Syntax aus Saarbrücker Sicht 4: Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax 3515131035, 9783515131032

Das Interesse an der Erforschung und an der Erklärung dialektsyntaktischer Strukturen ist ungebrochen. So erhält der jäh

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German, English Pages 238 [242] Year 2021

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
(Julia Bacskai-Atkari) Verdoppelungen in Relativsätzen und der Status von Relativpartikeln in Dialekten des Deutschen
(Ellen Brandner / Alexandra Rehn) Dialectal variation, standardization and models of language change
(Anne Breitbarth / Melissa Farasyn / Anne-Sophie Ghyselen /
Liliane Haegeman / Jacques Van Keymeulen)
Je had dien een keer moeten en zien! Neue Erkenntnisse zum Gebrauch
der Partikel en im Gesproken Corpus van de (zuidelijk-) Nederlandse
Dialecten
(Claudia Bucheli Berger) Infinitiv-Konstruktionen mit fehlendem Matrixverb in den Deutschschweizer Dialekten
(Ulrike Demske)
Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten
(Melitta Gillmann)
„Nachdem ich ein kontaktfreudiger Mensch bin...“ Kausales nachdem
als Konkurrent von da in Plenarprotokollen und regionalen Zeitungen
(Semra Kizilkaya)
Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam
(Stefan Rabanus)
Possessivkonstruktionen im Zimbrischen – eine Split-DP-Analyse
(Lea Schäfer)
Ist eine strukturalistische Dialektologie noch zeitgemäß?
(Jonas Huwer)
Verbalkomplexbildung in den saarländischen Dialekten
(Katrin Schneider)
„Ich hätt jo gern mo es Eva gefroht, was se mennt.“ Oder: Pronominalisierung von Frauenrufnamen im Neutrum im saarländischen Sprachraum
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Syntax aus Saarbrücker Sicht 4: Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax
 3515131035, 9783515131032

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BEIHEFTE

Syntax aus Saarbrücker Sicht 4 Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax Herausgegeben von Augustin Speyer und Julia Hertel

Germanistik

ZDL

Franz Steiner Verlag

zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte

187

Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik In Verbindung mit Michael Elmentaler, Jürg Fleischer und Mark L. Louden Herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt Beiheft 187

Syntax aus Saarbrücker Sicht 4 Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax Herausgegeben von Augustin Speyer und Julia Hertel unter Mitwirkung von Anne-Kathrin Eiswirth und Jennifer Diener

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021 Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13103-2 (Print) ISBN 978-3-515-13104-9 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort .................................................................................................................... 7 Julia Bacskai-Atkari Verdoppelungen in Relativsätzen und der Status von Relativpartikeln in Dialekten des Deutschen.................................................................................... 11 Ellen Brandner / Alexandra Rehn Dialectal variation, standardization and models of language change .................... 31 Anne Breitbarth / Melissa Farasyn / Anne-Sophie Ghyselen / Liliane Haegeman / Jacques Van Keymeulen Je had dien een keer moeten en zien! Neue Erkenntnisse zum Gebrauch der Partikel en im Gesproken Corpus van de (zuidelijk-) Nederlandse Dialecten ................................................................................................................ 67 Claudia Bucheli Berger Infinitiv-Konstruktionen mit fehlendem Matrixverb in den Deutschschweizer Dialekten ....................................................................... 85 Ulrike Demske Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten ............................................................................................. 107 Melitta Gillmann „Nachdem ich ein kontaktfreudiger Mensch bin...“ Kausales nachdem als Konkurrent von da in Plenarprotokollen und regionalen Zeitungen .............. 127 Semra Kizilkaya Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam .................... 153 Stefan Rabanus Possessivkonstruktionen im Zimbrischen – eine Split-DP-Analyse.................... 175 Lea Schäfer Ist eine strukturalistische Dialektologie noch zeitgemäß? ................................... 199

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Inhaltsverzeichnis

Jonas Huwer Verbalkomplexbildung in den saarländischen Dialekten .................................... 217 Katrin Schneider „Ich hätt jo gern mo es Eva gefroht, was se mennt.“ Oder: Pronominalisierung von Frauenrufnamen im Neutrum im saarländischen Sprachraum.................................................................................. 227

VORWORT Augustin Speyer / Julia Hertel

Dieses Buch enthält Aufsätze, die nahezu alle auf den Vorträgen des 5. „Saarbrücker Runden Tisches für Dialektsyntax“ (SaRDiS) basieren, der 2018 als Jubiläum veranstaltet wurde. Wie gewohnt ist also eine Vielzahl theoretisch informierter Studien zur Syntax und Morphologie deutschsprachiger Dialekte und anderer kontinentalwestgermanischer Sprachen anzutreffen. Aufgrund der thematischen Vielfältigkeit sind die Beiträge diesmal alphabetisch nach den Nachnamen der AutorInnen angeordnet. Eröffnet wird der Band von einem Aufsatz von JULIA BASKAI-ATKARI, die sich – wie in den vergangenen zwei Bänden – der linken Satzperipherie mit minimalistischem Ansatz widmet. Die Datenbasis stellen diesmal standardsprachliche und dialekale Relativsätze ausgewählter germanischer Sprachen, insbesondere des Deutschen dar. Hierbei erklärt sie Zweifachkombinationen aus Relativpronomen und -komplementierer, z.B. hessisch des wo mit dem bewährten „DoublyFilled-COMP“-Muster. Darüber hinaus argumentiert BACSKAI-ATKARI, dass auch die selteneren (und bisher nur im Bairischen belegten) Dreifachkombinationen wie z.B. dea wo dass nicht auf Basis einer kartografischen Vorlage abgeleitet werden müssen, sondern stattdessen mit einer verdoppelten CP plausibel gemacht werden können. ELLEN BRANDNER und ALEXANDRA REHN sind der Ökonomie als Motor von Sprachwandel auf der Spur. In ihrem Beitrag nehmen sie traditionelle und speziell moderne Auffassungen kritisch unter die Lupe. Sie ziehen hierfür drei deutschsprachige Phänomene heran, die je nach Varietät – Standardsprache, Dialekt oder historisch – mehr oder weniger Variation aufweisen, wobei Normierung hier nicht in jedem Fall mit Variantenreduktion gleichzusetzen ist. Sowohl obligatorische vs. fakultative Adjektivflexion als auch die Bewahrung des adnominalen Genitivs vs. die Herausbildung analytischer und expliziterer Kompensationsstrukturen und auch viele vs. keine Synkretismen beim Indefinitartikel sind mit einem rein ökonomiebasierten Ansatz schwer zu erklären. In der Folge schlagen die Autorinnen einen nanosyntaktischen Ansatz vor, der von der kartographischen Idee Gebrauch macht: So würde man diachroner und synchroner Variation eher mit der Annahme universell verfügbarer, aber sprachspezifisch ausbuchstabierter funktionaler Schichten eher gerecht als mit dem minimalistischen Konzept von zyklischer Aufgabe und Erneuerung. ANNE BREITBARTH, MELISSA FARASYN, ANNE-SOPHIE GHYSELEN, LILIANE HAEGEMAN und JACQUES VAN KEYMEULEN befassen sich mit einem echten Relikt: So ist die präfinite Partikel en, die noch aus Phase II des Jespersen-Zyklus

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Augustin Speyer / Julia Hertel

bekannt sein sollte, anhaltend in einigen modernen niederländischen Dialekten zu finden. Das ist z.B. im Flämischen der Fall, wo sie auch vor infiniten Verben belegt ist und außerdem nicht mehr nur auf negative Kontexte beschränkt ist. Nach ersten Feldstudien auf Basis der Daten des „Reeks Nederlandse dialectatlassen“ (RND) und dem „Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten“ (SAND) verspricht nun das im Aufbau befindliche „Gesproken Corpus van de Nederlandse Dialecten“ (GCND) Gelegenheit, seine genauere räumlichen Distribution festzustellen sowie ein umfassenderes Bild zu seinen verschiedenen Funktionen zu erhalten. Der Beitrag informiert zur Aufbereitung der ersten 66 Aufnahmen (Transkriptionskonventionen, linguistische Annotation mit Frog) und präsentiert erste Ergebnisse zum Vorkommen von en. Dieses erscheint zahlreich auch in verschiedensten negativ-polaren Kontexten sowie in diversen nicht-negativen Kontexten – aber anders als es die bisherigen Datenquellen suggerieren – auch oft in Haupt- statt Nebensätzen. Die Untersuchung von CLAUDIA BUCHELI BERGER befasst sich mit Infinitivkonstruktionen in den Deutschschweizer Dialekten, bei denen das Matrixverb ausgelassen wird. Im Zentrum steht dabei vor allem lo in Sätzen wie Er lot de Schriner lo choo ‘Er lässt den Schreiner lo kommen’: Während bisherige Forschung hier von verbaler Reduplikation oder Verbverdopplung spricht, zeigen die Befunde ihrer empirischen Untersuchung, dass stattdessen eine einheitliche und synchrone Analyse als infinitiveinleitende Partikel berechtigt scheint. Gestützt wird diese Analyse durch neue Daten, die bisher in der Forschungsliteratur unbeachtet geblieben sind. Diese geben einen Einblick in die Vielfalt morphosyntaktischer Strukturen, die bei dreiteiligen Prädikaten mit den Verben lassen, gehen und kommen vorzufinden ist. Darüber hinaus argumentiert die Autorin, dass ein konstruktionsgrammatischer Ansatz eine adäquatere Modellierung des Phänomens erlaubt als ein generativer. Es folgt ein Aufsatz, der die Bedingungen identifiziert, die das Setzen des Verbalpräfix ge- als Marker des Partizip II in neuhochdeutschen Dialekten steuern. ULRIKE DEMSKE vergleicht dafür ausgewählte Daten indirekter Befragungen zu den modernen Dialekten des Saarlands mit denen zu etwas älteren Dialekten Brandenburgs. Neben lautlich motivierter Präfixlosigkeit für beide Großräume finden sich im Westmitteldeutschen allerdings noch Hinweise auf eine (verb-) semantische Erklärung für das fehlende Flexiv, deren einstige Gültigkeit durch den Abgleich mit den gut 120 älteren Daten aus dem „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ untermauert wird. In Bezug auf die ostniederdeutschen Formen ergibt sich hier, dass die raumbildende Präfixosigkeit diachron stabil geblieben ist, wenngleich man damit rechnen muss, dass die ge-lose Form heute wahrscheinlich schon weit in den Norden zurückgedrängt worden ist. Der darauffolgende Beitrag von MELITTA GILLMANN weitet den Blick auf Kausalsätze, die mit nachdem eingeleitet sind. Dieses hat sich in österreichischen und einigen süddeutschen Varietäten offenbar vom temporalen zum kausalen Subjunktor entwickelt. Dabei ist die Verwendung von Individual-Level-Prädikaten gegenüber Stage-Level-Prädikaten für die jeweilige Lesart entscheidend. Beides suggeriert eine Untersuchung auf Basis des DeReKo (Deutsches Referenzkorpus)

Vorwort

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des IDS Mannheim, wobei die einschlägigen Belege für diesen universell beobachtbaren Grammatikalisierungspfad v.a. aus Plenarprotokollen ausgewählter bundesdeutscher Landtage und eines österreichischen Landtags stammen. Zusammen mit den insgesamt offenbar selteneren Belegen aus ausgewählten regionalen Zeitungen und kommunalpolitischen Zeitungsrubriken lässt sich das Phänomen daher zunächst als Merkmal regionalpolitischer Sprache interpretieren. SEMRA KIZILKAYA beschäftigt sich mit dem anaphorischen Personalpronomen der 3. Person Maskulinum in direkter Objektposition, das im Westmittelbairischen zwei Formen hat: die Vollform eam und die klitische Form ’n. Nach einem Forschungsüberblick zur syntaktisch und pragmatisch gesteuerten Distribution dieser argumentiert sie für eine komplexere Analyse, die auch diverse semantische Faktoren einbezieht. So sprechen sowohl die Ergebnisse einer Korpusanalyse als auch einer Fragebogenstudie für eine diffizile Interaktion mit nominalsemantischen und verbalsemantischen Kategorien, d.h. Belebtheit und Affiziertheit. Im Zentrum von STEFAN RABANUS’ Beitrag steht die diachrone Entwicklung der Possessivkonstruktion im Zimbrischen, wie z.B. dar aür hunt ‘euer Hund’. So stellt sich aufgrund oberflächensyntaktischer Gemeinsamkeiten mit dem Italienischen die Frage, in welchem Ausmaß hier ein Sprachkontaktphänomen vorliegt. Mit einer syntaktischen Modellierung, welche in der Tradition der Split-DPAnalysen steht, zeigt der Autor schließlich, dass der Wandel der Struktur durch den Einfluss italienischer Varietäten tatsächlich induziert wurde, letzten Endes jedoch identisch mit der des Deutschen geblieben ist. LEA SCHÄFERS Beitrag illustriert nicht nur, dass eine strukturalistische Dialektologie im Sinne WEINREICHS durchaus möglich ist. Er zeigt auch auf, dass die zeitgenössische Dialektsyntax und -morphologie bereits einigen Anteil dieses WEINREICH’schen Vermächtnisses aufweist. So wird anhand der zwei Beispielanalysen zwei ausgewählter jiddischsprachiger Phänomene auf Basis der Fieldnotes zum Großprojekt „Language and Culture Archive of Ashekenazic Jewry“ (LCCAJ) mehr als deutlich, wie eine stärkere Gewichtung der strukturalistischen Axiome den Erkenntnisgewinn steigern kann. Der Band schließt mit zwei Kurzbeiträgen der Rubrik „Schaufenster Saarland“, die mit dem zweiten Band begonnen wurde. Sie stammen von Studierenden, die auf dem SaRDiS 2018 Poster zu jeweils einer syntaktischen Eigenart saarländischer Dialekte präsentiert haben. JONAS HUWER widmet sich der Abfolge im zweigliedrigen Verbalkomplex im Nebensatz und untersucht diese mittels einer Rating-Studie. Hierbei zeigt sich, dass die standardsprachlich abweichende 1-2-Abfolge nicht grundsätzlich abgelehnt wird, und zwar insbesondere, wenn es sich Modalverb-Cluster handelt. So sind es vor allem die älteren Sprecher, die diese Konstruktion zudem auch mit interferierenden nicht-verbalem Material akzeptabel finden. Ein weiteres hochsalientes Phänomen der im Saarland gesprochenen Varietäten ist die pronominale Wiederaufnahme von Frauenrufnamen mittels Neutrum à la „Ich hätt jo gern mo es Eva gefroht, was es mennt“. Mit diesem befasst sich KATRIN SCHNEIDER, die ebenfalls Ergebnisse einer Rating-Studie vorstellt. In dieser haben DialektsprecherInnen die Wiederaufnahme eines Frauenrufnamen mit

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Augustin Speyer / Julia Hertel

Neutrumartikel es auch durch pronominales se, also das Feminininum in Bezug auf ihre Natürlichkeit bewertet. Wider Erwarten zeigt sich jedoch, dass die Verwendung von pronominalen es nicht als natürlicher bewertet wird, was darauf hindeutet, dass die Wahl des Genus variabel ist. Saarbrücken, den 07. April 2021 Augustin Speyer, Julia Hertel

VERDOPPELUNGEN IN RELATIVSÄTZEN UND DER STATUS VON RELATIVPARTIKELN IN DIALEKTEN DES DEUTSCHEN* Julia Bacskai-Atkari

1

EINLEITUNG

Relativsätze werden im Standarddeutschen mit einem D-Pronomen (der/die/das) oder (seltener) mit einem W-Pronomen (welcher/welche/welches) eingeleitet.1 Diese Konfigurationen sind unter (1) gezeigt: (1)

a. b.

Das ist die Frau, die das Haus gebaut hat. Das ist die Frau, welche das Haus gebaut hat.

Relativpronomina werden für Genus (dies ist Matrix-NP-abhängig), Numerus, und Kasus flektiert. Typologisch gesehen stammen Relativpronomina entweder von Interrogativpronomina oder von Demonstrativpronomina ab (siehe VAN GELDEREN 2004, 2009; ROBERTS / ROUSSOU 2003). Dementsprechend können Relativpronomina in zwei Gruppen geteilt werden: W-Pronomina und DPronomina. D-Pronomina sind in germanischen Sprachen üblich (BRANDNER / BRÄUNING 2013). Im Englischen sind beide Strategien historisch belegt: W-Pronomina, die erst im Mittelenglischen erschienen, werden auch in der Gegenwartssprache ver*

1

Die in diesem Aufsatz beschriebene Forschung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert, im Rahmen meines Projekts „Die Syntax funktionaler linker Peripherien und ihr Bezug zur Informationsstruktur“ (BA 5201/1-1), welches ich an der Universität Potsdam durchgeführt habe. Für hilfreiche Kommentare und Anregungen möchte ich mich bedanken bei der Zuhörerschaft des Workshops „SaRDiS 2017“ (insbesondere bei ELLEN BRANDNER, AUGUSTIN SPEYER und GUIDO SEILER) sowie bei GISBERT FANSELOW, MALTE ZIMMERMANN, MARTIN SALZMANN und HELMUT WEISS. Neben den hier erwähnten Pronomina, die syntaktisch mit den entsprechenden D-Pronomina gleichwertig sind, siehe (1), gibt es auch andere, die in Relativsätzen in der Standardsprache belegt sind. Dies ist für wo als Lokativadverbial der Fall (siehe oben), aber Präpositionaladverbien (wonach, worüber usw.) werden auch mit einem W-Element gebildet. Mit bestimmten Matrix-NPs wie etwas kommt zudem nicht nur das sondern auch was vor (BRANDT / FUSS 2014). Darüber hinaus werden im Standarddeutschen W-Pronomina in freien Relativsätzen verwendet, was dem regulären westgermanischen Muster entspricht (siehe Abschnitt 4). In diesem Aufsatz konzentriere ich mich auf die Relativsätze vom Typ (1); in diesem Sinn kann angenommen werden, dass standarddeutsche Relativsätze grundsätzlich durch D-Pronomina eingeleitet werden. Dies kann bereits im Althochdeutschen und Altniederdeutschen als Grundtyp betrachtet werden (FLEISCHER 2004: 232).

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Julia Bacskai-Atkari

wendet, während das Element that ‘dass’ ursprünglich ein D-Pronomen war, aber noch im Altenglischen als Komplementierer reanalysiert wurde (siehe VAN GELDEREN 2009). Die englischen Konfigurationen sind unter (2) gezeigt. (2)

a.

b.

This is the woman who built the house. dies ist die Frau wer baute das Haus ‘Das ist die Frau, die das Haus gebaut hat.’ This is the woman that built the house. dies ist die Frau dass baute das Haus ‘Das ist die Frau, die das Haus gebaut hat.’

Die Abbildungen unter (3) zeigen die Position der jeweiligen englischen Relativpartikeln in der linken Peripherie („Op.“ steht für einen leeren Operator): (3)

a.

CP

b. C'

who C

CP C'

Op. TP

Ø

C

TP

that

Wie gezeigt, nehmen W-Pronomina im Englischen eine Phrasenposition ein und bewegen sich in den Spezifikator der CP: Dabei bleibt die Kopfposition in der Standardsprache phonologisch leer. Das einstige D-Pronomen that hingegen nimmt die Kopfposition als Komplementierer an. Im Deutschen ist keine Grammatikalisierung von D-Pronomina in Relativkomplementierer zu beobachten. Andererseits sind aber dialektal bestimmte WElemente (wo und was) als Relativkomplementierer möglich. Betrachten wir das alemannische Beispiel unter (4): (4)

Ich suech ebber wo mer helfe künnt. ‘Ich suche jemanden, der mir helfen könnte.’ (BRANDNER / BRÄUNING 2013: 140)

Der Status von wo als Komplementierer ist in der Literatur unumstritten (siehe BRANDNER / BRÄUNING 2013 und WEISS 2013; siehe auch WEISS 2013 für was im Nordbairischen): Dieses Element wird nicht flektiert und kann mit allen Matrixsubstantiven auftreten.2 2

Dieses Element wo ist nicht zu verwechseln mit dem Pronomen, welches als Lokativadverbial auch in der Standardsprache zu finden ist: (i) Das ist die Stadt, wo ich geboren bin.

13

Relativsätze und Relativpartikeln in deutschen Dialekten

Die Abbildungen unter (5) zeigen die Position der deutschen Relativpartikeln in der linken Peripherie: (5)

a.

CP

b.

der/die/das welcher/welche/welches C Ø

C'

CP C'

Op. TP

C

TP

wo/was

Im Deutschen nehmen D-Pronomina und diverse W-Pronomina (siehe oben) eine Phrasenposition an, während bestimmte W-Elemente, soweit im Dialekt verfügbar, als Komplementierer in der Kopfposition der CP fungieren. Damit zeigt das Deutsche ein anderes Muster als das Englische, was den syntaktischen Status von W-Elementen und D-Elementen betrifft. Darüber hinaus ist anzumerken, dass es verschiedene Dialektmuster im Deutschen gibt. Erstens ist ein alleinstehendes wo oder was als Einheitsrelativpartikel belegt. Zweitens ist die Kombination von D-Pronomina und wo/was (z.B. der wo ‘der’) möglich, und zwar in Relativsätzen mit einem lexikalischen Kopf. Drittens ist die Kombination von W-Pronomina und dass (z.B. wer dass ‘wer’) im Bairischen möglich, und zwar in freien Relativsätzen. Viertens ist zu erwähnen, dass die dreifache Kombination von einem D-Pronomen und wo und dass (z.B. der wo dass ‘der’) in der Literatur auch diskutiert wurde (siehe WEISS 2013). Bezüglich der Distribution von Relativpartikeln stellen sich einige Fragen. Vor allem sollte geklärt werden, warum Dialekte eine Präferenz für die Anwesenheit eines overten Elements in C statt [Spec,CP] aufweisen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum dass in bestimmten Fällen eingesetzt wird. Ebenfalls sollte die Struktur von Verdoppelungen analysiert werden: In dieser Hinsicht ist besonders wichtig zu klären, ob eine einzige oder eine verdoppelte CP in der Syntax anzunehmen ist. Dies betrifft auch die Struktur von dreifachen Kombinationen (soweit diese vorhanden sind). In diesem Aufsatz wird argumentiert, dass westgermanische Sprachen Finitheit, [fin], im C-Kopf regelmäßig lexikalisieren. Relative Komplementierer, die in C eingesetzt werden, entsprechen diesem Paradigma. In Konstruktionen, in denen dass neben einem Operator eingesetzt wird, ist diese Bedingung ebenfalls erfüllt. Ferner wird argumentiert, dass Verdoppelungen ein „Doubly-Filled-COMP“Muster aufweisen. Somit können die beiden overten Elemente in einer einzigen CP auftreten. Dreifachkombinationen hingegen verlangen eine CP-Verdoppelung.

In solchen Fällen ist aber eine Lokativinterpretation transparent, im Gegensatz zu (4). BRANDNER / BRÄUNING (2013) zeigen, dass Konstruktionen wie (4) nicht aus Konstruktionen wie (i) abzuleiten sind.

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Julia Bacskai-Atkari

2

RELATIVKOMPLEMENTIERER

In diversen Sprachen sind Relativkomplementierer neben oder statt Relativpronomina belegt. Wie VAN GELDEREN (2009), zitierend COMRIE (2002), bemerkt, sind Relativpronomina typisch für europäische Sprachen, und sie treten typologisch eher selten auf. Relativkomplementierer sind auch aus den germanischen Sprachen bekannt. Unter (6) sind Beispiele aus dem Norwegischen, (6a), aus dem Schwedischen, (6b), und aus dem Dänischen, (6c), gegeben: (6)

a.

b.

c.

Dette er studenten som inviterte Mary. dies ist der.Student REL einlud Mary ‘Das ist der Student, der Mary eingeladen hat.’ (BACSKAI-ATKARI / BAUDISCH 2018: 185) Dette är studenten som bjöd in Mary. dies ist der.Student REL einlud in Mary ‘Das ist der Student, der Mary eingeladen hat.’ (BACSKAI-ATKARI / BAUDISCH 2018: 246–247) Dette er bogen som Mary købte. dies ist das.Buch REL Mary kaufte ‘Das ist das Buch, das Mary gekauft hat.’ (BACSKAI-ATKARI / BAUDISCH 2018: 89–90)

Im Englischen kann entweder der Komplementierer that oder ein W-Pronomen eingesetzt werden, wie unter (2) gezeigt, wiederholt hier unter (7): (7)

a.

b.

This is the woman who built the house. dies ist die Frau wer baute das Haus ‘Das ist die Frau, die das Haus gebaut hat.’ This is the woman that built the house. dies ist die Frau dass baute das Haus ‘Das ist die Frau, die das Haus gebaut hat.’

Im Standardenglischen tritt that anstelle eines W-Pronomens auf, wenn der coverte Operator grundsätzlich nominal ist (Subjekt, Objekt, indirektes Objekt). Dialektal und im informellen Register kann that aber auch mit coverten Operatoren innerhalb einer (ebenfalls phonologisch leeren) PP auftreten, wie im Beispiel unter (8), wo in der Standardsprache from which ‘von der’ verwendet wird. (8) I haven’t been to a party yet that I haven’t ich habe.nicht gewesen zu eine Party noch dass ich habe.nicht got home the same night. gekommen nach.Hause die gleich Nacht ‘Ich bin noch nicht auf einer Party gewesen, von der ich nicht in derselben Nacht nach Hause gekommen bin.’ (VAN GELDEREN 2009: 161, zitierend: MILLER 1993: 112)

Relativsätze und Relativpartikeln in deutschen Dialekten

15

Wie VAN GELDEREN (2009: 163) berichtet, gibt es im Englischen eine klare Präferenz für that in Relativsätzen (vgl. ROMAINE 1982; MONTGOMERY / BAILEY 1991; VAN GELDEREN 2004; TAGLIAMONTE / SMITH / LAWRENCE 2005); W-Pronomina werden hingegen von präskriptiven Regeln in der Standardsprache gestärkt. In deutschen Dialekten wie im Alemannischen, die grundsätzlich einen Relativkomplementierer verwenden, wurden Relativpronomina vom Standarddeutschen übernommen (siehe BRANDNER / BRÄUNING 2013). Im Einklang mit BACSKAI-ATKARI (2018a) wird hier angenommen, dass Finitheit, [fin], in C im Westgermanischen in der Regel lexikalisiert wird: C enthält deshalb regelmäßig ein sichtbares Element. Im Deutschen kann dies in den folgenden Konstruktionen beobachtet werden: (9)

a. b. c. d. e. f.

Anna hat ein Haus gekauft. Hat Anna ein Haus gekauft? Wann hat Anna ein Haus gekauft? Ich weiß, dass Anna ein Haus gekauft hat. Ich weiß nicht, ob Anna ein Haus gekauft hat. Ich weiß nicht, wann (% dass) Anna ein Haus gekauft hat.

In Matrixsätzen, siehe (9a)–(9c), bewegt sich das finite Verb zum C-Kopf: Finitheit ist in solchen Fällen durch das Verb kodiert.3 In eingebetteten Deklarativsätzen, siehe (9d), wird der Komplementierer dass und in eingebetteten polaren Fragen, siehe (9e), der Komplementierer ob eingesetzt. Eingebettete kategoriale Fragen, siehe (9f), stellen eine Ausnahme in der Standardsprache dar, indem die CPosition phonologisch leer bleibt. Ein Komplementierer wie dass wird aber in diversen germanischen Sprachen in Konstruktionen wie (9f) eingesetzt, was „Doubly Filled COMP“ ergibt (siehe BACSKAI-ATKARI 2018b, basierend auf BAYER / BRANDNER 2008a, im Gegensatz zu BALTIN 2010). Das dialektale Muster entspricht damit dem allgemeinen syntaktischen Paradigma eher als die Standardvarianten im Westgermanischen. Die gleiche Asymmetrie zwischen Standardsprache und Dialekten kann auch in Relativsätzen beobachtet werden, wie die Beispiele unter (9) zeigen: (9a) ist Standarddeutsch, (9b) ist aus dem Alemannischen und (9c) aus dem Bairischen. (10) a. b.

3

Das ist die Frau, die das Haus gebaut hat. Ich suech ebber wo mer helfe künnt. ‘Ich suche jemanden, der mir helfen könnte.’ (BRANDNER / BRÄUNING 2013: 140)

Laut FANSELOW (2004: 30) hat die TP ein Finitheitsmerkmal, das überprüft werden muss: Dies geschieht durch das bewegte Verb. In neueren minimalistischen Ansätzen wird nicht mehr von Überprüfung, sondern von Merkmalsbewertung ausgegangen: Demzufolge hat die TP ein nicht-interpretierbares Finitheitsmerkmal, [u-fin], welches vom Verb evaluiert wird, da das Verb als [i-fin] spezifiziert ist (siehe auch BACSKAI-ATKARI 2020). In diesem Sinn gibt es genau genommen keinen C-Kopf in V2-Sätzen, womit die Probleme einer Kopfadjunktion (siehe FANSELOW 2004) überwunden werden können.

16

Julia Bacskai-Atkari

c.

Röslen (…), was oben am hohlen Wege stehn ‘Rosen (…), die oben am hohlen Wege stehen’ (WEISS 2013: 780)

Anzumerken ist, dass Dialekte im südlichen Sprachraum, wie Alemannisch, Hessisch und Bairisch, Muster wie (9f) in eingebetteten Interrogativsätzen und Muster wie (10b)/(10c) in Relativsätzen aufweisen. Dies deutet darauf hin, dass die beiden Phänomene im Zusammenhang stehen. Bezüglich des Relativkomplementierers gibt es einige dialektale Unterschiede zu beachten. Im Alemannischen wird wo verwendet (BRANDNER / BRÄUNING 2013; WEISS 2013). Im Hessischen wird ebenfalls wo verwendet, jedoch ist was als limitierte Option möglich, in vielen Dialekten aber nur mit einem neutralen Antezedens (FLEISCHER 2004, 2017; WEISS 2013). Dies kann auch im Nordsächsischen, im Obersächsischen und im Westfälischen beobachtet werden (FLEISCHER 2004: 222–223). Insgesamt ist was daher eher ein Operator im Hessischen. Im Nordbairischen hingegen ist was der kanonische Relativkomplementierer (WEISS 2013); das Gleiche gilt für die nordsächsische Varietät im Nordwesten Böhmens, das Ostpreußische, die Sprachinsel Lubica, sowie für das Jiddische (FLEISCHER 2004: 223). Die Elemente wo und was wurden letztendlich von Operatoren zu Komplementierern reanalysiert (siehe den Relativzyklus von VAN GELDEREN 2004; 2009). Hier ist jedoch anzumerken, dass wo in Relativsätzen wahrscheinlich bereits als Komplementierer erschienen ist und von Äquativsätzen übernommen wurde (siehe BRANDNER / BRÄUNING 2013, darauf basierend JÄGER 2018: 491–517). Die Abbildungen unter (11) zeigen die Position der deutschen Relativpartikeln, siehe (10), in der linken Peripherie mit den relevanten syntaktischen Merkmalen: (11) a.

CP

der/die/das[rel] C[rel] Ø

b. C'

CP C'

Op. TP

C[rel]

TP

wo/was[rel]

Hier wird angenommen, dass der Satztyp relativ ist (siehe RIZZI 1997). Dies wird entweder durch den overten Komplementierer wo/was oder durch Relativpronomina markiert. Wenn der Operator nicht overt ist, gibt es einen coverten Operator im Relativsatz, der einer „Lücke“ im Relativsatz entspricht und koreferent mit dem lexikalischen Kopf im Matrixsatz ist. Hier wird grundsätzlich eine Matchinganalyse angenommen (siehe LEES 1960, 1961; CHOMSKY 1965; SAUERLAND 1998, 2003; siehe auch SALZMANN 2017: 6–179 für eine vergleichende Studie), mit dem Unterschied, dass die NP im Relativsatz null (und nicht

Relativsätze und Relativpartikeln in deutschen Dialekten

17

getilgt) ist. Die detaillierte Struktur von Relativsätzen mit einem D-Pronomen ist unter (12) gegeben: (12)

DP D' D der

NP NP

CP DP

Mann

C'

D'

C

D

NP

der

Ø

TP

Ø

Die leere NP im Nebensatz bekommt Referenz von der Matrix-NP. In freien Relativsätzen tritt ein W-Pronomen in [Spec,CP] auf; zudem gibt es in freien Relativsätzen keinen lexikalischen N(P)-Kopf, da freie Relativsätze lediglich eine leere DP enthalten (siehe z.B. VAN RIEMSDIJK 2006). Die detaillierte Struktur von Relativsätzen mit wo als Komplementierer ist unter (13) gegeben: (13)

DP D' D der

NP NP

CP DP

Mann

C'

D'

C

D

NP

Op.

Ø

TP

wo

Die Struktur ist grundsätzlich die gleiche wie in (12): Der Unterschied besteht vielmehr darin, welche Elemente overt sind. Im Standarddeutschen ist es der Operator, in den untersuchten Dialekten der Relativkomplementierer.

18 3

Julia Bacskai-Atkari

VERDOPPELUNGEN: RELATIVSÄTZE MIT LEXIKALISCHEM KOPF

Verdoppelungen in Relativsätzen weisen einen overten Operator und einen overten Relativkomplementierer auf. Dieses Muster ist in diversen germanischen Dialekten belegt, und zwar auch in skandinavischen Varietäten, die sonst Komplementierer verwenden oder zumindest bevorzugen. Dialektal sind die folgenden Konstruktionen im Norwegischen, (14a), und im Schwedischen, (14b), verfügbar:4 (14) a.

b.

Dette er byen der som eg vart fødd. dies ist die.Stadt der REL ich war geboren ‘Das ist die Stadt, in der ich geboren bin.’ (BACSKAI-ATKARI / BAUDISCH 2018: 186–187) Dette är studenten vilken som bjöd in Mary. dies ist der.Student welcher REL einlud in Mary ‘Das ist der Student, der Mary eingeladen hat.’ (BACSKAI-ATKARI / BAUDISCH 2018: 247)

Im Norwegischen wird ein D-Pronomen eingesetzt, im Schwedischen hingegen ein W-Pronomen. Strukturen wie (14) zeigen, dass der Relativoperator grundsätzlich auch in Fällen overt realisiert werden kann, in denen ein overter Relativkomplementierer bereits vorhanden ist. Da aber ein Operator aus semantischen Gründen auf jeden Fall eingesetzt wird, siehe die Baumstrukturen unter (12) und (13), sollte die syntaktische Struktur durch die Overtheit des Operators nicht anders sein. Ähnliche Verdoppelungen treten auch in deutschen Dialekten auf. Im Alemannischen (siehe BRANDNER / BRÄUNING 2013) und im Hessischen (siehe FLEISCHER 2017) ist die Kombination „D-Pronomen + wo“ belegt. Die Kombination „D-Pronomen + was“ ist im Bairischen möglich (WEISS 2013), jedoch nicht im Hessischen (FLEISCHER 2017). Die komplementäre Distribution von was und D-Pronomina im Hessischen weist darauf hin, dass was in diesen Dialekten ein Relativoperator und kein Komplementierer ist, im Gegensatz zum Bairischen. Beispiele sind unter (15) gegeben: (15a) ist aus dem Hessischen und (15b) aus dem Bairischen. (15) a.

Des Geld, des wo ich verdiene, des geheert mir. ‘Das Geld, das ich verdiene, gehört mir.’ (FLEISCHER 2017: 562)

4

Dies ist im Dänischen anscheinend nicht der Fall (siehe BACSKAI-ATKARI / BAUDISCH 2018: 89–91). Im Norwegischen und im Schwedischen gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Dialekten. Das Beispiel unter (14a) wurde in der genannten Datenbank von dem Informanten aus Rogaland angegeben, aber nicht von dem Informanten aus Vest-Agder. Das Beispiel unter (14b) wurde in der genannten Datenbank von dem Informanten aus Färgelanda angegeben, aber nicht von der Informantin aus Göteborg.

Relativsätze und Relativpartikeln in deutschen Dialekten

b.

19

Mei Häusl (… ), dös wos dorten unten (…) steht ‘Mein Häuschen (…), das dort unten steht’ (WEISS 2013: 780)

Bei solchen Konstruktionen stellt sich die Frage, ob eine einzige CP ausreichend ist, wie in (12) und (13), oder ob eine CP-Verdoppelung notwendig ist (vgl. BALTIN 2010 überwiegend für Interrogativsätze). Wie BACSKAI-ATKARI (2018b: 18) argumentiert, ist die Verdoppelung im Englischen mit dem Komplementierer that, der nicht nur als Relativkomplementierer, sondern auch als finiter Deklarativkomplementierer fungieren kann, in dieser Hinsicht ambig: (16) It’s down to the community in which that the people live. es.ist unten zu die Gemeinde in welche dass die Leute leben ‘Es ist die Verantwortung der Gemeinde, in der die Leute leben.’ (VAN GELDEREN 2013: 59) Theoretisch sind die folgenden Strukturen möglich: (17) a. in which[rel]

CP

b. C'

C[rel],[fin]

CP

in which TP

C'

C[rel]

CP C'

that[rel],[fin] C[fin]

TP

that[fin] Die Struktur in (17a) ist ähnlich wie (12) und (13), mit dem wichtigen Unterschied, dass sowohl der C-Kopf als auch der Operator im Spezifikator overt realisiert wird. Die Struktur in (17b) hingegen weist eine Spaltung von [rel] und [fin] in zwei CPs auf, ähnlich wie die klassische „Force–Fin“-Aufteilung von RIZZI (1997). Der Ansatz in (17b) ist jedoch generell problematisch: Aus minimalistischer Perspektive sollten die lexikalischen Elemente miteinander direkt via Merge kombiniert werden, und eine Aufspaltung wie (17b) wäre daher nur denkbar, wenn ein separater, coverter Relativkomplementierer auch insertiert wäre.5 Für die 5

Der Komplementierer that wird direkt mit der TP kombiniert: Der Kopf that projiziert, weshalb die Kombination „that+TP“ that als Label erhält. Die Phrase in which ist eine PP, deren Kopf die Präposition in ist, die auch als Label für diese Einheit fungiert. Wenn diese PP direkt mit dem C-Kopf that durch Merge kombiniert wird, so könnte im Prinzip entweder (i) in projizieren, womit der gesamte Satz praktisch eine PP wäre, oder (ii) that projizieren, was zwar die korrekte Kategorie CP ergibt, sich aber nicht von der Konstellation in (17a) unterscheidet: Die PP in which wäre demnach ein Spezifikator des C-Kopfes that. Dieses Problem

20

Julia Bacskai-Atkari

Markierung von [fin] und [rel] ist eine einzelne CP, die einer direkten Operation Merge entspricht, schon alleine aus theoretischen Gründen vorzuziehen (vgl. auch die Analyse von BAYER / BRANDNER 2008a für eingebettete Fragesätze). Darüber hinaus gibt es aber auch ein empirisches Problem (vgl. BACSKAI-ATKARI 2018b: 16–21): Während that im Englischen ambig ist, beinhalten die deutschen Muster in (15) eindeutig einen Relativkomplementierer, da wo und was nicht als reine finite Komplementierer nachweisbar sind. Aus diesen Gründen ist eine funktionelle Spaltung zwei CPs nicht vertretbar. Die Struktur der Verdoppelungen in (15) ist in (18) gezeigt: (18)

CP der/die/das[rel]

C'

C[rel],[fin]

TP

wo/was[rel],[fin] Verdoppelungen wie (18) entstehen, weil ein overtes D-Pronomen eingesetzt wird: Hier wird angenommen, dass die Lexikalisierung des Relativoperators immer möglich ist, wenn es overte Relativpronomina im Dialekt gibt. Darüber hinaus wird der Relativkomplementierer regelmäßig eingesetzt, der auch das Merkmal [fin] prüft. Die detaillierte Struktur von Relativsätzen wie (15) ist unter (19) gegeben: (19)

DP D' D

NP

des NP mei Geld Häusl

CP DP

C'

D'

C

D

NP

des des

Ø Ø

TP

wo wos

aus Sicht der Struktur in (17b) könnte man mithilfe eines zusätzlichen, coverten Relativkomplementierers vermeiden; in der oben angegebenen Literatur gibt es aber keine Hinweise, geschweige eine Begründung, für solche zusätzliche Annahmen.

Relativsätze und Relativpartikeln in deutschen Dialekten

21

Der Unterschied zwischen (12)/(13) und (19) besteht darin, dass in (19) sowohl der Operator als auch der relative C-Kopf overt realisiert wird.

4

VERDOPPELUNGEN: FREIE RELATIVSÄTZE

Kopflose oder freie Relativsätze weisen ein W-Element auf; in (20) werden entsprechende Beispiele aus dem Englischen, (20a), aus dem Deutschen, (20b), und aus dem Niederländischen, (20c), gegeben (jeweils Standardsprache): (20) a.

b. c.

You should finish what you have begun. du solltest beenden.INF was du hast begonnen ‘Du solltest beenden was du begonnen hast.’ Ich nehme was du nimmst. Wie zoiets doet, is gek. wer sowas tut ist verrückt ‘Wer sowas tut ist verrückt.’

In diesen Fällen, wie oben bereits erwähnt, gibt es keinen lexikalischen Kopf, sondern eine leere DP im Matrixsatz (siehe z.B. VAN RIEMSDIJK 2006). Neben dem W-Pronomen enthält das deutsche Dialektmuster den Komplementierer dass, wie im bairischen Beispiel unter (21): (21) wem dass des zvei is, kann aa wenger zoin. ‘Wem das zu viel ist, kann auch weniger zahlen.’ (WEISS 2013: 785) Anzumerken ist, dass der Komplementierer dass kein Relativkomplementierer im Deutschen ist, damit unterscheidet sich diese Art von Verdoppelung von der in Abschnitt 3. Ähnliche Verdoppelungen sind auch in niederländischen Dialekten belegt, wie im folgenden Beispiel aus Südbrabant: (22) Wie dat er nou trouwt zijn stommerike. wer dass da jetzt traut sind Dummköpfe ‘Wer heutzutage heiratet ist ein Dummkopf.’ (ZWART 2000: 358; zitierend: VANACKER 1948: 143) Das Muster ist wie im Deutschen in (21). Wichtig ist dabei, dass es im Niederländischen, ganz wie im Deutschen (aber im Gegensatz zum Englischen) keine datRelativsätze gibt (ZWART 2000: 357). Im Englischen sind that-Relativsätze zwar gängig, aber in freien Relativsätzen wie (20a) tritt that nicht auf. Grundsätzlich ist die Kombination von einem W-Pronomen und som im Norwegischen und im Schwedischen auch nicht belegt. Die Verdoppelungen in deutschen Dialekten sind ähnlich wie in eingebetteten Fragesätzen: [fin] wird in C durch den finiten Komplementierer lexikalisiert, und

22

Julia Bacskai-Atkari

die Einsetzung des Komplementierers führt zu keinen Unterschieden in der Interpretation im Vergleich zu komplementiererlosen Relativsätzen. Die Struktur unter (23) zeigt die Syntax von der Kombination in (21):6 (23)

CP wem[wh]

C'

C[wh],[fin]

TP

dass[fin] Hier wird angenommen, dass der Satztyp in freien Relativsätzen nicht [rel] sondern eher [wh] ist. Diese Annahme in der Syntax sagt die Inkompatibilität von freien Relativsätzen mit D-Pronomina und den Relativkomplementierern wo und was voraus, da diese lexikalisch als [rel] und nicht als [wh] spezifiziert sind. Die detaillierte Struktur wird in (24) gezeigt. Das NP-Komplement verlangt keinen Antezedens.7 Diese Konstruktion ist jedoch nicht mit allen W-Pronomina kompatibel. Zum Beispiel nimmt which im Englischen ein overtes NP-Komplement in Interrogativsätzen und kann eben deshalb in freien Relativsätzen nicht auftauchen, während Relativsätze mit einem lexikalischen Kopf mit which kompatibel sind, weil es ein Antezedens im Matrixsatz gibt. Da die Kombinationsmöglichkeiten lediglich mit den lexikalischen Eigenschaften der jeweiligen Elemente sowie mit dem Satztyp im Zusammenhang stehen, entsteht die Notwendigkeit einer kartografischen Aufteilung der CP mit gesonderten Funktionen nicht. (24)

CP DP

C'

D'

6 7

C

D

NP

wem

Ø

TP

dass

Das W-Element wem verhält sich genauso wie in Fragesätzen, wo es bekanntlich kein Antezedens gibt (da es keinen NP-Kopf in Fragesätzen gibt). Es ist erwähnenswert, dass nicht alle W-Elemente gleich gut kombinierbar mit dass sind: Die Elemente wer, was und wo sind in vielen Dialekten schwer mit dass kombinierbar, während dass mit genuinen W-Phrasen (z.B. in welchem Haus) tendenziell obligatorisch ist; W-Wörter wie wem bilden eine Zwischenstufe (BAYER / BRANDNER 2008b). BAYER / BRANDNER (2008a) argumentieren, dass wer und was in den untersuchten Dialekten in komplementärer Distribution mit dem Komplementierer dass sind, und somit sie auch als Komplementierer betrachtet werden können. BACSKAI-ATKARI (2020) nimmt ebenfalls an, dass solche W-Elemente direkt mit der TP verkettet werden können aber keine Finitheit kodieren (und generell nicht als Komplementierer fungieren, im Gegensatz zu dem Vorschlag von BAYER / BRANDNER 2008a).

Relativsätze und Relativpartikeln in deutschen Dialekten

5

23

DREIFACHE KOMBINATIONEN

Vor diesem Hintergrund sind dreifache Kombinationen besonders interessant: Bisher wurde in diesem Artikel die Annahme vertreten, dass die Kombinationen in deutschen Dialekten, die in Relativsätzen auftreten, eine kartografische Analyse an sich nicht rechtfertigen, da diese Konstruktionen mit einer minimalen CP kompatibel sind. WEISS (2013) und GREWENDORF / POLETTO (2015) berichten jedoch, dass im Bairischen auch dreifache Kombinationen in der Form „D-Pronomen + wo + dass“ möglich sind. Das Beispiel in (25) zeigt die Kombination in einem Relativsatz mit lexikalischer NP: (25) dea Mã, dea wo dass des gsogd hod ‘der Mann, der das gesagt hat’ (WEISS 2013: 781) Das Beispiel in (26) zeigt die Kombination in einem freien Relativsatz: (26) dem wo dass des zvei is, kann aa wenger zoin. ‘Wem das zu viel ist, kann auch weniger zahlen.’ (WEISS 2013: 781) Bezüglich der Daten unter (25) und (26) entstehen einige Fragen. Einerseits sind diese Konstruktionen für die Theorie besonders interessant, da sie möglicherweise eine gespaltete CP aufweisen. Andererseits müsste genauer geprüft werden, inwieweit die gegebenen Kombinationen belegt sind. In der Literatur werden Konstruktionen wie (25) und (26) ausschließlich für das Bairische erwähnt, jedoch nicht für das Alemannische8 oder für das Hessische9. Generell scheint das Muster nicht sehr verbreitet zu sein.10 Auf jeden Fall ist auch anzumerken, dass im Bairischen Relativsätze nicht nur mit wo, sondern auch mit was eingeleitet werden können. Aus diesen Gründen ist zu vermuten, 8

Im Projekt „Syntax des Alemannischen“ (SynAlm) wurde die Reihenfolge nur für Relativsätze mit langer Bewegung (z.B. solche Blumen wüsste ich niemanden, der bei uns verkauft, FB2/15) getestet (FB2-251, Column: IT => Q_15-4 und FB2-258, Column: IX => Q_16-4). Die Sätze wurden generell als sehr schlecht bewertet. SALZMANN (2017: 336–343) liefert eine detaillierte Beschreibung von Relativsätzen im Schweizerdeutschen und erwähnt Konstruktionen wie (25) und (26) nicht: Die Kombination von wo und dass ist in Relativsätzen generell nicht möglich, im Gegensatz zu eingebetteten Fragesätzen, was darauf hinweist, dass wo im Schweizerdeutschen ein Komplementierer ist. 9 Kombinationen wie (25) und (26) werden von FLEISCHER (2017) nicht erwähnt. 10 Bezüglich der Verdoppelung „D-Pronomen + wo“ und (26) schreibt WEISS (2013: 781) Folgendes: „für manche Sprecher des Bairischen (H. Altmann, pers. Mitteilung) ist dieser Konstruktionstyp möglich, wobei sogar optional der Komplementierer dass hinzugefügt werden kann“. Letzteres sei „bei wo-Relativsätzen im Bairischen generell möglich“ (WEISS 2013: 781), wie unter (25). GREWENDORF / POLETTO (2015), die von Konstruktionen wie (25) ebenfalls berichten, zitieren das gleiche Beispiel wie unter (25) und eins mit Komplementiererflexion.

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Julia Bacskai-Atkari

dass wo in den Dialekten, die (25) und (26) aufweisen, einen anderen Status hat als im Alemannischen und im Hessischen. Die genannten Quellen sind sich zudem einig, dass das D-Pronomen zum Relativsatz und nicht zum Matrixsatz gehört, was unter anderem auch durch die Intonation verifiziert werden kann. In (25) gibt es zudem bereits einen lexikalischen Kopf im Matrixsatz (die DP der Mann), weshalb das D-Pronomen der nicht als Kopf im Matrixsatz betrachtet werden kann. In (26) zeigt der Kasus des DPronomens (Dativ), dass es zum Relativsatz und nicht zum Matrixsatz gehört. Hinzu kommt, dass die Kombination wo dass in Relativsätzen nur dann entstehen kann, wenn das D-Pronomen auch eingesetzt wird (siehe die Daten von WEISS 2013: 781). Anders ausgedrückt ist die Einsetzung von dass nur dann erlaubt, wenn der Status von wo anders ist, als in gewöhnlichen wo-Relativsätzen. Dieser Unterschied ist gleichzeitig verantwortlich für die Einsetzung des D-Pronomens. In diesen Fällen ist wo kein Komplementierer, sondern ein Operator ist, der jedoch als adverbiales Element kein NP-Komplement nehmen kann, sondern lediglich den Satztyp markiert. Das D-Pronomen hat demnach eine referentielle Funktion. Das Auftreten von einem D-Pronomen ist in (25) weniger merkwürdig als in (26): D-Pronomina sind in nicht-freien Relativsätzen regelmäßig belegt (siehe Abschnitt 4). In freien Relativsätzen können sie aber durchaus als Demonstrativpronomina auftreten; solche Demonstrativpronomina sind im Englischen belegt.11 Betrachten wir die Beispiele unter (27): (27) a.

b.

You should finish what you have du solltest beenden.INF was du hast ‘Du solltest beenden, was du begonnen hast.’ You should finish that which you du solltest beenden.INF das welches du ‘Du solltest beenden, was du begonnen hast.’

begun. begonnen have begun. hast begonnen

Beide Beispiele in (27) enthalten freie Relativsätze. Im Englischen kann das WPronomen what ein phonologisch leeres NP-Komplement nehmen, siehe (27a). Dies ist mit dem Pronomen which nicht ohne ein overtes Antezedens möglich, weshalb das Demonstrativpronomen that eingesetzt wird, siehe (27b). Da that im modernen Englischen kein Relativoperator ist, ist sein Status in Beispielen wie (27b) eindeutig anders als der von Relativpronomina, jedoch gehört dieses Element syntaktisch und phonologisch zum Relativsatz und nicht zum Matrixsatz, da die beiden Elemente that und which immer adjazent sein müssen.12 Das Demons11 Diese Annahme kann im Englischen empirisch gut begründet werden, da das moderne Englische überhaupt keine D-Relativpronomina hat. Das Element that ist nur in Beispielen wie (27b) belegt aber nicht als alleinstehendes Relativpronomen in nicht-freien (oder in freien) Relativsätzen, im Gegensatz zu D-Pronomina im Deutschen. 12 Diese Tatsache spricht gegen eine theoretisch denkbare Annahme, dass that in diesen Fällen ein D-Kopf im Matrixsatz wäre und somit als „leichter“ externer Kopf fungieren würde. Es ist jedoch anzunehmen, dass relativsatzinterne Demonstrativpronomina diachron aus solchen DKöpfen abgeleitet werden (siehe VAN GELDEREN 2004; 2009).

Relativsätze und Relativpartikeln in deutschen Dialekten

25

trativpronomen ist damit Teil des Relativsatzes, ohne als [rel] spezifiziert zu sein: Der Relativoperator ist which. Der Status des D-Pronomens erinnert an die Reanalyse von Demonstrativpronomina zu Relativpronomina, die in verschiedenen Sprachen beobachtet werden kann (siehe VAN GELDEREN 2004, 2009): In solchen Fällen ist das Demonstrativpronomen in [Spec,CP] basisgeneriert und nicht als [rel] spezifiziert. Bei den Konstruktionen unter (25) und (26) ist wichtig zu betonen, dass DPronomina im Deutschen sowohl Demonstrativpronomina als auch Relativpronomina sein können. In (25) fungiert das D-Pronomen als Relativpronomen; in (26) hingegen wird ein Demonstrativpronomen eingesetzt, da D-Pronomina als Relativpronomina mit dem Merkmal [rel] in freien Relativsätzen nicht erlaubt sind, siehe Abschnitt 4.13 Das Element wo ist in Konstruktionen wie (25) und (26) als [wh] spezifiziert: Daher ist dieses Element einerseits in freien Relativsätzen erlaubt, in nicht-freien Relativsätzen muss aber ein Relativpronomen mit dem Merkmal [rel] zusätzlich eingesetzt werden. Die Struktur für (25) ist in (28) abgebildet: (28)

CP der[rel]

C'

wo[wh]

C' C[rel],[fin]

TP

dass[fin] Hier wird angenommen, dass mehrere Elemente als Spezifikator zum Kopf eingesetzt werden können, was im Einklang mit dem Mechanismus Merge ist. Der Komplementierer dass markiert lediglich Finitheit, während wo zwar einsetzbar als W-Operator ist, aber das Relativmerkmal in diesem Fall nicht prüfen kann.14 13 FUSS / GREWENDORF (2014) diskutieren eine Konstruktion im Deutschen, die auf dem ersten Blick suggeriert, dass D-Pronomina in freien Relativsätzen doch erlaubt sind. Ein Beispiel ist unten gegeben: (i) [Die das nicht so gut können], fliegen raus. (Z12/MAR.00233 „Die Zeit“ 15.03.2012; FUSS / GREWENDORF 2014: 166) FUSS / GREWENDORF (2014: 169–187) zeigen jedoch, dass solche Relativsätze sich syntaktisch und semantisch deutlich von freien Relativsätzen mit W-Pronomina unterscheiden. In der Tat sind Relativsätze wie in (i) restriktive (nicht-freie) Relativsätze, deren Kopf im Matrixsatz ein demonstratives D-Pronomen ist; das Relativpronomen wird unter morphologischer Identität getilgt (syntaktische Haplologie; FUSS / GREWENDORF 2014: 187–191). 14 Um eine einfache CP zu erhalten, müsste man einen komplexen C-Kopf wo dass postulieren, für den es allerdings keine unabhängigen Indizien gibt. Hinzu kommt, dass die oben erwähnte Tatsache, dass das D-Pronomen die Kombination wo dass lizenziert, ebenfalls von der An-

26

Julia Bacskai-Atkari

Die Struktur für (26) ist in (29) abgebildet: (29)

CP C'

der

C'

wo[wh]

C[wh],[fin]

TP

dass[fin] Im Gegensatz zu (28) ist der Satztyp in diesem Fall nicht [rel] sondern [wh], so dass wo auch den Satztyp markieren kann. Das Demonstrativpronomen wird eingesetzt, um das leere NP-Komplement einfügen zu können, da wo in nominalen Relativsätzen nicht als interner Kopf fungieren kann. Die Struktur unter (29) ist in dieser Hinsicht ähnlich wie das englische Beispiel in (27a) und somit keine Besonderheit des Deutschen. Die detaillierte Struktur für (25) und (26) ist in (30) gegeben:15 (30)

CP DP

C'

D' D dea/dem

AdvP NP Ø

wo

C' C

TP

dass

Wie gezeigt, gibt es bezüglich der relativen Position des D-Pronomens keinen Unterschied zwischen Relativsätzen mit lexikalischem Kopf und freien Relativsätzen: Der Unterschied besteht darin, ob das Pronomen als [rel] spezifiziert ist oder nicht. Die Frage stellt sich, warum solche komplexen Strukturen überhaupt entstehen, wenn im Grunde genommen schon zweifache Kombinationen reichen, siehe Abschnitt 4 und 5. Es ist zu vermuten, dass wo in diesen Dialekten, die sonst eben nicht wo, sondern was als Relativkomplementierer verwenden, noch nicht oder

nahme abhängig wäre, dass der komplexe Komplementierer als [wh] und nicht als [rel] spezifiziert ist, weil das Auftreten von wo dass ohne D-Pronomen ansonsten zu erwarten wäre. 15 Hier gilt die gleiche Anmerkung wie oben für das Englische: Das D-Pronomen und wo sind in diesen Konstruktionen strikt adjazent, was gegen die oben erwähnte theoretisch denkbare Möglichkeit spricht, dass das D-Pronomen in diesen Fällen ein D-Kopf im Matrixsatz wäre und somit als „leichter“ externer Kopf fungieren würde.

Relativsätze und Relativpartikeln in deutschen Dialekten

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nicht vollständig grammatikalisiert wurde, so dass wo auch als W-Operator mit dem entsprechenden Merkmal eingesetzt werden kann: Dies hat zur Folge, dass andere Elemente, wie der finite Komplementierer dass und das D-Pronomen, ebenfalls eingesetzt werden müssen.16 Die komplexe Struktur hängt also mit dem syntaktischen Status des Elements wo zusammen. Da wo aber selbst im Bairischen als Komplementierer fungieren kann und alternative Optionen mit was ebenfalls zur Verfügung stehen, sind die komplexen Strukturen erwartungsgemäß selten, da sie in der Funktion äquivalent mit den ökonomischeren Strukturen sind. In den Strukturen unter (28) und (29) handelt es sich um eine Art CPVerdoppelung, in der mehrere Elemente als Spezifikator zum Kopf eingefügt werden können, ähnlich wie in V3-Matrixsätzen (siehe BACSKAI-ATKARI 2018a). Theoretisch können zwei CPs angenommen werden, jedoch ist die Einsetzung eines leeren C-Kopfes allein für die Generierung des oberen Spezifikators, wie es in einem klassischen X'-Schema üblich wäre, in einem Merge-basierten Framework überflüssig. Wichtig ist dabei, dass die Einsetzung des finiten Komplementierers nicht als pure Lexikalisierung einer separaten FinP betrachtet werden kann: In dem Fall sollte die Einsetzung des finiten Komplementierers in FinP unabhängig von der Einsetzung des D-Pronomens in ForceP (als Spezifikator) sein. Anders ausgedrückt würde eine separate, spezifische FinP auch in wo-Relativsätzen (wo dass) oder in Relativsätzen mit einem einfachen D-Pronomen (der dass) möglich sein: Dies ist aber empirisch nicht nachgewiesen. Damit liefern selbst dreifache Kombinationen, soweit vorhanden, keine Evidenz für eine kartografische Analyse.

6

ZUSAMMENFASSUNG

In diesem Aufsatz wurden Relativsätze in Dialekten des Deutschen, vor allem aus dem süddeutschen Sprachraum, diskutiert. Die Relativkomplementierer wo und was sind in diesem Gebiet mit regionaler Variation des Komplementierers belegt: Während wo allgegenwärtig ist, ist was als Komplementierer (jedoch nicht als relativer Operator) auf das Bairische beschränkt. Die Einsetzung eines overten Relativkomplementierers lexikalisiert das Merkmal [fin] in C und entspricht damit dem generellen germanischen Muster. Die Verdoppelungen, die ein D-Pronomen (im Englischen ein W-Pronomen) und den regulären Relativkomplementierer enthalten, weisen eine einzige CP auf, wobei der Operator auch lexikalisiert wird. Die Verdoppelungen, die einen W16 Die einschlägige Literatur zu diesen dreifachen Kombinationen suggeriert, dass solche Kombinationen genau in den Dialekten auftreten, die ansonsten was als Relativkomplementierer verwenden; eine explizite Aussage gibt es jedoch bisher nicht, vermutlich auch weil diese Kombinationen bisher noch nicht im Fokus der Untersuchungen standen. Wie bereits erwähnt, wurden sie auch nicht durch die Dialektprojekte (SynAlm und SyHD) erfasst, was aber eben daran liegen könnte, dass der Relativkomplementierer in den alemannischen und hessischen Dialektgruppen wo und nicht was ist. Diese Frage sollte in der künftigen Forschung näher untersucht werden.

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Julia Bacskai-Atkari

Operator und dass aufweisen, enthalten ebenfalls eine einzige CP: Diese Konstruktionen sind in freien Relativsätzen möglich, die in der Regel sowieso mit WPronomina gebildet werden (es gibt keine Matrix-NP). Dialektal wird dass eingefügt, um [fin] in C zu lexikalisieren. Im Bairischen sind zudem Dreifachkombinationen in der Form „D-Pronomen + wo + dass“ beschränkt möglich: In diesen Fällen gibt es eine verdoppelte CP, und wo dient als Satztypmarkierer. Die hier diskutierten Strukturen sind für die Theorie besonders interessant, da sie eine komplexere linke Peripherie aufweisen als das in der Standardsprache beobachtet werden kann. Jedoch verlangen die Kombinationen keine komplexe Peripherie in einem kartografischen Sinn und sind daher mit dem minimalistischen Ansatz kompatibel, wobei bestimmte Merkmale und die Notwendigkeit der Lexikalisierung eine wichtige Rolle spielen. Die Einsetzung der verschiedenen Elemente kann von unabhängigen Faktoren und nicht von einer vorgegebenen kartografischen Vorlage abgeleitet werden.

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Relativsätze und Relativpartikeln in deutschen Dialekten

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DIALECTAL VARIATION, STANDARDIZATION AND MODELS OF LANGUAGE CHANGE* Ellen Brandner / Alexandra Rehn

1

INTRODUCTION

The question “what drives language change” is probably as old as the detection of language change. An important notion that can already be found from the earliest speculations on the driving force for change is economy. In VON DER GABELENTZ’S (1901) early work economy is present in the notion of “Bequemlichkeitstrieb” (‘laziness’) and it is also detectable in SCHLEICHER’S (1873) application of evolutionary terms like “growth” or “development” followed inevitably by “decay”. In more recent work, the direct application of the syntaxtheoretical notion of the “economy of derivation” to the mechanism of language change is most prominently found in the work by VAN GELDEREN (2004, 2011), but also ROBERTS / ROUSSOU (2003) with e.g. the “Head-preference principle” or the “Merge-over-Move principle”. Within CHOMSKY’S (2005) “three factors approach”, economy is not only seen as something desirable from a theory-building perspective (à la Occam’s razor) but it is assumed to be a hard-wired property of the human language faculty;1 indeed an instance of a third factor. As such, it is not even specific to the human language faculty but economy should ideally follow from general laws of nature. In this sense, theories about language change within the generative tradition seem to come back to the early ideas by VON DER GABELENTZ or even SCHLEICHER in some way. The difference is that “economy” in these older explanations targets the production system, eventually the speaker, such that a very concrete notion of “least effort” is relevant – whereas in the newer generative tradition, economy applies concretely to “efforts” in the derivational process. However, the concrete notion of what counts as being more economic *

1

This paper grew out of a general discussion at the SaRDiS-meeting in 2018 that we organized as a “mini-workshop” on the role of standardization and how it relates to “natural” language change – as it can be witnessed from variation and change in contemporary dialects. We would like to thank all participants of this discussion, and especially AUGUSTIN SPEYER for making this format possible, all the organizers of SaRDiS 2018, the reviewers and the editors. What we present here is in fact our view on these issues and none of the discussants can and should be made responsible for errors and maybe misinterpretations. Our criticism therefore applies only to theories that have integrated these notions of economy. Thus, constraint based theories (e.g. HPSG) will not be discussed in this paper. In which sense “economy of representation” might be a crucial issue in this type of theories, will also be left to another occasion.

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Ellen Brandner / Alexandra Rehn

under a derivational perspective is disputed. Notions like “Minimal Link Condition” or “fewest steps” are intuitive, but the idea that e.g. being a head is more economical than a phrase is less clear. Inherently entailed in all these approaches is the idea of unidirectionality of language change – a notion that is much discussed in the literature on grammaticalization. While it is an empirical question in which sense languages only change in one direction – see the contributions in “Language Sciences” (2001) – the problem with weaving-in the syntactic economy notion into language change per se is indeed of conceptual nature as well: if economy is the driving force, then languages should develop more and more economical grammars over time. The immediate question then is in which way a non- or less economical grammar can come into existence in the first place, see FUSS (2007) for a similar point. Even if a solution for this quite obvious problem can be found, grammars should eventually reach a most economical and thus optimal state, if this line of reasoning were correct. And this entails that language change should stop at this point. This is clearly not what we find. What might be considered to come close to such a stop are the effects of language standardization, i.e. the establishment of a written standard variant. The reason is that standardization aims at reducing variation by at the same time increasing explicitness. However, such a deliberate formulation of rules leads to an “artificial” language whose rules are not necessarily conform to UG, see also the discussion in WEISS (2004). It is thus not surprising that the effects of such a standard on the spoken language are limited. On the other hand, constructions from the spoken language sometimes enter the standard at some point for the very same reason, as we will show in Section 3. Nevertheless, standardization is indeed able to preserve older stages, especially in the area of (loss of) inflection. A further point that must be considered is that the economy-based approaches to language change mentioned above of course rely on varying input, i.e. the language acquirer must be faced with diverse data in order to be able to select the more economical variant. This is exactly the situation that dialect speakers are confronted with systematically – at least since the standardization process of German was completed and the efforts of standardization reached all layers of the population. Therefore, a close examination of language change including both standardization and natural language change within dialects should be able to shed some light on the issues raised above. In this paper, we will cast doubt on the prominent role of economy in language change and discuss whether it is possible to come up with a less rigorous way to deal with certain undeniable tendencies in language change that have led researchers to give economy such a prominent role. Empirical support for this skeptical view on economy can be found in comparing the amount and range of variation in contemporary dialects of German with that of diachronic stages of

Dialectal variation, standardization and models of language change

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German. It seems that German did not really change in any substantial way.2 We will provide evidence that in German – despite the efforts of standardization to reduce variation – the type and amount of variation does not decrease over time but that there are even cases in which variation actually increases. The paper is structured as follows: In Section 2 we discuss the economybased approaches mentioned in the introduction in more detail and in Section 3 we present empirical evidence supporting our criticism of economy as a driving force of language change. In the last section we will discuss a possible alternative, namely nanosyntax, see STARKE (2009), that may be better suited to handle the data. This last section should be considered as programmatic in nature, as we will not be able to lay out a full fleshed theory of language change and variation here in this short paper. But we would like to emphasize that the considerations here grew out of the confrontation of contemporary dialectal variation with diachronic variation and our impression is that the idea of “more economical” states of a language is – most likely – on the wrong track.

2

ECONOMY-BASED MODELS

Let us thus have a closer look at the economy-based approaches to language change and elaborate on the skepticism of their adequacy that we expressed in the introduction. First, we should get a clearer picture on the various notions of economy that show up in the literature already mentioned. In his traditional approach, VON DER GABELENTZ (1901: 256) observes that there seem to be two different forces at play as noted above: On the one hand, there is the “Bequemlichkeitstrieb” (‘laziness’), eventually leading to the loss of elements, notably inflection, but there is also the “Deutlichkeitstrieb” (‘desire to be explicit’), which prevents that loss leads to the “destruction” of language. We will leave open whether laziness comprises the phenomenon of “Endsilbenschwund”, i.e. the loss of final syllables (bearing the inflection) due to wordinitial stress in Germanic. Whatever the cause of this Endsilbenschwund, it is the idea that “uttering less” is more economical and preferred by speakers. VON DER GABELENTZ is very explicit that this seems to be rather natural and as such inevitable. With this view, he is much in line with SCHLEICHER (1873: 7) who also takes language change as an inevitable process within the natural development of a language – just like for any other biological organism. Development is thus understood as improvement. However, VON DER GABELENTZ points out that the loss of certain features is necessarily followed by re-invention via the usage of differ-

2

This is of course different in English which has undergone a number of substantial changes. But as is well known, the situation is entirely different from German due to the massive contact with other languages that English was exposed to, see the discussion about the “creole hypothesis”, see e.g. MCWHORTER (2002) for a somehow “in-between” position.

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Ellen Brandner / Alexandra Rehn

ent means to express the respective content. This process leads to a cyclic development3 from isolating to agglutinating and then to inflectional language types.4 When a language has reached the inflectional stage, decay inevitably starts and the language is doomed. It will start again with the isolating stage and the circle starts again. SCHLEICHER, on the other hand, speculates that early languages merely used roots for expressing grammatical relations and only “higher developed” languages were able to express more complex concepts with grammatical means like inflection. Languages disappear if they get “too weak” in terms of explicitness in the described natural process of decay and are then replaced by better suited ones, adhering to the principle of “the survival of the fittest” in Darwinian terms. The language users themselves are not involved at all in this process. This direct application of evolutionary concepts to the development of languages is nowadays surely out of date.5 However, when investigating the more recent economy-based approaches on language change, their line of thought is in fact not that far away from “the survival of the fittest” concept and the inevitable path towards a “more developed” state. This holds especially since the third-factor issue in CHOMSKY (2005) came up and in the already mentioned work by VAN GELDEREN (2011) and ROBERTS / ROUSSOU (2003). Furthermore, the “survival of the fittest” concept can also be found in the “grammar competition” models of language change as e.g. proposed by KROCH (1989), who more or less directly implements it. Although in this approach, outerlinguistic factors play a more prominent role in the emergence of alternatives and thus between two grammars than economy of derivation, the approach nevertheless hinges on the idea that if an alternative grammar is possible – it is always one of the available grammars that will win in the end, they will not coexist in the long run. The crucial difference of the competition model to economy-based ones is the fact that, in the case of the latter, it is clear from the beginning which version will win – namely the more economical one. This is not necessarily the case in the competition model. But still, the idea is that languages (grammars) change within a “struggling for life” scenario. However, as mentioned in the introduction, it remains unclear (i) whether the syntax-derivational notion of economy should in fact be equated with the overall economy of the system, and (ii) if by implication such a state is eventually reached, what it is that drives further change?

3

4 5

Or as the linguistic “spiral” as VON DER GABELENTZ himself puts it. He is very well aware of the fact that the compensation strategies that are found in language change do not “restore” the original situation – but lead to slightly different outputs. Nevertheless, the idea of directionality is still involved. In terms of morphology of course; recall that during these times, “grammar“ basically meant morphology. It is interesting to note that the very same ideas showed up very recently, e.g. in BENÍTEZBURRACO (2017). He correlates the ability to grammaticalize (which is in his sense mainly the ability to broaden the application of linguistic signs to more abstract, grammatical relations) with certain neurological developments within the human brain – developments that are not found in other primates.

Dialectal variation, standardization and models of language change

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It is important to have a clear understanding of what economy is in the context of language change. Is it more economical to have a separate item for each semantic distinction such that we have a simple and transparent one-to-one mapping between form and function/meaning? Or is it more economical to have a rather small amount of functional items in the lexicon that cover a whole bunch of semantic distinctions – but with the risk of polysemy and thus lack of explicitness? An example for a multi-functional element in this sense is the demonstrative pronoun as it also functions as relative pronoun, complementizer and definite article, as investigated in detail in HACHEM (2015). However, in a highly articulated framework she shows that the syntactic environment is obviously enough to disambiguate between the different functions. We will come back to this issue and briefly discuss it in Section 4. From an acquisition point of view, a one-to-one mapping seems to be more favorable at first sight, due to the deterministic nature of the system – but at the same time, we know that this situation seems to be quite rare cross-linguistically. So, is there indeed a “laziness” in the language user (or acquirer) that inevitably leads to the loss of inflection and hence a cyclic process when loss reaches a point that leads to lack of explicitness? In order to get a better understanding of the notion of economy in language change, let us have a closer look at how the economy-idea is implemented within the generative tradition. We will concentrate on VAN GELDEREN (2004, 2011) and, in passing, also on ROBERTS / ROUSSOU (2003) as well as BIBERAUER / ROBERTS (2017) when substantial differences occur between them. These authors explicitly claim that grammaticalization – and with it the cyclical nature of language change – is driven by economy (of derivation) and as is consensus within the generative literature, language change happens during language acquisition. This means that the language acquisition device and the economy principles woven into it, leads the child to always postulate the most parsimonious structure or derivation that is compatible with the given input. And as just said, economy is taken quite literally: VAN GELDEREN’S “Late Merge principle” or the preference of “Merge-over-Move”, cf. ROBERTS / ROUSSOU (2003) implement the idea that fewer steps in the derivation are always preferable and win if the input allows a choice. A good example for briefly illustrating this is the development of modals in English, see VAN GELDEREN (2008: 291). Modals in Modern English show all signs of being directly merged in the Tense (or finiteness) position instead of being base-generated within a projection of VP and then moving higher up. The latter scenario is the situation we find in older stages of English and for example in contemporary German. This step is “skipped” in Modern English and thus the more economic scenario – in terms of fewer derivational steps has “won”. In more recent discussions of Minimalism, see CHOMSKY (2004), however, the “Merge-over-Move principle” cannot be formulated in terms of economy anymore since movement is now seen as an instance of re-merge and is as such not more costly than any other merge operation. Even to the contrary, one might conceive iterated movement of one lexical item, bearing a bundle of grammatical features to several functional positions as more economical than “scattering” the fea-

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tures to different lexical items – in other words it is not decidable which of the two conceptions is more economic. In the latter situation however, external merge needs access to the lexicon several times – a probably more costly operation in addition to the need of a more differentiated lexicon. Thus, even under economy considerations, the multifunctionality approach seems favorable. However, what it needs in order to be really explanatory is a highly articulated and explicit hypothesis about the semantic distinctions to be covered and the way in which these are represented syntactically. We will return to this issue when we discuss a possible alternative to the model just described in Section 4. Another prominent principle is VAN GELDEREN’S (2004) “Head Preference Principle”. Here the idea is that being a head is more economical than being a phrase. Whether we have to understand this in terms of less “projection activity” or in the very simple intuitive sense that the filling of a head position requires less lexical material than the filling of a specifier remains unclear. In VAN GELDEREN (2004), she argues on the basis of CARDINALETTI / STARKE’S (1996) distinction between weak and strong pronouns as heads vs. phrases, that whenever possible, a pronoun moves as a head (and incorporates e.g. into I in order to check its features). Thus, whether a phrase or a head is “more” or “less” economical is based on the observation that head-movement seems to be preferred – whereby this preference is again motivated by economy. Be that as it may, what the principle is meant to capture is the often observed reanalysis of (phrasal) material in a specifier to its head position. A prominent example for the Head Preference Principle is the conjunction while in English, which is known to derive from the noun hwile (meaning ‘a certain time span’) that occupied the specifier of CP as full-fledged nominal expression in former times. With the distinction between head and phrases essentially gone in a Bare Phrase Structure approach, see CHOMSKY (1995) and subsequent work, the principle cannot be stated anymore in these absolute terms. In her more recent work, VAN GELDEREN (2009, 2011) suggests to replace the “Late Merge” and the “Head Preference principle” with “feature economy”, see also ROBERTS / ROUSSOU (2003) and BIBERAUER / ROBERTS (2017). In the latter approach, feature economy essentially works with the “amount” of features, i.e. less features are preferable and they are abandoned if compatible with the input. This concerns mostly the formal features, especially the edge feature that drives movement. With this, the “Late Merge” resp. the “Merge-over-Move principle” is re-captured within the Minimalist approach. “Feature economy” in VAN GELDEREN’S formulation comes with the premise that uninterpretable features are more economic than interpretable ones. The basic idea is that an uninterpretable feature drives the syntactic derivation by attracting lexical items with a value for the respective feature. Since merge and re-merge are cost-free, this is more economical than positing an interpretable feature in the first place. The proposal is illustrated below (reproduced from VAN GELDEREN 2011: 17):

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(1)

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Principle of Feature Economy Minimize the semantic/interpretable features in the derivation: Adjunct Specifier Head Affix semantic > [iF] > [uF] > --

The crucial point in VAN GELDEREN’S approach is that – given that economy drives language change so far that eventually the zero-state is reached – new items from the lexicon have to be recruited to “start again” with the adjunct/semantic feature state. This is VAN GELDEREN’S understanding of the cyclical nature of language change. There is no doubt that the notion of cyclical change adequately describes the situation in many areas of the grammar: the classical negative cycle of JESPERSEN (1917), the comparative cycle, see JÄGER (2010), and what is called the DP-cycle in VAN GELDEREN (2011), i.e. the often observed development from demonstrative pronouns to (definite) articles. But what must necessarily come in in addition if cycles are seen under an economy perspective, is the kind of “laziness” in VON DER GABELENTZ’S sense, since otherwise, the optimal state would then be a head with an uninterpretable feature (driving the derivation). As such, again, the theory makes the prediction that the development stops – contrary to fact. Secondly, and this is what we will focus on in the next section, language change may lead to results (states) where it is either not decidable whether the new state is more economical or not or where it leads to further differentiations (diversification) – which contradict the economy idea at least in terms of structural economy. If it were true that language change is either driven or at least affected by economy, these outcomes are not expected.

3

CASE STUDIES

In this section, we will provide empirical evidence for our skeptical view on the role of economy in language change. We will start with a brief description of standardization in German, as it is relevant to our discussion in several ways. We already noted in the introduction that economy involves the assumption that language change should stop once the most economic stage is reached – a situation standard languages seem to achieve to a certain extent, as they are rather stable and “reluctant” w.r.t. change, a point we will also discuss. The main goal of the standardization process in Germany was to create a transregional variety and by doing so reduce variation that is and was common across and within dialects. W.r.t. to the discussion of economy, the question arises whether the standard is thus more economical because it shows less variation – or if dialects are more economical as they often have means to be more explicit in

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terms of fine grained morpho-syntactic realizations of functional categories,6 see BRANDNER (2008) for early considerations. In a sense, dialect and standard thus correspond to the above mentioned difference of a one-to-one mapping vs. multifunctionality.

3.1

Standardization in German

Based on East Central German varieties, Standard German was formed by acknowledging existing rules as well as by postulating rules that did (and do) not reflect language usage and which can thus be said to be artificial to some extent. This means, that for any standard variety that is shaped by grammarians, we must investigate whether all postulated rules are in fact conform to UG and we must also raise the question of language acquisition and the impact of the introduction of this “new” standard variety on spoken language. Furthermore, when “creating” rules that are not due to UG, how is economy accounted for as Standard German is not the result of regular language change? Another relevant point is unidirectionality: does the standard automatically lead to a reduction of variation whereas dialectal variation remains a “substandard-phenomenon” that does not influence the standard variety? In order to get a better understanding of this process and its consequences, we will roughly sketch some developments of standardization in German in the following section before we continue with focusing on three case studies in order to empirically approach our initial question, namely the adequacy of economy-based approaches to analyze language change. Efforts towards a standard variety began in the 15th and 16th century (ELSPASS 2005). POLENZ (2000) notes that some efforts towards a “transregional compensation” can already be observed in the 14th and 15th century. The main developments, however, took place in the 17th and 18th century. By “developments” we mean a considerable amount of output regarding rules of grammar (but by no means consensus as will become evident below) that had and have an enduring impact on our language (POLENZ 1994). In the different stages of standardization the view on dialects vs. standard changed in the course of time. In the early stages, i.e. in the 16th century, dialects were not regarded as inferior in any way and the focus in standardization was on mutual intelligibility (JELLINEK 1913). Having some sort of transregional standard was regarded as a practical and necessary means to facilitate communication. This is nicely formulated in the introduction to the so called “Schryfftspigel” (1527):

6

This is an issue that came up about twenty years ago when research on e.g. Dutch dialects revealed that dialects or spoken varieties typically show what was dubbed as doubling, e.g. doubly filled comp-phenomena, doubling of pronouns, negative concord etc., see the contributions in BARBIERS et al. (2008).

Dialectal variation, standardization and models of language change

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Eyn schriuer wilcher land art der in duytzscher nacioin geboren is sal sich zo vur vyß flyssigen dat he ouch ander duitsch dan als men in synk land synget schriuen lesen und vurnemen moeg. […] vnd wan als dan eynn ytlicher wulde ader sülde syngen als ym der snauel gewassen were so bedoerfft men wail tussen eynem Beyeren und Sasse neyn tolmetsch. (A writer should be able to speak and write varieties of German that are not his own. […] and if no one would think about their way of putting things you would need an interpreter for Bavarians and Saxons.)

In the 18th century this rather tolerant view was no longer shared by all grammarians, who were involved in the standardization process. We are not able to give a thorough description of the different people and their impact in this process here but see POLENZ (2013) for a detailed overview. For the purpose of this paper, we will only introduce two grammarians whose positions reflect the differing views on Standard German in the 17th century, namely GUEINZ and SCHOTTELIUS. CHRISTIAN GUEINZ (1592–1650) pursued a rather descriptive approach and – as well as other influential people who shaped Standard German – was part of the “Fruchtbringende Gesellschaft”, which was the most influential linguistic society of the time (POLENZ 2013). GUEINZ demanded that usage should be the guide regarding the rules of (standard) German grammar. However, this view was not shared by everyone as POLENZ (2013) and ELSPASS (2005: 4) note. JUSTUS GEORG SCHOTTELIUS (1612–1676) was one of the most important linguists in the 17th century. He criticized GUEINZ’S descriptive approach as to him the standard is in fact an “ideal” and thus a language that must be “learned with effort” as opposed to our mother tongue that we acquire without any effort. The artificial nature of the standard variety was thus recognized by those who took part in shaping it and they were well aware of the fact that the standard was an L2 that had to be learned (cf. POLENZ 1994: 153–154). At the time when these discussions took place and different grammar books were published, only a very small group of people was in fact reached by the efforts and ideas of the grammarians of the time.7 So despite the output of the “Fruchtbringende Gesellschaft”, Standard German remained an L2 because education was not compulsory in the 18th and 19th century. As a result, the standard variety remained a written language. Standard German was learned as a secondary language and was in fact “a language without native speakers” (WEISS 2004: 649). With education becoming compulsory at the beginning of the 20th century, this situation changed. All children had to learn – or were at least exposed to – Standard German and were faced with normative rules that differed from their mother tongue. Due to the “artificial” nature of some of these rules, WEISS (2004: 649) notes, “Standard German has syntactic properties which did not result from natural language development alone, but were due to extra linguistic forces (like pre7

It must be noted though that this does not mean that the majority of people was illiterate. By the end of the 19th century most people – including those with working class background as well as smaller farmers – were literate (ELSPASS 2005a). However, since education generally ended after elementary school, this does not mean that these people had also acquired Standard German and used it in everyday life.

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Ellen Brandner / Alexandra Rehn

scriptivism).” Two facts are of importance to our discussion here, namely that the standard had to be learned as an L2 and that it may have properties that result from extra linguistic factors rather than UG. This observation raises the following questions: 1st When and why are such extra linguistic forces successful? 2nd When and why do such extra linguistic forces fail? 3rd What does that tell us about language change and economy? In order to answer the above questions and to identify the properties a “good” model for language change should have, we will discuss some case studies that will help to shed light on the questions above. We will discuss (i) phenomena that have not entered the standard (ii) phenomena that remain in the standard but have disappeared from the dialect and (iii) phenomena in which standard and dialect differ in terms of variation. It is important to make clear at this point, what exactly we are talking about, when we speak of Standard German. In a narrow definition, Standard German is equivalent to the written standard and in compliance with the rules of normative grammar. There is also a wider definition as Standard German is also a spoken language nowadays and as such a variety that is acquired as an L1 and shows (regional) variation to some extent (cf. SPIEKERMANN 2005). For the discussion in this paper we focus on normative rules and their “success” w.r.t. spoken language. We will thus always make clear which type of standard we are talking about in the following sections.

3.2

Standard German vs. Dialects / dialectal variation

In this section, we will discuss three case studies that focus on Standard German and changes that are due to normative pressure and either lead to a change in both standard and non-standard varieties or that lead to a difference between standard and non-standard. Some of our data are based on the literature whereas others are based on our own empirical work. We will discuss two cases: 1st Change sped up by normative pressure 2nd Change slowed down by normative pressure The above set of phenomena is tightly connected to the question as to whether the standard may have properties “not entirely due to UG” as quoted above from WEISS (2004). Question 1) implies that language change may never be prevented or fully induced by normative rules, but that any standard rule can only speed up or slow down natural language change. Similarly, phenomena that fall under 2) are constructions that we find in dialects and colloquial speech but which are excluded by normative grammar from the standard. Nevertheless, such phenomena sometimes “enter” the standard and do appear in normative grammars at some point as will be shown below. Prescriptivism is thus not able to prevent certain dialectal constructions and again seems to be limited by natural language change,

Dialectal variation, standardization and models of language change

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hence UG. Nevertheless, there are cases in which dialect and standard differ and which must also be explained.

3.2.1

Change induced by normative grammar (?)

Let us start with a phenomenon in which we can identify a difference between dialects and Standard German and for which this difference can be attributed to prescriptivism. This is the case for adjectival inflection. In Standard German attributive adjectives always inflect and the distribution of the two adjectival paradigms – termed traditionally “strong” and “weak” – depends on the inflection of the preceding article. This is illustrated in Table 1: Strong Inflection

Weak inflection

ein-Ø klein-er Hund a small-NOM.MASC.SG. dog Ø gut-er Wein ist teuer Ø good-NOM.MASC.SG. wine is expensive

d-er klein-e Hund the-NOM.MASC.SG. small-wk dog mit ein-em klein-en Hund with a-DAT.MASC.SG. small-wk dog

Table 1: Morpho-syntactic distribution of strong and weak inflection

In Alemannic as well as other dialects, the two paradigms follow the same distribution as in Standard German – but in addition, attributive adjectives can also occur uninflected regardless of the inflectional properties of the article as shown in (2): (2)

a. b.

an guat-(r) Wii a good-(NOM.SG.MASC.) wine dr guat-(e) Wii the.NOM.SG.MASC good-wk wine

Uninflected adjectives are known from the history of German: they are attested in Middle High German and in Early New High German (cf. DEMSKE 2001; PAUL 1989; SOLMS / WEGERA 1991). (3a) and (3b) are Early New High German examples taken from the “Bonner Frühneuhochdeutschkorpus”8, (3c) and (3d) are Middle High German examples quoted from the “Song of the Nibelungs”. (3)

a. b. c.

8

ain kurcz-Ø stund a short hour der mänlich-Ø ritter the manly knight der laidig-Ø tewfel the mean devil

Source: ; last accessed: 1/22/2020.

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Ellen Brandner / Alexandra Rehn

d.

Ez wuohs in Burgonden ein-Ø vil edel-Ø magedîn It grew up in Burgundy a very noble-Ø woman

The question thus is whether the Alemannic situation reflects an earlier stage of German in which uninflected adjectives were possible or whether normative rules were the driving force leading to the difference between the varieties. If the latter is the case, we can use adjectival inflection to identify why and when prescriptive rules may be successful and when and why they are not. Furthermore, the data are relevant to our discussion of economy as adjectival inflection seems to represent a classic case of loss in a grammaticalization process, i.e. the final state of an affix without any features in VAN GELDEREN’S approach.

3.2.2

Adjectival inflection in Alemannic

In a large empirical study across the Alemannic area, which was part of the “SynAlm” project (Syntax of Alemannic)9, we investigated possible morphosyntactic and regional factors that might influence the distribution of uninflected adjectives. Regarding the morpho-syntactic factors that might govern the realization of uninflected adjectives, we tested number, gender, case and definiteness. The study was part of a larger project and the results are discussed in detail in REHN (2019), we only summarize the main points here. The variables listed above were chosen as they are identified as the governing forces w.r.t. the realization of uninflected adjectives in Middle High German and Early New High German as well as in some dialect studies (cf. MAUSSER 1933; MOTTAUSCH 2003; SOLMS / WEGERA 1991; STAEDELE 1927). In order to test the effect on the (non)realization of uninflected adjectives participants rated sentences on a scale from 1 (natural) to 5 (not possible). The results of our study clearly show that neither of these factors influence the possibility of uninflected adjectives. Uninflected adjectives are possible in all contexts tested. There are differences in the judgements as they range from 30% to 60% acceptance (= a rating with 1 or 2). However, rejection can only be observed in the absence of an article as acceptance goes down to 5%, a point to which we will return below. The acceptance rates for all singular sentences with uninflected adjectives are given in Table 2. Uninflected adjectives in Alemannic Judgement 1 2 3 4 Overall judgments for uninflected adjectives (singular) n= 10,598 26.89 22.16 17.31 13.41

5

x10

13.5

6.73

Table 2: Results for uninflected attributive adjectives in Alemannic 9

“SynAlm” was a DFG-funded project led by ELLEN BRANDNER from 2013–2016. ; last accessed: 01/22/20. 10 Under “x” the percentage of answers are given that cannot be utilized for various reasons (e.g. unclear marking of the judgement or no marking).

Dialectal variation, standardization and models of language change

43

In addition, we offered sentences with inflected adjectives for the very same variables and they showed – as expected – very high acceptance rates, too. This means that the realization of adjectival inflection in Alemannic (as well as other varieties of German) is optional whereas in Standard German adjectival inflection is obligatory. The questions arising at this point are: (i) why is adjectival inflection obligatory in the standard and (ii) does this imply that the syntax of Alemannic differs substantially from the syntax of Standard German in this case? Specifically: since the development involves the loss of an affix, can we capture it with the notions of economy that were discussed above? In order to answer these questions we will briefly look at the history of uninflected adjectives with special focus on standardization. Uninflected adjectives can be observed from Middle High German onwards (KLEIN 2007). In MHG and EarlNHG – unlike current Alemannic – their occurrence was restricted by number, gender and case, as mentioned above. Uninflected adjectives were already less restricted at the beginning of the 20th century as is evident from the detailed investigation in STAEDELE (1927). Considering the fact that in “Modern” Alemannic uninflected adjectives do not show any restriction w.r.t. to morpho-syntactic factors, their distribution is wider than it used to be and has thus expanded. In other words, the development is progressing and it is clearly not the case that uninflected adjectives are a remnant of an earlier stage of German. In addition, uninflected adjectives in dialects are not a peculiarity of Alemannic but can be found in other southern as well as northern varieties of German (ROWLEY 1991; SCHIRMUNSKI 1962). This makes their absence in the standard variety even more interesting and points to the conclusion that the variety that needs to be explained is Standard German with its obligatory inflection. As a reviewer notes, it may be objected that there are quite some regional differences regarding the production of uninflected adjectives as data from the Wenker-Atlas show. To be more precise, they are rather rare in the Middle German varieties, whereas in Upper and Low German dialects they are quite frequent and in some parts dominant. However, this observation does not contradict the main point of this section. Most Middle German varieties have undergone a slightly different diachronic development compared to Alemannic (as well as other Upper and Low German varieties), which is also noted in KLEIN (2007), who shows that there are considerable differences regarding adjectival inflection when comparing Middle and Upper German. His data show that in the Middle German varieties the re-distribution of adjectival inflection happens later compared to Upper German (Low German is not part of the discussion). This means that the diachronic development may be different or for independent reasons “delayed”. A thorough analysis of these facts is beyond the scope of the paper but the important point is that the absence of uninflected adjectives in Standard German and Middle German varieties in the Wenker-data does not necessarily mean that they are entirely absent and that Middle German varieties must receive an independent analysis. First of all, there is no similar detailed analysis for the Middle German varieties compared to Upper German ones. Based on the Wenker-data alone it is not

44

Ellen Brandner / Alexandra Rehn

clear whether uninflected adjectives are indeed not part of the grammar of these dialects or if their absence may be due to the mentioned “delay”. In the questionnaires of the “SynAlm” project, we used translation tasks as well as different types of judgement tasks for various phenomena, which revealed that in some cases the choice of method can also have an impact. In other words, whether Middle German varieties have obligatory inflection as the result of natural language change, as suggested by the reviewer, is in the end an empirical question which cannot be solved right now. But even if this would turn out to be the case, this would not contradict the point of this section. In order to understand the Standard German situation better, let us have a look at normative grammars of the 17th and 18th century. Considering the fact that uninflected adjectives are in free variation with their inflected counterparts it is of course difficult to identify a rule that regulates the distribution and since variation was greatly reduced during standardization (POLENZ 2013), it is likely that uninflected adjectives were stigmatized by grammarians. Normative grammars of the 17th and 18th century acknowledge the existence of uninflected adjectives (e.g. RITTER 1616 or PÖLMANN 1671 as noted in JELLINEK 1914) and there were also attempts to formulate rules regarding their distribution. JELLINEK (1914) provides a very good overview of this process. He mentions that rules were postulated that restrict uninflected adjectives to indefinite contexts or to preceding neuter nouns whereas phonological restrictions can also be found as PÖLMANN (1671) recommends them to avoid the clash of two unstressed syllables. However, in some works they were completely rejected. Since there is no clear distribution of uninflected adjectives, the confusion is not surprising. The bulk of the standardization process is often said to be completed with the work of ADELUNG11 (1732–1806), so it is interesting to see his opinion on uninflected adjectives. ADELUNG (1828) does indeed mention them and notes that they are still used in Upper German but he considers them wrong. Interestingly, he finds them acceptable in coordinated constructions as in (4) quoted from ADELUNG (1828: 223). (4)

ein roth und weisses Gesicht a red-Ø and white-NOM.MASC.SG. face

ADELUNG was thus well aware of uninflected attributive adjectives in spoken language but nevertheless rejects them as inappropriate in Standard German. This means, that despite the knowledge of the productive use of uninflected adjectives, they were excluded from normative grammar and they were excluded with success – it was successful as speakers of Standard German follow the prescriptive rule when it comes to obligatory adjectival inflection whereas dialect speakers of upper and Low German varieties do not. This aspect is of particular importance to our discussion, as adjectival inflection seems to present a classical case of “loss of inflection” as part of a weakening 11 ADELUNG was well known for his linguistic work in the 18th century schools.

45

Dialectal variation, standardization and models of language change

effect, cf. the idea of “laziness” in VON DER GABELENTZ (1901). However, prescriptive rules seem to have successfully restored inflection on adjectives in the standard variety. The question is (i) how is this possible and (ii) what does it tell us about loss and economy? Let us consider (i) first. The answer to (i) is twofold: on the one hand the two exponents in the adjectival paradigms are “resistant” to complete loss as they are multifunctional: the relevant endings appear in different functions in different positions of the DP-structure. The strong adjectival paradigm can also be found as inflectional ending on various pronouns and in isolation it functions as the personal pronoun (WILTSCHKO 1998). The weak paradigm has its origin in the n-declension and used to be productive in word-formation. In Modern German, it appears as nominal inflection on weak masculine nouns and it seems to replace the strong ending marking genitive. Furthermore, it is noted in WESSÉN (1914) and LOS (2005) that the infinitival -en ending in German may also be of the same origin. The pronominal paradigm Adjectives Article adj dadj dadj d-

The weak paradigm Pronoun ein-/meinein-/meinein-/mein-

er es (si)e

adj infinitive weak masc. nouns

en en en

Table 3: Strong and weak inflection

The above observation explains why these exponents cannot undergo loss and must remain available in the lexicon. Interestingly, there is one case in which adjectival inflection is obligatory even in the dialect, namely in the absence of an article as illustrated in (5): (5)

a. b. c.

dr guat-(e) Wii a guat-(r) Wii guat-*(r) Wii ‘the/a/Ø good wine’

This observation seems to correspond to VON DER GABELENTZ’s observation of “laziness” leading to loss but never to the “destruction” of a language. The general view on the regulations of German adjectival inflection as illustrated in Table 1 above seems to be confirmed by the data in (5). There must be one element within the DP realizing phi-features and case. It might therefore be argued that cases like (5c) prevent loss of adjectival inflection. However, this is not the case as will become evident upon closer investigation. As already noted, the inflectional properties of the article are irrelevant to adjectival inflection as the inflectional ending can be dropped even when the article is uninflected, cf. (2) above. Nevertheless, in the absence of an article, adjectival inflection is obligatory – a discrepancy that must be explained. The relevant ques-

46

Ellen Brandner / Alexandra Rehn

tion is: which features must always be marked overtly in the German DP? Setting aside case for the moment and focusing on phi-features it is evident that – regardless of the inflection of the article – one feature is always marked, namely number. Number is always marked when an article is merged as the definite article always inflects and the indefinite article is inherently singular. In plural DPs number is marked on the definite article or on the noun: (6)

die Tische the.PL table-s

Tische table-s

In the absence of an article, the obligatory marking of number seems to be realized via adjectival inflection. This is unlikely though. Adjectives as nominal modifiers are not obligatory within the DP and furthermore inflection is optional in all other contexts. Since the ending obviously realizes number, it must happen in the same position in which it is generally realized and visible to the syntax, hence the DP-layer. The adjective thus moves to the DP for convergence at PF as the pronominal ending cannot function as a free morpheme when an NP is present as WILTSCHKO (1998) convincingly argues. Since the pronominal paradigm on adjectives and the inflectional ending on the definite (and indefinite) article are one and the same element, it looks like we have obligatory adjectival inflection but in fact we have movement of the adjective to a position in which the suffix realizes the obligatory number marking. This is illustrated in Figure 1 and Figure 2 reproduced from REHN (2019: 192–195). One question that remains open at this point is: why must number always be marked. We will not discuss this issue in detail here but see REHN (2019) for elaborating on this point. The main argument for obligatory number marking is based on the assumption that all nouns enter the derivation as mass and that a count reading is achieved by projecting a ClP, following BORER (2005). This ClP is headed by an element that is marked for number, which is either number morphology on the noun or an article. ClP is absent when a mass reading is intended. However, when an adjective is merged, number is realized in the inflectional ending even with mass nouns. REHN (2019) argues that this is due to the fact that adjectives (to be precise: most adjective classes but not all) entail the projection of ClP as they entail a bounded mass reading. In (7) examples for count, mass and bounded mass are given. The examples in (8) show that a mass reading of nouns that are normally used as count nouns, is blocked in the presence of an adjective. (7)

a. b. c.

Wine is expensive Wines from Chile are expensive Good wine is expensive

(8)

a. b. c. d.

There is too much table in this room. ?? There is too much small/big table in this room. There is dog on the floor. There is cute dog on the floor.

(mass) (count) (bounded mass)

Dialectal variation, standardization and models of language change

47

In the structures in Figure 1 and Figure 2 below the label is DivP instead of ClP to indicate that the adjective only entails a bounded mass reading that makes a count reading potentially available, if e.g. an article is realized in the D-layer that is marked for singular or plural. Number marking is realized in AgrP below the DPlayer as there is independent evidence that the inflectional element that combines with d- forming the definite article must be located in its own functional projection (cf. WILTSCHKO 1998). We will briefly return to this issue in Section 4.

Figure 1: Modified DP with an article

Figure 2: Modified DP without an article

Returning to our initial question on economy, the case of adjectival inflection seems to present a phenomenon that falls under VON DER GABELENTZ’S observation of loss never leading to “destruction”, as the marking of the relevant features is accounted for. The phenomenon is thus also connected to the idea of the articles compensating for the loss of nominal inflection (cf. OUBOUZAR 1992), a point to which we will also return in Section 4. In terms of economy, “loss” of adjectival inflection of the type discussed here (and similarly loss of nominal inflection) should not be equated with loss of the relevant grammatical features. The reason is that we are not dealing with loss as such but rather with “re-arrangement” as the affixes and thus the relevant features are realized merely on a different lexical item. The actual position in which they are interpreted remains constant. Consider Figure 1 and Figure 2 above which illustrate a DP with and a DP without an overt article. Phi-features are nevertheless marked in Agr in both cases. Figure 2 used to be the default structure of a modified DP because i) adjectival inflection was obligatory before the article system was in place and ii) strong inflection was the default because weak inflection used to depend on the presence of a definite determiner. Furthermore, weak inflection is a novelty of Germanic and in pre-Germanic times only strong inflection

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Ellen Brandner / Alexandra Rehn

existed (BAMMESBERGER 1990; RATKUS 2011).12 This means that at first sight, Alemannic with its uninflected adjectives in the presence of articles fits the picture of an economic stage involving loss much better than the standard with its obligatory inflection. However, recall that Alemannic speakers are also perfectly fine with inflected adjectives. The strict economy approach would predict that in the dialect, inflected adjectives should not be possible, as they contradict economy in a rather drastic way. We thus have a case of ongoing variation – and although the data suggest that uninflected adjectives are nowadays possible in a wider range of structural environments as in former times, an explanation in terms of “a last stage in a process” of grammaticalization, seen as driven by economy, seems unlikely. Our next case study is adnominal genitive. Adnominal genitive seems to provide us with a case of loss of inflection that again directly corresponds to the unidirectional “developments” that are generally assumed within grammaticalization. Furthermore, we also have a clear difference between normative grammar, hence written standard German and colloquial and non-standard varieties. Unlike adjectival inflection, in which prescriptivism was successful in restoring the endings, with adnominal genitive it is the other way round. The dialectal variants are successful and normative pressure is not able to prevent the substitution of adnominal genitive.

3.2.3

The loss of adnominal genitive

Adnominal genitive is still productive in Standard German and is used in various contexts. The core function of adnominal genitive is to connect two DPs (PITTNER 2014; WEINRICH 2005) that are in some sort of dependency relation (KIEFER 1910). Adnominal genitive occurs in possessive constructions as in (9), in partitives as in (10) and in Pseudo-partitive constructions as in (11). Adnominal genitive with Pseudo-partitives is no longer fully productive in Standard German though as the presence of an adjective is required; for a more detailed description of the various contexts and substitution strategies see HENTSCHEL (1993). In Pseudo-partitives Standard German behaves like the dialects, as there is either no case marking as in (11b) or – in the presence of an adjective – the second NP often bears the same case as the first NP as in (11d) in which case marking is overt on the adjective (cf. also GALLMANN 2018). (9)

Possessives: Die Tasche des Kindes The bag the child ‘The child’s bag’

12 DPs with neither adjective or article are no exception as in these cases the noun itself moves to the highest position.

Dialectal variation, standardization and models of language change

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(10) Partitives: a. Ein Teil dieses Buches part this-GEN book ‘a part of the book’ b.

20% der Studenten 20% the-GEN students ‘20% of the students’

(11) Pseudo-partitives a. ein wenig Öls a bit oil-GEN (from DIEPOLDT 1792: 203) b. c. d.

ein wenig a bit Ein Glas a glass Ein Glas a glass

Öl oil kühlen Bieres cold-wk beer-GEN kühles Bier cold-NOM beer

In colloquial German as well as in the dialects, genitive is no longer productive but in order to express the relations in (9) to (11) above, various substitution strategies are used, illustrated in (12) to (16). It is evident that the PP-strategy is the most common substitution strategy as it is possible with Possessive constructions as well as partitives. The possessive dative construction is only possible with animate possessors and thus provides a more fine grained distinction compared to adnominal genitive, see KASPER (2014) for a detailed analysis. Similarly, Pseudopartitives are also distinguished as they are realized by juxtaposing two NPs unlike partitives in which genitive or a preposition is required. (12) a. b. c.

(13) a. b.

Die Tasche des Kind-es the bag the.GEN child-GEN Die Tasche von dem Kind the bag of the.DAT child Dem Kind seine Tasche the.DAT child his bag all: ‘The child’s bag’

(adnominal genitive)

Ein Teil des Buches a part the.GEN book.GEN Ein Teil von dem Buch a part of the.DAT book all: ‘A part of the book’

(adnominal genitive)

(PP) (possessive dative)

(PP)

50

Ellen Brandner / Alexandra Rehn

(14) a. b.

(15) a. b.

(16) a. b.

20% der Studenten 20% the.GEN students 20% von den Studenten 20% of the.DAT students all: ‘20% of the students’

(adnominal genitive)

ein wenig Öls a bit oil-GEN a weng (a) Ö a bit (a) oil

(adnominal genitive)

ein a ein a

Glas glass Glas glass

(PP)

(Juxtaposition)

Bier beer kaltes Bier cold-NOM beer

(Juxtaposition)

Loss of adnominal genitive has progressed much further in spoken than in written language. In colloquial German as well as in the dialects genitive is no longer productive. This points to the conclusion that in this case the standard variety in fact slows down genitive substitution due to normative pressure. However, since genitive substitution is clearly spreading and has even reached the standard in pseudo-partitive constructions, it is probably only a matter of time until genitive substitution will reach normative grammar, too. This difference between written and spoken language in genitive substitution has already been observed in the early work on this topic by KIEFER (1910). The successful substitution of adnominal genitive is an interesting case regarding our initial questions on change as we can clearly see that the attempt of “reducing variation” fails as one strategy is substituted by multiple ones. However, these various strategies are not freely interchangeable and thus provide a means to distinguish the various constructions in which the genitive was formerly used – a case that corresponds to what VON DER GABELENTZ called “Deutlichkeitstrieb”. It thus provides us with a well suited example for discussing economy in connection with language change.

3.2.4

Genitive loss and economy

Considering the above described substitution of adnominal genitive in light of purely economy-based approaches, the scenario would be that the loss of genitive inflection leads to the emergence of various compensation strategies. However, what we have seen is that the various types of constructions have a more narrowed down range of application. Instead of mere compensation we therefore have diversification, i.e. a development that comes closer to the “one form – one meaning” situation. It is of course different from other cases (like the definite article,

51

Dialectal variation, standardization and models of language change

see below for further discussion) as the change does not happen within one functional sequence of a phrase – instead the rather uniform case marking strategy for additional nominal expressions within the DP has been replaced by a variety of constructions. But again, with a notion of economy that is directly built in into the grammar, these “more complex” structures are simply not expected. And thus, this strict notion of economy falls short to capture cases like that of adnominal genitive. Clearly, it depends on whether one claims that economy is the only factor relevant in language change or whether it is operative only in certain realms (grammaticalization). If the latter is the case we are faced with the question why certain areas of the syntax seem to obey economy whereas others do not. In other words: if it is indeed the case that economy only applies in certain areas we are faced with the problem that we need various models of language change which can then be applied to different change phenomena. This may indeed be necessary but would certainly lack explanatory power. A more elegant and also more convincing solution would be to find a model of language change that is able to capture the various types of change/restoration as exemplified here with adjectival inflection and adnominal genitive. We will also return to this in Section 4. In the following section we will briefly present our last case study which concerns feature marking in the German DP, particularly indefinite DPs.

3.2.5

Feature Marking in indefinite DPs

The indefinite article provides another interesting case study, as there are clear differences between standard and non-standard varieties as well as Modern German, Early New High German, and Middle High German. The paradigm of the indefinite article has always been “defective” (BITTNER 2006) whereas its pronominal counterpart is not as illustrated in Table 4. Defective means that the expected inflectional ending in Nom/Acc Masc/Neut is missing on the article but present on its pronominal counterpart: Indefinite Article Nom Acc Dat Gen

Masc ein-Ø ein-en ein-em ein-es

Fem ein-e ein-e ein-er ein-er

Indefinite Pronoun Neut ein-Ø ein-Ø ein-em ein-es

Masc ein-er ein-en ein-em ein-es

Fem ein-e ein-e ein-er ein-er

Neut ein-es ein-es ein-em ein-es

Table 4: The paradigm of the indefinite article

Interestingly, up to Early New High German, there were even fewer morphological distinctions in the paradigm of the indefinite article. Similarly, the paradigms of German dialects show more syncretisms than the standard as well as the para-

52

Ellen Brandner / Alexandra Rehn

digms of the so called short forms in colloquial speech (MAUSSER 1933; SOLMS / WEGERA 1991; VOGEL 2006). There is thus a rather big discrepancy between the non-standard varieties and the standard. This raises the question as to which features must be marked overtly in the German DP. Since even the Standard German paradigm is “defective” as noted above, the fact that we find more morphological distinctions compared to other varieties we may attribute this to prescriptivism. However, since these distinctions do not have to be made in spoken language, it is unlikely that they are required by the syntax, hence the paradigm of the indefinite article presents another case in which loss of inflection seems to be prevented (or slowed down) by normative grammar to a certain extent. Masc

Neut

Fem

Nom

ein (14th century also einer)

ein ‘eine’

Acc

ein ‘einen’

Dat

einem/eim/eime (also einen, 15th– 17th century also ein) eines, eins

ein (high Alemannic 16th century also eins) ein (high Alemannic 16th also: eins) einem/eim/eime (also: einen 15th–17th century also ein) eines, eins

einer/einre/einr

Gen

ein ‘eine’ einer/einre/einr

Table 5: Early New High German paradigm based on WALCH / HÄCKEL (1988)

Masc

Neut

Fem

Nom

n ein nen

n ein nen

ne

Acc

n ein nen nem

n ein nen nem

ne

Dat

ner

Table 6: Colloquial German paradigm based on VOGEL (2006)

Nom Acc Dat

Masc

Neut

Fem

ə(n) ə(n) əm(ə) əmənə

ə(n) ə əm(ə) əmənə

ə ə ra əra

Table 7: Swabian paradigm based on BARUFKE / SPANNBAUER-POLLMANN (1989)

Dialectal variation, standardization and models of language change

53

Nevertheless, the language learner successfully acquires the different paradigms despite the ambiguity of the input. The frequent drop of the Acc/Masc-inflection even in written Standard German shows that – just like in the case of genitive substitution – normative pressure slows down a change that may eventually reach most or even all German varieties. The drop of the accusative ending is still stigmatized by normative grammar but it happens frequently enough to have gained the attention of linguists as well as language purists like SICK (2009). The most interesting aspect of this change is the syncretism pattern that is the result of this change, because it resembles the paradigms of Middle/Early New High German and the non-standard patterns mentioned above. This means that the genitive form will disappear completely and so will the morphological distinction of nominative and accusative. Only feminine gender will be marked consistently just like in the paradigm of colloquial German as shown in Table 6 above. If BITTNER (2006: 365–366) is on the right track, the marking of feminine can be explained diachronically. BITTNER argues that the inflectional ending appearing on the indefinite article from Middle High German onwards allows a count-reading of abstract nouns which were typically feminine. So in addition to the inherent singular marking of the indefinite article, the inflection is a “count”-marker. This is no longer obvious in current varieties of German and – as expected – this marking is not found in many dialectal paradigms including the Swabian one in Table 7. This means that in the dialects only one phi-feature is consistently marked, which is number. In colloquial German, feminine is marked whereas masculine and neuter are no longer distinguished and number is also the feature that is marked consistently throughout the paradigm. So far, we did not include case in our discussion as case does not belong to the phi-features. However, since in German number and case are marked in one element, we can of course not ignore it. The paradigms above show, that nominative and accusative are – just like gender – not consistently marked but that dative requires overt marking (cf. BAYER / BADER / MENG 2001 for extensive discussion of this point). Looking at the above illustrated difference in the paradigms we are faced with the question which one might be the more economical one. The dialectal/colloquial paradigm seems to show loss of inflection and might thus be regarded as a clear case for “developing” towards a more economical version. However, at the same time several forms exist, some of which have their origin in the inflectional part (nen from einen) which is unexpected in the standard grammaticalization scenario. What we seem to get is more variation as a result of loss rather than less as several forms co-exist. So far we have looked at three case studies, all of which are – in our view – difficult to handle within a purely economy-based approach. This holds especially if the UG-internal notion of economy as formulated in Minimalism is applied rather strictly to the notion of the “linguistic cycle”, especially VAN GELDEREN (2011). Concerning the loss of adjectival inflection, it rather seems that the inflectional endings became simply “superfluous” in this special syntactic environment. These affixes (lexical items in a more abstract sense) stand for features that are

54

Ellen Brandner / Alexandra Rehn

nevertheless obligatory in other environments, and this might explain the fact that they do not get lost completely. With this in mind, one could indeed talk of “economy” – but not so much in the sense of “syntactic economy” which would force a new cycle to start. The element simply becomes optional due to a lack of any function in the modifier position. Unlike the case of adjectival inflection, the replacement of adnominal genitive seems to be a prime example of cyclicity at first sight: the affix with a rather general function is lost and its original function is now expressed by various types of analytical constructions, e.g. insertion of a preposition. But as was shown above, these new constructions allow a much finer grained morpho-syntactic realization of different semantic values. We will come back to this case below. The inflectional properties of the indefinite article, which was our last case study, is again a different story, because here, the inflectional paradigm that existed in former time is in fact restored. We may thus rather speak of restauration than change or loss. In sum, all the cases we have discussed point into the direction that (i) the trigger or starting point for change is not loss but must be sought somewhere else and (ii) the relevance of the notion of “cycle” should be reconsidered. This will be done in the next section.

4

AN ALTERNATIVE?

Being in the comfortable position of “looking backwards”, it is tempting to try to isolate the one decisive factor that is responsible for the cycle to start. In the economy view on language change, this starting point is the unavoidable weakening or loss of affixes. Therefore, the economy-approach necessarily leads to the “compensation view” on language change. This means, that due to whatever kind of ‘laziness’ affixes get lost, the semantic contribution they had delivered must be compensated for by new items. Under this perspective, language change in morpho-syntax is always conceived of as a “drag chain”. Note furthermore that such a view implies that at the moment when an affix is lost the compensating of its loss via recruiting new lexical material should take place in a catastrophic way, i.e. in sudden and abrupt way within a very short period of time, see the early work by LIGHTFOOT (1997). Otherwise, we must posit generations of speakers that are content with an intermediate stage, being faithful that some later generations will eventually reach the “optimal state” again. However, actual speakers and acquirers are surely not in the position of “looking forwards”. That such a view is inadequate should be obvious without further discussion. However, the very notion of cycle gives us the possibility to posit the “starting point” somewhere else – and this is what we would like to suggest to consider more seriously, namely the view that affixes get lost because they become “superfluous” in the sense that their semantic contribution is realized elsewhere in the syntactic surrounding. In this sense, the concept of “push chains” should be revived. This means that new (and semantically more diverse) constructions enter

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the language and make less well-suited (or adapted) constructions superfluous, leading to their subsequent loss. What is needed under such a view are answers to how and why alternative constructions (the “compensations” in the economy-view) should enter the cycle at all. Due to the lack of a good model how new constructions may develop seemingly “out of the blue” and subsequently push out older forms, the dominant view on language change is the one which emphasizes “loss”, be it due to “laziness”, “economy”, or “natural decay”. Recently however, a quite new framework is discussed which may give a solution for the “entering point” of new constructions. What we have in mind is the nano-syntactic approach, as it is advocated in STARKE (2009) and much subsequent work in this area, see especially the introduction in BAUNAZ et al. (2018). We will only sketch the main ingredients here and by doing so indicate in which way we think that it might be a promising approach to solve the above discussed problems with the conception of cyclical change. Nanosyntax takes the cartographic approach with its very fine grained functional structure as its basis, see CINQUE (1999). As in the cartographic approaches, the amount and the ordering of these projections is, in the end, an empirical question, but what is taken as a starting hypothesis is that higher functional categories entail lower ones ontologically and conceptually. Under this premise, the categories themselves are of a much more abstract nature and furthermore, they might be lexicalized by “parts of words”, i.e. the syntax may operate on the sub-morphemic level. WILTSCHKO (2014) presents similar considerations where a category neutral universal hierarchical structure is suggested that involves the basic conceptual categories “classification”, “aspect”, “anchoring” and finally “linking”. Thus, the (often criticized) credo in cartography, namely that every functional head that is found in some language is present in all other languages as well, is cast into more conceptual-ontological terms. These approaches are inspired by the already mentioned exo-skeletal approach of BORER (2005). To give a concrete example: the functional structure above a nominal always has a “division phrase” as the first (lowest) functional category. Its semanticosyntactic function is to create countable units. Classifier languages like Chinese have overt lexical material for this position, in languages like English number morphology reflects division, cf. the discussion on number marking in Section 3.2.2. A quantifier may then only operate on a functional structure with a projected “division” phrase and can never do so on a “bare nominal” in the semantic sense. It may very well be the case that some languages do not have an overt (distinctive) lexical expression for “division” – but in interpretational terms, it is present13 if a quantifier is in the higher structure. Thus, on the one hand, the just mentioned approaches are “stricter” in terms of the amount and ordering of the func13 In a language like English (or German), this can be detected only indirectly via the ungrammaticality of a numeral with a bare mass noun: * three wine. This expression can only be saved if there is plural marking, leading to sub-kind interpretation (‘three kinds of wine’) or by an overt measure phrase like three glasses of wine.

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tional positions universally present above the lexical units – on the other hand, they are more flexible in terms of morpho-syntactic realizations. This makes them in our view well-suited to capture the above raised issues concerning “loss” and “compensation”. Coming back directly to nanosyntax, one further ingredient that is available in this proposal is the idea of “phrasal spell-out”. This means that languages may realize larger parts of the functional structure with one lexical item – besides the option of using a different lexical item for each layer. The most important part is that besides these two options, if there is further material present in the structure for independent reasons, the relevant material may use this in a “parasitic way”. This is what happens in the case of adjectival inflection as discussed above. Recall that the adjective is merged in a position above DivP. This means that DivP is entailed (the presence of an adjective entails the interpretation of the nominal at least as ‘bounded mass’) and therefore, there is no need to realize the DivP with overt material. This is different with AgrP, located directly below DP, which realizes number, a feature that must be spelled out (cf. Figure 1 and Figure 2 above). In case a determiner is present, number morphology attaches to AgrP and appears on the determiner – if not, the adjective itself moves to this position as a host for the inflection. Thus, adjectival inflection is optional in the presence of a determiner but obligatory in its absence. Note that in the above analysis, it is not the adjectival inflection itself (in the traditional sense) that is lost; rather the relevant affix, representing number, preferably attaches to the structurally highest possible host. Thus, the flexibility that is directly built into the architecture in nanosyntax can be used to model the dialectal and diachronic variation in such a way that we can admit the variants to choose within a certain range which layer to lexicalize with a specific lexical item – due to the semantic entailment relation. There is another aspect of nanosyntax that we think can be brought together with the observations made in the grammaticalization literature in a fruitful way. Recall that grammaticalization theory assumes that the changes are unidirectional, i.e. inevitably lead from a full lexical item to a grammatical one and from there to a more grammatical one and finally to loss. Since the original lexical meaning is often lost in this process, the term “semantic bleaching” has been invoked. And as said, semantic bleaching is accompanied with loss of structure in terms of full phrases developing first into heads, then into clitics, followed by affix status, and finally loss. VAN GELDEREN has recast this process in terms of features that first develop from semantic features into interpretable ones. After that they develop into uninterpretable features followed by the last stage with no feature at all – the stage where the circle starts again. Recall from the discussion about adjectival inflection that variation between languages (and thus also the difference between certain stages in the diachronic development) is an effect of whether all the functional layers are spelled out separately by distinct lexical items or whether only a higher functional head is spelled out, entailing the lower ones. While in the case of lexical items (e.g. while), semantic bleaching may be an adequate metaphor, it is less so when we consider the process from “less grammatical” to “more gram-

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matical”, e.g. from demonstrative to definite article. Equating “more grammatical” with less semantic content, as it is often done in the grammaticalization literature, see SZCZEPANIAK (2011) and reproduced in VAN GELDEREN (2011) in formal terms, does not seem to be an adequate characterization. Assume instead that this type of grammaticalization is the process in which the lower functional layers receive an overt spellout. That would mean that grammaticalization is simply the more explicit encoding of (universally present) functional layers that did not have a uniform distinct lexicalization. TRAUGOTT / KÖNIG (1991) argue for a similar view, namely where grammaticalization is seen as a process where formerly non-expressed grammatical distinctions now have a lexical realization. However, the difference is that with the research in nanosyntax and the cartographic work done for a variety of languages in the last twenty years or so, the basis for the independently motivated functional sequence is on a much firmer base. We are now in the position to make a systematic “guess” what the next step in a grammaticalization process might be. Whether this turns out to be indeed feasible or not, note that under this perspective, the notion of “unidirectionality” could indeed be derived – but crucially not simply as part of grammaticalization theory as such, instead the direction of the developments would follow from the semantic entailments14, posited on conceptual grounds. Under this perspective, there would be clear predictions that are falsifiable. A prime example for what we have in mind is the development of the definite article in the Germanic languages. As is well known, it developed from a demonstrative and is now used in the semantic environments of familiarity, (situational) uniqueness, bridging contexts and in some dialects it even occurs with proper names – even though with the latter, its semantic contribution in terms of unequivocal identification of a referent seems somehow superfluous. Generally, this development is analyzed as the loss of the deictic force of the demonstrative and for this reason it can be used for referential marking without a deictic component (OUBOUZAR 1992). Under the perspective taken here, this “semantic bleaching” should rather be seen as the stepwise15 lexicalization of the lower functional layers. See REHN (2016) for a similar observation regarding the distribution of the definite article in 14 As a reviewer points out, the idea of semantic entailments being mapped directly to the hierarchical structure is not without problems, cf. the two different Topic-projections posited already in early work in cartography, see RIZZI (1997). We are aware of this problem and we agree with STARKE (2009) that the adequate ordering is an empirical problem which future research will hopefully solve. The research agenda of nanosyntax is in fact to find out about the empirically adequate sequences. Concerning the above mentioned Topic-positions in particular, note that we concentrate on morpho-syntactic phenomena in our discussion. Whether discourse-functional notions like focus and topic should be treated on the same level as e.g. quantification and reference in terms is in our view an open question – which does not only apply to the framework of nanosyntax. 15 It is an empirical question whether the predictions that the development indeed took place stepwise, i.e. whether the lowest functional layer indeed occurs as the last step of the development. We are not able to confirm this here, but it would constitute an interesting research question for future work.

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Irish English and Alemannic, showing that it can occupy different positions within the DP which are directly connected to the actual interpretive effect the definite article has in a certain context. As such, grammaticalization is a kind of “specialization” rather than bleaching. As this process requires distinguishable lexical material, an often observed accompanying process is what is conceived of as “phonological erosion”. Again, this could be seen under a different perspective: clearly, the input is the already existing lexical material that realizes the highest head, in our case the demonstrative. German dialects and colloquial German show clear distinctions in terms of prosody and of course also loss of phonological material of the original demonstrative pronoun. There are then clear distinctions between the strong and the weak variants of the definite determiner, see ZAMPARELLI (2000) for an analysis in semantic terms, see furthermore STUDLER (2011) for a detailed analysis of contemporary (spoken) Swiss German. On the other hand, the demonstrative itself has gained new material by the attachment of the particle se, eventually leading to the reanalysis from der to dieser, see KLINGENSCHMITT (1987). But note that this latter development did not take place in the dialects as there, the distinction between demonstrative and the various versions of the definite article is overt. Thus, there is no “loss” of a deictic feature – again the notion of “specialization” seems to capture the situation more adequately. These last considerations, namely the question about the lexicalization of the now realized layers brings us back to the loss of the genitive marking. Recall that this change – in the standard view again seen as beginning with the loss of the inflection – actually led to an enrichment of the morpho-syntactic means in the sense that we now come closer to a one-to-one mapping between semantics and morpho-syntax, i.e. the “Deutlichkeitstrieb” seems to have won. Seeing this as a cyclical change is thus quite problematic in our view. However, if we look at it under the perspective of nanosyntax as outlined above, it can be modelled quite easily: as said, genitive marking used to be the only way to express any type of relationship between two nominal expressions within one DP. As such, it is highly underdetermined and thus it may very well be the case that the genitive was not lost due to erosion, but that it has been replaced by more adequate means. Let us consider the substitution strategies in more detail. First, we want to look at partitives and pseudo-partitives. The well-known difference between them is that pseudo-partitives are typically construed with weak quantifiers, see MILSARK (1977) like enough or much etc. whereas partitives can use all types of quantifiers: (17) I had enough/much wine (18) A part of this wine is now spilled on the floor How would these two readings be represented in a nano-syntactic structure? The pseudo-partitive can be conceived as the above introduced ‘bounded mass’ reading. This means that these quantifiers denote a subpart of the whole “substance” rather than operating on individual units. As we saw above, in older stages the

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noun was marked with genitive and in contemporary German, due to the juxtaposed position, case marking of this noun is dependent on the larger syntactic context. Interestingly, in some varieties of German, in addition to the quantifier the preposition an may occur: (19) a. b.

Genug Enough ? wenig little

an at an at

Wein wine Wein wine

An indefinite article may occur with some of these quantifiers in the Southern German dialects Alemannic and Bavarian. This usage16 of the indefinite article is also found without a weak quantifier and thus it may precede mass nouns which are bare in other variants. (20) A weng a wasser a bit a water

(Alemannic)

(21) Hond ihr no a mehl im huus? Have you PART a flour in-the house This kind of variation in lexicalization of the “bounded mass” functional head is exactly what is expected in a nano-syntactic framework – and as such a good example for what we have dubbed above “as admitting a certain range of choice”. The interesting point is now to compare this with the (real) partitive reading. Given that both readings were expressed with the genitive, a mere “compensation view” would expect the an-preposition, however, the preposition in this case is unequivocally von and never an: (22) a. b.

Ein a Ein a

Glas von dem Wein glass of this.DAT wine Teil von dem Buch part of this.DAT book

16 In BRANDNER (2018), this is dubbed “situational partitivity”. The idea behind it is that the bare mass noun only refers to the undivided mass/substance whereas the one with the indefinite article refers to the relevant subpart in the actual situation. Note that in generic sentences as in (i), the indefinite article is impossible: i. (*a) Wasser kocht bei hundert Grad a water boils at hundred degrees The assumption is that in languages that do not use the indefinite article in the examples in (21), the situational partitivity must be derived via pragmatic means, in this case simply by an implicature, based on world knowledge.

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c. d.

* wenig von Wein little of wine * ein Teil an dem Buch a part at this.DAT book

Note that the partitive reading requires a referentially defined individual of which one part is singled out. This means, that the quantifier (or a relational noun like part of) is located higher in the structure, namely in a projection entailing at least DivP. We will assume, following HACHEM (2015), that above the DivP, there is a further functional layer, called Individual Phrase (turning a bounded mass into a countable unit, i.e. IndP). This projection then finally merges with a D-layer and the partitive reading results from the fact that it is the complement of another DP. The “linking element” between these two DPs is the preposition von. Consider the following structures for both partitive readings: DP

PP ein Teil

Div

P0

DP

von

genug

D0

Div‘

IndP

d-

Div0

Ind0

NP

an/ein//Ø

Figure 3: Pseudo-partitive17



DivP

1

Div0

NP

Figure 4: Partitive

Both types of relation were realized with genitive marking in earlier stages of German and their differing semantics had to be deduced by other means. Although the difference between the two partitives is additionally divided by the use of the definite determiner in the lower DP nowadays – but recall that such a wide spread use the definite determiner was not common in OHG for example (cf. OUBOUZAR 1992). Therefore, during this stage, one cannot take the occurrence of the definite article as a safe diagnostic for the partitive reading – instead of the 17 There is variation in the dialects w.r.t. whether an indefinite article can occur with certain quantifiers. Ein wenig is fine with it whereas genug does not seem not to tolerate an indefinite article. There does not seem to be a principled reason – we will leave this issue for future research.

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pseudo-partitive. In sum, genitive substitution presents a more transparent syntaxsemantics mapping, realized by different prepositions, the null variant or the indefinite article in pseudo-partitives. In this last section, we want to focus on possessive constructions and their substitutions. The substitution strategies we want to discuss are the possessive dative and the PP-strategy. The PP strategy with inanimate possessors constitutes a part-whole relation and involves the preposition von, hence the very same preposition as in the partitive construction: (23) a. b.

Der Henkel von der Tasche The handle of the bag % der Tasche ihr Henkel the.DAT bag her handle

These possessive constructions would receive the same structural analysis as the partitive ones. What we merely have to assume is that the noun referring to a part (in this case Henkel) is type-shifted to a relational noun. This semantic operation has been argued for in detail in BARKER (2011) and we will take it for granted here without further discussion. On the other hand, if we turn to possession with an animate possessor, the relation can be conceived of as a part-whole relation only in a very abstract sense. Nevertheless, it is construable if we assume that the proper name Peter in (24) below does not only refer to the person himself but to the entities in the world that are assigned to him (his possessions). Therefore, (24b) is possible as it also involves an – albeit somehow construed – part-whole relation. (24) a. b.

das Buch von Peter the book of Peter dem Peter sein Buch the.DAT Peter his book

The prevalent expression of possession with an animate possessor is the dativepossessor construction in (24b). We will not enter the discussion about its internal syntactic structure, but as is well known, the first instances of the dative possessor construction are attested very early (KIEFER 1910). Thus, the question is whether it should be seen indeed as a substitution of the genitive at all. GRIMM (1837: 351–352) notes that the possessor in this construction was marked with genitive and that the additional possessive determiner is due to emphasis. If this were true, we would be dealing with a simple exchange of the exponent – much in line with the substitution of oblique cases (like the instrumental for example) with the dative exponent (see also WEISS 2012 for an alternative approach arguing for a genitive construction as origin of possessor doubling rather than a free dative). Either way, the observation holds that the current system of possessor marking and the two types of partitive constructions can be clearly distinguished from each other by morphosyntactic means. Whether this situation should be described as a com-

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pensation of the loss of genitive marking is at least doubtful. It rather seems that the adnominal genitive was too unspecific in the sense that it comprised too many layers of the functional sequence, respectively differing types of possession relations. Of course, we are not the first to consider diachronic developments under this perspective, i.e. the push chain also in morpho-syntax – however what is new is the idea to cast the development of “new syntactic categories” in the nanosyntactic framework. As this framework is able to make testable predictions about which functional categories are to be expected to be lexicalized eventually, it seems to be an attractive perspective for further research – both in diachronic as well as dialectal variation

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CONCLUSION

In sum, what we suggest is that “grammaticalization” is the overt spell-out of functional layers that are present (or necessary) for conceptual reasons and that they are universally given, as assumed in the nano-syntax framework. In our view, this framework offers a wide range of possibilities to deal with diachronic as well as contemporary dialectal variation. Languages may “choose” between the spellout of several functional layers with one single exponent (bundling several features) or using a different lexical item for each single layer – and as we saw, this will have reflexes in the concrete morpho-phonological realization. Given that the framework is comparatively young and that there is still much to do to work out the details, it nevertheless seems to provide a promising basis for the investigation of diachronic and variational data. It shifts the focus from impoverishment (bleaching) of a lexical item to its new task of spelling out a single layer within the functional sequence. If we look at grammaticalization this way, it is rather “specializing” than bleaching. Concerning the cyclic nature of language change, it may very well be the case that the “functional load” of a lexical item being responsible for various layers, accompanied only with some small distinctions (sometimes only on the phonological level) becomes too unspecific and new material is recruited. This is a process we often observe and which of course can and should not be denied. But it is different from the traditional “decay” view (laziness) and also different from driving economy so far that the exponent is inevitably lost. Something we already doubted at the beginning – since it is unclear how and why an economical system (under the syntax-theoretic perspective) should destroy its “optimal state” – or to put it differently: how is it possible to have a non-optimal state at all if economy is the guideline for the child in the acquisition process? As a final remark, note that within the nanosyntactic framework, the much discussed question about the “inertness” of grammar, see LONGOBARDI (2001) and for a more critical view WALKDEN (2012) can also be taken up under a new perspective. If it is indeed the case that the number and the sequence of functional layers are grounded in the human cognition, see STARKE (2009), also GRIMM (2012) for a semantic perspective on the matter, then it is exactly this component

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which is inert. However, what may change over time (and of course across languages) are the “exponents”, respectively and how many layers are spelled-out with one lexical item.

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JE HAD DIEN EEN KEER MOETEN EN ZIEN! NEUE ERKENNTNISSE ZUM GEBRAUCH DER PARTIKEL EN IM GESPROKEN CORPUS VAN DE (ZUIDELIJK-) NEDERLANDSE DIALECTEN Anne Breitbarth / Melissa Farasyn / Anne-Sophie Ghyselen / Liliane Haegeman / Jacques Van Keymeulen

1

EINLEITUNG

Der Ausdruck der Negation ist ein gut erforschtes Phänomen in den niederländischen Dialekten, sowohl aus sprachhistorischer Sicht (u.a. VAN DER HORST / VAN DER WAL 1978; DE MEERSMAN 1980; DE HAAN / WEERMAN 1984; BURRIDGE 1993; HOEKSEMA 1997; BEHEYDT 1998; POSTMA / BENNIS 2006, RUTTEN et al. 2012; VOSTERS / VANDENBUSSCHE 2012), als auch aus dialektologischer (u.a. KOELMANS 1967; NEUCKERMANS 2008; BARBIERS et al. 2008) und theoretischer Perspektive (u.a. HAEGEMAN 1995; ZEIJLSTRA 2004). Das gesamte niederländische Sprachgebiet hat die als Jespersens Zyklus (JESPERSEN 1917; DAHL 1979) bekannte Erneuerung des Negationsausdrucks durchgemacht, die einzelnen Regionen jedoch in sehr unterschiedlichem Tempo. Während die nördlichen Provinzen bereits ab dem 17. Jh. das dritte Stadium – einfache Negation mit niet – erreicht hatten (BURRIDGE 1993; RUTTEN et al. 2012), blieb der zweiteilige Negationsausdruck mit en..niet (Stadium II) in den südlichen Provinzen noch bis ins 19. Jh. weit verbreitet (BURRIDGE 1993; BEHEYDT 1998; RUTTEN et al. 2012; VOSTERS / VANDENBUSSCHE 2012). Auch, dass Reste der alten präfiniten Partikel en noch immer in v.a. flämischen Dialekten erhalten sind, ist hinlänglich bekannt (HAEGEMAN 1995 et seq.; NEUCKERMANS 2008; BARBIERS et al. 2008). Anhand der 141 phonetisch transkribierten Sätze aus den Fragenlisten für die „Reeks Nederlandse dialectatlassen“ (RND)1 zeigte bereits KOELMANS (1967), dass die Partikel en in negativen Sätzen besonders gut in den südlichen ostflämischen Dialekten, dem Übergangsgebiet zwischen Ost- und Westflämisch, und ferner auch im Französisch-Flämischen (den westflämischen Dialekten in der nordfranzösischen Provinz Nord-Pas-de-Calais, die bereits seit 1678 vom Französischen überdacht sind) erhalten geblieben ist. Die Studie von NEUCKERMANS (2008) zeigt zudem anhand von Daten aus dem „Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten / SAND“ (DynaSAND 2006; BARBIERS 2007; BARBIERS et al. 2008), den RND-Sätzen sowie ausgewählten Dialektaufnahmen (s. Abschn. 2.1) auf, dass es neben der Verwendung von en 1

; Stand: 22.01.2020.

68

A. Breitbarth / M. Farasyn / A.-S. Ghyselen / L. Haegeman / J. Van Keymeulen

in negativen Haupt- und v.a. Nebensätzen auch eine Reihe nicht-negativer Gebrauchskontexte gibt. NEUCKERMANS hebt vor allem den „restriktiven“ Gebrauch von en in Kontexten hervor, die negative Polaritätsausdrücke lizensieren, verweist jedoch auch auf das sehr eingeschränkte Auftreten von en außerhalb von negativen Polaritätskontexten. Beide nicht-negative Verwendungsweisen werden auch anhand anekdotischer Beobachtungen in ost- und westflämischer Umgangssprache durch BREITBARTH / HAEGEMAN (2014; 2015) besprochen und als Weiterentwicklung der Partikel zu einem prozeduralen Diskursmarker analysiert. Alle diese Studien basieren jedoch mehrheitlich auf elizitierten Daten wie den RND-Sätzen und dem SAND. Wo dies nicht der Fall ist, wie im Falle von BREITBARTH / HAEGEMAN (2014; 2015), beruhen sie auf zufällig beobachteten Äußerungen, nicht auf systematisch erhobenen spontanen Sprachdaten. Gerade der Gebrauch elizitierter Daten ist mit Hinblick auf diskurskontextabhängige syntaktische Phänomene jedoch problematisch: Kommentare wie die in Abb. 1 aus dem DynaSAND zeigen, dass zwischen den Antworten der Gewährspersonen auf die direkte Befragung und ihrem tatsächlichen Sprachgebrauch ein großer Abstand klaffen kann: Satz 359 in diesem Beispiel soll die Abwesenheit von Inversion nach adverbialen Bestimmungen (HAEGEMAN / GRECO 2018; LYBAERT et al. 2019) testen (Met zo’n weer j e k u n nie veel doen ‘Bei so einem Wetter du kannst nicht viel machen’), der Informant antwortet jedoch mit standardmäßiger V2-Stellung (Met zukke weer k u n j e nie veel doen ‘Bei so einem Wetter kannst du nicht viel machen’). Die Notiz des Feldforschers vermeldet „Die drei Informanten weisen diesen Satz zurück, dennoch kommen in spontaner Sprache zahlreiche inversionslose Sätze vor.“ Diese Zurückweisung in einer direkten Befragung ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass solche inversionslosen Sätze – genau wie der Gebrauch von en – stark vom Diskurskontext abhängen (s. HAEGEMAN / GRECO 2018).

Abb. 1: Kommentare zur Antwort eines Informanten aus Torhout zu Satz 359 aus dem SAND

Das bedeutet für die Fallstudie im vorliegenden Artikel, dass wahrscheinlich auch der (nicht-)negative Gebrauch von en im SAND unterrepräsentiert ist. Die interne Dynamik des langsamen Ausklingens von Jespersens Zyklus in den südlichen niederländischen Dialekten liegt somit weiterhin im Dunkeln. Im Folgenden besprechen wir die Schaffung eines neuen Korpus auf Basis spontaner Dialektdaten, das dieses Problem – nicht nur für die vorliegende Fallstudie – umgehen helfen soll.

Zum Gebrauch der Partikel en im Gesproken Corpus van de Nederlandse Dialecten

2

69

DAS GESPROKEN CORPUS VAN DE NEDERLANDSE DIALECTEN (GCND) 2.1

Die Aufnahmen

Das „Gesproken Corpus van de Nederlandse Dialecten“ (GCND) basiert auf Transkriptionen eines Teils der Sammlung von 783 Tonbandaufnahmen (ca. 700 Stunden) aus 550 Ortspunkten, die in der Abteilung Niederländische Sprachwissenschaft an der Universiteit Gent zwischen 1963 und 1975 unter der Leitung von WILLEM PÉE und VALÈRE VANACKER (VANACKER / DE SCHUTTER 1967) angelegt wurde. Die Aufnahmen stammen aus den niederländischsprachigen Provinzen Belgiens (West- und Ostflandern, Antwerpen, Brabant, und Limburg), dem südlichen (flämischen) Teil der niederländischen Provinz Zeeland sowie FranzösischFlandern in Nordfrankreich. Abb. 2 zeigt die Aufnahmeorte auf einer Karte.

Abb. 2: Aufnahmeorte der Genter Tonband-Sammlung

Das Ziel der ursprünglichen Sammlung war es, spontan gesprochenen Dialekt zu bewahren und für die Untersuchung phonologischer, morphologischer und syntaktischer Phänomene verfügbar zu machen. Dazu wurden mindestens eine, teilweise mehrere Gewährspersonen pro Ort ausgewählt, die bestimmten Anforderungen genügen mussten: sie und möglichst auch beide Eltern mussten am Ort geboren und aufgewachsen sein und immer dort gelebt haben. Besonders bevorzugt wurden Gewährspersonen mit niedriger oder gar keiner Schulausbildung (um eine Beeinflussung durch die Standardsprache auszuschließen oder möglichst gering zu halten) und gegebenenfalls mit einem seltenen oder aussterbenden Beruf (z.B. Holzschuhmacher, Küfner, ...). Die Sprecher in den Aufnahmen sind größtenteils um 1900 geboren, der älteste 1871.

70

A. Breitbarth / M. Farasyn / A.-S. Ghyselen / L. Haegeman / J. Van Keymeulen

Die Gewährspersonen wurden vielfach durch Studenten an der Universität Gent in ihren jeweiligen Heimatdörfern vermittelt, und ein Teil der Aufnahmen wurde im Rahmen von Abschlussarbeiten angefertigt, die eine strukturalistische Beschreibung der syntaktischen Merkmale des jeweiligen Ortsdialekts (in der Regel der eigene Dialekt der Studierenden) zum Gegenstand hatten (z.B. VAN KEYMEULEN 1975). Das erklärt auch die ungleichmäßige Distribution der Aufnahmen über die verschiedenen Provinzen: Limburg, Flämisch-Brabant und Antwerpen sind unterrepräsentiert, da Studierende aus diesen Gebieten eher in Leuven, Antwerpen oder Brüssel als in Gent studieren. Die Tonbandaufnahmen wurden bereits 2014 im Rahmen eines Wissenschaftspopularisierungsprojekts2 digitalisiert und mit Inhaltsangaben versehen. Da allerdings bisher keine digitalen Transkriptionen vorliegen, ist der Text der Aufnahmen nicht durchsuchbar und kann somit noch nicht als Forschungskorpus benutzt werden. Innerhalb des GCND-Projekts werden nun digitale Transkriptionen angefertigt (s. Abschnitt 2.2) und linguistisch annotiert (s. Abschnitt 2.3). Während der Pilotphase (2018–2020), die hier besprochen wird, wurde das Projekt durch zwei FWO-Kredite gefördert.3 Das Ziel dieser Pilotphase war die Transkription und linguistische Annotation von vorläufig 70 Aufnahmen, weitere Förderung durch die Provinzen Zeeland (Niederlande) und Ostflandern (Belgien) ermöglichte die Transkription und Annotation von bis zu 100 Bändern.4

2.2

Transkription

Von 318 der 783 Bänder liegen Transkriptionen aus der Zeit der Aufnahme vor. Diese sind größtenteils mit der Schreibmaschine, teilweise auch handschriftlich, angefertigt worden, und es liegt ihnen kein einheitliches Transkriptionsprotokoll zugrunde. Das bedeutet, dass eine Digitalisierung mithilfe von OCR (optical character recognition) keine Arbeitserleichterung darstellt. Abb. 3 zeigt zur Illustration Ausschnitte aus den Transkriptionen der Aufnahmen aus Torhout, Wichelen und Maldegem. Während in der Transkription von Torhout (oben) versucht wird, den Vokalismus des Dialekts darzustellen, wird dieser in der Transkription von Wichelen (Mitte) der Standardsprache angepasst, Auslassungen werden gekennzeichnet, die dialektale Flexionsmorphologie wird in beiden Fällen bewahrt. In der handschriftlichen Transkription von Maldegem finden sich zusätzlich hochgestellte Ergänzungen und Diakritika, die nicht ohne Weiteres zu interpretieren sind.

2 3 4

; Stand: 22.01.2020. „Krediet aan navorser“ 1.5.310.18N (ANNE BREITBARTH) und Postdoc-Projekt 1.2.P79.19N (MELISSA FARASYN). Seit Mai 2020 wird das Projekt von einem Infrastrukturprojekt des FWO (I010120N) gefördert.

Zum Gebrauch der Partikel en im Gesproken Corpus van de Nederlandse Dialecten

71

Abb. 3: Ausschnitte aus den Transkriptionen von Torhout, Wichelen und Maldegem

Für das GCND wurde ein eigenes Transkriptionsprotokoll entwickelt, das das des SAND als Ausgangspunkt nimmt (BARBIERS / VANDEN WYNGARD 2001). Die Transkriptionen werden in ELAN vorgenommen, um eine Aliniierung mit der Audiospur zu ermöglichen.5 Die Herausforderung besteht darin, einen Mittelweg zwischen akkurater Transkription und späterer Auffindbarkeit sprachlicher Strukturen zu finden. In der Aufnahme von Ypern aus dem Jahr 1967 hört man die Sprecherin (geb. 1905) bspw. ungefähr (1a) sagen, was im Standardniederländischen (1b) entspräche. (1)

a. b.

[mɔːr ɔkɪk miˑ tɑntn̩ oˑrə klɑpn̩] maar als ik mijn tante hoor spreken/praten ‘Aber wenn ich meine Tante sprechen/reden höre’

Da eine phonetische Transkription zu zeitraubend wäre, wurde entschieden, in zwei Ebenen zu transkribieren, von denen eine dichter beim Dialekt bleibt, und die andere sich stärker an die Standardsprache anlehnt, wobei erstere jedoch bewusst keine phonetische, sondern eine orthographische Transkription ist. Alle regelmäßigen Lautkorrespondenzen werden standardisiert (z.B. wonen statt wøːnen), auch in der dialektnäheren Transkriptionsebene. Dadurch wird im Beispiel aus (1) dann bspw. ɔ in ɔkik zu a und mi(n) zu mijn. Funktionswörter wie Komplementierer (als/a), pronominale Klitika und Klitikverbindungen (kik = k + ik, wörtl. ‘ich ich’) und dialektale Flexionsmorphologie (z.B. die Pluralendung in der 1. Person 5

; Stand: 22.01.2020.

72

A. Breitbarth / M. Farasyn / A.-S. Ghyselen / L. Haegeman / J. Van Keymeulen

Singular horen statt hoor) hingegen werden in der dialektnäheren Transkriptionsebene bewahrt, um ihre spätere Erforschung zu erleichtern. In der standardnäheren Transkriptionsebene werden alle Klitikverbindungen aufgelöst, ihre Syntax jedoch beibehalten, und die Funktionsmorphologie standardisiert. Dialektwörter wie klappen hingegen werden aufgrund ihrer Unschärfe – es ist bspw. unklar, ob klappen hier für standardniederländisch spreken ‘sprechen’ oder praten ‘reden’ steht – nicht übersetzt. Somit sieht die Transkription des Beispiels in (1) im GCNDTranskriptionsprotokoll aus wie in (2). Abb. 4 zeigt, wie die entsprechende Stelle in ELAN aussieht.6 (2)

Ebene 1 maar a#k#ik mijn tanten hore klappen Ebene 2 maar als ik ik mijn tante hoor klappen aber wenn ich ich meine Tante höre sprechen/reden ‘Aber wenn ich meine Tante sprechen/reden höre’

Abb. 4: Transkription in ELAN

6

Das -n in tanten ist wahrscheinlich epenthetisch; normalerweise herrscht in diesem Dialekt der -s-Plural vor. Normalerweise ist die dialektale Endung der 1. Ps. Sg. in Ieper -en (horen), auch wenn sie im konkreten Fall ausfällt (vgl. [1]).

Zum Gebrauch der Partikel en im Gesproken Corpus van de Nederlandse Dialecten

2.3

73

Linguistische Annotation

Um das Korpus für verschiedene linguistische Fragestellungen zugänglich zu machen, ist eine Anreicherung der Transkriptionen mit der Annotation von Wortarten, morphologischer und syntaktischer Information notwendig. Gemäß der CLARIN-Philosophie sollte dabei im Rahmen des Möglichen auf bestehende Tools und Infrastrukturen zurückgegriffen werden (DE JONG et al. 2018), um die verfügbaren Ressourcen bestmöglich zur Schaffung der neuen Infrastruktur einsetzen zu können. Aus einem Vergleich dreier für das Niederländische optimierter POS-Tagger7 ging Frog (VAN DEN BOSCH et al. 2007; HENDRICKX et al. 2016; VAN DER SLOOT et al. 2018) als der beste hervor. Frog ist eine Software, die mehrere NLP-Module, die auf dem TiMBL-Paket basieren (DAELEMANS et al. 2018), integriert. Sie tokenisiert und lemmatisiert Texte, weist den Tokens Wortarten zu (POS-Tagging) und führt eine morphologische Segmentierung durch. Darüber hinaus fungiert Frog als Chunker, der Satzglieder mit ihren Gliedteilen zusammenfasst, erkennt Eigennamen (named entity recognition) und ordnet die Chunks in einem Dependenzparsing-Graphen. Tab. 1 zeigt das Output von Frog für den Satz in (3).8 Es handelt sich um einen negativen Satz mit en, der zusätzlich auch noch Verbspäterstellung durch Inversionslosigkeit nach einer adverbialen Bestimmung aufweist (s.o.).9 (3)

maar anderszins het en is daar niet veel meer geklapt. aber ansonsten es EN ist dort nicht viel mehr gesprochen ‘Aber ansonsten wird dort nicht mehr viel gesprochen.’ (Bambeque)

Die erste Spalte enthält die Tokennummer im Satz (der vorliegende Satz ist der letzte Teil eines komplexen Satzgefüges), die zweite das Token (auf Basis der standardnäheren Transkriptionsebene), die dritte das Lemma (z.B. der Infinitiv von Verben, oder der Positiv von Adjektiven), die vierte die morphologische Segmentierung, die fünfte das POS-Tag mit morphologischer Information, die sechste die Probabilität, die die Gewissheit abbildet, mit der Frog das POS-Tag zugewiesen hat. Die letzte Spalte enthält die Chunking-Information: B-NP steht dabei bspw. für „begin of NP“, I-NP für „inside NP“ und O für „other“. Die Dependenzbeziehungen werden in Frog zu ungenau zugewiesen, daher werden sie hier nicht besprochen. Anhand der durchaus sehr brauchbaren Chunkinginforma-

7

8

9

Neben Frog wurden TreeTagger mit einem Parameterfile für das Niederländische (SCHMID 1994; 1995; ; Stand: 20.01. 2020) und LeTS (VAN DE KAUTER et al. 2013) getestet. Frog ermöglicht zwei Output-Formate, (i) kommaseparierte Listen, wie hier in Tab. 1 zu sehen, mit einem Token und seinen Annotationen pro Zeile, und (ii) FoLiA XML (VAN GOMPEL / REYNAERT 2014), das mithilfe eines Python-Scripts zurück in ELAN-XML umgewandelt werden kann, um so eine zeitliche Aliniierung mit der Tonspur zu ermöglichen. Im Weiteren verwenden wir die standardnähere Transkription in allen Beispielen.

74

A. Breitbarth / M. Farasyn / A.-S. Ghyselen / L. Haegeman / J. Van Keymeulen

tionen soll in einem späteren Arbeitsschritt nach einem geeigneten Parser gesucht werden, notfalls ergänzt um manuelle Korrektur. Nr.

Token

Lemma

Morph.

Wortart

Prob.

Chunk

26

maar

maar

[maar]

VG(neven)

0,966667

27

anderszins

anderszins

[anderszins]

BW()

0,993007

28

het

het

[het]

0,527273

29 30

en is

en zijn

[en] [zijn]

0,997774 0,999447

I-NP B-VP

31

daar

daar

[daar]

0,999373

BADVP

32 33

niet veel

niet veel

[niet] [veel]

0,999918 0,957895

B-NP I-NP

34

meer

veel

[meer]

0,954545

I-NP

35

geklapt

klappen

[ge][klap][t]

0,998549

B-VP

36

.

.

[.]

LID(bep,stan, evon) VG(neven) WW(pv,tgw, ev) VNW(aanw, advpron,obl, vol,3o,getal) BW() VNW(onbep, grad,stan,vrij, zonder,basis) VNW(onbep, grad,stan,vrij, zonder,comp) WW(vd,vrij, zonder) LET()

BCONJP BADVP B-NP

1,000.000

O

Tab. 1: Tokenisierung, Lemmatisierung, morphologische Segmentierung, POS-Tagging und Chunking in Frog

Ein Problem mit Frog, das in Tab. 1 grau hervorgehoben ist, ist, dass die Negationspartikel en aufgrund ihrer Homonymie mit dieser durchgängig als Konjunktion (‘und’) erkannt wird und deshalb das POS-tag VG(neven) (voegwoord-nevenschikkend) bekommt. Im Allgemeinen kann Frog jedoch sehr gut mit den spezifisch südniederländischen Daten umgehen und nicht nur regionalsprachliche Interjektionen (z.B. bah) oder Funktionswörter (z.B. ne statt een ‘ein’), sondern auch abweichende Flexionsformen (z.B. gewrocht statt gewerkt ‘gearbeitet’) gut erkennen. Einige verbleibende Fehlzuweisungen bekommen jedoch normalerweise eine sehr niedrige Probabilität zugewiesen (Spalte 6), und treten, anders als die Fehlerkennung von en als Konjunktion, die aufgrund der Homonymie auch eine hohe Probabilität aufweist – sehr selten auf. Frog erkennt die korrekten POS-Tags in

Zum Gebrauch der Partikel en im Gesproken Corpus van de Nederlandse Dialecten

75

den GCND-Daten mit einer durchschnittlichen Akkuratheit von 94,5%.10 Verbleibende Fehlzuweisungen müssen manuell korrigiert werden.

3

NEUE ERKENNTNISSE ZUM NICHT(MEHR GANZ)-NEGATIVEN EN 3.1

Bisheriger Kenntnisstand: NEUCKERMANS (2008)

NEUCKERMANS (2008) schließt aufgrund ihrer Daten – der 102 mündlichen belgischen Interviews für den SAND, sowie den RND-Sätzen und 21 (alter) Genter Transkriptionen von Dialektaufnahmen für ausgewählte Ortspunkte11 – dass die Partikel en in negativen und in nicht-negativen Sätzen auftreten kann. In negativen Sätzen ist sie NEUCKERMANS zufolge häufiger in Nebensätzen als in Hauptsätzen attestiert. Normalerweise befindet sie sich direkt vor dem finiten Verb, nur in 23 Ortspunkten trifft NEUCKERMANS sie auch vor einem nicht-finiten Verb an (4). (4)

Hij wilt geen soep ni me en ete. er will keine Suppe nicht mehr EN essen ‘Er will keine Suppe mehr essen.’ (Tremelo; NEUCKERMANS 2008: 175)

Daneben bespricht NEUCKERMANS verschiedene nicht-negative Gerbauchsweisen. Vor allem was sie den „restriktiven“ Gebrauch mit maar oder juist ‘nur’ nennt (5), ist noch relativ weit verbreitet, in 19 Ortspunkten, vor allem im West- und Ostflämischen. (5)

We en hebben wijder maar tot aan veertien jaar naar ’t schole wir EN haben wieder nur bis an vierzehn Jahr nach das Schule geweest. gewesen ‘Wir sind nur bis zum vierzehnten Lebensjahr in die Schule gegangen.’ (Brugge; NEUCKERMANS 2008: 164)

(6)

En a-n=ze vroegen oe veel beesten da=je=n=oa? und wenn-3PL=sie fragten wie viele Tiere dass=du=EN=hast ‘Und wenn sie fragten, wie viele Tiere du hast?’ (Wulvergem; NEUCKERMANS 2008: 169)

10 Ermittelt in einem Vergleich des Outputs von Frog angewendet auf zehn ausgewählte Transkriptionen, eine für jedes süd-niederländische Dialektgebiet (Französisch-Flämisch, Westflämisch, Ostflämisch, Brabantisch und Limburgisch), sowie die Übergangsgebiete zwischen ihnen. 11 Also solche Transkriptionen wie in Abschnitt 2.2 (Abb. 2) besprochen. Die Ortspunkte der Teilkorpora überlappen miteinander.

76

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Einen expletiven Gebrauch in negativen Polaritätskontexten (6) findet NEUCKERMANS noch in neun Ortspunkten, ebenfalls vor allem im West- und Ostflämischen. Zuletzt berichtet NEUCKERMANS noch von seltenen Vorkommen von en in nicht-negativen Sätzen, vor allem in Gebieten, in denen negatives en schon sehr selten ist. In sieben Ortspunkten in den Provinzen Brabant und Antwerpen findet sie nicht-negatives en in Nebensätzen (7), in nur einem, dem ostflämischen Merelbeke, auch in einem Hauptsatz (8). (7)

Ze pakte eu portefeuille waar da=se eu sleutelke in sie nahm ihre Handtasche wo dass=sie ihr Schlüsselchen hinein en doet. EN tut ‘Sie nahm ihre Handtasche, wo sie ihr Schlüsselchen hineintut’ (Halle; NEUCKERMANS 2008: 176)

(8)

Ij zal wel nog en komen. er wird wohl noch EN kommen ‘Er wird schon noch kommen.’ (Merelbeke; NEUCKERMANS 2008: 175)

NEUCKERMANS (2008: 177–178) äußert die Vermutung, dass en vor allem aus rhythmischen Gründen eher in Nebensätzen und gelegentlich vor nicht-finiten Verben auftritt – en steht ihr zufolge in allen Fällen direkt vor dem letzten Wort im Satz, einer finiten oder nicht-finiten Verbform.

3.2

Die Distribution von en im GCND

Bisher konnten 66 Tonbandaufnahmen der Genter Sammlung (ca. 50 Stunden, ca. 357.800 Tokens) transkribiert, POS-getaggt und – vor allem qualitativ – hinsichtlich des Gebrauchs von en ausgewertet werden. Die vorläufigen Ergebnisse dieser Fallstudie versprechen bereits jetzt, einige der bisherigen Erkenntnisse zu revidieren. In den bislang vorliegenden Daten kommt en beispielsweise viel häufiger in Hauptsätzen als in Nebensätzen vor, unabhängig davon, ob es sich um negative, restriktive (NPI) oder nicht-negative Sätze handelt, vgl. Tab. 2.

negativ restriktiv (NPI) nicht-negativ

Hauptsatz 318 22 25

Nebensatz 71 4 4

Tab. 2: Distribution von en in Haupt- und Nebensätzen

Zum Gebrauch der Partikel en im Gesproken Corpus van de Nederlandse Dialecten

77

Was in weiteren Studien noch genauer untersucht werden müsste, ist die Frage, ob die Art der Daten hier einen Einfluss ausübt, dahingehend, dass (spontan) gesprochene Sprache beispielsweise eher parataktisch organisiert ist, und dadurch ohnehin viel mehr Hauptsätze auftreten. Da das syntaktische Parsing noch nicht abgeschlossen ist, ist bisher keine Aussage über die globale Verteilung von Haupt- und Nebensätzen möglich. NEUCKERMANS (2008: 168–170) zufolge ist der „expletive“ (= negativ-polare) Gebrauch von en „selten“, und kommt „sporadisch“ nach Komparativen, der Konjunktion voordat ‘bevor’ sowie in Konditionalsätzen vor. Die bisher erhobenen Daten aus dem GCND zeigen jetzt bereits deutlich, dass mehr negativ-polare Kontexte als diese möglich sind. Die Frage stellt sich, ob hier vor allem der Gebrauch elizitierter Daten aus dem SAND und den RND-Sätzen zu Buche schlägt. So sind in den GCND-Daten auch Entscheidungsfragen (9), temporales meer ‘nicht mehr’ (10) sowie die Restriktion eines Allquantors (11) als Lizensierungskontexte attestiert. (9)

ja maar en bestaat dat nog? Dat weet ik niet. ja aber EN besteht das noch das weiß ich nicht ‘Ja, aber gibt es das (denn) noch? Das weiß ich nicht.’ (Waregem)

(10) van aan de hoek van het Oostakkerstraatje is dat misschien von an der Ecke von dem Oostakkersträßchen ist das vielleicht overgenomen die apothekerij? Dat ze zij dat meer en doet? übernommen die Apotheke dass sie sie das mehr EN macht ‘Da an der Ecke Oostakkerstraße, ist das vielleicht übernommen worden, die Apotheke? Dass sie das nicht mehr macht?’ (Gent) (11) maar jij bent een grote dommerik en al die die dat en heeft zijn aber du bist ein großer Dummkopf und alle die der das EN hat sind dommeriken Dummköpfe ‘Aber du bist ein großer Dummkopf, und alle, die das haben, sind Dummköpfe’ (Waterland-Oudeman) Ferner finden sich in den GCND-Daten Gebrauchsweisen von en, die bisher noch gar nicht in der Literatur für die südlichen niederländischen Dialekte erwähnt wurden. Weitere negativ-polare Kontexte, in denen en vorkommt sind z.B. Nebensätze von negierten Hauptsätzen (= „indirekte Negation“ bei HASPELMATH 1997), (12), Nebensätze in Abhängigkeit von Elementen, die den „restriktiven“ Gebrauch von en lizensieren (13), und einzelnes (negatives) en in einem Hauptsatz der einen indirekten Interrogativsatz einbettet, (14).

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(12)

(vorangehender Kontext: als het niet schoon is … de mensen gaan niet binnen) wenn es nicht sauber ist ... die Leute gehen nicht hinein als het zo maar naar de winkel of … of naar de Bäckerei wenn es so nur nach dem Laden oder … oder nach der patisserie en is of gelijk wat ... je gaat niet binnen EN ist oder egal was ... du gehst nicht hinein ‘Wenn es nur so in den Laden oder in die Bäckerei geht, oder egal wohin: du gehst nicht hinein.’ (Waregem)

(13)

en ze danste maar het waren maar juist haar voeten die van de und sie tanzte aber es waren nur gerade ihre Füße die von dem grond en gingen Boden EN gingen ‘Und sie tanzte, aber es waren gerade mal ihre Füße, die sich vom Boden lösten’ (Pittem)

(14)

ik en weet of dat nu nog veel meer gedaan werd ich EN weiß ob das jetzt noch viel mehr gemacht wurde ‘Ich weiß nicht, ob das jetzt immer noch viel gemacht wurde.’ (Ronse)

Vor allem der Gebrauch in (14) ist bemerkenswert, da dies ein Muster ist, das im Mittelniederländischen einer der letzten Kontexte war, die noch einzelnes en zuließen, (15). POSTMA (2002) zufolge fungiert der indirekte Fragesatz als NPI, das en lizensiert. (15) Ic en weet of si overeen die name mingen van desen tween ich EN weiß ob sie zusammen die Namen mengen von diesen zweien ‘Ich weiß nicht, ob sie gemeinsam diese beiden Namen vermengen’ (Mittelniederländisch; POSTMA 2002: 50) Zuletzt darf aufgrund der neu erhobenen Daten vermutet werden, dass der nichtnegative Gebrauch von en in Hauptsätzen, auch vor nicht-finiten Verben, den NEUCKERMANS nur in Merelbeke antraf, in den gesprochenen Dialekten viel weiter verbreitet ist. (16) zeigt eine Auswahl aus verschiedenen brabantischen, ostund westflämischen Orten.

Zum Gebrauch der Partikel en im Gesproken Corpus van de Nederlandse Dialecten

(16)

a.

b.

c.

d.

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maar ja het bi het leger maar we en hebben eerst eerst in dingen aber ja das bei der Armee aber wir EN haben erst erst in Dings gelegen in uh ... in Casteau gelegen in PART ... in Casteau ‘Aber ja, bei der Armee. Aber wir haben zuerst in Dings gelegen, in Casteau.’ (Ninove) maar wil jij jonge gasten, we en hebben al een keer jaren aber willst du junge Leute wir EN haben schon einmal Jahre gehad dat we een paar jonge gasten hebben hé also Studenten gehabt dass wir ein paar junge Leute haben PART dus studenten von der Universität PART van de universiteit hé ‘Aber wenn du junge Leute willst, wir haben schon ein paar Mal Jahre gehabt, dass wir ein paar junge Leute hatten, also Studenten von der Universität.’ (Eeklo) dat en is stijf achtergebleven enee e een beetje bloqué das EN ist stark zurückgeblieben INT INT ein bisschen blockiert alzo also ‘das ist stark zurückgegangen, nicht wahr, also ein bisschen blockiert.’ (Zuidkote) met zijn beste kleren aan ... je had dien een keer moeten mit seinen besten Kleidern an ... du hättest den einmal müssen en zien EN sehen ‘Mit seinen besten Kleidern an ... du hättest den mal sehen sollen!’ (Pittem)

In (16d) ist vor allem die Kontrastbetonung von dien ‘den’ bemerkenswert (neben der Positionierung von en vor dem nicht-finiten Verb), in (16a–b) fällt hingegen auf, dass die Sätze mit maar ‘aber’ beginnen. Das bestätigt die Analyse von BREITBARTH / HAEGEMAN (2014; 2015), der zufolge en den Ausdruck der Negation verlassen hat, und sich zu einer Diskurspartikel weiterentwickelt hat, die zum Ausdruck bringt, dass die so markierte Proposition vor dem Hintergrund des vorangehenden Kontexts unerwartet ist. Auch die Aussage in (16c) drückt einen Kontrast aus – es geht im Kontext darum, dass die älteren Generationen in Französisch-Flandern noch fließend Flämisch beherrschten, während das bei jüngeren Menschen stark abgenommen hat. Das ist nicht nur in den nicht-negativen Beispielen in (16) so, sondern auch in negativen, wie z.B. (17). In (17a) könnte der Interviewer aufgrund des hohen Alters der Gewährsperson vielleicht erwarten, dass sie bereits geboren war, als das erste Auto durch Maldegem fuhr, was jedoch verneint wird. In (17b) wird berich-

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A. Breitbarth / M. Farasyn / A.-S. Ghyselen / L. Haegeman / J. Van Keymeulen

tet, dass Menschen zu Fuß gingen, da es – unerwartet für den Interviewer – noch keine Fahrräder gab. (17) a.

b.

ja ik en was al gelijk nog op de wereld niet als de ja ich EN war schon gleich noch auf der Welt nicht als das eerste auto hier gekomen is want hij is hier gepasseerd erste Auto hier gekommen ist denn es ist hier duchgefahren de eerste september achtienhonderdrieënnegentig den ersten September achzehnhundertdreiundneunzig ‘Ja, ich war ja noch gar nicht auf der Welt, als das erste Auto hier hergekommen ist, denn das ist hier durchgefahren am 1.9.1893.’ (Maldegem) ewaar en die mensen trapten dat natuurlijk te voet af want PART und die Leute gingen das natürlich zu Fuß ab denn uh fietsen en bestonden er nog niet PART Fahrräder EN bestanden da noch nicht ‘Nicht wahr, und die Leute gingen die Strecke natürlich zu Fuß, denn Fahrräder gab es noch nicht.’ (Vinkt)

Allerdings werden weitere Untersuchungen noch bspw. der Frage nachgehen müssen, welche anderen Faktoren das Auftreten von en beeinflussen. Es war im Zusammenhang mit der Frage, ob en häufiger in Nebensätzen (NEUCKERMANS 2008) oder Hauptsätzen (GCND-Daten) auftritt, bereits angesprochen worden, dass solche zusätzlichen Faktoren eine Rolle spielen könnten; NEUCKERMANS vermutet bspw. einen Einfluss des Satzrhythmus. Eine weiterer möglicher Faktor könnte Fossilisierung sein; zahlreiche Vorkommen von en in den GCND-Daten finden sich z.B. in der Verbindung mit Formen von weten ‘wissen’ und hebben ‘haben’ und einem Pronomen in der ersten Person Singular oder Plural. Sollten beispielsweise phonologische Gründe eine Rolle spielen, wäre die Häufigkeit solcher nicht-negativer Verwendungsweisen von en wie in (18) (s. auch [16a–b]) z.B. als Vermeidung eines Hiats zu verstehen – phonetisch wäre we en hebben we hier [wə'nɛmmə] (in der dialektnäheren Transkriptionebene als notiert). (18) allez we en hebben we dat dan veel gehad hé PART wir EN haben wir das dann viel gehabt PART ‘Tja, wir haben das dann viel gehabt, nicht wahr?’ (Sint-Laureins) Um die neu gewonnenen Ergebnisse mit den bereits vorhandenen Studien und dort verwendeten Datenquellen miteinander vergleichbar zu machen (spontane vs. elizitierte Daten), muss hier in zukünftigen Studien genau untersucht werden, wie der Einfluss verschiedener Faktoren bspw. statistisch isoliert werden kann.

Zum Gebrauch der Partikel en im Gesproken Corpus van de Nederlandse Dialecten

4

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SCHLUSSBETRACHTUNGEN

Im vorliegenden Beitrag wurde ein im Aufbau befindliches linguistisch annotiertes Korpus der südniederländischen Dialekte vorgestellt, das auf Transkriptionen spontaner Sprachaufnahmen aus 550 Orten in Belgien, Nordfrankreich und den Niederlanden besteht. Die Sammlung der Sprachaufnahmen ist über 50 Jahre alt, was sie zu einem einzigartigen sprachhistorischen Schatz macht, den es nun zu heben und zugänglich zu machen gilt. Die Anwendungsbereiche sind vielfältig – von dialektologischen und sprachgeschichtlichen Untersuchungen über die Erforschung des Ausgangspunkts für die gegenwärtige Herausbildung großräumigerer Regionalsprachen bis hin zu oraler Geschichte und Volkskunde. Gerade die Tatsache, dass es sich um spontanen Sprachgebrauch handelt, macht diese Sammlung so wertvoll: zwar lassen sich die Gebrauchsbedingungen syntaktischer Strukturen nicht experimentell kontrollieren, die Menge der Daten gleicht das jedoch aus und der große Vorteil ist, dass Diskurskontexte untersucht werden können, die sich direkten Befragungsmethoden entziehen. Anhand einer Pilotstudie zum Gebrauch der Negationspartikel en wurde gezeigt, dass die neu erschlossenen Daten durchaus noch neue Erkenntnisse auch auf einem recht gut erforschten Gebiet liefern können, sowohl für die Erforschung der niederländischen Dialekte, als auch der niederländischen Sprachgeschichte.

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INFINITIV-KONSTRUKTIONEN MIT FEHLENDEM MATRIXVERB IN DEN DEUTSCHSCHWEIZER DIALEKTEN Claudia Bucheli Berger

1

EINLEITUNG

In diesem Artikel wird vorgeschlagen, die syntaktischen Strukturen in den Beispielen (1) und (2) auf eine neue und einheitliche Weise zu analysieren. Es geht um das Verb lassen, das an der Matrixstruktur beteiligt ist. Das kurzvokalische Wörtchen lo im Beispiel (1) wurde von der früheren Forschung als eine verbale Reduplikation (WEBER 1948; HODLER 1969; MARTI 1985) oder eine Verbverdoppelung (LÖTSCHER 1993) aufgefasst. Meistens wurde lo im Beispiel (1) aus dem lo im Beispiel (2) abgeleitet, das angeblich eine kurzvokalische Form des Infinitivs loo ‘lassen’ darstellen soll: (1)

Er lot de Schriner lo choo. er lässt den Schreiner PART kommen

(2)

Ir törfed alles lo ligge. ihr dürft alles PART liegen

(Wald ZH, Frage II.3)

(Wald ZH, Frage II.5) Im Gegensatz dazu wird im Folgenden eine synchrone Analyse von lo als infinitiveinleitende Partikel in (1) und (2) vorgeschlagen. Wo das Verb lassen unter diesem Gesichtspunkt in (2) bleibt und wie dies modelliert werden kann, stellt die Folgefrage dar, die nach der Hinführung zur neuen Analyse (Kapitel 2 und 3) im Kapitel 4 diskutiert wird.1 Das angetönte syntaktische Analyseproblem bei (2) manifestiert sich nicht nur im Zusammenhang mit dem Verb laa/loo ‘lassen’, wenn es den zweiten Teil eines drei- oder mehrteiligen Prädikats bildet, sondern auch in den analogen Konstruktionen mit gaa/goo2 ‘gehen’, choo ‘kommen’ und afaa ‘anfangen’. Zur Komplexität der Syntax dieser Verben tragen je nach Dialektzone auch noch die unterschiedlichen Abfolge-Möglichkeiten der Verbalteile bei, ferner auch die (manch1

2

Der vorliegende Artikel wurde maßgeblich durch LÖTSCHER (1993) und VAN RIEMSDIJK (2017, 2012, 2002) inspiriert. Meine Analyse verdankt ihren Thesen und Modellierungen sehr viel. Alle verbleibenden Ungereimtheiten und Fehler sind selbstverständlich mir zuzuschreiben. Ähnlich wie andere Autoren sehen BRANDNER / SALZMANN (2012) im kurzvokalischen go des schweizerdeutschen Dialekts ein verbales Element von goo ‘gehen’.

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Claudia Bucheli Berger

mal fehlende) Homophonie des Vokals von lassen, gehen und kommen und der Partikel. Nicht zuletzt multipliziert auch die Möglichkeit, dass der in (2) fehlende Infinitiv doch realisiert wird, die mikrostrukturellen Erscheinungsformen der untersuchten Konstruktionen. Weiter unten werden die unterschiedlichen Analysen und formaltheoretischen Erklärungen für (1) und (2) früherer Forschender mit den aus eigener Forschung neu zur Verfügung stehenden Dialektdaten konfrontiert. Diese Daten stammen aus dem Dialektsyntaxprojekt der Universität Zürich. Sowohl die Modellierung mit der Generativen Grammatik (ADGER 2003; CARNIE 2008) als auch mit der Konstruktionsgrammatik (ZIEM / LASCH 2013) werden im Hinblick auf das untersuchte Phänomen auf den Prüfstand gestellt. Die grundsätzliche Auffassung, wie ein Satz definiert wird oder was als eine minimale Äußerung zu betrachten ist (siehe die Beiträge in DÜRSCHEID / SCHNEIDER 2015: „Handbuch Satz“), beeinflusst die Beschreibung und Theoretisierung von Mitgedachtem oder Ellipsen im Allgemeinen und von Verbalellipsen im Speziellen (z.B. generativ: BREITBARTH 2005; VAN RIEMSDIJK 2002, 2012, 2017, interaktionistisch: KAISER 2017). Bei einer Analyse wie der meinigen von Beispiel (2) entfernt man sich automatisch vom traditionellen Konzept eines Satzes, wie es in der Valenzgrammatik oder in der früheren Duden-Grammatik anzutreffen war. Ein Satz mit abhängigem Infinitiv ohne Matrixverb wäre aus der Sicht der traditionellen Grammatik unvollständig oder fehlerhaft. Die Herausforderung in Beispiel (2) besteht darin, ob das Problem der vorgeblichen Matrixverblosigkeit theorieintern gelöst werden kann. Die Konstruktionsgrammatik geht den Weg, dass ausschließlich dasjenige Sprachmaterial beschrieben und modelliert wird, das in einer Äußerung hörbar vorkommt. Die Generative Grammatik verfährt hingegen anders. Sie konzipiert – von der Government-and-Binding-Version an – die IP von der VP getrennt, so dass z.B. die Ellipse eines eingebetteten, lexikalischen Infinitivs aus einem mehrteiligen Prädikat theorieintern modellierbar wird. Einerseits können lexikalische Prädikatsteile in PF getilgt werden. Andererseits nehmen einige Vertreter der Generativen Grammatik die Existenz von stummen Kategorien an (HER / CHEN / TSAI 2015). Beispielsweise wären mit einem stummen Verb (engl. „silent verb“) die syntaktischen und morphologischen Eigenschaften des Verbs an der Satzgenese beteiligt, ohne dass das Verb jemals phonetisch realisiert würde (vgl. VAN RIEMSDIJK 2002, 2012, 2017). Ob es wirklich nötig ist, für die schweizerdeutschen Dialekte stumme Verben anzunehmen, wird im Kapitel 4 diskutiert. Obwohl sie „Dialekte“ genannt werden, handelt es sich bei den schweizerdeutschen Dialekten um die Erstsprache und die mündliche Kommunikationssprache der autochthonen DeutschschweizerInnen im Alltag (vgl. BERTHELE 2004; WERLEN 1998). Die Erforschung der Dialektsyntax trägt zur Dokumentation und Theorie der Humansprache bei.

Infinitiv-Konstruktionen in den Deutschschweizer Dialekten

2

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PROBLEMSTELLUNG: LAA ‘LASSEN’ PLUS INFINITIV

Da es sich um einen komplexen Problembereich mit vielen Einflussfaktoren und lokalen Varianten handelt, wird zuerst von der „einfachen“ Konstruktion mit dem Verb lassen als finitem Verb plus einem von ihm abhängigen Infinitiv ausgegangen (2.1). Danach wird die Struktur mit lassen im dreiteiligen Prädikat diskutiert (2.3). Dann werden die Probleme der früheren Analysen aufgedeckt (2.3). Die neue Analyse mit Einbezug von lassen, gehen und kommen wird im Kapitel 3 dargelegt.

2.1

Präludium: Präsens und Imperativ

In diesem Abschnitt wird auf eine der syntaktischen Besonderheiten des Verbs lassen in den schweizerdeutschen Dialekte eingegangen. Ein eingebetteter Infinitiv, der von der finiten Form des Verbs laa/loo ‘lassen’ im Präsens oder Imperativ abhängt, kann mittels einer Partikel la/lo eingeführt werden. Das folgende Beispiel (3) aus dem Kanton Zürich veranschaulicht, dass nach dem finiten Verb lot ‘lässt’ der abhängige Infinitiv choo ‘kommen’ durch die Partikel lo eingeleitet wird. Die Partikel steht meistens direkt vor dem eingebetteten Infinitiv: (3)

Er lot de Schriner lo choo. er lässt den Schreiner PART kommen ‘Er lässt den Schreiner kommen.’ (Wald ZH, Frage II.3)

Die InformantInnen des Projekts „Dialektsyntax des Schweizerdeutschen“ (für mehr Details siehe GLASER 2021) bekamen in einem schriftlichen Fragebogen die Aufgabe, den standarddeutschen Satz Er lässt den Schreiner kommen in ihren Dialekt zu übersetzen. Die dialektale(n) Antwort(en) mussten jeweils selbstständig notiert werden. Die räumliche Verbreitung der Partikel la/lo in genau diesem Satz, unabhängig davon, wie die Vokalqualität geschrieben worden ist, umfasst den westlichen, zentralen und teilweise auch den südöstlichen Teil der Deutschschweiz. Die Kantone Zürich, Zug, Schwyz, Aargau und beide Basel bilden eine Übergangszone, in der dieser Satz sowohl mit als auch ohne Partikel realisiert wird. Im Osten kommt die Partikel nicht vor oder nur stellenweise im Südosten. Untersucht man die Antworten genauer, erkennt man, dass die Partikel la/lo meistens mit dem Anfangsbuchstaben und einem einzigen Vokalzeichen geschrieben wurde; nur sehr wenige Antworten enthielten eine Schreibung mit zwei identischen Vokalen (Langvokal?) oder mit zwei unterschiedlichen Vokalen (Diphthong ou, au). Schon 40–60 Jahre zuvor war bei den mündlichen SDS3Befragungen festgestellt worden (vgl. SDS III: Karte 263, Legende und Kommentarspalte), dass die Partikel la/lo nach dem finiten lassen in vergleichbaren Sätzen 3

„Sprachatlas der deutschen Schweiz“ (vgl. HOTZENKÖCHERLE et al. 1962–2003).

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Claudia Bucheli Berger

im Präsens oder im Imperativ immer mit Kurzvokal gesprochen wurde. Wir halten daher fest, dass diese Eigenschaft der Partikel von der mündlichen SDS-Befragung bis zur schriftlichen Dialektsyntax-Untersuchung erhalten blieb. Des Weiteren ist aus dem Dialektsyntax-Material ersichtlich, dass die Partikel la/lo dort, wo sie jeweils vorkommt, die Lautung der lokal üblichen Infinitiv-/ Stammlautung oder der früher üblichen Infinitiv-/Stammlautung kopiert, nur eben ohne die vokalische Länge4. Im obigen Beispiel (3) haben wir gesehen, dass die Partikel als lo notiert wurde bzw. die finite Verbform den Stamm lo- enthielt. Zum Vergleich können wir das folgende Beispiel heranziehen, das von derselben Gewährsperson stammt und in dem von lassen kein Infinitiv abhängt. Der Infinitiv lassen wurde hier mit demselben Vokal und mit Längenkennzeichnung notiert. (4)

Dänn müesst er öppert Frömder i d’Wonig loo. ‘Dann müsste er eine fremde Person in die Wohnung lassen.’ (Wald ZH, III.24)

Vorerst kann man festhalten, dass, wenn das finite Verb lassen im Präsens oder Imperativ steht und ein Infinitiv von ihm abhängt, man meistens keine Probleme hat, weder diachron vom SDS- zum Dialektsyntaxdatensatz noch synchron, die kurzvokalische Partikel la/lo vom langvokalischen Infinitiv laa/loo ‘lassen’ zu unterscheiden. Auffällig ist einzig, dass die infinitiveinleitende Partikel lautlich fast homophon zum Infinitiv ist – abgesehen von der Vokalquantität. Wie bereits erwähnt wurde, kommt in gewissen östlichen Gebieten keine solche Partikel vor und somit stellen sich dort diese Fragen des Unterschieds zwischen Partikel und Infinitiv nicht.

2.2

Herausforderung: lassen im dreiteiligen Prädikat

In der Einleitung wurde umrissen, dass, wenn der Infinitiv laa/loo ‘lassen’ den hierarchisch zweiten Teil von drei Prädikatsteilen bildet und von ihm gleichzeitig das lexikalisch wichtige dritte Verb als Infinitiv abhängt, im Westen und Zentrum des Untersuchungsgebiets eine analytisch herausfordernde syntaktische Struktur auftritt. Vom Dialektsyntaxprojekt wurden die erwähnten Strukturen mit dem dreiteiligen Prädikat mittels Übersetzungen erfragt. Dazu musste von den Gewährspersonen der standarddeutsche Satz Ihr dürft alles liegen lassen in den Dialekt übersetzt werden. In dieser Struktur erscheint das Verb lassen als Infinitiv nach dem finiten Modalverb dürft und der Infinitiv liegen hängt als maximal eingebettetes Verb von lassen ab. Die folgende dialektale Übersetzung (Beispiel 5) stammt von derselben Gewährsperson wie die Beispiele weiter oben.

4

Eine Ausnahme dazu bilden die Formen, die in Teilen des Kantons Schwyz auftreten. Dort wird der Infinitiv diphthongisch (lou, loou, laou) realisiert und die Partikel ähnlich (lou, lao).

Infinitiv-Konstruktionen in den Deutschschweizer Dialekten

(5)

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Ir törfed alles lo ligge. ihr dürft alles ? liegen (Wald ZH, II.5)

Daneben musste auch der Fragesatz Hast du die Uhr reparieren lassen? in den Dialekt übersetzt werden. Das Beispiel (6) stammt wiederum vom selben Informanten und weist eine ähnliche syntaktische Struktur wie (5) auf. (6)

Häsch Du d’Uhr lo flicke? hast du die.Uhr ? reparieren (Wald ZH, II.1)

In der hochdeutschen Übersetzungsvorlage von (6) für das Verb lassen statt des Partizips Präteritum die Form des Infinitivs realisiert wird, ein sogenannter Ersatzinfinitiv („infinitus pro participio“ [IPP]). Vergleicht man die dialektalen Sätze in (5) und (6), findet man in beiden je das Wörtchen lo vor dem maximal eingebetteten Infinitiv liegen oder flicken. Die Frage ist nun, wie man das Element lo in den obigen Beispielen (5) und (6) analysieren soll. Handelt es sich bei lo um die Partikel oder um den Infinitiv/Ersatzinfinitiv lassen? Da diese syntaktische Struktur im Westen und im Zentrum zu hohen Anteilen auftritt, soll sie vorläufig die Bezeichnung „Westvariante“ erhalten. Im nördlichen und östlichen Teil der Deutschschweiz gibt es sehr häufig eine syntaktisch andersartige Variante. Ihre Struktur und die Abfolge ihrer Prädikatsteile ähneln dem Standarddeutschen. Da diese Syntaxvariante sich im Osten konzentriert, wird sie „Ostvariante“ genannt. Bei den nachfolgenden Illustrationsbeispielen handelt es sich um die Antworten einer anderen Gewährsperson als oben: (7)

Ir törfed alles ligge loh. ihr dürft alles liegen lassen (Wald ZH, II.5)

(8)

Häscht du d’Uhr flicke loo? hast du die.Uhr reparieren lassen (Wald ZH, II.1)

Ungefähr zwei Drittel der mit der Ostvariante antwortenden Gewährspersonen haben das Wort in der Letztstellung mit einem Zeichen für einen Langvokal (loh, loo) notiert. Dies ist sehr wahrscheinlich die Art und Weise, wie LaieninformantInnen die weiter oben erwähnte Eigenschaft des Infinitivs, einen Langvokal aufzuweisen, schriftlich umgesetzt haben. Somit ist der Infinitiv/Ersatzinfinitiv ‘lassen’ eindeutig identifizierbar. Die Ostvariante kann folglich formaltheoretisch wie die standarddeutsche Syntax modelliert werden.

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Claudia Bucheli Berger

2.3

Forschungsstand: Frühere Analysen

Unsere eigentliche Frage bleibt immer noch offen. Wie soll man die Westvariante analysieren? Wie kann eine einheitliche Beschreibung erreicht werden, die sowohl die Westvariante als auch die Anwesenheit der infinitiveinleitenden Partikel nach dem finiten Verb ‘lassen’ im Präsens und Imperativ umfasst? Im Folgenden werden zwei frühere Erklärungen referiert und ihre Schwächen zutage gefördert. Die erste und ältere These geht von der diachronen Identität der Elemente aus: Es wird angenommen, dass ursprünglich die Infinitivform laa/loo mit Langvokal in der Westvariante (in der Abfolge der Prädikate „finites Modalverb/Auxiliar“1 + lassen2 + „Infinitiv“3) vorlag, die zu la/lo verkürzt wurde. Auf diese Weise sei die kurzvokalische Variante des Infinitivs la/lo entstanden, die später nach finitem lassen ebenfalls eingesetzt wurde (Idiotikon II: 324–325, III: 362–363, III: 1399– 1400; SDS III: 262). Auch die schweizerdeutschen Grammatiken (WEBER 1948; FISCHER 1960; HODLER 1969; SUTER 1976; MARTI 1985) beschreiben die Syntax der Verben gehen, kommen, lassen und anfangen in diesem Sinne. Das Element la/lo in der Westvariante wird genauso wie ga/go, cho und afa als eine von zwei Infinitivformen der entsprechenden Verben laa/loo, gaa/goo, choo und afaa identifiziert. Dass diese verkürzte Infinitivform später zur finiten Form desselben Verbs hinzugefügt worden war, wird als eine Art Reduplikation aufgefasst. Die oben gelisteten vier Verben wurden in diesem Rahmen auch als „reduplizierende Verben“ bezeichnet. Beispielsweise erklärt MARTI (1985: 172), dass die verkürzte Form dieser Verben kurz vor dem abhängigen Infinitiv noch einmal erscheine. Und an einer anderen Stelle charakterisiert er diese Elemente folgendermaßen: Die Infinitive gehen, kommen, lassen, anfangen haben sich in gewissen Stellungen mit dem abhängigen Infinitiv so eng verbunden, daß sie zu bloßen Begleitwörtern herabgesunken sind. MARTI (1985: 88)

Zwar hat MARTI (1985) die synchrone Funktion („Begleitwort“) erkannt, aber der diachrone Gesichtspunkt („Infinitiv“) blieb dominierend. Auch der SDS III verwendete als Titel der Karte 263 (Lass ihn gehen) den hybriden Mischbegriff „erstarrte Infinitiv-Partikeln“. Diese ältere Entwicklungsthese könnte man als einen Grammatikalisierungsprozess auffassen, der vom langvokalischen Infinitiv über die Variation zwischen kurz- und langvokalischem Infinitiv zur infinitiveinleitenden Partikel führt. Jedoch gibt es zur Ausgangsstruktur mit langvokalischem Infinitiv in der Westvariante keine historischen Belege. Auf die zahlreichen Probleme, die diese diachrone These für die synchrone Analyse erzeugte, verwies später auch LÖTSCHER (1993). Hauptkritikpunkt ist, dass die vorgeblich kurzvokalische Infinitivform nur sehr eingeschränkt in Gebrauch wäre, nämlich ausschließlich nach einem finiten Auxiliar oder Modalverb und vor einem abhängigen Infinitiv. Darüber hinaus ist der Grammatikalisierungspfad vom Infinitiv zur infinitiveinleitenden Partikel kaum in den anderen Sprachen der Welt belegt (HEINE /

Infinitiv-Konstruktionen in den Deutschschweizer Dialekten

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KUTEVA 2002: 155).5 Hingegen ist der Entstehungsweg einer infinitiveinleitenden Partikel aus einer Präposition vielfach bezeugt (HEINE / KUTEVA 2002: 163–165).6 Zudem musste auch noch eine Spezialregel formuliert werden für den Fall des dreiteiligen Prädikats mit einem Partizip Präteritum, wie folgende Regel zeigt: „Im Perfekt ersetzt die Reduplikation das Part. II; gelegentlich erscheint es [das Partizip II (CBB)] bei gah/goh: I bi … (ggange) go schaffe. I bi … cho luege. I ha ... lo grüesse.“ (MARTI 1985: 172). Man kann MARTIS Spezialregel an sich eine gute Idee finden. Doch steht sie etwas quer zur diachronen These, die in Bezug auf die Infinitive nach einem Modalverb bei gehen und nach einem Modalverb und Auxiliar bei lassen, kommen und anfangen behauptet, dass die kurzvokalischen Elemente die Infinitivformen repräsentieren würden. Hier stünden das Partizip II und dieser Kurzinfinitiv zusammen in einer Äusserung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass diese erste diachrone These kompliziert und uneinheitlich ist, weshalb sie für eine umfassende Analyse der synchronen syntaktischen Strukturen des Verbs lassen und der anderen drei Verben ungeeignet erscheint. Die zweite und umsichtige Sicht auf den behandelten Problemkomplex stammt von LÖTSCHER (1993). Seine diachrone These setzt als ersten Schritt die Entstehung der infinitiveinleitenden Partikel beim Verb gehen aus der Präposition gen ‘gegen’ an. Danach wird eine Übertragung dieser Partikel auf kommen angenommen und erst später eine analogische Entstehung je einer Partikel bei lassen und anfangen, mit späterer Übertragung der Infinitiv- oder Verbstammlautungen auf die Partikeln. Dies bedeutet, dass die Homophonie beispielsweise der Partikel la/lo nicht mit der materiellen Herleitung aus dem Infinitiv laa/loo einher geht, sondern die Übertragung der Lautung ein eigener, späterer Entwicklungsschritt darstellt. Diese diachrone Erklärung nach LÖTSCHER (1993) ist meines Erachtens viel plausibler als die erste. Sie hilft auch zu erklären, dass heute der Vokal des Partikels ga/go/ge/gu in der Zentral- und Ostschweiz nicht immer homophon zum Infinitiv gaa/goo/guu ist. Wenn die Lautung des Infinitivvokals einmal auf die Partikel übertragen war, konnte der langvokalische Infinitiv unabhängig von der kurzvokalischen Partikel die Qualität seines Vokals ändern.7 Dennoch macht auch LÖTSCHERS These Halt vor der Interpretation der uns interessierenden Problemstrukturen (5) und (6), den „Westvarianten“. Genauso auch davor, wie man das obige Beispiel mit Realisierung von ggange aus MARTI (1985) erklären könnte. Einzig VAN RIEMSDIJK (2002) wird sich später dieser Frage annehmen (siehe Kap. 4). Daher kann man vorläufig festhalten, dass mit LÖTSCHER (1993) zwar die Diachronie eine tragfähige Hypothese erhalten hat, doch unser Analyseproblem mit der Westvariante weiterhin besteht. 5

6

7

Vgl. HEINE / KUTEVA (2002: 155) zum Andativ, der „weg vom Sprecher“ weist. Ansonsten ist kein Grammatikalisierungspfad verzeichnet, der genau der oben angenommenen Entwicklung in den schweizerdeutschen Dialekten entsprechen würde. HEINE / KUTEVA (2002: 163–165) zählen acht Sprachen auf, in denen das Verb gehen zum Finalitätsmarkierer um … zu geworden sei. BRANDNER / SALZMANN (2012) schreiben eine ähnliche Art von Entwicklung dem bodenseealemannischen gi zu. Beispielsweise lautet die Infinitivform in weiten Teilen des Zürcher Dialekts heute gaa ‘gehen’, in Reliktgebieten goo ‘gehen’, die Partikel hingegen meistens go.

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3

NEUE DATEN, ANALYSEN UND THESEN

Die meisten der in diesem Abschnitt präsentierten Beispiele stammen aus den eigenen Untersuchungen, die im Rahmen des Projekts „Dialektsyntax des Schweizerdeutschen“ unternommen wurden. An 383 Deutschschweizer Orten beantworteten über 3000 ortsfeste Dialektsprechende insgesamt 118 Fragen zur Syntax ihres Dialektes, auf vier schriftliche Fragebogen verteilt. Die kartierten Ergebnisse und mehr Kommentare werden publiziert in GLASER (2021).

3.1

Ausgangspunkt: Neue Daten, einheitliche Analyse

Die dritte Hypothese d.h. mein eigener Vorschlag zur Analyse der Westvariante geht von LÖTSCHERS diachroner Erklärung aus und wird zusätzlich neue oder bisher nicht beachtete Belege mit der Realisierung des Verbs lassen und der Partikel la/lo im dreiteiligen Prädikat in die Analyse einflechten, parallel auch zu gehen und kommen. Als Startpunkt dient die folgende Frage, die scheinbar naiv die erste diachrone These hinterfragt, sich aber als sehr zentral erweist, auch in dialektgeographischer Hinsicht: Wieso verlangt das finite Verb laa/loo ‘lassen’ im Präsens und Imperativ in gewissen westlichen, zentralen und südöstlichen Dialekten eine zum Infinitiv (fast) homophone Partikel la/lo, um den abhängigen Infinitiv einzuleiten (oben Kapitel 2.1), doch wenn lassen im Perfekt oder nach einem Modalverb steht, d.h. als Infinitiv oder Ersatzinfinitiv realisiert wird, tritt danach angeblich keine Partikel auf, um den abhängigen Infinitiv einzuführen (oben Kapitel 2.2)? Kann eine syntaktische Regel, die besagt, dass nach den vier weiter oben erwähnten Verben eine Partikel den eingebetteten Infinitiv einleitet, im Hinblick auf Tempus derart asymmetrisch gestaltet sein? Dies ist eher unwahrscheinlich. Ich schlage vor, diesen Problemkomplex neu einheitlich zu analysieren. Dabei spielt die räumliche Verteilung der Varianten eine nicht unwesentliche Rolle. Im östlichen Areal, in dem die Ostvariante vorkommt, tritt die infinitiveinleitende Partikel bei finitem lassen nicht auf. Folglich wäre es doch nur konsequent, wenn in demjenigen Areal, in dem die Partikel la/lo nach finitem lassen in Erscheinung tritt – im Westen und im Zentrum –, eine solche Partikel auch nach dem Infinitiv oder Partizip II vorkäme, um den abhängigen Vollverbinfinitiv einzuführen. Man fragt sich deshalb, ob es sich bei der Westvariante um die Partikelvariante nach Infinitiv lassen (oder Partizip II) handeln könnte. Die Eigenschaft, dass la/lo in der Westvariante kurzvokalisch ist, würde eindeutig mit der Partikeleigenschaft bei lassen im Präsens oder Imperativ übereinstimmen. Doch zieht dies eben die Folgefrage nach sich, wo in dieser Analyse das Verb lassen bleibt.

Infinitiv-Konstruktionen in den Deutschschweizer Dialekten

3.2

93

Interpretation der neuen oder bisher unbeachteten Belege

In diesem Kapitel werden einige der im Dialektsyntaxmaterial vorgefundenen, aber meines Wissens in der Literatur noch nicht systematisch diskutierten Strukturen mit den Verben gehen, kommen und lassen im dreiteiligen Prädikat vorgestellt und interpretiert. Eine für uns interessante Struktur wird schon im Kommentar unterhalb der Legende der Karte 262 des SDS Band III angeführt. An mehreren Orten im Kanton Uri war der Satz er hat ihn gehen lassen mit … gla la gaa übersetzt worden. Dies stellt nichts anderes als eine zum oben erwähnten Beispiel I bi ggange go schaffe (MARTI 1985) parallele Struktur mit gla ‘gelassen’ dar: „finites Auxiliar + Partizip II gla + Partikel la + eingebetteter Infinitiv“. Im Dialektsyntaxmaterial sind im Kanton Uri neben der dominierenden Westvariante einige Belege dieser Art geantwortet worden: (9)

Hesch du d’Uhr glo lo flickä? hast du die.Uhr gelassen PART reparieren (Andermatt UR, II.1)

Diese und weitere strukturelle Varianten sollen hier systematisch nach dem jeweiligen Verb verglichen werden. In den untenstehenden Beispielen (10) und (13) liegt jeweils das Präsens Indikativ von gehen bzw. lassen vor und die jeweilige kurzvokalische Partikel leitet den maximal eingebetteten Infinitiv ein. In den Beispielen (11), (14) und (15) stehen die jeweiligen Verben im Perfekt (Auxiliar plus Partizip II) und die Partikel leitet den eingebetteten Infinitiv ein. In den Beispielen (12) und (16) treten dieselben Verben jeweils in Infinitivform nach dem finiten Modalverb auf, mit der Partikel vor dem Vollverbinfinitiv. Alle Beispiele mit dreiteiligem Prädikat werden so analysiert, dass der maximal abhängige Infinitiv mit der entsprechenden Partikel ga/go oder la/lo eingeleitet wird, während das Matrixverb gehen oder lassen als Partizip oder Infinitiv explizit realisiert ist. Beispiele mit dem Verb gehen: (10) Gang no go spile, bis dr Däddi chunnt. geh noch PART spielen, bis der Vater kommt (Isenthal UR, IV.12) (11) Oh, si isch nid da, si ischt gi iichauffe ggange. oh sie ist nicht hier sie ist PART einkaufen gegangen (Appenzell AI, I.4) (12) wän I mues go poschte gaa. wenn ich muss PART einkaufen gehen (VAN RIEMSDIJK 2002: 158)

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Beispiele mit dem Verb lassen: (13) Är laht dr Schriiner la cho. er lässt den Schreiner PART kommen (Isenthal UR, II.3) (14) Hesch du d’Uhr glo lo flickä? hast du die.Uhr gelassen PART reparieren (Andermatt UR, II.1) (15) Är het dar Schreiner la cho gla. er hat den Schreiner PART kommen gelassen (Rheinwald GR, II.3) (16) Ehr chönnet alles lo sii loh. ihr könnt alles PART sein lassen (Aarau AG, II.5) Ausgehend von den obigen Strukturen und mit dem Ziel einer einheitlichen Analyse, bestimmen wir die kurzvokalische Realisierung la/lo in der folgenden Westvariante konsequent als infinitiveinleitende Partikel (17), in den analogen Konstruktionen (18) und (19) ebenfalls go/gi als Partikel (zum Verb gaa/goo ‘gehen’). (17) Iär därfid aus la ligä ihr dürft alles PART liegen ‘Ihr dürft alles liegen lassen.’ (Isenthal UR, II.5) (18) Da muäs i zersch go luägä. da muss ich zuerst PART schauen ‘Da muss ich zuerst schauen gehen.’ (Isenthal UR, IV.10) (19) Oh, si isch nid da, si isch is Doof gi lädele. oh sie ist nicht da sie ist ins Dorf PART einkaufen ‘Oh, sie ist nicht hier, sie ist ins Dorf einkaufen gegangen.’ (Appenzell AI, I.4) Wie weiter oben schon angetönt, stellen die Beispiele (17) bis (19) die kompletten und adäquaten dialektalen Übersetzungen des hochdeutschen Satzes dar, der den obigen Beispielen jeweils in der dritten Zeile folgt. Daher wird klar, dass eine Verbform ggange/gaa ‘gegangen/gehen’ oder glaa/laa ‘(ge)lassen’ in den obigen Dialektsätzen jeweils „fehlt“. Dieser „nichtrealisierte“ Prädikatsteil wird im Dialekt mitverstanden.

Infinitiv-Konstruktionen in den Deutschschweizer Dialekten

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Unsere Analyse lässt sich gut auf dreiteilige Prädikate anwenden, die das Verb kommen und keine homophone Partikel enthalten. Im Osten des Untersuchungsgebiets kann das Verb choo ‘kommen’ nämlich mit der nicht gleich lautenden Partikel ga/go/gi als Infinitiveinleiter kombiniert werden. Die folgende Beispielreihe enthält kommen im Präsens (20) und als Infinitiv nach finitem Modalverb (21). In beiden Beispielen leitet die Partikel go den abhängigen Infinitiv ein. Im Beispiel (22) ist es sogar möglich, das Adverbial chli ‘ein bisschen’ zwischen den Infinitiv cho ‘kommen’ und die Partikel go zu schieben: (20) Es chont hüt no chli go schneiä. es kommt heute noch bisschen PART schneien ‘Es kommt heute noch ein wenig schneien.’ (Andwil SG, II.8) (21) Hesch ghööt, es söll hüt no go schneie cho! hast gehört es soll heute noch PART schneien kommen ‘Hast du gehört, es soll heute noch schneien kommen.’ (Brülisau AI, II.8) (22) Häsch ghöört es sett hüt na cho chli go schneiä. hast gehört es soll heute noch kommen ein.bisschen PART schneien ‘Hast du gehört, es soll heute noch ein bisschen schneien kommen.’ (Urdorf ZH, II.8) Aus den Beispielen mit der nicht homophonen Partikel wird klar erkennbar, dass dasjenige Wort, das durch die LaieninformantInnen als cho/choo notiert wurde, das Verb kommen darstellt, hier als Infinitiv (Beispiele 21 und 22), während go die Partikel darstellt. Bei homophoner Partikel cho besteht im Präsens kein Problem, die Partikel zu identifizieren (vgl. weiter unten Beispiel 23). Es ist hingegen im dreiteiligen Prädikat (Beispiel 24) schwierig, die Partikel vom Infinitiv zu unterscheiden, weil die Partikel cho von den LaieninformantInnen teilweise gleich wie der Infinitiv cho geschrieben wird. Da die Partikel sinnvollerweise vor dem eingebetteten Vollverbinfinitiv steht, kann durch die Position der Wörter die Partikel vom Infinitiv unterschieden werden. (23) Hesch gheert, äs chund hit nu cho schniiä. hast gehört es kommt heute noch PART schneien ‘Hast du gehört, es kommt heute noch schneien.’ (Isenthal UR, II.8) (24) Häsch ghört, es söll hüt no e chli cho schneie cho. hast gehört es soll heute noch ein bisschen PART schneien kommen ‘Hast du gehört, es soll heute noch ein bisschen schneien kommen.’ (Birwinken TG, II.8)

96

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3.3

Prädikatsabfolge und Beschränkungen

In diesem Abschnitt wird präsentiert, welche Abfolgekombinationen der Prädikatsteile und ihrer Form in den untersuchten Konstruktionen in den schweizerdeutschen Dialekten belegt empirisch sind. Es wird die These formuliert, dass es Beschränkungen gibt. Als Folge davon wird eine weitere These in Bezug auf die Interpretation der Westvarianten aufgestellt. Gemeinsam ist allen dreiteiligen Prädikatskonstruktionen mit den Verben gehen, kommen oder lassen, dass die Partikel go/ga (bei gehen oder kommen), cho (bei kommen) oder lo/la (bei lassen) immer vor dem Vollverbinfinitiv auftritt. Die Position des Vollverbinfinitivs spielt deshalb eine entscheidende Rolle. Wenn die Abfolge der Prädikatsteile Verb1-Verb2-Verb3 ist, können in meinem Datenmaterial die folgenden Muster beobachtet werden (siehe Tab. 1): Typ

Finites Verb 1

Verb 2

Partikel

Verb 3

1 2 3 4

haben sein Modalverb sein

glaa ggange choo choo

la ga ga ga

Vollverb Vollverb Vollverb Vollverb

Tab. 1: Dreiteilige Kombinationen bei Prädikatsabfolge 1-2-3

Stehen die Verben lassen oder gehen vor der Partikel, treten sie lediglich in der Form des Partizips II auf (Typ 1 und 2). Die Typen 3 und 4 unterscheiden sich nur durch das finite Prädikat. Es entscheidet, ob in den schriftlichen Belegen die Form choo das Partizip II oder den Infinitiv darstellt, da die lautlichen Unterschiede so wenig ausgeprägt sind, dass sie von Laien kaum unterschiedlich verschriftet wurden. Wenn die Prädikatsabfolge 1-3-2 ist, treten die folgenden morphosyntaktischen Kombinationstypen in unserem Material auf: Typ Finites Verb 1

Partikel

Verb 3

Verb 2

5 6 7 8 9 10

la la ga ga ga cho

Vollverb Vollverb Vollverb Vollverb Vollverb Vollverb

Laa Glaa Ggange Gaa Choo Choo

haben/Modalverb haben sein Modalverb sein/Modalverb sein/Modalverb

Tab. 2: Dreiteilige Kombinationen bei Prädikatsabfolge 1-3-2

In dieser Abfolge treten sowohl das Partizip II als auch der Infinitiv der untersuchten Verben lassen, gehen und kommen in der Endposition auf, weshalb in der Tabelle 2 wesentlich mehr Typen als in der Tabelle 1 bezeugt sind. Beim Verb

Infinitiv-Konstruktionen in den Deutschschweizer Dialekten

97

‘kommen’ wird mit Hilfe des finiten Verbs entschieden, ob choo in Letztstellung das Partizip II oder den Infinitiv darstellt. Beachtenswert ist zudem, dass choo ‘(ge)kommen’ in der Abfolge 1-3-2 sowohl mit der Partikel go als auch mit der Partikel cho vor dem Vollverb auftritt, während choo in der Abfolge 1-2-3 lediglich in der Kombination mit der Partikel go vor dem Hauptverb belegt ist. Diese Beobachtungen lassen vermuten, dass es in der Tat Beschränkungen gibt, die in der Abfolge 1-2-3 wirksam sind, aber in der Abfolge 1-3-2 nicht. Man stellt sich die Frage, welche der theoretisch möglichen Kombinationen in der Empirie nicht angetroffen wurden. Betrachtet man die Tab. 1 genauer, merkt man, dass diejenigen Kombinationen nicht belegt sind, in denen der Infinitiv laa, gaa oder choo unmittelbar vor seiner jeweils homophonen Partikel la, ga oder cho stehen würde. Die nachfolgende Tab. 3 veranschaulicht diese bisher nicht nachgewiesenen Strukturen: Typ Finites Verb 1

Verb 2

Partikel

Verb 3

11 12 13

*laa *gaa *choo

la ga cho

Vollverb Vollverb Vollverb

haben/Modalverb Modalverb sein/Modalverb

Tab. 3: Nichtbelegte Kombinationen bei Prädikatsabfolge 1-2-3

Als These wird nun formuliert, dass die Beschränkung darin bestehen könnte, dass die unmittelbare Abfolge von homophonem Infinitiv und Partikel in den schweizerdeutschen Dialekten vermieden wird, d.h. eine Adjazenz-Beschränkung vorliegt. Man kann dann eine zweite These, nämlich zum fehlenden Prädikatsteil in der Westvariante, aufstellen: Die Westvariante könnte diejenige syntaktische Struktur darstellen, die aufgrund der in Tab. 3 dargestellten Beschränkung eben ohne ‘lassen’ realisiert wird. In der folgenden Tab. 4 soll dies anhand des jeweils ausgeschriebenen, jedoch durchgestrichenen Infinitivs veranschaulicht werden. Diesen syntaktischen Typen 14–16 „fehlt“ der Infinitiv in der Abfolge 1-2Partikel-3, d.h. auf diese Weise ist die Beschränkung * l/gaa l/ga oder *choo cho erfüllt: Typ Finites Verb 1

Verb 2

Partikel

Verb 3

14 15 16

laa gaa choo

la ga cho

Vollverb Vollverb Vollverb

haben/Modalverb Modalverb sein/Modalverb

Tab. 4: These zur Analyse der Westvariantenstrukturen

Was jedoch der Auslöser und was der Effekt ist, kann wie beim Huhn und dem Ei nicht genau bestimmt werden. Man kann argumentieren, dass der zu vermeidende Homophonie-Cluster die Abwesenheit des Infinitivs bewirkt. Doch genauso gut kann man behaupten, dass es erst die Homophonie der Partikel mit dem Infinitiv

98

Claudia Bucheli Berger

ist, die das Fehlen des Infinitivs ermöglicht. Denn erst die Homophonie der Partikel la macht es beispielsweise beim Typ 14 möglich, dass die Lexik des fehlenden Verbs eindeutig rekonstruiert werden kann. Ähnlich verläuft die Dekodierung bei der Partikel ga oder cho und den Verben gehen oder kommen (Typ 15 und 16). In morphologischer Hinsicht wird das Matrixverb oben in der Tab. 4 drei Mal als Infinitiv rekonstruiert. Doch die in Tab. 5 weiter unten angeführte Westvariante der Art „Auxiliar sein + Partikel ga + Vollverb“ (Typ 17) zeigt, dass ein „nichtrealisiertes“ Partizip II von ‘gehen’ ebenfalls zu den angenommenen Westvarianten-Strukturen gehören kann: Typ 17

Finites Verb 1 sein

Verb 2 ggange

Partikel ga

Verb 3 Vollverb

Tab. 5: These zu einer weiteren Westvariantenstruktur

Als Zwischenbilanz halten wir folgendes in Bezug auf die dreiteiligen Prädikatskonstruktionen mit oder ohne realisiertes Verb lassen, gehen und kommen fest: –



Die Position der Verbalteile spielt eine wesentliche Rolle dabei, ob viele (1-32) oder wenige (1-2-3) morphosyntaktisch unterschiedliche Kombinationen auftreten. Die Kombinationen *laa la, *gaa ga und *choo cho sind meines Wissens nicht belegt.8

Es wurden die folgenden Thesen aufgestellt: 1. In den schweizerdeutschen Dialekten scheint eine Beschränkung vorzuliegen, die einen Homophonie-Cluster in der Abfolge 1-2-Partikel-3 vermeidet. 2. Die Westvarianten der drei untersuchten Verben wurden in der Folge in engem Zusammenhang mit dieser Beschränkung analysiert. Es bleibt offen, ob die Kombinationsbeschränkungen *laa la, *gaa ga und *choo cho bewirkten, dass die Infinitive in der Abfolge 1-2-3 schon immer elidiert wurden, oder zuerst die Homophonie entstanden war, danach die Elision des Infinitivs in der Abfolge 1-2-3 ermöglicht und später obligatorisch wurde, da das coverte lexikalische Verb nur dank der Homophonie der Partikel mit dem Verbstamm identifiziert werden kann. 3. Die Formen der Verben, die in den „verbalen Lücken“ der Westvarianten stehen würden, umfassen nicht nur den Infinitiv, sondern auch das Partizip II.

8

Zurzeit gibt es dazu erst die diskutierte positive Evidenz; es liegt (noch) keine negative Evidenz vor. Ich danke dem unbekannten Reviewer/der unbekannten Reviewerin, mich darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass man testen müsste, ob die Adjazenz das eigentliche Problem darstellt. Falls … laa chli la ligge ‘ein bisschen liegen lassen’ grammatisch wäre, handelte es sich um die Adjazenzvermeidung, falls dies ungrammatisch wäre, handelte es sich um die Vermeidung des Auftreten beider Elemente vor dem Vollverbinfinitiv.

Infinitiv-Konstruktionen in den Deutschschweizer Dialekten

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Wir haben gezeigt, dass die Westvariante, die im Zusammenhang mit der Übersetzung des Verbs lassen im dreiteiligen Prädikat auftritt, am besten als Konstruktion aufgefasst wird, bei der eben dieser Infinitiv lassen „fehlt“. Diese strukturelle Lücke haben wir in den vorangegangenen Kapiteln empirisch und argumentativ hergeleitet. Im folgenden Kapitel wird getestet, wie die ausgewählten zwei formalen Theorien diese syntaktischen Problemstellungen modellieren und welche Modellierung vorteilhafter ist.

4

MODELLIERUNG IN ZWEI UNTERSCHIEDLICHEN THEORIEN 4.1

Generative Grammatik: PF-Tilgung oder stummes Verb

In der Generativen Grammatik werden elliptische oder fehlende Elemente auf zwei Arten erklärt und modelliert (vgl. HER / CHEN / TSAI 2015). Die eine Modellierungsart besteht darin, dass elliptische sprachliche Einheiten zuerst genauso wie hörbare lexikalische Elemente an der Satzgenese teilnehmen, später aber in der PF-Komponente ihre phonetischen Formen getilgt werden. Diese Art der Modellierung lehnen jedoch sowohl BARBIERS (1995) als auch VAN RIEMSDIJK (2002, 2012: 28) für fehlende lexikalische Prädikatsteile nach einem Modalverb ab. Um dieses syntaktische Problem trotzdem im generativen Rahmen lösen zu können, wird als andere Modellierungsart die Existenz von stummen Verben (engl. silent verbs) angenommen. Deren syntaktisch-strukturelle Eigenschaften sind an der Satzgenese beteiligt, doch haben sie von Anfang an die Eigenschaft, dass sie „stumm“ bleiben werden. In Bezug auf den zürichdeutschen Dialekt9 argumentiert VAN RIEMSDIJK (2002, 2012, 2017) für das Modell, ein stummes Verb GAA ‘gehen’ anzunehmen,10 neben der overten Form gaa ‘gehen’. Das folgende Beispielpaar (25a. und b.) veranschaulicht diese beiden Strukturen. Die Beispiele stammen aus VAN RIEMSDIJK (2017: 244), sind aber um der Explizitheit willen ergänzt: (25) a. Si sött aber no in Chäller GAA. b. Si sött aber no in Chäller gaa. ‘Sie sollte aber noch in den Keller gehen.’ Um zu begründen, dass ein stummes Verb nach der PP in Chäller ‘in den Keller’ vorliege werden syntaktische Tests durchgeführt (VAN RIEMSDIJK 2002: 146–151, 2017: 244). Ausgegangen wird davon, dass VPR11 in den schweizerdeutschen Dialekten bei einer Prädikatsabfolge 1-2 oder 1-2-3 (1 = ein finites Modalverb) 9

VAN RIEMSDIJK ist Sprecher dieses Dialekts, weil er in Zürich aufgewachsen ist. Die Autorin ebenfalls – allerdings zwei Generationen später. 10 VAN RIEMSDIJK (2002) notiert das stumme Verb mit Grossbuchstaben: entweder im Dialekt als GAA oder auf Englisch als GO. Um die phonetische Nicht-Realisierung hervorzuheben, wird es in diesem Artikel von CBB durchgestrichen dargestellt. 11 VPR= verb projection raising (Der Begriff wird im Fließtext erklärt).

100

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möglich sei. Dies bedeutet, dass das direkte Objekt oder eine Ortsangabe/AdvP in einem mehrteiligen Verbcluster bis vor das zweitletzte Verb von links nach rechts versetzt werden kann. Die Extraposition einer PP in Letztstellung ist in der Grammatik des CH-Dialekts nicht vorgesehen. Beispielsweise wird in den folgenden Beispielpaaren, in denen im Nebensatz jeweils die Version Version a. ohne gehen und die Version b. mit gaa ‘gehen’ realisiert sind, sukzessive die PP/AdvP nach rechts verschoben. Man beobachtet, dass die PP uf Züri ‘nach Zürich’ und die AdvP häi ‘heim’ in (26) links vom Auxiliar, in (27) links vom Modalverb stehen. Daraus wird gefolgert, dass sie in (28a.) links von einem stummen Verb gaa stehen müssen. Denn eine Extraposition wie in (29) sei in den schweizerdeutschen Dialekten nicht möglich. Auf diese Weise leitet VAN RIEMSDIJK die Existenz des silent verb GAA ab (2002: 147–152, 2012: 24, 2017: 244–246). Die folgenden Beispiele sind leicht adaptiert: (26) a. wil mer häi/uf Züri hetted söle b. wil mer häi/uf Züri hetted söle gaa ‘weil wir heim/nach Zürich hätten sollen gehen.’ (27) a. wil mer hetted häi/uf Züri söle b. wil mer hetted häi/uf Züri söle gaa (28) a. wil mer hetted söle häi/uf Züri b. wil mer hetted söle häi/uf Züri gaa (29) * Wil mer hetted söle gaa häi/uf Züri Ohne auf die Details seiner Analyse eingehen zu können, sei hier angeführt, dass VAN RIEMSDIJK (2002: 153) das Wörtchen, das wir in der Westvariante als infinitiveinleitende Partikel ga/go oder cho analysieren, auf Englisch den „verbal infinitive marker (VIM)“ nennt. Ähnlich wie in unserer Analyse sieht er es so, dass der VIM vor dem maximal eingebetteten Infinitiv steht, nicht anstelle des Infinitivs gehen oder kommen; aber mit phonetischer Bindung an den jeweiligen Infinitiv (außer ga/go, das auch nach kommen auftritt) (VAN RIEMSDIJK 2002: 153–158). Die folgenden Sätze werden von VAN RIEMSDIJK (2002: 158) als Realisierungen des VIM go (unterstrichen) mit stummem Bewegungsverb GAA (a.) und mit explizitem gaa ‘gehen’ (b. und c.) aufgefasst: (30) a. wän i mues go poschte + GAA b. wän I mues gaa go poschte c. wän I mues go poschte gaa wenn ich muss VIM einkaufen gehen (VAN RIEMSDIJK 2002: 158) VAN RIEMSDIJKS Analyse von go in den obigen Beispielen als VIM und die Annahme des stummen verbalen Infinitivs GAA ‘gehen’ in (30a.) haben meine (syn-

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chrone) Bestimmung der Westvarianten-Elemente als infinitiveinleitende Partikel la/lo und als elliptisches laa/glaa ‘lassen/gelassen’ wesentlich inspiriert (vgl. Kap. 3). Doch schon VAN RIEMSDIJK selber schrieb schon explizit (2002: 159), dass noch zahlreiche Fragen zu seiner Analyse offen bleiben würden: Wieso sollte der VIM/Partikel des phonetisch leeren Verbs GAA nicht auch Null sein? Wieso erhielt go/ga ausgerechnet diese verbstamm-kopierende Lautung? Ich habe weiter oben schon dargelegt, dass auch in meiner Analyse nicht entschieden werden kann, ob die Homophonie-Vermeidung von VIM/Partikel und Infinitiv die Elision notwendig macht oder ob die Homophonie die Elision erst ermöglicht, weil dadurch die Lücke semantisch wieder rekonstruiert werden kann (the recoverability problem). Leider übertrug VAN RIEMSDIJK (2002, 2012, 2017) seinen Ansatz, in der VIM-Konstruktion ein stummes Verb anzusetzen, lassen und anfangen im dreiteiligen Prädikat. Wenn man seine Modellierung von go plus GAA und cho plus CHOO auf die Westvariante mit lo übertragen möchte, besteht das theorieinterne Problem, ob mehrere, semantisch unterschiedliche silent verbs zugelassen wären bzw. wie man dies modellieren müsste. Daneben habe ich weiter oben gezeigt, dass neben den Infinitiven von gehen, kommen und lassen auch das Partizip II gegangen als Kandidat für ein potentiell „stummes Verb“ in der Westvariante in Frage kommt. Im Aufsatz von 2002 (152, Fn. 14) führte VAN RIEMSDIJK aus, dass der VPR-Test beim Partizip II nicht anwendbar ist, ein weiteres grundlegendes Problem. 2012 plädiert er mit anderen Argumenten (21–29) dafür, das „silent past participle“ GGANGE anzunehmen. Im Großen und Ganzen scheint es mir beim momentanen Stand der Generativen Theorie schwierig bis unmöglich zu sein, die „Lücke“ der Westvariante, die bei den schweizerdeutschen Verben gehen, kommen, und lassen im Zentrum und Westen des Untersuchungsgebiets auftritt, einheitlich zu modellieren.

4.2

Konstruktionsgrammatik

Das Konzept der „Konstruktion“ stellt das zentrale Element der Konstruktionsgrammatik dar (vgl. ZIEM / LASCH 2013). Das Zusammenspiel der lexikalischen Elemente, ihrer Position und ihrer Form bildet eine abstrakte Konstruktion, die die Erklärung dafür darstellt, dass die Gesamtbedeutung der Äußerung mehr als nur die Summe der Einzel-Bedeutungen der Wörter ausmacht. Der konstruktionsgrammatische Ansatz geht im Gegensatz zur Generativen Grammatik davon aus, dass nur dasjenige Sprachmaterial vorhanden ist und modelliert werden muss, das in einer mündlichen Äußerung oder in einem Text tatsächlich vorkommt (vgl. GOLDBERG / PEREK 2018: 188–193). Die Konstruktionsgrammatik nimmt aus diesem Grund keine „silent verbs“ an. Eine Ellipse bedeutet, dass das elliptische Element nicht vorhanden ist (vgl. GOLDBERG / PEREK 2018: 188–193). Das Grundproblem besteht darin, wie unter diesen Voraussetzungen auf den semantischen Inhalt der Lücke geschlossen werden kann („the recoverability problem“).

102

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Dies soll die Konstruktion (das Zusammenwirken der Syntax, der Form der Elemente, usw.) leisten; sie soll die zusätzliche Bedeutung tragen und vermitteln. Beispielsweise fehle gemäß GOLDBERG / PEREK (2018) das Hauptverb in der Konstruktion „Elise, Casey“, wenn eine Person jemanden jemandem vorstellt: Elise, this is Casey. Eine solche Konstruktion enthalte einen sogenannten „pointer mechanism“, der darauf hinweise, welche Elemente zu ergänzen seien. Uns stellt sich die Frage, ob sich diese Idee der bedeutungsbeitragenden Konstruktion und des „pointer mechanism“ auf die in diesem Artikel untersuchten Strukturen übertragen lässt. Man müsste das kurzvokalische Element lo im folgenden Beispiel (31a.) als Partikel, die den „pointer mechanism“ trägt, analysieren, d.h. die Partikel würde darauf hinweisen, dass das Verb loo ‘lassen’ (in einer nichtfiniten Form) zu ergänzen wäre. Demgegenüber hätte die Partikel lo in (31b.) lediglich die Grundfunktion als infinitiveinleitende Partikel, denn der Infinitiv loh ‘lassen’ ist explizit vorhanden: (31) a. Ehr chönnet alles lo sii. Ihr könnt alles PART sein b. Ehr chönnet alles lo sii loh. Ihr könnt alles PART sein lassen ‘Ihr könnt alles liegen lassen.’ Für (31a.) versuche ich folgendermaßen, die Konstruktion und die Hinweisfunktion von lo in der Konstruktionsgrammatik (KxG) zu formalisieren: KxG: Form: Function:

NP1 + modal verb1 + NP2 + PARTlo + main verb3 lo 1. introduce the embedded infinitive 2. indicate that the verb2 would semantically be reconstructed as loo ‘lassen’ if verb2 is zero

Dabei müsste jederzeit auch die Konstruktion von (31b.) erklärbar sein, in der die zweite Funktion von lo nicht aktiviert wird, da die Position von V2 explizit besetzt ist: KxG: Form: Function:

NP1 + modal verb1 + NP2 + PARTlo + main verb3 + V2loo lo 1. introduce the embedded infinitive 2. function not activated if a verb2 is present

Für diese Analyse muss in Bezug auf die Diachronie angenommen werden, dass zuerst die Homophonie entstanden war, bevor die Verbelision auftrat, weil sonst der Hinweismechanismus nicht vorhanden gewesen wäre. Aus synchroner Sicht muss die Partikel lo immer die zweite Funktion im Lexikon mit sich führen, sodass diese gegebenenfalls auch aktiviert werden kann. Analog würde man ga, cho und afa als Partikel im Zusammenhang mit den Verben gehen, kommen und an-

Infinitiv-Konstruktionen in den Deutschschweizer Dialekten

103

fangen beschreiben.12 Die obige Formalisierung mag einem zwar sehr abstrakt vorkommen, doch sie hat den Vorteil, dass sie auf alle vier Verben adaptierbar ist, daher eine einheitliche Regelung dieser syntaktischen Strukturen erlaubt.

5

ZUSAMMENFASSUNG, FAZIT UND AUSBLICK

Einerseits wurde im empirischen Teil aufgedeckt, dass es viel mehr morphosyntaktische Strukturen in den schweizerdeutschen Dialekten gibt, die das Matrixverb lassen, aber auch gehen und kommen im dreiteiligen Prädikat sowohl enthalten als auch nicht enthalten, als bis anhin in der Literatur in die Beschreibung und diachrone Erklärung der sogenannten verbalen Infinitivpartikel oder der verbalen Reduplikation einbezogen worden ist. Andererseits wurde eine neue und einheitliche synchrone Interpretation vorgeschlagen, die die sogenannte Westvariante als Partikelkonstruktion bestimmt, mit Abwesenheit der oben erwähnten Verben. Es wurde deutlich, dass es diese „Lücke“ ist, die das eigentliche strukturelle Problem darstellt. Im formaltheoretischen Teil wurde der Versuch unternommen, die Westvariante gemäß VAN RIEMSDIJKS schon anformulierter Analyse in der Generativen Grammatik zu modellieren. Dies gestaltete sich schwierig. Hingegen war es möglich, im Rahmen der Konstruktionsgrammatik die Westvarianten aller drei Verben einheitlich zu formalisieren. Beide Theorien sind zwar in ihren sprachtheoretischen Grundannahmen, wie eine minimale Äußerung aufgefasst und was als zu modellierende Sprachelemente betrachtet werden soll, grundverschieden, doch für beide hat sich das „recoverability problem“, d.h. wie die Lücke semantisch rekonstruiert werden kann, als die zentrale Herausforderung erwiesen. Die Generative Grammatik bietet dafür das „licencing“ oder die „Flaggen“-Funktion an, was allerdings nicht zu einer Lösung des Problems geführt hat. Die Konstruktionsgrammatik greift auf das Konzept des „pointer mechanisms“, eines Hinweiselements, zurück, das erfolgreich auf unser Problem angewandt wurde. Obwohl beide Theorien jeweils spezifische theorieinterne Folgeprobleme ihrer Ausgangsannahmen lösen müssen, scheinen die unlösbaren Folgeprobleme innerhalb der generativen Theorie aufgrund ihrer Annahmen überhand zu nehmen, während sich die Folgeprobleme der Konstruktionsgrammatikannahmen weniger gravierend auswirken auf die Modellierung unserer Problemstrukturen. Abgesehen von den besprochenen Theorieproblemen bleiben weiterhin Herausforderungen semantischer und empirischer Art bestehen. Aus einer typologischen Perspektive wäre es erstrebenswert, die lexikalischen Bedeutungen elliptischer oder fehlender Verben und die morphosyntaktische Konstruktionsvielfalt, in denen sie nachzuweisen sind, aus den anderen (germanischen) Sprachen zu sam12 Es kann im Rahmen dieses Artikels nicht darauf eingegangen werden, ob das Konzept der „Flagge“, das VAN RIEMSDIJK (2002: 159–160) für die VIM formulierte, dem Konzept des „pointer mechanism“ ähnlich ist. Weiter kann nicht diskutiert werden, inwiefern sich das konstruktionsgrammatische Konzept des „pointer mechanism“ von MARTIS (1985: 88) Idee, dass die Verbalpartikel den Infinitiv oder das Partizip II ersetzt, unterscheidet.

104

Claudia Bucheli Berger

meln und vergleichend zu diskutieren. Zu jeweils speziellen Teilen dieses Themenbereichs wurde bisher zu Einzelsprachen oder Sprachgruppen (EIDE 2005; VAN DOOREN 2013, 2014, 2017; KAISER 2017; MCSHANE 2000; CHRISTEN 1993) geforscht. Doch ein typologischer Überblick wäre erstrebenswert. Ebenfalls noch zu untersuchen wäre, wie sich die unterschiedlichen Eigenschaften von gehen und lassen als Vollverben erklären lassen. Denn das Verb gaa ‘gehen’ kann auch als lexikalisches Vollverb nach einem finiten Modalverb elidiert sein (siehe oben Beispiel 30, Kap. 4.1), während das Vollverb laa/loo ‘lassen’ nach einem finiten Modalverb nicht weglassbar ist, wie die folgenden Beispiele (32 und 33) – aus dem Zürcher Dialekt der Autorin – veranschaulichen: (32) a. Du chasch en daa laa. b. *Du chasch en daa. ‘Du kannst ihn hier lassen.’ (33) a. Söll i de Rollade abe laa? b. *Söll i de Rollade abe? ‘Soll ich den Rollladen herunterlassen?’ Zukünftige Forschung ist auch nötig, um die negative Evidenz zu den bisher in den schweizerdeutschen Dialekten nichtbelegten Strukturen (vgl. Kapitel 3.3) zu erbringen. All diese empirischen und theoretischen Probleme empfehlen eine zukünftige Feldforschung, verbunden mit anschließender Revision oder Bestätigung der Thesen, die in diesem Artikel aufgestellt worden sind. Die schweizerdeutschen Dialekte bieten eine grammatische Diversität, die ungebrochen lebendig ist und weiterhin zur Erstellung universaler Sprachtypologien und Sprachtheorien genutzt werden sollte.

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Claudia Bucheli Berger

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GRENZEN MORPHOLOGISCHER VARIATION: ZUM VERBALPRÄFIX GE- IN DEUTSCHEN DIALEKTEN* Ulrike Demske

1

EINLEITUNG

In diesem Beitrag geht es um das Verbalpräfix ge- und seine Verwendung als Marker für das Partizip II im Deutschen. Hinreichend bekannt ist die Beobachtung, dass die westgermanischen Sprachen in Bezug auf den Gebrauch des Markers ge- variieren: Während das Deutsche und das Niederländische das Präfix für die Bildung der Partizip-II-Form verwenden,1 fehlt es bei den entsprechenden Formen im Englischen und Friesischen (BLEVINS 2003). (1)

a. b. c. d.

ge-folgt, ge-schrieben ge-volgd, ge-schreven followed, written folget, skrewen

Standarddeutsch Niederländisch Englisch Nordfriesisch2

Im Unterschied zum Standarddeutschen weist das Partizip II allerdings in den Dialekten des Deutschen in Bezug auf das Verbalpräfix kein einheitliches Verhalten auf: SCHIRMUNSKI (1962: 166–170) beobachtet in den hochdeutschen Dialekten eine von Norden nach Süden zunehmende Reduktion von ge-, die von der Qualität des nachfolgenden Konsonanten abhängt. Während das Mittelfränkische das Verbalpräfix unabhängig vom lautlichen Kontext bewahre, werde das Schwa in oberdeutschen Dialekten wie dem Bairischen und dem Schwäbischen nicht nur vor stimmlosen Reibelauten wie im Südhessischen (i.e. bair. gsågd ‘gesagt’, RENN / KÖNIG 2006: 84), sondern auch vor Verschlusslauten synkopiert. In diesem Fall kann das reduzierte Präfix an den Verschlusslaut assimiliert werden, sodass die Partizipform präfixlos erscheint, vgl. (2a). Resultat der Assimilierung kann in manchen bairischen Dialekten aber auch die Stimmlosigkeit des Partizips *

1 2

Großer Dank geht an Iskra Fodor und Natalie Verelst, die mich bei der Extraktion der Daten aus den Fragebögen des „Brandenburg-Berlinischen Spracharchivs“ unterstützt haben. Zur Erstellung der Karten und der quantitativen Auswertungen haben Iskra Fodor und Ilaria De Cesare beigetragen. Elisabeth Berner ist für ihren unermüdlichen Input zu Fragen der märkischen Dialekte zu danken. Peter Neumann hat sich der Mühe unterzogen, die Daten aus der Saarländischdatenbank für die notwendigen Auswertungen aufzubereiten. Auch zwischen dem Deutschen und Niederländischen bestehen Unterschiede, s. dazu DEMSKE (2008a). Die Formen für das Nordfriesische sind WILTS (1995) entnommen.

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Ulrike Demske

im Anlaut sein, vgl. den Kontrast von Infinitiv und Partizip in (2b) nach WIESINGER (1989: 66). (2)

a. b.

brocha ‘gebrochen’, drēdn ‘getreten’ drēdn ‘treten’ vs. trēdn ‘getreten’

Mittel- und Nordbairisch Westliches Mittelbairisch

Laut SCHIRMUNSKI (1962: 169, 543) wird das Verbalpräfix in den niederdeutschen Dialekten infolge Spirantisierung des velaren Verschlusslauts bereits seit mittelniederdeutscher Zeit nicht mehr realisiert. Ihm zufolge stellen Brandenburg und Ostfalen insofern eine Ausnahme dar, als im Westen der brandenburgischen Mittelmark sowie dem Ostfälischen das Präfix noch in Form eines Schwa erhalten ist: (3)

a. b.

da is Ulenspeigel eboren. ‘Da ist Eulenspiegel geboren.’ Das hat niemand emerkt, daß es drieben ebrannt hoat. ‘Niemand hat bemerkt, dass es drüben gebrannt hat.’

Ostfälisch3 (Ca1-18-29)4

Die Literatur zu den märkischen Dialekten in Brandenburg vermerkt, dass nur im Nordmärkischen das Verbalpräfix ge- fehlen kann, im Mittel- und Südmärkischen jedoch auftritt (BOCK / LANGNER 1989; FRINGS / LERCHNER 1966: Karte 20; WIESINGER 1983: 884). Aus diachroner Perspektive stellt FERTIG (1998) infrage, dass Präfixlosigkeit in den hochdeutschen Dialekten ausschließlich gemäß den von SCHIRMUNSKI (1962: 167) postulierten fünf Reduktionszonen verläuft. In einer empirisch breit angelegten Studie zum Verbalpräfix in frühneuhochdeutschen Texten der Stadt Nürnberg beobachtet er den Wegfall von ge- vor allem vor velaren Plosiven, eine Distribution, die er in aktuellen mitteldeutschen Dialekten wiederfindet. Dort sollten gemäß Literatur (SCHIRMUNSKI 1962; WIESINGER 1989 u.a.) weder Synkopen vor Verschlusslauten auftreten, wie in den oberdeutschen Dialekten beobachtet, noch lässt sich die Beschränkung auf die velaren Verschlusslaute mit Blick auf die synkopierenden oberdeutschen Dialekte erklären. Auch semantisch kann der Befund laut FERTIG (1998) nicht gedeutet werden: Allein für das telische Verb kommen ließe sich argumentieren, dass die Präfixlosigkeit das Relikt einer früheren Periode der deutschen Sprachgeschichte darstelle, als bei telischen Verben das Verbalpräfix systematisch fehlen konnte. Diese in den historischen Referenzgrammatiken des Deutschen gut dokumentierte Beobachtung wird mit der ursprünglichen Funktion von ge- als Präfix mit perfektiver Bedeutung erklärt, das 3 4

; Stand 23.07.2019. Die Belegstelle verweist auf einen Fragebogen des „Brandenburg-Berlinischen Spracharchivs“. Die Zahlen geben die Nummer des Fragebogens sowie die Nummer der Frage an, „Ca“ steht für den Landkreis Calau im Bezirk Cottbus (Verwaltungsgliederung von 1952 bis 1993). Die Zahl „1“ steht für den Schulort.

Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten

109

aus atelischen Verben telische Verben abgeleitet habe (PAUL 1917: 276). Vor diesem Hintergrund schlägt FERTIG (1998: 255) vor, den Wegfall von ge- in den fraglichen Varietäten des Deutschen als einen Fall von flexivischer Haplologie zu interpretieren. Im vorliegenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedingungen das Auftreten des flexivischen ge- in den Nicht-Standardvarietäten des Deutschen steuern und inwieweit seine Verwendung tatsächlich raumbildend wirkt. Exemplarisch werden hierzu Daten aus dem Westmitteldeutschen und dem Ostniederdeutschen aus synchroner und diachroner Perspektive betrachtet: Die Daten aus dem Westmitteldeutschen stammen aus einer Fragebogenerhebung, die 2006 im Saarland durchgeführt wurde (DEMSKE 2008b), während die Daten aus der Fragebogenerhebung im Ostniederdeutschen bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts erhoben worden sind. Beide Datensätze werden mit den entsprechenden Daten aus dem „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ (WENKER 1888– 1923) verglichen, um zu sehen, welche Veränderungen sich gegebenenfalls in der jüngeren deutschen Sprachgeschichte beobachten lassen. Auf die Erhebung der Daten aus dem 20. und 21. Jahrhundert werde ich im Folgenden kurz eingehen. Für Informationen zu den Daten vom Ende des 19. Jahrhunderts aus dem „Deutschen Sprachatlas“ sei auf SCHMIDT / HERRGEN (2001–2009) verwiesen. Insgesamt soll der Beitrag die Grenzen morphologischer Variation aus der Perspektive des Sprachsystems aufzeigen.

2 2.1

ZUM KORPUS

Brandenburg-Berlinisches Spracharchiv

Das „Brandenburg-Berlinische Spracharchiv“ (= BBSA) enthält das vollständige Material, das für das „Brandenburg-Berlinische Wörterbuch“ im Laufe des 20. Jahrhunderts zusammengetragen worden ist.5 Das Zettelarchiv mit mehr als einer Million Belegen wurde in den 20er Jahren von HERMANN TEUCHERT angelegt und in den 30er Jahren von ANNELIESE BRETSCHNEIDER fortgeführt. Ergänzt wird dieses Archiv durch Tonaufnahmen aus den 60er Jahren sowie 22 Fragebögen, die zwischen 1950 und 1960 an 2.147 Schulorte in Brandenburg verschickt wurden und von denen 22.454 bearbeitete Exemplare im „Brandenburg-Berlinischen Spracharchiv“ in Potsdam vorliegen (). Auch wenn sich der Großteil der durchschnittlich 40 bis 60 Fragen pro Fragebogen auf die Lexik des Sprachraums bezieht, enthalten acht der 22 Fragebögen jeweils etwa zehn Übersetzungsfragen, die sich nicht auf Lexeme, sondern Sätze beziehen. Dieses Datenmaterial ist im Hinblick auf morphosyntaktische Merkmale bislang nicht ausgewertet worden. Es liefert die Grundlage für die vorliegende Studie.

5

Das „Brandenburg-Berlinische Wörterbuch“ ist in vier Bänden in den Jahren 1976 bis 2001 erschienen.

110

Ulrike Demske

Insgesamt werden in den Fragebögen die Partizipformen von 33 verschiedenen Verben abgefragt. Nicht berücksichtigt werden im Folgenden die sechs Präfixverben, bei denen sich die Frage nach der Verwendung von ge- in der Partizipform gar nicht stellt. Die zehn morphologisch einfachen und siebzehn Partikelverben bieten jedoch ausreichend Material, um die Distribution von ge- in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in den märkischen Dialekten in Brandenburg zu beschreiben. Für die vorliegende Korpusstudie sind neun Verben ausgewählt worden: (4)

a. b.

brennen, gehen, legen, treten, wühlen abreisen, ankommen, ausfallen, einfallen

Ausgangspunkt für die Auswertung ist die aktuelle Verwaltungsgliederung von Brandenburg mit 14 Landkreisen und vier kreisfreien Städten. Für alle 18 Verwaltungseinheiten wurden mit Ausnahme der kreisfreien Stadt Frankfurt/Oder etwa 55 Belege über je sieben Schulorte erhoben, sodass für die Korpusstudie insgesamt 946 Belege vorliegen.6 Diese Belege aus dem 20. Jahrhundert werden kontrastiert mit 860 Belegen aus dem 19. Jahrhundert, die den Wenkerbögen entnommen sind. Die Verbauswahl in den Wenkersätzen ist deutlich beschränkter, denn nur für 19 verschiedene Verben wurde die Partizipform abgefragt, davon für zwei Präfixverben. Für den Vergleich mit den Formen des 20. Jahrhunderts sind sieben morphologisch einfache und das einzige Partikelverb ausgewählt worden. Die abgefragten Ortspunkte beziehen sich ebenfalls auf die heutige Verwaltungsgliederung von Brandenburg. (5)

a. b.

brennen, bringen, fallen, finden, kennen, kommen durchlaufen

Damit liegt eine repräsentative Datenbasis für den diachronen Vergleich über einen Zeitraum von 80 Jahren vor (1880 im Vergleich zu 1960).

2.2

Saarländischdatenbank

Die Belege in der Saarländischdatenbank (= SDB) sind ebenfalls das Resultat indirekter Befragungen. Von vier unterschiedlichen Fragebögen mit je 21 Fragen liegen etwa 500 Fragebögen in Papierform, aus einer Online-Umfrage etwa 5.000 Fragebögen vor. Ziel der 2006 durchgeführten Befragung ist es gewesen, am Beispiel der Form des Partizip II die Optionen morphologischer Variation in den westmitteldeutschen Dialekten des Saarlands zu erfassen. Alle Belege aus den 6

Frankfurt/Oder stellt in Bezug auf die vorliegenden Fragebögen eine Ausnahme dar, da hier der Rücklauf ausgesprochen gering gewesen ist: Nur 85 Exemplare der 22 Fragebögen sind von Frankfurt zur Arbeitsstelle zurückgeschickt worden. Damit liegt die Stadt weit unter dem Durchschnitt von 1.270 Fragebögen pro Landkreis und kreisfreier Stadt.

Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten

111

(Online-)Formularen wurden für die Abfragen in eine Datenbank überführt. Die bereinigte Datenbank umfasst insgesamt 82.220 Belege mit Partizipformen. Von den 57 unterschiedlichen Verben werden in diesem Beitrag 15 Verben exemplarisch diskutiert, deren Auswahl sich an den möglichen Einflussfaktoren für die Setzung von ge- orientiert: Die Verben sind morphologisch einfach und komplex, im Anlaut enthalten sie (velare) Verschlusslaute sowie andere Obstruenten und ihre Aktionsart ist ±telisch.7 Insgesamt werden dafür 23.630 Belege aus den sechs saarländischen Landkreisen betrachtet. Für den diachronen Vergleich werden die Belege für zwei Verben quantitativ ausgewertet: Das Verb finden mit 1.542 Belegen und das Verb kommen mit 1.703 Belegen, die sich ebenfalls über die sechs Landkreise des Saarlands verteilen. Im Vergleich hierzu werden 276 Belege für das Verb finden und 268 Belege für das Verb kommen aus den Wenkerbögen für diesen Sprachraum betrachtet, um etwaige Veränderungen nachvollziehen zu können. Der diachrone Vergleich umfasst für das Saarland also einen Zeitraum von etwa 120 Jahren (1887 im Vergleich zu 2006).

3

VARIATION IN DER VERBMORPHOLOGIE

Wenn es darum geht, die Grenzen morphologischer Variation im Deutschen auszuloten, bietet sich im Inventar der Verbformen das Partizip II als geeigneter Kandidat an. Denn in dieser Verbform kann Variation an drei Stellen im Wort auftreten: Variieren können die Realisierungen von Präfix und Suffix sowie des Stammvokals, wie die folgenden Daten aus der SDB illustrieren. (6)

a. b. c.

ge-funn vs. funn ‘gefunden’ gemach-t vs. gemach ‘gemacht’ gekannt vs. gekennt ‘gekannt’

±Präfix ±Suffix ±Vokalwechsel

Im vorliegenden Beitrag soll es ausschließlich um die Variation in der wortinitialen Position gehen, also um die Frage nach der Auszeichnung der Partizipform durch das Präfix ge-. Im Standarddeutschen ist das Auftreten von ge- bekanntermaßen prosodisch motiviert: Nur bei Erstbetonung des Verbs kann das Verbalpräfix erscheinen, ansonsten ist sein Auftreten ausgeschlossen (GEILFUSS-WOLFGANG 1998; WUNDERLICH / FABRI 1995 u.a.). Unter letztere Bedingung fallen nicht nur die Präfixverben, sondern auch die Verben mit dem Fremdsuffix -ieren, deren Hauptbetonung ebenfalls nicht auf der ersten Silbe liegt (7b). Erstbetonung findet sich dagegen bei morphologisch einfachen Verben und Partikelverben (7a). Wie die Beispiele außerdem zeigen, spielt die Flexionsklasse für die Setzung von gekeine Rolle. Von besonderem Interesse für die nachfolgenden Überlegungen sind deshalb nur die Verben des Typs (7a), in denen das Verbalpräfix in den Dialekten im Unterschied zum Standarddeutschen fehlen kann. 7

Ergebnisse für andere Verben aus dieser Erhebung werden in DEMSKE (2008b) diskutiert.

112 (7)

Ulrike Demske

a. b.

gebrannt, gefunden; vorgekeimt, ausgetrunken entzerrt, erfunden; kritisiert, telefoniert

Anhand von zwei Dialekträumen soll im Folgenden geprüft werden, inwieweit die Bildung des Partizip II in Bezug auf das Präfix ge- vom Standarddeutschen abweicht und welche Einflussfaktoren für seine Verwendung eine Rolle spielen.

3.1

Partizipbildung im Westmitteldeutschen

Der hier betrachtete Teilraum des Westmitteldeutschen schließt die mosel- und rheinfränkischen Dialekte des Saarlandes ein, die sich nach Süden und Osten durch die fehlende p-Verschiebung vom Alemannischen und Ostfränkischen abgrenzen lassen (pund vs. pfund). Die das Saarland querende dat-das-Linie gliedert das Saarland in einen mittelfränkischen (neben dem Moselfränkischen gehört das Ripuarische zum Mittelfränkischen) und einen rheinfränkischen Teil (BECKERS 1980; HERRGEN / VORBERGER 2019).8 Aufgrund der von SCHIRMUNSKI (1962: 167) vorgeschlagenen Reduktionsstufen unbetonter Präfixe besteht für das Westmitteldeutsche die Erwartung, dass Schwa vor stimmlosen Frikativen und Sonoranten, aber nicht vor Verschlusslauten ausfallen kann, und folglich auch das reduzierte Präfix nicht an einen nachfolgenden Verschlusslaut angeglichen werden kann. Wie FERTIG (1998) für das Westmitteldeutsche insgesamt und KUNTZE (1932) für den Saarbrücker Dialekt beobachten, trifft diese Erwartung jedoch nicht zu. Letzterer nennt die folgenden Verben, die im Saarbrücker Dialekt ohne Verbpräfix auftreten, (8)

geben, gehen, gelten, kaufen, kriegen

die alle mit einem velaren Plosiv beginnen. FERTIG (1998) hat diese Besonderheit der Partizipbildung im Westmitteldeutschen ebenso wie deren Entsprechungen in früheren Sprachstufen des Deutschen als flexivische Haplologie gedeutet. Die Fragebogenerhebung aus dem Jahr 2006 kann diese älteren Einzelbeobachtungen auf breiter Datengrundlage für die westmitteldeutschen Dialekte des Saarlands bestätigen (DEMSKE / RAMELLI 2012). Die folgenden Belege sind sämtlich der SDB entnommen und illustrieren den typischen Gebrauch von ge- für morphologisch einfache Verben mit wortinitialem Verschlusslaut. Wie sich den Belegen entnehmen lässt, kann das Verbalpräfix vor Verschlusslauten unter der Bedingung fehlen, dass es sich um einen velaren Verschlusslaut handelt, vgl. (9a) und (9b) vs. (9c) und (9d). Das Merkmal ±Stimmhaftigkeit spielt offenkundig keine Rolle.

8

Für Kritik an einer allein auf Merkmalen der Zweiten Lautverschiebung beruhenden Gliederung des Westmitteldeutschen s. BECKERS (1980: 470) sowie WIESINGER (1983: 846–848), der neben der Qualität der Konsonanten auch das Inventar der Vokale sowie morphologische Marker wie die Diminutivbildung als Abgrenzungskriterien verwendet.

Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten

(9)

a.

hasch du schunn dei Koffer gepackt? ‘Hast Du schon Deine Koffer gepackt?’

b.

ich bin da katz uff de schwanz getret ‘Ich bin der Katze auf den Schwanz getreten.’

c.

Ich hann em en Tablett ginn. ‘Ich habe ihm eine Tablette gegeben.’

d.

Bische grad ersch komm? ‘Bist du gerade erst gekommen?’

113

(Völklingen)

(Rehlingen-Siersburg)

(Überherrn)

(Homburg) Die folgende Abbildung zeigt die Häufigkeitsverteilung der ge-losen Formen für die ausgewählte Gruppe von Verben mit wortinitialem Plosiv. Wie erwartet werden die Partizipformen von Verben mit velaren Verschlusslauten ohne das Verbalpräfix gebildet, wohingegen die Verben brennen, denken, packen, tragen und treten durchweg ein Präfix aufweisen. Aus dem Rahmen fällt nur das Verb bleiben, das einen unerwartet hohen Anteil von präfixlosen Formen aufweist. Dieser Ausreißer hat mit der lautlichen Entwicklung des Verbs zu tun, das aus mhd. belîben durch Verlust des Schwa im Präfix be- entstanden ist (SCHIRMUNSKI 1962: 169). Präfixverben bilden allerdings bereits im Mittelhochdeutschen das Partizip ohne Verbalpräfix ge-.

Abb. 1: Präfixgebrauch bei der Partizipbildung im Westmitteldeutschen

114

Ulrike Demske

Die zweite Ausnahme in Abb. 1 liefert das Verb essen, das offenkundig nicht mit einem Verschlusslaut beginnt. Es erscheint in dieser Auflistung, weil sein Partizip im Mittelhochdeutschen gessen lautet, das Schwa von ge- vor dem Vokal also bereits ausgefallen ist (PAUL 2007: 84). Daraus ist im heutigen Deutschen das Partizip gegessen geworden, sodass auch hier das Partizipialpräfix einem velaren Verschlusslaut vorausginge. In den untersuchten westmitteldeutschen Dialekten fehlt dieses Präfix systematisch: (10) Do hann isch imma gudd gess ‘Dort habe ich immer gut gegessen.’ (Heusweiler) Außer den genannten Verben mit dem gemeinsamen lautlichen Marker treten in den westmitteldeutschen Dialekten des Saarlandes andere Verben auf, die entgegen der Erwartung aus dem Standarddeutschen kein Verbalpräfix aufweisen. Dazu gehören in der SDB die Verben bringen, finden und treffen. (11) a.

Da hann ich doch tatsächlich de Gustav troff ‘Da habe ich doch tatsächlich den Gustav getroffen.’ (Püttlingen)

b.

Den hann eich em Wald funn ‘Den habe ich im Wald gefunden.’

c.

Et hat nit vill braat ‘Es hat nicht viel gebracht.’

(Dillingen)

(Wadgassen) Die quantitative Auswertung der Belege zeigt, dass bei diesen drei Verben das Verbalpräfix zwar fehlen kann, durch die präfixlosen Formen keinesfalls aber so hohe Anteile an der Gesamtzahl der Belege erreicht werden, wie das bei Verben mit velaren Verschlusslauten der Fall ist. Einen Überblick gibt die folgende Tabelle: Verb Gesamtbelege Präfixlose Formen absolut relativ bringen 2.540 1.022 40% finden 1.542 79 5% treffen 1.581 49 3% Tab. 1: Präfixlose Formen bei bringen, finden und treffen

Das Fehlen von ge- lässt sich in diesen Fällen semantisch erklären: Es ist eine in der deutschen Sprachgeschichte gut dokumentierte Beobachtung, dass noch im Mittelhochdeutschen bei Verben mit telischer Aktionsart das Verbalpräfix für die Partizipbildung häufig nicht benutzt wird. Zu den fraglichen Verben gehören laut mittelhochdeutscher Grammatik besonders die Verben bringen, finden, kommen,

Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten

115

treffen und werden (PAUL 2007: 244). Dieser Umstand wird in der Literatur so erklärt, dass die ursprünglich perfektive Bedeutung von ge- im Mittelhochdeutschen offenkundig noch präsent ist, weshalb das Präfix bei telischen Verben als formaler Marker nicht gesetzt werden braucht (EROMS 1989; STREITBERG 1891).9 Der Beleg aus dem mittelhochdeutschen „Parzival“ illustriert diesen Sachverhalt am Beispiel des Verbs finden. (12) sînen meister hete er vunden. ‘Seinen Meister hatte er gefunden.’ („Parzival“ 3807) Die präfixlosen Belege der Partizipien von bringen, finden und treffen in der SDB wären also als Relikte ursprünglich ge-loser Formen in älteren Sprachstufen des Deutschen zu deuten. Die erheblichen Unterschiede im Gebrauch präfixloser Formen zwischen finden und treffen einerseits und bringen andererseits hat zweifellos mit der Sonderentwicklung des Verbs bringen zu tun, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.10 Die Präfixlosigkeit morphologisch einfacher Verben im Westmitteldeutschen könnte folglich zweifach motiviert sein: semantisch und phonologisch.11 Der systematische Vergleich mit den Daten aus dem „Deutschen Sprachatlas“ zeigt, dass sich die unterschiedliche Motivation auch diachron begründen lässt. Verglichen wurden hierfür die Belege für die beiden Verben finden und kommen. Die Präfixlosigkeit beider Verben im heutigen Westmitteldeutschen ließe sich semantisch begründen, weil die temporale Struktur beider Verben einen Endpunkt einschließt. Da kommen gleichzeitig mit einem velaren Plosiv beginnt, könnte die Präfixlosigkeit hier allerdings auch phonologisch bedingt sein. Wie die Karten im Folgenden suggerieren, hat die Präfixlosigkeit bei finden und kommen tatsächlich unterschiedliche Ursachen: Während sich an der Verwendung der präfixlosen Formen für das Verb kommen seit der Erhebung für den „Deutschen Sprachatlas“ kaum etwas geändert hat (Karte 1 vs. Karte 2), dokumentieren die beiden Karten für das

9

Dass ge- in der deutschen Sprachgeschichte noch lange als Marker für Perfektivität genutzt werden kann, zeigt sich auch an seiner Verwendung in Verbindung mit finiten Verben im Präteritum: (i) als der künic Gunther die rede vol gesprach („Nibelungenlied“ 1181.3; PAUL 2007: 293). 10 Vgl. BELLMANN / HERRGEN / SCHMIDT (2002) für die morphologischen Befunde zum Verb bringen sowie SCHMIDT / HERRGEN (2011: 153–164) für eine Diskussion seiner Flexionsformen. 11 Auch BOLTER (2018) geht von der zweifachen Motivation präfixloser Partizipien im Westmitteldeutschen aus. In seiner Studie, die auf Daten aus dem „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ sowie dem „Mittelrheinischen Sprachatlas“ beruht, kann er herausarbeiten, dass der Einfluss semantischer und phonologischer Faktoren auf die Formenbildung des Partizips dialektabhängig variiert, dass die Präfixlosigkeit beispielweise im Moselfränkischen im Wesentlichen phonologisch bedingt, während sie im Ripuarischen noch stark semantisch gesteuert wird.

116

Ulrike Demske

Verb finden einen massiven Rückgang der präfixlosen Formen in diesem Zeitraum (Karte 3 vs. Karte 4).12

Merzig-Wadern

Sankt Wendel

Neunkirchen Saarlouis

Kommen

Saarbrücken

Deutscher Sprachatlas + Präfix − Präfix

Saar-Pfalz-Kreis 0

7,5

15 km

Karte 1: Verwendung von ge- im „Deutschen Sprachatlas“ bei kommen

Merzig-Wadern

Sankt Wendel

Neunkirchen

Saarlouis Saarbrücken

Kommen Saarländisch-Datenbank + Präfix − Präfix

Saar-Pfalz-Kreis 0

7,5

15 km

Karte 2: Verwendung von ge- in der Saarländischdatenbank bei kommen

12 Die Karten im „Digitalen Luxemburgischen Sprachatlas“ (MOULIN 2003, 2016) zeigen die sprachliche Nähe zu den saarländischen Dialekten: Die 1888 durchgeführte Datenerhebung weist für die Verben bringen und kommen ebenfalls Präfixlosigkeit aus.

Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten

Merzig-Wadern

117

Sankt Wendel

Neunkirchen

Saarlouis

Saarbrücken

Finden Deutscher Sprachatlas + Präfix − Präfix

Saar-Pfalz-Kreis 0

7,5

15 km

Karte 3: Verwendung von ge- im „Deutschen Sprachatlas“ bei finden

Merzig-Wadern

Sankt Wendel

Neunkirchen

Saarlouis Saarbrücken

Finden Saarländisch-Datenbank + Präfix − Präfix

Saar-Pfalz-Kreis 0

7,5

15 km

Karte 4: Verwendung von ge- in der Saarländischdatenbank bei finden

Semantisch motivierte Präfixlosigkeit wird folglich im Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis ins 21. Jahrhundert zunehmend abgebaut, während sich die phonologisch motivierte Präfixlosigkeit als Marker der westmitteldeutschen Dialekte etabliert hat. Das bestätigen auch die Untersuchungen von GILLES (2011) für das heutige Luxemburgische, das im Westen an die moselfränkischen Dialekte

118

Ulrike Demske

des Saarlandes anschließt und dessen Verben ebenfalls phonologisch motivierte Präfixlosigkeit aufweisen.13 Die Distribution von ge- scheint aufgrund der vorliegenden Belege für die westmitteldeutschen Dialekte nicht raumbildend zu sein, auch wenn die Befunde in Karte 4 den Eindruck erwecken, dass semantisch motivierte Präfixlosigkeit im rheinfränkischen Südosten schneller abgebaut wird als im moselfränkischen Nordwesten.14

3.2

Präfixlosigkeit in den märkischen Dialekten

Der zweite Dialektraum, der hier näher betrachtet werden soll, ist Teil des Ostniederdeutschen. Die märkischen Dialekte Brandenburgs lassen sich nach STELLMACHER (2000) in drei Teilräume gliedern,15 das Nordmärkische, Mittelmärkische und Südmärkische, die sich im Norden durch die leif/lêf-Linie (‘lieb’) gegenüber dem Mecklenburgischen abgrenzen lassen. Zwischen dem Nord- und dem Mittelmärkischen verläuft die lêf/lief-Linie, letzteres wird durch die schnê/schnei-Linie (‘Schnee’) gegen das Südmärkische abgegrenzt. Im Süden grenzen die märkischen Dialekte an das Mitteldeutsche, markiert durch die ik/ichLinie. Die Übergänge zwischen Niederdeutsch und Mitteldeutsch sind fließend (EHLERS 2019; STELLMACHER 2000: 151; WIESINGER 1983: 884). Auch in den märkischen Dialekten kann das Verbalpräfix ge- fehlen. Wie in der einschlägigen Literatur vermerkt, ist der Ausfall von ge- in den fraglichen Dialekten raumspezifisch (BOCK / LANGNER 1989; FRINGS / LERCHNER 1966: Karte 20; WIESINGER 1983: 884): Systematisch fehlt es nur im Nordmärkischen, im Süden Brandenburgs tritt das Präfix in den formalen Varianten e- und je- auf. Die reduzierte Form e- ist laut Literatur vor allem im Westen der Mittelmark be-

13 GILLES (2011) nennt für das Luxemburgische die folgenden Verben: kennen ‘kennen’, goen ‘gehen’, ginn ‘geben’, kafen ‘kaufen’, kommen ‘kommen’ und kréien ‘kriegen’. Weniger frequente Verben mit velaren Verschlusslauten benutzten jedoch in der Regel das Verbalpräfix (klammen ‘klettern’, klaken ‘knallen’). 14 Künftige Studien werden dieser Frage anhand weiterer Daten vertieft nachgehen müssen, denn die Befunde für andere Verben suggerieren ebenfalls die raumbildende Wirkung morphologischer Marker: So finden sich für das Verb kennen unter insgesamt 1.901 Belegen viele, in denen ein Präfix verwendet wird (1.179 Belege, i.e. 62%). Angesichts des velaren Plosivs im Anlaut ist dieser Befund unerwartet. Wie die raumbezogene Auswertung der Daten zeigt, entfällt ein Großteil der präfigierten Formen auf die rheinfränkischen Dialekte im Südosten des Sprachraums. Und das ist genau der Raum, in dem gleichzeitig gehäuft Belege auftreten, in denen das Rückumlautverb kennen im Partizip keinen Vokalwechsel aufweist (i.e. gekennt). Damit ist das Verbalpräfix einziger Marker für die Partizipform und wird vielleicht aus diesem Grund bei dem Rückumlautverb kennen verwendet (CHRISTIAN RAMELLI, p.K.). Um diese Behauptung zu überprüfen, müssten zumindest alle Rückumlautverben in Bezug auf ihren Präfixgebrauch in den westmitteldeutschen Dialekten untersucht werden. 15 BOCK / LANGNER (1989) favorisieren mit SCHIRMUNSKI (1962), TEUCHERT (1964), MITZKA (1943) und WIESINGER (1983) eine Zweiteilung der märkischen Dialekte, während KÖNIG (2007) und SCHÖNFELD / PAPE (1981) die Dreiteilung unterstützen. S. auch SCHRÖDER (2004: 50).

Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten

119

legt (SCHIRMUNSKI 1962, WIESINGER 1983). Die exemplarische Auswertung der Fragebögen aus dem BBSA bestätigt diese Verteilung für die neun ausgewählten Verben. Im Süden Brandenburgs wird das Verbalpräfix unabhängig von phonologischen und semantischen Eigenschaften der untersuchten Verben bei morphologisch einfachen und morphologisch komplexen Verben verwendet, vgl. (13), während es in den Belegen aus dem Nordmärkischen fehlt (14). (13) a.

Keener he gemärkt, det et doa gebrennt het. ‘Niemand hat bemerkt, dass es drüben gebrannt hat.’ (Jü5-18-29)

b.

Der Lehra is eben erst in de Schule jejangn. ‘Der Lehrer ist erst vor kurzem in die Schule gegangen.’

c.

Dä Moll het druten ub dih Wüschen jewühlt. ‘Der Maulwurf hat draußen in den Wiesen gewühlt.’

d.

Aujust is Dinstach angekom. ‘August ist Dienstag angekommen.’

(Pd12-3-40)

(ZB38-1-40)

(Jü16-19-27) Die Belege in (13) illustrieren die Variation zwischen ge- und je- bei der Realisierung des Verbalpräfixes. Sie zeigen außerdem Synkopierungen von Schwa in der Nebensilbe, wie sie für die gesprochene Sprache charakteristisch sind, vgl. jejangn ‚gegangen‘ in (13b), oder die Apokope des Suffixes, vgl. angekom ‘angekommen’ in (13d). Das Verbalpräfix wird in den Belegen stets realisiert, unabhängig davon, ob das Verb im Anlaut einen Obstruenten oder Sonoranten aufweist. Auch die Telizität des Verbs spielt offenkundig keine Rolle. Der Kontrast der Belege in (13) vs. (14) unterstreicht, dass Präfixlosigkeit unabhängig vom sprachlichen Kontext auftritt. (14) a.

Keener is gewör worrn, dat’t dröben brennt hett. ‘Niemand hat bemerkt, dass es drüben gebrannt hat.’ (Pr7-18-29)

b.

Der Köster is irs vorr korten in die Schul joan. ‘Der Lehrer ist erst vor kurzem in die Schule gegangen.’

c.

De Mull häd buten in de Wisch wöhlt. ‘Der Maulwurf hat draußen in den Wiesen gewühlt.’

d.

August is Deenstag ankomm’n. ‘August ist Dienstag angekommen.’

(Wh71-3-40)

(Tn10-1-40)

(Pk5-19-27) Dass Präfixlosigkeit in den märkischen Dialekten Brandenburgs tatsächlich raumgebunden ist, zeigt die folgende Karte, die auf der Auswertung der neun Verben

120

Ulrike Demske

beruht und die Unterscheidung zwischen einer präfigierten (Verbalpräfixe ge/jesowie e-) und einer präfixlosen Variante erfasst:16 Ganz deutlich ist der Kontrast zwischen dem nordmärkischen Sprachraum aus Prignitz, Ruppin und Uckermark abgebildet, in dem das Partizip systematisch ohne das Präfix gebraucht wird,17 und dem übrigen märkischen Sprachraum, der das Präfix mehrheitlich für die Partizipbildung verwendet. Das Havelland stellt diesbezüglich einen Übergangsraum dar.

Karte 5: Räumliche Verteilung von ±Präfix in den märkischen Dialekten Brandenburgs

Abb. 2 illustriert ergänzend die Häufigkeitsverteilung aller drei Varianten (je- und e-Präfix sowie präfixlos) über die 14 Landkreise und drei der vier kreisfreien Städte. Frankurt/Oder wird aufgrund der zu geringen Belegzahl hier nicht berücksichtigt (insgesamt handelt es sich um 931 Belege). Deutlich wird auch hier die Dominanz der präfixlosen Partizipformen im Norden Brandenburgs. Darüberhinaus ist zu sehen, dass die reduzierte Präfixform e- einen großen Anteil an den präfigierten Formen im Westen des mittelmärkischen Sprachraums (Havelland, Potsdam-Mittelmark und Stadt Brandenburg) ausmacht, eine räumliche Konzen-

16 In FRINGS / LERCHNER (1966) findet sich auf Karte 20 die räumliche Verteilung von ge- vs. e- vs. präfixlos für den gesamten niederdeutschen Sprachraum. 17 Im Nordmärkischen wird auch an anderer Stelle in der Flexion apokopiert: Systematisch fehlen im Plural die Marker für Nominativ und Akkusativ (BOCK / LANGNER 1989: 236, WIESINGER 1983: 884), wie der folgende Beleg eines maskulinen Nomens aus einem Fragebogen des BBSA illustriert: Twieg ‘Zweig’ – de Twieg ‘die Zweige’ (Ll 16-7-7).

Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten

121

tration, die aufgrund der Hinweise in der Literatur zu erwarten war (LASCH 1914: 126; SCHIRMUNSKI 1962: 169, 307, 543). Überraschend groß ist der Anteil von Partizipien mit e-Präfix im Süden an der Grenze zum Mitteldeutschen (Oberspreewald-Lausitz, Dahme-Spreewald, Oder-Spree), was sich vermutlich aus Interferenzen mit dem räumlich anschließenden Mitteldeutschen herleiten lässt.

Abb. 2: Präfixgebrauch bei der Partizipbildung im Märkischen auf Grundlage des BBSA

Die Reduktion von ge- zu e- ist ebenso wie der vollständige Verlust des Verbalpräfixes lautlich bedingt und eine Folge der Spirantisierung des velaren Plosivs (SCHIRMUNSKI 1962: 169). Diese Schwächungs- und Abbautendenzen sind im Niederdeutschen laut LASCH (1914: 1226) bereits im 13. Jahrhundert nachzuweisen: Sie verweist auf eine Version des Hamburger Stadtrechts von 1292, in der die Partizipform häufig ohne das Präfix erscheine. In der späteren Version von 1497 werde das Verbalpräfix dagegen häufig verwendet, was vermutlich auf den wachsenden Einfluss des Hochdeutschen zurückzuführen ist.18 Vergleichbare Beobachtungen gibt es für das Altfriesische: BREMMER (2009: 37) berichtet, dass das Präfix ge- nach der Spirantisierung im Anlaut entweder ganz ausfällt oder in reduzierter Form (e- oder i-) erscheint (18a). Das Auftreten einer Verbpartikel wie un18 HÄRD (2000: 1434) beschreibt die Situation im Mittelniederdeutschen ganz analog: Präfixlose Formen treten vor allem zu Beginn des Mittelniederdeutschen auf, wobei das Verbalpräfix eher im Norden des Sprachraums ausfallen kann.

122

Ulrike Demske

begünstige den Erhalt des Präfixes (18b). Die altfriesischen Belege sind sämtlich BREMMER (2009: 37–38) entnommen. (18) a. b.

e-dên ‘getan’, e-scriuen ‘geschrieben’, i-festnad ‘befestigt’ un-e-dêld ‘ungeteilt’, un-e-waxen ‘nicht erwachsen’

Im Mittelenglischen finden sich entsprechende Belege für die reduzierte Form des Verbalpräfixes (i- oder y-), bevor auch dieses reduzierte Präfix vollständig abgebaut wird (BÄHR 1997: 59). (19) An was oferd ϸat hire answare Ne wrϸe nogt arigt i-fare and was afraid that her answer not become not right gone ‘and was afraid that her answer was not going to go right’ (DENISON 1993: 344) Die Variation in den märkischen Dialekten hinsichtlich Verbalpräfix, wie sie in Karte 5 und in Abb. 2 zum Ausdruck kommt, spiegelt also verschiedene Stadien in der Geschichte der Partizipialform wider. Die präfixlose Form und das e-Präfix sind alte Formen, die im Dialekt erhalten geblieben sind und in der heutigen hochdeutschen Standardsprache nicht mehr verwendet werden. Die standardsprachliche Partizipform mit ge-Präfix wird heute im Mittelmärkischen und Südmärkischen vorrangig verwendet mit der Erwartung, dass sich die Verwendung der standardsprachlichen Form zunehmend weiter nach Norden ausbreitet. Dazu fehlen momentan noch Daten. Es kann allerdings rückblickend versucht werden zu klären, ob sich seit der Erhebung der Wenkerdaten Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den BBSA-Daten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts Veränderungen in der Verteilung der Präfixvarianten nachweisen lassen. In der folgenden Abb. 3 wird analog zu den Daten aus dem 20. Jahrhundert in Abb. 2 die Verwendung der Präfixvarianten sowie der präfixlosen Partizipform in Abhängigkeit von den heutigen Landkreisen und kreisfreien Städten dargestellt.19 Der Vergleich der beiden Abbildungen zeigt, dass im Nordmärkischen in den etwa 80 Jahren, die zwischen den beiden Erhebungen liegen (Wenkerbögen der Jahre 1879/1880, BBSA-Bögen aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts) tatsächlich eine, wenn auch geringe Ausbreitung der standardsprachlichen ge-Formen zu beobachten ist. Insgesamt ist bei der Verwendung der Partizipform im 20. Jahrhundert in einzelnen Sprachräumen eine größere Varianz zu beobachten. Das gilt beispielsweise für die Landkreise Märkisch-Oderland und Oder-Spree, die beide in der Erhebung für den „Deutschen Sprachatlas“ ausschließlich ge-präfigierte Formen, 80 Jahre später jedoch Belege für alle drei Formvarianten aufweisen. Eine mögliche Erklärung dafür mag in der Mobilität der brandenburgischen Bevölkerung der Nachkriegszeit liegen, die zu einer Vermischung der MärkischSprecher geführt sowie Sprecher anderer Dialekträume integriert hat. Für die Frage nach einer sich ausweitenden Verwendung der standardsprachlichen Formen in 19 Aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit fehlen auch hier die Daten zu Frankfurt/Oder.

Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten

123

den Norden Brandenburgs ist der Vergleich zwischen den Wenkerbögen und den Bögen des BBSA also nicht hilfreich. Diese Frage ließe sich nur mittels einer aktuellen Datenerhebung klären.

Abb. 3: Präfixgebrauch bei der Partizipbildung im Märkischen auf Grundlage der Wenkerdaten

4

MORPHOLOGISCHE VARIATION

Ausgangspunkt dieser Korpusstudie war die Beobachtung, dass sich die westgermanischen Sprachen darin unterscheiden, ob bei der Partizipbildung das Verbalpräfix ge- realisiert wird oder nicht. Während im Standarddeutschen die Distribution von ge- wenig beschränkt ist, kann das Verbalpräfix in einigen NichtStandardvarietäten des Deutschen in verschiedenen sprachlichen Kontexten ausfallen. In allen Varietäten des Deutschen wird das Verbalpräfix bei Präfixverben und Verben mit Fremdsuffixen aus prosodischen Gründen nicht realisiert, da Folgen aus zwei unbetonten Silben wortinitial ausgeschlossen sind. Lautlich bedingt ist ebenfalls das Fehlen von ge- in den westmitteldeutschen Dialekten, wenn das Verb mit einem velaren Plosiv beginnt. Voraussetzung für das Fehlen von ge- ist, dass es sich um ein hochfrequentes Verb wie essen, geben oder kommen handelt, und keine anderen Marker interferieren, wie wir das bei dem Rückumlautverb kennen beobachtet haben. Lautlich bedingt ist auch das Fehlen von ge- in den

124

Ulrike Demske

nordmärkischen Dialekten Brandenburgs: Infolge der Spirantisierung des velaren Plosivs im Präfix fällt im Niederdeutschen entweder nur dieser Plosiv oder das gesamte Verbalpräfix aus. Hinweise auf eine semantisch motivierte Präfixlosigkeit finden sich noch heute in den westmitteldeutschen Dialekten des Saarlands: Ausgelöst durch die ursprünglich perfektive Bedeutung von ge- konnte in historischen Sprachstufen des Deutschen das Präfix fehlen. Reste dieser einst systematischen Einschränkung im Gebrauch von ge- lassen sich noch heute bei einigen hochfrequenten telischen Verben wie bringen, finden und treffen nachweisen. Raumbildend wirkt das Präfix nur in den märkischen Dialekten Brandenburgs, da sich das Fehlen von ge- hier mit dem Nordmärkischen korrelieren lässt. Das Auftreten präfixloser Formen in den anderen märkischen Dialekten kann als Interferenzphänomen interpretiert werden. In den westmitteldeutschen Dialekten des Saarlands dagegen ist der Wegfall von ge- nicht raumspezifisch: Laut FERTIG (1998: 261) findet sich der Verlust von ge- vor velaren Plosiven auch in anderen hochdeutschen Dialekten. Aus diachroner Perspektive zeigt sich sowohl Variation als auch Stabilität in Bezug auf die Formenbildung des Partizip II in den Nicht-Standardvarietäten des Deutschen: Die präfixlosen Formen im Westmitteldeutschen verschwinden, insoweit die Präfixlosigkeit semantisch bedingt ist. Diachron stabil ist die Präfixlosigkeit, wenn sie lautlich bedingt ist, wie der Vergleich der Daten aus dem „Deutschen Sprachatlas“ und der Saarländischdatenbank nahelegt. Auch die Erhebungen für den „Deutschen Sprachatlas“ und das „Brandenburg-Berlininische Spracharchiv“ weisen kaum Unterschiede auf, was die Realisierung von ge- betrifft. Hier ist allerdings durch die zunehmende Verdrängung des Niederdeutschen durch hochdeutsch geprägte Varietäten des Deutschen damit zu rechnen, dass die präfixlosen Formen des Partizips bereits heute deutlich stärker nach Norden zurückgedrängt worden sind, als das die Materialien des BBSA aus den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts suggerieren. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass morphologische Variation in Bezug auf die Formenbildung des Partizip II im Deutschen phonologisch und semantisch bedingt sein kann. Nur die phonologisch bedingte Allomorphie ist diachron stabil, während die Desemantisierung von ge- im Verlauf der Sprachgeschichte dazu führt, dass semantisch motivierte Präfixlosigkeit heute allenfalls resthaft vorhanden ist. Durch den fortschreitenden Rückbau niederdeutscher Marker in den Dialekten Brandenburgs geht sehr wahrscheinlich auch die durch Spirantisierung von ge- ausgelöste Präfixlosigkeit weiter zurück, sodass Präfixlosigkeit in den Nicht-Standardvarietäten des Deutschen aktuell von der Qualität des anlautenden Konsonanten gesteuert wird: In oberdeutschen Dialekten wie dem Schwäbischen und Bairischen kann das Präfix ausfallen, wenn der Verbstamm mit einem Verschlusslaut beginnt. In mitteldeutschen Dialekten wie dem Rhein- und Moselfränkischen fehlt das Verbalpräfix nur, wenn der Verschlusslaut velar artikuliert wird. Diachron reduziert sich also die Zahl der Faktoren, die Präfixlosigkeit motivieren können.

Grenzen morphologischer Variation. Zum Verbalpräfix ge- in deutschen Dialekten

125

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„NACHDEM ICH EIN KONTAKTFREUDIGER MENSCH BIN...“ KAUSALES NACHDEM ALS KONKURRENT VON DA IN PLENARPROTOKOLLEN UND REGIONALEN ZEITUNGEN* Melitta Gillmann

1 1.1

NACHDEM – EIN KAUSALER SUBJUNKTOR?1

Kausales nachdem auf dem universellen Grammatikalisierungsgrad

In der Forschungsliteratur wurde mehrfach erwähnt, dass der ursprünglich temporale Konnektor nachdem (in bestimmten Varietäten) eine kausale Funktion entwickelt hat (z.B. BLÜHDORN 2004; BREINDL / VOLODINA / WASSNER 2014: 102; FRITZ 2006: 150; DWB 1889: 34–39; NÜBLING et al. 2013: 129–130; WEGENER 2000: 79; ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997: 1149). Demnach hat der Konnektor einen universell beobachtbaren Grammatikalisierungspfad beschritten, der vom temporalen zum kausalen Konnektor führt (z.B. ABRAHAM 1976; ARNDT 1959, 1960; GEIS / ZWICKY 1971; TRAUGOTT / KÖNIG 1991). Dieser universelle Grammatikalisierungspfad beginnt i.d.R. mit einer konversationellen Implikatur (TRAUGOTT / KÖNIG 1991: 190). Da die rein temporale Relation relativ bedeutungsarm ist, erscheint das zeitliche Miteinander bzw. Nacheinander v.a. dann erwähnenswert, wenn beide Sachverhalte in einem Ursache-Folge-Verhältnis stehen. Deshalb wird ein kausaler Bedeutungsanteil in temporalen Sätzen häufig konversationell implikatiert. Diese Sätze sind sowohl temporal als auch kausal zu verstehen. Nach DIEWALD (2009) liegt hier ein sog. „kritischer Kontext“ vor, der mehrere Lesarten zulässt, die von der älteren (lexikalischeren) bis hin zur neueren, stärker grammatikalisierten Lesart reichen.

*

1

Ich danke einer anonymen Gutachterin/einem anonymen Gutachter, deren/dessen konstruktive Anmerkungen wesentlich zur Verbesserung des Artikels beigetragen haben. Ein ganz großer Dank gilt außerdem den AnnotatorInnen, Leon Battran und Carlotta Hübener, ohne deren Hilfe die Studie nicht möglich gewesen wäre. Für das Korrekturlesen danke ich Johanna Hartwig und Carlotta Hübener. Alle verbleibenden Fehler sind meine eigenen. Der vorliegende Artikel knüpft an die in GILLMANN (2018) gewonnenen Befunde zu kausalen nachdem-Sätzen in Plenarprotokollen deutschsprachiger Landtage an und widmet sich dabei offengebliebenen Fragen. Deshalb werden zunächst die Studie der Plenarprotokolle sowie die dabei gewonnenen Ergebnisse rekapituliert. Dies dient als Grundlage für den Vergleich mit der für diesen Artikel durchgeführten Untersuchung im Zeitungskorpus.

128 (1)

Melitta Gillmann

Nachdem du gekommen bist, ist alles schiefgelaufen. ‘Ab dem Zeitpunkt, an dem du dazugekommen bist, lief alles schief.’ +> Weil du dazugekommen bist, lief alles schief.

Kommt die kausale Implikatur wiederholt zustande, kann sie zur Konnektorbedeutung konventionalisiert werden. Dies ist im Falle von weil und da zu beobachten, die die ursprüngliche temporale Lesart (fast) komplett eingebüßt haben (ARNDT 1959, 1960). I.d.R. koexistiert in einem Übergangsstadium die neue kausale Funktion zunächst mit der temporalen (vgl. engl. since), bis letztere schließlich abgelöst wird (vgl. dt. weil2, da). Dies führt zu einer Polysemie des Konnektors, der je nach Kontext temporale oder kausale Bedeutung trägt (vgl. 2). Die Verfestigung der kausalen Bedeutung wird dann in Kontexten sichtbar, die eine temporale Interpretation ausschließen (vgl. 2c, d). Mit DIEWALD (2009 u.a.) ist damit der sog. „isolierende Kontext“ erreicht, der nur die stärker grammatikalisierte Lesart erlaubt. Dieser isolierende Kontext bildet die letzte Phase der Grammatikalisierung und bietet einen Indikator dafür, dass die Kausalität Teil der Konnektorbedeutung geworden ist. (2)

a. b. c. d.

I have done quite a bit of writing since we last met. (temporal) Since Susan left him, John has been very miserable. (temporal, kausal) Since you are not coming with me, I will have to go alone. (kausal) Since you are so angry, there is no point in talking with you. (kausal) (nach KÖNIG / TRAUGOTT 1991: 194–195, Hervorhebung MG)

Die Frage, ob auch nachdem diese letzte Grammatikalisierungsstufe erreicht hat, ist in der Forschung umstritten. So wird in der Duden-Grammatik in der Auflage von 1966 davon ausgegangen, dass kausales nachdem einen veralteten Sprachstand repräsentiere (Duden-Grammatik 1966: 561), weshalb die Autoren vom Gebrauch explizit abraten. Hier wird also angenommen, dass die Grammatikalisierung wieder rückgängig gemacht wurde, indem die stärker grammatikalisierte Lesart abgebaut wurde. Dagegen wird nachdem in der 50 Jahre später erschienenen 9. Auflage zu den „im engeren Sinne kausale[n] Subjunktionen“ (DudenGrammatik 2016: 642) gezählt.3 Ähnlich wie die 2. Auflage der Duden-Grammatik (1966) vertreten auch BEHAGHEL (1928: 215) und SEDLACZEK (2004: 255) die Meinung, dass kausales nachdem ein veraltetes Phänomen darstellt. Tatsächlich ermittelt GAGEL (2017: 372–375) bei seiner Untersuchung kausaler Konnektoren im Frühneuhochdeutschen (Fnhd.) (neben ambigen und temporalen) einige rein kausale Belege (7 von 53 Vorkommen). Seine Ergebnisse legen somit nahe, dass die kausale Funk2 3

Neben der kausalen Funktion dient weil insbesondere in der gesprochenen Sprache auch als Diskursmarker (z.B. GÜNTHNER 2008). Dem/der anonymen GutachterIn verdanke ich den Hinweis, dass dies auf die Klassifikation im HDK-2 (BREINDL / VOLODINA / WASSNER 2014: 822) zurückzuführen ist, wo kausales nachdem2 als (im engen Sinne) kausaler Subjunktor eingeordnet wird.

129

Kausales nachdem in Plenarprotokollen und regionalen Zeitungen

tion historisch verbreitet war.4 Überdies bieten die historischen Daten Hinweise darauf, dass kausales nachdem ein eher mündliches Phänomen darstellt. In GAGELS Untersuchung im Fnhd. konzentrieren sich die rein kausalen Belege auf die Textgruppe „Gespräche“ (vgl. Tab. 1). Diese Textgruppe beinhaltet dialogische Passagen, u.a. Reformationsdialoge und geistliche Lehrgespräche (GAGEL 2017: 125–129). Über regionale Tendenzen äußert sich GAGEL hingegen nicht. Gespräche kausal kausal/temporal temporal Summe

6 2 4 12

Briefe 1 7 5 13

Argum.

Darstell. 0 2 3 5

Summe 0 4 19 23

7 15 31 53

Tab. 1: Textgruppenspezifische Verteilung der semantischen Lesarten von nachdem im Frühneuhochdeutschen (zitiert nach GAGEL 2017: 374, Hervorhebung MG)

Empirische Untersuchungen zum Gegenwartsdeutschen5 kommen hingegen zu divergierenden Schlüssen. Während GELHAUS (1974) bei seiner Korpusuntersuchung in vorrangig mitteldeutschen (mdt.) Zeitungstexten schlussfolgert, dass die „zeitliche Komponente [...] immer dominant“ (GELHAUS 1974: 151) und dass Kausalität lediglich implikatiert sei,6 weist PITSCH (2016) die kausale Funktion von nachdem an einzelnen Korpusbelegen nach: (3)

Nachdem mein Zimmer 10 m2 groß ist, habe ich nur einen Teil meiner Möbel mitgenommen. (PITSCH 2016: 262)

Wiederholt wurde auch ein regionaler Schwerpunkt von kausalem nachdem vermutet (BEHAGHEL 1928: 215; Duden-Grammatik 1966: 561; SEDLACZEK 2004: 255). Im Folgenden werden die Ergebnisse einer Korpusuntersuchung in Land4

5

6

Leider macht GAGEL nicht transparent, auf welcher Grundlage er zur Bewertung der kausalen Funktion kommt, denn sein Untersuchungsinteresse gilt der Verknüpfungsebene (propositional, epistemisch, illokutionär). STEIDELE (2003), der den Gebrauch von nachdem und je nachdem vergleicht, beobachtet zwar auch kausale Verwendungen, nimmt für nachdem aber eine abstrakte Entsprechungsbedeutung im Sinne von „p entspricht q“ an. Demnach seien sowohl die temporale als auch die kausale Funktion von nachdem allein auf die Semantik der Sätze bzw. der darin enthaltenen Lexeme zurückzuführen. Diese Interpretation hat zwar den Vorteil, dass sie zu einer einheitlichen Funktionsbeschreibung von nachdem und je nachdem kommt, sie scheint jedoch die tatsächliche Funktion von nachdem nicht adäquat abzubilden. So kann nachdem eine temporale Bedeutung erzwingen, auch wenn weder die lexikalischen Elemente noch die morphologische Tempusflexion die Vorzeitigkeit markieren (z.B. Die Familie muss nach Afghanistan zurückkehren, nachdem sie 7 Jahre in Deutschland lebt.). Dieses Ergebnis könnte allerdings durch seine Korpuswahl bedingt sein. Seiner Studie zum Tempusgebrauch in nachdem-Sätzen liegt ein Zeitungskorpus mit v.a. mitteldeutschem Schwerpunkt zugrunde.

130

Melitta Gillmann

tagsprotokollen (GILLMANN 2018) vorgestellt, die zeigt, dass nachdem insbesondere im süd(ost)dt. Standard, v.a. in Österreich, kausal verwendet wird. Dieser Artikel knüpft an diese Befunde an und widmet sich dabei offengebliebenen Fragen. Zum einen wird die Studie der Plenarprotokolle erweitert, indem die in GILLMANN (2018) aufgestellte Hypothese empirisch überprüft wird, dass nachdem eine süddt. Entsprechung von da sei. Diese Hypothese war durch die Beobachtung motiviert, dass die ermittelten kausalen nachdem-Sätze zur Vorfeld-Position tendieren. In der Forschung wurde mehrfach empirisch gezeigt, dass da-Nebensätze häufiger das Vorfeld besetzen als weil-Nebensätze (s. FROHNING 2007: 124; BREINDL / WALTER 2009: 107). Überdies ist nachdem, genauso wie da, nicht fokussierbar (BREINDL / VOLODINA / WASSNER 2014: 865; PITSCH 2016). (4)

a.

b.

Peter ist zu Hause geblieben, *DA/WEIL und nicht OBWOHL er krank ist. (zitiert nach BREINDL / VOLODINA / WASSNER 2014: 865) Peter ist zu Hause geblieben, *NACHDEM und nicht OBWOHL er krank ist.

Um zu überprüfen, ob kausales nachdem tatsächlich eine regionale Variante von da darstellt, werden die Tokenfrequenzen der kausalen Subjunktoren weil, da und nachdem in den Plenarprotokollen der Landtage verglichen. Zum anderen wird in diesem Artikel die in den konzeptionell eher mündlichen Protokollen gewonnenen Befunde mit der Verwendung von nachdem in einer konzeptionell schriftlicheren Textsorte, nämlich regionalen Zeitungen, verglichen. Dabei geht es um die Frage, ob kausales nachdem ein eher mündliches oder eher schriftliches Phänomen darstellt. Im folgenden Abschnitt (1.2) wird zunächst in Anlehnung an GILLMANN (2018) erörtert, wie kausale Bedeutung methodisch von kausaler Implikatur unterschieden werden kann. In diesem Zusammenhang wird auch die Rolle von Tempus diskutiert (Abschnitt 1.3). Abschnitt (2) stellt sodann das methodische Vorgehen bei der Korpusuntersuchung (Abschnitt 2.1) und die dabei gewonnen Ergebnisse dar (Abschnitte 2.2–2.4). Ein abschließender Exkurs betrachtet kausales nachdem in kommunalpolitischen Zeitungsrubriken (Abschnitt 3).

1.2

Operationalisierung der kausalen Funktion in Abgrenzung zur Implikatur

Mit Blick auf die hier geplante empirische Untersuchung von nachdem sind vor allem die Kontexte relevant, die kein temporales Verständnis erlauben. Die Identifikation dieser isolierenden Kontexte dient dazu, eine kausale Implikatur von der kausalen Bedeutung abgrenzbar zu machen. In der bestehenden (Grammatikalisierungs-)Forschung wird als Abgrenzungskriterium häufig die Aktionsart des Verbs ins Spiel gebracht. Etwa begrün-

Kausales nachdem in Plenarprotokollen und regionalen Zeitungen

131

den BREINDL / VOLODINA / WASSNER (2014: 102) die kausale Lesart in (5)7 mit dem stativen Prädikat (ähnlich KÖNIG / TRAUGOTT 1991). (5)

Er ist überzeugt, daß der alte, erfahrene Arzt nun ganz besonders gut über ihn Bescheid wissen werde, nachdem die Wassersucht doch offenbar „in der Familie liege“. (MK1/WBO, Bamm Ex ovo, S. 43, aus BREINDL / VOLODINA / WASSNER 2014: 102)

PITSCH (2016) geht davon aus, dass grammatische Faktoren die kausale Lesart von der temporalen abgrenzen. Als relevantes Merkmal nennt sie Imperfektivität, die sie im Dt. bei allen Verben im Präsenstempus gegeben sieht. Darauf, dass Präsenstempus oder ein atelisches Verb keine hinreichenden Anhaltspunkte für die kausale Lesart bieten, machen BREINDL / VOLODINA / WASSNER (2014: 330) aufmerksam: Präsens im internen Konnekt wird mitunter als Garant für kausale Interpretation angesehen (so bei BEHAGHEL 1928: 215, ENGEL 1988: 261 und WEINRICH 1993: 748); das trifft jedoch nicht zu: Erstens kann es, bei atelischen Sachverhalten, in der Lesart des Resultats eines telischen Sachverhalts interpretiert werden und zweitens kann das Präsens auch im Sinne eines historischen (tabellarischen, szenischen o.ä.) Präsens verwendet sein.

Der in (6) zitierte Beleg, der aus der im Folgenden präsentierten Korpusstudie stammt, zeigt, dass weder das Präsenstempus noch Stativität oder Imperfektivität des Prädikats ein eindeutiges Identifikationsmerkmal der kausalen Bedeutung bilden. So schließt das stative (und somit imperfektive) Prädikat in (6) die temporale Lesart des nachdem-Satzes nicht aus, obwohl beide Sätze ein präsentisches Verb enthalten. (6)

Temporal Nachdem der bisherige Bezirksschornsteinfegermeister Marco Fasel einen neuen Wirkungskreis im Westerwald hat, übernimmt Markus Fuchs damit erstmals einen eigenen Kehrbezirk. Bislang war er als Meistergeselle in Rodenbach, Altwied und Irlich tätig. (RHZ13/JAN.03386 RZ, 04.01.2013, S. 16)

In GILLMANN (2018) habe ich argumentiert, dass zur Identifikation kausaler nachdem-Sätze die Unterscheidung zwischen Individual-Level- und Stage-Level-Prädikaten, wie sie von CARLSON (1977: 104; s. auch KRATZER 1995; JÄGER 1999) eingeführt wurde, dienlich ist. Gemäß CARLSON treffen Prädikate entweder Aussagen über (zeitlich begrenzte) Phasen („stages“) oder Individuen („individuals“), vgl. (7)–(9).

7

Die Interpretation des Beispiels als stativ ist etwas problematisch, da in der Familie liegen ein Phraseologismus mit metaphorischer Bedeutung ist.

132

Melitta Gillmann

(7)

a. b. c.

Bill is a linguist/intelligent/incredible. Bill hates/loves/admires/fears frogs. Bill runs fast.

Individual-Level Individual-Level Individual-Level

(8)

a. b.

Bill is available/drunk. Bill is running fast.

Stage-Level Stage-Level

(9)

Bill rennt schnell.

ambig

Individual-Level-Prädikate wie unter (7) beziehen sich auf das Subjekt als Individuum und bezeichnen dessen inhärente und permanente Eigenschaften (z.B. Linguist/intelligent sein). Stage-Level-Prädikate wie unter (8) bezeichnen hingegen spezifische Phasen, in denen das Subjekt (hier Bill) in einem (nur begrenzt andauernden) Zustand ist (z.B. betrunken sein) oder einer Aktivität nachgeht (z.B. schnell rennen). Während im Englischen mithilfe der Progressivform in präsentischen Sätzen zwischen Individual-Level und Stage-Level unterschieden werden kann, sind präsentische Sätze im Dt. häufig ambig. Hier muss der Kontext herangezogen werden, um eine Unterscheidung zu treffen. Da Individual-Level-Prädikate immer gültige Eigenschaften beschreiben, lassen sie sich nicht in eine zeitlich sequentielle Ereigniskette eingliedern, wie sie für das temporale nachdem typisch ist. Somit ist in diesen Belegen eine temporale Interpretation ausgeschlossen. BREINDL / VOLODINA / WASSNER (2014: 331) bezeichnen vergleichbare Kontexte als „atemporale Prädikate“, die eine kausale Lesart von nachdem „erzwingen“. D.h. nachdem-Sätze, die ein Individual-Level-Prädikat (bzw. ein atemporales Prädikat) enthalten, sind ausschließlich kausal interpretierbar. Sie deuten auf eine Kontextextension hin, die nur in Folge einer Bedeutungsverschiebung möglich ist. Dies wird an den folgenden Beispielen meiner Korpusstudie illustriert:8 (10) Kausal a. Ab 1. Juni ist Doris Hierstand als Kleinregionsmanagerin für die Wienerwald Initiativ Region (WIR) tätig [...] „Nachdem ich ein kontaktfreudiger Mensch und als aktives Mitglied verschiedenster Vereine und Organisationen mit der Region des Wienerwaldes sehr verwurzelt bin, möchte ich hier meine Ideen einbringen“, so die neue Kleinregionsmanagerin. (NON10/JUN.01465 NÖN, 02.06.2010) b. Gespräche mit Hotelketten habe es zwar gegeben, aber ohne Erfolg: „Die sehen nicht die Stadt allein, sondern die Region als Ganzes. Und nachdem es da viele Betten gibt, findet sich niemand, der ein Hotel bei uns bauen würde.“ (NON10/JAN.03636 NÖN, 12.01.2010, S. 9) 8

Auch der aus PITSCH (2016) zitierte Beleg (3) lässt sich als Individual-Level-Prädikat interpretieren.

Kausales nachdem in Plenarprotokollen und regionalen Zeitungen

133

Die nachdem-Sätze in (10) z.B. enthalten ein Individual-Level-Prädikat (Ich bin ein kontaktfreudiger Mensch, es gibt da [in der Region] viele Betten). Dies schließt eine temporale Interpretation aus. Abb. 1 veranschaulicht an einem Beispiel die für temporale nachdem-Sätze charakteristische zeitliche Struktur. Diese zeichnet sich durch die sequentielle Abfolge individuierbarer Ereignisse aus. Abb. 2 zeigt, dass eine solche temporale Abfolge nicht gegeben ist, wenn der nachdem-Satz ein Individual-Level-Prädikat enthält, weil hier kein abgrenzbares Ereignis vorliegt, das in eine temporale Reihenfolge gebracht werden könnte. Nachdem ich mir die Zähne geputzt habe, gehe ich schlafen.

Zähne putzen

schlafen gehen

Abb. 1: Zeitliche Struktur bei temporalen nachdem-Sätzen (mit Stage-Level-Prädikat)

Nachdem ich ein kontaktfreudiger Mensch bin, freue ich mich auf die neue Aufgabe. Ich bin ein kontaktfreudiger Mensch

Ich freue mich auf die neue Aufgabe Abb. 2: Zeitliche Struktur bei kausalen nachdem-Sätzen (mit Individual-Level-Prädikat)

Neben diesen eindeutig kausalen Sätzen gibt es viele ambige Fälle, die sowohl temporal als auch kausal analysierbar sind. Hier ist nicht letztendlich entscheidbar, ob die SprecherInnen ausschließlich eine kausale oder eine temporale Beziehung zum Ausdruck bringen wollen. In der vorliegenden Untersuchung werden diese Fälle als ambig annotiert, auch wenn einige Belege stärker zur Temporalität zu tendieren scheinen (vgl. 11a), andere stärker zur Kausalität (vgl. 11b). Die Interpretation der Sätze ist wahrscheinlich individuell und auch von der regionalen Herkunft der SprecherInnen abhängig. Deshalb war eine Differenzierung zwischen diesen Fällen methodisch nicht leistbar. Sätze, in denen eine kausale Relation aufgrund von Weltwissen ausgeschlossen werden konnte, wurden als temporal annotiert (s. 12). Als Indikatoren für die rein temporale Lesart dienen außerdem temporale Adverbiale. So betont die NP Eine Woche in (13) die temporale Relation zwischen den Ereignissen im Adverbial- und im Matrixsatz.

134

Melitta Gillmann

(11) a.

b.

Temporal/Kausal [...] unsere SPD im Landtag ist, nachdem der Vorschlag von der Genossin aus Berlin gekommen ist, [...] abgetaucht. (PRP/W13.00101 Rheinland-Pfalz am 19.01.2000) Temporal/Kausal Zwei Lenkerinnen verletzt: Zusammenstoß/Kollision im Kreuzungsbereich, nachdem eine Autofahrerin ein Auto übersehen haben dürfte. (NON13/JAN.00999 NÖN, 03.01.2013)

(12) Temporal Nachdem er den Brief jahrzehntelang aufbewahrt hatte, gab Cricks Sohn Michael ihn nun zur Versteigerung frei. (HAZ13/APR.00528 HAZ, 12.04.2013) (13) Temporal Eine Woche nachdem das britische Außenministerium vor Reisen in die libysche Stadt Bengasi gewarnt hat, ist Premierminister David Cameron selbst nach Libyen gereist. (HAZ13/FEB.00025 HAZ, 01.02.2013) Für die Unterscheidung zwischen den Lesarten von nachdem ergeben sich demnach folgende Kategorien und Erkennungsmerkmale: Annotationskategorie Temporal

Temporal/Kausal

Kausal

Erkennungsmerkmale – Kausalzusammenhang aufgrund von Weltwissen logisch ausgeschlossen – Temporales Adverbial oder Korrelat im Matrixsatz – Kausalzusammenhang ist erkennbar, Ereignisse im Haupt- und Nebensatz stehen aber auch in einer temporalen Reihenfolge – Nebensatz enthält ein Individual-Level-Prädikat; eine zeitliche Abfolge ist somit ausgeschlossen

Tab. 2: Annotationskategorien für die qualitative Analyse von nachdem (s. auch GILLMANN 2018: 499)

1.3

Tempus

Tempus bietet allenfalls einen indirekten Hinweis auf die Funktion von nachdemSätzen (vgl. BREINDL / VOLODINA / WASSNER 2014: 330). Denn die temporale Interpretation ist auch in Sätzen mit Präsenstempus nicht ausgeschlossen, wie Satz 14 zeigt, der ein historisches Präsens enthält (vgl. auch das Beispiel 6). D.h. es kann nicht vom Vorliegen eines Präsenstempus auf eine kausale Funktion geschlossen werden.

Kausales nachdem in Plenarprotokollen und regionalen Zeitungen

135

(14) Präsens Kausal/Temporal Nachdem Ortsvorsteher Franz Krämer (Franz-Josef Butzen) nicht nur durch seinen Gemeindediener Karl Josef „Jippes“ (Patrick Burg) und seinen vergessenen Hochzeitstag unter reichlich Stress gerät, können weder die Pillen seiner Frau Helene (Elke Henrichs) noch das Organisationstalent seiner Sekretärin Hannelore (Andrea Hochscheid) das drohende Chaos verhindern. (RHZ13/JAN.01005 RZ, 02.01.2013, S. 18) Auch kann ein präsentischer Sachverhalt im nachdem-Satz dazu dienen, Vorzeitigkeit zu einem in der Zukunft stattfindenden Ereignis herzustellen (vgl. 15): (15) Präsens Temporal Er wird seine Glasbilder und seine Technik am Sonntag, 27. Januar, ab 14 Uhr in einer Finissage vorstellen, nachdem im Treffpunkt Cafeteria ab 11 Uhr das Neujahrskonzert der Kreismusikschule Mayen-Koblenz stattfindet. (RHZ13/JAN.02959 RZ, 04.01.2013, S. 19) Allerdings enthalten Individual-Level-Prädikate, die oben als Identifikationsmerkmale für die echt kausale Funktion identifiziert wurden, i.d.R. ein Präsenstempus (vgl. 16)9. Somit besteht ein indirekter Zusammenhang zwischen Lesart und Tempuswahl. (16) Präsens Kausal Die Frau Landeshauptmannstellvertreterin hat das [...] so formuliert, dass in Wahrheit vermutlich ein Viertel des NÖ Landtages schon CannabisKontakte gehabt haben muss [...] Nämlich dass rund 25 Prozent der Bevölkerung Cannabis-Konsum, zumindest Cannabis-Kontakte gehabt haben muss. Nachdem wir, wie ich hoffe, ein Spiegel der Gesellschaft sind, meine ich, wäre das durchaus eine Möglichkeit. (PNO/W15.00025 Niederösterreich. 2000, S. 195–280) Im Folgenden wird untersucht, ob Sprachregionen, die die rein kausale Funktion von nachdem erlauben, einen höheren Anteil an Präsenstempora aufweisen.

9

Genauso die unter (10) zitierten Beispiele.

136

Melitta Gillmann

2

KORPUSUNTERSUCHUNG IN PLENARPROTOKOLLEN UND REGIONALZEITUNGEN 2.1

Methodologie: Korpusauswahl und Untersuchung

Um die Funktion von nachdem im dt. regionalen Standard zu untersuchen und dabei auch mögliche Textsortenunterschiede zu ermitteln, habe ich eine Korpusuntersuchung im Deutschen Referenzkorpus10 (DeReKo) des IDS Mannheim durchgeführt. Hier wurde ein Subkorpus aus den Plenarprotokollen deutscher und eines österreichischen Landtages (vgl. GILLMANN 2018) sowie ein Subkorpus aus regionalen Zeitungen erstellt. Parlamentsprotokolle sind problematisch mit Blick auf ihre Einordnung im Kontinuum zwischen medialer bzw. konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit (KOCH / OESTERREICHER z.B. 1985, 1994). Eine Rede wird zwar mündlich vorgetragen, dabei orientieren sich die RednerInnen aber an zuvor schriftlich fixierten Stichpunkten. Schließlich wird die Rede von StenographInnen in Form von Protokollen schriftlich festgehalten. Anschließend ist es ihre Aufgabe, ungrammatische Sätze zu verbessern, dabei sollen jedoch syntaktische Eigenheiten der SprecherInnen bewahrt bleiben (BURKHARD 2003: 522). Gemäß ELSPASS (1998) repräsentieren die Texte daher keine konzeptionelle Mündlichkeit. Dennoch fällt bei der Analyse der Belege auf, dass die Sprache der Protokolle Züge der Mündlichkeit aufweist. Deshalb werden die Protokolle im Vergleich zu den ebenfalls analysierten Zeitungstexten als konzeptionell mündlicher bewertet. Leider lässt sich in den Protokollen nicht nachvollziehen, welche Teile des Textes aus der ursprünglichen Rede stammen und was durch die StenographInnen verbessert wurde. Ein Vorteil der Textsorte für die vorliegende Untersuchung ist, dass die Protokolle aus den Landtagen unterschiedlicher Bundesländer stammen und damit die Untersuchung verschiedener regionaler Standardsprachen ermöglichen. Da kausales nachdem als süddt. Sprachmerkmal gilt, wurde bei der Auswahl der Parlamente ein süddt. Schwerpunkt gelegt. Speziell wurden Reden aus Bayern und BadenWürttemberg ausgewählt. Da Niederösterreich das einzig österreichische Landtagsparlament ist, das in DeReKo zugänglich ist, musste sich die Untersuchung der österreichischen Standardsprache auf dieses Bundesland beschränken. Um zu untersuchen, wie weit kausales nachdem in den Norden reicht, wurden die drei mdt. Bundesländer Rheinland-Pfalz, Hessen und Thüringen ergänzt. Da kausales nachdem im Norddt. nicht erwartet wird, wurde Hamburg als einziges norddt. Bundesland hinzugenommen. Mit der Zeitungssprache wird ein konzeptionell schriftlicheres Korpus herangezogen, um mögliche Textsortenunterschiede zu ermitteln. Hier wird mit EISENBERG (2007: 217) angenommen, dass die Pressetexte den geschriebenen Standard repräsentieren. Die Zeitungstexte werden i.d.R. von einem/r LektorIn redigiert, sodass Vorkommen von kausalem nachdem als Indikator für dessen Ak10 ; Stand: 31.03.2018.

Kausales nachdem in Plenarprotokollen und regionalen Zeitungen

137

zeptanz gewertet werden können. Überdies ermöglicht eine Eingrenzung auf Regionalzeitungen auch im Zeitungskorpus eine regionale Differenzierung. Zunächst wurde eine quantitative Untersuchung durchgeführt. Hierfür wurden die reinen Frequenzen von weil, nachdem und da verglichen, um mögliche Konkurrenzen der Subjunktoren in speziellen Sprachlandschaften zu ermitteln. Dabei wurden neben nachdem auch weil und da gesucht. Da das Korpus der Parlamentsreden nicht POS-annotiert ist, wurde nach den entsprechenden Lemmata (nachdem, weil, da) gesucht. Für da wurden die Verwendungen als Adverb (z.B. Da kommen Sie daher...) händisch aussortiert, damit in den präsentierten Ergebnissen nur True Positives, d.h. da als Subjunktor, enthalten sind. Für die Untersuchung der Zeitungssprache konnte das morphosyntaktisch annotierte Archiv TAGGEDC2 zugrunde gelegt werden. In der anschließenden qualitativen Untersuchung wurde die Funktion der nachdem-Sätze nach den in Tab. 2 dargelegten Kategorien bestimmt sowie Tempus annotiert. Dabei wurden aus jedem Protokoll 100 Belege aus dem Jahr 2000 analysiert. Einzig in Hamburg erbrachte die Abfrage für das Jahr 2000 nur 86 echte Treffer. Tab. 3 bietet eine Übersicht über die Stichprobe. Region Norden

Bundesland Hamburg

Jahr 2000

Untersuchte Token 86

Mitte

Thüringen

2000

100

Hessen

2000

100

Rheinland-Pfalz

2000

100

Baden-Württemberg (Ba-Wue)

2000

100

Bayern

2000

100

Niederösterreich

2000

100

Süden

gesamt

686

Tab. 3: Auswahl der Stichprobe in den Parlamentsreden (vgl. GILLMANN 2018)

Die Auswahl der Zeitungen erfolgte mit der Zielsetzung, die durch die Plenarprotokolle repräsentierten mittel- und süddt. Areale ungefähr abzudecken. Da im annotierten Archiv TAGGED-C2 nicht alle Jahrgänge aller Zeitungen zur Verfügung standen, wurde das Jahr 2013 als Untersuchungszeitpunkt ausgewählt. Auch aus jeder Zeitung wurde eine Strichprobe von 100 Belegen qualitativ annotiert. Eine Übersicht findet sich in Tab. 4. Um die Zuverlässigkeit der Annotationskategorien zu prüfen, wurden die Belege unabhängig von zwei AnnotatorInnen analysiert. Die daraus resultierenden Ergebnisse wurden mithilfe eines statistischen Maßes der Annotatorenübereinstimmung verglichen.

138

Melitta Gillmann

Zeitung Rhein-Zeitung Mannheimer Morgen Nürnberger Zeitung Niederösterreichische Nachrichten gesamt

Sprachregion Mitteldeutsch (Rheinland-Pfalz/Hessen) Süd-/Mitteldeutsch (Baden-Württemberg) Süddeutsch (Bayern) Süddeutsch (Österreich)

Jahr 2013

Untersuchte Token 100

2013

100

2013 2013

100 100

400

Tab. 4: Auswahl der Stichprobe in den Regionalzeitungen

2.2 Quantitative Analyse: Tokenfrequenz von nachdem im Vergleich zu da und weil Zunächst wurden die allgemeinen Tokenfrequenzen von nachdem, da und weil in den Plenarprotokollen ermittelt. Die Frequenzen sind deshalb interessant, weil erwartet wird, dass nachdem häufiger auftritt, wenn es auch kausale Funktion erlaubt. Als polysemer Subjunktor weist nachdem nämlich ein breiteres Funktionsspektrum auf, als wenn es nur temporal gebraucht wird. Dies kann zu einer erhöhten Frequenz führen. Überdies soll durch den Frequenzvergleich der Subjunktoren ermittelt werden, ob kausales nachdem in einer bestimmten Region einen anderen Subjunktor ersetzt. Bei diesem Vergleich ist jedoch zu bedenken, dass nachdem polysem ist, die anderen beiden Subjunktoren aber nicht. Die Ergebnisse sind daher unter Vorbehalt zu betrachten. Region

Bundesland

Textwörter

nachdem abs.

Nord Mitte

Süd

Hamburg Thüringen Rheinland-Pfalz Hessen Niederösterreich BadenWürttemberg Bayern

da pro 1 Million

abs.

weil pro 1 Million

abs.

pro 1 Million

1.013.220 1.417.688 940.464 1.933.707 747.332 1.274.979

86 160 132 326 110 233

84,9 112,9 140,4 168,6 147,2 182,7

263 512 307 381 161 163

259,6 361,2 326,4 197 215,4 127,8

1535 1698 1.211 2600 1272 1816

1.515 1.198 1.288 1.345 1.702 1.424

1.037.940

349

336,2

282

271,7

1366

1.316

Tab. 5: Tokenfrequenz von nachdem, da und weil in den Plenarprotokollen (Jahr 2000)

Insgesamt zeigen die Ergebnisse (s. Tab. 5) nur schwache Tendenzen. Wenig überraschend stellt weil in allen Regionen den weitaus frequentesten Subjunktor dar. Nachdem tritt am häufigsten in Bayern und Baden-Württemberg auf (336 und 183 Token pro 1 Million Textwörter), in Niederösterreich zeigt der Konnektor ähnliche Frequenzverhältnisse wie in den mitteldt. Bundesländern (für eine mögliche Erklärung s. unten). Da ist nur in Bayern und Baden-Württemberg seltener

Kausales nachdem in Plenarprotokollen und regionalen Zeitungen

139

als nachdem. In Bayern ist dies aber v.a. durch die hohe Frequenz von nachdem bedingt (336 Token pro 1 Million), die Tokenfrequenz von da liegt hier im Durchschnitt. Signifikant seltener ist der Subjunktor da nur in Baden-Württemberg (128 Token pro 1 Million Textwörter). Es wird deutlich, dass allein die Auswertung der Frequenzen keine hinreichenden Rückschlüsse über mögliche Konkurrenzen unter den Subjunktoren erlaubt. Hier sind weitere qualitative Analysen erforderlich, die einen Vergleich mit Blick auf die Art der Kausalität und die Verknüpfungsebene vornehmen (vgl. etwa BREINDL / WALTER 2009). Auf den ersten Blick scheint es gegen die Vermutung einer oberdt. Tendenz zu kausalem nachdem zu sprechen, dass sich die für Österreich ermittelten Frequenzverhältnisse nicht wesentlich von den Verhältnissen in Mittel- und Norddeutschland unterscheiden. Dieser Punkt wird im Rahmen der qualitativen Analyse wieder aufgegriffen (Abschnitt 2.3).

2.3

Qualitative Analyse: Lesarten von nachdem

Für die qualitative Analyse wurden jeweils 100 nachdem-Sätze pro Landtag und Zeitung nach den in Abschnitt 1.2 beschriebenen Kategorien annotiert. Bei der Annotation der Plenarprotokolle erzielten die AnnotatorInnen eine sehr gute Übereinstimmung (Cohens Kappa11: 0,876). Tab. 6 präsentiert die Ergebnisse. Die Daten zeigen deutlich, dass sich die rein kausale Funktion auf die süddt. Standardsprache konzentriert. Ein Schwerpunkt liegt auf Niederösterreich (41 von 100 Belegen), in Bayern werden 19 Sätze als eindeutig kausal annotiert. Etwas seltener ist rein kausales nachdem in Baden-Württemberg nachweisbar (10 von 100 Belegen). In den mitteldt. Protokollen findet sich lediglich ein einziger Beleg in Rheinland-Pfalz. Auch in Hamburg tritt ein kausaler Beleg auf, der allerdings von einer aus Baden-Württemberg stammenden Sprecherin geäußert wurde. Gemäß einem Fisher-Exact-Test sind die funktionalen Unterschiede zwischen Südund Mitteldeutschland hochsignifikant (p Subjekt als Alternative neben der Abfolge Subjekt > Objekt belegt (vgl. FLEISCHER 2015; WEISS 2016). FREY (2006) argumentiert für das Standarddeutsche, dass die Pragmatik der Elemente des Mittelfelds erhalten bleibt, wenn sie ins Vorfeld bewegt werden. Für ebengenannte bairische Varietäten würde solch eine Analyse auch unbetonte Pronomina im Vorfeld voraussagen. Interessant ist außerdem die Position des Pronomens nach Partikeln oder Adverbien. Diese geht im Standarddeutschen mit obligatorischer Fokussierung einher (7a–b). Laut WEISS (1998: 98) zeigt das Bairische eam ein davon abweichendes Verhalten. An der Position nach der Partikel muss die Form nicht obligatorisch betont werden (7c). Da die Vollform an sich schon markiert ist, reicht eine Stellungsalternation allein nicht für die Fokussierung des Pronomens aus. (7)

a. b. c.

Hat sie ihn etwa gesehen? Hat sie etwa ihn gesehen? Hod’s ebba eam gseng?

Insgesamt zeigt sich also eine Zweiteilung des Paradigmas mit dem Klitikum als unselbständige, unbetonte Form einerseits und dem Vollpronomen als selbständige, betonbare Form andererseits.

Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam

157

Besonderes Interesse gilt im Rahmen dieser Arbeit der Wackernagelposition, an welcher beide Formen alternieren, vgl. Beispiel (1), das hier wiederholt wird als (8). Der weitere Verlauf widmet sich der Erforschung derjenigen Parameter, die zu dieser Alternation beitragen. (8)

a. b.

I hob eam gseng. I hob =n gseng. ‘Ich habe ihn gesehen.’

4

SEMANTISCHE DISTRIBUTION

Neben den morphosyntaktischen und pragmatischen Faktoren wird in der jüngeren Literatur eine Belebtheitsrestriktion für die Vollform eam angeführt. Im Folgenden gehe ich auf zwei theoretische Modelle ein, die diesbezüglich herangezogen werden. FENK-OCZLON (2015: 87) bringt die pronominale Vollform mit belebtheitsbasierter Differentieller Objektmarkierung in Verbindung. Die Form eam, die sie als Dativform bezeichnet, ist in ihrer Analyse belebten direkten Objekten vorenthalten, während das Klitikum =n (oder die akkusativische Vollform ihn) nicht für Belebtheit spezifiziert ist. Klassischerweise bezeichnet der Begriff „Differentielle Objektmarkierung“ die unterschiedliche morphologische Kasusmarkierung direkter Objekte nach semantisch-pragmatischen Eigenschaften des Objekts, wie z.B. Belebtheit oder Spezifizität (BOSSONG 1985; AISSEN 2003). In einem breiteren Verständnis fällt darunter auch die Markierung des direkten Objekts mit unterschiedlichen Kasus (z.B. Akkusativ vs. Partitiv). Für das Bairische muss jedoch beachtet werden, dass nicht zwei gleichartige pronominale Formen miteinander verglichen werden, sondern eine Vollform mit einem Klitikum. Die Selektion hat deshalb nicht allein mit Belebtheit, sondern auch mit anderen Faktoren zu tun, wie bereits in Abschnitt 3 erörtert. Allerdings führt FENK-OCZLON eine weitere akkusativische Vollform ihn neben der Form eam für das synchrone Bairische an. Das ist aus der Dialektliteratur zu den bairischen Pronomina nicht bekannt. Ich lasse die Frage offen, ob es sich hierbei um eine aus dem Einfluss des Standards etablierte regionale Vollform handelt. Interessanterweise vermutet sie, dass unter seltenen Umständen auch unbelebte Objekte durch das Pronomen eam ausgedrückt werden können (2015: 87), was leider nicht weiter konkretisiert wird.1

1

Diesbezüglich sind interessante regionale Unterschiede zwischen bayerischen und österreichischen Varietäten des Bairischen zu vermuten. Ein anonymer Reviewer weist darauf hin, dass Referenz auf unbelebte Entitäten in österreichischen Varietäten systematisch der Fall zu sein scheint, vgl. den folgenden Internetbeleg: „Jemand steckte einen Finger in den Schnapsi und zündete ihni dann an: ,Siechst, wann ai blau brennt is a guat‘ und bekam als Antwort: ,i trink eami jo eh scho die ganze Zeit, fia mi hättast’ni net anzindn brauchn‘“ (aus: ; Stand: 12.12.2019).

158

Semra Kizilkaya

STANGEL (2015: 92) nimmt eine andere Argumentationsrichtung vor und weitet den Geltungsanspruch der Restriktion sogar sprachübergreifend aus: In Sprachen wie dem Bairischen, das auch klitische Formen aufweist, ist die Relation noch eindeutiger: Vollformen können nur auf belebte beziehungsweise menschliche Entitäten referieren, klitische Formen auch auf nicht-menschliche/unbelebte. Für das akkusativische eam ist also eine semantische Beschränkung festzustellen, die für eine klitische Form nicht gilt [.]

Dabei führt sie die Beispielsätze in (9) an und schließt eine Referenz der Vollform auf unbelebte Entitäten aus:

(9)

a. b.

Eam i hot=a gsehng. ‘Ihn hat er gesehen.’ Ea schreibt eam i. ‘Er schreibt ihn/ihm.’

i= den Mann, *den Stein i= dem Freund, *den Brief

Evidenz kommt für STANGEL (2015: 90–91) von zwei zentralen Argumenten, die an dieser Stelle knapp dargelegt werden sollen: In ihrer ersten Beobachtung koppelt sie den Dativ im Deutschen und in den germanischen Sprachen im Allgemeinen an eine starke Belebtheitspräferenz. Auf Basis von KRIFKA (2009) assoziiert sie Belebtheit als prototypische Eigenschaft von Dativargumenten (vgl. ALBER / RABANUS 2011). Wenn nun bei einem Kasussynkretismus die Dativform überlebt, wird das Belebtheitsmerkmal, so die Argumentation, auf das generalisierte Objektpronomen übertragen. Warum aber sollte die dativische Form als Vollpronomen für belebte Entitäten und die akkusativische Form als belebtheitsneutrales Klitikum erhalten bleiben? Hier kommt die zweite Beobachtung ins Spiel. Dafür zieht STANGEL (2015: 91–93) das einflussreiche Pronominalmodell von CARDINALETTI / STARKE (1999) heran, die eine universale Dreiteilung von Personalpronomina in stark, schwach und klitisch vornehmen. Personalpronomen stark

defizient

schwach

klitisch

Abb. 2: Pronominale Dreiteilung nach CARDINALETTI / STARKE (1999)

Strukturell sind starke und schwache Pronomina DPs, Klitika sind Köpfe. Im Kontrast zu starken sind schwache Pronomina phonologisch defizient. Laut STANGEL (2015: 66) sind sie „nicht koordinierbar, nicht topikalisierbar, nicht modifizierbar und nicht in Kontrastfokus zu setzen.“ Die wichtigste Eigenschaft, die starke von schwachen Pronomina unterscheidet, ist jedoch eine semantische: Starke Pronomina tragen das Merkmal [+belebt],

Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam

159

wobei schwache Pronomina und klitische Formen diesbezüglich nicht spezifiziert sind und das Merkmal [±belebt] tragen. Daraus führt STANGEL (2015: 93) zusammen, dass Belebtheit die Schnittmenge semantischer Merkmale von Dativ und pronominaler Vollform bildet. Da sowohl Vollform als auch Dativ belebtheitsaffin sind, ist die dativische Form der 3SG.M Pronomina besser als ihr akkusativisches Äquivalent dazu geeignet, bei einem Kasuszusammenfall als Vollform erhalten zu bleiben. Auch WEISS, der unter anderem mit einer überarbeiteten Version des Pronominalmodells von CARDINALETTI / STARKE arbeitet, führt eine semantische Restriktion für das direkte Objektpronomen eam ein. Es findet sich kein Hinweis darauf, dass unter Umständen auch unbelebte Entitäten durch die Vollform eam ausgedrückt werden können: [A]llerdings ist das Klitikum bzgl. des Merkmals [belebt] unterspezifiziert, wohingegen die Vollform eam nur auf belebte Entitäten referieren kann. ( WEISS 2016: 124)

Sowohl der Kasuszusammenfall als auch das Pronominalmodell von CARDINALETTI / STARKE (1999) legen nahe, referenzsemantische Unterschiede der beiden Pronominalformen nach Belebtheit anzunehmen. Dennoch scheint mir eine absolute Belebtheitsrestriktion auf empirischer und theoretischer Ebene noch nicht hinreichend motiviert. Zum einen fällt auf, dass die Diskurseigenschaften der Pronomina nicht miteinbezogen werden, obwohl sie im Modell von CARDINALETTI / STARKE (1999) relevant sind. Anders als von STANGEL (2015:66) behauptet, können zum Beispiel schwache Pronomina nach CARDINALETTI / STARKE (1999: 154) durchaus Kontrastfokus tragen, wenn sie diskursprominente Antezedenten aufweisen. Außerdem müssen schwache Pronomina an ihre Antezedenten diskursverknüpft bzw. d-linked werden, um referieren zu können. Da Vollformen, die auf unbelebte Entitäten referieren sollen, in diesem Modell schwach sind, ist grundsätzlich zu hinterfragen, ob eine absolute semantische Restriktion ohne jegliche Diskurseinbettung wie in (9) hinreichend begründet ist. Im Hinblick auf kontextisolierte Beispiele wie (9b) scheint es einschlägig, dass eine Lesart mit belebtem Antezedenten salienter ist. Zumal das Verb schreiben die Besonderheit aufweist sowohl den Akkusativ (mit unbelebtem Kreationsobjekt), als auch den Dativ (mit belebtem Rezipienten) zu regieren. In (9a) befindet sich das Vollpronomen eam im Vorfeld. An dieser Position kommt hinzu, dass Pronomina im Deutschen generell an eine Belebtheitspräferenz gekoppelt sind, wie das Beispiel (10) von CARDINALETTI (1999: 54–55) zeigt. Sie argumentiert, dass im Standarddeutschen nur starke Pronomina, die das Merkmal [+belebt] tragen, die Vorfeldposition besetzen können. Aus einer Belebtheitspräferenz im Vorfeld kann deshalb nicht auch auf eine semantische Restriktion am linken Rand des Mittelfelds geschlossen werden (11), wo starke und schwache Verwendungen alternieren. (10) a. b.

Sie hat er gestern eingeladen. *Sie hat er gestern gegessen.

160 (11) a. b.

Semra Kizilkaya

Er hat sie gestern eingeladen. Er hat sie gestern gegessen.

Zuletzt ist festzuhalten, dass es an umfassenden experimentellen Daten bzw. Korpusrecherchen zur Belebtheitsrestriktion fehlt. Bei FENK-OZCLON (2015: 87) findet sich außerdem der Hinweis, dass Referenz auf unbelebte Entitäten „in sehr spezifischen, seltenen Fällen“ möglich sei. Wie können diese seltenen, sehr spezifischen Fälle aussehen? Um der Relation zwischen Belebtheit und Vollform auf den Grund zu gehen, wurde zunächst eine Korpusrecherche durchgeführt. Diese soll im Folgenden vorgestellt werden.

5

KORPUSRECHERCHE IN KOLLMER (1989)

Für die Korpusrecherche habe ich KOLLMER (1989) herangezogen, eine umfangreiche Sammlung mündlicher Erzählungen, die als etabliertes Korpus für dialektologische Arbeiten zum Bairischen gilt. Die Erzählungen decken den Raum Niederbayerns nördlich der Donau, den Landkreis Cham in der Oberpfalz und den Raum südlich der Donau zwischen Passau und Regensburg (vgl. ROWLEY 1990: 99). Damit sind sie dem Westmittelbairischen zuzurechnen, das im Raum Regensburg an Nordbairisch angrenzt. Sie drehen sich um alltagsnahe Themen wie u.a. Familie, Essen, bäuerliche Arbeit, Hochzeit, Schule oder Natur. Das untersuchte Material umfasst ohne die standarddeutschen Übersetzungen nach Eigenschätzungen rund 60.000 Token. Darin enthalten sind 237 Erzählungen von insgesamt 65 Personen (34 männlich, 31 weiblich, Durchschnittsalter ca. 67 Jahre). Der Großteil des Materials sind Transkriptionen mündlicher Erzählungen. Es finden sich aber auch vereinzelt Gedichte oder schriftliche Erzählungen. Im Zentrum der Korpusrecherche steht folgende Hypothese, die sich aus der Literatur ableitet: Hypothese 1

Das bairische Objektpronomen eam kann nur auf belebte Entitäten referieren.

Da das Korpus nicht digitalisiert ist, musste ich es manuell durchsuchen. Zunächst wurden alle Funde für die Form eam erfasst und ihren syntaktischen Funktionen zugeordnet. Wie Tab. 2 zu entnehmen ist, sind in KOLLMER (1989) insgesamt 149 Belege für eam zu finden. Indirekte Objekte und Reflexiva machen zusammen 90% der Funde aus, wobei die Antezedenten ausnahmslos belebt sind. Diese funktionalen Kategorien zeichnen sich generell durch eine starke Belebtheitstendenz aus. Des Weiteren erscheint eam auch PP intern oder vereinzelt als Indefinitpronomen (Kategorie „Sonst“). Obwohl diese Funktionen nicht Schwerpunkt der Arbeit sind, wurden sie trotzdem erfasst, um den Synkretismus als Ganzes und die Häufigkeitsdimensionen der Verteilung zu begreifen. Wichtig ist, dass die Vollform in diesen Positionen keine Alternativen kennt. Nur in direkter Objektposition alter-

161

Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam

niert die Vollform eam mit dem Klitikum =n. Mit sieben Belegen konstituiert die Verwendung von eam lediglich 5% der Funde. KLITIKUM (n≈ 360) menschlich belebt unbelebt gesamt

≈ 120 ≈ 60 ≈ 180 ≈ 360 (100%)

Direktes Objekt

VOLLFORM (n= 149) Indirektes Reflexivum Sonst Objekt

3 4 7 (5%)

90 5 95 (64%)

36 2 38 (26%)

9 9 (5%)

= 100%

Tab. 2: Auswertung Klitika =n und Vollformen eam in KOLLMER (1989) nach Funktion und Belebtheit, Token: ≈ 60.000. n: Anzahl der Belege.

Da das Korpus manuell durchsucht wurde, hätte die Erfassung aller klitischen direkten Objekte den Rahmen der Untersuchung gesprengt. Stattdessen wurde eine Vergleichsstichprobe im Umfang von 3.206 Token (ca. 5%) analysiert, um das Gesamtvorkommen im Korpus zu schätzen. Wie erwartet, wird das Klitikum um ein Vielfaches häufiger gebraucht als die Vollform. Damit bestätigen die Ergebnisse, dass es die Normalform der Referenz darstellt. In (12)–(14) sind einige Beispiele mit Klitika in direkter Objektposition wiedergegeben: (12) und dea springd af und bakt an hea-god san houd und setzt=n af. ‘Dann springt er auf und packt den Herrgott seinen Hut und setzt ihn auf.’ (KOLLMER 1989: 342) (13) wen=a da ned kfoid, na loust=n wida voat-ge. ‘Wenn er dir nicht gefällt, dann lässt du ihn wieder fortgehen.’ (KOLLMER 1989: 418) (14) No hobma=n e-moha loussn. ‘Dann ließ man ihn (den Kübel) einmachen.’ (KOLLMER 1989: 418) In einem vergleichsweise großen Dialektkorpus wie KOLLMER (1989) sind lediglich sieben Instanzen des Vollpronomens eam zu finden. Umso überraschender ist aber, dass vier davon auf unbelebte Entitäten referieren. In (15) bis (17) gebe ich zunächst die drei Belege wieder, die auf belebte Entitäten referieren: (15) af oame wiad da vata krang, und eam hod ningks mea interässiad [...]. ‘Auf einmal wird der Vater krank, und ihn hat nichts mehr interessiert.’ (KOLLMER 1989: 414)

162

Semra Kizilkaya

(16) und east e da vrei, wenns do a-lät, lousts eam wida voin [...]. ‘Und erst in der Früh, wenn sie (die Morgenglocke) einläutet, lässt es (das wilde Tier) ihn wieder fallen.’ (KOLLMER 1989: 362) (17) dea hod eam a haisl baud, mia hamar eam kfon. ‘Der hat sich ein Haus gebaut, wir haben ihn gefahren.’ (KOLLMER 1989: 414) In (15) steht eam im Vorfeld, wo keine Alternation mit der klitischen n-Form möglich ist. In (16) und (17) befindet sich die Vollform in Wackernagelposition und es liegt nicht nahe, Fokusakzent oder eine andere Art von Markiertheit der Vollform anzunehmen. Die Belege (18) bis (20) zeigen nun Vollformen eam, die auf unbelebte Entitäten referieren und damit gegen eine absolute semantische Restriktion (Hypothese 1) sprechen: (18) do hobmar ainge kepfe-beha ghod, hoiwe-kepfe-beha und gandz-kepfe-beha. Do hobmar eam i (,) dem degli, wie eam i d wäwa brod hamand, demi hobma modn wossa zeasd as-bmessn [...]. ‘Da hat man eigene Köpfelbecher gehabt, Halb-Köpfel-Becher und GanzKöpfel-Becher. Da hat man ihn, den Tiegel, als ihn die Frauen gebracht haben, den hat man zuerst mit Wasser ausgemessen.’ (KOLLMER 1989: 218) (19) …und hint a hafa doudn-kepfii. nohand hodar oani gnuma und is ess wiatshas oi und hod ean i2 an disch hi-gsteid. ‘...und hinten ein Haufen Totenköpfe. Dann hat er einen genommen und ist ins Wirtshaus rein und hat ihn auf den Tisch (hin)gestellt.’ (KOLLMER 1989: 222) (20) …afs grawe broudi, do kanst singa; hed sogt ma, desi is a gift [...]. unsa nochba eant, dear is a zimara, und so hamands a af n blodz en nomitog af broud-zät an loa broudi hi-kreitkt, a-schnen hamands=n ned kina, no hodar eam i an stog hi-da, is draf-gneid und hod mid da spa-so owa-ksagld, des is gwis woa. Mai, wos ma do grabs broud gessn hama. ‘Man hat gesagt, auf das graue Brot, darauf kannst du singen. Heute sagt man, das sei Gift [...]. Unser Nachbar, der ist ein Zimmermann, und so hat

2

Überraschenderweise wird hier die historische Akkusativ-Vollform ean verwendet, die im Paradigma der Personalpronomina systematisch mit dem Dativpronomen zusammengefallen ist. Der Beleg geht auf eine der ältesten Erzählerinnen (Jahrgang 1899) in KOLLMER (1989) zurück. Die phonetischen Transkriptionen in KOLLMER sind sehr präzise; es könnte sich tatsächlich um eine Reliktform handeln. Da der Beleg eine Vollform verzeichnet, habe ich ihn mit aufgenommen.

Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam

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man wann immer am Nachmittag zur Brotzeit einen Laib Brot hingereicht, anschneiden konnte man ihn nicht, dann hat er ihn auf einen Hackstock gelegt, ist darauf gekniet und hat mit der Spannsäge davon (Brot) heruntergesägt, das ist gewiss wahr. Mei, was haben wir für ein graues Brot gegessen.’ (KOLLMER 1989: 294) In allen Funden befindet sich die Vollform am linken Rand des Mittelfelds. Mit Ausnahme des ersten kataphorischen Belegs in (18) ist auffallend, dass die jeweiligen Instanzen allesamt diskursprominente Antezedenten aufweisen. Das kataphorische eam in (18) ist Teil einer Hanging-Topik-Konstruktion mit der rechtsversetzten Nominalphrase den Tiegel. Die Vollform wird durch den Kontrastakzent auf dem Tiegel lizensiert. Auf dieses prominente Topik referiert der zweite Beleg in (18) anaphorisch. In Beispiel (19) ist der Totenkopf als Antezedent Diskurstopik bzw. „Question under Discussion“ (QUD) des Paragraphen. Das bestätigt die Behauptung von CARDINALETTI / STARKE (1999: 154), dass Referenz auf unbelebte Entitäten anaphorisch sein muss, also d-linked bzw. diskursverknüpft. Es bleibt jedoch trotzdem die Frage, warum in den Beispielen (16) bis (20) eine sehr seltene Vollform anstelle des unmarkierten Klitikums gewählt wird. Eine nähere Inspektion der Daten zeigt, dass ausnahmslos alle Funde mit der Vollform eam am linken Rand des Mittelfelds eine dynamische Ereignisstruktur aufweisen: das interne Argument ist „affiziert“, d.h. es erfährt Veränderung durch das Ereignis. Alle Vollpronomina stellen direkte Objekte von Verben dar, die eine Lokationsveränderung kodieren. Im Folgenden sind die Belege in verkürzter Form wiederholt: (16)' …lousts eam wida voin... ‘…lässt es ihn wieder fallen…’ (17)' ...mia hamar eam kfon... ‘...wir haben ihn gefahren...’ (18)' ...wie eam d wäwa brod hamand... ‘...als ihn die Frauen gebracht haben...’ (19)' ...hod ean an Disch hi-gsteid... ‘...hat ihn auf den Tisch (hin)gestellt...’ (20)' ...no hodar eam an stog hi-da... ‘...dann hat er ihn auf den Hackstock (hin)gelegt...’ An dieser Stelle möchte ich die Hypothese postulieren, dass Verbsemantik mit pronominaler Realisierung interagiert. Da die Anzahl der Treffer gering ist, kann solch eine Schlussfolgerung natürlich nur begrenzt gezogen werden. Um die Relation von Verbsemantik und pronominaler Form zu testen, wurde deshalb eine Fra-

164

Semra Kizilkaya

gebogenstudie durchgeführt. Zuvor möchte ich jedoch in das semantische Konzept von Affiziertheit einführen.

6

AFFIZIERTHEIT UND BAIRISCHE PRONOMINA 6.1

Was ist Affiziertheit?

Affiziertheit ist eine zentrale linguistische Kategorie, um direkte Objekte zu charakterisieren und wird oft mit lexikalischem Aspekt und Transitivität in Verbindung gebracht (TENNY 1994; HOPPER / THOMPSON 1980). In DOWTYS (1991) Proto-Rollen-Modell zur Argumentrealisierung, bezeichnet sie das Gegenstück zu Agentivität und vereint die typischen Patienseigenschaften. Im Wesentlichen können affizierte Objekte als Objekte beschrieben werden, die von dem Ereignis betroffen sind bzw. durch das verbale Ereignis Veränderung erfahren. BEAVERS (2011) stellt eine Hierarchie von Affiziertheit mit vier Graden auf, die in Beispiel (21) mit abnehmender Affiziertheit des Objekts von a–d instanziiert wird. (21) a. b. c. d.

Peter zerschlug die Tasse. Peter kürzte die Hose. Peter wischte den Esstisch. Peter sah den Esstisch.

quantisierte Veränderung nicht-quantisierte Veränderung potentielle Veränderung nicht spezifiziert für Veränderung

Der höchste Grad an Affiziertheit (quantisierte Veränderung) wird von verbalen Prädikaten wie zerschlagen, bringen oder töten eingenommen. Sie kodieren einen Zustandswechsel ihres Themaarguments und sind lexikalisch telisch. Objekte dieser Verben erlangen einen bestimmten Zielzustand durch das Ereignis, den sie zuvor nicht hatten. Im Gegensatz dazu kodieren verbale Prädikate wie kürzen oder wärmen nur einen Zustandswechsel zu einem unbestimmten Grad und damit zu einem unbestimmten Zielzustand (nicht-quantisierte Veränderung). Das Kürzen einer Hose setzt als Resultat nicht voraus, dass die Hose kurz ist, wobei das Töten einer Person sehr wohl als Resultat voraussetzt, dass die Person tot ist. In (21a) könnte eine Skala, die die Veränderung des Themaarguments messen soll, als geschlossen, und in (21b) als offen konzeptualisiert werden. Eine dritte Gruppe von Verben wie wischen oder treten kodiert lediglich potentielle Veränderung bzw. potentielle Affiziertheit. Ein wischen Ereignis setzt keine obligatorische Veränderung der Beschaffenheit bzw. Sauberkeit seines Objekts voraus. Für Objekte dieser Verben wird kann ein neuer Zielzustand eintreten, wird aber nicht vorausgesetzt. Zuletzt stehen am unteren Ende der Hierarchie verbale Prädikate wie sehen oder winken, die keinerlei Veränderung ihrer Argumente lexikalisch kodieren (21d). Objekte solcher Verben sind nicht affiziert. Für diese Klassifikation ist nebensächlich, ob das Themaargument seine Lokation (bringen) oder seinen Zustand (zerschlagen) verändert. Jedes dynamische Verb prädiziert eine eigene Skala, die die Dimension der Veränderung ausdrückt. Entscheidend ist jedoch nicht die Dimension der Veränderung (Lokationsverände-

Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam

165

rung vs. Zustandsveränderung), sondern die Spezifizität des Verbs über den Endpunkt der Veränderung, also den Zielzustand des Arguments auf der Skala. Damit ist Affiziertheit nach BEAVERS ein relationales Konzept, das die Beziehung zwischen einem Themaargument beschreibt, dem Veränderung widerfährt und einer Skala, die den Grad der Veränderung misst. Für eine formalsemantische Beschreibung definiert BEAVERS (2011: 351) einen Operator result'. Dieser Operator drückt für ein Ereignis, das durch ein Prädikat beschrieben wird, aus, dass g der Zielzustand eines Themaarguments x auf der Skala s ist, genau dann, wenn x von einem kontextuell bestimmten Zustand am Anfang des Ereignisses zu einem neuen Zustand g am Ende des Ereignisses übergeht. Vor diesem Hintergrund setzen sich die vier Grade von Affiziertheit wie folgt zusammen (BEAVERS 2011: 358): (22) a.

b.

c.

d.

x erfährt quantisierte Veränderung genau dann, wenn ∃ ∃ [ , , , ] (z.B. x zerschlagen, bringen, töten) x erfährt nicht-quantisierte Veränderung genau dann, wenn ∃ ∃ ∃ [ , , , ] (z.B. x kühlen, kürzen, wärmen) x erfährt potentielle Veränderung genau dann, wenn ∃ ∃ ∃ [ , , ] (z.B. x wischen, treten, schlagen) x ist nicht spezifiziert für Veränderung genau dann, wenn ∃ ∃ [ , ] (z.B. x sehen, winken, riechen)

Damit beruht die Affiziertheitshierarchie auf monoton fallenden Wahrheitsbedingungen. Das interne Argument x von Prädikaten φ, die quantisierte Veränderung kodieren, erfährt Veränderung zu einem spezifischen Zielzustand gspez auf einer Skala s (22a). Diese Verben sind lexikalisch telisch. Nicht quantisierte Veränderung bezeichnet eine existentielle Generalisierung über den Zielzustand quantisierter Veränderung (22b). (22c) wiederum stellt eine existentielle Generalisierung über die -Relation zwischen Argument, Skala und Ereignis dar (BEAVERS 2011: 358). Zuletzt stellt die Gruppe in (22d) eine existentielle Generalisierung über die thematische Rolle des internen Arguments dar.

6.2

Ereignissemantik und eam

Es ist erstaunlich, dass im Dialektkorpus KOLLMER (1989) alle Sätze mit den pronominalen Vollformen eam eine ähnliche logische Bedeutungsrepräsentation (Ereignissemantik) teilen. Eine nicht-fokussierte Vollform eam, die auf unbelebte Entitäten referiert, ist nur mit dynamischen Prädikaten realisiert, die quantisierte Veränderung kodieren. In (23) gebe ich exemplarisch die Semantik für den Beleg in (20)' wieder. Die pronominale Vollform eam wird durch „pro“ ersetzt, das auf die unbelebte Entität referiert.

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Semra Kizilkaya

(23) no hodar eam an stog hi-da. ‘Dann hat er ihn auf den Hackstock gelegt’ (Ereignis e, Lokationsskala s, externes Argument z) ′ , , , ∧ λ ∃ ∃ ℎ , , ℎ#$% &$%,

'

Die Struktur in (23) kann auch auf die Belege (18) und (19) angewandt werden. Im Beleg (19) ist die Ziellokation des internen Arguments spezifiziert. Im Beleg (18) wird die finale Lokation zwar nicht genannt; da das Verb bringen ein telisches Ereignis kodiert, gehe ich aber davon aus, dass das Themaargument quantisierte Veränderung erfährt. Auch diejenigen Vollformen eam in Wackernagelposition, die auf belebte Entitäten referieren, sind ausschließlich mit affizierter Ereignissemantik zu finden. In (24) gebe ich exemplarisch die Semantik für den Beleg in (17)' wieder. Das Themaargument erfährt nicht-quantisierte Veränderung. (24) mir hamar eam kfon. ‘Wir haben ihn gefahren.’ (Ereignis e, Lokationsskala s, externes Argument z, Zielzustand g) , , , ∧ λ ∃ ∃ ∃ [(#ℎ , , , ] Die Tatsache, dass alle Vollformen eam in KOLLMER (1989), die am linken Rand des Mittelfelds stehen, affizierte Themaargumente darstellen, spricht dafür, Affiziertheit als einen wichtigen linguistischen Parameter für die potentielle Selektion der Vollform miteinzubeziehen. Auf Basis der Datenlage möchte ich dafür argumentieren, dass verbale Ereignisse, die ein hohes Maß an Affiziertheit kodieren, die Realisierung der Vollform lizensieren. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass eine affizierte Ereignissemantik einen negativen Effekt auf die Realisierung von Klitika haben muss. Dem widersprechen Korpusfunde in KOLLMER (1989), die auch klitische Formen an direkter Objektposition solcher Prädikate zeigen, vgl. etwa Beleg (12).

7 7.1

FRAGEBOGENSTUDIE Hypothesen und Design

Zur Relation der Vollform eam und Belebtheit wurde in der Literatur die Hypothese angeführt, dass das Objektpronomen eam nur auf belebte Entitäten referiert (Hypothese 1, Abschnitt 5). Bezugnehmend auf die Ergebnisse der Korpusrecherche schlage ich für den zweiten empirischen Teils dieser Arbeit eine revidierte Fassung vor, die besagt, dass eam auch mit prominenten unbelebten Antezedenten koreferieren kann (Hypothese 2). Auf Grundlage der Beobachtungen in diesem Aufsatz postuliere ich außerdem, dass Ereignissemantik bzw. Affiziertheit mit der Vollform eam interagiert (Hypothese 3).

Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam

Hypothese 2 Hypothese 3

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Die Vollform eam kann sich auf ein prominentes unbelebtes Antezedens beziehen. Affiziertheit begünstigt die Realisierung der Vollform eam.

Beide Hypothesen sollen in einer Akzeptabilitätsstudie zum Bairischen getestet werden. Bei der Erstellung der Testeinheiten habe ich die drei Parameter Belebtheit, Affiziertheit und pronominale Form wie folgt manipuliert: Zunächst wurden vier Bedingungen im 2 x 2 Design erstellt, wobei die Belebtheit des Antezedenten (belebt vs. unbelebt) und Affiziertheit des Themaargumentes (affiziert vs. nichtaffiziert) manipuliert wurden. Dabei habe ich mich an dem höchsten (affiziert) und niedrigsten (nicht-affiziert) Grad an Affiziertheit auf der Hierarchie von BEAVERS (2011) orientiert. Für diese vier Bedingungen wurde dann der Typ des anaphorischen Ausdrucks (Vollform vs. Klitikum) manipuliert. Insgesamt entspricht dies einem 2 x 2 x 2 Design. Bedingung

Belebtheit

Affiziertheit

pronominale Form

1a 1b 2a 2b 3a 3b 4a 4b

belebt belebt belebt belebt unbelebt unbelebt unbelebt unbelebt

nicht-affiziert nicht-affiziert affiziert affiziert nicht-affiziert nicht-affiziert affiziert affiziert

Vollform Klitikum Vollform Klitikum Vollform Klitikum Vollform Klitikum

Tab. 4: Design der kritischen Testeinheiten

Jede kritische Testeinheit besteht aus drei Sätzen. Da die Akzeptabilität von Objektpronomina getestet wird, führt der erste Kontextsatz das Objekt ein (Kontext1). In einem zweiten Kontextsatz wird der Objektreferent aus Kontext1 topikalisiert, und somit diskursprominent gemacht (Kontext2). Dies soll Vollformen ermöglichen, die auf unbelebte Entitäten referieren und keinen negativen Effekt auf Referenz mit belebten Entitäten üben. In einem dritten Satz werden die Vollform und das Klitikum am linken Rand des Mittelfelds pronominal getestet (Testsatz). Für jede der vier Bedingungen wurden drei kritische Testeinheiten in zwei Varianten (Vollform vs. Klitikum) konstruiert und im Latin Square Design auf zwei Listen verteilt. Auf jeder Liste befanden sich 12 kritische Testeinheiten sowie 20 Füllersätze. Beide Listen waren ausgeglichen hinsichtlich der Verteilung von Testsätzen mit pronominaler Vollform bzw. Klitikum und wurden pseudorandomisiert. Die Füllersätze bestanden aus grammatischen und ungrammatischen Kontrollsätzen, sowie akzeptablen und unakzeptablen Verwendungen der Dis-

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Semra Kizilkaya

kurspartikel fei. Bei den ungrammatischen Kontrollsätze handelte es sich um Flexionsfehler und bei den unakzeptablen Verwendungen der Diskurspartikel fei um Präsuppositionsverletzungen (vgl. HINTERWIMMER / EBERT 2018). (25) Beispielitems 1. belebt (Max), nicht-affiziert (anrufen) Kontext1 De Kathi wuit gestern an Max bsuacha. Kontext2 Ea is wieder dahoam gwen. Testsatz a. In da Fria hod’s eam oogruafa. b. In da Fria ho’s’n oogruafa. ‘Katharina wollte gestern Max besuchen. Er war wieder zuhause gewesen. In der Früh hat sie ihn angerufen.’ 2. belebt (Thomas), affiziert (erschlagen) Kontext1 Sei Frau hod an Thomas tötn wuin. Kontext2 Ea war a fiachtalicha Mo gwen. Testsatz a. Af d’ Nocht hod’s eam daschlong. b. Af d’ Nocht hod’s’n daschlong. ‘Seine Frau wollte Thomas töten. Er war ein fürchterlicher Mann gewesen. Nachts hat sie ihn erschlagen.’ 3. unbelebt (Haustürschlüssel), nicht-affiziert (wiederfinden) Kontext1 Da Sepp hod a Ewigkeit an Haustürschlüssel gsuacht. Kontext2 Dea war nimma z’findn. Testsatz a. Erst a hoibads Joar später hod’a eam wiedagfuna. b. Erst a hoibads Joar später hod’a’n wiedagfuna. ‘Sepp hat seit Ewigkeiten den Haustürschlüssel gesucht. Der war nicht mehr zu finden. Erst ein halbes Jahr später hat er ihn wiedergefunden.’ 4. unbelebt (Motor), affiziert (zerlegen) Kontext1 Mei Auto hod an oiden Motor ghabt. Kontext2 Dea is nimma oogsprunga. Testsatz a. In da Werkstott hob’ e’ eam zlegt. b. In da Werkstott hob’ e’n zlegt. ‘Mein Auto hat einen alten Motor gehabt. Der ist nicht mehr angesprungen. In der Werkstatt habe ich ihn zerlegt.’ Der Fragebogen wurde sowohl in Papierform als auch online per E-Mail an MuttersprachlerInnen des Bairischen verteilt. Diejenigen TeilnehmerInnen, die angaben, auf einer Skala von 1 (nie) bis 4 (immer) zu ≤ 2 Bairisch in der Familie zu sprechen, wurden aussortiert. Insgesamt wurden 60 TeilnehmerInnen im Alter von

Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam

169

18–81 Jahren (ø 41 Jahre) auf zwei Listen (30 pro Liste) ausgewertet. Sie alle sind SprecherInnen des Westmittelbairischen, bis auf einen Partizipanten aus Linz (Ostmittelbairisch) und zwei aus der nördlichen Oberpfalz (Nordbairisch). Die SprecherInnen des Westmittelbairischen konzentrieren sich zum überwiegenden Großteil auf den Landkreis Freising in Oberbayern, bis hin zu vereinzelt Teilnehmenden aus der Umgebung München, Dachau, Isen, Landshut und zwei Sprechern des zentralen Westmittelbairischen aus Passau und Regen, Bayerischer Wald. Die DialektsprecherInnen wurden gebeten, den letzten Satz (= Testsatz) auf einer Skala von 0 (ungewöhnlich) bis 5 (gewöhnlich) zu bewerten.

Abb. 3: Aufgabenstellung und Fragen (Papierform)

7.2

Ergebnisse

Die statistische Auswertung3 zeigt einen signifikanten Haupteffekt für pronominale Form: Klitika werden im Allgemeinen besser bewertet als Vollformen (b = −1,19; SE = 0,09; t = −13,06). Dies bestätigt die Erwartungen aus Korpusrecherche und Literatur. Klitika tragen kaum Eigeninformationen und stellen unabhängig von ereignisstrukturellen oder semantischen Merkmalen die präferierte Form der Referenz dar. Zweitens zeigen die Daten einen signifikanten Effekt von Belebtheit bei der Bewertung von Vollformen. Anaphorische Objektpronomina eam, die auf belebte Entitäten referieren, werden besser bewertet als solche, die auf unbelebte Entitäten 3

Die statistische Auswertung der Daten erfolgte in R, Version 1.1.383. Mithilfe des lme4 Pakets (BATES et al. 2014) wurden Linear-Mixed-Effect Models (LMEM) mit den Akzeptabilitätswerten als Ergebniswerte modelliert. Als Fixed Effects habe ich Belebtheit, Affiziertheit und pronominale Form eingegeben, als Random Effects die PartizipantInnen und Testeinheiten.

170

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referieren (b = −0,99; SE = 0,16; t = −6,20). Damit bestätigt das Experiment die prominente Rolle von Belebtheit bezüglich der Akzeptabilität der Vollform eam. Um zu beurteilen, inwiefern diese Relation die Form einer semantischen Beschränkung hat, sind die Ergebnisse in Bezug auf die ereignisstrukturelle Kategorie Affiziertheit, insbesondere in Kombination mit unbelebten Antezedenten relevant.

affiziert

Mittelwerte Kontrollitems

nicht-affiziert

* 4,62

4,70

4,24

*

4,49 4,51

*

5

3,71 3,76

4

3,10 3

2,47 1,90

2 1 0 belebt

unbelebt Klitikum

belebt

unbelebt

grammatisch ungrammatisch

Vollpronomen

Abb. 4: Akzeptabilität von Klitikum und Vollform nach Belebtheit und Affiziertheit

Abb. 5: Bewertung der Kontrollsätze

Tatsächlich ist ein weiterer signifikanter Effekt für Affiziertheit zu beobachten: Vollformen mit unbelebten Antezedenten werden in ereignisstrukturell affizierten Kontexten signifikant besser bewertet als in nicht-affizierten Kontexten (b = −0,58; SE = −0,20; t = −2,91). Dies bestätigt, dass Affiziertheit und damit Ereignissemantik einen Effekt auf pronominale Realisierung im Bairischen hat. Allerdings beschränkt sich dieser Effekt auf Vollformen, die mit unbelebten Antezedenten koreferieren. Bei Vollpronomina mit belebten Antezedenten hat Affiziertheit keinen signifikanten Effekt auf die Akzeptabilität der Vollform. Es kann jedoch mit Vorsicht vermutet werden, dass es sich um einen statistischen Deckeneffekt (ceiling effect) handelt. Da das Experiment viele Faktoren gleichzeitig testet, ist denkbar, dass Vollformen mit belebten Antezedenten im Vergleich zu denjenigen mit unbelebten Antezedenten so gut waren, dass keine feinen Differenzen innerhalb der Bedingung mit belebten Antezedenten mehr zu erkennen sind. Um Deckeneffekte zu verhindern, sollten Folgestudien weniger Faktoren auf einmal miteinbeziehen und beispielsweise nur Vollformen testen. Insgesamt zeigt die Auswertung eine dreifache Interaktion von Belebtheit, Affiziertheit und pronominaler Form (b = −0,90; SE = −0,37; t = −2,44). Daraus schließe ich, dass Belebtheit und Affiziertheit als relevante linguistische Faktoren die morphosyntaktische Verteilung der 3SG.M Pronomina beeinflussen. Die Ergebnisse bekräftigen damit Hypothese 2 wie auch Hypothese 3 mit der Einschrän-

Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam

171

kung, dass Affiziertheit nur mit unbelebtem Antezedens die Akzeptabilität der Vollform eam begünstigt. Während es in ereignisstrukturell nicht-affizierten Kontexten durchaus sinnvoll scheint, Referenz auf unbelebte Entitäten auszuschließen, lizensieren ereignisstrukturell affizierte Kontexte auch Vollformen eam mit unbelebten Antezedenten. In Bezug auf den letzten Punkt muss an dieser Stelle eine abschließende Beobachtung erwähnt werden. Vergleicht man die Ergebnisse von Bedingung (4a) (Vollform, unbelebt, affiziert) und (4b) (Klitikum, unbelebt, affiziert) miteinander, zeichnen sich in der Bewertung Gruppeneffekte nach Alter ab. Während die Klitika von DialektsprecherInnen aller Altersgruppen ähnlich bewertet werden, zeigen die Vollformen große Unterschiede in der Akzeptanz je nach Alter der Probanden auf. Je älter die DialektsprecherInnen, desto besser werden diejenigen Vollformen bewertet, die in ereignisstrukturell affizierten Kontexten auf unbelebte Entitäten referieren (Abb. 6).

5

(4b) Klitikum, unbelebt, affiziert

4 3 2

(4a) Vollform, unbelebt, affiziert

1 0

18-25

26-40

41-55

55-81

(4b) Klitikum, unbelebt, affiziert

4,08

4,4

3,96

4,6

(4a) Vollform, unbelebt, affiziert

1,88

3,07

3,22

3,82

Abb. 6: Bewertung der Testeinheiten in Bedingung (4a) und (4b) nach Alter (18–25 Jahre, n= 8; 26–40 Jahre, n= 27; 41–55 Jahre, n= 17; 55–81 Jahre, n= 8). n: Anzahl der SprecherInnen.

8

FAZIT: BELEBTHEIT, AFFIZIERTHEIT UND EAM

Das Hauptanliegen dieses Beitrags bestand darin, einen aktuellen Forschungsüberblick zur Distribution der 3SG.M Pronomina (eam/=n) zu geben und diese auf semantischer Ebene zu ergänzen. Zunächst wurde eine knappe Übersicht zur syntaktischen und pragmatischen Verteilung beider Formen gegeben. Um eine Be-

172

Semra Kizilkaya

lebtheitsrestriktion für die Vollform eam empirisch zu überprüfen, wurde eine Korpusrecherche in KOLLMER (1989) sowie Fragebogenstudie unter DialektsprecherInnen im westmittelbairischen Raum durchgeführt. Anders als in der Literatur behauptet, finden sich in KOLLMER (1989) Belege für Vollformen eam, die mit unbelebten Antezedenten koreferieren. Da alle Instanzen dieser Vollformen mit verbalen Prädikaten realisiert werden, die eine Lokationsveränderung ihrer Objekte kodieren, habe ich die Hypothese aufgestellt, dass neben der nominalsemantischen Kategorie Belebtheit auch die verbalsemantische Kategorie Affiziertheit mit pronominaler Form interagiert. In der Fragebogenstudie wurde der Einfluss von Belebtheit und Affiziertheit auf die Akzeptabilität der pronominalen Form (Vollform vs. Klitikum) getestet. Die Ergebnisse zeigen eine dreifache Interaktion von Belebtheit X Affiziertheit X pronominaler Form. Vollformen mit belebten Antezedenten werden generell besser bewertet, als solche mit unbelebten Antezedenten. Referenz auf unbelebte Entitäten wiederum ist in ereignisstrukturell affizierten Kontexten besser bewertet, als in nicht-affizierten. Affiziertheit stellt damit einen bisher in der Literatur unbeachteten Faktor dar, der die Distribution der 3SG.M Pronomina im Bairischen mitbedingt. Neben dem unbetonten Klitikum =n, das kaum lexikalische Eigeninformationen trägt und die Normalform der Referenz darstellt, wird die pronominale Vollform eam also von verschiedenen Faktoren auf unterschiedlichen linguistischen Ebenen funktional motiviert. Auf nominalsemantischer Ebene wird sie mit Belebtheit assoziiert. Direkte Objekte, die das Merkmal [+belebt] tragen heben sich von prototypisch unbelebten direkten Objekten (vgl. KRIFKA 2009; ALBER / RABANUS 2011) semantisch hervor. Auf verbalsemantischer Ebene möchte ich argumentieren, dass Affiziertheit zur ereignisstrukturellen Prominenz der Vollform eam beiträgt. Affizierte Objekte sind durch die Veränderung (hin zu einem Endpunkt), die sie erfahren, distinkter vom Verb und individuierter als ihre nichtaffizierten Äquivalente. Auch in der syntaktischen Literatur wurde vorgeschlagen, affizierte direkte Objekte nicht in Komplement-, sondern in Spezifiziererposition zu analysieren (HALE / KEYSER 1992; RAMCHAND 2008). Auf Diskursebene setzt Fokusmarkierung den Referenten in Kontrast zu semantischen Alternativen. Außerdem müssen referentiell defiziente Pronomina auf dieser Ebene mit ihren Antezedenten verknüpft werden. Dieses multidimensionale Modell erklärt überdies, warum Belebtheit eine so prominente Rolle für Beispiele wie in (26) zukommt. Ein Vollpronomen eam, das weder durch den Diskurs, noch verbalsemantisch motiviert ist, muss auf der nominalsemantischen Ebene motiviert werden. Referenz auf unbelebte Entitäten ist jedoch auch möglich und wird von genau zwei Faktoren lizensiert: (i) diskursprominente Antezedenten und (ii) eine affizierte Ereignissemantik. (26) I hob eam gseng. ‘Ich habe ihn gesehen.’

Belebtheit, Affiziertheit und das bairische Personalpronomen eam

173

Sollten diese Faktoren untereinander gewichtet werden, übt Belebtheit als nominalsemantische Eigenschaft einen größeren Effekt als die verbalsemantische Kategorie Affiziertheit auf die Verteilung beider Formen. Angesichts der Gruppeneffekte nach Alter, die in der Fragebogenstudie beobachtet wurden, bleibt allerdings die Frage offen, ob sich ein Sprachwandel hin zu Belebtheit vollzieht. Zweifelslos ist eine große Variation bei den DialektsprecherInnen zu beobachten. Auch wäre für zukünftige Untersuchungen interessant, ob regionale Unterschiede zwischen dem West- und Ostmittelbairischen bzw. zwischen bayerischem und österreichischem Bairisch existieren. Im Rahmen dieses Beitrags ist zu argumentieren, dass die Distribution der beiden Formen eam und =n komplexer ist als die bisherige Literatur es vermuten ließ. Informationsstruktur, Diskurssalienz, Belebtheit und Ereignisstruktur determinieren alle auf unterschiedliche Art und Weise die morphosyntaktische Verteilung. Während die syntaktische und pragmatische Distribution vergleichsweise gut erforscht ist, tragen die Ergebnisse dieser Arbeit vor allem zu den semantischen Parametern der Vollform eam in Wackernagelposition bei.

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POSSESSIVKONSTRUKTIONEN IM ZIMBRISCHEN – EINE SPLIT-DP-ANALYSE Stefan Rabanus

1

EINLEITUNG UND FRAGESTELLUNG

Possessiva wie eurem in der Konstruktion in eurem Garten sind linguistisch besonders interessante Elemente, weil sie in einer doppelten Kongruenzbeziehung („multiple-controllers agreement“, CORBETT 2006: 188) stehen: einerseits zum Possessum, dem Kopf der NP Garten, und andererseits zum Possessor, einer außerhalb der NP stehenden oder nur kontextuell gegebenen 2. Person Plural. Im Deutschen werden diese Elemente heute üblicherweise als „Possessivartikel“ bezeichnet (etwa EISENBERG 1999: 139), im Italienischen als „Possessivadjektive“ („aggettivi possessivi“, etwa CORDIN 1991: 608). Aber auch die traditionelle Bezeichnung „Possessivpronomen“ ist berechtigt, weil die Elemente durch die Vertretung des Possessors gleichzeitig Pro-Formen sind. In diesem Beitrag geht es um die syntaktische Struktur der Possessivkonstruktionen im Zimbrischen. Das Zimbrische ist eine historisch deutsche Minderheitensprache in Nordostitalien, die seit Jahrhunderten in Sprachkontakt mit italienischen Varietäten steht. Das Zimbrische ist seit über 400 Jahren schriftlich dokumentiert und erlaubt deshalb nicht nur die Analyse heutiger Varietäten, sondern auch die Rekonstruktion verschiedener sprachgeschichtlicher Entwicklungsstufen. Dieser Beitrag hat daher drei Ziele: a) die Beschreibung der Diachronie der Formtypen (Abschnitt 4); b) die Modellierung ihrer syntaktischen Struktur (Abschnitt 5); c) die Klärung der Frage, welche Effekte der Sprachkontakt mit den italienischen Varietäten auf das Zimbrische gehabt hat (Abschnitt 6).

2

THEORETISCHER RAHMEN

Die vorliegende Studie nimmt das Phänomen in zwei verschiedenen Perspektiven in den Blick. Einerseits werden die Merkmale der Konstruktionen bezüglich typologischer Variationsparameter beschrieben und klassifiziert. Von besonderer Relevanz sind hierfür die Arbeiten zum Possessivum im Rahmen des IDS-Projekts zur Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich (ZIFONUN 2005). Andererseits werden die syntaktischen Strukturen in den Varietäten in Anknüpfung an Split-DP-Analysen im Rahmen der generativen Grammatik modelliert (vgl. hier vor allem CHENG / HEYCOCK / ZAMPARELLI 2017).

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Stefan Rabanus

3

SPRACHSITUATION UND QUELLENLAGE

Das Zimbrische ist eine bedrohte Minderheitensprache, die in drei verschiedenen Varietäten mit jeweils eigener Geschichte und in spezifischer heutiger Sprachsituation auftritt. Das Zimbrische der XIII Gemeinden in der heutigen Provinz Verona (Venetien) ist die älteste Varietät, für deren Entstehung die Ansiedlung von Familien aus dem Bereich des Klosters Benediktbeuern (Bayern) um 1055 bezeugt ist (zur Geschichte der Zimbern und ihrer Sprache vgl. RABANUS 2018, BIDESE 2004 und BAUM 1983). Heute hat das Zimbrische der XIII Gemeinden nur noch wenige, sehr alte Sprecher im Dorf Giazza. Die zimbrischen Ansiedelungen der VII Gemeinden in der heutigen Provinz Vicenza (ebenfalls Venetien) sind kurz danach entstanden und waren über Jahrhunderte das Zentrum der zimbrischen Schriftkultur. Vereinzelte Sprecher sind durch jüngere Datenerhebungen heute noch für Orte nordwestlich des Assa-Tals dokumentiert (für Roana durch FONTANA 2012, für Mezzaselva durch die Aufnahme für den VIVALDI von DIETER KATTENBUSCH 2011). Beide Gebiete hatten in der Vergangenheit Autonomiestatus (im Machtbereich der Herren von Verona und, anschließend, der Republik von Venedig), damit verbunden war das Zimbrische auch Schriftsprache mit Funktionsdomänen in Verwaltung und Kirche. Spätestens seit der Zäsur durch den Ersten Weltkrieg wird die Sprache aber nicht mehr ungebrochen an die nächste Generation weitergegeben, und heute fehlen beiden Varietäten echte Sprachgemeinschaften. Die Varietäten der VII und XIII Gemeinden haben auch praktisch keine instrumentellen Funktionsdomänen mehr: Sie werden maximal noch in der Familie (zwischen Geschwistern) verwendet, meist aber lediglich symbolisch (etwa bei Toponymen und Aufschriften in den entsprechenden Orten).1 Das Nordwestzimbrische im historischen Tirol und der heutigen Provinz Trient ist durch Einwanderung größten Teils aus den VII und XIII Gemeinden entstanden. Paradoxerweise hatte das Zimbrische in Tirol weniger Funktionsdomänen als in der Republik Venedig, weil dem Gebiet in Tirol Autonomiestatus fehlte. Heute ist das Nordwestzimbrische nur noch in Lusern lebendig. Es hat dort allerdings einen wesentlich höheren Grad an Vitalität als das Zimbrische der VII und XIII Gemeinden in Venetien. Manche Kinder erwerben Zimbrisch als Zweitsprache, und die nach dem Staatsgesetz Nr. 482 des Jahres 1999 zum „Schutz der historischen Sprachminderheiten“ (ital. „Norme in materia di tutela delle minoranze linguistiche storiche“) vorgesehenen Institutionen sind nur in der Provinz Trient wirklich realisiert, auch dank der bedeutenden finanziellen Förderprogramme der Provinz Trient, denen in Venetien nichts Vergleichbares entspricht. Das Zimbrische ist als historische Minderheitensprache mit Schriftlichkeit und einem breiten Funktionsdomänenspektrum wesentlich besser dokumentiert als das üblicherweise für deutsche Dialekte der Fall ist. Die Dokumentation umfasst (a) Dokumente schriftlichen Sprachgebrauchs seit 1602, (b) grammatische Abhandlungen, lexikographische und kartographische Arbeiten seit der Mitte des 1

Eine Sekundärkolonie zu den VII Gemeinden befindet sich in Kansilien in der Provinz Belluno. Die zimbrische Sprache ist dort nicht mehr nachgewiesen.

Possessivkonstruktionen im Zimbrischen – eine Split-DP-Analyse

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18. Jahrhunderts und (c) Erträge linguistisch-dialektologischer Datenerhebungen seit Ende des 19. Jahrhunderts. (a) Die ältere Dokumentation besteht vor allem aus Texten, die zum Zweck der religiösen Unterweisung für die zimbrische Bevölkerung der VII Gemeinden abgefasst worden sind. Das sind allen voran drei Katechismen, bei denen es sich um zum Teil wörtliche Übersetzungen der italienischen Katechismen handelt,2 die zu den entsprechenden Zeitpunkten im Bistum Padua, zu dem die VII Gemeinden kirchenrechtlich gehörten, in Gebrauch waren: der „Erste Katechismus“ von 1602 (publiziert als MEID 1985a), der „Zweite Katechismus“ von 1813 und der „Dritte Katechismus“ von 1842 (eigentlich korrigierter Nachdruck des „Zweiten Katechismus“, beide zusammen publiziert als MEID 1985b). Ein weiterer älterer Text ist die „Novena vun unzar liben Vraun“ (publiziert in STEFAN 2000), ein Text mit Reflexionen über die Gottesmutter Maria, gedacht zur Vorbereitung auf das Fest Mariae Himmelfahrt (vgl. STEFAN 2000: 28). Nach dem Niedergang der Schriftkultur in den VII Gemeinden im Verlaufe des 19. Jahrhunderts erfährt die zimbrische Schriftlichkeit einen Neubeginn im Kontext der MinderheitensprachenFörderung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In Lusern erscheinen manche (allerdings nur wenige) offizielle Ankündigungen oder Dokumente der Gemeindeverwaltung zweisprachig Italienisch und Zimbrisch. Umfangreichere Texte enthält „Dar Fòldjo“, ein alle paar Monate erscheinendes Informationsblatt der Gemeinde Lusern, dreisprachig Zimbrisch, Italienisch und Deutsch (online zugänglich über die Webseiten der Gemeinde). Es gibt heute eine nennenswerte Produktion literarischer Texte, v.a. Gedichte und Erzählungen, in allen zimbrischen Varietäten (zum Teil online zugänglich auf den Webseiten der Kulturinstitute). Im Jahr 2020 hat bereits zum neunten Mal der Literaturwettbewerb „Tönle Bintarn“ stattgefunden, für den neu auf Zimbrisch verfasste Prosa und Poesie eingereicht werden kann. Der Roman „Tönle Bintarn“, der vom zimbrischen Autor MARIO RIGONI STERN ursprünglich auf Italienisch geschrieben worden war („Storia di Tönle“), ist inzwischen wie eine Reihe anderer Werke (darunter „Der Kleine Prinz“) ins Zimbrische übersetzt worden. Zur Schrifttradition des Zimbrischen insgesamt vgl. BIDESE (2010). (b) Das grammatische Referenzwerk für alle zimbrischen Varietäten (und das Fersentalerische) ist die „Zimbrische Gesamtgrammatik“ von BRUNO SCHWEIZER (Manuskript 1951/1952, publiziert 2008). Beschreibungen der zimbrischen Sprache gab es jedoch schon deutlich früher. Die nachfolgend genannten Arbeiten enthalten unterschiedlich umfangreiche grammatikographische Abschnitte, teilweise auch Wörterverzeichnisse: SLAVIERO (ca. 1740 [1991]), PEZZO (1763); BERGMANN (1855), BACHER (1905), CAPPELLETTI / SCHWEIZER (1942), KRANZMAYER (1981). Zum gegenwärtigen Zimbrischen von Lusern informieren die Grammatiken von TYROLLER (2003), PANIERI (2006) und umfangreiche Materialien auf den Webseiten des Kulturinstituts Lusern. Zur Lexikographie des Zimbrischen siehe CORDIN (2010), zur Kartographie RABANUS (2010). Der 2

Für den „Ersten Katechismus“ ist die wörtliche Übersetzung im Nachwort explizit ausgewiesen: „tradotta fedelmente de verbo ad verbum“ (MEID 1985a, Z. 1441‒1442).

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Stefan Rabanus

„Zimbrische und Fersentalerische Sprachatlas“ (SCHWEIZER / RABANUS 2012) ist eine rezente Publikation, die allerdings auf einer Kartensammlung SCHWEIZERS aus den 1950er Jahren beruht. (c) Erst kürzlich wurde mit einer Übersetzung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn die erste systematische Erhebung im Nordwestzimbrischen aufgefunden (1809/1810).3 In der Folgezeit konzentrierte sich die Datenerhebung vor allem auf die unsystematische Aufzeichnung von Sagen, Volkserzählungen und persönlichen Erzählungen, publiziert etwa von BACHER (1905) für Lusern, SCHWEIZER (1939) und BIDESE (2011) für Giazza sowie BARAGIOLA (1906) für Roana. Die Wenkerbogen-Erhebung wurde in Giazza und Mezzaselva 1926 durchgeführt, für Lusern vermutlich in derselben Zeit. 2009 wurden die Wenkersätze in Giazza von der Veroneser Arbeitsgruppe des Verfassers neu erhoben. Vgl. zu den WenkerMaterialien ausführlich RABANUS (2020).

4

VARIATION DER FORMTYPEN

Unter den zahlreichen Variationsparametern, die bezüglich der Possessiva in der typologische Literatur diskutiert werden, haben sich drei als besonders relevant für die Variation des Zimbrischen in Geschichte und Gegenwart erwiesen: erstens die Kategorien, bezüglich derer das Possessivum als „target“ der Kongruenzrelation von Possessor und Possessum „kontrolliert“ wird; zweitens die Basis, an der die Possessum-Kategorien ausgedrückt werden; drittens die Frage, ob das Possessivum selbst definitheitsunspezifisch oder definitheitsinduzierend ist. Tab. 1 zeigt die Kongruenzkategorien, die im Deutschen maximal möglich sind (vgl. ZIFONUN 2005: 62). Sie sind den Kongruenzkategorien gegenübergestellt, die im Lateinischen möglich sind.

Sprache Deutsch

Lateinisch

Possessor-Kategorien Possessor-Person Possessor-Numerus Possessor-Genus Possessor-Person Possessor-Numerus *

Possessum-Kategorien Possessum-Kasus Possessum-Numerus Possessum-Genus Possessum-Kasus Possessum-Numerus Possessum-Genus

Tab. 1: Kongruenzkategorien des Possessivums im Deutschen und Lateinischen

Es wird auf das Lateinische Bezug genommen, weil sich in den italienischen Kontaktdialekten des Zimbrischen die lateinischen Verhältnisse eher widerspiegeln als die standarditalienischen. Es zeigt sich, dass im Lateinischen das Possessor-Genus 3

Das Manuskript wurde 2018 im Archiv der Sammlung „Coquebert de Montbret“ in Rouen von ERMENEGILDO BIDESE und FRANCESCO ZUIN gefunden, welche nun die Publikation vorbereiten. Zur Erhebung vgl. KÖDEL (2010).

Possessivkonstruktionen im Zimbrischen – eine Split-DP-Analyse

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am Possessivum grundsätzlich nicht ausgedrückt wird, während das im Deutschen möglich ist, wenn auch nur in der 3. Person Singular. Possessor-Kategorien werden in allen hier betrachteten Varietäten in der Basis des Possessivums selbst ausgedrückt. Für den Ausdruck der PossessumKategorien gibt es drei Möglichkeiten, welche in (1) bis (3) mit historischen Belegen aus dem Zimbrischen der VII Gemeinden exemplifiziert werden (die Belegstellen sind hier und im Folgenden mit den Zeilennummern aus den Ausgaben der historischen Texte von MEID 1985a, 1985b und STEFAN 2000 spezifiziert): (1)

mit saime precioseten pluete ‘mit seinem wertvollen Blut’ („Erster Katechismus“, Z. 277‒278)

(2)

von der unzerder haileghen Fede ‘von unserem heiligen Glauben’ („Erster Katechismus“, Z. 10‒11)

(3)

vun dar unzar puritè ‘von unserer Reinheit’ („Novena“, Z. 714)

Tab. 2 zeigt die Exponenz der Kongruenzmerkmale im Einzelnen. Dabei ist zu beachten, dass der Possessor stets außerhalb der in den Beispielen angeführten PP bleibt: In (1) steht er als Antezedens im Satzkontext (siehe den gesamten Satz in [19a], Abschnitt 6), in (2) und (3) ist er überhaupt nicht im Satz, sondern nur im Diskurskontext gegeben. Beispiel Possessor (1) Iesu Christ

Präp. mit

Artikel

von

der

unzer-der

haileghen Fede

DAT.SG.F

1PL-DAT.SG.F

DAT.SG.F

dar

unzar

puritè

DAT.SG.F

1PL

DAT.SG.F

3SG.M

(2)

(wir) 1PL

(3)

(wir) 1PL

vun

Possessivum sai-me

Possessum precioseten pluete

3SG.M-DAT.SG.N

DAT.SG.N

Tab. 2: Kongruenzrelationen in (1)‒(3)

In allen drei Typen werden die Possessor-Kategorien durch die Basis des Possessivums ausgedrückt. Bezüglich der Possessum-Kategorien zeigen sich folgende Unterschiede. In Typ (1) sind die Possessum-Kategorien im Suffix des Possessivums ausgedrückt. Es besteht eine ununterbrochene Kongruenzkette der adjazenten Elemente mit den Merkmalen DAT.SG.N vom Possessivum über das attributive Adjektiv (precioseten) bis hin zum Kopf der NP (pluete). In Typ (2) sind die Possessum-Merkmale DAT.SG.F zusätzlich an einem bestimmten Artikel ausgedrückt, also sowohl links als auch rechts der Basis des Possessivums. Auch hier besteht

180

Stefan Rabanus

eine ununterbrochene Kongruenzkette, vom Artikel bis zum Kopf der NP (Fede). In Typ (3) ist diese Kongruenzkette dagegen unterbrochen. Die PossessumMerkmale DAT.SG.F sind allein am Artikel realisiert, das Possessivum drückt ausschließlich die Possessor-Kategorien (1PL) aus. Hierzu ist allerdings einschränkend zu sagen: unzar in (3) kann mit Recht als „unflektiert“ im Sinne von SCHWEIZER (2008: 410) gelten, weil das Zimbrische die Merkmale DAT.SG.F im Prinzip mit Suffix realisiert, etwa -der wie in (2), auch -er wie im Standarddeutschen (vgl. SCHWEIZER 2008: 409) oder -n im heutigen Zimbrischen von Lusern (ünsarn tochtar ‘unserer Tochter’, PANIERI 2006: 177). Formen wie etwa main in (4) (Satzsubjekt, also Nominativ) können dagegen nicht eindeutig dem Typ (2) oder (3) zugeordnet werden, da im Zimbrischen die Possessum-Merkmale NOM.SG.N am Possessivum grundsätzlich nicht ausgedrückt werden, genauso wenig wie im Standarddeutschen. Man könnte hier allerdings eine nicht-overte, d.h. aus den paradigmatischen Distinktionen resultierende Kasusexponenz annehmen. (4)

dez main herze ‘mein Herz’ („Zweiter Katechismus“, Z. 346)

Die drei Typen charakterisieren sowohl die diachronische als auch die synchronische Variation des Zimbrischen. Im Zimbrischen der VII Gemeinden lässt sich zwischen 1602 („Erster Katechismus“) und 1926 (Wenkerbogen-Erhebung in Mezzaselva) die in Tab. 3 dargestellte Entwicklung von Typ (1) zu Typ (3) rekonstruieren. Unter Typ (3) werden alle Belege von Possessiva ohne Kasus- und Genussuffix gezählt. Wegen der oben angedeuteten Unsicherheiten wurden die Generalisierung der Frequenzen zu Prozentzahlen für die Typen (2) und (3) nicht getrennt, sondern nur zusammen vorgenommen, also für alle Typen, in denen dem Possessivum ein bestimmter Artikel vorangeht. In den Quellen zeigt sich eine klare Entwicklung von fast ausschließlich Konstruktionen ohne Artikel (Typ [1]) im „Ersten Katechismus“ bis zu nur noch knapp über die Hälfte dieser Konstruktionen im „Zweiten Katechismus“. Der Typ (2) soll als Übergangsstadium zwischen dem Ausgangspunkt und dem Zielpunkt verstanden werden. Dieser Zielpunkt ist in den Übersetzungen der Wenkersätze 1926 erreicht, in denen keine einzige Possessivkonstruktion ohne Artikel mehr belegt ist. Die Analyse von Kontrastbelegen liefert allerdings Evidenz dafür, dass im Zimbrischen vermutlich schon 1813 die Formen mit Artikel den Normalzustand darstellten, der Wert 41%, der aus dem „Zweiten Katechismus“ hervorgeht, also eigentlich zu niedrig ist. Im Folgenden sind die italienischen Ausgangsformen der Beispiele (1) und (2) aus dem „Ersten Katechismus“ angegeben, danach unter (5) ein Beispiel aus dem „Zweiten Katechismus“.

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Possessivkonstruktionen im Zimbrischen – eine Split-DP-Analyse

Varietät Quelle VII Gemeinden „Erster Katechismus“ 1602 „Novena“ 1800 „Zweiter Katechismus“ 1813 Wenkersätze 1926 Giazza Wenkersätze 1926 Wenkersätze 2009 Lusern „Dar Fòldjo“ 2018

NPs mit Poss.

Typ (1)

Typ (2)

Typ (3)

Typ (2)/(3)

115 325 78 10

109 [95%] 218 [67%] 46 [59%] 0

5 28 16 2

1 79 16 8

6 [5%] 107 [33%] 32 [41%] 10 [100%]

10 9

7 6

3 3

0 0

3 3

86

82 [95%]

1

3

4

[5%]

Tab. 3: Entwicklung der Possessivkonstruktionen im Zimbrischen

(1)

mit saime precioseten pluete con il suo pretioso sangue ‘mit seinem wertvollen Blut’ („Erster Katechismus“, Z. 277‒278)

(2)

von der unzerder haileghen Fede della nostra santissima fede ‘von unserem heiligen Glauben’ („Erster Katechismus“, Z. 10‒11)

(5)

von dem’ünzar Herren Jesu Christ di nostro Signore Gesù Cristo ‘von unserem Herren Jesus Christus’ („Zweiter Katechismus“, Z. 417‒418)

Die Exponenz der Kongruenzmerkmale im Zimbrischen und Italienischen ist in (2), abgesehen vom im Italienischen nicht erhaltenen Kasusausdruck, identisch: Die Possessum-Merkmale sind am Artikel und am Possessivum markiert. In (1) kontrastiert das Zimbrische dagegen mit dem Italienischen dergestalt, dass der italienische Artikel im Zimbrischen keine Entsprechung hat. Dieser Kontrastbeleg liefert Evidenz dafür, dass zur Zeit des „Ersten Katechismus“ in Possessivkonstruktionen im Prinzip kein Artikel verwendet wurde. In (5) findet sich dagegen ein Kontrastbeleg in der anderen Richtung: Der zimbrische Übersetzer hat hier für eine italienische Konstruktion ohne Artikel (vgl. zum Italienischen Abschnitt 6) eine zimbrische Konstruktionen mit dem bestimmten Artikel dem gesetzt. Das deutet darauf hin, dass 1813 die Setzung des bestimmten Artikels zwar nicht die einzige, aber schon die präferierte Wahl war. Die Verhältnisse im Zimbrischen von Lusern sind anders. Während einerseits Konstruktionen des Typs (3), also mit Artikel und unflektiertem Possessivum bereits in BACHER (1905: 189) genannt werden, bleibt doch die Normalform in

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Lusern bis heute der Typ (1), also kein Artikel und flektiertes Possessivum.4 Die Auszählung der Possessivkonstruktionen in der Ausgabe des Fòldjo vom August 2018 zeigt exakt dieselbe Verteilung zwischen den Typen (1) auf der einen und (2)/(3) auf der anderen Seite wie beim „Ersten Katechismus“ 1602, siehe Tab. 3. Die Befragung von Informanten in Lusern (2018) ergibt folgenden Funktionsunterschied: Die Konstruktion mit Artikel wird ausschließlich dann verwendet, wenn ein Kontrast ausgedrückt werden soll, entweder implizit oder explizit wie in (6), einem Beispiel aus Lehrmaterial zum Zimbrischen auf den Webseiten des Kulturinstituts Lusern: (6)

dar aür hunt hatt gepèllt da gåntz nacht nèt dar ünsar ‘euer Hund hat die ganze Nacht gebellt, nicht unserer’

Die Einordnung der Situation in Giazza ist schwierig, weil es für Giazza weder die historische Schrifttradition der VII Gemeinden, noch einen heute lebendigen Sprachgebrauch wie in Lusern gibt, der die Erhebung von Sprecherurteilen erlauben würde. Aus den Wenkermaterialien (vgl. RABANUS 2020) ergibt sich, dass Giazza eine Zwischenposition einnimmt, siehe Tab. 3. Spezifisch sind die Formen mit präpositionalem Dativ, welche 2009 zwei von drei und 1926 sogar alle drei Konstruktionen des Typs (2) ausmachen, siehe (7). (7)

i(n) zàinər tóxtər ‘ihrer Tochter’ (Wenkersatz 9 aus Bogen 46368, Giazza 1926)

Eventuelle Funktionsunterschiede zwischen Possessivkonstruktionen mit und ohne Artikel sind für Giazza nicht rekonstruierbar. Zum präpositionalen Dativ in Giazza vgl. RABANUS (2020).

4

Der historische Wenkerbogen von Lusern wird nicht berücksichtigt, weil die Angaben vermutlich nicht zuverlässig sind, vgl. RABANUS (2020).

Possessivkonstruktionen im Zimbrischen – eine Split-DP-Analyse

5

183

SYNTAKTISCHE STRUKTUR

Die Struktur der Possessivkonstruktionen im Zimbrischen wird hier wie in Abb. 1 am Beispiel (10) dargestellt modelliert (dər zàin töxtərə ‘ihrer Tochter’).

Abb. 1: Syntaktische Struktur der Possessivkonstruktionen im Zimbrischen, am Beispiel von (10)

Das Modell stellt sich in die Tradition der sog. Split-DP-Analysen. In diesen Analysen wird davon ausgegangen, dass grammatische und pragmatische Informationen links vom lexikalischen Kern in verschiedenen funktionalen Projektionen organisiert sind. Die Syntax der Nominalgruppe (DP) wird damit parallel zur Syntax des Satzes (CP) konzipiert, vgl. GIUSTI (2006) anknüpfend an RIZZI (1997). Nach GIUSTI (2006: 166) werden zunächst drei Projektionsbereiche unterschieden: der lexikalische Bereich (NP), der Bereich der Kongruenzmerkmale (AgrP, gemeint sind hier die Merkmale der Kongruenz mit dem Possessum, der NP) und der Bereich der Definitheitsmerkmale (DP). GIUSTI (2006: 66, Beispiel [3]; GIUSTI 2007: 392) positioniert das Possessivum im Italienischen in AgrP. In der Folge wird der DP-Bereich weiter in eine höhere und eine niedrigere DP unterteilt. ISAC / KIRK (2008: 140) nehmen beim Split des DP-Bereichs Bezug auf eine Zweiteilung in „pragmatic information, such as referentiality and deixis“ in der höheren DP und eigentliche Definitheit in der niedrigeren DP.5 Das Beispiel Ich nehme den Zug zeigt, dass mit dem bestimmten Artikel nicht notwendigerweise 5

Split in Positionen für Deixis und eigentliche Definitheit findet sich auch in anderen theoretischen Ansätzen, etwa „Role and Reference Grammar“. Vgl. z.B. KASPER (2015: 84, Abb. 7).

184

Stefan Rabanus

auf spezifische Objekte referiert wird. Üblicherweise wird mit Ich nehme den Zug auf eine Reisemodalität Bezug genommen (der Zug im Gegensatz zum Bus oder zum Schiff) und nicht auf einen spezifischen Zug. Der Artikel steht damit in der niedrigeren DP. Die Referenz auf den spezifischen Zug leistet im Deutschen üblicherweise ein Demonstrativum in der höheren DP: Ich nehme diesen Zug. CHENG / HEYCOCK / ZAMPARELLI (2017) arbeiten diese Unterteilung theoretisch weiter aus. Die höhere oder äußere DP wird als „starke“ Position („strong DP“) für anaphorische Determinierer definiert, deren Definitheit sich daraus ergibt, dass das Referenzobjekt in den Diskurskontext eingeführt und dadurch individualisiert wird, z.B.: Es gibt einen Zug um 17:00. Ich nehme diesen Zug. Die niedrigere oder innere DP ist dagegen die „schwache“ Position („weak DP“) für Determinierer, deren Definitheit von der Maximalität des Referenzobjekts abhängt (CHENG / HEYCOCK / ZAMPARELLI 2017: 80), z.B. Ich nehme den Zug (einen beliebigen Zug, aber keinen Bus und kein Schiff). Der vorliegende Beitrag folgt diesen Ansätzen und benennt die Projektionen so, wie es für die Verhältnisse in deutschen Possessivkonstruktionen angemessen ist. Für die höhere DP wird in Abb. 1 die Bezeichnung „DemP“ gewählt, weil diese Projektion im heutigen Deutsch durch zweisilbige Demonstrativa (dieser etc.) lexikalisiert werden kann, und zwar in Kombination mit dem Possessivum nur noch durch zweisilbige Demonstrativa, siehe (8). Im Alt- und Mittelhochdeutschen besteht zusätzlich die Möglichkeit der Kookkurrenz des Possessivums mit bestimmtem und unbestimmtem Artikel: „Die Verbindung des bestimmten Art. mit dem Poss.-Pron. ist [im Mhd.] nicht selten“ (PAUL 2007: 369), vgl. (9). BEHAGHEL (1923: 358) interpretiert die Form die in (9) allerdings nicht als Artikel, sondern als (einsilbiges) deiktisches Pronomen (die Verwendung dieses einsilbigen Pronomens mit Possessivum wird im Mittelhochdeutschen dann seltener und tritt nach BEHAGHEL 1923: 358 im älteren Neuhochdeutschen nur noch in Resten auf). (8)

dieses unseren Landes (ZEIT, 13.01.2000, Nr. 3)

(9)

die ſine man ‘seine Männer’ („Nibelungenlied“, Handschrift C 68,3)

BEHAGHELS Interpretation ist implizit in überraschender Übereinstimmung mit den oben zitierten generativen Studien, die die Funktion der höheren DP eben genau im Ausdruck von Deixis und Individualisierung sehen. Die niedrigere DP wird in Abb. 1 als „DefP“ bezeichnet, weil sie dem Ausdruck der eigentlichen Definitheit vorbehalten ist. Im Deutschen wird dieser Ausdruck durch das Possessivum allein geleistet, was im Deutschen durch die Bewegung des Possessivums aus PossP nach DefP visualisiert wird, wie es in Abb. 1 auch für das Zimbrische dargestellt ist. In typologischer Perspektive bedeutet das, dass das Possessivum im Deutschen „definitheitsinduzierend“ ist (ZIFONUN 2005: 66).

Possessivkonstruktionen im Zimbrischen – eine Split-DP-Analyse

185

In den folgenden Ausführungen werden drei wesentliche Merkmale der Possessivkonstruktionen im Zimbrischen behandelt: Erstens ist das Possessivum auch im Zimbrischen definitheitsinduzierend, trotz der Kookkurenz mit dem bestimmten Artikel. Zweitens findet die in Abschnitt 4 behandelte diachronische und synchronische Variation der Artikelsetzung im Zimbrischen innerhalb dieser Struktur statt: Die Variation betrifft also die Lexikalisierung der Projektionen, nicht die Projektionen selbst. Drittens verhält sich das Zimbrische damit wie das Deutsche, bewahrt also trotz seiner vom Sprachkontakt mit dem Italienischen geprägten Eigenentwicklung die syntaktische Grundstruktur des Deutschen. Das Modell in Abb. 1 gilt also nicht nur für das Zimbrische, sondern für alle Varietäten des Deutschen. (a) Das Possessivum im Zimbrischen ist definitheitsinduzierend. Oberflächlich betrachtet entspricht die Konstruktion in (10), die in Abb. 1 als Beispiel verwendet wird, der italienischen Konstruktion in (11). (10) dər zàin töxtərə ‘ihrer Tochter’ (Wenkersatz 9 aus Bogen 46369, Mezzaselva 1926) (11) nel vostro giardin ‘in eurem Garten’ (Wenkersatz 33, Erhebung Selva di Progno 2009) (12) a so fiola ‘ihrer Tochter’ (Wenkersatz 9, Erhebung Selva di Progno 2009) Diese Entsprechung ist allerdings nur oberflächlich. Im Italienischen gilt das Possessivum im Normalfall als definitheitsunspezifisch (vgl. ZIFONUN 2005: 66). In Split-DP-Analysen wird eine Bewegung des Possessivums in den Bereich der Kongruenzmerkmale konstatiert (AgrP, vgl. z.B. GIUSTI 2007: 392; man kann auch eine Bewegung in PossP annehmen wie in Abb. 2, siehe Abschnitt 6), nicht aber in den Bereich der DP-Merkmale, welche vom Artikel realisiert sind (wie in [11]: die Konstruktion ist im Standarditalienischen und im veronesischen Dialekt von Selva di Progno identisch). Gegen die Übernahme der italienischen Struktur durch das Zimbrische spricht außerdem: Erstens steht bei einfachen Verwandtschaftsbezeichungen im Singular wie fiola ‘Tochter’ in (12) im Italienischen gar kein Artikel (weshalb GIUSTI 2007: 393 bei Konstruktionen wie [12] eine Bewegung des Possessivums wie im Deutschen in die DP ansetzt). Zweitens, und das macht den fundamentalen Unterschied zwischen Zimbrisch und Italienisch aus, ist im Zimbrischen eine Kombination des Possessivums mit dem unbestimmten Artikel nicht möglich. Zum besseren Verständnis sind die Beispiele im Folgenden mit Varianten versehen und glossiert.

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Stefan Rabanus

(10) a.

b.

(11) a.

b.

də-r

zàin

DEM-DAT.SG.F

POSS(DEF).3

töxtərə Tochter(F)[DAT.SG]

‘ihrer Tochter’ * and-ər zàin töxtərə INDF-DAT.SG.F POSS(DEF).3 Tochter(F)[DAT.SG] ‘einer ihrer Töchter’ n-el vostr-o in-DEF.SG.M POSS.2PL-SG.M ‘in eurem Garten’ in un vostr-o in INDF.SG.M POSS.2PL-SG.M ‘in einem eurer Gärten’

giardin Garten(M)[SG] giardin Garten(M)[SG]

Das Possessivum hat im Italienischen nur das Merkmal POSS, was es kompatibel sowohl mit dem bestimmten Artikel in (11a) als auch mit dem unbestimmten Artikel in (11b) macht. Im Zimbrischen trägt das Possessivum dagegen das Merkmal POSS(DEF). Die folgerichtige Inkompatibilität des Possessivums mit dem Merkmal INDF des unbestimmten Artikels in (10b) erklärt sich im in Abb. 1 visualisierten Modell daraus, dass das Possessivum nach DefP bewegt wird. Die zimbrische Konstruktion in (10a) entspricht damit der norwegischen in (13a) (vgl. dazu ZIFONUN 2005: 68). Im Norwegischen (Bokmål) wird bei nachgestelltem Possessivum dem Kopfnomen ein Definitheitssuffix angefügt. Bei vorangestelltem Possessivum steht kein Definitheitssuffix, siehe (13b). Eine Kombination mit einem unbestimmten Artikel führt zu einer ungrammatischen Konstruktion wie in (13c). (13) a.

b.

c.

hus-et mitt Haus(N)-DEF.N POSS(DEF).1SG.N ‘mein Haus’ mitt hus POSS(DEF).1SG.N Haus(N) ‘mein Haus’ * et hus mitt INDF.N Haus(N) POSS(DEF).1SG.N ‘eines meiner Häuser’

(b) Das Modell in Abb. 1 ist für das Zimbrische der VII Gemeinden entwickelt worden, wie es sich in den Wenkersätzen 1926 präsentiert, also mit durchgängiger Artikelsetzung. Die Ausführungen in Abschnitt 4 zeigen, dass diese Durchgängigkeit weder für das ältere Zimbrisch der VII Gemeinden, noch für die anderen zimbrischen Varietäten gilt. Besonders relevant für die Argumentation ist die heutige Situation in Lusern, weil hier semantisch-pragmatische Differenzen der Varianten durch Sprecherbefragungen festgestellt werden können. Solche Befragungen ergeben, dass heutige Sprecher in Lusern den Artikel ausschließlich zur Kontrastmarkierung verwenden, vgl. (6). Kontrast ist nach LYONS (1999: 18) ein

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wesentliches Element der Demonstrativität: „demonstrative reference always involves a contrast“. Das verbindet die zimbrischen Daten aus Lusern mit den standarddeutschen Daten in (8): Mit dem Possessivum kookkuriert im Standarddeutschen nur das Demonstrativum, im Zimbrischen von Lusern nur der Artikel als Kontrastmarker. Für den Ausdruck der Definitheit ist das Possessivum allein ausreichend, als Kontrastmarker ist ein weiteres Element nötig (Demonstrativum oder Artikel, in DemP). Evidenz dafür, dass die heutigen Verhältnisse in Lusern den historischen in den VII Gemeinden ähnlich sind, liefert das Manuskript von SLAVIERO (1991), eine handschriftlich skizzierte Grammatik des Zimbrischen der VII Gemeinden von ca. 1740. SLAVIERO (1991: 53–54) gibt in der Paradigmadarstellung zunächst das Possessivum ohne Artikel als Entsprechung der italienischen Formen mit Artikel an. In einer Fußnote stellt er dann aber fest: „Si dice Maine libarn, i miei libri, e Dii main libarn, que' miei libri“ ‘Man sagt maine libarn ‘meine Bücher’, und dii main libarn ‘jene meine Bücher’’(SLAVIERO 1991: 54; meine Übersetzung, Unterstreichungen im Original). Der zimbrische Artikel wird also mit dem distalen italienischen Demonstrativum quel ‘jener’ gleichgesetzt. (c) Aus dem Gesagten folgt, dass Possessivkonstruktionen im Zimbrischen in allen seinen Varietäten in Geschichte und Gegenwart dieselbe syntaktische Grundstruktur haben wie im Deutschen. Das Possessivum wird generell nach DefP bewegt, d.h., es ist definitheitsinduzierend. Lexikalisierungen von DemP signalisieren Kontrast: Sie geben der Konstruktion damit pragmatische Zusatzinformation zur Identifizierung des Referenten im Diskurs. Dessen ungeachtet bleiben Unterschiede zwischen den einzelnen Varietäten. Erstens ist im heutigen Deutschen und in Lusern die Lexikalisierung von DemP selten, siehe (14a). Im Zimbrisch der VII Gemeinden von 1926 scheint die Setzung des Artikels dagegen obligatorisch geworden zu sein, wofür der Sprachkontakt mit dem Italienischen eine wichtige Rolle spielt (vgl. Abschnitt 6). Zweitens wird im Zimbrischen von Lusern DemP nur mit dem Artikel bzw. dem einsilbigen Demonstrativum lexikalisiert, siehe (14b). Die Setzung des zweisilbigen Demonstrativums (das im Zimbrischen von Lusern existiert) wie im Deutschen ist nach Sprecherurteilen ungrammatisch, siehe (14c). (Zur Beurteilung der Situation im Zimbrischen der VII und XIII Gemeinden sind keine geeigneten Daten verfügbar.) (14) a. b. c.

moi hunt ‘mein Hund’ dar moi hunt ‘mein Hund (nicht deiner)’ * dizar moi hunt ‘dieser mein Hund’

Drittens hat sich diese heute im Deutschen generell nachweisbare Struktur im mittelalterlichen Deutsch erst langsam herausgebildet. Das Hauptargument dafür, die Bewegung des Possessivums nach DefP anzunehmen, ist die Inkompatibilität mit dem unbestimmten Artikel. Im älteren Deutsch sind Konstruktionen mit unbe-

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stimmtem Artikel wie ein ſin ſtiffun („Annolied“, Handschrift O, 29,05; normalisiertes Mittelhochdeutsch: ein sîn stiefsun) durchaus belegt. BEHAGHEL (1923: 120) nimmt hier zwar an, dass „diese Wendungen [...] wohl das Ergebnis einer Konstruktionsmischung aus ein mit partitivem Gen. und attributivem ein“ sind. Ob damit aber die in Abb. 1 abgebildete Struktur auch für das mittelalterliche Deutsch angenommen werden kann, bleibt unklar. Dieser Frage kann im Rahmen dieser Studie zum Zimbrischen nicht weiter nachgegangen werden.

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AUSWIRKUNGEN DES SPRACHKONTAKTS

In Abb. 2 ist die syntaktische Struktur der Possessivkonstruktionen in den Dialekten Venetiens6 am Beispiel von (15) visualisiert, welches nachfolgend in glossierter Form dargestellt wird. In den Dialekten Venetiens ist wie im Standarditalienischen die Setzung eines Artikels obligatorisch (mit Ausnahme der Konstruktionen mit Verwandtschaftsbezeichnung, mit denen kein bestimmter Artikel kookkuriert, siehe [12] oben).

Abb. 2: Syntaktische Struktur der Possessivkonstruktionen in den Dialekten Venetiens, am Beispiel von (15)

(15) lu ne l-a so innocenza 3SG.M in DEF-SG.F POSS.3 Unschuld(F)[SG] ‘er, in seiner Unschuld’ (CLEMENTI / TOMEZZOLI 2010: 56) 6

Die Daten zu den Dialekten Venetiens in (15), (17) und (18) sind der Anthologie venetischer Dialektliteratur hrsg. von CLEMENTI / TOMEZZOLI (2010) entnommen und nicht eindeutig spezifischen Ortsdialekten zuzuordnen.

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Der Vergleich mit Abb. 1 zeigt den syntaktischen Strukturunterschied zwischen Italienisch und Zimbrisch. Während im Deutschen/Zimbrischen der DP-Bereich in DemP und DefP strukturiert ist, ist für italienische Possessivkonstruktionen die Annahme einer einzigen DP, in der gleichermaßen Artikel und Demonstrativpronomen stehen können, ausreichend (ein potentieller DP-Split wäre hier unterspezifiziert). Ungeachtet dieses Strukturunterschieds stimmt die Oberflächenform der Possessivkonstruktionen des Typs Artikel-Possessivum-NP im Italienischen und Zimbrischen überein. Diese Übereinstimmung soll hier nicht als Zufall, sondern als Auswirkung des Sprachkontakts mit dem Italienischen interpretiert werden. Es ist kein Gegenargument, dass die Setzung des Artikels im Zimbrischen der VII Gemeinden (1926) konsequenter ist als im Italienischen (wie schon ausgeführt steht bei Verwandtschaftsbezeichnungen im Italienischen kein Artikel, vgl. Beispiel [12] oben und, ausführlich zum Standarditalienischen und dem Dialekt von Selva di Progno, RABANUS 2020). Generalisierungen und der Wegfall von Sonderregeln (hier für eine bestimmte Klasse von Appellativen) sind im Sprachkontakt nicht ungewöhnlich (vgl. RABANUS 2020). Ein weiterer Aspekt dieses sprachkontaktbegünstigten wenn nicht sogar sprachkontaktinduzierten Wandels ist die Tendenz zum Verlust der Kongruenzmerkmale des Possessums im Possessivum. In den zimbrischen Beispielen (3) und (10), die hier noch einmal in glossierter Form wiedergegeben werden, ist die Kongruenzkette der Possessum-Merkmale DAT.SG.F durch das bezüglich dieser Merkmale unflektierte Possessivum unterbrochen. In Abb. 1 ist diese Unterbrechung durch das Fehlen der Verbindungslinien zwischen Agr und dem nach Def angehobenen Possessivum zàin visualisiert. (3)

(wir) vun d-ar unzar 1PL von DEM-DAT.SG.F POSS(DEF).1PL ‘(wir) von unserer Reinheit’

(10) də-r DEM-DAT.SG.F

puritè Reinheit(F)[DAT.SG]

zàin

töxtərə

POSS(DEF).3

Tochter(F)[DAT.SG]

‘ihrer Tochter’ In Abschnitt 4 wurde ausgeführt, dass es im Zimbrischen der VII Gemeinden (1926) eine starke Tendenz zur Präferenz für diesen Typ (3) gibt, also dazu, die Possessum-Kategorien nur noch am Artikel und nicht mehr am Possessivum zu markieren (vgl. Tab. 3). Das betrifft vor allem die Possessiva mit singularischen Basen wie màin, dàin oder zàin wie in (10), aber eben auch pluralische Basen wie unzar in (3). Damit entstehen Verhältnisse, die denen in den Dialekten Venetiens sehr ähnlich sind. In den Dialekten Venetiens gibt es in der 3. Person keine Kongruenz zwischen (unflektierbarem) so und Possessum (siehe [15] und Abb. 2). Die Dialekte Venetiens unterscheiden sich diesbezüglich vom Standarditalienischen, wo an die dem so etymologisch entsprechenden singularischen Basis su- die Exponenz der Possessum-Merkmale tritt – das Suffix -a für SG.F in (16a) –, während

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beim pluralischen loro in (16b) die Kongruenzkette auch im Standarditalienischen unterbrochen ist. (16) a.

b.

egli con l-a su-a giustizia 3SG.M mit DEF-SG.F POSS.3SG-SG.F Gerechtigkeit(F)[SG] ‘er mit seiner Gerechtigkeit’ essi con l-a loro giustizia 3PL.M mit DEF-SG.F POSS.3PL Gerechtigkeit(F)[SG] ‘sie mit ihrer Gerechtigkeit’

In der 1. und 2. Person fehlen in den Dialekten Venetiens die PossessumMerkmale bei singularischen Basen, siehe (17). Bei pluralischen Basen wie nossin (18) sind die Merkmale der Kongruenz mit dem Possessum (SG.F) allerdings am Possessivum realisiert: Die Kongruenzkette ist damit wie im Standarditalienischen geschlossen. (17) mi torn-o a tera co l-a me testa 1SG zurückkehren-1SG zur Erde mit DEF-SG.F POSS.1SG Kopf(F)[SG] ‘ich kehre mit meinem Kopf auf die Erde zurück’ (CLEMENTI / TOMEZZOLI 2010: 32) (18) de noi e de l-a noss-a tera natal von 2PL und von DEF-SG.F POSS.1PL-SG.F Erde(F)[SG] Geburts‘von uns und unserer Heimaterde’ (CLEMENTI / TOMEZZOLI 2010: 120) Da nun die empirischen Daten (vgl. Abschnitt 4, besonders Tab. 3) zeigen, dass es sich in der Geschichte des Zimbrischen tatsächlich um den Verlust ursprünglich vorhandener Exponenten handelt und nicht, wie SCHWEIZER (2008: 410) suggeriert, um den Erhalt eines altdeutschen (ahd.) Merkmals, soll der Wandel als mindestens sprachkontaktbegünstigt klassifiziert werden.7 Die Tatsache, dass in der 1. und 2. Person im Zimbrischen im Gegensatz zu den Dialekten Venetiens auch pluralische Basen ohne Possessum-Merkmale auftreten, soll wie die ausnahmslose Setzung des bestimmten Artikels als eine für Sprachkontaktsituationen typische Übergeneralisierung von Regeln und nicht als Argument gegen die Wirkung des Sprachkontakts interpretiert werden. Die diachronische Analyse zeigt einen weiteren Fall von sprachkontaktinduziertem Wandel auf der morphologischen Ebene, und zwar bezüglich der Basis der zimbrischen Possessiva. In Tab. 4 sind die Formtypen der Basis der Possessiva der 3. Person in den hier relevanten Sprachen dargestellt.

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Zu einem gleichlautenden Ergebnis kommen BIDESE / PADOVAN / TUROLLA (2019: 376‒381) für den Verlust der Suffixe in der schwachen Adjektivflexion.

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Possessor Deutsch

Zimbrisch 1602

Zimbrisch 2018

SG.M SG.F PL (M/F)

sain A ir B ir B

soi soi soi

sein A ihr B ihr B

A A A

Venetisch 2010

so so so

A A A

Lateinisch

su su su

A A A

Italienisch

su su loro

A A B

Tab. 4: Possessiva der 3. Person im Zimbrischen im Vergleich zu anderen Sprachen

Für die Dialekte Venetiens und das Zimbrische sind die Typen aus den in (15) sowie (19) und (20) exemplifizierten Daten rekonstruiert, wobei der Possessor in (a) stets im Singular Maskulinum, in (b) im Singular Femininum und in (c) im Plural steht (Possessor und Possessivum sind in den Beispielen unterstrichen). (15) a.

b.

c.

(19) a.

b.

c.

(20) a.

b.

c.

lu, ne la so innocenza ‘er, in seiner Unschuld’ (CLEMENTI / TOMEZZOLI 2010: 56) la luna la risprendeva in mezo al firmamento, co la so facia larga ‘der Mond leuchtete mitten am Himmel, mit seinem breiten Gesicht’ (CLEMENTI / TOMEZZOLI 2010: 24) dei buteleti in adorazion, par la so prima confession ‘einige Jungen in Anbetung, für ihre Erstkommunion’ (CLEMENTI / TOMEZZOLI 2010: 32) Iesu Christ, zò derluosan de belt mit saime precioseten pluete ‘Jesus Christus, um die Welt mit seinem wertvollen Blut zu erlösen’ („Erster Katechismus“: Z. 277‒278) baròme privart de seela von ir gaistlikez leeben ‘weil sie die Seele ihres geistlichen Lebens beraubt’ („Erster Katechismus“: Z. 739‒740) benne di liderder ghelaikent hìerme hòpe ‘wenn die Glieder ihrem Haupt gleichen’ („Erster Katechismus“: Z. 62‒63) I gedenkh in Arturo soi tiava stimme ‘Ich erinnere mich an Arturo mit seiner tiefen Stimme’ („Dar Fòldjo“, August 2008, S. 3) di Iolånda o hatt zuargelest soine pensìarn ‘auch Jolanda hat ihre Gedanken gesammelt’ („Dar Fòldjo“, August 2008, S. 3) allz bazta pintet di lusérnar in bèlt pitt soin lånt ‘alles, was die Luserner in der Welt mit ihrem Land verbindet’ („Dar Fòldjo“, August 2008, S. 16)

Die Basis des Possessivums wird vom Possessor kontrolliert. Im Deutschen kontrolliert der Possessor die Form der Basis bezüglich Person, Numerus und Genus

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(vgl. Tab. 1). In der 3. Person Singular führt die Genuskontrolle zur Alternation der Basen sein (Maskulinum, Neutrum) und ihr (Femininum). Die Basis ihr wird genusübergreifend auch vom Possessor in der 3. Person Plural kontrolliert. Diese Alternation existiert im Prinzip unverändert seit dem Althochdeutschen (vgl. GRIMM 1898: 409). Das Deutsche hat damit das Schema ABB. Im Lateinischen wird unabhängig vom Possessor in der 3. Person immer die genus- und numerusneutrale Einheitsbasis su verwendet (Schema AAA). Der Ausdruck suus canis kann ‘sein Hund’, ‘ihr Hund’ (etwa Annas Hund) und ‘ihr Hund’ (etwa der Hund unserer Freunde) bedeuten. Im Standarditalienischen kontrolliert der Possessor in der 3. Person den Numerus der Basis: Während das genusneutrale lat. su im Singular weitergeführt wird,8 steht im Plural loro, vgl. Beispiel (16b). Die Form loro ist eine verhältnismäßig rezente Neubildung aus dem Genitiv Plural illorum des lateinischen Demonstrativums ille und hat als unflektierbares Wort auch synchronisch eine Sonderstellung im Paradigma der Possessiva (vgl. ROHLFS 1968: 120‒ 122). Standarditalienisch hat damit das Schema AAB. Die für den Sprachkontakt mit dem Zimbrischen relevanten Dialekte Venetiens haben dieses loro in der Regel nicht eingeführt und folgen dem lateinischen Schema AAA mit Verwendung des unflektierbaren Formtyps so.9 Im Zimbrischen des „Ersten Katechismus“ (1602) ist das deutsche Schema ABB erhalten. Der Possessor kontrolliert die Basis bezüglich Genus mit den Formen sain (Maskulinum, Neutrum) vs. ir (Femininum), und bezüglich Numerus mit dem Typ ir für den Plural. Die jüngeren Entwicklungsstufen der zimbrischen Varietäten haben dagegen wie die Dialekte Venetiens eine genus- und numerusneutrale Einheitsform für die Basis des Possessivums der 3. Person, in Tab. 4 mit der Form soi des heutigen Zimbrischen von Lusern exemplifiziert (vgl. auch TYROLLER 2003: 159; PANIERI 2006: 176‒179). Eine solche Einheitsform wird für Lusern bereits von BACHER (1905: 189) genannt, für die VII und XIII Gemeinden in den 1930er und 1940er Jahren von SCHWEIZER (2008: 410; vgl. auch Beispiel [10]). Aus der diachronischen Analyse ergibt sich demnach, dass die ursprüngliche, im „Ersten Katechismus“ (1602) und der Novena (1800) belegte Genus- und Numeruskontrolle in der 3. Person vermutlich im Verlauf des 19. Jahrhunderts verlorengegangen ist (vgl. dazu auch RABANUS 2020). Der Nachweis dieses Wandels als sprachkontaktinduziert ist freilich nur dann klar zu führen, wenn der Wandel in den binnendeutschen Dialekten nicht vorkommt. Das scheint im Prinzip der Fall zu sein. Zwar gibt es nicht selten (berichtet für Westmitteldeutsch, aber auch für Bairisch und Alemannisch) die Neutralisierung der Referenz auf feminine Possessoren beim sog. possessiven Dativ wie in dem Monika sein Rad. LESER-CRONAU (2017) untersucht das Phänomen im Rahmen des Projekts „Syntax hessischer Dialekte“. Allerdings ist beim

8

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Die genusneutrale Basis su kann sich auf maskuline und feminine Possessoren beziehen. Die Spezifikation des Possessor-Genus kann durch Präpositionalphrase mit Personalpronomen erfolgen, alternativ zu aber auch in Kookkurrenz mit dem genusneutralen su, etwa la sua di lei amica ‘ihre Freundin’ vs. la sua di lui amica ‘seine Freundin’. Weil also der Possessor-Numerus damit nicht in allen Personen kontrolliert wird, ist die Verbindungslinie zwischen Possessor-Numerus und Possessivum in Abb. 2 ausgelassen.

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possessiven Dativ der Possessor Teil der das Possessum beinhaltenden DP, die Konstruktion also verschieden von den hier in Rede stehenden Konstruktionen mit einem Possessor außerhalb der Possessum-DP. Zweitens korreliert die Verwendung des Possessivums mit neutraler Basis in den meisten Fällen mit der Verwendung des neutralen Artikels für den Personennamen (dem Monika, und nicht der Monika). Zudem stellt LESER-CRONAU (2017: 419) in Anknüpfung an ältere Forschung „eine Verbindung zwischen den neutralen Kongruenzformen bei weiblichen Namen und dem Vorhandensein von neutralen Lexemen zur Bezeichnung weiblicher Personen“ fest. Damit wäre der Possessor trotz des weiblichen Sexus grammatisch als als Neutrum konzeptualisiert, Genuskontrolle des Possessivums wäre gegeben. Für Konstruktionen, die genau den hier für das Zimbrische geschilderten Verhältnissen entsprechen, sind mir im Deutschen nur absolut isolierte Einzelbelege bekannt, etwa aus dem „Hessen-Nassauischen Volkswörterbuch“ (zitiert nach LESER-CRONAU 2017: 413) in (21) oder aus dem „Parzival“ (zitiert nach GRIMM 1898: 410) in (22).10 (21) Do langt se (...) sei Spennrod vo der Läwe (…) roob ‘Da holt sie sein (i.S.v. ‘ihr’) Spinnrad von dem Speicher herunter’ (HNWB III70) (22) diu fruht sînr muoter muoter wirt ‘die Frucht seiner (i.S.v. ‘ihrer’) Mutter wird Mutter’ („Parzival“)

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KONKLUSIONEN

Das Zimbrische steht seit Jahrhunderten im intensiven Sprachkontakt mit italienischen Varietäten. Seit der Zäsur des Ersten Weltkriegs wird das Zimbrische nicht mehr ungebrochen an die nächste Generation weitergegeben. In den VII und XIII Gemeinden hat das Zimbrische heute praktisch nur noch Bedeutung als Identitätsmarker in symbolischen Sprech- oder Schreibakten. Mit der in der Sprachgeschichte ständig zunehmenden Bedeutung des Italienischen in den mehrsprachigen Repertoires der Zimbern korreliert die Herausbildung von Strukturen, die mit den entsprechenden italienischen Strukturen übereinstimmen und die folglich mindestens durch den Sprachkontakt begünstigt, wenn nicht sogar sprachkontaktinduziert sind. Es muss allerdings unterstrichen werden, dass die hier beschriebenen Übereinstimmungen entweder oberflächenbezogen sind (Kookkurrenz von Artikel und Possessivum) oder eher die Peripherie als den Kern der Systems betreffen (Kontrolle der Possessor-Kategorien im Possessivum). Die syntaktische Struktur der Possessivkonstruktionen ist in den verschiedenen Varietäten des Zimbrischen und Deutschen identisch und vom Italienischen verschieden. Eine 10 Der Vollständigkeit halber soll hinzugefügt werden, dass das Gotische die genus- und numerusneutrale Einheitsform sein- kennt, vgl. BRAUNE / HEIDERMANNS (2004: 133‒134).

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„Lehnsyntax“ im Sinne der Übernahme der syntaktischen Tiefenstruktur aus dem Italienischen ins Zimbrische liegt also nicht vor. Dieses Ergebnis befindet sich in Übereinstimmung mit den Konklusionen anderer Studien zum syntaktischen Wandel im Zimbrischen. Aus BIDESE / PADOVAN / TOMASELLI (2013) geht hervor, dass das Zimbrische ein differenziertes System entwickelt hat, nach dem in von nicht-faktitiven Verben wie ‘glauben’ regierten Objektsätzen Konjunktiv oder Indikativ zugewiesen wird, statt einfach das italienische System zu übernehmen, in dem in solchen Kontexten immer Konjunktiv steht. RABANUS / TOMASELLI (2017) zeigen, dass trotz formaler Übereinstimmungen bei der Subjektrealisierung im Zimbrischen und Italienischen (z.B. die Stellungsfreiheit der Subjekt-NP) wichtige Strukturunterschiede bleiben (im Zimbrischen muss bei ausgeklammerter Subjekt-NP rechts vom finiten Verb im Unterschied zum Italienischen ein Expletivum stehen; vgl. RABANUS / TOMASELLI 2017: 297‒298). CASALICCHIO / PADOVAN (2018) stellen fest, dass mit dem Komplementierer ke (aus ital. che ‘dass’) zwar ein Funktionswort aus dem Italienischen ins Zimbrische übernommen wird, dass diese Entlehnung aber oberflächlich bleibt, weil ke als „generalisiertes Subordinierungselement“ im Zimbrischen andere syntaktische Merkmale hat als in der italienischen Ausgangssprache (vgl. CASALICCHIO / PADOVAN 2018: 190‒192). Ke steht außerdem in einer hohen Strukturposition in der linken Satzperipherie (CP), während sich der native zimbrische Komplementierer az ‘dass’ in einer relativ niedrigen Position befindet (CASALICCHIO / PADOVAN 2018: 189). Auch POLETTO / TOMASELLI (2018: 119) sehen in hohen und damit externen Strukturpositionen den Ausgangspunkt für parametrischen Wandel, etwa beim Verlust der V2-Position im Zimbrischen und der damit einhergehenden Möglichkeit der Linksversetzung mehrerer Konstituenten. Gleichwohl bleiben auch hier strukturelle Unterschiede: Nur das Italienische erlaubt linksversetzte Elemente auch in konjunktional eingeleiteten Nebensätzen (vgl. POLETTO / TOMASELLI 2018: 123‒124). Es bleibt also festzuhalten, dass in keiner der zitierten Fälle Lehnsyntax im eigentlichen Sinne nachgewiesen werden kann.

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Stefan Rabanus

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Possessivkonstruktionen im Zimbrischen – eine Split-DP-Analyse

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IST EINE STRUKTURALISTISCHE DIALEKTOLOGIE NOCH ZEITGEMÄSS?* Lea Schäfer

URIEL WEINREICH hat den Begriff und die Methoden einer strukturalistischen Dialektologie (SD) bereits in den 1950er Jahren auf Grundlage seines Atlas-Projekts zum Jiddischen, dem „Language and Culture Archive of Ashkenazic Jewry“ (LCAAJ) entwickelt. Die SD spielt seitdem insbesondere im englischen Sprachraum in Arbeiten und Atlanten zu phonologischen und phonetischen Phänomenen eine Rolle (vgl. GORDON 2018), wurde jedoch in der theoretisch orientierten Dialektsyntax und -morphologie der letzten Jahrzehnte nicht explizit berücksichtigt. Mit SEILER (2018) wurde diese Idee zurück in den Diskurs gebracht. Dieser Beitrag zeigt an den Materialien des LCAAJ, dass eine SD auch für die Bereiche der Syntax und Morphologie durchaus möglich ist und ihre Prinzipien und Methoden zu einem gewissen Grad bereits auch zum Common Sense der theoretisch informierten Dialektologie gehören, ohne dass diese offen artikuliert werden. Die hier behandelten grammatischen Phänomene der jiddischen Dialekte behandeln die Nominalmorphologie und -syntax. Diskutiert werden Daten zur Transparenz bzw. Intransparenz klitisierter Artikelformen und Double Agreement der 1. Person Plural.

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URIEL WEINREICHS „STRUCTURAL DIALECTOLOGY“

Im strukturalistischen Sinne versteht die strukturalistische Dialektologie (SD) Sprache als ein geschlossenes System, ein „système où tout se tient“ (MEILLET 1903: 407). Dialektologie ist in diesem Sinne die Wissenschaft der sprachlichen Subsysteme sogenannter „Diasysteme“ (WEINREICH 1954: 390) und beschäftigt sich mit den „differences of inventory and differences of distribution“ (WEINREICH 1954: 393). In einem Diasystem subsumieren sich Systeme, die *

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des Projekts „Syntax ostjiddischer Dialekte / Syntax of eastern Yiddish dialects (seyd)“, welches zwischen 2017 und 2018 durch ein Forschungsstipendium der Fritz Thyssen Stiftung und seit Ende 2018 als dreijähriges Forschungsprojekt durch das BMBF finanzierten wird. Gedankt sei an dieser Stelle den fleißigen Hilfskräften des Projekts Marc Brode, Jana Katczynski und Florian Leuwer. Des Weiteren bin ich dankbar für den Austausch zu Themen dieses Beitrags mit SOPHIE ELLSÄSSER, STEFAN RABANUS und OLIVER SCHALLERT und den hilfreichen Anmerkungen des:der Gutachters:in.

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strukturelle Gemeinsamkeiten teilen; Diasysteme können ad hoc generiert werden (WEINREICH 1954: 395). Varietäten, die auch strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen, können unter einem Diasystem zusammengefasst werden, wie z.B. die Sprachen der Welt, oder die Sprachen des Europäischen Sprachbunds. Damit sind Gemeinsamkeiten in der SD deutlich wichtiger als in der klassischen Dialektologie, in der vor allem Unterschiede (Isoglossen) im Zentrum stehen. WEINREICH (1954: 390) definiert die SD als „the study of partial similarities and differences between systems and of the structural consequences thereof.“ Nach WEINREICH (1954: 391) ignoriert die klassische Dialektologie die Strukturen der einzelnen Varietäten und vergleicht in der Regel Elemente, die zu verschiedenen Systemen gehören, ohne ihre innere Zugehörigkeit zu diesen Systemen ausreichend zu berücksichtigen. Die klassische Dialektologie fragt: Wie sieht Struktur X an den Orten A und B aus?, während die SD daran interessiert ist, welche Funktion eine Struktur X in einem jeweiligen System hat (vgl. MOULTON 1968: 453; WEINREICH 1954: 392–93). So würde zum Beispiel der klassische Ansatz, der nur die Formseite beschreibt, feststellen, dass der Plural von ‘Fuß’ in den jiddischen Dialekten immer di fis heißt. Ein systemischer Unterschied wäre nicht festzustellen. Hingegen der strukturalistische Ansatz würde den Plural von ‘Fuß’ systemisch, also z.B. paradigmatisch beschreiben und so feststellen, dass es zwei Varietäten gibt: In der einen ist das Genus von ‘Fuß’ ins Feminum gewandert: di fus ‘der Fuß’– di fis ‘die Füße’ und in der anderen Varietät bliebt zwar das Maskulinum erhalten, es greift aber ein Lautwandel von u zu i: der fis ‘der Fuß’ – di fis ‘die Füße’. Die Distinktion zwischen Singular und Plural ist in beiden Fällen erhalten geblieben (vgl. WEINREICH 1954: 390–91). Entscheidend für WEINREICH ist daher die Trennung von Form und Funktion: If dialectologist would consider the functions of the elements which they use in their comparisons, their conception of a ‘diasystem’ would come close to that proposed here for structural linguistics and might lead to the unified theory which is so badly needed. (WEINREICH 1954: 393)

Nur dank dieser Trennung ist es möglich die Variation hinter der Form di fis aufzudecken. Wie das Zitat zeigt, ist die SD an einer theoretisch informierten Linguistik interessiert und versteht sich als (empirischer) Zuarbeiter der Theoriebildung. Hier muss der wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund berücksichtigt werden. Wir befinden uns mit WEINREICHS Aufsatz, der 1954 erschien, noch vor der Veröffentlichung von CHOMSKYS „Syntactic Structures“ (1957). Wie u.a. der Briefwechsel mit NOAM CHOMSKY zeigt, hat sich WEINREICH durchaus mit den Ideen der generativen Grammatik auseinandergesetzt.1 Doch trotz aller Wertschätzung übernimmt WEINREICH die generativen Terminologien nicht und bleibt seiner SD treu, auch wenn er 1964 noch anerkennend an CHOMSKY schreibt: „Having almost made a career out of the question whether a structural dialectology is possible, I am

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U. WEINREICH Collection, YIVO New York, folder 21, RG 552. Für die Information über den Briefwechsel zwischen CHOMSKY und WEINREICH danke ich ALEC BURKO.

Ist eine strukturalistische Dialektologie noch zeitgemäß?

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now beginning to wonder whether one is necessary.“ (Brief von U. WEINREICH an N. CHOMSKY, 10. März 1964, U. WEINREICH Collection, YIVO New York, folder 21, RG 552.) Ein zentraler Unterschied zwischen der klassischen, nicht-strukturalistischen Dialektologie und WEINREICHS SD ist der Umgang mit „Bewegung“ in sprachlichen Systemen, also Sprachwandel und Variation. WEINREICH (1954: 389) führt hierzu das Beispiel von Zenos Pfeil an, dessen Bewegung sich in punktuellen Momentaufnahmen vollzieht. Die Beschreibung von einzelnen Idiolekten – vergleichbar mit CHOMSKYS Kompetenz bzw. später I-Language – kann nach WEINREICH nur statische Systeme einfangen, was den Anspruch, alle Sprachen der Welt beschreiben zu wollen, zu einem unmöglichen, weil unerschöpflichen Unterfangen macht (vgl. WEINREICH 1954: 389). Im Gegensatz zu einem dialektologischem Framework, das die Dichotomie von Synchronie und Diachronie ablehnt, strebt die SD einen vergleichenden Blick verschiedener sprachlicher Systeme an, um davon ausgehend Regeln für ein Diasystem bzw. für das allgemeine System von Sprache abzuleiten.

Abb. 1: Klassische Dialektologie

Abb. 2: Strukturalistische Dialektologie

Bis zu einem gewissen Grad erfüllt auch die klassische Generative Grammatik (GG) CHOMSKYS nicht die strukturalistischen Forderungen. In WEINREICHS letztem Artikel wird diese Kritik an der GG deutlich formuliert: the generative model for the description of language as a homogeneous object […] is itself needlessly unrealistic and represents a backward step from structural theories capable of accommodating the facts of orderly heterogeneity. It seems to us quite pointless to construct a theory of change which accepts as its input unnecessarily idealized and counterfactual descriptions of language states. Long before predictive theories of language change can be attempted, it will be necessary to learn to see language – whether from a diachronic or a synchronic vantage – as an object possessing orderly heterogeneity. (WEINREICH / LABOV / HERZOG 1968: 100)

Die Unterscheidung zwischen Diachronie und Synchronie ist dabei für die SD essentiell, um der „orderly heterogenity“, d.h. der geordneten Heterogenität von Sprache (WEINREICH 1954: 388; WEINREICH / LABOV / HERZOG 1968: 100) gerecht zu werden. Die Trennung zwischen Variation (≙ Synchronie) und Wandel (≙ Diachronie) ist entscheidend, um Grundstrukturen von Sprache zu erkennen. Hier schließen sich sich die „faculté du langage“ des Strukturalismus (DE

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SAUSSURE 2016 [1916]: 73) und die Idee einer generativen Universalgrammatik bzw. der späteren „faculty of language“ (HAUSER / CHOMSKY / FITCH 2002) als Idee eines absoluten Diasystems nicht grundsätzlich aus, da beide Ansätze eine funktionsorientierte, generalisierbare Beschreibung von Sprache anstreben. Auch die von CHOMSKY (1986) eingeführte Opposition zwischen I(nternalised)- und E(xternalised)-Language ähnelt der zwischen Diasystem und Varietäten und liefert ein durchaus sinniges Modell zur Beschreibung der Prozesse von Variation und Wandel (vgl. WEISS 2009; SEILER 2018). Demzufolge ist Variation „change in progress“ (SEILER 2018: 90), der synchron durch Sprecherkontakt, also den Sprechakt, in der E-Language zum Ausdruck kommt und langfristig (je nach Intensität und Struktur der Variablen) zu Änderungen in der I-Language führen kann (vgl. Abb. 3). SEILER (2018: 91) nennt diesen Mechanismus zwischen Eund I-Language „feedbacking process“. Dieses Modell beschreibt in erster Linie sprachkontaktinduzierten Sprachwandel, der von der synchronen Variation in der E-Language das ständig um Ausgleich bemühte System der I-Language „infiziert“ und systemische Sprachwandelmechanismen auslöst. Die I-Language ist auf diesen Anpassungsprozess spezialisiert und ist (wiederum je nach Struktur) in sich viskos. Viskosität meint hier „die potenzielle Flexibilität eines sprachlichen Systems“ (SCHÄFER 2017: 51; siehe auch SEILER 2018: 90). Interner Sprachwandel, der nicht (direkt) auf die Rückkoppelung mit einer (oder mehrerer) E-Language(s) zurückzuführen ist, wäre aber auch in diesem Modell als Ausdruck der Selbstoptimierung des sprachlichen Systems der I-Language möglich. Im Einzelfall ist natürlich nicht mehr zu entscheiden, ob ein Impuls, der einen Wandel auslöst, eine Reaktion auf einen durch externe Faktoren ausgelösten Wandel ist oder aus den Bedürfnissen des Systems selbst heraus ausgelöst wird, da das System im ständigen Fluss ist: „change begets change“ („Star Trek Discovery“, 1. Staffel Folge 7).

Abb. 3: Variation und Wandel im strukturalistischen Sinne (nach SEILER 2018)

Diese strukturalistische Perspektive auf Sprache idealisiert zu einem gewissen Grad, beziehungsweise reduziert Komplexität, indem externe, insbesondere soziolinguistische Aspekte von Variation auf die einfache binäre Opposition „ähnlich vs. unähnlich“ heruntergebrochen werden: „[L]inguistic systems in a strictly structural view can only be identical or different“ (WEINREICH 1954: 389).

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Der fehlende Brückenschlag zur Folklore- und Soziolinguistik ist vielleicht auch mit ein Grund, wieso der Strukturalismus sich in der germanistischen Dialektologie des 20. Jahrhunderts, für die solche Aspekte von Interesse waren, nicht durchsetzen konnte.2 So hat sich die SD vor allem in der angelsächsichschen Dialektologie im Bereich der Phonologie etablieren können (vgl. GORDON 2018). In der Dialektsyntax ist SD nie zu einer expliziten Methode geworden. Das liegt vor allem daran, dass das Interesse an der Dialektsyntax, wie es seit Ende der 1990er Jahre zu wachsen begann, von vornherein ein syntaxtheoretisches Interesse an Dialekten hatte und sie nicht aus der klassischen Dialektologie hervorgegangen ist: [T]he impetus for an increased interest in dialect syntax stems not so much from the classical modern language disciplines but rather from general linguistics: generativism on the one hand, and typology on the other. (BUCHELI BERGER / GLASER / SEILER 2012: 94)

Doch eine klassische strukturalistische Dialektsyntax im dezidierten WEINREICH’schen Sinne bildet sich in jüngster Zeit heraus (vgl. SEILER / DE VOGELAER 2012). Den Anspruch, zwischen Form und Funktion zu unterscheiden, weisen aber im Grunde alle dialektsyntaktischen Projekte und Arbeiten der letzten Jahre auf. Was ist aber der Vorteil einer SD gegenüber den gängigen Methoden der Dialektsyntax? Mit einer Hinwendung zur SD wäre zum einen die klare Stärkung der Dichotomie von Synchronie und Diachronie gegeben, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder in Frage gestellt wurde (vgl. SEILER 2018). Dieses Bekenntnis zur Unterscheidung von Synchronie und Diachronie ist für das grundsätzliche Verständnis von Variation und Wandel absolut notwendig (siehe oben). Zum anderen bietet die SD einer rein deskriptiven, nicht-theorieaffinen Dialektologie die Möglichkeit, Daten zu systematisieren. Sie liefert im gewissen Sinn das Einmaleins einer theorieneutralen Formulierung von Sprachsystemen und ihren Oppositionen: Ein Diasystem kann z.B. zwei Varietäten (V1, V2) umfassen, von denen Variante 1 in beiden Varietäten vorliegt, allerdings in nur einer der Varietäten (V1) in Opposition zu einer Variante 2 steht, die in der anderen Varietät (V2) nicht gegeben ist:

Strukturalistische Prinzipien und Methoden können helfen, Komplexität zu reduzieren und den Blick auf das Kerngeschäft der Dialektologie zu richten: Unterschiede im Inventar (I-Language, Langue) und Unterschiede in der Verbreitung (E-Language, Parole), also Variation und Wandel zu beschreiben. Das entscheidende Prinzip einer strukturalistischen Dialektologie ist die Überlegung, dass diachrone Sprachwandelprozesse im Raum als Diffusion von Varianten sichtbar werden. Dialekte als raumgebundene Varietäten sind damit das ideale „Labor“ (MOULTON 1962: 25) um Sprachwandelprozesse zu untersuchen. 2

LABOV, als Schüler WEINREICHS, vollzieht zwar durchaus diese Anbindung, doch hatten seine Arbeiten überraschend wenig Einfluss auf die Germanistik.

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Die strukturalistische Dialektologie ist keine Erfindung URIEL WEINREICHS allein und die Verknüpfung von grammatischer Variation im Raum (E-Language) als Repräsentation von Sprachwandel (I-Language), findet sich bereits im Bild von Sprachinseln als sprachgeschichtliches „Laboratorium“ bei SCHIRMUNSKI (1992: 113) und ist Grundidee hinter der Ausbreitung von Innovationen, also Sprachwandel, im Wellenmodell von SCHMIDT (1872: 27–28). Zusammenfassend sind die Axiome einer SD: 1. Trennung Synchronie–Diachronie 2. Trennung Form–Funktion 3. Ad hoc Generierung und Beschreibung von Diasystemen Dieser Beitrag verfolgt das Gedankenspiel, wie URIEL WEINREICHS Ansatz der SD mit dialektsyntaktischer Variation umgegangen wäre. Dies soll im Folgenden am Beispiel von Materialien, die WEINREICH selbst generiert hat, durchgespielt werden.

2 URIEL WEINREICHS „LANGUAGE AND CULTURE ARCHIVE OF ASHKENAZIC JEWRY“ Das zwischen 1959 und 1972 an der Columbia Universität angesiedelte Großprojekt „Language and Culture Archive of Ashkenazic Jewry” (LCAAJ) hatte zum Ziel, die jiddischen Dialekte und jüdischen Kulturen vor dem Holocaust anhand von Interviews mit um 1900 geborenen Gewährspersonen zu erheben. Bis zu seinem Tod 1967 stand das Projekt unter URIEL WEINREICHS Leitung. Als Ergebnis eines Kurses von MAX WEINREICH 1948 zur jiddischen Folklore, erhob BEATRICE (BINAH) SILVERMAN, URIEL WEINREICHS spätere Frau, Interviews mit Jiddischsprechern in den USA. Dabei stellte sich heraus, dass die Gewährspersonen trotz der zeitlichen und geographischen Distanz authentische Auskünfte über die Zustände in der „alten Heimat“ geben konnten und in der neuen Situation in den USA nicht nur kulturgeographische Besonderheiten bewahrt hatten, sondern auch sprachgeographische Merkmale. Wegweisend für die Idee zu einem jiddischen Dialektatlas ist URIEL und BINAH WEINREICHS gemeinsame Zeit in Zürich (1949–1950). Während URIEL WEINREICH dort Daten zum Rätoromanischen für seine Dissertation (WEINREICH 1953) erhebt, besucht er Kurse bei RUDOLF HOTZENKÖCHERLE vom „Sprachatlas der deutschen Schweiz“ und bei JAKOB JUD vom „Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz“. In einem Brief an JOSHUA FISHMAN schreibt er aus Zürich: „Our appetites for language and folklore have grown voraciously, and I am afraid that we will not get away with less than a Yiddish language and folklore atlas“ (Brief von U. WEINREICH an J. FISHMAN, 19. Februar 1950).3 Am Ende der Erhebungsphase 1972 lagen Interviews mit 667 Informant:innen aus 603 unterschiedlichen Geburtsorten vor. 137 Interviews wurden mit Infor3

Quelle: JOSHUA A. FISHMAN Papers, Stanford University, series 1, box 3.

Ist eine strukturalistische Dialektologie noch zeitgemäß?

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mant:innen aus dem westjiddischen Gebiet durchgeführt, wo Jiddisch – mit Ausnahme des Elsass – bereits im frühen 20. Jahrhundert nur noch in wenigen lexikalischen Relikten vorhanden war. Aus dem Elsass stammende Sprecher waren zum Erhebungszeitpunkt noch in der Lage, westjiddische Dialekte zu sprechen. Zwei Interviews wurden in Jerusalem und Safed mit Jiddischsprechern, die bereits im 19. Jahrhundert nach Palästina ausgewandert waren, durchgeführt. Der Großteil der erhobenen Daten bezieht sich auf den osteuropäischen Raum, und auch wenn der LCAAJ den Anspruch erhebt, das gesamte jiddische Sprachgebiet abzubilden, liefert er hauptsächlich Daten zum Ostjiddischen (für weitere Details zum LCAAJ siehe SCHÄFER 2020: 3–6). Die Interviews orientieren sich an einem Fragebuch mit 3.245 Fragen zu Sprache und Brauchtum und wurden auf Magnetband aufgezeichnet.4 Für die linguistische Auswertung wurden noch während der Interviews Mitschriften in einem eigens entwickelten phonologischem Transkriptionssystem der Interviewer auf das Fragebuch widerspiegelnden Blanko-Formularen, sogenannten Fieldnotes, festgehalten.5 Diese Mitschriften stehen im Zentrum der nachfolgenden Analysen.

3

IST EINE STRUKTURALISTISCHE DIALEKTSYNTAX AUF BASIS DES LCAAJ-MATERIALS MÖGLICH? 3.1

Beispiel 1: Transparenter Indefinitartikel beim wh-Determinierer

Als ein erstes, besonders illustratives Beispiel für eine SD auf morphosyntaktischer Ebene soll die Transparenz bzw. Intransparenz des klitisiertem unbestimmten Artikels am Interrogativpronomen vosfar-a (< vos far a ‘was für ein’) in den jiddischen Dialekten des LCAAJ vorgestellt werden. Im Standardjiddischen ist der indefinite Artikel am Interrogativpronomen vosere nicht mehr transparent. Die Form bleibt damit im Singular und im Plural unverändert: (1) vos far a bux iz dos? was für ein Buch ist das ‘Was für ein Buch ist das?’ (2) vos far a bixər zenən dos? was für ein Bücher sind das? ‘Was für Bücher sind das?’ (nach JACOBS 2005: 188)

4 5

Die Aufnahmen sind seit der Jahrtausendwende online einhörbar unter ; Stand: Mai 2019. Die Fieldnotes wurden in den vergangenen Jahren durch die „Columbia University Libraries“ digitalisiert und sind seit Anfang 2018 öffentlich verfügbar unter ; Stand: Mai 2019.

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Die Fieldnotes liefern in der Übersetzung des Satzes 021-010 what white teeth he has die in Tab. 1 angegebenen Varianten im Pluralgebrauch des Interrogativpronomens (in Klammern wird jeweils die Belegmenge angegeben). Die Variation zeugt von starken Elisionen in diesem Bereich. Die Varianten lassen sich zu zwei Typen zusammenfassen, die entweder vosfar (bzw. die Varianten vusar, sara, sarne) + Vokal zeigen (282 Fälle) oder vosfar ohne Vokal (16 Fälle).6 Vor dem Hintergrund, dass der unbestimmte Artikel in dieser Fügung nicht mehr transparent ist, stellt sich die Frage, wie die 16 Belege ohne Vokal zu erklären sind und ob sie womöglich Belege ohne Artikel darstellen. Wäre dies der Fall, dann gäbe es jiddische Dialekte, bei denen der Artikel noch immer transparent und durch den Numerus gesteuert wäre. Typ

Beispiel VOSFARA (143) vosfara vayse tseynerot (ID 51258 Lyubeshiv, Ukraine) VUSARA (113) vusara vaysi tseyn erot (ID 50244 Chervonohrad, Ukraine) (24) sara vayse tseyner er ot (ID 55237 Siauliai, Litauen) SARA VUSFAR (10) vusfar vaysi tseyn erot (ID 51196 Piotrków Trybunalski, Polen) Andere sa (10), vie (9), azelkhe (6), voser (6), velkhe (5), sarne (2), vos (2) Tab. 1: Formtypen des Interrogativpronomens im Plural im LCAAJ-Satz 021-010 what white teeth he has

Um zu klären, ob diese 16 Belege systemisch sind, muss zum Vergleich ein Satz mit vosere im Singular erhoben werden. Taucht ein Vokal (≙ Artikel) in diesem Kontext auf, aber nicht im Plural, ließe sich ein systemischer Kontrast nachweisen. In sieben Übersetzungen von Frage Nr. 120-023 tell me which egg you like better finden sich in den Antworten der 16 Gewährspersonen, die im Plural vosfar verwenden, Antworten, die für diese Fragestellung relevant sind.7 In all diesen sieben relevanten Antworten finden wir im Singular einen Vokal (≙ Artikel) am Interrogativpronomen, im Plural fehlt er hingegen. Natürlichkeitsmorphologisch haben wir es hier mit einer Markiertheitsumkehrung zu tun: der Singular (vosere) ist materialreicher als der Plural (voser). Sobald der Vokal die Bedeutung des unbestimmten Artikels verliert, wird die Opposition zu Gunsten einer natürlichen Nummerusmarkierung nivelliert und die ursprüngliche Singularform (vosere) rutscht in den Plural, wie dies in großen Teilen der jiddischen Dialekte geschehen ist. Im LCAAJ lassen sich zwei Subsysteme eines Diasystems erkennen: Jenes, welches die alte Opposition beibehalten hat und jenes, welches zugunsten der markierten Singularform hin ausgeglichen hat:

6

7

Die absoluten Zahlen und auch die Kartierungen folgen immer der in den Fieldnotes erstgenannten Form; Alternativen bzw. als nachträglich erkennbare Ergänzungen (z.B. durch abweichende Schrift/Schreibmittel) werden nicht berücksichtigt. In vielen Fällen wurde hier der Plural ‘Eier’ verwendet.

Ist eine strukturalistische Dialektologie noch zeitgemäß?

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Die Kartierung in Abb. 4 zeigt, dass die sieben Sprechersysteme, in denen der Artikel noch transparent erscheint, vor allem im Gebiet der südostjiddischen Dialekte liegt (in der Einteilung nach KATZ 1983). Das Material gibt somit Einblicke in einen diachronen Sprachwandelprozess: In sieben I-Languages ist der Zusammenfall von Plural und Singularform, wie er sich über E-Languages verschiedener Sprecher ausgebreitet hat, noch nicht vollzogen worden. Sie stellen somit eine ältere, konservative Grammatik des jiddischen Diasystems dar.

Abb. 4: Reste eines transparenten unbest. Artikel beim Interrogativpronomens voser auf Basis der Übersetzungsaufgaben 021-010 und 120-023

3.2

Beispiel 2: Double Agreement und Komplementiererflexion

Als ein etwas komplexeres Beispiel wird im Folgenden das Auftreten von Double Agreement in den mittel- und südostjiddischen Dialekten behandelt. Double Agreement liegt vor, wenn die Kongruenz unter bestimmten syntaktischen Bedingungen am Verb mit dem Pronomen doppelt markiert werden kann, wie in:

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mir zemir gesesn af a bonk wir sind-1.PL gesessen auf der Bank ‘Wir saßen auf der Bank’ (ID 49271 Zin’kiv, Ukraine)

Double Agreement ist eine Vorstufe zur Komplementiererflexion, d.h. Flexionskongruenz wird in der C-Position (≙ linke Satzklammer) ausgedrückt. Diese wiederum ist eine Besonderheit westgermanischer Varietäten (BOHN / WEISS 2017: 349, siehe auch CORBETT 2006): Die Komplementiererflexion ist eine (mikro-)typologische Besonderheit kontinentalwestgermanischer Dialekte und Sprachen [Deutsch u. Niederländisch], d.h. Komplementiererflexion scheint in dieser spezifischen Form in sonst keiner anderen Sprache der Welt vorzukommen.

Die vollständige Grammatikalisierung ist besonders weit in den (nord-)bairischen Dialekten fortgeschritten: (4)

wálst (du) weil-2.SG

(5)

wáln mer weil-1.PL

(6)

wálts diets weil-2.P

(7)

wáln si weil-3.PL (Nordbairisch; nach WEISS 2018: 137)

Nach WEISS (2018: 148) ist Double Agreement eine Grundvoraussetzung für Komplementiererflexion, deren Grammatikalisierung diachron in drei Schritten abläuft: 1. Klitisierte Pronomen: (8)

schwäb. mir gloubed > gloube-mr aber *gloubed mr ‘glauben wir’ (GRUBER 1989: 231; zit. nach WEISS 2018: 135–136)

2. Double Agreement; tritt partiell auf und ist abhängig von a) Verbstellung: Dopplung ist nur unter V2-Stellung möglich (WEISS 2018: 135): (9)

Schwäb. mir gloube-mr *weil-mr mir gloube (GRUBER 1989: 231; zit. nach WEISS 2018: 136) b) Position des pronominalen Subjekts (Inversion) unterbindet Dopplung

Ist eine strukturalistische Dialektologie noch zeitgemäß?

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3. Ehemaliges Pronomen voll als Flexionssuffix grammatikalisiert: (10) bair. wama mia Hunt hand ‘weil-1.PL wir Hunde sind8’ (WEISS 2005: 161) Double Agreement ist bereits ab dem 9. Jhd. im Deutschen belegt (WEISS 2018: 146). Damit ist auch bereits in den ältesten Sprachstufen des Jiddischen die Veranlagung vorhanden, Double Agreement bzw. Komplementiererflexion auszubilden. Es gibt jedoch keine Hinweise auf (klassisches) Komplementierer-Agreement im Jiddischen (vgl. TE VELDE 1996: 51). Auch im LCAAJ-Material liegen (bislang) keine Funde vor.9 Bereits WEINREICH (1964: 257–58) beschreibt – auf Basis des LCAAJ-Materials – die Existenz von Double Agreement in der 1. Person Plural in den Dialekten des Mittelostjiddischen,10 im westlichen transkarpatischen Jiddisch und Teilen des Südostjiddischen (siehe auch JACOBS 2005: 70). Allerdings tritt im Pronominalsystem dieser jiddischen Dialekte mit dem Zusammenfall der Personalpronomen 1. Plural Nominativ mit der 1. Plural Akkusativ/Dativ eine weitere Besonderheit auf. Der Zusammenfall ist jedoch nach der Entstehung von Double Agreement vollzogen worden, so dass hier das ehemalige Personalpronomen aus dem Nominativ mir ‘wir’ als Flexionssuffix zurückgeblieben ist und Bildungen nachfolgendem Schema auftreten: ins ‘uns’ + Verbstamm + -mir/-me. Im modernen ultraorthodoxen Haredi Satmarer Jiddisch, welches besonders durch das transkarpatische Jiddisch beeinflusst wurde, haben sich diese Bildungen bewahren können (KROGH 2015: 387).11 Im Material des LCAAJ finden sich zwei Übersetzungsaufgaben, in denen Double Agreement in der 1. Person Plural auftritt. Die areale Verbreitung dieses Phänomens zeigt einen geschlossenen Raum im Südwesten des ostjiddischen Sprachgebiets (siehe Abb. 5).

8

Eine Reihe insbes. westmittelbairischen Dialekte weisen im Anlaut der Pluralformen von sein h/s-Variation auf (vgl. WIESINGER 2004: 24). 9 Auf Komplementiererflexion wurden bislang die folgenden Übersetzungssätze geprüft: 063050 because they are dirty, 060-080 if you would have given me the jacket, 164-070 he doesn’t answer when you talk to him, 120-025 I don’t know wheather you will like it, 103-100 I am glad that he is eating. 10 „Mittelostjiddisch“ steht hier für Central Eastern Yiddish, auf welches im deutschsprachigen Raum auf Grund einer Übersetzung in KATZ (1983) bisher als „Zentralostjiddisch“ Bezug genommen wurde. 11 Im LCAAJ-Material finden sich 21 Belege in denen der Zusammenfall der Pronomen stattfand, ohne dass Double Agreement auftritt. KROGH nimmt bei modernen Sprechern an, dass dies Hyperkorrekturen auf Basis des Sprachkontakts zu anderen jiddischen Dialekten sei: „This type […] is in all likelihood a hybrid of the pan-Eastern Yiddish and the Central Yiddish constructions“ (KROGH 2015: 387). Die Daten des LCAAJ relativieren diese Annahme; obwohl natürlich auch hier der Einfluss von Dialektkontakt nicht grundsätzlich auszuschließen ist.

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Abb. 5 Double Agreement in den Übersetzungsaufgaben 087-040 und 064-404

Die Beschränkung, dass Double Agreement nur in V2 auftritt, lässt sich mit dem Material leider nicht testen, da in allen Fällen V2 vorliegt. Allerdings fanden sich in den Übersetzungen des Satzes 064-020 we sat on the bench drei Belege für Inversion ohne Double Agreement. Jiddisch passt sich damit in das aus anderen westgermanischen Varietäten bekannte System ein. (11) nekhtn zemer gizesn ov der bank ‘gestern saßen wir auf der Bank’ (ID 47247 Vișeu de Sus/Oberwischau, Rumänien) Der Zusammenfall der Pronomen in Verbindung mit Double Agreement ist aus nordbairischen (RABANUS 2006: 308) und bayerisch-schwäbischen Dialekten (RABANUS 2008: 172–173) bekannt. Doch wie hängen der Zusammenfall und Komplementiererflexion zusammen? Der Zusammenfall der Personalpronomen mir und uns führt zugunsten einer Numerusprofilierung zu einer Kasusviellierung; eine in der Sprachgeschichte der germanischen Sprachen häufige Entwicklung. Damit finden wir bezüglich des Pronominalsystems der 1. Person Plural in den Dialekten des LCAAJ ein Diasystem mit zwei Varietäten, die sich, wie Abb. 6 zeigt, auf zwei Areale verteilen:

Ist eine strukturalistische Dialektologie noch zeitgemäß?

211

Es gibt eine statistische Korrelation zwischen dem pronominalen Zusammenfall und dem Auftreten von Double Agreement in den Daten des LCAAJ. Dieser Effekt (Cramér’s V) ist sehr stark: Pearson chi-square = 135,2; p < 0,0001, Cramér’s V = 0,72 Double Agreement (gimir) kein Double Agreement (gebn)

Zusammenfall (ins gimir) 44 21

kein Zusammenfall (mir gimir) 5 190

Tab. 2: Zusammenhang zwischen Zusammenfall und Double Agreement

Gebrauchsbasiert kann man argumentieren, dass die Notwendigkeit nach einer Unterscheidung zwischen den Personalpronomen der 1. Person Singular (mir) und 1. Person Plural (mir) den Zusammenfall im Plural begünstigt hat. Es läge also ein klassischer Fall von Numerusprofilierung und Kasusnivellierung vor; wobei Kasusinformation dabei im eigentlichen Sinne nicht verloren geht, da diese ja noch immer am Verb selbst ausgedrückt wird, zumal wenn die Verbflexion an dieser Position über ein eigenes, uniques Suffix (auf Basis des alten Pronomens) verfügt. Im Grunde ist dieser Zusammenfall ein protoypischer Ausdruck des morphologischen Minimums als eine Form von Selbstökonomisierung von Sprache (vgl. RABANUS 2008). In Sachen Kasusnivellierung bleibt zusätzlich zu erwähnen, dass sowohl oberdeutsche als auch jiddische Dialekte präpositionale Dativmarkierung ausgebildet haben (SEILER 2003; KROGH 2015: 395–396). Präpositionale Dativmarkierung mit far und tsu konnten auch im LCAAJ-Material (u.a. in Satz 087040 vgl. Abb. 7) für das gesamte ostjiddische Sprachgebiet nachgewiesen werden. (12) ins gimer fer zay ‘wir geben es ihnen’ (ID 48245 Dora, Ukraine) (13) inds gibnmir es tsi zey ‘wir geben es ihnen’ (ID 46265 Moineşti, Rumänien)

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Abb. 6: Zusammenfall der Personalpronomen 1. Pl. Nom. und Akk./Dat. in den Übersetzungen des Satzes we give it to them

Die Kasusdistinktion wird damit also nicht vollständig aufgegeben, sondern auf andere Mechanismen verlagert. Zentral ist der Sachverhalt, dass wir sowohl den beschriebenen Zusammenfall im Pronominalsystem als auch Double Agreement als auch präpositionale Dativmarkierung im Oberdeutschen und im südwestlichen Ostjiddischen finden. Auf der Argumentationsebene von E-Language könnte man nun über Sprecherkontakte spekulieren und darauf schließen, dass wir uns in einem jiddisch-deutschen Kommunikationsraum befinden, in dem sich grammatische Innovation ausgebreitet hat. Doch dies sagt uns nichts weiter als dass Menschen miteinander sprechen. Auf der Ebene der I-Language hingegen lässt sich die Vermutung anstellen, dass die Phänomene strukturell miteinander verzahnt sind, dass also Double Agreement und die Grammatikalisierung des gedoppelten Pronomens als Flexionssuffix ein Entrée für Vereinfachungen im Pronominalsystem darstellen. Zugleich kompensiert die Herausstellung des Dativs mittels präpositionaler Dativmarkierung weiter gehende, vollständige Kasussynkretismen im pronominalen Paradigma bzw. ermöglicht diese. Dies sind Zusammenhänge, die unter der Oberfläche der E-Language stattfinden. Es ist die Aufgabe der Dialektologie, diese Zusammenhänge zu finden und (im strukturellen Sinne) zu beschreiben und (bestenfalls) zu verstehen.

Ist eine strukturalistische Dialektologie noch zeitgemäß?

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Abb. 7: Präpositionale Dativmarkierung in den Übersetzungen des Satzes we give it to them

4

AUSBLICK

Um die titelgebende rhetorische Frage zu beantworten: Eine SD ist nicht nur zeitgemäß, sondern sogar zeitlos. Sie liefert in ihren Grundprinzipien Axiome, die seit Beginn der Disziplin Sprachwissenschaft Bestand hatten. Diese zu hinterfragen muss in regelmäßigen Abständen Teil des wissenschaftlichen Diskurses sein. Die SD ist ein konzentriertes und handlungsfähiges Modell, das hilft, einen sehr klaren Blick auf sprachliche Viskosität und Variabilität zu erhalten. In ihren Prinzipien liefert die SD der Dialektologie der Gegenwart keine neuen, revolutionierende Ideen. Im Gegenteil, sie ist eine Rückbesinnung auf Axiome, die notwendig sind, um dem komplexen System von Sprache, als die Gesamtheit von E- und ILanguage, gerecht zu werden. Erst die Dichotomien von Form/Funktion, Variation/Wandel und Synchronie/Diachronie definieren den Untersuchungsraum der Dialektologie und geben ihr als Wissenschaft eine Perspektive. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass es auch die Aufgabe der Linguistik ist, nicht nur neue Daten zu generieren, sondern dass auch durchaus bereits bestehende, ältere Datensets noch immer von großem Nutzen sind. Nur die Zugänglichkeit dieser Daten ermöglicht es jedoch, dass sie Gegenstand von Untersuchungen werden können.

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VERBALKOMPLEXBILDUNG IN DEN SAARLÄNDISCHEN DIALEKTEN Jonas Huwer

1

EINLEITUNG

Die Reihenfolge der verbalen Elemente in der rechten Satzklammer ist im Standarddeutschen eindeutig festgelegt. Dies gilt zumindest für die Besetzung der rechten Satzklammer mit zwei Verben, vgl. (1). (1)

a. b. c. d.

Klaus will das Buch heute lesen können. * Klaus will das Buch heute können lesen. … dass Klaus das Buch heute lesen2 will1. * … dass Klaus das Buch heute will1 lesen2. (SAPP 2011: 1)

Innerhalb dieses Kapitels werden ausschließlich zweigliedrige Verbalkomplexe, das heißt rechte Satzklammern, die mit zwei Verben besetzt sind, in Betracht gezogen.1 Zugleich liegt der Fokus in diesem Zusammenhang auf Nebensätzen mit Verbletztstellung, da diese im Gegensatz zu Hauptsätzen von keinem weiteren finiten Verb in der linken Satzklammer abhängen. Nicht zuletzt käme die Kombination von Haupt- und Nebensätzen im Rahmen der Studie einem Vergleich zweier verschiedenartiger und nicht miteinander zu vereinender Forschungsgegenstände gleich. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass Verbalkomplexe in Nebensätzen gewöhnlich ein finites Verb enthalten, während sie in Hauptsätzen lediglich aus infiniten Verben bestehen (vgl. SAPP 2011: 1). Im Zeitalter der mittel- bzw. frühneuhochdeutschen Sprache bestand im Gegensatz zum heutigen Standarddeutsch eine gewisse Variabilität hinsichtlich der Wortstellung der verbalen Elemente innerhalb der rechten Satzklammer. Dementsprechend waren neben der Abfolge 2-1 auch die Serialisierungen 1-2 sowie 1-x-2 möglich.2 Beispielsweise untersuchten EBERT (1981), SAPP (2011) und KRASSELT (2017) den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Verbreihenfolge, woraus Er1

2

In der deutschen Sprache können theoretisch bis zu fünfgliedrige Verbalkomplexe auftreten (vgl. BECH 1955: 63–64). In (1) c. und d. ist jeweils das infinite Verb in der Verbalkomplexposition mit 2 und das finite Verb mit 1 gekennzeichnet. Demzufolge entspricht die Abfolge 2-1 der Wortstellung im Verbalkomplex des standarddeutschen Gliedsatzes in Verbletztstellung. Das x innerhalb 1-x-2 steht für ein zusätzliches, nicht verbales Element, das im Verbalkomplex zwischen finitem (1) und infinitem Verb (2) platziert ist.

218

Jonas Huwer

kenntnisse gewonnen werden konnten, die offenlegen, welche Faktoren welche der möglichen Wortstellungen der Verbformen im Verbalkomplex bevorzugt hervorrufen. Analog dazu wird in diesem Abschnitt schließlich analysiert, inwiefern die Abfolge der verbalen Elemente in der rechten Satzklammer in den heute existierenden saarländischen Dialekten variieren kann bzw. welche Faktoren in diesem Zusammenhang wirksam sind, die bereits im Mittel- und Frühneuhochdeutschen einen Effekt zeigten. Zu diesem Zweck werden die Faktorkategorien „Syntagma“, „Präfixtyp“ und „Betonung des unmittelbar vor dem Verbalkomplex stehenden Wortes“ in die Analyse miteinbezogen. Innerhalb der Kategorie „Syntagma“ gilt es, die Faktoren „Modalverb + Infinitiv“, „haben-Perfekt“ und „werden-Passiv“ zu untersuchen, während bezüglich der Kategorie „Präfixtyp“ „Präfixtyp betont“, „Präfixtyp unbetont“ und „kein Präfix“3 sowie im Hinblick auf den Bereich „Betonung des unmittelbar vor dem Verbalkomplex stehenden Wortes“ „betont“ und „unbetont“ als Einzelfaktoren unterschieden werden. Neben den zu untersuchenden Faktoren ist nicht zuletzt auch der saarländische Dialektraum zu systematisieren, da eine Vielzahl an verschiedenen saarländischen Dialekten und Mundarten existiert. Hierfür eignet sich die Unterteilung des saarländischen Dialektraumes in Rhein- und Moselfränkisch sowie das Übergangsgebiet zwischen den beiden Dialekten. Das Übergangsgebiet verläuft entlang der das-dat-Linie, die das Saarland von Südwest nach Nordost durchquert (vgl. DRENDA 2008: 20). Nordwestlich dieser Linie, das heißt im moselfränkischen Gebiet, wird der Artikel das mit dat übersetzt, während er südöstlich davon, im rheinfränkischen Dialektraum, in seiner standarddeutschen Form das verwendet wird. Als Vertreter des Übergangsgebietes wurde der Dialekt des Ortes Oberkirchen ausgewählt, der direkt auf der das-dat-Linie liegt. Zusätzlich wird in der vorliegenden Studie die Wirkung des Alters der Dialektsprecher auf die Verbalkomplexbildung untersucht. Hierzu werden die an der Untersuchung teilnehmenden Personen in zwei Altersgruppen eingeteilt: Gruppe 1 – alle Probanden unter 50 Jahre und Gruppe 2 – alle Probanden, die 50 Jahre oder älter sind.

2

ZENTRALE FORSCHUNGSFRAGEN

Grundsätzlich wurde untersucht, ob und in welchem Maße die Abfolge der Verben im zweigliedrigen Verbalkomplex innerhalb der heutigen saarländischen Dialekte variieren kann. In diesem Zusammenhang gilt es, folgende zentrale Fragestellung zu prüfen:

3

Grundsätzlich beziehen sich die unterschiedlichen Präfixtypen auf die Präfixe des infiniten Verbs im Verbalkomplex. „Kein Präfix“ bedeutet, dass es sich bei dem entsprechenden Infinitum um ein Simplexverb handelt.

Verbalkomplexbildung in den saarländischen Dialekten



219

Inwiefern kann die Verbalkomplexbildung in den saarländischen Dialekten von der standarddeutschen Normalregel in Anlehnung an die DudenGrammatik (2009: 474) abweichen und demnach verschiedene Varianten zulassen?

Interdialektale Unterschiede hinsichtlich der Verbalkomplexbildung wurden mit Hilfe der Einteilung des analysierten saarländischen Dialektraumes in „rheinfränkisch“, „moselfränkisch“ und „Grenzregion“ geprüft. Diesbezüglich besteht das Ziel, eine Antwort auf folgende spezielle Forschungsfragen zu finden: – –

In welchem der drei saarländischen Dialekte wird welche Verbreihenfolge im Verbalkomplex wie stark bevorzugt? Inwiefern unterscheidet sich die Wirkung der einzelnen Faktoren beziehungsweise Faktorkategorien auf die Verbreihenfolge innerhalb der ausgewählten Dialekträume?

Abgesehen von den linguistischen Faktoren beziehungsweise Dialekträumen galt es schließlich, die demographische Variable „Alter“ hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Verbalkomplexbildung zu prüfen. In diesem Zusammenhang wurde konkret erforscht, ob ältere Personen generell sowie in Abhängigkeit der linguistischen Faktoren eine andere Verbabfolge bevorzugen als jüngere Erwachsene.

3

FORSCHUNGSMETHODE

Als Erhebungsmethode dieser Studie dient die Befragung mittels Fragebogen, wobei nicht direkt Fragen gestellt, sondern im Dialekt formulierte Beispielsätze vorgegeben werden, die von den Probanden zu bewerten sind. Hierzu wird jeweils ein Satz formuliert, dessen zweigliedriger Verbalkomplex hinsichtlich der Wortstellung variiert. Diesbezüglich ergeben sich folgende drei Abfolgevariationen für jeden untersuchten Satz: 2-1, 1-2 und 1-x-2. Alle drei Varianten werden von den Versuchspersonen einzeln hinsichtlich ihrer Akzeptanz in ihrem alltäglichen dialektalen Sprachgebrauch beurteilt. Um eindeutige Erkenntnisse auf rein syntaktischer Ebene zu erhalten, sind die drei gegebenen Möglichkeiten inhaltlich vollkommen identisch konzipiert. Jede Variante ist von den Probanden hinsichtlich ihres „Natürlichkeitsgrades“ auf einer vierstufigen Likert-Skala zubewerten, wobei die Eins für „total unnatürlich“ und die Vier für „total natürlich“ steht.4 Konkret bedeutet dies, dass sich die Probanden in Bezug auf jede Satzvariante fragen müssen, ob sie den jeweiligen Satz mit der aktuell gegebenen Syntax in ihrem alltäglichen dialektalen Sprachgebrauch genauso verwenden würden oder nicht. Mögliche lexikalische oder phonologische Abweichungen in Bezug auf einzelne Wörter sind hierbei auszublenden, weshalb ein entsprechender Hinweis für die Probanden auf den Fragebögen vermerkt ist. 4

Die Zwei steht für „eher unnatürlich“, während die Drei „eher natürlich“ bedeutet.

220

Jonas Huwer

Als Bewertungsschema wurde bewusst eine vierstufige Likert-Skala gewählt, um zusätzlich zu den Extremkategorien eine positive und eine negative Kategorie zu geben, die jeweils eine Tendenz zur Mitte haben. Das Ausweichen auf eine gänzlich neutrale Position wird jedoch aufgrund des Fehlens einer genau in der Mitte liegenden Antwortmöglichkeit vermieden, da man in Anlehnung an ALBERT / KOSTER (2002: 33) auf diese Weise ein aussagekräftigeres Ergebnis erhält. Damit die Probanden nicht nach standarddeutschen Kriterien urteilen beziehungsweise nicht denken, eine Lösung sei richtig oder falsch, wird auf der ersten Seite des Fragebogens ein entsprechender Hinweis gegeben. Um den Störfaktor der Beeinflussung durch andere Personen zu umgehen, werden die Teilnehmer dazu aufgefordert, den Fragebogen alleine zu bearbeiten. Die tatsächlich für den Forschungskontext relevanten Sätze dienen jeweils zur Testung der Wirkung der ausgewählten Faktoren auf die Verbalkomplexbildung. Dementsprechend testet jeder Satz einen bestimmten Faktor aus jeder Faktorkategorie. Beispielsweise enthält Satz 1 des Fragebogens eine „Modalverb + Infinitiv“-Konstruktion, ein im Verbalkomplex stehendes infinites Verb mit betontem Präfix sowie ein betontes vor dem Verbalkomplex stehendes Wort, vgl. (2). Dieser Satz existiert schließlich in den drei relevanten Varianten hinsichtlich der Wortstellung im Verbalkomplex, die als a, b und c gekennzeichnet sind. (2)

a. b. c.

Vor louder Chaos wähß isch gar nedd, wo isch mei Koffer5 hinleehe soll. For mei Rucksack isses jo schonn eng. Vor louder Chaos wähß isch gar nedd, wo isch mei Koffer soll hinleehe. For mei Rucksack isses jo schonn eng. Vor louder Chaos wähß isch gar nedd, wo isch soll mei Koffer hinleehe. For mei Rucksack isses jo schonn eng.

Nach diesem Schema sind alle weiteren Beispielsätze aufgebaut, die in ihrerSumme schließlich alle zu testenden Faktoren abdecken. Dementsprechend testet jeder Satz jeweils einen Faktor aus der Kategorie „Syntagma“, „Präfixtyp“ und „Betonung des unmittelbar vor dem Verbalkomplex stehenden Wortes“. Um alle Kombinationsmöglichkeiten aus den zu testenden Faktoren einzubringen, sind mindestens 18 Beispielsätze zu konzipieren, die jeweils die drei Variationen bezüglich der Verbalkomplexbildung aufweisen. Die Zahl 18 ergibt sich aus den drei Syntagmen, den drei Präfixtypen und den beiden prosodischen Faktoren, deren Anzahl miteinander multipliziert wird.

5

Das betont zu sprechende, dem Verbalkomplex unmittelbar vorangehende Wort ist im Fragebogen grundsätzlich fett gedruckt.

Verbalkomplexbildung in den saarländischen Dialekten

ERGEBNISSE6

4 4.1

221

Deskriptive Ergebnisse: Gesamtbewertung

In der folgenden Grafik sind die allgemeinen Bewertungen aller Sätze durch alle Probanden dargestellt. Diese sind nicht nach Faktoren, Alter beziehungsweise Dialektraum gerichtet, sondern dienen dazu, eine allgemeine Einschätzung darüber zu gewinnen, welche Wortstellung in den saarländischen Dialekten im zweigliedrigen Verbalkomplex allgemein bevorzugt wird.

2_1

1_2

1_x_2

4,5

BEWERTUNGEN

4 3,5 3 2,5 2 1,5 1 0,5 0

WORTSTELLUNGEN Abb. 1: Gesamtbewertung durch alle Probanden

Anhand des Diagramms in Abb. 1 ist bereits zu erkennen, dass die standarddeutsche Wortstellung im Verbalkomplex über alle Faktoren, Dialekträume und Altersgruppen hinweg stark bevorzugt wird: Während die Werte für die Alternativabfolgen nicht über die Bewertung 2 hinausgehen, liegt der Wert für die Abfolge 2-1 nahezu bei 4 – also der bestmöglichen Bewertung. Somit hat sich die gegenwärtige standarddeutsche Serialisierung der einzelnen Elemente im Verbalkomplex auch in den saarländischen Dialekten scheinbar durchgesetzt. Allerdings werden die beiden Alternativabfolgen nicht gänzlich abgelehnt.

6

In diesem Kapitel werden nicht die Ergebnisse aller im Rahmen der Studie durchgeführten Analysen berücksichtigt, sondern speziell in Kapitel 4.2 lediglich jene, die statistisch signifikante Erkenntnisse und somit gesicherte wissenschaftliche Aussagen liefern. Diese beziehen sich vorrangig auf die beiden speziellen Forschungsfragen der Studie.

222

Jonas Huwer

4.2

Multifaktorielle Analyse

Als zentraler Gegenstand dieses Unterkapitels fungiert die Frage, welche der beiden Alternativabfolgen der Elemente im Verbalkomplex abgesehen von der standarddeutschen Reihenfolge von dem jeweils getesteten Faktor bevorzugt wird. Um dies festzustellen wird für alle Faktoren in jedem Dialektraum der MannWhitney-U-Test7 durchgeführt, wobei jeweils alle Werte für die 1-2 und die 1-x-2 Abfolge miteinander verglichen werden. In der folgenden Abbildung sind die Faktoren dargestellt, die signifikant für die Bevorzugung einer bestimmten Alternativabfolge verantwortlich sind.

2 1,8 1,6

Bewertungen

1,4

Präfixtyp betont

1,2 1 0,8 0,6 0,4 0,2 0 1_2

1_x_2

1_2

1_x_2

Präfixtyp betont

haben-Perfekt

Wortstellungen Abb. 2: Intrafaktorielle Analyse: haben-Perfekt und Präfixtyp betont

Abb. 2 veranschaulicht folgende statistisch gesicherte Aussage: Besteht der Verbalkomplex eines Satzes aus einer Konstruktion mit haben-Perfekt oder besitzt das infinite Verb des Verbalkomplexes ein betontes Präfix8, so verwenden Sprecher eines saarländischen Dialektes häufiger die 1-2 als die 1-x-2 Serialisierung. Hinsichtlich aller weiteren untersuchten linguistischen Faktoren wurde dieser Effekt nicht festgestellt. Mindestens genauso relevant wie die oben dargestellte intrafaktorielle Analyse innerhalb einer Faktorkategorie ist der faktorenübergreifende Vergleich hin7

8

Dieser Signifikanztest wurde innerhalb der gesamten Studie für alle untersuchten Variablen verwendet, da ordinalskalierte Daten bzw. unabhängige Versuchsgruppen zugrunde liegen (vgl. ALBERT / MARX 2016: 110). Beispielsweise kam in der Erhebung das Verb inkaafe (standarddeutsch: einkaufen) zum Einsatz.

223

Verbalkomplexbildung in den saarländischen Dialekten

sichtlich der Wirkung auf die Verbalkomplexbildung. Hierzu wird der Effekt der einzelnen Faktoren auf eine Wortstellung systematisch innerhalb der jeweiligen Faktorkategorie miteinander verglichen, vgl. Abb. 3.

Bewertungen

2,5 2 1,5 1 0,5

1_2

1_x_2

kein Präfix

Pt. Betont

werden-Pass.

haben-Perf.

Mv. + Inf.

werden-Pass.

haben-Perf.

Mv. + Inf.

0

1_x_2

getestete Wortstellungen je Faktor Abb. 3: Interfaktorieller Vergleich: Syntagma und Präfixtyp

Die 1-2, jedoch insbesondere die 1-x-2 Abfolge werden am ehesten von saarländischen Dialektsprechern verwendet, wenn Modalität im Verbalkomplex vorliegt. Daraus lässt sich schließen, dass das Syntagma „Modalverb + Infinitiv“ die stärkste Variation der Verbabfolge hervorruft. Dies entspricht den Untersuchungen von SAPP (2011: 57) – zumindest, wenn man bei SAPP (2011) diejenigen Faktoren ausklammert, die nicht für diese Studie herangezogen werden: Auf die Wortstellung 1-2 trifft die Erkenntnis bezüglich des starken Einflusses von „Modalverb + Infinitiv“ ebenso in frühneuhochdeutschen Textproben zu. Im Falle einer habenPerfekt-Konstruktion ist die Akzeptanz der Serialisierung 1-2 höher als bei 1-x-2 (vgl. Kapitel 4.2), während das werden-Passiv nicht polarisierend wirkt und somit beide Alternativabfolgen kaum zulässt. Zudem lässt sich anhand von Abb. 3 folgende gesicherte Aussage bezüglich der Wirkung des Präfixtyps des infiniten Verbs im zweigliedrigen Verbalkomplex treffen: Handelt es sich um ein Simplexverb, tolerieren saarländische Dialektsprecher jeden Alters die 1-x-2 Abfolge eher als im Falle der Existenz eines betonten Präfixes in Bezug auf das infinite Verb.

224

Jonas Huwer

4.3

Altersbezogene Analyse

Zusätzlich zu den linguistischen Faktoren stellt das Alter der Probanden eine weitere zu untersuchende Einflussgröße im Hinblick auf die Wortstellung im Verbalkomplex dar. Hierzu wurde die Untersuchungsstichprobe in zwei Altersgruppen eingeteilt: Gruppe 1 – Personen unter 50 Jahre versus Gruppe 2 – 50 Jahre und älter. Im Zuge des interfaktoriellen Vergleichs (vgl. Kapitel 4.3) wurde bereits festgestellt, dass das Syntagma „Modalverb + Infinitiv“ allgemein die größte Variation bezüglich der Verbreihenfolge im Verbalkomplex zur Folge hat und insbesondere die Abfolge 1-x-2 hervorruft. Unterscheidet man im Rahmen der Analyse zwischen jüngeren und älteren Personen, wird erkennbar, dass ältere Personen die Abfolge 1-x-2 insgesamt eher verwenden als jüngere, vgl. Abb. 4. Im Falle von Modalität im Verbalkomplex bevorzugen saarländische Dialektsprecher die Serialisierung 1-x-2 (vgl. Kapitel 4.3). Abb. 4 zeigt, dass dieser Effekt bei älteren Personen besonders stark ausgeprägt ist. < 50 Jahre

≥ 50 Jahre

Bewertungen

2,5 2 1,5 1 0,5 0 1_x_2 bei Mv. + Inf.

1_x_2 allgemein

1_x_2 bei Modalverb. + Infinitiv. vs. allgemein im Altersvergleich Abb. 4: Altersbezogene Analyse

5

ZUSAMMENFASSENDE BEMERKUNGEN

Im Hinblick auf die untersuchten saarländischen Dialekträume haben sich keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Verbalkomplexbildung ergeben, weshalb diese in Kapitel 4 nicht eigens angeführt wurden. Daraus lässt sich schließen, dass die gewonnenen Erkenntnisse auf den gesamten saarländischen Dialektraum zu beziehen sind und sich die Vielzahl an unterschiedlichen saarländischen Dialekten in Bezug auf die Verbalkomplexbildung sehr ähnlich verhält.

Verbalkomplexbildung in den saarländischen Dialekten

225

Im Rahmen der durchgeführten Studie konnte die zentrale Forschungsfrage zumindest grob beantwortet werden: Die Bildung des zweigliedrigen Verbalkomplexes im Sinne der standarddeutschen Normalregel wird von Sprechern eines saarländischen Dialektes nahezu vollkommen anerkannt. Abweichungen von besagter Normalregel sind insgesamt eher weniger beliebt, werden jedoch nicht komplett abgelehnt. Je nachdem, welches Syntagma oder welcher Präfixtyp bezüglich des infiniten Verbs im Verbalkomplex vorliegt, wird eine der beiden Alternativabfolgen bevorzugt verwendet. Die Betonung des dem Verbalkomplex vorangehenden Wortes spielt im Zuge dessen keine signifikante Rolle, wodurch die Eliminierung der Wirkung dieses Faktors im Laufe der Zeit deutlich wird: Während EBERT (1981: 207) für das Frühneuhochdeutsche eine deutlich häufigere Verwendung der Reihenfolge 1-2 im Falle der Betonung des dem Verbalkomplex vorangehenden Wortes bewiesen hat, zeigt diese Studie diesbezüglich keinerlei Effekte. Allerdings benutzen ältere Personen die Abfolge 1-2 und insbesondere 1-x-2 im allgemeinen Sprachgebrauch häufiger als jüngere. Hieraus lässt sich schließen, dass die für das Mittel- und Frühneuhochdeutsche typische Variation der Reihenfolge der Verben im Verbalkomplex zumindest in geringem Maße in den heutigen saarländischen Dialekten enthalten ist. Inwiefern sich diese in den letzten Jahrzehnten weiter abgeschwächt hat, wurde in dieser Studie nicht näher analysiert. Allerdings liefert die Erkenntnis vor dem Hintergrund der entdeckten Altersdiskrepanzen weiteren Untersuchungsspielraum bezüglich der Frage nach dem Erhalt mittel- und frühneuhochdeutscher Elemente auf der Ebene der Verbalkomplexbildung, um neu auftretende Fragestellungen zu prüfen: Wie groß ist deren Einfluss auf die Verbalkomplexbildung in den saarländischen Dialekten vor einigen Jahrzehnten? Hat sich diese Wirkung in den letzten Jahrzehnten weiter signifikant abgeschwächt? Manche linguistische Faktoren, die zur damaligen Zeit einen Einfluss auf die Verbalkomplexbildung hatten, sind heute noch in abgeschwächter Form wirksam, während andere mittlerweile völlig bedeutungslos sind. In den Untersuchungen zur Verbalkomplexbildung im Mittel- und Frühneuhochdeutschen von EBERT (1981) und KRASSELT (2017) wurde lediglich die Serialisierung 1-2 als Alternative zur standarddeutschen Abfolge 2-1 in Betracht gezogen, während bei SAPP (2011) auch die Serialisierung 1-x-2 mit einbezogen wurde. Anhand dieser Studien lässt sich erkennen, dass der Variationsspielraum zwischen den unterschiedlichen Abfolgen deutlich größer als heute war, weshalb 1-2 und 1-x-2 möglicherweise häufiger als heute benutzt wurden. Um diese Vermutung zu überprüfen, wäre eine hieran anschließende Untersuchung zum Vergleich zwischen der Akzeptanz den Abfolgen 1-2 und 1-x-2 im Mittel- beziehungsweise Frühneuhochdeutschen und in den saarländischen Dialekten sinnvoll. Zudem liegt es nahe, diese speziell auf zweigliedrige Verbalkomplexe ausgerichtete Studie zu erweitern und in einem möglichen nächsten Schritt insbesondere die Bildung dreigliedriger Verbalkomplexe in den saarländischen Dialekten zu untersuchen, da diese deutlich mehr theoretische Variationsmöglichkeiten bieten.

226

Jonas Huwer

LITERATUR ALBERT, RUTH / CORNELIS J. KOSTER (2002): Empirie in Linguistik und Sprachlehrforschung. Ein methodologisches Arbeitsbuch. Tübingen: Narr. ALBERT, RUTH / NICOLE MARX (2016): Empirie in Linguistik und Sprachlehrforschung. Anleitung zu quantitativen Studien von der Planungsphase bis zum Forschungsbericht. Tübingen: Narr Francke Attempto. BECH, GUNNAR (1955): Studien über das deutsche Verbum infinitum, Band 1. Kopenhagen: Munksgaard. DRENDA, GEORG (2008): Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in Rheinland-Pfalz und im Saarland. Stuttgart: Steiner. Duden (2009): Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. 8. Auflage. Mannheim: Dudenverlag (Duden. 4). EBERT, ROBERT PETER (1981): Social and stylistic variation in the order of auxiliary and non-finite verb in dependent clauses in Early New High German. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 103, 204–237. KRASSELT, JULIA (2017): Zur Serialisierung im Verbalkomplex subordinierter Sätze: Gegenwartssprachliche und frühneuhochdeutsche Variation. In: VOGEL, PETRA (Hg.): Sprachwandel im Neuhochdeutschen. Berlin/New York: de Gruyter, 128–143. SAPP, CHRISTOPHER D. (2011): The verbal complex in subordinate clauses from medieval to modern German. Amsterdam: Benjamins.

„ICH HÄTT JO GERN MO ES EVA GEFROHT, WAS SE MENNT.“ ODER: PRONOMINALISIERUNG VON FRAUENRUFNAMEN IM NEUTRUM IM SAARLÄNDISCHEN SPRACHRAUM Katrin Schneider

1

EINLEITUNG

Wenn im Saarland auf Frauen mit dem Vornamen Bezug genommen wird, dann muss er obligatorisch entweder vom femininen (die Eva) oder vom neutralen Artikel (es Eva) begleitet werden. Aber wie bezieht man sich auf diese Person in einem späteren Satz, wenn man nicht immer wieder den Namen gebrauchen will? Sagt man dann einfach es, weil der Name ja auch im Neutrum steht? Oder tendiert man doch eher zu sie, weil es ja eine weibliche Person ist? Oder ist das von dem Artikel beim Namen selbst abhängig? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt für die folgende empirische Studie.1 Zunächst wird erläutert, was es mit dem Artikel bei Frauennamen im saarländischen Sprachraum auf sich hat und was sich bereits über die Pronominalisierung sagen lässt. Anschließend werden Hypothese und Untersuchung mitsamt Ergebnissen und Interpretation vorgestellt. Abschließend findet sich ein Fazit mit Ausblick.

1.1

Artikel bei Frauenrufnamen

Weibliche Rufnamen referieren per se auf weibliche Personen. Dies gründet auf dem üblichen Genus-Sexus-Prinzip, wonach „bei Personenbezeichnungen […] und Personennamen […] der Sexus des Referenten das Genus“ steuert (BUSLEY / FRITZINGER 2018: 191). Hierbei steht Sexus für das biologische Geschlecht und Genus für die grammatische Kategorie (vgl. NÜBLING 2017: 174). Im Standarddeutschen steht vor Personennamen in der Regel kein Artikel, der definite Artikel wird jedoch gesetzt, wenn sie mit bestimmten Attributen wie beispielsweise Adjektiven versehen sind (vgl. Duden-Grammatik 2016: 299–302). Umgangssprachlich wird außer im Norden des deutschen Sprachraums ein direkter Artikel vor 1

Die Untersuchung ist im Rahmen des Hauptseminars „Experimentelle Linguistik“ im Sommersemester 2018 an der Universität des Saarlandes entstanden. Die Ergebnisse wurden mit einem Poster auf dem „Saarbrücker Runden Tisch für Dialektsyntax (SaRDiS)“ im November 2018 vorgestellt.

228

Katrin Schneider

Rufnamen als üblich eingeordnet (vgl. AdA 2012, Karten zu „Artikel + Vorname“). Es lässt sich also festhalten, dass sich in gesprochener Sprache der definite Artikel bei Personennamen „auf Kosten der Artikellosigkeit“ (Duden-Grammatik 2016: 301) ausbreitet. Der saarländische Sprachraum, der sich durch die dat-das-Linie in die Teile Moselfränkisch und Rheinfränkisch gliedern lässt, lehnt wie auch andere Dialektgebiete Artikellosigkeit bei der Referenz auf Frauenrufnamen ab (siehe Bsp. 1a) und bricht mit dem Genus-Sexus-Prinzip (siehe Bsp. 1b). Demnach ist das Genus von Rufnamen oder Pronomen variabel. Beide können somit trotz Referenz auf weiblichen Sexus grammatische Neutra sein (vgl. BUSLEY / FRITZINGER 2018: 191). (1)

a. b.

* Ich hann geschder Marie gesiehn. ‘Ich habe gestern Marie gesehen.’ Ich hann geschder es/et/dat Marie gesiehn. ‘Ich habe gestern Marie gesehen.’

Die grammatische Markierung weiblicher Rufnamen mit neutralem Artikel mag auf den ersten Blick degradierend wirken. Ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Funktion des dritten Genus soll Aufschluss geben. Mithilfe von Dialektgrammatiken lässt sich für das 20. Jahrhundert erkennen, dass die Genuszuweisung bei Frauennamen ursprünglich sehr einfach war, denn „neutrale Rufnamen und Pronomen beziehen sich auf Mädchen, feminine auf Frauen“ (BUSLEY / FRITZINGER 2018: 202), während die durch Heirat zu erlangende soziale Geschlechtsreife als Indikator agierte. Demnach stand die Ehefrau in gesellschaftlichem Ansehen über Töchtern und Mägden. Dennoch konnte auch eine solch angesehene Frau grammatisch ins Neutrum gesetzt werden, nämlich durch ihren Ehemann. Demzufolge war die familiäre Perspektive ausschlaggebend, extrafamiliär galt „Ehefrau > Tochter > Magd“ und intrafamiliär „Ehemann > Ehefrau“ (vgl. BUSLEY / FRITZINGER 2018: 202). Insgesamt kann man das Neutrum in dieser Zeit als „sprachliche Desexualisierung und Unterordnung unverheirateter Frauen […] sehen, die durch den sozialen Status lediger Frauen begründet ist“ (BUSLEY / FRITZINGER 2018: 205). In der Entwicklung kam es in manchen Dialekten zur „Grammatikalisierung des neutralen Rufnamenartikels“ (BUSLEY / FRITZINGER 2018: 203), weil es eine soziopragmatische Überschneidung zwischen der neutralen Klassifikation und der Anrede mit Rufnamen gab. Unter anderem im Rheinfränkischen ist der Artikel jedoch genusvariabel (vgl. BUSLEY / FRITZINGER 2018: 210). Noch heute zeigen grammatisch neutralisierte Frauenrufnamen historischen Androzentrismus, da die alten Geschlechterrollen in der Grammatik und der freien Genuszuweisung verankert sind (vgl. NÜBLING 2017: 190). Das Ursprungskonzept hat sich insofern gewandelt, als heutzutage die Zuweisung eines bestimmten Genus zu weiblichen Personenbezeichnungen und insbesondere zu Personennamen nicht mehr die Funktion eines sozialen Platzanzeigers hat, sondern als Beziehungsanzeiger funktioniert. Denn mindestens im Rheinfränkischen bestimmt die

Pronominalisierung von Frauenrufnamen im saarländischen Sprachraum

229

durch soziale, emotionale und räumliche Nähe oder Distanz bestimmte Beziehung zwischen SprecherIn und Referentin die soziopragmatische Genuswahl für Frauenrufnamen (vgl. BUSLEY / FRITZINGER 2018: 200). Soziopragmatische Faktoren finden sich bereits bei der grundlegenden Kategorisierung in „Sprache der Nähe“ und „Sprache der Distanz“ (KOCH / OESTERREICHER 1985: 23). So zeichnet sich sprachliche Nähe unter anderem durch Vertrautheit der Gesprächspartner und Situationsverschränkung aus, während sprachliche Distanz Merkmale wie Fremdheit der Gesprächspartner und Situationsentbindung aufweist. Bei der Genuszuweisung bei Frauennamen steht das Neutrum eher für Nähe, während das Femininum eher auf Distanz hindeutet.2 Heute ist das neutrale Genus bei Frauenrufnamen also nicht „per se negativ konnotiert“ (BUSLEY / FRITZINGER 2018: 197).3 Denn durch häufigen Gebrauch wurden die neutralisierten Frauenrufnamen zur inflationären und unmarkierten Variante, die sogar Wertschätzung und Vertrautheit ausdrücken kann (vgl. NÜBLING 2017: 189). So konstatiert bereits STEITZ (1981: 81) in seiner Grammatik für die Saarbrücker Mundart, dass weibliche Rufnamen den sächlichen Artikel zu sich nehmen. Diese Etablierung zeigt sich auch aktuell durch die Tendenz zur Artikelform ’s/es/et vor weiblichen Vornamen im saarländischen Sprachgebiet – im Gegensatz zur allgemeindeutschen Mehrheitsvariante die/d’ – in der entsprechenden Karte aus dem Jahr 2012 im „Atlas der deutschen Alltagssprache“ (vgl. AdA 2003ff.).

1.2

Pronominalisierung von Frauenrufnamen im Neutrum

Im Standarddeutschen gilt, dass Pronomen mit ihrem Bezugswort in Person, Numerus und Genus übereinstimmen, diese Eigenschaften also von ihm übernehmen (vgl. Duden-Grammatik 2016: 1011). Dennoch merkt BELLMANN (1990: 191) an, dass fehlende Genuskongruenz bei der diminuierten Personenbezeichnung Fräulein durchaus toleriert wird. In der aktuellen Grammatik findet sich außerdem der Zusatz, dass bei „Personalpronomen […] der Sexus vor allem bei längerer Distanz zum Bezugssubstantiv bestimmend“ (Duden-Grammatik 2016: 1012) sein kann, wobei es sich in der Anmerkung bei den Bezugssubstantiven vorrangig um Personenbezeichnungen und nicht um Personennamen handelt. Da in der Standardsprache allgemein das Genus-Sexus-Prinzip gilt, entspricht das grammatische Geschlecht von Frauenrufnamen dem biologischen. Demnach ist das Genus von Pro-

2

3

Für eine ausführlichere Klassifikation der soziopragmatischen Faktoren ist NÜBLING (2013) zu empfehlen. Zur Einordnung von Äußerungen nach Nähe und Distanz siehe KOCH / OESTERREICHER (1985). Die Wirkung der Neutralisierung ist abhängig von der Art des Namens. Bei Vor- oder Rufnamen bildet das Neutrum die unmarkierte Variante, im Gegensatz zu neutralen Familiennamen (das Merkel), bei denen das Genus durchaus als pejorativ zu klassifizieren ist, vgl. dazu NÜBLING (2017: 187–190).

230

Katrin Schneider

nomen, die auf weibliche Personen referieren, in der Regel determiniert, nämlich auf das Genus Femininum. Im Gegensatz dazu ist die Genuszuweisung bei Rufnamen und/oder Pronomen in Dialekten oft soziopragmatisch variabel. Wie bereits angeführt wird die Wahl des Rufnamengenus durch soziopragmatische Faktoren bestimmt, vor allem durch die soziale Beziehung der Sprecherinstanz zur Referentin. Für die Saarbrücker Mundart werden bei weiblichen Vornamen die Pronomina ebenfalls als wählbar aufgeführt, wobei das feminine Pronomen im Singular im enklitischen Gebrauch eine weibliche Person bezeichnet, das sächliche Pronomen eine „dem Sprecher vertraute weibliche Person“ (STEITZ 1981: 104). Die variable Genuswahl bei Rufnamen mit Referenz auf weibliche Personen im saarländischen Sprachraum betrifft also zunächst das Genus beim Rufnamen selbst, aber auch das Genus des Pronomens, das auf die Person referiert und nicht zwingend grammatisch mit dem Rufnamengenus übereinstimmen muss. Diese Genussysteme werden deshalb als „Femineutra“ (BUSLEY / FRITZINGER 2018: 192) klassifiziert. Der Rufnamenskopus ist ausschlaggebend für das Pronomengenus, genauer gesagt dafür, „ob beim anaphorischen Pronomen das sexuskongruente feminine Genus zum Tragen kommt (dann sind die Substantive hybride) oder nicht (dann überschreibt Genus konsequent Sexus)“ (NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013: 155). Typ Artikel (1) feminin (2) feminin neutral (3) feminin (4) neutral (5) neutral

Pronomen feminin feminin neutral feminin/neutral neutral/feminin neutral

Zuweisung semantisch pragmatisch pragmatisch sem. + pragm. sem. + pragm. semantisch

Beispiel die Anna – sie die Anna – sie das Anna – es die Anna – sie/es das Anna – es/sie das Anna – es

Tab. 1: Genuszuweisung bei weiblichen Rufnamen und ihren Pronomen nach NÜBLING (2017: 182)

Das Rheinfränkische (Typ 3) und das Hochalemannische (Typ 4) werden als „syntagmatisch hybride Typen“ (NÜBLING 2017: 182) bezeichnet, weil das Genus innerhalb der Nominalphrase fest, das Genus des Pronomens aber variabel ist, sodass nicht per se grammatische Genuskongruenz zwischen Pronomen und Bezugswort herrscht. Durch eine Studie im rheinfränkischen Langenlonsheim haben NÜBLING / BUSLEY / DRENDA (2013: 178) festgestellt, dass zwar die Kombination von femininem Artikel mit femininem Personalpronomen am häufigsten (77%) vorkommt, der feminine Artikel aber auch in Verbindung mit neutralem Pronomen (11%) tritt. Deshalb wird das Personalpronomen als „offen für die Markierung pragmatischer Informationen“ (NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013: 178) charakterisiert. Das variable Genus wird auf Grundlage der angeführten soziopragmatischen Kriterien festgelegt. Diese Möglichkeit der Genuswahl ist ein „bislang kaum beschriebenes Phänomen, das dem Pronomen einen hohen Autonomie- und Referentialitätsgrad bescheinigt“ (NÜBLING 2017: 182). Selbst bei Grammatikali-

Pronominalisierung von Frauenrufnamen im saarländischen Sprachraum

231

sierung des Rufnamenartikels übernimmt das Pronomen „exophorisch oder bei der pronominalen Wiederaufnahme von Appellativa (Mutter, Schwester) eine soziopragmatische Klassifizierung“ (NÜBLING 2017: 203), sodass eine grammatische Inkongruenz zwischen dem Genus von Rufnamen und Pronomen entstehen kann.

2

EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG 2.1

Hypothese und Methode

Die These von NÜBLING (2017: 182), dass im Rheinfränkischen (wie auch im Moselfränkischen) soziopragmatische Faktoren die Genuszuweisung bei auf Frauenrufnamen referierenden Pronomen steuern, halte ich für überzeugend. Darüber hinaus bin ich jedoch der Ansicht, dass nicht nur das Pronomen, sondern auch und vor allem der Artikel beim Rufnamen soziopragmatisch variabel ist. Nicht nur das Pronomen drückt Nähe oder Distanz zwischen SprecherIn und Referentin aus, sondern vielmehr die Genuswahl beim Rufnamen selbst. So nennen auch BUSLEY / FRITZINGER (2018: 210) das Rheinfränkische als Beispiel für einen Dialekt mit genusvariablem Artikel. Die gleiche Klassifizierung legt schon das „Rheinische Wörterbuch“ nahe: Weibl. Vornamen haben es, et als Artikel, z.B. et Ann, et Marie, ob verheiratet oder nicht; tritt noch eine nähere Bezeichnung hinzu, so schwankt an der Saar das Geschlecht; es (oder die) schwarze Kätt. (MÜLLER et al. 1931, Bd. 2, Sp. 177)

Demnach ordne ich sowohl Rheinfränkisch als auch Moselfränkisch als das Saarland prägende Dialekte Typ (2) zu, der als „paradigmatisch hybride“ (NÜBLING 2017: 182) bezeichnet wird. Dabei ist das Rufnamengenus variabel, das Pronomengenus stimmt aber wie eine Art abhängige Variable zwingend mit ihm überein. Meine persönliche Erfahrung unterstützt außerdem die Annahme, dass das Neutrum bei Frauenrufnamen den unmarkierten Normalfall im saarländischen Sprachraum darstellt. Somit entsteht folgende zu testende Hypothese: Hypothese

Wenn im saarländischen Dialekt ein Frauenrufname vom Artikel es begleitet wird, dann wird im Folgenden ein neutrales Pronomen (es) besser bewertet als ein feminines Pronomen (se).

Da es sich beim Dialekt um ein mündliches Phänomen handelt, sind Korpora mit schriftsprachlichen Texten ungeeignet, um die Hypothese zu testen. In Ermangelung eines geeignet verschriftlichten mündlichen Korpus bietet sich eine empirische Untersuchung durch eine Fragebogenstudie an, bei der Aussagen nach Natürlichkeit bewertet werden sollen. Mit dieser Methode soll möglichst viel Natürlichkeit und Spontanität abgebildet werden, im Gegensatz zu einer Auswahlstudie, bei der bewusstes Entscheiden und Gegenüberstellen eine größere Rolle spielt. Auch eine Produktionsstudie mit großem Antwortspektrum wurde ausgeschlossen, um eindeutige und numerische Ergebnisse in Hinblick auf die untersuchte

232

Katrin Schneider

Fragestellung zu erhalten. Es handelt sich also um eine Rating-Studie, die im Folgenden genauer beschrieben wird.

2.2

Methode und Durchführung

In der Fragebogenstudie sollen Aussagen in einer 5-Likert-Skala von „vollkommen natürlich“ (1) bis „vollkommen unnatürlich“ (5) eingeordnet werden. Diese Bewertung bildet die abhängige Variable. Sie ist abhängig von dem Faktor Pronominalität, der als unabhängige Variable mit den Ausprägungen grammatisches Femininum (se) und grammatisches Neutrum (es) in das Design eingeht. Das Rufnamengenus wird der Annahme nach auf Neutrum festgesetzt. Insofern ergeben sich zwei Bedingungen pro Token-Set, wie beispielsweise: (2)

a. b.

Ich hätt jo gern mo es Eva gefroht, was se mennt. ‘Ich hätte ja gern mal Eva gefragt, was sie meint.’ Ich hätt jo gern mo es Eva gefroht, was es mennt. ‘Ich hätte ja gern mal Eva gefragt, was sie meint.’

Insgesamt wurden 8 Token-Sets mit 24 Fillern (Verhältnis 1:3) getestet. Da es zwei Ausprägungen der abhängigen Variablen gibt, werden zwei Fragebogen mit alternierender Ausprägung erstellt. Dabei enthält jeder Bogen jede Ausprägung zu gleichen Teilen, sodass jeder Proband beide Arten der pronominalen Wiederaufnahme sieht. Jeder Bogen wird in vier Reihenfolgevariationen erstellt, um zu vermeiden, dass die Anordnung das Ergebnis verzerrt. Zu Beginn des Fragebogens werden Geburtsort und Alter erhoben, da ein Einfluss auf die Beurteilung vermutet wird.4 Die Fragebogen wurden von 48 ProbandInnen ausgefüllt, wovon je eine Hälfte unter bzw. über 40 Jahre alt ist. Es ergeben sich somit die sieben restlichen Token-Sets: (3)

Geschder hann ich es Eva gesiehn. Vorher wär se/’s inkaafe gewehn. ‘Gestern habe ich Eva gesehen. Vorher sei sie einkaufen gewesen.’

(4)

Guck mo, do vorne geht es Anne. So schnell, als müsst se/’s uf de Zug. ‘Schau mal, da vorne geht Anne. So schnell, als müsste sie zum Zug.’

(5)

Awe es Paula is heem gang, weil se/’s Bauchweh hott. ‘Aber Paula ist heimgegangen, weil sie Bauchweh hatte.’

(6)

Unn do wollt es Susi nimmi mit, obwohl se/’s noch richtisch Hunger hott. ‘Und da wollte Susi nicht mehr mit, obwohl sie noch richtig Hunger hatte.’

4

Für die schweizerdeutschen Dialekte zeigt sich seit den letzten 50 Jahren bei jüngeren SprecherInnen die Entwicklung, dass statt dem neutralen Artikel auch der weibliche Artikel bei Frauennamen gesetzt wird (vgl. CHRISTEN 1998: 271–273).

Pronominalisierung von Frauenrufnamen im saarländischen Sprachraum

233

(7)

Ich gehen mit em Sonja was esse. Ich froh mich, was se/es ausgesucht hat. ‘Ich gehe mit Sonja etwas essen. Ich frage mich, was sie ausgesucht hat.’

(8)

Heut hat mich es Isabel angeruf. Se/es wollt mi ma ins Kino gehn. ‘Heute hat mich Isabel angerufen. Sie wollte mit mir ins Kino gehen.’

(9)

Do hat doch es Lisa geruf, dass se/es kä Bock mi hat. ‘Da hat doch Lisa gerufen, dass sie keine Lust mehr hat.’

2.3

Auswertung und Resultate

Die Ergebnisse der Untersuchung sind in den folgenden Grafiken (Abb.1 und Abb. 2) dargestellt. Eine Versuchsperson gab an, kein Dialektsprecher zu sein, drei weitere, nur selten Dialekt zu sprechen, weshalb insgesamt vier ProbandInnen aus der Untersuchung ausgeschlossen wurden. Anhand der Kenngrößen (s. Tab. 2) zeigt sich, dass beide Bedingungen eher natürlich und sogar als beinahe gleich natürlich bewertet werden, die Standardabweichung zeigt eine geringe Streuung um den Mittelwert. Dem Mittelwert und dem Median zufolge wird das neutrale Pronomen es natürlicher bewertet als das feminine Pronomen se. Um aussagekräftige Ergebnisse hinsichtlich der zentralen Hypothese zu ermitteln, wurden zwei Hypothesentests gerechnet. Die Daten sind nach dem „Shapiro-Wilk normality test“ mit dem Signifikanzniveau α = 0,05 nicht normalverteilt (p < 2,2e-16). Sie bewegen sich aber im selben Bereich („F test to compare two variances“, α = 0,05; p = 0,846). Die Ratingskala umfasst die Werte 1 bis 5 und scheint auf den ersten Blick eine metrische Skala zu sein. Für die Auswertung ist es nützlich, dass „endpunktbenannte Skalen den Charakter intervallskalierter Variablen besitzen oder zumindest zu besitzen glaubhaft machen wollen“ (PORST 2014: 94), sodass zunächst die Voraussetzung zur Berechnung des arithmetischen Mittels gegeben ist. Die Bewertung durch die ProbandInnen erfolgt jedoch nach individueller Zuordnung zu den Werten, wobei jeweils unterschiedliche Abstände zwischen zwei Werten angenommen werden können. Beispielsweise kann sich der individuell angenommene Abstand zwischen den Ratingpunkten 1 und 2 von dem zwischen 2 und 3 unterscheiden, somit wird genau genommen kein Intervallskalenniveau erreicht. In der Literatur wird diskutiert, ob man die mit der Likert-Skala erhobenen Daten als intervall- oder lediglich als ordinalskaliert betrachten darf. Diese Einordnung ist entscheidend für die Datenauswertung, also ob ein t-Test (Intervallskala) oder ein Mann-Whitney-Wilcoxon (Ordinalskala) für die Auswertung benutzt wird. Nach DE WINTER / DODOU (2012) haben beide Tests für die LikertSkala im Allgemeinen die gleiche Aussagekraft, der Mann-Whitney-Wilcoxon (MWW) hat jedoch gegenüber dem t-Test „power advantage when one of the samples was drawn from a skewed or peaked distribution“ (DE WINTER / DODOU 2012: 1). Für die erhobenen Daten ergab sich eine Rechtsverteilung („skew“ = 1,4), es lag also eine schiefe Verteilung vor, weshalb die Auswertung mittels Ver-

234

Katrin Schneider

fahren für ordinale Skalen erfolgte. Der Mann-Whitney-Wilcoxon zeigte keine Signifikanz (α = 0,05, p = 0,101).

Abb. 2: Mittelwerte der Ratings mit 95%-Konfidenzintervallen

Abb. 1: Rating (z-transformiert

Kenngröße Pronomen 1. se (fem.) 2. es (neutr.)

Mittelwert

Median Standardabw.

1,86 1,72

2 1

1,03 1,01

Tab. 2: Absolute Kennwerte der Bewertung der Pronominalität

Der Interaktionsgraph (s. Abb. 2) lässt vermuten, dass das Alter eine Auswirkung auf die Bewertung hat. Um diese Annahme statistisch zu überprüfen und einen möglichen Einfluss des Alters der Befragten zu ermitteln, wurde ein „cumulative link mixed model“ (CLMM) verwendet. Rating wurde als abhängige Variable betrachtet und Bedingung, Alter und ihre Interaktion als unabhängige Variablen. Dabei wurden „random intercepts“ als auch „random slopes“ jeweils für ProbandInnen und Items berücksichtigt. Im ersten Modell wurden alle Prädiktoren mit eingerechnet. Durch „backwards selection“ wurden nacheinander Interaktion zwischen Bewertung und Kategorie, Kategorie und Bedingung entfernt, während die Modelle jeweils mit „likelihood ratio tests“ (ANOVA) verglichen wurden. Der Haupteffekt der Bedingung auf die Bewertung ist marginal (χ2 = 2,934, α= 0,05, p = 0,087), sodass keine Signifikanz festgestellt wurde. Der Test hat also das Ergebnis des MWW bestätigt. Darüber hinaus hat das Alter keinen Effekt auf

Pronominalisierung von Frauenrufnamen im saarländischen Sprachraum

235

das Rating (α = 0,05, p = 0,163) und es gibt entgegen der Vermutung keine signifikante Interaktion zwischen Alter und Rating (α = 0,05; p = 0,766).5

3

INTERPRETATION

In den Kenngrößen zeigt sich die Tendenz, dass das neutrale Pronomen als natürlicher eingeschätzt wird als das feminine Pronomen, sowohl im arithmetischen Mittel (1,72 < 1,86) als auch im Median (1 < 2). Beide Signifikanztests ergaben pWerte, die über dem gesetzten Signifikanzniveau von 5% liegen. Infolgedessen liegt kein signifikanter Unterschied in der Bewertung in Abhängigkeit der Bedingung vor. Die Alternativhypothese wird also verworfen. Auch die Vermutung, dass ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Altersklassen bezüglich Rating besteht, hat sich nicht bestätigt, es besteht keine signifikante Interaktion zwischen Alter und Rating. Durch den festgesetzten und somit begrenzten Zeitrahmen während des Hauptseminars wurden nur 48 ProbandInnen getestet. Möglicherweise könnte durch eine größere Anzahl an Befragten der marginale Haupteffekt (p = 0,087) zu einem signifikanten Effekt werden. Mehr Testpunkte würden außerdem die Aussagekraft der Ergebnisse verstärken. Es wurde angenommen, dass der Dialekt im saarländischen Sprachraum Typ 2 der Kategorien der Genuszuweisung nach NÜBLING (2017: 182) zugeordnet wird. Demnach wäre das Genus bei Rufnamen und Pronomen dasselbe, während die Wahl des Genus von soziopragmatischen Faktoren abhinge. Die Annahme konnte durch die Untersuchung nicht bestätigt werden, da sich keine signifikante Präferenz für die Wahl des neutralen Pronomens bei neutralem Rufnamenartikel gezeigt hat. Das zeigt zunächst, dass die Wahl des Genus beim Pronomen variabel zu sein scheint, was der Annahme von NÜBLING (2017: 182) für das Rheinfränkische entspricht. Da in den Items kein weiterer Kontext gegeben wurde, kann nicht ermittelt werden, ob implizite soziopragmatische Faktoren die Genuswahl beeinflusst haben. Deshalb wäre es interessant, sowohl die Wahl des Rufnamenartikels als auch die des Pronomengenus in Abhängigkeit von soziopragmatischen Kontexten zu untersuchen, um ein genaueres Schema der Pronominalisierung zu erhalten. Die Untersuchung beschäftigte sich mit dem Sprachgebrauch im Saarland. Die Überprüfung der Geburtsorte der ProbandInnen zeigt, dass sowohl Rheinfranken als auch Moselfranken befragt wurden. Außerdem kommen einige ProbandInnen aus dem Grenzgebiet um die dat-das-Linie, das sich nicht eindeutig einem der beiden Dialekte zuordnen lässt. Da ich ebenfalls aus dem Grenzraum stamme, haben die von mir verfassten Items und Filler eine bestimmte sprachliche Färbung. Bei der Bewertung der Sätze habe ich oft feststellen müssen, dass sich die 5

Alle Berechnungen wurden mit der Software R über das Programm „RStudio“ durchgeführt. Die verwendeten Pakete sind im Literaturverzeichnis aufgeführt.

236

Katrin Schneider

ProbandInnen an sprachlichen Auffälligkeiten störten, die dieser Dialektfärbung geschuldet waren und nicht im Fokus der Untersuchung standen. Diesen Störfaktor könnte man beheben, indem man für jedes Dialektgebiet im Saarland (Rheinfränkisch, Moselfränkisch, ggf. Grenzgebiet) einen eigenen Fragebogen erstellt. Vielleicht könnte durch einen kurzen Vor-Test die Zuordnung an den Schnittschnellen erleichtert werden, sodass der passende Fragebogen ausgehändigt werden kann. Außerdem stolperten einige ProbandInnen über die Art der Verschriftlichung, da Dialekt bekanntermaßen gesprochen wird. Neigen auch manche zum Schreiben im Dialekt, beispielsweise in sozialen Netzwerken, so gibt es doch keine einheitliche Verschriftlichung. Eine Möglichkeit dieses Problem zu umgehen, wäre die selbstständige schriftliche Produktion von Äußerungen. Damit geht aber die Gefahr einher, dass die sprachlichen Ergebnisse nicht auf das zu untersuchende Phänomen abgestimmt sind. Deshalb ist bei solchen Studien ein klar lenkender Kontext zu Beginn der Produktionsaufgabe von großer Bedeutung. Alternative Erhebungsmethoden zeigen NÜBLING / BUSLEY / DRENDA (2013: 169–170), nämlich Familiengespräche, Bildergeschichten und Lückentexte. Die Familiengespräche werden als Interviews durchgeführt, um den Dialekt in seiner natürlichen Konzeption zu erfassen, nämlich im Mündlichen. Allerdings steigt hier der Zeit- und Arbeitsaufwand um Einiges an. Bei den Bildergeschichten wird beispielsweise der Tagesablauf einer benannten weiblichen Person dargestellt, den die ProbandInnen beschreiben sollen. Auch bei den Lückentexten soll Dialekt selbstständig produziert werden. So wird zum Beispiel eine Situation beschrieben, bei der Artikel und Pronomen ergänzt werden müssen. Eine weitere Möglichkeit sind Auswahlaufgaben, bei denen Minimalpaare von Items präsentiert werden, wie beispielsweise (2a) und (2b), sodass die Versuchsperson – durch Filler abgelenkt – die persönlich präferierte Version bewusst auswählt. Nachteil dieser Methode ist natürlich, dass nicht unbewusst und spontan sprachliche Phänomene abgeprüft werden. Durch die direkte und bewusste Entscheidung kann es zu Verfälschungen bei der Einschätzung kommen, die ProbandInnen könnten beispielsweise besonders standardnah oder besonders dialektal formulieren wollen. Bei den auf Produktion ausgerichteten Methoden gibt es zwar das Problem der einheitlichen Schriftsprache, das beim Auswerten auftreten wird, aber die fokussierten Informationen sollten davon nicht allzu sehr betroffen sein.

4

ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

Insgesamt hat das Ergebnis der Fragebogenstudie zwar zum Verwerfen der Alternativhypothese geführt, die da lautete: Hypothese

Wenn im saarländischen Dialekt ein Frauenrufname vom Artikel es begleitet wird, dann wird im Folgenden ein neutrales Pronomen (es) besser bewertet als ein feminines Pronomen (se).

Pronominalisierung von Frauenrufnamen im saarländischen Sprachraum

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Dennoch konnten die Ergebnisse interpretiert und mögliche Störfaktoren identifiziert werden. Eine erneute Untersuchung sollte aus einer Mischung mehrerer auf Produktion ausgerichteter Erhebungsmethoden bestehen, um negative Konsequenzen einzelner Methoden zu minimieren. Es bietet sich zudem an, die Pronominalisierung von neutralen Personenbezeichnungen für weibliche Personen zu betrachten, wie zum Beispiel Mädchen, Rotkäppchen oder Luder. Denn zumindest für das Hessische ergibt sich die Parallele, dass die SprecherInnen, die grammatisch neutrale Personenbezeichnungen (Mädchen) neutral pronominalisieren, auch grammatisch neutrale Personennamen (Emma) neutral pronominalisieren (vgl. BUSLEY / FRITZINGER 2018: 206). Dort liegt also eher eine semantische Zuweisung vor. Möglicherweise ergeben sich ähnliche Zusammenhänge für den saarländischen Sprachraum. Außerdem ist es sinnvoll, das Rufnamengenus nicht festzusetzen, sodass die Wirkung auf das Pronomengenus miterfasst werden kann. Interessant wäre es auch das Verhalten aller Pronomen zu erfassen, die im saarländischen Sprachraum genusvariabel sind. Demnach könnte man die Genuswahl zusätzlich bei Possessiv- (ihr/sein), Demonstrativ- (die/das) und Relativpronomen (die/das) mit Referenz auf Frauenrufnamen untersuchen. Dabei spielt der Rufnamenskopus höchstwahrscheinlich eine zentrale Rolle.

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Katrin Schneider

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z e i t s c h r i f t f ü r d i a l e k t o l o g i e u n d l i ng u i s t i k



beihefte

In Verbindung mit Michael Elmentaler, Jürg Fleischer und Mark L. Louden herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–0838

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Das Interesse an der Erforschung und an der Erklärung dialektsyntaktischer Strukturen ist ungebrochen. So erhält der jährlich stattfindende Saarbrücker Runde Tisch für Dialektsyntax (SaRDiS) anhaltend Zuspruch. Dass sich diese Tagung als Forum für theoretisch informierte Studien zur Syntax deutschsprachiger und verwandter Varietäten inzwischen vollends etabliert hat, davon zeugen die in diesem vierten Band gesammelten Beiträge. Das objektsprachliche Spektrum umfasst nicht nur neuhochdeutsche Dialekte wie Hessisch, Rhein- und Moselfränkisch sowie Bairisch, sondern auch das

ISBN 978-3-515-13103-2

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Ostniederdeutsche in Brandenburg, ausgewählte südniederländische Dialekte, das Jiddische und das Zimbrische. Auch an Belegen aus historischen deutschsprachigen Varietäten fehlt es nicht. Ein untersuchtes Phänomen, Kausalsätze mit nachdem, sind in standardnahen Varietäten im Süden des deutschen Sprachgebiets beobachtbar. Weitere hier thematisierte Strukturen sind Relativsatzeinleiter, eine (nicht mehr nur) negative Partikel, morphologische Variation beim Partizip II und beim Objektpronomen sowie der Aufbau von Determiniererphrasen. Den Abschluss bildet wieder die studentische Rubrik „Schaufenster Saarland“.

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