Brächter, W. (2011). Trance im Sandspiel. Hypnosystemische Konzepte in der Sandspieltherapie. M.E.G.a.Phon, 44, 8–11. Brächter, W. (Hrsg.) (2014). Der singende Pantomime. Ego-State-Therapie und Teilearbeit mit Kindern und Jugendlichen. Heidelberg: Carl-Auer. Ciompi, L. (1998). Die affektiven Grundlagen des Denkens – Kommunikation und Psychotherapie aus der Sicht der fraktalen Affektlogik. In R. WelterEnderlin, B. Hildenbrand (Hrsg.), Gefühle und Systeme. Die emotionale Rahmung beraterischer und therapeutischer Prozesse (S. 77–100). Heidelberg: Carl-Auer.
7 Ein Überblick findet sich unter www.geschichten-im-sand.de (Zugriff am 04.07.2016).
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Wiltrud Brächter
Fritzsche, K. (2013). Praxis der Ego-State-Therapie. Heidelberg: Carl-Auer. Gendlin, E. (1981). Focusing. Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Salzburg: Otto Müller. Gontard, A. v. (2007). Theorie und Praxis der Sandspieltherapie. Ein Handbuch aus kinderpsychiatrischer und analytischer Sicht. Stuttgart: Kohlhammer. Grossmann, K. P. (2003). Der Fluss des Erzählens. Narrative Formen der Therapie. Heidelberg: Carl-Auer. Hartmann, I. C. (2015). Sandbilder aus Ausdruck vorsprachlicher Realität. Sandspiel-Therapie, 38, 27–46. Kalff, D. (1966). Sandspiel. Seine therapeutische Wirkung auf die Psyche. Z ürich: Rascher. Kalff, D. (2005). Einführung in die Sandspieltherapie. Sandspiel-Therapie, 19, 5–11. Klein, M. (1927). Frühstadien des Ödipuskomplexes. Frankfurt a. M.: Fischer. Lowenfeld, M. (1935/2009). Play in childhood. Sussex: Academic Press. Lowenfeld, M. (1939). The world pictures of children: A method of recording and studying them. British Journal of Medical Psychology, 18 (1), 65–101. Lowenfeld, M. (1969). Die »Welt-Technik« in der Kinderpsychotherapie. In G. Bierman (Hrsg.), Handbuch der Kinderpsychotherapie, Band 1 (S. 442– 451). Basel: Ernst Reinhardt. Mitchell, R., Friedman, H. (1997). Konzepte und Anwendungen des Sandspiels. München u. Basel: Ernst Reinhardt. Schmidt, G. (2004). Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg: Carl-Auer. White, M. (1989). Der Vorgang der Befragung: Eine literarisch wertvolle Therapie? Familiendynamik, 14, 114–127.
Bärbel Smikalla-Weier und Günter Weier
Körper, Bewusstsein und menschliches Wachstum Die körperorientierte Psychotherapie nach Albert Pesso (PBSP)
Solange wir leben, können wir unser Gehirn nicht abschalten. Es ist inhaltlich immer aktiv, irgendetwas geht immer in uns vor, wir denken an etwas, erinnern ein Erlebnis, in uns steigt ein Bild auf, ein Gefühl stellt sich ein, uns wird etwas bewusst – und das alles mit oder ohne äußeren Reiz. Das macht unsere Lebendigkeit aus. In jedem Augenblick, ob im Wachen oder Schlafen, ob intensiv oder kaum spürbar, arbeitet unser Gehirn. Neuere Erkenntnistheorien fassen diese Vorgänge als Spiegelung zu uns selbst auf. Vielleicht ausgelöst durch eine Körperempfindung oder durch eine Sinneswahrnehmung, auf dem Hintergrund der Gesamtheit unserer Erfahrungen, erkennen und offenbaren wir uns selbst durch die Inhalte dieses Bewusstseinsstroms. Wenn Sie jetzt diese Zeilen lesen, dann werden Sie gleichzeitig Ihres eigenen Bewusstseinsflusses gewahr, Sie haben Gedanken zu dem Gelesenen oder Sie überlegen, ob Sie die Tür abgeschlossen haben, Sie spüren in Ihren Körper hinein und stellen fest, dass Sie in den Schultern verspannt sind, Sie lesen diese Sätze und in Ihnen wird Zustimmung oder Widerspruch laut. Angenommen, wir hätten jetzt die Gelegenheit und Sie könnten von Ihren inneren Regungen erzählen, dann würden Sie in dem, was Sie von Ihren Wahrnehmungen berichten, sich selbst wiedererkennen im Sinne von: Ja, das ist typisch für mich! Oder: Ja, so hat meine Mutter oder mein Vater auch oftmals reagiert (Steiner, 2006, S. 53 ff.). Heißt das jetzt, dass es sehr leicht ist, Selbsterkenntnis zu erreichen und die eigene Selbstwerdung in Gang zu setzen? Leider nein, denn es ist unmöglich, die Impulse in reiner Form zu erfahren. In der Analogie zum Spiegel heißt das, dass er Kratzer hat, blinde Flecken, Ausbuchtungen, Risse, Verunreinigungen, die zu Verzerrungen führen. Diese sind durch unser gelebtes Leben entstanden. Eine
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körperliche Nähesituation, die wir uns ersehnen, kann plötzlich mit Abwehr verbunden sein, vielleicht entstanden durch aufgezwungene Nähe in der Kindheit, ein Geruch kann eine schmerzhafte Erinnerung auslösen, die Begegnung mit einer bestimmten Person bringt eine Angststimmung hervor, vielleicht weil diese Person an einen gefürchteten Lehrer erinnert, ein Gedanke, den Sie hier lesen, kann Ihnen einen lange verdrängten Zusammenhang verdeutlichen und zunächst Unruhe auslösen. Oftmals bleibt unser Fühlen und Denken unbestimmt und vage oder führt immer wieder in ein und dieselbe Sackgasse, die schon seit vielen Jahren besteht. Wir müssen also zur Kenntnis nehmen, dass das Bewusstsein von unserem Wesen mehr verhüllen als enthüllen kann. Um psychotherapeutisch an sich selbst zu arbeiten, ist jedoch das Aufspüren dieser Bewusstseinsinhalte der erste Schritt. Das ist unsere individuelle und subjektive Wahrheit. Mit dieser Wahrheit fängt auch die Psychotherapie an, die wir hier vorstellen wollen: die körperorientierte Pesso-Psychotherapie. Vor einiger Zeit habe ich bei der Beschreibung eines Mannes mit dem Namen Mr. James Duffy innegehalten. In der Erzählung von James Joyce – »Ein betrüblicher Fall« – heißt es: »Er lebte ein wenig in Distanz zu seinem Körper und verfolgte sein eigenes Verhalten mit zweifelnden Seitenblicken« (Joyce, 1987, S. 109). In Distanz zu seinem Körper zu leben, ist nun nichts besonders Gravierendes, so könnte man denken, leben doch die meisten Menschen in diesem Modus und stehen den eigenen Körperregungen relativ fremd gegenüber. In seiner Erzählung beschreibt Joyce jedoch sehr eindrücklich die Konsequenzen, die eine solche Lebensweise mit sich bringt. Das distanzierte Körperverhältnis »erzwingt« eine ebensolche Daseinsform. Mr. Duffy lebt recht zurückgezogen in einem alten, düsteren Haus. Die Einrichtung ist karg und spartanisch. Unordnung ist ihm ein Gräuel, und so verbringt er die Zeit in einem vorbestimmten Rhythmus. Sein Gesicht hat einen harten Ausdruck und seine Augen schauen so, als ob er schon oft enttäuscht worden wäre. Eines Tages lernt er eine Frau kennen und es entwickeln sich zwischen den beiden vertrauliche Gewohnheiten. Sie kommen sich näher und er äußert ihr gegenüber seine Lebensansicht und spricht von der »unheilbaren Einsamkeit der Seele«, die sich nicht hingeben könne (Joyce, 1987, S. 112). Daraufhin ist die Dame gerührt. Leidenschaft-
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lich ergreift sie seine Hand und drückt sie an ihre Wange. Mr. Duffy zuckt zurück. Er ist überrascht von ihrem Gefühlsausbruch und beschließt, ihr nie wieder zu begegnen. Was passiert hier? Im Moment der körperlichen Berührung, die Ausdruck einer Liebesregung ist, zieht sich Mr. Duffy zurück. Sein Selbstsystem lässt nur eine verbale, aber keine körperliche Kommunikation zu. Der Funke, der überspringt, wenn die zärtliche Hand die Haut berührt und damit Verbundenheit bekundet, verbleibt nicht an der Hautoberfläche, sondern gelangt bis ins Innere der Seele. Das ist ein Moment tiefer Gewissheit. Josef Breuer, der väterliche Freund von Sigmund Freud, erzählt, dass seine Patientin Anna O. sich ihm erst dann öffnen konnte, nachdem sie seine Hände sorgfältig betastet hatte. Der selbstentfremdete oder traumatisierte Mensch erlebt eine Berührung oft als Überflutung oder Penetration. So muss es Mr. Duffy ergangen sein. In Distanz zu seinem Körper zu leben, kann tiefgreifende Hintergründe haben. Wie muss eine Psychotherapie des 21. Jahrhunderts beschaffen sein, um die vielfältigen psychischen, psychosomatischen und sozialen Erkrankungen zu lindern oder zu heilen? Wie hätte Mr. Duffy behandelt werden können? Das Wissen über das menschliche Werden ist inzwischen weit fortgeschritten. Ein Psychotherapeut muss an den Erkenntnissen aus den verschiedenen Forschungszweigen Anteil nehmen und sich darum bemühen, nach Anwendungsmöglichkeiten zu suchen.
Einbeziehung des Körpers in die Psychotherapie Die Psychotherapieforschung hat sich die Ergebnisse aus den Forschungsfeldern pränataler Untersuchungen, der Säuglingsforschung und der Neurowissenschaften zunutze gemacht und neue Methoden entwickelt, die uns helfen sollen, uns immer umfänglicher zu verstehen. Wenn wir einen Blick auf diese Forschungszweige werfen, wird uns die Unentrinnbarkeit unserer körperlichen Basis anschaulich. Säuglingsforschung Es ist gut belegt, dass Föten massiv beeinflusst werden können von dem Stress ihrer Mütter. Das Stresshormon Kortisol kann bei dauer-
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hafter Belastung der Mütter in den Blutkreislauf des sich entwickelnden Fötus gelangen und dazu führen, dass die Säuglinge später im Alter von fünf Monaten auf neue Reize nicht so gut reagieren können (Rothenberger, 2010). Es gelingt ihnen nicht, ihre Bedürfnisse deutlich zu machen, etwa durch Schreien, Quengeln oder Weinen. Erste Prägungen beginnen also im Mutterleib. Unsere ersten Erinnerungen sind nicht sprachlich verankert, sondern bilden sich in frühen körperlich-affektiven Dialogen aus. Wie die Mutter das Kind anschaut, wie sie es anfasst, mit welcher Stimmung und welchen Gefühlen sie ihm begegnet, wie sie seine Äußerungen kommentiert und wie sie seine Bewegungen beantwortet – all das ist entscheidend für sein Wohlbefinden. Das Verhalten von Mutter und Kind wird durch sogenannte Vitalitätsaffekte geregelt, das heißt, Bewegung und Laute werden vom Säugling mit einer bestimmten Intensität, Gestalt und einem bestimmten Zeitmuster ausgeführt, auf die die Mutter in Abstimmung reagiert (Stern, 1992, S. 83–93). Eine solche Abstimmung zwischen Mutter und Kind gelingt nicht immer. Ist die Mutter sehr überstimulierend und überaktiv, dann entwickelt schon der Säugling ein Abwehrverhalten, das er im nicht-sprachlichen Gedächtnis speichert. Seine Strategie als Erwachsener könnte folglich sein, Bindung und Nähe zu vermeiden, weil er Kontakt mit anderen Menschen als invasiv erlebt. Das gefühlshaft-körperliche Verhalten der Mütter wirkt stark auf uns ein. So übernehmen Babys von depressiven Müttern deren verlangsamtes und gefühlsarmes Verhalten, und ihr ganzes Wesen ist schon davon durchtränkt, ohne dass sie das Geringste darüber wüssten (Geuter, 2006, Teil 1, S. 120). Aber auch der Körperkontakt selbst ist für das Gelingen oder Misslingen einer solchen Abstimmung von Bedeutung. Berührtwerden gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. »Im Austausch zwischen Berühren und Berührtwerden liegen die Keimformen für das spätere Erleben von Freude und Glück« (Heisterkamp, zit. nach Müller-Braunschweig, 2007, S. 5). Für unser Gedeihen sind wir auf liebende Berührung angewiesen, um uns bejaht und in unserem Körper heimisch zu fühlen. Wir leben von Anfang an in Beziehung, und diese ist immer auch ein körperliches Geschehen. Das Gleiche gilt für die Psychotherapie, in der die Beziehungsregulierung ebenfalls nicht allein über die Sprache erfolgt, sondern
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wir reagieren immer auch auf die körperliche Ausstrahlung des Therapeuten oder der Therapeutin und auf kleinste Signale, die uns je nach Vorgeschichte günstig oder ungünstig beeinflussen können, ohne dass uns die Gründe dafür bewusst werden. Emotionen und Gefühle In unserem normalen Sprachgebrauch verwenden wir die Begriffe Emotion und Gefühl oft synonym. Um aber die körperliche Basis von Emotionen zu zeigen und auch, dass der »Apparat der Rationalität« (Damasio, 1997, S. 178) nur im Kontext von Emotionen arbeiten kann, möchte ich die beiden Begriffe anhand der Forschungsergebnisse von Damasio gegeneinander abgrenzen. Seine wichtigste These ist, dass sich Emotionen auf der »Bühne des Körpers« abspielen. Auf emotional kompetente Reize, seien diese nun in der Gegenwart, nur erinnert oder gar in der absoluten Phantasie, erfolgen körperliche Reaktionen, die im Gehirn, ausgelöst durch eine Kette von Signalen, als Emotionen aufgezeichnet werden. Im Organismus verändern sich, ohne dass es uns bewusst wird, augenblicklich Hormone und Substrate, der Spannungszustand und die Aktivität von Muskeln sowie verschiedene Organfunktionen. Außerdem lösen Emotionen unbewusste, aber gut sichtbare Bewegungen in Mimik, Stimme und Körpersprache aus. Emotionen lassen sich nicht verhindern, nur die sichtbaren Veränderungen können mit einiger Übung teilweise unterdrückt werden (Ringwelski, 2006). Gefühle hingegen spielen sich auf der »Bühne des Geistes« ab. Damasio (2011, S. 105) spricht von emotionalen Gefühlen. Wir nehmen eine Zusammensetzung wahr von dem, was in unserem Körper und in unserem Geist abläuft, wenn wir Emotionen haben. Die Emotionen sind aber nicht die körperlichen Abläufe selbst, sondern wir können sie aufgrund von Kartierungen von Körperzuständen im Gehirn wahrnehmen. Sie werden für emotionale Reaktionen auf bestimmte Ereignisse hin angelegt und zeigen sich durch Signale wie Schmerz, Körpertemperatur, Hitze, Kitzeln, Schauer und verschiedenste Empfindungen. Die emotionalen Gefühle gründen sich auf eine einzigartige Beziehung zwischen Körper und Gehirn, die der Interozeption (auf unseren Körper bezogene Innenwahrnehmung) eine bevorzugte Stellung einräumt. Emotionen sind also eher
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die aufgezeichneten Körperzustände, während wir bei emotionalen Gefühlen die Körperreaktionen bewusst wahrnehmen, einordnen und bewerten. Emotionen dienen der Erhaltung der Homöostase, das heißt, sie steuern die Gesamtheit des Lebens in einem Organismus zwecks Selbsterhaltung und zur zwischenmenschlichen Regulierung. Aus diesem Grund bezeichnet Damasio (2011, S. 103) die Emotionen als »Kronjuwelen der Lebenssteuerung«. Man könnte denken, das Gehirn sei ein einfaches Aufzeichnungsmedium, das wie eine digitale Filmkamera Objekte oder Ereignisse speichert (Damasio, 2011, S. 125). Was wir zum Beispiel von einem bestimmten Objekt in Erinnerung behalten, ist nicht nur seine visuelle Struktur, sondern eine Zusammensetzung von sensorischen und motorischen Abläufen, die sich aus den Wechselwirkungen zwischen dem Organismus und dem Objekt ergeben. Die Einwirkung der Gegenwart auf die Vergangenheit Man kann das auch so ausdrücken: Das Gedächtnis funktioniert nicht wie eine Bibliothek von Erfahrungen, »in der die Erstausgaben in ihrer Originalfassung aufbewahrt werden, so dass man eine beliebige Erinnerung sozusagen aus dem Regal ziehen und in die Gegenwart zurückholen kann, um sie originalgetreu erneut zu durchleben« (Stern, 2005, S. 203). Es besteht vielmehr aus einer Ansammlung von Erfahrungsfragmenten, die in eine ganzheitlich erinnerte Erfahrung verwandelt werden. Dazu dienen Vorgänge und Erfahrungen, die sich in der Gegenwart vollziehen, als Kontext (Situations- und Sinnzusammenhang). Durch ihn wird die Auswahl der Fragmente bestimmt, zu einer Erinnerung zusammenstellt und organisiert. Der gegenwärtige Erinnerungskontext ist all das, was jetzt auf der mentalen Bühne geschieht. Die Komponenten sind zahlreich: ein Geruch, ein Geräusch, eine Melodie, ein Wort, ein Gesicht, Art des Lichts, innere Gefühlszustände, Körpergefühle, Gedanken. Etwas beständigere Elemente: Stimmung, ein alles beherrschender Gedanke oder ein Gefühl, das uns nicht loslässt, Traum, Konflikt, Rachewunsch, Schmerz, Verlust, Traumata. Dieses aktuell stattfindende Erleben dient als Auslöser für die Selektion und Organisation von Bruchstücken aus der Vergangenheit. Sobald sie miteinander verbunden
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sind, helfen sie uns zu verstehen, was gerade jetzt, in der Gegenwart, geschieht. Auf dieser Grundlage gestalten wir unsere Reaktionen. Wir erinnern also keine fixierte historische Vergangenheit, sondern wählen je nach Gegenwartssituation aus. Der Therapeut macht sich die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit zunutze. Selbst wenn er in der Vergangenheit des Klienten nicht dabei war, kann er doch miterleben, wie der seine Gegenwart und die Beziehung zu ihm gestaltet. Hinzu kommen die Elemente der Mimik, Stimme und Körpersprache, die ihm weitere Auskunft über die Befindlichkeit des Klienten geben.
Grundlegende Entwicklungsbedürfnisse oder: Was kann schiefgehen? Die Bedingungen für das Menschsein und für alles Lebendige sind nicht willkürlich. Wir wissen heute relativ viel darüber, unter welchen Umständen sich ein Kind gut entwickeln kann. Am Anfang stehen die Grundbedürfnisse, die ein Kind erfüllt bekommen muss. Diese Grundbedürfnisse sind mit Lebensenergien verbunden, die auf eine Aktion drängen, um, wenn es gutgeht, in eine befriedigende Interaktion zu münden. Die Bedeutung einer solchen Interaktion bleibt oftmals im Gedächtnis haften. Ein wichtiges Grundbedürfnis ist das nach Platz. Wenn sich Mutter und Vater auf das Kind freuen, dann können wir davon ausgehen, dass es sich im ersten Platz seines Lebens, im Uterus, wohlfühlt. Schon hier und bald nach der Geburt spürt der Säugling, dass er gewünscht und willkommen ist. Seine Energien streben nach Aktionen, und diese werden im Zusammenspiel mit den Eltern freudig aufgenommen. Die Vitalität des Kindes wird gehalten, gefördert und wenn nötig begrenzt. Sigmund Freud meinte einmal: »Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberungsgefühl, jene Zuversicht des Erfolgs, welche nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht« (Freud, 1917, S. 266). Auf den Vater bezogen stimmt dieser Satz genauso. Jedes Kind hat ein Recht darauf, ein Lieblingskind zu sein. Menschen, die das Glück hatten, so aufzuwachsen, schauen mit Optimismus und Zufriedenheit auf das Leben, jedoch ohne zu beschönigen.
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Neben dem Entwicklungsbedürfnis nach Platz gibt es das nach Nahrung, Schutz, Unterstützung und Begrenzung. Eine weitere Dimension der Menschwerdung, die in uns angelegt ist und schon in der Kindheit beginnt, ist die nach Integration von Polaritäten. Je nach Entwicklungsgang sollen folgende Gegensätze in Beziehung zueinander gebracht werden: mütterliches und väterliches Erbgut, rechts- und linkshemisphärische Funktionen (Rationalität und Gefühl), Wahrnehmung und Handlung, Aufnehmen und Abgeben, Kraft und Verletzlichkeit, Anima und Animus (Pesso u. Perquin, 2008). Welche Kindheitserfahrungen hat wohl Mr. Duffy gemacht? Aus der Erzählung von Joyce erfahren wir darüber nichts, sodass wir spekulieren müssen. Es ist durchaus denkbar, dass er Erfahrungen machen musste, die seiner Bedürfnisstruktur nicht gerecht wurden. Seine starke aversive Reaktion auf die Berührung seiner Bekannten legt die Vermutung nahe, dass seine Ich-Grenzen verletzt wurden. Wir sprechen hier von traumatischen Erfahrungen. Allgemein wird eine solche Erfahrung als ein Überschreiten von körperlichen und seelischen Grenzen in extrem bedrohlicher Weise definiert. Das Grundvertrauen des Kindes wird dadurch zerstört. Das kann der frühe Tod eines Elternteils sein, das Miterleben eines Unfalls, seelische, körperliche oder sexuelle Gewalt usw. Diese extremen Ereignisse treten unerwartet auf und bedrohen das Kind, sodass es erstarrt. Sowohl das eigene Erleben als auch das Miterleben von Gewalt gegen andere Personen können zur Traumatisierung führen. Die Folge ist, dass fast jede Form von Körperkontakt oder körperlicher Nähe als gefährlich erlebt wird. Auch eine gestörte Körperwahrnehmung und eine Fragmentierung des eigenen Körpers sind zu beobachten. Bei dieser Beschreibung erkennen wir unschwer Mr. Duffy wieder. Seine panische Reaktion auf die liebevolle Berührung seiner Bekannten legt diesen Hintergrund nahe. Durch eine Traumatisierung in Kindheit oder Jugend hat er den Zugang zu seinem inneren Kern oder »wahren Selbst« verloren und es sich – aus der Not – in der Distanz zum eigenen Körper und zu den Mitmenschen eingerichtet. In der Erzählung von Joyce spürt Mr. Duffy blitzlichtartig sein selbstentfremdetes Leben. Der Kontrast von ungelebtem und möglichem Leben kann manchmal Kräfte freisetzen und
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einen existenziellen Suchprozess nach diesem »wahren Selbst« auslösen. Bei Mr. Duffy und bei vielen anderen findet das jedoch nicht statt. Im letzten Satz der Erzählung bringt Joyce das Gefühl zum Ausdruck, das man »Wiederholung des alten Musters« nennt: »Er fühlte, dass er allein war« (Joyce, 1987, S. 119). Damit versinkt er wieder in seinen alten Lebensrhythmus, der ihm schon von Kindheit an vertraut war. In unserer psychotherapeutischen Praxis begegnen uns täglich Menschen, die Symptome haben und daran leiden. Oftmals ist ihnen der Zusammenhang zu ihrem gelebten Leben nicht bewusst, weil er auch nicht so ohne Weiteres spürbar ist. Der von innen gefühlte Körper kann uns erste Hinweise geben. Für die Pesso-Psychotherapie ist es wichtig, dass wir Psychotherapeuten den Impulsen beispielsweise eines Patienten folgen und versuchen, eine Passform zu allen seinen Äußerungen zu finden. Natürlich haben wir unsere Ideen, wenn er an Panikattacken leidet. Wir warten aber, welchen Weg der Patient selbst einschlägt, welche Impulse, Bilder oder Erinnerungen sein Unbewusstes freigibt. Plötzlich kann sich eine Erinnerung einstellen, etwa: »Ich wache nachts auf, suche meine Eltern und finde sie nicht. Ich schreie, bin verzweifelt, fühle mich verlassen, habe Angst, dass sie gestorben sind. Als meine Eltern dann spät von der Einladung zurückkommen, lasse ich mich nur schwer beruhigen.« Oder: Depressionen können im Dienste der seelischen Abwehr stehen. Sie regeln die Erregung, den Ärger oder die Freude herunter, sodass sich die Betreffenden oftmals wie leblos fühlen. In einem Körpersymptom – zum Beispiel Rückenschmerzen – kann sich Lebensenergie stauen, die seit vielen Jahren darauf wartet, in eine Interaktion einzumünden. Vielleicht liegt dem zugrunde, dass der Beruf zur Qual geworden ist, weil der/die Betreffende eine ganz andere Tätigkeit ersehnt hatte. Es geht immer darum, die lebensgeschichtlichen Entwicklungen ins Auge zu fassen. Unzureichend erfüllte Grundbedürfnisse, traumatische Erfahrungen und das zu frühzeitige Erfüllen von Aufgaben für einen Elternteil sind im Körper eingeschrieben. Hier kann der Körper auf eine respektvolle Weise in die Psychotherapie einbezogen werden. Die kindliche Seele ist sehr zart und spürt feinste Schwingungen auf, auch wenn die Eltern versuchen, das eigene Leiden zu verheimlichen und ein »normales« Familienleben zu führen. Gerade die Menschen, die im oder nach dem Krieg geboren wurden,
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haben die seelischen oder körperlichen Verletzungen ihrer Eltern aufgespürt. Diese wirken nach und entwickeln eine eigene Dynamik (transgenerative Weitergabe von Traumata). Die Gründe für Fehlentwicklungen sind vielfältig. Dabei geht es nicht um eine Beurteilung oder Festlegung von außen, sondern um das subjektive Aufspüren des Leidenden, seiner erlebten Defizite in Kindheit und Jugend. Folgende Ursachen haben mir meine Patientinnen und Patienten geschildert: Das Aufwachsen mit nur einem Elternteil, Vernachlässigung und mangelnde Struktur, Prügel, keine Grenzen bekommen, Enttäuschungen in der Ehe der Eltern, Arbeitslosigkeit, Trennung der Eltern, der Kampf um das Kind, materielle Not, Außenseitertum in Wohngegend oder Schule, körperliche Behinderung, Heimerziehung, Alkoholismus eines Elternteils, die frustrierende Arbeitssituation des Vaters oder der Mutter, dem Kind eine »heile Welt« vorspielen, Tabus und Sprachlosigkeit, uneheliche Geburt, sexueller Missbrauch, das Kind als Marionette der Eltern, wohlhabende, aber desinteressierte Eltern, psychisch kranke Mutter/Vater, Suizid in der Familie (Elternteil oder Geschwister), Fehlgeburt vor oder nach der eigenen Geburt, überängstliche Mutter, aggressiver Vater, unerwünschtes Kind, das »falsche« Geschlecht usw. Diese Erlebnisse hinterlassen bleibende Spuren. Oftmals bildet sich erst nach Jahren oder Jahrzehnten ein Symptom aus diesen Kindheitsbedingungen heraus. Vielen Menschen fällt es schwer, diese Zusammenhänge aufzuspüren und zu erkennen. Wie verläuft nun eine Psychotherapieeinheit nach der Pesso-Methode?
Ablauf der Pesso-Psychotherapie (PBSP) Albert Pesso und Diane Boyden begannen ihren Weg als Tänzer und Tänzerin. Beim Unterrichten beobachteten sie, dass manche Tanzende bestimmte Bewegungen nicht ausführen konnten, da diese durch die Erfahrungen ihres eigenen Lebens blockiert waren. Sie entwarfen Übungsprogramme, die auch die persönlichen Umstände der Tanzenden mit einbezogen. Allmählich entwickelte sich daraus ein ganzheitliches körperorientiertes Therapieverfahren, dessen Schwerpunkt in der Behandlung von Einzelnen in der Gruppe liegt. Pesso erhielt 2012 den »Lifetime-Achievement Award« der USABP, der amerikanischen Vereinigung für Körperpsychotherapie.
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Eine Therapiesitzung, die von Pesso Struktur genannt wird, besteht aus vier Abschnitten. Ausgangspunkt ist die Gegenwartssituation des Klienten, die wahre Szene genannt wird. Dann werden Zusammenhänge mit der Vergangenheit aufgespürt, was zur historischen Szene führt. Ab da beginnt die Arbeit, ein neues hypothetisches Gedächtnis und das Antidot zu kreieren – eine Art Gegenmittel zu den nicht befriedigten Grund- und Entwicklungsbedürfnissen in der Kindheit –, um von dort aus neue Perspektiven ins Auge zu fassen. Sie können sich vier Quadranten vorstellen. Wahre Szene, historische Szene, Antidot, neue Perspektiven. Erwachsene Klienten bekommen die Möglichkeit, für das »fühlende Kind« in sich »heilende Gegenbilder« zu entwerfen. Sie erhalten eine stimmige Antwort auf die Bedürfnisse von damals. Die neue hypothetische Vergangenheit kann auf der körperlich-emotionalen Ebene verankert werden, sodass sie wieder erinnert werden kann. Therapeut und Klient schließen einen Kontrakt, gemeinsam für dieses gute Ende zu sorgen. Der Name Struktur weist darauf hin, dass es sich um eine gut strukturierte und strukturierende Psychotherapie handelt, die mit vielen genau durchdachten Ritualen versehen ist. In einer Struktur sitzen sich zum Beispiel eine Klientin und ein Therapeut gegenüber. Der Therapeut macht keinerlei Vorgaben, sondern wartet, bis die Klientin das Gespräch eröffnet. Er wertet und urteilt nicht und kreiert auf diese Weise die sogenannte Möglichkeitssphäre. Sie ist offen: Die Klientin kann mit all ihren Gefühlen in Berührung kommen, auch solchen, von denen sie dachte, sie müsste sie von sich weisen oder verbergen (Ärger, Wut, Verletzlichkeit, Kränkung usw.). Sie darf darauf vertrauen, dass sie sein kann, wer sie ist. In dieser Atmosphäre kann sie entdecken, ausdrücken und integrieren. Therapeut und Klientin begeben sich auf den Weg, Defizite und Mängel bei der Bewältigung der Lebensaufgaben aufzuspüren und heilsame Gegenbilder zu finden. Meist beginnt etwa ein Klient mit der Schilderung eines Gegenwartsproblems, der wahren Szene. Darin werden Inhalte des gegenwärtigen Erlebens auf die Bühne der Struktur gebracht. Sie enthalten immer auch Interaktionserfahrungen aus der Vergangenheit, denn das Bewusstsein des Erwachsenen ist durchwoben von den gegenwärtigen Gefühlen des damaligen Kindes. Diese werden im Gesicht
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des Klienten sichtbar und im Microtracking benannt. Emotionen verändern immer die Mimik. Mit einem kleinen Handzeichen würde der Therapeut eine symbolische Zeugenfigur einführen und ihr seine Stimme leihen: Wenn eine Zeugenfigur hier wäre, würde sie sagen: »Ich sehe, wie sehnsüchtig du dich fühlst, wenn du dich erinnerst, wie sehr du dir Orientierung und Entscheidungshilfe von deinem Vater gewünscht hättest.« Dabei wiederholt er wortgetreu den vom Klienten erwähnten Kontext. Wenn die Zeugenaussage stimmt, fühlt sich der Klient gesehen und verstanden, und das stärkt sein Vertrauen in den Therapeuten und in seinen Werdensprozess. Ein weiteres Element des Microtracking betrifft den Umgang mit Wertungen, inneren Schlussfolgerungen oder Lebensstrategien des Klienten. Sie werden in Form von Stimmen nach außen gebracht, sodass dem Klienten seine inneren Einstellungen und Handlungsmaximen bewusst werden. Oftmals wirken sie wie ein inneres Kommando, zum Beispiel »Halte deine Gefühle unter Kontrolle« oder »Fühle nichts«, »Du bist mit diesen Gefühlen anderen zu viel«. Diese Stimmen haben verschiedene Qualitäten wie etwa die einer moralischen Bewertung, einer Schutzstrategie, der Warnung oder der inneren Wahrheit. Sobald etwa der Klient während seiner Schilderungen eine Person erwähnt, wird für diese ein Platzhalter auf die Strukturbühne gebracht. Für den Platzhalter wählt der Klient ein kleines Objekt, das er vor sich auf den Fußboden legt (z. B. ein Stein oder ein Stoffkissen). Der Platzhalter stellt eine Art Datenbank dar von allen Informationen, die der Klient über diese Person hat, sowohl aus der Vergangenheit als auch aus der Gegenwart. Beim Betrachten dieser Datenbank fallen dem Klienten oft historische Parallelen zu den Gegenwartsgefühlen ein. Nehmen wir an, der Klient hat das Gefühl, dass in der Ehe alles er entscheiden muss. Und plötzlich fühlt er sich an seinen Vater erinnert, von dem er sich mehr Orientierung und Entscheidungshilfe gewünscht hätte. Dann würden für diese beiden Personen Platzhalter gewählt, sodass der Klient alle Informationen durch seinen Kopf gehen lassen kann, die beim Anblick dieser Platzhalter auftauchen. Und bald würde klar, dass der Klient die Erlebnisse mit dem Vater auf den Ehepartner überträgt oder projiziert. In diesem Fall würde ein winziges Teilchen auf den Platzhalter des Ehepartners
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gelegt, welches das Prinzip des projizierten Vaters beinhaltet. Dieses Teilchen heißt deswegen Prinzip. Die Projektion wird so anschaulich. Am Ende der Struktur wird sie aufgehoben und durch ein Ritual wieder auf ihren Ursprungsplatz, also den Vater, zurückgeführt. Die Platzhalter samt Prinzipien sind wichtige Elemente, um Erfahrungen nach außen zu bringen und mit Abstand betrachten zu können. Eine Therapeutin beispielsweise ist dabei wie eine Assistentin behilflich, lässt sich aber vom Unbewussten des Klienten leiten. Noch ein letztes Element gehört in diesen Prozess. Dafür rufen wir uns noch einmal in Erinnerung, dass unsere Wahrnehmung immer mit Emotionen verknüpft ist. Und Emotionen lösen Körperreaktionen aus. Schon bloße Geschichten, die etwas Ungerechtes oder irgendwie lückenhaft Unvollkommenes beinhalten, haben einen machtvollen Effekt auf uns. Unser geistiger Körper fühlt sich, ob wir es wissen oder nicht, sofort aufgerufen, etwas dafür zu tun, das die Situation gerecht und vollständig macht. Organismus und Energiehaushalt stellen sich dann ganz in den Dienst dieser Aufgabe. Wir brauchen nur vom vergangenen Unrecht zu hören, und dann gehört diese Geschichte auch zu unserer eigenen Biografie. Aber unsere angeborene Sehnsucht nach Vollständigkeit springt auch an, wenn zum Beispiel ein Elternteil – nehmen wir an, es ist der Vater (durch Krieg, Krankheit, Scheidung) – im Familienverbund fehlt. Das Kind wird versuchen, den Vater in seiner unbewussten Vorstellung zu ersetzen. Es schlüpft in die Rolle des Partners für die Mutter, weil es weiß, dass Eltern ein Paar bilden und alles andere sich nicht komplett und richtig anfühlen würde. Pesso nennt dieses Phänomen Löcher im Rollengefüge. Die Übernahme einer vakanten Rolle stellt für das Kind eine gewaltige Aufgabe dar, die seinem Alter nicht angemessen ist und ihm enorme Energien abverlangt. Um nun den Klienten mit den Gefühlen des damaligen Kindes entlasten zu können, zeigt die Therapeutin diesem sogenannte Filme. Sie benutzt dazu wieder kleine Objekte, die aber eine Extrabühne erhalten, und entwirft dabei Szenen, wie sie hätten sein müssen, damit das Unrecht oder das Unvollständige gar nicht erst aufgetaucht wäre. In der Regel fallen dem Klienten bei der Schilderung seiner Probleme historische Parallelen zu den Gegenwartsgefühlen ein, denn so ist unser Gehirn beschaffen. Das Damals bildet den Ausgangspunkt für unsere Gefühlsorganisation. Nehmen wir an, der Klient klagt
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darüber, dass seine Eltern sich immer gestritten haben, dann würde die Therapeutin für diese Szene in der damaligen Zeit ideale Elternfiguren installieren, die sich nicht streiten. Die negativen Aspekte würden umgekehrt. Auch Vorstellungen lösen Emotionen aus. Durch eine Umkehrung wird aber nicht die Gegenwart verbessert, sondern die damalige Situation erhält auf hypothetischer Ebene eine neue Qualität, die vor die historische Erfahrung gesetzt wird. Aus all den verschiedenen Aspekten werden wie in einem Puzzle nach und nach neue, ideale Eltern oder andere ideale Figuren aus der Vergangenheit geformt, die nur für diesen Klienten passend optimale Entwicklungsmöglichkeiten geboten hätten (Pesso u. Perquin, 2008; Schrenker, 2008; Schrenker u. Fischer-Bartelmann, 2003).
Körperwahrnehmung und Diagnostik: Der reflexhafte entspannte Stand Der Körper gibt uns Auskunft über unsere Befindlichkeiten. Dabei sollten wir die Fähigkeit entwickeln, in den Körper hineinzuspüren und ihn zu »lesen«. Die Übung »Der reflexhafte entspannte Stand« soll das Bewusstsein und die Empfindsamkeit für Körpersignale erhöhen und damit auch für die emotionale Geschichte, die möglicherweise mit ihnen verbunden ist. Übung: »Der reflexhafte entspannte Stand« zur Selbsterfahrung
Der reflexhafte entspannte Stand wird erreicht, wenn Sie Ihre Muskeln so weit wie möglich locker lassen und ebenso auf Emotionen, Gedanken und Bilder verzichten. Er führt dazu, dass Sie der Schwerkraft nachgeben und sich auf Ihre Reflexe verlassen, die den Körper aufrichten. In dieser Entspannung im Stehen gehen Sie auf eine Entdeckungsreise durch Ihren Körper: Welche Empfindungen nehmen Sie wahr? Haben Sie Spannungen im Körper, spüren Sie ein Zittern, Hitze oder Kälte, vielleicht ein Kribbeln? Wenn Sie möchten, dann legen Sie das Buch kurz zur Seite und stehen Sie auf. Stellen Sie sich entspannt hin, gehen Sie leicht in die Knie, der Bauch wölbt sich etwas nach vorne, die Schultern und die Arme sind locker und der Kopf neigt sich auf die Brust. Wenn es geht, dann machen Sie die Augen zu (Perquin, 2008, S. 128).
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Die von Ihnen aufgespürten Empfindungen verstehen wir als Indikatoren von gestauten Emotionen, von unterdrückten Wünschen oder Impulsen. Diese Wahrnehmungen sind oftmals Ausgangspunkte für die therapeutische Arbeit. Man könnte erforschen, welcher Handlungsimpuls oder emotionale Ausdruck aus diesen Körperempfindungen entsteht und welche Art von Interaktion das befriedigendste Gefühl herstellt. Wenn Sie das selbst überlegen wollen, dann rufen Sie sich die fünf Grundbedürfnisse in Erinnerung: Platz, Nahrung, Schutz, Unterstützung und Begrenzung. Das Platzthema kann im Körper etwa durch schmerzhafte Füße oder Beine zum Ausdruck kommen, das Nahrungsthema durch einen trockenen Mund oder indem sich der Magen-Darm-Trakt meldet, das Schutzthema durch Atemnot oder Spannungen im Brustkorb, das Unterstützungsthema durch weiche Knie oder Rückenschmerzen, das Begrenzungsthema durch ein Kribbeln in den Händen oder insgesamt auf der Haut. Eine befriedigende Interaktion muss jeweils mit dem Betreffenden abgestimmt werden. In der Therapiesituation wird dann mit Rollenspielern eine heilsame Szene entwickelt, in der der Patient/die Patientin das bekommt, was er/sie als Kind gebraucht hätte. Der reflexhafte entspannte Stand zeigt uns die Balance zwischen Natur (Schwerkraftfeld) und Nervensystem (neuromuskuläre Fähigkeiten) auf. So gelangen wir zu einer Wahrnehmung des Körperinneren und stoßen vielleicht auf blockierte Impulse, die darauf warten, wieder lebendig zu werden.
Die heilsame Szene In der Pesso-Therapie geht es darum, in Zusammenarbeit mit beispielsweise einem Klienten ein neues hypothetisches Gedächtnis auf symbolischer Ebene zu kreieren. Das geschieht anhand neuer Erfahrungen, die in einer hypothetischen Vergangenheit angesiedelt sind und sich zu einem Antidot – Gegenmittel – verdichten. Solche hypothetischen Erinnerungen sind lebensbejahend und auf die zur Reifung erforderlichen Bedürfnisse eines Kindes zugeschnitten. Am effektivsten kann in dieser Therapie mit einer Gruppe gearbeitet werden. Die Gruppenmitglieder können dann herangezogen werden zur Inszenierung einer heilsamen Szene mit idealen Eltern. Vom Klien-
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ten gewählt, stehen sie ganz in seinem Dienst. Sie geben ihm das, was er in der Kindheit gebraucht hätte, und zwar innerhalb der richtigen Verwandtschaftsbeziehung zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Art und Weise. Die Therapeutin/der Therapeut folgt dabei den ausgedrückten Emotionen, wie sie sich im Gesicht, in der Körperhaltung, in der Gestik, in der Sprachmelodie usw. zeigen. Unser Körper und unser Gefühlsleben geben Auskunft über verborgene Sehnsüchte und Bedürfnisse. Die Rollenspieler erhalten genaue Anweisungen für ihren Einsatz, der körperlich und/oder sprachlich sein kann. Um klarzustellen, dass ihr Einsatz auf einer hypothetisch-symbolischen Ebene stattfindet, leiten die idealen Eltern ihre Sätze mit folgenden Worten ein: »Wenn wir damals deine idealen Eltern gewesen wären, als du ein Kind warst, hättest du nicht allein für deine Orientierung sorgen müssen. Wir hätten dich nicht im Stich gelassen, sondern unterstützt und mit dir zusammen den für dich passenden Weg gesucht.« Und der ideale Vater könnte ergänzen: »Wenn ich damals dein idealer Vater gewesen wäre, hättest du dich bei mir anlehnen können und Halt gefunden.« Der Klient kann dann sehen, wie die idealen Eltern sich liebevoll anschauen und zum Zeichen ihrer Verbundenheit umarmt nebeneinanderstehen. Dann hätte er ausprobieren können, ob ein idealer Vater auch wirklich standhaft ist, indem er sich stehend mit dem Rücken an den aufrechten Vater anlehnt. Dabei geht es nicht um Trost. Vielmehr wird in einer heilsamen Szene der Schaden von vornherein abgewendet. In der Vorstellung kommt der Klient bereits von idealen Eltern zur Welt. Angesichts der neuen Erfahrung erlebt er oft gemischte Gefühle. Auf der einen Seite empfindet er Kummer, wenn ihm bewusst wird, was er vermisst hat, auf der anderen Seite Erleichterung, wenn er die Erfüllung seiner Sehnsüchte erlebt. Die sinnliche Erfahrung von idealen Eltern ermöglicht dem Klienten, sein wahres Selbst zu finden und sein eigentliches Potenzial auszuschöpfen. Wenn das heilende Gegenbild eine wirklich stimmige Passform darstellt für das, was der Klient in dieser Zeit seiner Kindheit im Kontakt gebraucht hätte, wird dies fast immer am ganzen Körper sichtbar. Er wirkt entspannt, aber auch energiereicher und vitalisiert, das Gesicht bekommt einen Ausdruck von innerem Frieden. Aus dieser Erfahrung heraus verändert sich die Wahrnehmung auch der Gegenwart, und daraus resultieren andere
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Gefühle, andere Gedanken, anderes Handeln. In die Zukunftsperspektiven ist ein Lichtschein eingekehrt, und er kann sich auf den Weg machen, der zu werden, der er wirklich ist.
Literatur Damasio, A. (1997). Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Berlin: List. Damasio, A. (2011). Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins. München: Siedler. Freud, S. (1917/1969). Eine Kindheitserinnerung aus ›Dichtung und Wahrheit‹. In S. Freud, Studienausgabe, Bd. X. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Geuter, U. (2006). Körperpsychotherapie – Der körperbezogene Ansatz im neueren wissenschaftlichen Diskurs der Psychotherapie, Teil 1 u. 2. Psychotherapeutenjournal, 5 (2), 116–122; 5 (3), 258–264. Joyce, J. (1987). Ein betrüblicher Fall. In J. Joyce, Werkausgabe in sechs Bänden, Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Müller-Braunschweig, H. (2007). Gedanken zum Thema. In P. Geißler, G. Heisterkamp (Hrsg.), Psychoanalyse der Lebensbewegungen. Zum körperlichen Geschehen in der psychoanalytischen Therapie – Ein Lehrbuch (S. 1–20). Wien u. New York: Springer. Perquin, L. (2008). Strukturierte Übungen als Werkzeuge im PBSP. In A. Pesso, L. Perquin (Hrsg.), Die Bühnen des Bewusstseins: PBSP – ein ressourcenorientierter, neurobiologisch fundierter Ansatz der Körper-, Emotions- und Familientherapie (S. 127–136). München: CIP-Medien. Pesso, A., Perquin, L. (2008). Die Bühnen des Bewusstseins: PBSP – ein ressourcenorientierter, neurobiologisch fundierter Ansatz der Körper-, Emotionsund Familientherapie. München: CIP-Medien. Ringwelski, B. (2006). Focusing und »Der Spinoza Effekt« von A. Damasio. Zugriff am 04.07.2016 unter https://www.gwg-ev.org/sites/default/files/shopdownloads/GPB-2006–4-Ringwelski-SpinozaEffekt.pdf Rothenberger, S. E. (2010). Einfluss pränataler Stressbelastung auf das Kind. Zugriff am 04.07.2016 unter www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/11824 Schrenker, L. (2008). Pesso-Therapie. Das Wissen zur Heilung liegt in uns. Stuttgart: Klett-Cotta. Schrenker, L., Fischer-Bartelmann, B. (2003). Pesso Boyden System Psychomotor (PBSP). Pesso-Therapie – ein in Deutschland neues ganzheitliches Verfahren einer körperorientierten Form der Gruppentherapie. Psychotherapie, 8 (2), 306–314. Steiner, G. (2006). Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stern, D. (1992). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta. Stern, D. (2005). Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.
Anett Renner
SACHT entfacht Mit systemischer Achtsamkeit Ressourcen entdecken und Gefühle nutzen für ein konstruktives Miteinander und Gesundheit
Mit Komplexität und Belastungen im Alltag souverän und gelassen umzugehen und dabei sich selbst nicht zu vergessen, das wünschen sich viele Menschen mit hohen fachlichen und kommunikativen Anforderungen. Wie kann Achtsamkeit in einer Gesellschaft mit zunehmendem Anforderungs-, Zeit- und Veränderungsdruck, Ressourcenverbrauch und steigendem Konfliktpotenzial gelingen? Jede Zeit hat ihre Trends und großen Bewegungen. So wird seit einigen Jahren das Bedürfnis nach Entschleunigung, nach einer gewissen Sinnsuche und einem Blick auf fernöstliche Traditionen erkennbar. Viele Menschen in unserem Kulturkreis empfinden es jedoch als schwierig, die sicherlich nützlichen Übungen zur Innenschau und Meditation, die oft Ruhe oder zumindest einen willigen Geist erfordern, adäquat anzuwenden und umzusetzen. Der Kontext hier ist oft laut, hektisch und wenig besonnen. Abertausend Botschaften strömen täglich auf uns ein: Globalisierung, technische Entwicklung, kulturelle Unterschiedlichkeit. Der Umgang mit diversen Reizen, Widersprüchlichkeiten und Komplexitäten fördert Gefühle zutage, die nicht immer positiv, gelassen und freudvoll sind. Die hohe Anforderungs- und Komplexitätszunahme unserer Zeit bei gleichzeitiger Minimierung von Ressourcen, Rückzugs- und Regenerationsmöglichkeiten kann ein ständiges Druckgefühl erzeugen. Gerade Menschen, die besonders engagiert und kompetent in ihrer Tätigkeit sind, haben vermehrt Defizitgefühle und sind besonders Burnout-gefährdet (Schmidt, 2013). Körperliche wie seelische Signale verweisen darauf, dass ein Gleichgewicht gefährdet und ein Umlenken nötig ist, um die Balance wiederherzustellen. Wird keine Regeneration gesucht und gelebt, kommt es irgendwann zu einer so großen Erschöpfung, dass die Handlungsfähigkeit verloren geht.
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Stress und Burnout sind also nicht nur für unsere Klientel, sondern auch für Fachkräfte ein relevantes Thema. Eine stetige Zunahme von stressbedingten Erkrankungen und Phänomenen bestätigen auch das Statistisches Bundesamt sowie Berichte der Krankenkassen (Jahresberichte AOK, BKK, DAK). Generell ist der Umgang mit destruktiven Phänomenen oder Emotionen und Aggressionen im Arbeitskontext, besonders in Beratung, Coaching oder Therapie, ein spannendes, jedoch oft einseitig betrachtetes Thema, nicht selten mit einem Fokus auf Defizite.
Stress und Gefühle regulieren mit systemischer Achtsamkeit Wie mit den Gefühlen und eigenen Ressourcen gearbeitet bzw. begleitet werden kann und wie der konstruktive Umgang mit Spannungen und Widersprüchlichkeiten gelingt, zeigt das Systemische Emotions- und Ressourcen-Management (SRM©) nach Anett Renner. Es macht ein erweitertes Angebot zur »Achtsamkeitsbewegung«, nämlich gerade die Emotionen und den Kontext in den Fokus zu rücken und für Erkenntnis und Veränderung zu nutzen. In der Achtsamkeit zeigt sich die Aufmerksamkeit für die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen: Die Sinne sind geschärft, Emotionen werden wahrnehmbar und Gelassenheit stellt sich mit einem gewissen Abstand zu Problemen ein. Es entsteht ein geschützter Raum, der Rückzug ermöglicht und Stärkung verspricht, ein Raum für innere und äußere Freiheit. Oft wird Achtsamkeit individualistisch betrachtet. Das Systemische Ressourcen-Management© bietet neue Anregungen, Achtsamkeit in einem komplexen, sich permanent ändernden Anforderungsgefüge zu entwickeln.
Das Konzept Systemisches Ressourcen-Management© SRM© ist ein wirksames psychologisches Konzept für positive Kommunikation und zum Stressmanagement, das der Selbst- und Fremdfürsorge dienen kann. Es fördert die Entwicklung einer ressourcenorientierten Haltung, die Entfaltung von Selbstwirksamkeit und eine
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psychische Gesundheitsfürsorge aller Beteiligten im Stressgeschehen. Mit einer einfachen Sprache, einem verständlichen Modell und positiv praxiswirksamen Prinzipien zeigt es, wie eine wertschätzende ressourcenorientierte Kommunikation bei Spannungen, negativen Gefühlen oder im Umgang mit Symptomen gelingen kann. Damit fördert es die Grundprinzipien einer salutogenetischen Betrachtung und Arbeitsweise, wie Kohärenzerleben, Versteh- und Machbarkeit sowie Sinnhaftigkeit (Antonovsky, 1997). SRM© vermittelt mit der systemischen Achtsamkeit eine Haltung, die es ermöglicht, Menschen unter Berücksichtigung ihrer Anforderungen und Bedürfnisse ihre Ressourcen aufzuzeigen und nutzbar zu machen. Damit ist es möglich, konstruktiv Systeme oder Prozesse zu gestalten, auch wenn es scheinbar keine Hoffnung bzw. viele gescheiterte Erfahrungen gibt. Mit SRM© können Themen wie Stress, Emotionen, Aggressionen ressourcen- und kontextbezogen betrachtet und gestaltet werden, gleichzeitig im Arbeits-, Lern-, Coaching- sowie Therapie-Kontext enttabuisiert werden. Das Konzept wurde ursprünglich aus der Arbeit mit Hochleistungsträgern aus Sport und Wirtschaft und mit psychisch bzw. körperlich beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen entwickelt. Es wird wirksam in den Bereichen: ȤȤ Gesundheitsföderung, ȤȤ Coaching, Beratung, ȤȤ Leistungssport und ȤȤ Management sowie ȤȤ Supervison von psychosozialen Fachkräften (Pflege, Psychiatrie, Kinder- und Jugendhilfe etc.) angewandt.
Das Systemische Ressourcen-Management (SRM©) ist konsequent ressourcenorientiert. Es bezieht Stress, Gefühle, Konflikte und Aggressionen in seinem Kontext und Beziehungsgefüge mit ein und fokussiert die Möglichkeiten, die bei den Betroffenen selbst liegen. Die Grundhaltung wird auch »systemische Achtsamkeit« genannt.
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Stress und Gefühle unter einem ressourcenorientierten Blick Gerade in der Alltagssprache ist Stress oft negativ besetzt. Stress ist ein Zustand außergewöhnlicher körperlicher, seelischer und geistiger Beanspruchungen. Sämtliche Sinne und Körperfunktionen werden auf ein Ziel ausgerichtet. Stress ist evolutionstheoretisch eine »natürliche« Reaktion, eine unbewusst reflexartige Reaktion, die rasche Kampf- und Fluchtbereitschaft und damit Überlebensfähigkeit ermöglicht (vgl. Lazarus, 2005). In unserem heutigen Arbeitskontext entsteht Stress häufig aufgrund von fünf Belastungsfaktoren (vgl. Lohmann-Haislah, 2012): ȤȤ wenn verschiedene Arbeiten gleichzeitig betreut werden müssen (Multitasking), ȤȤ wenn starker Termin- und Leistungsdruck vorherrschen, ȤȤ wenn Arbeitsvorgänge ständig wiederkehren, monotone Arbeiten erledigt werden, ȤȤ bei vielen und ständigen Arbeitsunterbrechungen, ȤȤ wenn Menschen schnell arbeiten müssen. Stress gehört zum Leben und ist gesund im Sinne von »entwicklungsförderlich«, wenn genug Ressourcen im Umgang damit vorhanden sind oder ausgebildet werden (Abbildung 1).
Abbildung 1: Stressoren und Ressourcen im Gleichgewicht
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In der systemisch körperorientierten Praxis greifen wir das Bild der Waage auf, um das Gleich- oder Ungleichgewicht mithilfe von Kissen oder anderen Gegenständen auf den seitlich ausgestreckten Händen für den Klienten erlebbar zu machen. Dadurch wird die oft empfundene innere Last und Schwere externalisiert, also »darstellbar und fühlbar« gemacht (White u. Epston, 2006). Diese Übung sollte mit intensiven Atemübungen unterstützt werden (z. B. Verbundatmung nach Grof, 2008), wobei der Fokus besonders auf dem Ausatmen beim Tragen dieser Lasten liegen sollte. Während des neuen Einatmens kann Energiezufuhr imaginiert werden. Mit der Frage »Wie viel können Sie noch tragen?« kann zur achtsamen Grenzregulation eingeladen und ein nützliches »Stopp« erarbeitet werden. Gerade mithilfe der Verbundatmung kann die emotional öffnende und entlastende Wirkung dieser Übung gefördert werden (Wienands, 2010).
Stressempfinden und Stressbewältigung sind sehr individuell. Damit einhergehend gibt es verschiedene emotionale Erlebens- und Verhaltensweisen, die im Folgenden genauer beleuchtet werden. Durch Stress werden die Aufmerksamkeit, Leistungsfähigkeit und Motivation gesteigert, ohne dabei dem Körper zu schaden. Stress wird dann zu einem negativen Phänomen, wenn er chronisch wird, also zu oft und dauerhaft auftritt und nicht adäquat bewältigt werden kann. Wann Stress negativ wird, hängt von den Bewertungen und Bewältigungsmöglichkeiten einer Person ab – hier gibt es keine »objektiven Kriterien« – und von den (fehlenden) Ressourcen auf individueller Ebene (vgl. Lazarus, 2005) oder im Kontext. Wenn jedoch das Belastungs- und Ressourcengefüge dauerhaft im Ungleichgewicht ist (Abbildung 2), können destruktive Stresserscheinungen auftreten wie etwa Burnout (Maslach, 1976, 1984, 1999) oder Abhängigkeitsphänomene (Renner u. Steinhilper, 2014). Solche Symptome sind auch Ressourcen im Umgang mit Belastungen oder Anforderungen. Destruktive Phänomene sind Ressourcen nach mehreren »konstruktiven« Aufmerkversuchen im Vorfeld. Ressourcen können Fähigkeiten und Gefühle sein, Stärken, Talente, Bewältigungsmöglichkeiten oder auch ganz banal das Wissen im Umgang mit Problemen und Belastungen. Ressourcen las-
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Abbildung 2: Stressoren und Ressourcen im Ungleichgewicht
sen sich in einer Person finden, aber auch im »System«, wie der Familie, der Arbeit oder im Umfeld, zum Beispiel durch Unterstützung, Sicherheiten, Trost oder Vorbilder. Darüber hinaus zählen auch äußere Kraftquellen, wie Erholungsmöglichkeiten, ein kraftspendender Ort oder unterstützende Beziehungen dazu. Auf der organisationalen Ebene sind es beispielsweise: ȤȤ wertschätzende Kultur, ȤȤ klare Regeln, ȤȤ finanzielle Ressourcen, ȤȤ Handlungs- und Entscheidungsspielräume. Nach dem Sichtbarmachen relevanter Stressoren und der externalisierten Positionierung dieser, außerhalb der Person im Raum, in Form von Symbolen oder Kissen wird der Klient nach den eigenen wichtigsten Ressourcen im Umgang damit befragt. Die Ressourcen sollten ganz konkret, gern auch mit Körpergefühlen beschrieben werden. Die gesammelten Ressourcen werden symbolisch wie oben erläutert vom Klienten dazugelegt (vorn, hinten, seitlich, oben, unten etc. positioniert) und als spürbare Entlastungserfahrungen erlebbar gemacht. Schon allein durch die lokale Veränderung des Anforderungs- oder Stressorengefüges – im Sinne von Distanz zu dem einen oder anderen Stressor oder durch Umpositionierungen – können das Entlastungsempfinden und die Gestaltungskompetenz beim Klienten angeregt werden.
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Stressoren und Ressourcen können auch im oder am Körper lokalisiert werden, etwa mit der Frage: »Wo in oder an Ihrem Körper spüren Sie Stressoren? Wo spüren Sie Ressourcen? Wenn ich Ihren Körper fragen würde, wo würde sich dieser Stressor oder diese Ressource befinden?« Bei hohen Belastungen ist eine begleitende Atemarbeit zu empfehlen: Der Klient wird eingeladen, zur am stärksten belasteten Stelle im Körper zu atmen und sich eine kraftspendende Energie, beispielsweise in Form eines Lichts oder eines schützenden ummantelnden, angenehmen Nebels, vorzustellen. Nach vielen vorhergehenden Aufmerkversuchen im Stressgeschehen ist Burnout als fortgeschrittenes Stadium im Bereich des destruktiven Stressgeschehens einzuordnen. Spätestens jetzt sind ein Unterbrechen der Routinen und professionelle Hilfe nötig, um aus der für Seele und Körper gesundheitsgefährdenden Phase herauszukommen.
Burnout und andere destruktive Phänomene werden im SRM© als »sinnvolle« Lösungsversuche auf ein unausgewogenes Belastungs-, Bedürfnis- und Bewältigungsgefüge und dessen systemische Wechselwirkungen hin betrachtet und als Ressourcen nutzbar gemacht.
Neben der beschriebenen systemisch ressourcenorientierten Grundhaltung arbeitet SRM© mit einem ganzheitlichen Modell der Ressourcen-ACHT© nach Renner (2012) zum Erkennen, Verstehen und Gestalten von Gefühlen, Stress und Aggressionen.
Wie wird die Ressourcen-ACHT© in der Praxis eingesetzt? Das Modell der Ressourcen-ACHT© ist eine hervorragende Möglichkeit, gemeinsam mit dem und allen Betroffenen ȤȤ die Situation bzw. das Stress-, Gefühls-, Konflikt- oder Krankheitserleben zu reflektieren, ȤȤ Ziele zu klären, ȤȤ das emotionale Erleben und Beschreiben sowie ȤȤ den Perspektivwechsel zu fördern,
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ȤȤ Hypothesen zu bilden, wo der Betroffene oder die Bezugspersonen stehen, ȤȤ welche Bedürfnisse zu kurz gekommen sind, ȤȤ die Gefühle des Begleiters in der Beziehung zu reflektieren und ȤȤ Ideen für Interventionen und erste Umsetzungsschritte zu erhalten. Die Visualisierung im Rahmen der »ACHT« reduziert außerdem die Komplexität und hilft dabei, einen konstruktiven Austausch und die Bewältigung zu unterstützen.
Wozu ein Modell? – Die Ressourcen-ACHT© bezogen auf seelisch-körperliche Phänomene Das Modell der Ressourcen-ACHT© macht komplexe emotionale stressbezogene Prozesse versteh-, besprech- und handhabbar. Es stellt gleichzeitig kognitive, emotionale, körperliche und beziehungsbezogene Phänomene dar. Als liegende ACHT ist es wie eine Brille, durch die man schauen kann, um ein Verständnis für komplexe, zum Teil auch unbewusste Phänomene rund um Stress und emotionales Erleben zu entwickeln und positiv zu beeinflussen. Es ist aus der Praxis entstanden und vereint anerkannte Theorien und Methoden der Gesundheitswissenschaft, Arbeits- und Organisationspsychologie, Neurobiologie, Therapie und Medizin. Die Ressourcen-ACHT© ist eine Weiterentwicklung der Aggressions-ACHT© (Renner u. Schöwe, 2012). In die Entwicklung des Modells Ressourcen-ACHT© und der Tools des Systemischen Ressourcen-Managements© sind maßgeblich eingeflossen: ȤȤ Systemisch-konstruktivistische Ansätze (aufgeführt in Wienands, 2005) ȤȤ die Ansätze zur Salutogenese (nach Antonovsky, 1997), ȤȤ die Ansätze zur Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit über aktive Lösungsorientierung und Selbstwirksamkeit; nach Rutter, 2000; Werner, 2000), ȤȤ neurobiologische Ansätze (Hüther, 2009; Roth, 2004; Bauer, 2004), ȤȤ die (hypno-)systemischen Ansätze (Schmidt, 2013; Trenkle, 2014; Wilk, 2012),
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ȤȤ traumatherapeutische Ansätze (Reddemann, 2003; Watkins u. Watkins, 2003) ȤȤ systemisch-körpertherapeutische Ansätze (Wienands, 2005, 2010) sowie ȤȤ Ansätze zum Flow-Gefühl (intrinsische Motive und freudvolles Erleben) nach Csikszentmihalyi und Charpentier (2007). Das Modell ist eine Metapher, kein Dogma. Es dient der Hypothesenbildung, Ideenfindung und nützlichen Interventionsplanung. Mithilfe der Ressourcen-ACHT© lassen sich konstruktive Prozesse von destruktiven Stress-, Konflikt- und Aggressionsprozessen unterscheiden. Das Modell bezieht neben der individuellen Ebene auch den Kontext – Familie, mehrgenerationale Ebenen, Unterstützungssystem, pädagogisches oder Arbeitssystem, therapeutisches System, organisationale Systeme – mit ein. So können eine Orientierung in komplexen Situationen und Emotionsgefügen sowie ein konstruktiver Austausch gefördert werden. Das Modell bewirkt eine hilfreiche Haltungsänderung – der Blick wird auf Ressourcen und Lösungen gerichtet – und fördert die Fähigkeit, selbst etwas bewirken oder gestalten zu können.
Abbildung 3: Die Erfahrungs-ACHT in der Ressourcen-ACHT©, eine Unterschei dung von konstruktiven und destruktiven Stress- und Emotionsphänomenen
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Im Folgenden wird auf die graue, liegende Acht (Erfahrungs-ACHT) als Ausschnitt des Modells Bezug genommen. Sie spiegelt die wesentlichen Emotionsphänomene im Stress- und Aggressionsgeschehen wider. Der linke Teil der Acht zeigt die konstruktiven, der rechte Teil die destruktiven Phänomene und Prozesse. Darüber hinaus gibt es noch andere Achten (hier nicht abgebildet) als Metaphern zur Beschreibung von Angst, Scham und zu unbewussten Phänomenen. Die Gefühle können sich unterschiedlich je nach Situation und den zugrunde liegenden Bewältigungsmöglichkeiten zeigen. Gefühle werden hier als Ressource verstanden bzw. als »Aufmerkversuch« auf dahinter liegende Bedürfnisse und unbewusste Phänomene. Sie hängen einmal mit der aktuellen Situation, dem Beziehungsgefüge und dem Kontext zusammen und andererseits auch unmittelbar mit den Beziehungserfahrungen, die Menschen im Laufe ihres Lebens gemacht haben. Dadurch sind Ressourcen und Kompetenzen im Umgang mit Belastungen entstanden. Der linke Teil der Acht zeigt die konstruktiven, der rechte Teil der Acht die destruktiven Phänomene und Prozesse. Alle Menschen haben Bedürfnisse, etwa nach Nahrung, Sicherheiten, Zugehörigkeit, Anerkennung, Selbstverwirklichung, Liebe oder Gesundheit (symbolisch abgebildet als Dreieck in der Mitte der Acht). Im SRM© sprechen wir auch von »Bedürfnissystemen«, um die komplexen Wechselwirkungen und damit verbundenen Beziehungserfahrungen zu berücksichtigen. Sie wirken mit den durch Sozialisation erworbenen Werten und Einstellungen von »innen«. Im ersten Schritt gleichen Menschen in einer »Ist-und-Soll-Rechnung« innere und auf sie einströmende äußere Anforderungen und Möglichkeiten (z. B. persönliche, berufsbezogene oder gesellschaftliche) ab. Das kann zum einem sehr rational und bewusst geschehen, beispielsweise mit der Frage: »Entsprechen die Aufgaben in meinem Job meinen Fähigkeiten, Werten, Bedürfnissen?« Meistens sind es jedoch komplexe, unbewusste Prozesse, die autonom und binnen Millisekunden ablaufen (Schmidt, 2013). Aus diesem (unbewussten) psychischen Abgleich ergeben sich zunächst Erwartungshaltungen, welche oft die zugrunde liegenden Bedürfnisse von Menschen widerspiegeln. Im »Optimalfall« – äußere Anforderungen und innere Bedürfnisse, Werte, Fähigkeiten sind
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kompatibel – entstehen positive Erwartungen. Diese können sich durch Gefühle wie Vorfreude und Offenheit oder auch in Form von Wünschen, Träumen und Visionen äußern. Gefühle haben keine eindeutige körperliche Phänomenologie, das heißt, sie sind im Erleben und in ihrer Gestalt sehr individuell, auch was die Gestik, Mimik und Körperhaltung betrifft. Die Klienten werden dazu eingeladen, sich die eigenen Erwartungshaltungen und die damit verbundenen Gefühle in einer Beziehungskonstellation, einem Kontext bewusst zu machen. Man kann als Begleiter/-in auch inspirieren, zum Beispiel positive Erwartungshaltungen und Freude körperlich, auch mimisch darstellen (offener, nach vorn gerichteter Blick und Körper, Lachen, ausgebreitete Arme, bereit sein zum »Aufeinanderzugehen« etc.). Unterschiedsbildende Fragen wie »Was haben Sie zu Beginn der Arbeit empfunden?«, »Wo, mit wem gab es einen »magic moment«?, »Woran und worüber freuen Sie sich?«, »Welche Visionen und Träume haben Sie?« können die positiven Erlebenszustände in dieser Phase unterstützen. Die im Modell aufgezeigten Kategorien oder Phasen sind generalisierte Beschreibungsversuche. Sie entwickeln und zeigen sich verschieden, je nach Kontext und zugrunde liegendem Bedürfnis-, Werte- oder Kompetenzsystem. Positive Erwartungen lassen sich unter anderem an einem offenen Blick, einem Lächeln oder einer offenen Körperhaltung erkennen. Im Falle von zu hohen oder unpassenden Anforderungen (z. B. wenn befürchtet wird, der Arbeitsaufgabe nicht gewachsen zu sein bzw. zu viele Anforderungen auf einmal bewältigen zu müssen) kann die Bilanz zu den dahinterstehenden Bedürfnissen (etwa nach Anerkennung) und Werten (wie gut oder die/der Beste zu sein) und auch in Verbindung mit den bisherigen Erfahrungen negativ ausfallen (es zeigt sich beispielsweise fehlendes Vertrauen in sich oder andere, dass ein Unternehmen dieses Mal gelingen kann). Dann äußert sich das auch meist in negativen Erwartungshaltungen bezogen auf eine neue Situation oder einen neuen Kontakt (»Das wird sowieso nichts«, »Ich vertraue mir/dir nicht«, »Es kann nur alles schlimmer werden«). Negative Erwartungen können sich durch positive neue Beziehungserfahrungen (z. B. »Vertrauen kommt entgegen« oder die
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Anforderungen und Ziele werden zugunsten der Fähigkeiten, Bedürfnisse und Werte verändert) in positive Gefühle wandeln, wie z. B. Interesse, Neugier oder Freude. Auf bestehende Aufgaben, Kontakte und Projekte kann man sich gut fokussieren. Die Einstellung ist positiv, neue Aufgaben und Projekte werden neugierig in Angriff genommen. Dies geht mit körperlichen Phänomenen, wie Konzentration, Lächeln, Lachen, Offensein in den Sinnen, einher. Wenn die Anforderungen mit dem Bedürfnis- und Wertegefüge übereinstimmen, dann entwickeln Menschen unmittelbar diese positiven Gefühle und den Antrieb, sich der Situation zu stellen und alles zu probieren bzw. zu aktivieren, was der Anforderungsbewältigung dient. Aus diesen Gefühlen und wiederum positiven Erfahrungen können Menschen in ein Gefühl von Selbstvertrauen und positiver Selbstwirksamkeit, Gelassenheit, Energie und Flow kommen. Man fühlt sich dann kraftvoll und fähig, eine Herausforderung, eine Aufgabe oder eine Rolle zu meistern. Neues Lernen fällt leicht, Engagement und Anteilnahme sind gesteigert. Der Mensch identifiziert sich mit dem, was er tut. Menschen können in diesem Stadium leicht mit Spannungen und Ambivalenzen umgehen, sich Hilfe holen und Unterstützung anbieten. Körperlich gibt es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen An- und Entspannung. Man verfügt über eine gute Selbstregulation. Daraus entstehen wiederum neue positive Erfahrungen und Ideen im Umgang mit Anforderungen oder auch neue bzw. stärkende Kontakte und Erfahrungen (z. B. im Team, in der Familie und unter Freunden, in der Nachbarschaft, im Verein; Innovationsphase). Oft werden jedoch auch vorerst positive Erwartungen enttäuscht und zugrunde liegende Bedürfnisse oder Ansprüche leiden Mangel. Enttäuschungen können sich unterschiedlich zeigen, manchmal in Form von Fragen oder Selbstzweifeln, manchmal in offener Kommunikation darüber (»Ich bin enttäuscht«). Körperlich zeigen sie sich oft im erhöhten Stresspegel, so sind beispielsweise Muskeltonus und Atemfrequenz erhöht, vegetative Prozesse wie Schwitzen nehmen zu, andere, wie etwa Verdauungsaktivitäten, nehmen ab. Mimisch und gestisch zeigen sich herabgesenkte Blicke und Schultern. Enttäuschungen werden in unserem Kulturkreis oft nicht adäquat ent-
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sprechend positiver Emotions- und Stressregulation ausgedrückt, meist sogar übergangen (»Haltung wahren« vs. »Fassade aufrechterhalten«). Damit nimmt man sich und dem Gegenüber häufig die Möglichkeiten, frühzeitig Erwartungen zu korrigieren oder Ziele und Anforderungen zu gestalten. Im weiteren Verlauf können sich negative Erwartungshaltungen und Enttäuschungen in Frust/Ärger oder sogar zu Wut oder Trauer wandeln. All das ist Stress und geht mit psychischen und physischen Reaktionen einher. Schon im Stadium des Sich-ärgerns nimmt der Tunnelblick zu, die Stimme wird lauter oder leiser, das Blut schießt in den Kopf. Wut und Trauer können wiederum unterschiedlich empfunden und ausgedrückt werden. Im SRM© unterscheiden wir laute und stille Wut-/Trauertypen. Dies meint lediglich eine situative Typisierung (im Gegensatz zu Persönlichkeitstypisierungen), die als Kategoriebildung für bedürfnisbezogene Handlungs- und Interventionsplanungen dienlich ist. Menschen des »lauten« Wuttyps in einer Beziehungskonstellation brauchen häufig eher eine Möglichkeit der schnellen Emotionsabfuhr und des Austauschs, wollen beispielsweise gleich reden und es lösen. Stille dagegen wünschen sich erst mal Ruhe und Abstand, sie können nicht gleich reden oder agieren. Lautes Weinen, Klagen oder Schreien, anklagende Blicke, kampfeswillige Gesten demonstrieren das »laute« Zeigen von Wut oder Trauer. Schweigen, Schluchzen, stilles Weinen, den Blick und die Körperhaltung abwenden, etwas »hinunterschlucken« bis hin zum zeitlich begrenzten Rückzug sind typisch für die stillen Reaktionen. Diesem Stadium sind der zunehmende Egozentrismus, ein erhöhter psychischer und physischer Stresspegel und das Gefühl »kurz-vor-der-Schwelle« bzw. »an-derGrenze« zu sein gemein. Die Trauer- und Wutkompetenzen können auch je nach Bezugsperson und Kontext schnell wechseln. Alle Gefühle bis zur Schwelle sind konstruktiv, das heißt, hier entstehen Kontakte, Ziele, Kompetenzen zur Bewältigung von Anforderungen. Neue Ideen, faszinierende Kunstwerke oder bahnbrechende Erfindungen sind oft auch aus Enttäuschungen oder sogar emotionalen Schmerzzuständen entstanden.
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Die positiven und negativen Gefühle bis zur Schwelle können auch Aggressionen betreffen. Aggressionen zu enttabuisieren, ist ein wichtiger Aspekt im Systemischen Ressourcen-Management©. Aggression kommt vom lateinischen Verb »aggredi« und meint »heranschreiten, hinbewegen«. Auch Freude, Interesse, Neugier, Energie, Flow und Innovationen sind eine Art Hinbewegung – hin zum Ziel, zur Aufgabe, zur Lösung, zum Menschen etc. – und wirken damit konstruktiv. Frust und Ärger bewirken oft Veränderungen der Umstände, die lang ersehnte neue Idee oder Wut und Trauer. Die Klienten können dazu eingeladen werden, verschiedene emotionale Zustände der Ressourcen-ACHT© körperlich darzustellen oder in der Veränderung zu erleben. Hier werden insbesondere die konstruktiven Kompetenzen gefördert. Dafür ist es wichtig, zu beachten, wo der Klient steht. Bei einem Klienten mit einer mittelgradigen Depression ist es nicht hilfreich, den Anspruch zu verfolgen, Freunde und Leichtigkeit erlebbar zu machen. Das könnte zu noch mehr Traurigkeit und Defiziterleben führen (mehr dazu im Praxisbeispiel zur BegleiterACHT). Oft nutze ich auch Musik, Stimme oder Tanz dazu, Gefühle zu verlebendigen.
Die Schwelle meint als eine psychische Schwelle den Übergang vom konstruktiven in den destruktiven Bereich. Wenn der »Ist-Soll-Abgleich« weiterhin zu Ungunsten der Anforderungsbewältigung und Bedürfnisbefriedigung ausfällt, können sich die Stress- und Aggressionsphänomene destruktiv zeigen. Menschen gehen »über die Schwelle«, im Modell also vom konstruktiven in den destruktiven Bereich auf die rechte Seite der Resssourcen-ACHT©. So wird aus Wut Hass. Destruktive Phänomene sind unterschiedlich klassifiziert. Eine Form ist die Beschädigung von Gegenständen (etwa Geschirr, Kleidung, Unterlagen). Eine andere Form von »Aufmerkversuchen« schadet Personen (körperlich beispielsweise durch schlagen, psychisch durch beleidigen und beschimpfen). Alternativen sind Formen von Selbstschädigung (z. B. Non-Compliance, also nicht dem ärztlichen Rat folgen, sich schaden, etwa ritzen, alle Abhängigkeits-
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phänomene, Essstörungen, Erschöpfung und Burnout) und Rückzug (z. B. Kontaktlosigkeit, »innere Kündigung«). Die im Modell in den Phasen I–VIII kategorisierten Prozesse sind nicht scharf voneinander zu trennen. Es sind Beschreibungshilfen für einen möglichen Stress- und Emotionsablauf. Phasen können auch übersprungen werden. Das hängt von komplexen Wechselwirkungen ab, also vom Kontext und den diversen Beziehungserfahrungen oder Bewertungs- und Bewältigungsmöglichkeiten der Person oder des sozialen Gefüges (positive vs. negative Vorbilder).
Verständnis destruktiver Phänomene im SRM© Alle destruktiven Phänomene auf der rechten Seite der Acht werden im SRM© als »Kompensationsversuche« auf die unstimmige Bilanz von Anforderungen, Bedürfnissen, eigener und sozialer Bewältigungsmöglichkeiten zurückgeführt. Damit verstehen sich diese Phänomene auch als Ressourcen, die nach vielerlei »Aufmerkversuchen« auf der linken, »gesunden« Seite der Acht zum aktuellen Zeitpunkt und in der aktuellen Situation nur destruktiv in Erscheinung treten können. Professionelles Ziel ist dabei immer die Rückführung in den konstruktiven Bereich. Dazu bietet SRM© zahlreiche vielfach erprobte Methoden und Prozesse für das Selbstmanagement oder Bezugspersonen und professionelle Begleiter. Neben dem Modell gibt es wirksame SRM©-Prinzipien (Haltungsprinzipien), die im Folgenden, vor allem in den Praxisbeispielen auszugsweise näher erläutert werden.
Die Begleiter-ACHT in der Ressourcen-ACHT Im Modell in Abbildung 4 ist die Begleiter-ACHT als gepunktete Acht dargestellt. Als Begleiter werden im SRM© alle Bezugspersonen, wie Familienangehörige oder Freunde und professionelle Begleiter, wie Berater, Therapeuten, Lehrer, Führungskräfte etc. verstanden, die im weitesten Sinne einen Auftrag in der psychologischen Begleitung im
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Abbildung 4: Die Begleiter-ACHT in der Ressourcen-ACHT©
Kontext der Stress- und Emotionsregulation von einer oder mehreren Personen haben. Symbolisch werden alle konstruktiven Phänomene im »Außen« begleitet und alle destruktiven »innen«, »in (die) Acht nehmend« – was heißt, dass hier andere Methoden und Prozesse im Vergleich zur linken Seite zum Einsatz kommen. Ein SRM©-Prinzip, das im Umgang mit destruktiven Phänomenen oft greift, ist das »Stopp«. Es meint, dass die gewohnten Routinen und Arbeitsabläufe im Sinne einer konstruktiven Reflexion und Umlenkung unterbrochen werden müssen. Klienten werden eingeladen, Pausen zu machen, den Kontext zu wechseln, sich zu bewegen, sich körperlich aufzurichten etc. Das kann auch auf imaginativer Ebene geschehen, etwa durch das Einnehmen einer Vogelperspektive, durch zeitliches Vorwärtsbewegen (fünf Jahre später), dadurch, Fluchtwege und Schutzräume zu visualisieren etc. Im Falle von konstruktiven Stress- und Emotionsphänomenen (links) werden die Klienten und Systeme dazu eingeladen, weitere konstruktive Gefühlskompetenzen zu entwickeln. Vorhandene Stärken sind zu
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verstärken. In der Schule oder im Arbeitsleben zum Beispiel gilt es, so viel wie möglich positive Erwartungen, Interesse, Flow und Kreativität zu erzeugen. Natürlich auch Kompetenzen im Umgang mit Erwartungen, Enttäuschungen, Frust, Ärger, Trauer oder Wut.
In der Regel werden Kompetenzen, mit Enttäuschungen umzugehen, aufgrund von Sozialisation und Erziehung bereits frühzeitig nicht gefördert. Der »Vernünftigkeitsanspruch«, die Emotionen »in Schach« zu halten, dominiert immer wieder. Dabei sind die Emotionen wichtige Signalgeber für Bedürfnis- und Wertebilanzen. Im Laufe der »Vernünftigkeitssozialisation« werden die Gefühle nicht mehr sofort wahrgenommen oder gelebt, was sozusagen die Tür für den fortlaufenden Emotionskreislauf laut Ressourcen-ACHT öffnet. Die mit Enttäuschungen verbundenen Gefühle, Erfahrungen, Befürchtungen und Ressourcen werden in der SRM-Praxis anhand der bisherigen Beziehungserfahrungen der Klienten erlebbar gemacht. Fragen, die hier gestellt werden können, sind: Was hat Sie enttäuscht? Wie zeigt sich das? Mit wem? Wo im Körper? Was geschieht davor, was danach? Welches Bedürfnis liegt dahinter? Von Belang sind auch die Antworten auf Fragen wie diese: Wie (er-)leben wichtige Bezugspersonen Enttäuschungen? Welche positiven Vorbilder im Sinne von »Enttäuschungskompetenzen« gibt es im System, welcher Sinn steckt hinter dem Übergehen von Enttäuschungen? Ebenso können Wut- oder Trauergefühle erfahrbar gemacht werden. Im Schulkontext gelingt das mittels Beispielen von Kindern, die einmal eher still und zurückgezogen, einmal eher laut und impulsiv auf einen Konflikt reagieren. Beide Kompetenzen sind wichtig, da sie »gelebte« Gewalt verhindern. Hier greift das SRM-Prinzip »Würdigung«. Veranschaulichen lassen sich diese stillen und lauten Typen mit entsprechenden Körperhaltungen. Zum Beispiel teilt man den Raum in zwei Bereiche und lässt die Klientin und wenn möglich eine andere Person (auch imaginativ) den stillen oder lauten Wutoder Trauerbereich zuordnen. Diese Unterschiedsbildung ist eine Aufforderung zur Positionierung und Polarisierung, dargestellt in einer räumlichen Distanz zueinander. Polarisierung passiert auch stets intrapersonal, wenn diese Gefühle aufkommen. Das heißt, Tun-
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nelblick und Egozentrismus werden meist größer, der Perspektivwechsel fällt schwerer. Kopf und Körper werden oft nicht als Einheit erlebt (»Bauch sagt zu Kopf ja, doch Kopf sagt zu Bauch nein«, aus Mark Fosters Song »Bauch und Kopf«). Diese Prozesse werden damit anschaulich und erlebbar gemacht und anschließend mit den eigenen Mustern der Klientin abgeglichen und neu kreiert. Bewegungsorientiert kann man auch die Phasen im Modell auf dem Boden ablaufen lassen, was häufig zu intensiven Gefühlserlebnissen, neuen Einsichten, Perspektivwechsel und Verständnis führt. Bei dem Klienten mit einer depressiven Problematik hat geholfen, die selbstschädigenden Gefühle »umzuleiten« und zur »Sachschädigung einzuladen« (d. h. kleine Schritte rückwärts im Modell der ACHT zu gehen). Man bietet Material zum Zerkleinern oder Verarbeiten wie Papier, Pappe, Holz oder Schaumstoff. Dabei wird destruktives Erleben in einem Beziehungssetting externalisiert und konstruktiv verlebendigt. Im günstigsten Fall wird das Gefühlserleben »Wut oder Trauer« gefördert. Wut- und Trauerkompetenzen sind zum Beispiel Weinen, starkes Ausatmen, Schluchzen, Zu-sich-Kommen, Spüren und Denken, der zeitlich begrenzte Rückzug in Form einer Auszeit, Bewegung, Sport treiben, Briefe oder Geschichten schreiben, Umarmen etc. Weitere Methoden sind das Verstärken von Spannungen und die damit energetische Verlebendigung von Gefühlen in der zwischenmenschlichen Begegnung (Wienands, 2010). Im Fall des Klienten wurde das Einengungsgefühl in Bezug auf die eigene Mutter durch die Therapeutin mit Berührung und Druckverstärkung auf den Brustkorb umgesetzt. Der Klient wurde angehalten, tief in den Schmerz zu atmen und sich auf die vorher in der Therapie erarbeiteten Stärken, Wünsche und gelungenen Grenzziehungserfahrungen zu konzentrieren. In einem intensiven Prozess wurden Kräfte aktiviert und der Klient konnte sich im therapeutischen Raum in einer neuen Erfahrung von den »Fesseln« befreien. Tränen, Erleichterung, Freude und Stolz waren die Folgen.
Die Begleiter-ACHT rechts ist metaphorisch klein. Liefe man sie ab, würde man sehr viele kleine Schritte machen, um aus dem destruktiven Kreislauf herauszukommen – im Gegensatz zu links, dort sind große Schritte im Emotions- und Stresskompetenzspektrum mög-
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lich. Hier greift das SRM-Prinzip: Unterscheide kurze von langen Prozessen. Interventionen und Veränderungen rechts brauchen in der Regel lange Zeit und viele Unterstützungssysteme, Helfersysteme und Helferstrukturen. Das weist darauf hin, sich auch als Profi Hilfe und Unterstützung zu holen. Einige weitere praxistaugliche SRM-Prinzipien führe ich abschließend auszugsweise und stichwortartig auf: Jede Störung, jedes Verhalten oder Symptom hat einen (guten) Grund ȤȤ Jedes Phänomen (Konflikt, Symptom etc.) ist kontextuell sinnvoll und damit nützlich zur Regulation von Systemen. Stärken stärken, das Schöne (Positive) hat Vorrang ȤȤ positive Verstärkung von Gelungenem und Ressourcen ȤȤ Haltung in Betrachtung von Phänomenen: zum Beispiel Phänomene der ACHT = Bewältigungsversuche bzw. Kompetenzen für Bedürfniserfüllung und Werteabgleich Spüren und Denken ȤȤ erst aufs Gefühl achten und Denken nicht vergessen ȤȤ das Sowohl-als-auch fördern Keiner geht verloren ȤȤ Integration statt Selektion, Vielfalt würdigen (von Personen, Kompetenzen, Talenten, Kulturen, Generationen und Erfahrungen = Erweiterung der Möglichkeitsspielräume und Erfahrungsräume, Lern- und Entwicklungspotenziale, Motivation- und Potenzialentwicklung) Ein Schimmer (Konstruktives) geht immer ȤȤ auch wenn es noch zu schlimm, schwer, auffällig etc. ist: das suchen, was gut ist, was geht, was gesund ist, welche Ressourcen es dennoch gibt (Resilienzgedanke) Alles ist immer anders ȤȤ Individualitätsbetrachtung, Kreativität, Offenheit für Wandel, Andersartigkeit, positives Erwartungsmanagement
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Abschließende Worte Das Konzept der systemischen Achtsamkeit und das Systemische Ressourcen-Management© sind in jahrelanger bereichernder Arbeit mit den vielen Menschen entstanden, die ich begleiten durfte oder mit denen ich in kooperativer Beziehung stehe. Diesen Menschen und Teams möchte ich an dieser Stelle danken. Auch sind darin viele persönliche Erfahrungen enthalten und ich bin dafür besonders meiner Familie in tiefer Liebe und Dankbarkeit verbunden.
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Das System im Körper Überlegungen zur Komplementarität von systemischer und somatischer Praxis1 »Lernt man aber, in Empfindungen, in Bildern von Beziehungen und Konfigurationen zu denken, die von der Bestimmtheit der Wörter und der Konventionen hinsichtlich ihres Gebrauchs losgelöst sind, dann kann man in sich ungeahnte Möglichkeiten entdecken: die Fähigkeit, neue Muster, neue Verhaltens- und Verfahrensweisen zu bilden und solche Beziehungsmuster oder Konfigurationen von einer Disziplin auf andere zu übertragen. Kurz, dann denken wir als eigenständige, individuelle Wesen, denken ursprünglich und bahnen uns in die schon bekannte Richtung einen neuen, anderen Weg.« Moshé Feldenkrais2
Der Körper in der systemischen Therapie Innerhalb des Methodenpluralismus der systemischen Therapie und Beratung finden sich strategische Orientierung, narrative Orientierung, Problem- oder Lösungsorientierung, Kommunikations-, Interaktions- und Prozessorientierung, aber kaum Körperorientierung. Wir erforschen und erarbeiten mit unseren Klienten Handlungsfähigkeit, Autonomie und Selbstwirksamkeit, stellen damit oftmals die Sprache darüber, aber mitunter selten die Körpersprache darin zur Verfügung. Die verbale Kommunikation wird als therapeutisches Mittel der Wahl oftmals der nonverbalen Körperwahrnehmung vorgezogen und der körperliche Ausdruck oftmals in der Domäne des Impliziten festgehalten. Ich möchte an dieser Stelle einen Beitrag dazu leisten, Körperorientierung innerhalb systemischer Praxis mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Hierfür wird 1 Der vorliegende Text ist die überarbeitete und erweiterte Version eines in den Systemischen Notizen erschienenen Beitrags (Luger, 2014). 2 Feldenkrais, 1987, S. 65.
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zunächst eine Fallgeschichte aus der somatischen Praxis der Feldenkrais-Methode exemplarisch vorgestellt und aus der Sicht systemischer Psychotherapie diskutiert. Die zentrale These lautet, dass die Prozesshaftigkeit systemischer Kommunikation mit jener der – vordergründig zwischenleiblichen – Feldenkrais-Einzelarbeit große Ähnlichkeiten aufweist. In der Entstehungsgeschichte des systemischen Handwerks gab es bereits einige Versuche, der Kommunikation mittels des leiblichen Ausdrucks mehr Augenmerk zu schenken. Diese Versuche eint, dass sie eine große Erfahrungsnähe vermitteln und es verstehen, implizite Wahrnehmungsbereiche in den expliziten Kommunikationsbereich zu heben. Beispielhaft seien hier unterschiedliche Techniken der Familienskulptur und Aufstellungsarbeit genannt (Satir, 1975; Baxa, Essen u. Kreszmeier, 2004), zudem die tendenziell hypnosystemische Arbeit mit Metaphern und inneren Bildern (Schmidt, 2004). Neuerdings finden sich, anknüpfend an einen seit den 1990er Jahren verstärkt festzustellenden Trend zur Wiederbeleibung (Milz u. Varga von Kibéd, 1998) auch hoffnungsvolle Neu- und Weiterentwicklungen körperorientierter systemischer Therapie (Wienands, 2013), körperorientierter Psychotherapie (Müller-Braunschweig u. Stiller, 2009) sowie der Körperpsychotherapie (Geuter, 2015), bis hin zu einer systemisch orientierten Körperpsychotherapie (Best, 2010). »Kognition findet in ständiger Wechselwirkung mit dem Zustand des Körpers statt, in den die Kognition eingebettet ist. Körperzustände sind z. B. Körperausdruck, -haltung, -spannung. Gefühle (also Affekte und Emotionen) sind ebenfalls wesentliche Körperzustände. Die Wechselwirkung Kognition – Körper ist zirkulärkausal. Der Körper wirkt als Kontrollparameter auf die Kognition ein und verursacht so die Bildung von kognitiven Mustern« (Tschacher, 2011, S. 31). Die stets zwischen Habitualisierung, also dem Bestätigen des Vertrauten, und Enthabitualisierung, also der Begegnung mit dem Ungewohnten pendelnde therapeutische Beziehung dient dem Ermöglichen von Bedingungen für Veränderung. Der Nutzung von Embodiments kommt hier aus einem Verständnis somato-psychi-
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scher Kontrollparameter eine bedeutende Rolle zu. Experimentelle Studien legen den Befund nahe, dass die Bewegungs- und Handlungsmuster unseres Körpers für therapeutische Zwecke operationalisierbar gemacht werden können (Storch, Cantieni, Hüther u. Tschacher, 2011). Um ein einfaches Beispiel zu nennen, gehen freudvolle Erfahrungen oftmals mit einer entspannten Körperhaltung einher. Zudem legen jüngere Erkenntnisse der Psychotherapieforschung die besondere Bedeutung nonverbaler Synchronizitätsphänomene in der therapeutischen Beziehung nahe (Ramseyer u. Tschacher, 2011). Im Zuge einer körperbezogenen Psychotherapie werden Spür- und Wahrnehmungskorrelate der Veränderung in den Bereich der bewussten Wahrnehmung gebracht und mit als problematisch, Leidensdruck erhöhend oder unproblematisch, Leidensdruck lindernd erlebten Handlungsvollzügen in Beziehung gesetzt. Die Nutzung somatischer Marker (Damasio, Everitt u. Bishop, 1996), oder der gefühlten Bedeutung (Gendlin u. Wiltschko, 2007) fällt ebenso in den Bereich der Operationalisierungsbemühungen von Embodiments innerhalb therapeutischer Praxis.
Analoge Skulpturen und die metaphorische Sprache Schwing und Fryszer (2006) bezeichnen die Skulptur als Metapher der Beziehung im Raum. Körperlich-räumliche Darstellung erweitert die sprachliche Domäne mittels Aufwertung der mimischen, gestischen und somatisch-habituellen Ausdrucksmöglichkeiten. In den Raum gestellte Körper sprechen oft bereits ohne Sprache, sie geben unmittelbar Auskunft über ihre aktuelle Befindlichkeit innerhalb der Dynamik ihrer Umweltbeziehungen. Das sich leiblich im Raum verwirklichende soziale System zeichnet sich durch verteilte Körper, Gefühle und Gedanken aus. Derlei dynamisch verteilte Gedanken-, Gefühls-, Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata entstehen als spezifische Systemdynamiken im Raum und werden hierin phänomenologisch fass- und ansprechbar (Sparrer u. Varga von Kibéd, 1998; Varga von Kibéd, 2004). Nach Satir (1975) liegt die Aufgabe der Familientherapie darin, innerhalb dynamischer Beziehungsmuster kongruente Kommunikation zu fördern. Hierfür gilt es, das gesprochene Wort mit dem dazugehörigen Gesichtsausdruck, der Körper-
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haltung, Muskelspannung, der Atemgeschwindigkeit und dem Klang der Stimme in Beziehung zu setzen. Nähe- und Distanzverhalten, Vielstimmigkeiten und etwaige dysfunktionale Kommunikationsmuster werden aufgegriffen und in Dynamik gebracht. Die Skulptur eines sozialen Systems bildet räumliche Beziehungsmetaphern und liefert wichtige Hinweise über Beziehungsstrukturen und deren Verläufe in der Zeit. Andolfi (1992, S. 119 ff.) beschreibt verschiedene Formen der nichtverbalen Kommunikation, die er als analog bezeichnet und vor und neben der verbalen Sprache ansiedelt. Auch der zwischenleibliche Dialog innerhalb einer Feldenkrais-Einzelstunde bedient sich in hohem Maße solcherlei analoger Wirkmechanismen. Die metaphorische Sprache dient hierfür als Bindeglied zwischen diesen beiden Bereichen. Eine vermittelnde, therapeutische Rhetorik schließt analoge und verbale Bedeutungsgenerierung bewusst mit ein. Watzlawick (1978) kommt zu einer ähnlichen Ansicht. Auch er unterscheidet zwischen analoger und digitaler Darstellung innerhalb der Kommunikation. Während sich die zuletzt genannte eher einer linearen Kausalität bedient, liegt die Besonderheit der analogen Sprache oftmals darin, eben diese Kausalitäten zu unterwandern. Hiernach gibt es gewisse multi-, respektive a-kausale Sprachformen, die rechtshemisphärisch genannt werden können und sich speziell für die therapeutische Kommunikation eignen, nicht zuletzt indem sie Klienten auf ihre Leiblichkeit hin ansprechen. So soll es schon passiert sein, dass im Zuge einer Therapiestunde jemand vom Schoßhund zur Löwin mutiert, seine Baumnatur erkennt oder sich als Fels in der Brandung wiederfindet. So kann es weiter passieren, dass von einer Sekunde auf die nächste aus einem Fähnchen im Wind ein Bambus wird und ein Konflikt augenblicklich zu einem Kinofilm.
Von Delfinen, Schmetterlingen, Fröschen und dem Körper im System Mein Vater hielt viel auf Bewegung und Sport. In der Zeit seiner Jugend, das war für ihn die erste Hälfte der 1950er Jahre, war er ein begeisterter Schwimmer, der auch erfolgreich an Wettkämpfen teilnahm. Damals wurde noch nicht Delfin, sondern ausschließlich Schmetter-
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ling geschwommen. Der Unterschied besteht vor allem in der Beinbewegung, wo im Schmetterling, der bis heute für beide Schwimmstile typische Doppelarmschlag mit einem vom Brustschwimmen bekannten Beinschlag, dem Grätschschlag, kombiniert wurde. Ginge es nach der Beinbewegung, könnte das Brustschwimmen auch Frosch-Stil heißen. Der in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre neu entwickelte und als Wettkampfdisziplin eingeführte Delfin-Stil wurde später wieder in Schmetterling (engl. Butterfly) umbenannt. Den darin üblichen Doppelbeinschlag in Kombination mit der Undulation, einer Ganzkörper-Wellenbewegung, hat mein Vater nie gelernt.
Dies soll als einfaches Beispiel für zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten bevorzugt gelernte Körpertechniken (Mauss, 1935/1978) genügen. Die Moden der Zeit und des jeweiligen gesellschaftlichen und sozialen Systems, in dem wir leben, geben gewisse Weisen vor, wie wir uns bewegen oder zu bewegen haben (Mauss, 1935/1978). Zugleich differenzieren sich soziale Systeme nach unterschiedlichen, innovativen Arten der Bewegung, sei es um Identifikation zu stiften, der Aufrechterhaltung der Sittlichkeit, der Optimierung der Effizienz oder dem Ausdruck des Widerstands zu dienen. Nach Fuchs (2008, S. 63) bildet der Leib eine vermittelnde Seinsweise zwischen Objektivierung und Subjektivierung des Körpers, indem er zugleich phänomenologisch und ökologisch situiert ist. »Das Leibgedächtnis widerlegt eindrucksvoll den Dualismus von Bewusstsein und Körper« (Fuchs, 2006, S. 25). Eine entsprechende mittlere Position wird auch von Bourdieu (1987) im Rahmen seines Habitus-Konzeptes vertreten. Im Zuge der Sozialisierung verinnerlichen – oder einverleiben – und verhandeln wir Kommunikationsund Verhaltensweisen in Bezugnahme auf jeweils geltende, kollektive, kulturelle Dispositionen innerhalb uns betreffender sozialer Systeme. Daraus lassen sich zahlreiche bedeutende Fragen ableiten. Wie habitualisiert ist unser körperlicher Ausdruck und wie gehen wir mit unserer Leiblichkeit innerhalb komplexer Systemdynamiken um? Welcherlei Beziehungen pflegen wir zu unserem Körper? Welche Bedeutung geben wir diesen und welche Körpervorstellungen gelten in unserem sozialen Umfeld? Wie nehmen wir uns wahr? Unsere Körperlichkeit steht somit auf mindestens drei Ebenen zur
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Disposition. Zunächst als phänomenal spürbarer Leib, zudem als Symbol, Metapher oder Narrativ, zuletzt als durch soziale und politische Einflussnahme geformte Entität (Scheper-Hughes u. Lock, 1987). So können, um nur einige Beispiele zu nennen, wir versuchen unseren Körper zu disziplinieren und optimieren, etwas für unser leibliches Wohl verordnet bekommen, oder uns in unserem Körper nicht zuhause fühlen. Auch Weine und sogar Geschichten besitzen einen Körper. Schließlich können wir unseren Körper nutzen, um andere Dinge damit zu formen und zu beschreiben, um andere Dinge wahrzunehmen und mit ihnen in eine kommunikative Beziehung zu treten. Ein spezielles Methodensystem, welches sich achtsamer Zwischenleiblichkeit (Merleau-Ponty, 1961/2003) bedient, um mit der Eigenwahrnehmung des bewegten Körpers eingehend in Beziehung zu treten, ist die Praxis der Feldenkrais-Pädagogik, die ich zunächst anhand einer Fallgeschichte und anschließend als Lernmethode vorstellen möchte.
Die zögerliche Frau Diese Fallbeschreibung beschreibt meine Arbeit als Feldenkrais-Lehrer und dient der Illustration angewandter, systemischer Konzepte innerhalb dieser somatischen Praxis. Eine etwa 55 Jahre alte Frau, nennen wir sie Erika, kommt wegen anhaltender Schmerzen im Nacken zu mir, die sie unter anderem auf ihre stereotype Tätigkeit im Büro zurückführt. Ich bitte sie, mir gegenüber auf dem Feldenkrais-Tisch – eine Art Massageliege, die speziell für die Feldenkrais-Arbeit entwickelt wurde – Platz zu nehmen. Erika schildert aktuelle Überforderungssituationen, die ihr teilweise die Luft rauben, sie starr und unbeweglich machen. Es fällt ihr speziell in diesen Phasen schwer, sich Gutes zu tun. Von außen, in der Arbeit wie im Privatleben, erlebt sie stärkeren Druck und kann sich schlecht gegenüber negativen Einflüssen abgrenzen, was sie noch verletzlicher macht. Üblicherweise fühlt sie in solchen Phasen eine gewisse Enge im Brustkorb, ist nicht so beweglich und bewegungsfreudig, wie sie es sonst von sich kennt, zeitweise plagt sie dann auch ein ausstrahlender Schmerz im linken Hüftgelenk. Der aktuelle, ziehende und schrille
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Schmerz im Nacken belastet sie zusehends und ist ein eher neuartiges Phänomen. Sie fühlt sich dadurch eingeschränkt, muss sich sehr um aufrechtes Sitzen und freien Atem bemühen, die Schulter, speziell der Nacken, hat zu viel zu tragen und meldet sich mit Schmerzen zu Wort. Ich bitte Erika, sich in eine für sie angenehme Position zu legen. Während zunächst der »Indexpatient Nacken« im Vordergrund zu stehen scheint, arbeiten wir im Laufe unserer Begegnungen am ganzkörperlichen Bewegungszusammenhang der Halswirbelsäule, im Speziellen des siebenten Halswirbels im Übergang zur Brustwirbelsäule, an der Beweglichkeit des Kopfes und des Schultergürtels, des Brustkorbs und des Beckens. Oftmals können Schmerzen in einem Teil des Körpers auf die Kompensation von Über- oder Unterbeweglichkeit in anderen Körperpartien zurückgeführt werden. Im Laufe der ersten Stunden finden sich mehrere, diese Hypothese verstärkende Befunde. Der sehr frei bewegliche Kopf steht einem angespannten Nacken und Schultergürtel und einem eher starren Brustkorb gegenüber, die Muskulatur im Lendenwirbelbereich fühlt sich im Sitzen stark gehalten an. Erika hat eine leichte Tendenz, sich entlang der Brustwirbelsäule zu krümmen (Flexion), der durchaus frei bewegliche Kopf wird dadurch mit erhöhter Anstrengung aufrecht gehalten. In seitlich liegender Haltung ergibt sich ein ähnliches Bild. Hier ist es etwas leichter, einen Zugang zur Beweglichkeit der Wirbelsäule zu erhalten, da sie aus der Notwendigkeit zur Aufrichtung im Schwerefeld der Erde genommen wird. Auch die Atmung ist ein wesentlicher Indikator für das Wohlbefinden. Der ruhige und tiefe Atem, dessen Bewegungen sich spürbar in weite Teile des Körpers ausbreiten, kann als günstig betrachtet werden. Eine Möglichkeit, wieder mehr bzw. leichtgängigere Bewegung in Erikas Brustkorb zu ermöglichen, besteht darin, die Beweglichkeit des Beckens von jener des Brustkorbs zu differenzieren. Diese Variante bietet sich vor allem deswegen an, weil die Bewegung des Beckens aktuell nicht im Schmerzfokus steht, daher leichter mittels Berührung anzusprechen ist. Wir können den jeweiligen Aufmerksamkeitsfokus in der Funktionalen Integration durch vier verschiedene Ebenen oder Ordnerhierarchien beschreiben, die allesamt Einfluss auf die Qualität des zwischenleiblichen Kontaktes nehmen. Von unten nach oben haben wir es zunächst mit der haptischen und taktilen Berührung und dem gefühlten Tonus, also der Anspannung der jeweiligen Körperpartie
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(Muskulatur, Bindegewebe), zu tun. Dann folgt die kinästhetische bzw. propriozeptive Qualität der gemeinsamen Bewegung, zum Beispiel: das Becken wird gerollt, der Kopf gehoben, das Handgelenk gebeugt. Auf der nächsten Ebene finden sich dann größere Körperpartien umspannende Bewegungsmuster, wie beispielsweise die Flexion, Extension, Rotation oder Seitbeugung des Oberkörpers. Auf oberster Ebene finden wir schließlich die Funktionen, das bedeutet, den ganzen Körper betreffende holistische Handlungsmuster wie Gehen, Stehen, Liegen, Laufen oder auch Krabbeln und Kriechen. Im Laufe einer Funktionalen Integration wird der Fokus zwischen diesen unterschiedlichen Ebenen immer wieder variiert. Im Fall von Erika nutzte ich die Seitenlage, um die Beweglichkeit des Beckens gegenüber dem Brustkorb zu explorieren. Dann interessiere ich mich vor allem für den Muskeltonus entlang der Wirbelsäule. Durch eine Vielzahl aufeinanderfolgender und mit dem Thema »Differenzierung von Becken und Brustkorb« in Beziehung stehender Bewegungsanfragen und Variationen gelingt es mir, Erika leichtere Bewegungen des Brustkorbes im Zusammenspiel mit aus der Lendenwirbelsäule und dem Becken kommenden Bewegungsimpulsen spürbar zu machen, die oftmals mit plötzlichen, tiefen Atemzügen und einem entspannten Gesichtsausdruck einhergehen. Bereits nach den ersten beiden Sitzungen lässt der Spannungsschmerz im Nacken nach. Die Schulter muss nicht mehr alles allein tragen und kann wieder mehr auf die kraftvolle Verbindung mit dem Brustkorb vertrauen. Zusehends lernt Erika, die Beweglichkeit ihres Brustkorbs als etwas Willkommenes anzusehen. Einmal stolziert sie nach einer gemeinsamen Stunde durch den Raum und fragt, ob das überhaupt sein darf, dass sie sich selbst so groß macht. Im Laufe unserer Begegnungen beschreibt Erika die Effekte etwa folgendermaßen: Bewegliches Becken und klares Spüren der Sitzknochen im Sitzen, unbeschwerte Aufrichtung, aus der Lendenwirbelsäule kommend, geht mit dem Gefühl einher, aus dem unteren Bauch mehr Kraft zu spüren – weniger Spannung auf der Vorderseite, mehr Länge im Rücken, Brustbein ein wenig höher durch einen beweglichen Brustkorb, mehr Streckung im Oberkörper ermöglicht einen neugierigen, aktiver und freier atmenden Körper (»Darf ich das überhaupt?«) – die Schultern und Arme können wieder besser hängengelassen werden und baumeln, für Erika ein Zeichen der Entspanntheit und Kraft zugleich.
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Die Feldenkrais-Methode als somatische Praxis Bei der Feldenkrais-Methode handelt es sich um eine von ihrem Namensgeber Moshé Feldenkrais (1904–1984) ab der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte und sich in den letzten Jahrzehnten vor allem in der westlichen Welt ausbreitende, bewegungsorientierte Lernmethode. Sie zielt auf eine verfeinerte Wahrnehmung des Körpers und eine Erweiterung des Bewegungsrepertoires hin ab (Feldenkrais, 2005; Ginsburg, 2010; Russell, 2003). Die Methode differenziert sich in zwei Teildisziplinen namens Bewusstheit durch Bewegung und Funktionale Integration. Während es sich bei der zuerst genannten um einen verbal angeleiteten Gruppenunterricht handelt, liegt der Fokus der Funktionalen Integration auf der nonverbalen, vorwiegend mittels Berührung stattfindenden, zwischenleiblichen Interaktion im Rahmen einer Einzelarbeit. Hier wie dort wird durch achtsame Anleitung und Ausführung das spielerische Explorieren einfacher Bewegungsabläufe angeregt. Während der Berührung im Zuge einer Funktionalen Integration entfaltet sich ein zwischenleibliches System der beiden daran beteiligten Personen. Bewegungsmuster werden durch minimale Veränderungen des Stimulus – im Bezug auf die Bewegungsrichtung, Flächigkeit, Bewegungsintensität und den Bewegungsumfang – angesprochen, sensomotorische Differenzierung angeregt und der aktuelle Zustand des Nervensystems verändert. Das taktile Interface der Berührung dient dem Aufspüren, Variieren und Erweitern von Bewegungsrepertoires (Kimmel, Irran u. Luger, 2015; Luger, 2014). Zwischen den Bewegungsmustern zweier Personen entsteht dadurch ein zirkuläres Feedbacksystem im Dienste der sensomotorischen Unterschiedsbildung (Rywerant, 2003). Wird in der Feldenkrais-Arbeit ein bestimmtes Anliegen oder Problem artikuliert, so gilt es, selbiges auf einen entsprechenden körperlichen Zusammenhang zu übertragen, gewissermaßen somatisch zu kontextualisieren. Liegt beispielsweise ein chronischer Schmerz im Schultergelenk vor, so ist eine dazugehörige Idee aus Feldenkrais-Perspektive, dass das Problem nicht in der Schulter selbst liegt, sondern vielmehr in der Organisation des gesamten Körpers im Zusammenspiel mit der Schulter. Im Übungsverlauf werden diese ganzkörperlich-holistischen Beziehungen zuse-
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hends mittels propriozeptiver und kinästhetischer Wahrnehmung angesprochen. Im derartig ausgestalteten Dialog mit der Schulter als Teil eines Bewegungssystems werden gewisse Hypothesen in Form von Richtungsanfragen überprüft, zum Beispiel ob sich die Schulter leichter in Richtung Becken und weniger leicht zum Kopf hin, leichter zum Brustbein hin und weniger leicht zur Brustwirbelsäule hin bewegt. Diese Hypothesen werden nun innerhalb eines Beziehungsgeflechts einzelner Körperpartien systematisch exploriert. Hier können die Fragen beispielsweise lauten, wie sich das Schulterblatt in Relation zum Brustkorb bewegen lässt, oder wie sich die Bewegung in den Arm, das Brustbein, die Halswirbelsäule und den Kopf fortsetzt. Das Erfragen von Bewegungsmustern geschieht auf sensomotorischer und kinästhetischer Ebene und geht mit einer großteils unbewussten, im weiteren Verlauf zusehends bewusstseinsfähigeren Enthabitualisierung und Neuordnung der Körperorganisation einher. Konzepte und Interventionen werden derart in erfahrbare Spürkorrelate des Körperschemas transformiert. Bewegungszusammenhänge und deren Variationen zwischen Schulter, Nacken und Kopf, der Wirbelsäule und dem Becken stellen Bedingungen für Ordnungs-Ordnungs-Übergänge zur Verfügung, die direkt und im Laufe des Lernweges zusehends in der Erfahrung eines erweiterten Handlungsrepertoires – erkennbar etwa an somatischen Aha-Erlebnissen als möglichen Hinweisen auf funktionale Synergien in der Bewegungsausführung – münden können. Ein als kräftig und entspannt zugleich wahrgenommener Körper läuft zum Beispiel weniger Gefahr, sich verunsichern zu lassen, nimmt mehr Bewegungsangebote wahr, erlaubt tiefere Atemzüge, lässt sich weniger leicht unter Druck setzen oder kann zumindest koordiniert und flexibel darauf reagieren. »Psychotherapie wäre vor dem Hintergrund eines synergetischen Paradigmas als prozessuales Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit von Ordnungs-Ordnungs-Übergängen zwischen Kognitions-Emotions-Verhaltens-Mustern eines bio-psychosozialen Systems in einem (als Psychotherapie definierten) professionellen Kontext zu verstehen« (Haken u. Schiepek, 2006, S. 327).
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In Anlehnung an die Theorie und Metaphorik der Synergetik (Haken, 2004) und der Theorie dynamischer, komplexer Systeme (Thelen u. Smith, 1994) erscheint es möglich, die Prozesshaftigkeit psychotherapeutischer und somatischer Praxis miteinander zu vergleichen. Das Grundschema der Synergetik geht davon aus, dass sich Ordnungszustände komplexer, dynamischer Systeme innerhalb einer zirkulären Prozessdynamik selbst organisieren. Es wird hierbei zwischen niedrigen Ordnern auf der Mikroebene und Ordnungsparametern auf der Makroebene unterschieden. Die Umweltbedingungen eines Systems bestimmen dessen Fähigkeit zur Selbstorganisation maßgeblich mit und werden unter dem Begriff der Kontrollparameter subsummiert. Änderungen der Kontrollparameter sind an kritischen Punkten mit Phasenübergängen im System verbunden, ein Muster emergiert, eine neue Attraktorlandschaft bildet sich aus. Makroskopische Muster, also höher gereihte Ordnungszustände, unterliegen in ihrer Entstehung einem zirkulärkausalen Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen der Ordnerhierarchie (Haken, 2004, S. 82). Ordner in sozialen, psychischen oder Interaktionssystemen können auch als Kognitions-Emotions-VerhaltensMuster bezeichnet werden. Ein Beispiel für solch ein Muster kann der obigen Fallbeschreibung entnommen werden: Erikas Schmerz im Nackenbereich stand im Zusammenhang damit, dass sie sich verletzlicher, weniger bewegungsfreudig und unentspannter erlebt hatte. Im psychotherapeutischen Veränderungsprozess wird die Selbstorganisationfähigkeit von Klienten-Systemen genutzt, um eingeengte Potenziallandschaften – wenige Ordner bestimmen das Verhalten des Systems maßgeblich – derart zu deformieren, dass Täler verflachen und Übergänge in neue Richtungen möglich werden (Haken, 2004, S. 99). Psychotherapie lässt sich aus dieser Perspektive als »Gestaltwandel von State-Potentiallandschaften beschreiben. Ziel therapeutischer Arbeit ist es, bestimmte Potentialtäler, die Problemzustände darstellen, zu verflachen und andere Täler, die gewünschte Zustände repräsentieren, zu vertiefen und zu verbreitern« (Haken u. Schiepek, 2006, S. 340). Die Bedingungen zur Förderung von Selbstorganisation finden sich in der Beschreibung generischer Prinzipien, die als Reflexions- und Entscheidungshilfe in der therapeutischen Praxis dienen sollen (Schiepek, Eckert u. Kravanja, 2013,
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S. 48 ff.) und – dem therapeutischen Anspruch auf Veränderung entsprechend – eine Art Verlauf hin zu idealen Ordnungs-OrdnungsÜbergängen suggerieren. Allgemein gesprochen gilt, dass, je mehr Variablen das Systemverhalten definieren, sich dessen Handlungsrepertoire umso vielfältiger ausgestalten kann. Derart ausdifferenzierte Attraktorlandschaften versprechen eine metastabile Koordinationsgabe in unterschiedlichen Situationen des Lebens (Strunk und Schiepek, 2014, S. 92 ff.). Das synergetische Modell einer zirkulär- kausalen Beeinflussung von Ordnungs- und Kontrollparametern bildet den soliden Rahmen einer Metatheorie therapeutischer und somatischer Praxis.
Das System im Körper »Ich bin der Meinung, daß Sinnesreize unserem unbewußten, unterbewußten oder autonomen Funktionieren näherliegen und -gehen als irgendetwas in unserem bewußten Verstehen. Kommunikation durch die Sinne erreicht das Unbewußte unmittelbar und ist daher wirksamer und weniger entstellt als solche durch Wörter. […] Durch Berührung können zwei Menschen, Berührender und Berührter, ein Gemeinsames werden: zwei Körper, durch zwei Hände und Arme miteinander verbunden, bilden eine neue Einheit.« Moshé Feldenkrais3
Die Kommunikationen zwischenleiblicher und sozialer Systeme bedingen und ergänzen einander wechselseitig, Berührung kann sprechen und Sprache berühren. Durch die Darstellung einer exemplarischen Fallgeschichte wurden den Disziplinen Systemische Therapie und Feldenkrais-Methode gemeinsame Herangehensweisen geschildert. Die beiden Praxisfelder können einiges voneinander lernen. Wird der Aspekt der Zwischenleiblichkeit ernst genommen, verändert das die Qualität der therapeutischen Beziehung. Bewusst gesetzte somatische Marker – wie in Erikas Beispiel das ein kleines Stück nach oben gewanderte, für Beweglichkeit und Aufrichtung stehende Brustbein – vertiefen die Verbindung zwischen gedank3 Feldenkrais, 1987, S. 25.
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licher und körperlicher Gestimmtheit. Beide Praxisfelder befragen das Leben auf seine Befindlichkeit, seine dynamische Situiertheit hin, sie nutzen Zirkularität und kontextualisieren Probleme und Lösungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, nicht zuletzt bestehen in beiden Disziplinen Konzepte von Meta-Stabilität, Koordination, Balance und Potenz im Sinne von Handlungsfähigkeit im Allgemeinen. Während in der Feldenkrais-Pädagogik vordergründig das physische System angesprochen wird, steht in der systemischen Therapie vor allem das soziale System im Fokus der Aufmerksamkeit. Der größte Unterschied besteht im Explikationsgrad, der in der somatischen Praxis, da hier die Mittel der verbalen Sprache weit weniger zum Einsatz kommen, geringer ist als in der systemischen Therapie. Umgekehrt findet durch das direkte Berühren und Berührtwerden während einer Feldenkrais-Einzelstunde zwischenleibliche Echtzeit-Wahrnehmung unmittelbar statt. Metaphorische Beschreibungen und Narrative, wie sie in der systemischen Therapie Verwendung finden, haben wiederum den Vorteil, multimodal zu sein, also mehrere Sinnesmodalitäten gleichzeitig anzusprechen. Interessant sind auch die unterschiedlichen Richtungen, von denen ausgehend weitere Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster zugänglich werden. Die somatische Praxis kommt hier von der Seite der taktilen, kinästhetischen und sensomotorischen Unterscheidung im Rahmen des zwischenleiblichen Dialogs; die systemische Praxis nähert sich aus der Richtung der vergleichsweise komplex anmutenden, narrativen und oftmals metaphorischen Situations- und Dynamikbeschreibung, der Suche nach Ausnahmen, der Möglichkeit auf Umdeutungen innerhalb der sich gemeinsam entfaltenden Sprache. Körpervergessenheit lässt uns übersehen, dass Sprechakte selbst organisierte Bewegung sind. Sie entspringen somatischen Dispositionen und sind zugleich Teil sozial verhandelter Grammatik – Stimme und Körper erheben sich im kommunikativen Tun stets gemeinsam.
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Über die Kommunikation zur Leiblichkeit »Der Körper ist das erste und natürlichste Instrument des Menschen. Oder genauer gesagt, ohne von Instrument zu sprechen, das erste und natürlichste technische Objekt und gleichzeitig technische Mittel des Menschen ist sein Körper. […] Vor den Techniken mit Instrumenten steht die Gesamtheit der Techniken des Körpers.« Marcel Mauss4
Der bewegte Körper ist eine Vielfalt von Erzählungen, Situationen und Einbettungen zugleich. Er bildet die leibliche und sinnliche Grundlage der Kommunikationen in sozialen Systemen. Innerhalb des methodischen Pluralismus der systemischen Therapie finden sich jedoch nur wenige Stränge, die den Körper dezidiert als Kontrollparameter psychischen Erlebens hervorheben. Trotz einiger rühmlicher Ausnahmen – Skulptur- und Aufstellungsarbeit, Hypnosystemik, systemische Körperpsychotherapie – wird der somatische Bereich oftmals als untergeordnet wahrgenommen oder gänzlich außen vor gelassen. Das Vergessen der Körpersprache innerhalb der Sprache mag zu einem gewissen Teil auf die Text-, respektive Medienbasiertheit unserer modernen Welt zurückzuführen sein. Rituelle Handlungen werden hierin zu abstrakten Symbolen und diese wiederum zu Zeichen zusammengeschrumpft, das virtuelle, imaginative oder informatorische Geschehen dem somatischen vorgereiht und Leiblichkeit sträflich vernachlässigt. Poststrukturalistische, um nicht zu sagen postmoderne Ansätze schenken der Beziehung zwischen uns als Menschen und unseren sprachlichen Produkten im kommunikativen Handeln besondere Gewichtung (Geyerhofer u. Komori, 1999). Die Krise der Repräsentation ist die Folge einer Überbetonung konstruktivistischer Sichtweisen, die wiederum einer Überbetonung von Naturalisierungsansätzen der Welt entspringen. Um mit den Worten von Simon (1993, S. 478) zu sprechen, geht es stets darum, »die epistemischen Irrtümer, die aus der Verwechslung von Logik und Leben, von Sprache und Erfahrung resultieren«, neu infrage zu stellen. Eine Sprache darüber kann sich 4 Mauss, 1935/1978, S. 206.
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einer Sprache darin stets nur annähern. Mein Beitrag soll dazu einladen, die große Dringlichkeit leibphänomenologisch inspirierter systemischer Praxis und Forschung näher in Betracht zu ziehen. Ihre Stärken liegen darin, sich erfahrungsnah zu präsentieren und Erkenntnisse der Praxeologie nach Bourdieu wie der Synergetik nach Haken gleichberechtigt miteinander zu integrieren. In diesem Sinne erscheint es mir besonders wichtig, abstrakt angelegten System- und Metatheorien stets möglichst viel an verkörpertem Erfahrungswissen zur Seite zu stellen. Sobald wir den Text und die wissenschaftlichen Modelle verlassen, uns spüren und berühren, nehmen wir uns mitten im Leben wahr, stehen der unbegreiflichen, der unbegrifflichen Welt gegenüber, erkennen, dass Menschen darin über Sprache erreichbar, aber nicht auf selbige, geschweige denn auf Text zu reduzieren sind.
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Frauke Nees
Improvisationstheater schafft Lust auf Veränderung: Innerer Kritiker meets inneren Querdenker »Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefaßt sein.« Johann Wolfgang von Goethe1
Von der Schwierigkeit, sich zu verändern Bei den meisten gewünschten Veränderungsprozessen besteht die Schwierigkeit nicht nur darin, das neue Verhalten aufzubauen und in bestimmten Situationen anders als bisher zu reagieren, sondern vor allem darin, nicht in das alte Verhaltensmuster zurückzufallen. Auf bestehende Verhaltensmuster zurückzugreifen ist einfacher, weil diese automatisiert sind. Wer sich in einer Situation anders verhalten will, braucht viel Bewusstheit und zusätzliche Energie, um das bisherige Verhaltensmuster zu unterdrücken und gleichzeitig ein neues Verhalten, das noch ungewohnt ist, auszuführen. Das ist anstrengend. Auch der Anspruch in Lernprozessen, neu mit einer Situation umzugehen und sofort und perfekt das gewünschte Verhalten zeigen zu können, ist oft eine Überforderung. Deshalb ist es hilfreich, zunächst gar nicht auf die spezifische Problemsituation, in der man sich unsicher, inkompetent, verletzt oder ängstlich fühlt und damit zusätzlich Druck machen würde, zu fokussieren. Der erste Schritt ist, aus alten Bahnen auszusteigen und überhaupt anders zu handeln. Viel hilfreicher ist es, zunächst allgemein Flexibilität und Veränderungskompetenz zu trainieren: Neue, andere Erfahrungen zu ermöglichen, Routine und Verhaltensmuster zu durchbrechen, etwas zu tun, das man noch nie getan hat, und in verschiedene Rollen zu schlüpfen, ohne ein bestimmtes Ziel erfüllen zu müssen, nimmt Druck und führt zu mehr Leichtigkeit und innerer Freiheit.
1 von Goethe, 1821/1950, S. 27.
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Die Übungen und Spiele aus dem Improvisationstheater ermöglichen es, mit verschiedenen Rollen zu experimentieren und dadurch auch verschiedene innere Anteile zum Schwingen zu bringen. Wenn der innere Kritiker und der innere Querdenker aufgrund ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit in konflikthafter Beziehung sind, bietet das hier vorgestellte Trainingskonzept mit Improvisationstheater einen kreativen Weg der Integration. Die konstruktive Zusammenarbeit der beiden Teile erleichtert Veränderungsprozesse.
Der theoretische Hintergrund: Innerer Kritiker, innerer Querdenker und das Teilemodell der Persönlichkeit Die menschliche Psyche ist kein homogenes System, sondern besteht vielmehr aus einer Vielzahl unterschiedlicher Teile. Für den individuellen Umgang mit gewünschten Veränderungsprozessen sind zwei dieser Teile von Bedeutung, die hier als innerer Kritiker und innerer Querdenker bezeichnet werden sollen. Im Folgenden soll zunächst auf die theoretischen Hintergründe der Teilearbeit eingegangen werden. Das theoretische Modell von Persönlichkeit, das die menschliche Psyche aus einer unbestimmten Anzahl von Teilpersönlichkeiten bestehend betrachtet, wird von verschiedenen Ansätzen zugrunde gelegt. Nach Peichl (2015) ist »das Ich […] ein sich selbst organisierendes System aus Teil-Selbsten, aus unterschiedlichen Ich-Zuständen« (Peichl, 2015, S. 37). Das ist auch die Grundlage und das Wirkprinzip der Ego-State-Therapie von Helen und John Watkins (Watkins u. Watkins, 2003). Die Ego-State-Theorie postuliert als ein Energie- oder Teilemodell der Persönlichkeit eine Selbst-Familie, die aus umgrenzten und beschreibbaren Sub-Selbsten zusammengesetzt ist. »Eine Vielzahl von Selbst-Anteilen zu besitzen ist normal und auch von unschätzbarem Vorteil, da wir damit flexibler auf verschiedene Herausforderungen in unserem Beziehungsfeld reagieren können« (Peichl, 2015, S. 51). Probleme zeigen sich, wenn es an Kooperation zwischen den Ego-States mangelt. Das Ziel der Ego-State-Therapie ist die Integration, die definiert wird »als Zustand, in dem die einzelnen Ego-
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States in vollständiger Kommunikation miteinander stehen […] und in kooperativen Beziehungen miteinander existieren« (Peichl, 2015, S. 49). Ego-States (ES) weisen unter anderem folgende Charakteristika auf: »– ESs differenzieren sich entlang einer Zeitlinie, nach Funktion, Eigenschaften, Rollen, z. B. Selbst-Hasser, Ernährer, Kritiker, Führer, Kinder-States, innerer Beobachter – ESs, die in der Kindheit entstanden, reagieren oftmals in der Gegenwart dysfunktional – ESs verteidigen ihre Rolle und Funktion, auch wenn das für den Erwachsenen ungünstig ist. Sie befürchten Vernichtung, wenn sie ihren ›Job verlieren‹ – ESs können wegen ihrer Rollen mit anderen im Widerspruch stehen; das schafft intrapsychische Konflikte – ESs haben von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter die Fähigkeit, sich zu verändern, sich zusammenzuschließen, zu wachsen und sich anzupassen« (Watkins u. Watkins, zit. nach Peichl, 2015, S. 55). Die Gesamtheit der Ego-States bildet so eine »innere Familie« (Schwartz, 2002) oder auch ein Inneres Team (Schulz von Thun, 2006). Das IFS-Modell (Internal Family Systems) von Richard C. Schwartz (2002) verbindet die Multiplizität der Psyche mit dem systemischen Denken. Es kommt danach zu Schwierigkeiten, wenn die scheinbare Widersprüchlichkeit der inneren Anteile dazu führt, dass sie einander bekämpfen, weil sie davon ausgehen, dass die Lösung in einem »Entweder-oder«-Szenario liegt. Die Folge ist, dass sie daran gehindert werden, die ihnen innewohnenden Stärken zu nutzen (Schwartz, 2002). Entsprechend ist das Ziel die Integration, wobei die Teile miteinander kooperieren und so ihre Stärken entfalten können. In Veränderungsprozessen spielen zwei dieser Ego States eine wichtige Rolle, entsprechend geht es im Folgenden insbesondere um den inneren Kritiker und den inneren Querdenker.
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Der innere Kritiker ist solange nicht konstruktiv, wie er ausgeschlossen wird Der innere Kritiker wird gefürchtet, weil er uns das Leben schwer macht. Durch seine oft strenge Zensur und Bewertung erschwert er Lernprozesse. Jedoch »verfolgen auch grausame, entwertende und verfolgende Ego-States letztlich hilfreiche Ziele (so schwierig das oft zu erkennen ist)« (Peichl, 2015, S. 54). Tatsächlich will der innere Kritiker vor Verletzung schützen. Er meint deshalb, alles unter Kontrolle halten zu müssen, und hat große Angst vor Veränderung. Dabei stellt er sich nicht sehr geschickt an, aber es ist bis dahin die einzige Reaktionsform, die ihm zur Verfügung steht. Wenn man ihn in einer Therapiesituation als Ego-State direkt anspricht, erfährt man schnell, dass er seinen Job eigentlich sehr anstrengend findet und es ihm auch nicht gefällt, dass er nicht gemocht wird. Zumal er das doch für alle im System tut – und dafür erfährt er dann so eine Ablehnung. Sein extremes Verhalten verstärkt sich noch, wenn er vom Inneren Team ausgeschlossen wird. Wie könnte er seine Haltung verändern? Er muss entlastet werden und ihm muss geholfen werden, sich weniger allein verantwortlich zu fühlen und mehr loszulassen. Was kann ihm helfen, sich sicherer zu fühlen? Warum ist der innere Querdenker für Veränderungsprozesse so wichtig? Varga von Kibéd und Sparrer (2014) beschreiben Querdenker als »Menschen, die uns in unseren vertrauten Denkmustern stören oder unterbrechen, indem sie auf unerwartete, schwer voraussagbare oder uns zunächst unangenehme Art ihre Gedanken einbringen« (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014, S. 35). Das Querdenken beruht im »Ausscheren aus einem erwarteten oder gewohnten Denk- und Verhaltensmuster« (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014, S. 75). Querdenker sind nun nicht nur als andere Personen in unserer Umgebung anzutreffen, sondern auch als innerer Anteil. Er steht für die Sehnsucht und Notwendigkeit nach Veränderung und dem Streben nach Neuem, wofür er mit gewohnten Verhaltensmustern brechen muss. Was tun wir ohne Querdenker? Wir greifen automatisch in eine bestimmte Schublade, in der wir eine Standardreaktion parat
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haben. Das ist häufig sinnvoll, weil die Reduktion der Komplexität uns für Alltagszwecke handlungsfähiger macht. Gerade für Veränderungsprozesse brauchen wir jedoch unbedingt die Mitarbeit des inneren Querdenkers. In neuen und ungewohnten Situationen reagiert er nicht einfach schematisch nach alten Mustern, sondern erfasst die spezifischen Chancen der Situation und nutzt sie in origineller Weise, ohne sich vom Erwartungsdruck der Umgebung in alte Reaktionsweisen zurückzwingen zu lassen (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014). Wir können sein Potenzial jedoch erst nutzen, wenn wir seine Interventionen nicht länger missverstehen und als Störgedanken abtun. Und wenn wir uns nicht durch das Infragestellen gewohnter linearer Eindeutigkeiten verunsichern lassen. Integration: Die beiden ergänzen sich Genauso wie äußere Teams profitiert auch das Innere Team (Schulz von Thun, 2006) substanziell von einem Querdenker ebenso wie von einem Kritiker, wenn diese nicht missverstanden, sondern in ihrem jeweiligen Wesen und Wert erkannt und integriert werden. Es kommt zu einem lähmenden Konflikt zwischen den beiden inneren Anteilen, wenn man sie als unvereinbare Standpunkte betrachtet. Tatsächlich ergänzen sie jedoch einander: Um kreativ, flexibel und offen gegenüber notwendigen Veränderungen sein zu können, braucht man eine sichere Basis und gleichzeitig braucht es die mutige Kraft des inneren Querdenkers, der mit Lust nach Neuem und Veränderung strebt, um aus alten Verhaltensmustern herauszukommen. Wenn die beiden Teile gut miteinander kommunizieren und kooperieren, ist der Gewinn für das Innere Team außerordentlich groß. Denn nur wenn wir »den gegensätzlichen Werten voll zustimmen, statt uns auf blassere Kompromisse einzulassen, behalten beide Pole ihre volle Kraft« (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014, S. 125). Wie muss die Integration gestaltet sein? Einbeziehung, in der die jeweilige Unterschiedlichkeit bestehen darf, wirkt heilsam, wohingegen Vermengung oder Ausschluss Leid erzeugt (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014). Der innere Kritiker entstand ursprünglich, um zu beschützen. Er ist zuständig für Sicherheit. Schließt man ihn aus,
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dann wird er extrem reagieren und blockieren, weil er um seine Existenz kämpfen muss, im Dienste des gesamten Systems. Wenn er anerkannt, wertgeschätzt und gesehen wird, könnte aus dem verwahrlosten, ungeliebten Wesen wieder ein Beschützer werden. Wenn der innere Querdenker unterdrückt wird, fühlt man sich nicht lebendig und energielos; wird er wertgeschätzt und integriert, liefert er die notwendige Initiative und Kraft für Veränderungsprozesse. Es geht also gerade nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Es ist gerade das Pendeln zwischen den beiden Polen von Sicherheit, Kontrolle, Struktur und Bindung einerseits und Flexibilität, Offenheit, Chaos, Nichtwissen und Freiheit andererseits, was Wachstum und Veränderung erst ermöglicht.
Das Ziel: Kreativität als Ressource für Veränderung – Balance von Veränderungslust und Sicherheitsgefühl »Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefaßt sein.« Johann Wolfgang von Goethe2
Kreativität lässt sich wegen ihrer Vielschichtigkeit »nur sehr vage definieren als Fähigkeit, etwas Neues zu schaffen, sei es eine neue Problemlösung, eine Entdeckung oder ein neues Produkt« (HolmHadulla, 2009, S. 232). Kreativität ist eine grundlegende Eigenschaft aller Lebewesen und es bedarf einer beständig wirkenden Kreativität, um überlebensfähig zu sein. Dabei besteht eine »kontinuierliche Spannung zwischen der Etablierung und Aufrechterhaltung von konstanten Strukturen und der Unterbrechung des erreichten Gleichgewichts, um neue Erfahrungen zu ermöglichen« (Holm-Hadulla, 2009, S. 231). Der Zustand von Nichtwissen und Nichtkönnen ist also normal und notwendiger Bestandteil von Veränderungsprozessen (Nachmanovitch, 2004). Das Leben ist ständige Veränderung. Ein wesentlicher motivationaler Faktor der Kreativität ist Neugier. Sie ist Ausdruck von Lebendigkeit, führt aber nur zu kreativen Leistungen, wenn auch genügend Sicherheit in der Person und ihrer 2 von Goethe, 1821/1950, S. 27.
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Umgebung vorhanden ist. Dies kann man schon am Explorationsverhalten von Säuglingen studieren. Sie lassen ihrem Neugierverhalten freien Lauf und spielen kreativer, wenn sie über hinreichend sichere Bindungen verfügen (Holm-Hadulla, 2009; Brisch, 2015). »Das Wechselspiel von Neuem und Bewährtem, die Balance von Veränderungslust und Sicherheitsgefühl, muss […] immer wieder neu gestaltet werden« (Holm-Hadulla, 2009, S. 234). Flexibilität ist eine wichtige Persönlichkeitseigenschaft, die häufig mit Kreativität verbunden wird. Sie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, neue Erfahrungen zu machen – wie ein Kind, das mit Offenheit und Erstaunen neue Ereignisse wahrnimmt (HolmHadulla, 2009). Flexibilität wird begünstigt von klaren Strukturen. Offenheit und Veränderungsbereitschaft sind nur auf dem Boden ausreichender Sicherheit möglich. Für den kreativen Prozess und damit für Veränderungsprozesse ist das Zusammenspiel beider Seiten wichtig: Um verrückte Ideen zu spinnen, braucht es geradezu die Möglichkeit, auf eine sichere Basis zurückgreifen zu können. Die beiden Seiten schließen sich also nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. In kreativen Phasen pendeln Menschen zwischen dem Pol von Sicherheit, Struktur und Halt auf der einen Seite und dem Pol von Unsicherheit und Wandel auf der anderen Seite. Dieses Hin- und Herbewegen ist typisch für den kreativen Prozess, denn nur was sich bewegt, kann sich verändern. In der Konsequenz geht es darum, beiden Seiten mit ihren jeweiligen Bedürfnissen und Aufgaben Raum und Rahmen zu geben. Wie kann das gehen? – Indem man sich abgesichert auf unsicheres Terrain begibt.
Der Weg: Angewandte Improvisation Improvisation Der Begriff Improvisation leitet sich aus dem lateinischen Wort improvisus ab und bedeutet: unvorhergesehen. »Wer improvisiert, der tut etwas Unvorhergesehenes, handelt kreativ […], greift seine Gedanken und Taten spontan aus der Luft, also nicht aus langem zielgerichteten Nachdenken« (Spitzer, 2012, S. 180). Improvisation ist
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nach Spitzer (2012) gleichbedeutend mit Kreativität. »Beim Improvisieren findet man eine Deaktivierung von Zentren der bewussten Kontrolle« (Spitzer, 2012, S. 183). Schiller sah an den Toren des Verstandes eine Wache stehen, die die »zuströmenden Ideen« zu scharf mustert. »Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, däucht mir, hat der Verstand seine Wache von den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen« (Friedrich Schiller in einem Brief an Gottfried Körner vom 1.12.1788; Schiller, 1853, S. 98). Kreativität und freier Fluss von Ideen wird erst durch das Aufgeben von Kontrolle, durch das Loslassen innerer Zensur und durch Hingabe und Muße erreicht (Johnstone, 2004; Nachmanovitch, 2004). Das ist genau, was im Improvisationstheater geschieht: Die Spielenden lernen, Ideen und Impulse nicht zu bewerten. Durch das Vertrauen in sich selbst und die Mitspieler, das gemeinsame Improvisieren und Im-Moment-Sein entsteht ein Flow-Erleben, das als »group-mind« bezeichnet wird: Alles entsteht im Moment und die Gehirne der Spieler scheinen wie auf wundersame Weise miteinander verknüpft (Halpern, Close u. Johnson, 1994). Improvisation kann gelingen oder scheitern, das ist das Dramatische am kreativen Prozess (Altenmüller, 2006). Das Prozesshafte und Flüchtige daran macht Improvisationen lebendig und aufregend. Das Improvisationstheater braucht etwas Mut und Risikofreude, aber auch Hingabe und Loslassen. Dabei wird das Spielen mit der Grenze als lustvoll erlebt. Improvisationstheater Beim Improvisationstheater wird ohne Skript gearbeitet. Die Szenen entstehen im Moment, indem sich die Spieler/-innen aufeinander einlassen und spontan auf die jeweiligen Impulse der anderen Spieler/-innen reagieren. In dieser Theaterform gibt es Übungen und Spiele, um die Fähigkeiten zum Improvisieren zu erhöhen. Manche werden auch direkt auf der Bühne als Format aufgeführt. Viele der Spiele gehen zurück auf Keith Johnstone und Viola Spolin. Spolin (1999) hat diese Methoden für die Arbeit mit Einwanderern und Familien in schwierigen Lebenssituationen entwickelt, um Kommunikation, Integration und Beziehungsfähigkeit zu verbessern.
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Johnstone (2004) entwarf im Rahmen seiner Tätigkeit als Schauspiellehrer seine ersten Improvisationsübungen, um seinen Schülern ein freieres Lernen zu ermöglichen, mit weniger Angst und weniger innerer Zensur. Er geht davon aus, dass alle Menschen von Geburt an kreative, phantasievolle Künstler/-innen sind, diese Fähigkeiten aber durch Erfahrungen im Verlauf der Sozialisation verschüttet werden. Kreativität und Spontaneität werden aus Angst vor Fehlern und Misserfolgen gehemmt. Menschen schützen sich, weil sie nicht analysiert und beurteilt werden möchten. Nach Johnstone ist alles, was Druck und Stress erzeugt, kontraproduktiv für den kreativen Prozess. Sein oberstes Prinzip ist, seine Schüler/-innen nicht zu frustrieren, nicht zu beschämen und für ein Gefühl von Sicherheit auf der Bühne zu sorgen. Er hat auch Übungen und Spiele entwickelt, um Blockaden zu beseitigen, indem er den inneren Zensor mit etwas anderem beschäftigt und damit ablenkt. Der innere Kritiker hat wenig Möglichkeit dazwischenzufunken, wenn auf Geschwindigkeit gearbeitet wird. Deshalb führt ein höheres Tempo zu mehr Spontaneität. In den Übungen wird vor allem gelernt, sich durch den Anspruch, besonders geistreich zu sein, nicht unter Druck zu setzen. Ziel ist es, spontan und intuitiv zu reagieren. Im Alltag beobachtete Johnstone bei vielen eine Selbstzensur, die dem Individuum einerseits das Gefühl von Sicherheit vermittelt, es aber andererseits in vielen Bereichen blockiert. Ängstliche Improvisationsspieler/-innen sagen »Nein!« zu Angeboten ihrer Mitspieler/-innen und blockieren dadurch den Spielfluss. »Mit diesem Motto versuchen wir im Leben, ein Geschehen aufzuhalten« (Johnstone, 1998, S. 117). Johnstone konstruierte auch Übungen, die Schüler/-in nen über ihre eigenen Fehler lachen lassen. Man trainiert auch, das Nichtwissen und die Unsicherheit auszuhalten und als notwendig zu erkennen, um innere Impulse aufsteigen zu lassen. Für Improvisationstheater Spielende gibt es bestimmte Prinzipien, die die Basis für kreative und konstruktive Zusammenarbeit darstellen. Beim Improvisieren wird mit einer offenen und flexiblen Haltung und dem gearbeitet, was in dem Moment da ist. Sätze oder Handlungen seitens Mitspielender werden als Angebote angenommen, um anschließend darauf aufzubauen. Es erfordert, mit konzentrierter Wahrnehmung und Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu
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sein, sich einzulassen und loszulassen, nicht zu kontrollieren, nicht zu lenken und nicht an eigenen Ideen und vorgefertigten Konzepten festzuhalten. Da Rigidität und Kontrolle oft die Reaktion auf Stress und Angst sind, wird im Improvisationstheater sehr viel Wert darauf gelegt, eine vertrauensvolle, positive Atmosphäre zu schaffen und gute Beziehungen aufzubauen. Angewandte Improvisation Auch im Leben gibt es viele Situationen, in denen wir nicht planen können, die anders sind als erwartet oder in denen wir mit herkömmlichem Verhalten nicht weiterkommen. Mit den Spielen und Übungen aus dem Improvisationstheater lernt man, auf solche Situationen besser vorbereitet zu sein, aber nicht indem man einen Plan B hat, sondern indem man improvisieren lernt. Das Lernen erfolgt handlungsorientiert und experimentell, indem sich die Teilnehmenden in verschiedensten Rollen erleben und direkt neue Erfahrungen machen. Manche in den Workshops zu Angewandter Improvisation wundern sich über die Spiele und meinen, das wäre kein ernsthaftes Arbeiten (Tint, McWaters u. van Driel, 2015). Jedoch ist gerade das Spiel und das Zusammenspiel der Teilnehmenden der Wirkfaktor. Die Situation wird vom inneren Kritiker nicht kontrolliert, da es ja scheinbar um gar nichts geht. Und genau das gibt die Freiheit zu experimentieren und löst Blockaden. Was blockiert, ist die Angst etwas falsch zu machen. Wenn es aber gar kein richtig oder falsch gibt, dann entsteht ein großer Freiraum. In der Angewandten Improvisation werden die Übungen und Spiele aus dem Improvisationstheater gezielt genutzt, um bestimmte Fertigkeiten wie Kommunikation, Kreativität, Flexibilität und Beziehungsfähigkeit zu trainieren. Durch die Übungen, die oft körperund bewegungsorientiert sind, wird die Energie auf ein höheres Niveau gebracht und dort gehalten. Die Teilnehmenden kommen aus dem Kopf und in den Körper, was innere Kontrolle reduziert und Präsenz erhöht. Die gemachten Erfahrungen werden reflektiert und der Bezug zu sich selbst und spezifischen Situationen oder Personen herausgearbeitet. Schließlich wird besprochen, wie die Teilnehmenden das Erlebte nutzen wollen und in welchen konkreten Situationen sie es wie anwenden können (Tint et al., 2015).
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Was ganz wichtig ist: Spaß und das Spiel dürfen dabei nicht verloren gehen. Übungen dürfen nicht instrumentalisiert werden. Die Wirkung der Kunst besteht in ihrer Freiheit und damit ist auch Zweckfreiheit gemeint (Maldoom, 2010).
Die Effekte: Der Einfluss von Improvisation auf die Integration von Kritiker und Querdenker Bedeutung der Gruppe: Sicherheit durch Beziehung Eine vertrauensvolle Beziehung, die erlaubt, sich zu öffnen und sich damit verletzbar zu machen ist eine wichtige Voraussetzung für Lernprozesse. Deshalb sind die wertschätzende Haltung des Trainers sowie der Zusammenhalt der Gruppe besonders wichtig. Lernen, Veränderung und Entfaltung von Kreativität brauchen sicheren Boden. »Eine wertfreie Atmosphäre ist Vorbedingung für kreative Prozesse« (Johnstone, 1995, S. 201). Ein solcher Raum ermöglicht es dem Individuum loszulassen und sich spontan und authentisch zu verhalten, ohne durch die Angst vor negativer Beurteilung gehemmt zu werden. Oberstes Prinzip ist, nicht zu beschämen und nicht zu frustrieren. Die Teilnehmer fühlen sich absolut sicher, sie entscheiden selbst, ob und wann sie sich mit einer Übung vor der Gruppe zeigen. Jeder hat sein eigenes Tempo. Für manche, eher introvertierte Menschen ist es wichtig, länger zu beobachten. Wenn ihnen diese Zeit gelassen wird und sie sich darauf verlassen können, dass sie nichts machen müssen, was sie nicht möchten, entsteht von selbst der Wunsch mitzumachen und sich zu zeigen. Im Improvisationstheater werden durch das Zusammenarbeiten aller Gruppenmitglieder Ergebnisse erzielt, wobei es keine Rolle spielt, inwiefern der Einzelne dazu beigetragen hat. Es gibt keinen einzelnen Helden. Alle sind gleichermaßen verantwortlich, auch für Fehler. Der Einzelne kann umso mehr riskieren, je mehr die Gruppe diese Haltung des gemeinsamen Tragens und gegenseitigen Unterstützens verinnerlicht. Die Verbindung in der Gruppe gibt die notwendige Sicherheit, um nicht zu kontrollieren, sondern loszulassen und an der Grenze zu spielen. Das hilft dem inneren Kritiker der Teilnehmenden, die Blockade zu lösen und sich auf das einzulassen, was kommt.
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Die Angst vor Fehlern Veränderungs- und Lernprozesse ohne Fehler sind unmöglich. Das Riskieren von Fehlern ist unabdingbar (Fischer u. Wetzel, 2015). Wer einen Fehler um jeden Preis vermeiden möchte, wird den Lernprozess blockieren. Auch Varga von Kibéd und Sparrer (2014) schlagen eine andere Sichtweise von Fehlern vor, um zu einem neuen Verständnis der Begriffe falsch und richtig zu gelangen. Zum einen können wir wirksamer durch Fehler lernen, zum anderen gibt es »Handlungen, die zwar übereinstimmten mit unseren Werten und erfolgreich waren, aber Lernprozesse behinderten, indem wir allzu starr an alten Mustern festhielten« (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014, S. 81). So plädieren sie dafür, lieber einen richtigen Fehler zu begehen und daraus zu lernen als krampfhaft Fehler zu vermeiden und mit einer »falschen Richtigkeit zu leben, die uns übervorsichtig und unkreativ werden lassen kann« (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014, S. 115 f.). Beim Improvisationstheater gibt es keine Fehler, weil ein vermeintlicher Fehler als Impuls verstanden und integriert wird, ähnlich wie in der Jazzmusik. Auch dies spricht den inneren Kritiker an, da er die Abwertung der Person fürchtet. Wird die Angst vor dem Scheitern reduziert, kann er sich wiederum besser auf den Prozess einlassen. Spiel bringt Leichtigkeit Der Querdenker, das innere Kind, der Clown und der innere Künstler haben eine Gemeinsamkeit: Sie wollen spielen, Spaß haben, sich bewegen, tanzen, schöne Dinge tun, einfach aus dem Fenster starren, unvernünftig sein und Freiheit. Sie folgen unmittelbar und intuitiv ihrer Leidenschaft und Sehnsucht. Es gibt kein Warum und Wozu. Das Handeln braucht weder Rechtfertigung noch Sinn, kein Ziel und keinen Zweck. Das ist genau die Definition von Spiel: Es ist zweckfrei und sinnfrei und genau darin liegt sein Wirkmechanismus. Eine spielerische Haltung unterstützt Veränderungsprozesse, weil es die hierfür benötigte Energie und Kraft liefert und Angst nimmt. »Entwicklungspsychologen sehen im kindlichen Spiel ein Grundmodell kreativen Verhaltens« (Holm-Hadulla, 2009, S. 232). Winnicott (1971) verfolgt die These, »daß kreativ leben ein Zeichen
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von Gesundheit ist und daß Übergefügigkeit eine krankhafte Basis für das Leben darstellt« (Winnicott, 1971, S. 78). Genau dies ist nun, was der Querdenker benötigt. Durch Leichtigkeit wird er stimuliert und angeregt, sich einzulassen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Haltung und die Methodik der Angewandten Improvisation einen geeigneten Rahmen bieten, die beiden inneren Anteile, den inneren Kritiker und den inneren Querdenker, die für Veränderungsprozesse eine wichtige Rolle spielen, zu integrieren. Beide Anteile werden gesehen und gezielt angesprochen. Beide Teile erhalten Wertschätzung, da die Bedeutung ihres konstruktiven Zusammenarbeitens für den gewünschten Veränderungsprozess erkannt wird.
Die Mittel: ausgewählte Übungen Im Folgenden sind einige Übungen beschrieben. Um diese tatsächlich in ihrer Wirkung zu verstehen, muss man sie jedoch erlebt haben. Alle Übungen werden entweder im Kreis oder in Kleingruppen aus zwei bis vier Spielern durchgeführt. Übung: Zählen im Kreis mit Gesten
Ziel: Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt, über eigene Fehler lachen, Gruppenzusammengehörigkeit Ein Kreis wird gebildet. Eine Spielerin beispielsweise beginnt zu zählen, indem sie »eins« ruft, und sich dabei entweder auf die linke oder rechte Schulter klopft. Beim Klopfen auf die linke Schulter ist ihr linker, beim Klopfen auf die rechte Schulter ihr rechter Nachbar dran weiterzuzählen und »zwei« zu rufen. Auch dieser klopft sich dann wieder auf die Schulter usw. Dieser Impuls geht solange im Kreis hin und her, bis man bei dem Spieler ist, der die Zahl sieben ruft. Dieser Spieler klopft sich nun nicht mehr auf die Schulter, sondern hält stattdessen entweder die rechte oder die linke Hand über den Kopf parallel zur Schulter. Die rechte Hand über dem Kopf zeigt nun an, dass sein linker Nachbar dran ist, die linke Hand über dem Kopf zeigt an, dass nun sein rechter Nachbar dran ist. Dieser nächste Nachbar beginnt nun wieder erneut bei »eins« und klopft sich wieder auf die
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rechte oder linke Schulter wie oben usw. Wenn ein Spieler einen Fehler macht, muss er ein Mal um den Kreis herumlaufen und sich dann wieder in den Kreis einreihen.
Übung: Wort-für-Wort-Geschichte mit »Nochmal!«
Ziel: flexibles Denken, eigene Ideen loslassen und sich auf Impulse des Partners einlassen, im Fluss bleiben, sich wohlfühlen als Voraussetzung für gute Zusammenarbeit, im Hier und Jetzt sein, Kooperation statt Konkurrenz, Angebote annehmen, sich zusammen verantwortlich fühlen, den anderen unterstützen Zwei bis drei Spieler/-innen erzählen zusammen eine Geschichte. Dabei sagt jede/r abwechselnd immer nur ein Wort. Wenn sich eine/r der Spielenden unwohl fühlt, warum auch immer (z. B. die Geschichte ist ihr/ihm zu langweilig, peinlich, zäh), dann sagt sie/er »Nochmal!« und man fängt sofort ohne zu diskutieren und zu analysieren mit einer neuen Geschichte an.
Übung: Zip Zoom Boing
Ziel: Wahrnehmung, Hier und Jetzt, Aufmerksamkeit fokussieren, Reaktionsschnelligkeit, Gruppenzusammenhalt, Energie erhöhen, aus dem Kopf, Umgang mit Chaos, Umgang mit Fehlern und Stress Ein Kreis wird gebildet. Ein Spieler etwa fängt an, in die Hände zu klatschen, dabei zeigt er entweder nach links oder nach rechts mit den Händen und dem Blick. Klatschen nach links wird mit »Zip« kommentiert, Klatschen nach rechts mit »Zoom«. Die oder der »Angeklatschte« muss so schnell wie möglich, am besten noch im Klatschen der Nachbarin oder des Nachbarn reagieren und den Klatscher weitergeben, die Richtung ist beliebig. Das Klatschen darf also auch zurückgegeben werden und die Richtung ändern. Anstatt nach links oder rechts kann das Klatschen auch mit einem »Boing« an jemand Beliebiges im Kreis weitergegeben werden. Ganz wichtig: Blickkontakt und deutliches Zeigen.
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Übung: Ich bin ein Baum
Ziel: Zusammen etwas erschaffen, Gruppenzusammengehörigkeit, Improvisieren, Assoziieren, Offenheit, Flexibilität, Handlungsfähigkeit unter Druck, Angebote annehmen, den anderen unterstützen Ein Kreis wird gebildet. Ein Spieler oder eine Spielerin A geht in die Mitte, macht eine Pose und sagt dazu, wen oder was er/sie darstellt. Zum Beispiel werden die Arme über den Kopf gehoben und dazu wird gesagt: »Ich bin ein Baum.« Ein Spieler oder eine Spielerin B kommt dazu und sagt wer oder was er/sie ist. Das kann assoziativ sein oder auch gerade gar nichts mit dem zuvor Gesagten gemein haben. Ein Spieler/eine Spielerin C kommt hinzu und verbindet die Angebote von A und B zu einer Geschichte. Beispiel: A: »Ich bin ein Baum.« B: »Ich bin ein Kuss.« C: »Ich bin der alte Witwer, der sich an seinen ersten Kuss unter diesem Baum erinnert.«
Fazit Die Arbeit mit kreativen Methoden aus dem Improvisationstheater und das Trainieren von Improvisationsfähigkeit nimmt die Angst vor und schafft Lust auf Veränderung. Das Blockieren und Kontrollieren von Veränderung aus Angst vor Unsicherheit und Fehlern wird durch den Aufbau einer spielerischen Haltung, Improvisationsfähigkeit, Flexibilität, zusammen lachen und zusammen spielen in der Gruppe genommen. Im Theater geht es immer darum, verschiedene Rollen spielen zu können und über ein möglichst breites Handlungsrepertoire zu verfügen. Im Alltag brauchen wir die Fähigkeit, Veränderungen akzeptieren zu können und auf Neues angemessen zu reagieren. Durch die Übungen und Spiele aus dem Improvisationstheater kann der innere Kritiker lernen, über sich selbst zu lachen und sich mit dem inneren Querdenker zu verbünden. Dadurch kann er seine Stärke, nämlich für ausreichend Sicherheit zu sorgen, einbringen. Gleichzeitig wird der innere Querdenker gesehen und ist ganz in seinem Element, indem er Routinen durchkreuzt. Durch Improvisation wird
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das Zusammenspiel der beiden Anteile gefördert – ein Ausgangspunkt für gelingende Lern- und Veränderungsprozesse. Auf den ersten Blick scheinen die jeweiligen Standpunkte des inneren Kritikers und des inneren Querdenkers völlig konträr. Durch ihre Versöhnung und Integration wird jedoch die »Entwicklung eines synergiefördernden visionären Wir-Gefühls« gefördert (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014, S. 168). Dann kann sich eine ganz neue Qualität entwickeln, die weder im »Bewahren des Bewährten« noch im »Ständig-nur-Verändern« enthalten ist, sondern aus der Interaktion beider Pole entsteht: die Synthese als Ganzes, das mehr ist als seine Teile (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014). Eine ähnliche Situation finden wir beim improvisierten Tango Argentino mit einer klaren Rollenverteilung zwischen Leader und Follower. Es ist eine Begegnung zweier gleichwertiger Persönlichkeiten mit getrennten, aber sich ergänzenden Qualitäten. Wenn es keinen Kampf um Macht gibt, sondern die beiden Tänzer sich stattdessen aufeinander einlassen, stellt das Zusammenspiel einen kreativen Akt dar, der etwas Neues hervorbringen und beide verändern kann (Nees u. Wetzel, 2015).
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András Wienands
Warum die Seele nicht doof ist
Während der Vorbereitung dieses Bandes habe ich mich gefragt, ob ich dem, was ich zur Integration des Körpers in die systemische Therapie in den diversen Publikationen geschrieben habe (Wienands, 2005, 2010, 2013, 2014, 2015), etwas hinzufügen möchte? Methodisch denke ich jedoch nicht, dass ich mit Neuem aufwarten kann. Ein Aspekt allerdings ist mir in den bisherigen Ausführungen zu kurz gekommen, und dieser Aspekt ist, so merkwürdig das vielleicht klingen mag, seelischer Natur. Ich möchte mir daher im Folgenden erlauben, jenseits von Methodik und konkretem Vorgehen, etwas zu dem zu schreiben, woran ich in meinem therapeutischen Vorgehen glaube. Ich möchte etwas zu meinem Glauben als Psychotherapeut schreiben.
Jede Therapierichtung hat ihren Glauben Jede Therapierichtung hat einen Glauben. Die Psychoanalyse glaubt an die Bedeutung der Kindheit, die Verhaltenstherapie an das Lernen, die humanistischen Therapien an die Beziehung und die systemische Therapie an die Selbstorganisation allen Lebens – zugegeben, sehr verkürzt beschrieben. Dennoch irgendwie auch wahr, da Glaube nichts Kompliziertes oder Intellektuelles ist, vielmehr eine Überzeugung, die sich meist mit einem Satz ausdrücken lässt. Eben gerade nicht Differenzierung, Komplexität, Diversität – alles Begriffe, die wir im Systemischen ja sehr lieben, sondern das Gegenteil dessen: die Reduktion der Komplexität auf einen Gedanken, vielleicht ja auch eine Wertvorstellung bzw. eine Wahrheit. Und da ist es schon, das Unwort: Wahrheit. Aber gerade weil wir Systemiker/-innen uns von therapeutischen Wahrheiten, der
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Wahrheit einer Schule oder Methode, so gänzlich abgewandt haben, kommt die Wahrheit durch die Hintertüre wieder rein, setzt sich irgendwo am Rand auf einen Stuhl und wartet geduldig ab, bis alle Augen auf sie gerichtet sind. Dann steht sie nach einer Weile auf, schaut die systemische Gemeinde an und fragt: »Warum habt ihr eigentlich so viel Angst vor mir? Würdet ihr mich mit an den Verhandlungstisch holen, könntet ihr erleben, wie nützlich ich euch sein kann.« Kurz und gut, ich wünsche mir, dass die systemische Therapie – durchaus auch im Sinne einer nützlichen Unterscheidung zur Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologischen und Psychoanalytischen Therapie – beginnt, noch mehr, als sie das schon tut, zu ihrer ganz eigenen Wahrheit, ihrem ganz eigenen therapeutischen Glauben zu stehen. Und dieser liegt meinem Erachten nach nicht im Glauben an Ressourcen, Nützlichkeit, Selbststeuerung oder Selbstgestaltung(skompetenzen), nein, ich glaube er geht darüber hinaus. Natürlich kann man diverse Methoden der systemischen Therapie kopieren. Ihr Menschenbild lässt sich jedoch nicht kopieren. Und dieses Menschenbild, diesen freundlichen, an das Gute im Menschen glaubenden Blick auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene vermisse ich, da ich seit ein paar Jahren die Approbation im Rahmen der systemischen Therapieausbildung organisiere, ab und an sehr. Die systemische Therapie geht nicht davon aus, dass dem Menschen das Destruktive angeboren ist oder dieses durch ein Ich beherrscht werden muss. Sie glaubt daran, dass ein Baby zwar Aggression kennt, also ein »auf die Welt zugehen« (lateinisch aggressio), dass destruktive Energien, so die Lust am Zerstören, Vernichten und Töten, jedoch nicht angeboren sind, sondern erst erworben werden. Das bedeutet, die systemische Therapie glaubt, – und nichts anderes als Glaube ist hier das richtige Wort, da jeder wissenschaftliche Beleg an dieser Stelle halbseiden ist –, an das Gute im Menschen! Oder anders formuliert, die systemische Therapie glaubt daran, dass der Mensch von Geburt an gut ist und das Unbewusste per se kein Ort der destruktiven Triebe, sondern ein Ort der intuitiven Kompetenzen. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zu vielen anderen Therapieverfahren, von dem ich mir wünsche, dass er zukünftig noch stärker betont wird. Nicht zur Abgrenzung, langfristig wird es ohnehin eine allgemeine Form der nützlichen Psychotherapie geben,
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sondern um ein Menschenbild zu stärken, das für alle Beteiligten so viel hilfreicher ist als die Betonung von Defizit und Mangel. Ich werde im Folgenden noch etwas konkreter.
Dekonstruktion versus Vertrauen Die Dekonstruktion jeglicher Aussage mit dem Hinweis darauf, dass alles Gesagte bekanntermaßen nützen müsse, erscheint mir an einem Punkt nicht sinnvoll. Ich glaube daran, dass die Seele nicht blöd ist und meine Klientel selten aus reinem Übermut ärgert. Und ich »glaube« daran, dass meine Klientinnen und Klienten nicht blöd und in der Lage sind, zum Dolmetscher ihrer Seele zu werden. Das bedeutet aber auch, meinen Glauben an die Klugheit der Seele und die Fähigkeit meiner Klientel diese zu verstehen, kann und will ich nicht zur Diskussion stellen. Auch nicht zur Diskussion der Nützlichkeit. Warum nicht? Weil ich daran glaube, dass der Mensch von Natur aus gut ist, und ein Baby, das in diese Welt hineingeboren wird, dieser Welt wohlgesonnen und frei von destruktiven Impulsen ist. Und weil ich daran glaube, dass der Mensch zu dieser Kinderseele und ihrem neugierigen Blick auf die Welt wieder Kontakt finden kann. Und weil ich nicht bereit bin, diesen Glauben aufzugeben, wofür oder für wen auch immer. Gerade diesen unerschütterlichen Glauben erlebe ich bei vielen Systemikern als zentrales Herzstück ihrer Arbeitsweise, als jenes Geheimnis, nach dem so gern gefragt wird: »Wenn man dich so beobachtet, denkt man, Therapie wäre ein vergnügliches Geschäft. Wie machst du das eigentlich?«
Das Leben als kluger Lehrer? Ich frage mich schon lange, wie ich im therapeutischen Raum jene Konsequenz herstellen kann, die das Leben an den Tag legt. Was meine Klientinnen und Klienten in der dritten Ehe nicht lernen konnten, wird in der vierten wieder ins Hausaufgabenbuch geschrieben. Anfangs noch mit den herrlichen Gefühlen des Verliebtseins und – je nach Konsequenz, mit der die Hausaufgaben dieses Mal angegangen werden – mit mehr oder weniger Konfrontation oder auch Frustration. Das Interessante ist ja, man spürt in der Regel schon
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zum Zeitpunkt der Partnerwahl, dass dies wieder einer ist, der einem nicht gut tun wird. Aber man will und kann die Finger nicht davon lassen. – Einfach nur genial, mit welcher Meisterschaft das Leben diesen unwiderstehlichen Braten serviert, nur damit wir uns doch wieder daran verschlucken, um es nun endlich, endlich zu lernen. Woher nimmt das Leben diese Genialität, immer und immer wieder die Chance zu kreieren, das, womit wir uns in unserem Entwicklungsprozess so schwer tun, zu erzeugen? Vielleicht weil Leben in sich, ob nun biologisch, psychisch oder seelisch, genial ist? Wie kommt es, dass im eigenen Sohn Aspekte seines Großvaters auferstehen, mit denen wir selbst in der Kindheit zu kämpfen hatten? Sind wir uns darüber im Klaren, dass nicht der Sohn als »schwierig« zu betrachten ist, sondern wir auf einen unserer blinden Flecken gestoßen sind? Wie kommt es, dass unsere Tochter uns mit eben jenen Aspekten im Verhalten unserer Mutter konfrontiert, die wir bis zum heutigen Tage nicht verarbeiten konnten? Psychodynamisch ist die Antwort einfach: Weil die Seele sich nach Entwicklung sehnt; weil die Seele sich danach sehnt, sich mit jenen Aspekten der eigenen Person auseinanderzusetzen, die sich bis heute nicht entwickeln konnten. Warum? Weil wir diese Aspekte bei unserer Mutter in ihrer destruktiven Form erlebt haben und nicht glauben wollen oder – je nach Schwere der Verletzung – nicht glauben können, dass es sich um wertvolle Aspekte der eigenen Person handelt. Fragen wir doch einmal das Leben selbst, warum es auf allen Ebenen für Entwicklung sorgt. Man kann Entwicklung physikalisch, mathematisch, biologisch oder sozialwissenschaftlich mit jenen Konzepten erklären, auf die wir in der Systemik so gern zurückgreifen. Synergetik in der Physik, Chaostheorie in der Mathematik, Autopoesie in der Erkenntnisbiologie oder die Theorie sozialer Systeme in der Soziologie. Das reicht jedoch meinem Erachten nach nicht, mir fehlt der seelische Aspekt: Seele als jenes Element, das sich rein hirnphysiologisch nicht definieren lässt.
Gewalt versus freiwillige Begegnung Vielleicht muss ich an dieser Stelle einen Unterschied einführen. Ich spreche hier nicht von dem, was Menschen anderen Menschen mit
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psychischer oder körperlicher Gewalt antun, sondern ausschließlich von Begegnungen gleichberechtigter Individuen, die beschließen zusammen zu arbeiten, zu leben oder gemeinsam Kinder großzuziehen. Thema sind hier all jene Kontexte, in die wir uns vollkommen freiwillig begeben bzw. die wir offensichtlich so lange herstellen, bis wir die entscheidenden Entwicklungsschritte gemacht haben – selbstverständlich um uns unverzüglich der nächsten Herausforderung zu stellen. Warum tun wir das, oder warum lässt sich das nicht verhindern? Hier beginnt eine meiner Erfahrungen nach wichtige Wirkungsweise dieser oben skizzierten »seelischen Perspektive«. Statt zu fragen, wie sich die Wiederholung der Themen und die mit diesen einhergehenden Herausforderungen verhindern lassen, könnten wir die Perspektive einnehmen, dankbar zu sein, dass uns das Leben im Zusammenspiel mit unserer Seele immer wieder die Chance gibt, genau das zu lernen, womit wir uns so schwer tun. Welcher Schüler bekäme schon die Chance eine Klasse zehn, zwanzig oder dreißig Mal zu wiederholen? Im Unterschied zur Schule ist die Schule des Lebens jedoch nicht nur gütig, sondern im wahrsten Sinne des Wortes unendlich geduldig. Ist das nicht tröstlich? Zu wissen, dass man es nicht sofort und nicht perfekt schaffen muss, darauf vertrauend, dass das Leben bzw. unsere Seele immer wieder einen Versuch unternehmen wird. Solange, bis wir es gelernt haben. Nur mitmachen müssen wir: mitarbeiten, mitdenken und uns einbringen. Je öfter wir nicht mitarbeiten, mitdenken und uns einbringen, umso mehr Gewicht wirft das Leben in die Waagschale, um uns zum Mitarbeiten zu animieren. Sich verweigern geht also nicht, auch wenn uns der geforderte Entwicklungsschritt vor lauter Angst Blut schwitzen lässt.
Wenn der Körper zum Boten der Seele wird – ist er das denn immer? Lebensnotwendige Entwicklungsschritte lassen sich nicht unendlich aufschieben. Wie reagiert unsere Seele an dieser Stelle? Sie nimmt sich den Körper zuhilfe. Wenn der Geist die Botschaften der Seele nicht mehr verstehen kann, dann vielleicht der Körper. Aber Vorsicht! In unserem Seminarhaus lebte einst einer der glücklichsten
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Kater dieser Welt. Das gesamte Umland, Wiesen und Wälder waren sein Reich und es gab wohl keine Katze in der Umgebung, die unser Kater nicht kannte. Dennoch starb er im besten »Mannesalter« an Krebs. Auch was den Menschen betrifft glaube ich nicht daran, dass jede Krankheit per se psychische Ursachen hat. Ich empfinde diese Sichtweise sogar als sehr destruktiv. Die Biologie hat ebenso ihre Launen wie der menschliche Geist. Warum was wann körperlich wuchert oder nicht, das mag in manchen Fällen reine Biologie sein, in anderen Fällen reine Psyche und in wieder anderen eine Mischung aus beidem. Entscheidend bleibt, dass der automatische Rückschluss von einer körperlichen Erkrankung auf versäumte seelische Hausaufgaben unsinnig ist – im Umkehrschluss aber auch nicht von vorneherein ausgeschlossen werden kann. Ein sensibler Umgang ist hier gefragt. Gelingt es, fatalistische Perspektiven außer Acht zu lassen, beginnt hier eine seelische Entdeckungsreise. Eine solche Reise, ein Wieder-in-BewegungKommen sollte das Ziel jeglicher Erkrankung sein. So wie die Seele ruft, so mag auch der Körper rufen, und zwar ohne dass die Seele ihn um Unterstützung in einem ihrer Projekte gebeten hat. Eine körperliche Erkrankung kann seelische Gründe haben, kann aber auch einfach durch Vernachlässigung des Körpers zustande kommen (ob diese wiederum seelische Gründe hat, sei dahingestellt). Halten wir fest, dass es also durchaus sein kann, dass unsere Seele der Meinung ist, sie müsse ein wenig mehr Gewicht in die Waagschale werfen, da wir uns beständig weigern, das Erledigen unserer Hausaufgaben auch nur in Erwägung zu ziehen. Selbst jetzt haben wir immer noch die Chance, den Kanon aus Körper, Geist und Seele, die Sprache der Seele, die sich über den Körper ausdrückt, zu dolmetschen. Obwohl wir also schon im Heim für Schwererziehbare gelandet sind, können wir immer noch durch das Öffnen von Augen, Ohren und Herz jene Schritte machen, derer wir uns bisher verweigert haben.
Von der Trägheit bis zur Panik An dieser Stelle bliebe auch die Frage zu klären, warum wir das eigentlich tun, uns verweigern? Nach bald zwei Jahrzehnten des therapeutischen Arbeitens erlebe ich ein Spektrum, das mit Träg-
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heit beginnt und mit Angst, in seiner Steigerung Panik, endet; aber ja, und das halte ich für wichtig, das mit Trägheit beginnt. Ist der Mensch von Natur aus faul? Nein, keinesfalls! Der Mensch, Babys, kleine Kinder, große Kinder, sofern seelisch unverletzt, sind von Natur aus neugierig. Sie wollen die Welt erkunden, lernen und entdecken. Und die Freude am Entdeckten, am Gelernten blitzt in ihren Augen auf. Bleibt die Kinderseele lebendig, ist dem Menschen ob alt oder jung, die Freude am Neuen, am Unbekannten innewohnend. Von daher, wann setzt die Trägheit ein? Wann beginnt das Neue, ob nun in den seelischen Landschaften oder der realen Welt, seinen Reiz zu verlieren. Ich denke immer dann, wenn der Kontakt zur Kinderseele verloren geht. Bleibt dem Menschen ein lebendiger Kontakt zur eigenen Kinderseele erhalten, gibt es für Trägheit keinen Platz. Zuviel Neues will entdeckt werden. Oder haben Sie schon einmal ein seelisch unverletztes Kind erlebt, das imstande wäre, in einer neuen Umgebung den ganzen Tag ruhig auf einer Couch sitzen zu bleiben? Ich glaube die Kraft der Neugier, die Freude am Entdecken, die Freude am Erleben, Wirken und sogar am Scheitern ist einfach zu groß, als dass sie sich auf Dauer unterdrücken lässt. Aber was geschieht mit Menschen, ob Kindern oder Erwachsenen, die zuerst träge, dann ängstlich und am Ende panisch werden? In Kurzform würde ich sagen, haben sie den Kontakt zu ihrer Kinderseele verloren. Anfangs noch brüchig vorhanden, ist er am Ende verloren, bis alles Neue Panik auszulösen vermag. Was bedeutet das im Umkehrschluss? Lernt die Kinderseele wieder zu spielen, kann sie sich entwickeln, ohne dass dies als ein qualvolles Hausaufgaben- Machen erlebt werden muss. Die Kinderseele ist nie tot. Begraben ja, aber nie tot. Und das, so denke ich, kann ein wesentlicher Bestandteil im therapeutischen Handeln sein, womit wir auch zum Kern dieses Beitrags kommen: der Glaube an die Fähigkeit des Menschen die Bedürfnisse der Kinderseele wiederzuentdecken, ihre Neugier, ihren Spieltrieb, ihre Fähigkeit zu tiefen Gefühlen, ob nun der Liebe oder der Wut. Das bedeutet auch heute einen Umgang mit ihr zu finden der damals – wann auch immer das war – nicht möglich war; ob nun mir selbst in früheren Lebensphasen oder meinen Eltern in meiner Kindheit. Gelingt es uns demnach in der Therapie die Kinderseele wiederzuentdecken und gelingt es uns weiterhin wahrzunehmen,
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dass wir im Unterschied zur Vergangenheit heute in der Lage sind, jenen liebevollen und wertschätzenden Umgang zu entwickeln, der im Damals nicht möglich war, dann gelingt es uns auch, den anstehenden Entwicklungsschritten mit Neugier zu begegnen.
Seele als Vater und Mutter Wir gehen also auf eine Entdeckungsreise in Richtung der verloren geglaubten Kinderseele und dann sind wir geheilt? Nein, so einfach ist es nicht. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir die Hausaufgaben, die uns das Leben gibt, selten auf Anhieb verstehen. Zuerst einmal halte ich den Glauben daran, dass die Seele nicht doof ist und sich nichts ausdenkt, um uns zu ärgern, für essenziell. Diesen Glauben immer wieder zu vermitteln, empfinde ich in meinem therapeutischen Handeln als sehr wertvoll. Denn können wir verstehen, dass der Konflikt mit dem Lebenspartner, der Lebenspartnerin, den Kindern, den Kollegen, Kolleginnen, die depressiven Verstimmungen, die Angstgefühle, die Gefühle der inneren Leere etc. einen tieferen Sinn haben, den es zu ergründen gilt, so ist dem Menschen eine der größten Lasten genommen, die der Sinnlosigkeit. Angst, Zwang, Depression, Psychose – wenn man diese in meinen Augen wenig brauchbaren Begriffe nutzen will – haben einen Sinn. Sie abstellen zu wollen, würde bedeuten, die Signale der Seele abstellen zu wollen. Manchmal geht mir diese Perspektive im Machbarkeitsglauben der systemischen Therapie (den ich sehr liebe) verloren. Es lassen sich im Systemischen ja immer – immer – lösende Gedanken, lösende Gefühle oder lösende Handlungen finden. Nur mal angenommen, das wäre so, dann bliebe die Frage, warum wir das so unbedingt wollen? Um eben doch, vergleichbar mit Medikamenten oder Training, das, was uns am reibungslosen Ablauf des Lebens stört, »wegzumachen«? Der erste Schritt jedoch, der in meinen Augen viel wichtigere Schritt, besteht für mich darin, zu verstehen, was die Seele, was das Leben sich da wieder einmal ausgedacht hat – ruhig mit dem gebührenden Abstand und fern von allem Fatalismus. Und bei dieser Suche nach Sinn und Bedeutung fungiert die Seele auch als Lehrer, als strenger, wenn auch immer
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liebevoller Vater, als geduldige, wenn auch nicht unendlich überstrapazierbare Mutter. Kurz, als genau jener Vater und jene Mutter, die wir uns eine Kindheit lang und ein Leben lang gewünscht haben. Die Erkenntnis, dass dieser Vater, diese Mutter, nicht im Partner gesucht werden muss, weil wir ihn/sie in viel vollkommenerer, viel weiserer Form bereits in uns tragen, diese Erkenntnis halte ich im therapeutischen Raum für eine sehr wesentliche und wirksame. Um aber zu dieser Erkenntnis zu kommen, benötigen wir den Glauben daran, dass die Seele nicht doof ist und es immer gut mit uns meint. Wir benötigen diesen Glauben als eine seelische Kompetenz in einer Situation, in der sich unsere Klienten für inkompetent erklärt haben. Und wir erreichen diese Fähigkeit nur dann, wenn wir gemeinsam mit unseren Klienten nach den sinnvollen Auswirkungen der Symptome und Konflikte, nach den Auseinandersetzungen, die erzeugt werden, suchen. Diese Auseinandersetzungen sind es, die die Hausaufgaben darstellen, welche die Seele nun endlich angegangen wissen will.
Der Unterschied zwischen dem, was wir wollen und dem, was unsere Seele will Schwierig wird es ja immer dann, wenn die Seele etwas gänzlich anderes will als wir. Oder wenn wir nicht verstehen können, warum das, was wir tun, – immer im Glauben, das Richtige zu tun – unserer Seele ganz und gar widerstrebt. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass sich die Seele nicht dafür interessiert, ob wir funktionieren oder erfolgreich sind. Ganz im Gegenteil. Fördern wir durch das, was wir für Glück und Erfolg halten, nicht unser seelisches Wohlbefinden, das heißt unsere dauerhafte seelische Weiterentwicklung, werden Körper, Geist und Seele ihren Dienst quittieren. Unseren Patienten lediglich dabei zu helfen, die Symptome zu beseitigen, die sie am Erreichen ihrer Ziele hindern, könnte bedeuten, sie dabei zu unterstützen, weiter in die falsche Richtung zu laufen. Im schlimmsten Falle haben wir zwar heute die ersehnte Symptomfreiheit erreicht, dafür aber morgen eine sehr viel schwerwiegendere Symptomatik erzeugt.
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Ziel sollte es daher immer auch sein, gemeinsam mit unseren Klienten die kurzfristig gesteckten Ziele zu hinterfragen. Denn »die Seele ist nicht doof« bedeutet auch: Die Verhinderung naheliegender Ziele kann sehr wohl eine größere Katastrophe verhindern. Andersherum bedeutet ein Scheitern häufig nur, dass eine sehr viel stimmigere Lösung ermöglicht wird – sofern wir »dran« bleiben. Mit den ersten Fragen in der Therapie sollten wir uns demnach darum bemühen, zu verstehen, warum das, was sich der Klient, die Klientin so sehr wünscht (via emotionaler oder körperlicher Symptomatik), verhindert wird. Die Antworten darauf sind selten schnell zu finden und noch seltener schnell umsetzbar, da es sich in der Regel um Entwicklungsschritte handelt. Im Gegenteil, schon der Gedanke daran, auf das verzichten zu müssen, was durch Konflikt, Symptomatik oder Krankheit verhindert wird, erzeugt meist den größtmöglichen Widerstand. Denn mit der Bereitschaft, sich diesen Fragen zu stellen, wird der Möglichkeit der Raum gegeben, dass es ein Leben ohne die anvisierten Ziele gibt. Bereits das ist häufig sehr schmerzhaft. Sich der Möglichkeit zu stellen, nach allem, was versucht worden ist, auf Kinder zu verzichten, auf das Leben an der Seite eines Menschen zu verzichten, auf die Ausübung eines bestimmten Berufs zu verzichten etc. ist meist ein sehr schmerzhafter Prozess. Manchmal, allerdings nur in den seltensten Fällen, erleben Klienten den Verzicht auch als eine Art Erlösung, nämlich dann, wenn sie sich der intuitiv immer schon vorhandenen Erkenntnis anschließen können, dass das, was sie für Glück oder Erfolg gehalten haben, für die eigene Seele das Gegenteil bedeutet, oder aber auch für eine bestimmte Lebensphase seine Gültigkeit hatte und nun abgelöst werden will. Ich möchte an dieser Stelle also für eine Therapie plädieren, die sich der schnellen Lösungen verweigert – zumindest um zu prüfen, ob nachhaltigere, der eigenen Seele nähere Lösungen nicht sinnvoller sind. Um das herauszufinden, brauchen wir Zeit – an der es in unserer schnelllebigen Gesellschaft mangelt. Doch auch das ist der Seele egal. Wenn in ihr der Eindruck entsteht, dass der momentane Lebensstil gegen die Wand fährt, wird sie alles zum Erliegen bringen, bis hin zum vollkommenen Stillstand. Wir denken dann oft, oh Gott, das ist ja schrecklich. In Wirklichkeit hat die
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Seele den dahinrasenden Wagen einen Meter vor der Wand zum Stehen gebracht und sorgt nun – wieder einmal und wie immer auf ihre geduldige, zugleich aber auch konsequente Art – dafür, dass der- oder diejenige durch die erzwungene Auszeit umdenken und umlernen kann. Was wäre das nun für eine Psychotherapie, deren Interesse darin bestünde, möglichst bald den alten Status quo wiederherzustellen? Damit es beim zweiten Mal mit der Wand besser klappt?! Und dennoch tun wir das in der Psychotherapie sehr häufig, schlicht weil wir dem Druck, den unsere Klienten auf uns ausüben, nicht ewig standhalten wollen. Das ist nicht nur anstrengend, es ist auch im höchsten Maße unbefriedigend. Aber, immer und immer wieder, die Seele ist nicht doof – warum sind wir es dann? Auf schnelle Lösungen zu verzichten, bedeutet aufseiten der Therapeuten, in Kauf zu nehmen als inkompetent wahrgenommen zu werden, aufseiten der Klienten, als unfähig die eigenen Probleme in den Griff zu bekommen. Bilden Therapeut/-in und Klient/-in jedoch eine Allianz, einer Forschergruppe vergleichbar, im gemeinsamen Versuch, die Sprache der Seele zu entschlüsseln und deren tiefere Bedeutung zu ergründen, lernt der Klient/die Klientin sich wieder zu spüren bzw. seine/ihre seelischen Bedürfnisse wahrzunehmen. Und dies führt in Folge meist zu einer nachhaltigeren Steigerung von Liebe und Freude im Leben als die schnellen (Auf-)Lösungen der diversen Symptome. Sicherlich ist manchmal auch eine schnelle Symptomauflösung nützlich. Dennoch sollte immer auch geprüft werden, ob dies auch langfristig sinnvoll ist – auch um zu verhindern, dass das schnelle Auflösen der Symptome noch tiefer in die Krise führt. Geschieht dies, geht am Ende gar nichts mehr. Weder der psychische noch der körperliche Zusammenbruch sind erstrebenswerte Zustände, häufig jedoch das einzige Mittel, mit dem die Seele uns zwingen kann, tiefer zu horchen. Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass wir Therapeuten auch nur den Versuch unternehmen sollten oder könnten, ähnlich konsequent wie das Leben zu sein, so wünsche ich mir doch ab und an ein stärkeres Hinterfragen der Konflikte und Symptome, die den vermeintlichen Zielen unserer Klientel im Wege stehen. Ich halte diese Hindernisse meist für sehr weise Ver-
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suche der Seele, ein noch größeres Unglück zu verhindern. Erfahrungsgemäß wissen wir, dass sich das selten genug verhindern lässt bzw. ohne Erfahrung nicht gelernt werden kann. Dennoch bin ich lieber ein Anwalt der Seele als mich zum Erfüllungsgehilfen kurzfristiger und kurzsichtiger Ziele zu machen. Dafür ist mir meine Zeit im Therapieraum meist zu schade. Für die Auftragsdefinition bedeutet das, gemeinsam mit den Klienten einen Auftrag zu definieren, dessen Ziel es ist, den tieferen Sinn dessen zu ergründen, was Körper, Geist und Seele wollen und die Bezugspersonen spiegeln. In den Anfängen der Familientherapie wurden Familien noch nach Hause geschickt, wenn sie nicht vollständig beim Therapeuten erschienen sind. Der Glaube, Systeme analysieren und in Folge richtig intervenieren zu können, wurde abgelöst durch die konstruktivistische Position, gemeinsam mit dem Klienten nach dem zu suchen, was nützt. Diese wiederum eher einseitige Hinwendung zu einem (Er-)Finden von Lösungen wurde durch die emotionale Wende in der systemischen Therapie abgelöst. Emotionale Erfahrungen als Grundlage von Einstellungen standen nun, neben der Suche nach lösenden Gedanken, Gefühlen und Handlungen, im Vordergrund. Mit meinem Beitrag würde ich gern anregen, als dritte Dimension, neben Erkenntnisraum und Erfahrungsraum, einen seelischen Raum im systemischen Vorgehen zu integrieren. Die Erkenntnis, dass die Seele nicht doof ist und uns meist einen sehr viel gehaltvolleren Weg aufzeigen will als denjenigen, den wir mit unseren schnellen Lösungen anstreben, halte ich für eine sehr wirksame Variable im therapeutischen Raum. Was wir für diesen Weg benötigen, ist Glaube. Den Glauben an das Gute im Menschen. Den Glauben an eine Kinderseele, jugendliche Seele, erwachsene und weise Seele im Menschen, die stets auf der Suche nach optimalen Entwicklungsmöglichkeiten ist. Kurz, wir brauchen dazu den Glauben, dass die Seele niemals doof ist!
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Literatur Wienands, A. (2005). Choreographien der Seele. Lösungsorientierte systemische Psycho-Somatik. München: Kösel. Wienands, A. (2010). Einführung in die körperorientierte systemische Therapie. Heidelberg: Carl-Auer. Wienands, A. (2013). Der Körper als Ressource in der systemischen Therapie. In H. Schemmel, J. Schaller (Hrsg.), Ressourcen. Ein Hand- und Lesebuch zur therapeutischen Arbeit. Tübingen: dgvt. Wienands, A. (2014). System und Körper. Der Körper als Ressource in der systemischen Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wienands, A. (2015). Körperpsychotherapie. In R. Hanswille (Hrsg.), Handbuch systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (S. 444–455). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Die Autorinnen und Autoren
Sandra Anklam ist Leiterin des Fachbereichs Theater und Theaterpädagogik an der Akademie der Kulturellen Bildung in Remscheid. Sie arbeitet als Dozentin, Theatertherapeutin, Regisseurin und Supervisorin. Gudrun Bassarak ist tätig in den Bereichen Musik- und Familientherapie, Systemische Therapie und Beratung, Systemische Kinderund Jugendlichenpsychotherapie sowie Guided Imagery and Music (GIM). Sie ist Leiterin der Abteilung Therapie des Sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) der Kinderzentrum Mecklenburg GmbH, Schwerin. Wiltrud Brächter, Diplom-Pädagogin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Systemische Therapeutin (SG), Supervisorin in Köln, ist in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis und bundesweit in der Weiterbildung in systemischer Kindertherapie tätig. Jessica Casanova, M. A., ist u. a. Motologin (MA), Lehrerin (CEP), SI-Therapeutin und NLP-Practitioner. Sie arbeitet als Psychomotoriktherapeutin (Motologin) und als Lehrerin an einer Grundschule in Luxemburg. Dr. Martin A. Luger, Kultur- und Sozialanthropologe, ist Lektor am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien, Systemischer Psychotherapeut (in Ausbildung unter Supervision) und Feldenkrais-Lehrer in eigener Praxis.
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Die Autorinnen und Autoren
Frauke Nees, Diplom-Psychologin, Personzentrierte Psychotherapie (GwG, HPG), Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT), ist selbstständig als Coach, Dozentin und Trainerin in Berlin tätig. Anett Renner, Diplom-Psychologin, Systemische Beraterin/Coach/ Supervisorin/Einzel-, Paar- und Familientherapeutin, ist als LehrCoach und Lehrtherapeutin (DGSF) bei der Gesellschaft für Systemische Therapie und Beratung (GST) Berlin tätig. Sie fungiert als Geschäftsleitung und Lehr-Trainerin an einem Institut für Systemische Achtsamkeit (SACHT GmbH) und hat die Therapeutische Leitung in der Psychologischen Fachpraxis (DIE SCHOEPFEREI) inne. Dr. Thomas Reyer ist Leiter des Fachbereichs Sozialpsychologie und Beratung an der Akademie der Kulturellen Bildung in Remscheid. Er lehrt in den Bereichen der Systemischen Therapie, Beratung, Coach ing, Leitung und Organisationsberatung. Prof. Dr. phil. habil. Joseph Richter-Mackenstein, Diplom-Psychologe, staatlich geprüfter Motopäde und Mototherapeut, Systemischer Therapeut (SG), lehrt und forscht als Professor für psychosoziale Beratung und Diagnostik an der FH Kiel. Stefan Schäkel ist als systemischer Coach (DGSF), freiberuflicher Kunsttherapeut (M. A.) und als Dozent und Supervisor (HP-Psychotherapie) tätig. Dr. phil. Bärbel Smikalla-Weier, Heilpraktikerin für Psychotherapie, ist in einer psychotherapeutischen Gemeinschaftspraxis in Berlin tätig. Mischa Straßner, Diplom Sozialwesen, Systemischer Berater und Therapeut, Kulturmanager, ist Trainer für sexuelle Entwicklung, sexuelle Kommunikation und Sexualtherapie und Fachreferent und Lehrbeauftragter für Systemische sowie Relationale Soziale Arbeit in Berlin.
Die Autorinnen und Autoren
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Katinka Unger, M. A., Systemische Einzel-, Paar- und Familien therapeutin, ist Dozentin für Sexualtherapie bei der Gesellschaft für Systemische Therapie und Beratung (GST) München und in einer Privatpraxis in München als Systemische Paar- und Sexualtherapeutin tätig. Dr. phil. Günter Weier, Diplom-Psychologe, ist in einer psychotherapeutischen Gemeinschaftspraxis in Berlin tätig. András Wienands, Diplom-Psychologe, Systemischer Berater, Therapeut, Supervisor und Lehrtherapeut (DGSF), ist Geschäftsführer der Gesellschaft für Systemische Therapie und Beratung (GST GmbH) in Berlin.