Syntax aus Saarbrücker Sicht 3: Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax 3515127097, 9783515127097

Der Saarbrücker Runde Tisch für Dialektsyntax (SaRDiS) findet einmal im Jahr an der Universität des Saarlandes statt. Al

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
FAKTOREN UND ARTEN INTRAPERSONELLER VARIATION IM MATERIAL DES SYNTAKTISCHEN ATLAS DER DEUTSCHEN SCHWEIZ (SADS)
ZUM UNTERSCHIEDLICHEN ARTIKELGEBRAUCH IM SÜDHESSISCHEN – EMPIRIE TRIFFT AUF THEORIE
KASUSSYNKRETISMUS: BEDINGUNGEN IDIOLEKTALER VARIATION. EINE KORPUSANALYSE ZUM OBERDEUTSCHEN
ALTERNATING ENDINGS IN THE PLURAL VERBA LPARADIGM IN MIDDLE LOW GERMAN: AN INTERFACE PHENOMENON
PORTRAIT OF THE CLITIC AS A YOUNG AFFIX: INFINITIVISCHES ZU IM NIEMANDSLAND ZWISCHEN MORPHOLOGIE UND SYNTAX
‘KOMMEN’ UND BEWEGUNGSVERB IN WESTGERMANISCHEN VARIETÄTEN
GRAMMATIKALISIERUNG AUF BEKANNTEN WEGEN: DIE SCHWÄBISCHE GE+INFINITIV-KONSTRUKTION(„PROPOSITIV“)
DOUBLY FILLED COMP UND POLARE FRAGEN IM WESTGERMANISCHEN
ENTSTEHEN UND WANDEL LITERATER KONSTRUKTIONEN: SYNTAKTISCHES AUFSPANNEN UND SEMANTISCHES AUFLADEN
THE QUESTION PARTICLE ENN IN THURINGIAN AND ITS IMPLICATIONS FOR THE ANALYSIS OF WH-DROP
VERTRAUTHEIT UND RESPEKT IM SAARLÄNDISCHEN – WAS SAGT DIE VERWENDUNG DES NEUTRALEN GENUS IN BEZUG AUF WEIBLICHE PERSONEN ÜBER DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN SPRECHER UND REFERENTIN AUS?
DIE GRAMMATIKALISIERUNG VON GEBEN IM RHEINFRÄNKISCHEN UND MOSELFRÄNKISCHEN AM BEISPIEL ZWEIER MUNDARTLICHER ZEITUNGSKOLUMNEN
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Syntax aus Saarbrücker Sicht 3: Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax
 3515127097, 9783515127097

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BEIHEFTE

Syntax aus Saarbrücker Sicht 3 Beiträge der SaRDiS­Tagung zur Dialektsyntax Herausgegeben von Augustin Speyer und Julia Hertel

Germanistik

ZDL

Franz Steiner Verlag

zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte

180

zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte In Verbindung mit Michael Elmentaler, Jürg Fleischer und Mark L. Louden herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt

band 180

Syntax aus Saarbrücker Sicht 3 Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax Herausgegeben von Augustin Speyer und Julia Hertel

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12709-7 (Print) ISBN 978-3-515-12710-3 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort .................................................................................................................... 7 Elvira Glaser / Philipp Stoeckle / Sandro Bachmann Faktoren und Arten intrapersoneller Variation im Material des Syntaktischen Atlas der deutschen Schweiz (SADS) ................................................................... 11 Seyna Maria Dirani Zum unterschiedlichen Artikelgebrauch im Südhessischen – Empirie trifft auf Theorie ....................................................................................... 41 Sophie Ellsäßer Kasussynkretismus: Bedingungen idiolektaler Variation. Eine Korpusanalyse zum Oberdeutschen................................................................................................ 61 Melissa Farasyn Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German: An interface phenomenon ...................................................................................... 85 Oliver Schallert Portrait of the clitic as a young affix: Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax...................................................................... 109 Lea Schäfer ‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten ...................... 145 Augustin Speyer Grammatikalisierung auf bekannten Wegen: Die schwäbische ge+InfinitivKonstruktion („Propositiv“) ................................................................................. 191 Julia Bacskai-Atkari Doubly Filled COMP und polare Fragen im Westgermanischen ....................... 213 Marie-Luis Merten Entstehen und Wandel literater Konstruktionen: Syntaktisches Aufspannen und semantisches Aufladen ................................................................................. 233

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Inhaltsverzeichnis

Andreas Pankau The question particle enn in Thuringian and its implications for the analysis of wh-drop ............................................................................................................ 255 Denise Guilpain Vertrautheit und Respekt im Saarländischen – Was sagt die Verwendung des neutralen Genus in Bezug auf weibliche Personen über die Beziehung zwischen Sprecher und Referentin aus? .............................................................. 281 Sabeth Offergeld Die Grammatikalisierung von geben im Rheinfränkischen und Moselfränkischen am Beispiel zweier mundartlicher Zeitungskolumnen ........... 291

VORWORT Augustin Speyer / Julia Hertel Dieser Band versammelt größtenteils Aufsätze, die auf Vorträge zurückgehen, die im Rahmen des 3. und 4. „Saarbrücker Runden Tisches für Dialektsyntax“ in den Jahren 2016 und 2017 gehalten wurden. Auf diesen Tagungen sind, wie auch in diesem Band, eine Vielzahl an Phänomenen, Varietäten und theoretischen Ansätzen vertreten gewesen. Der in den ersten beiden Tagungen verfolgte und den daraus entstandenen Bänden ersichtliche Weg, spezifische Phänomene in kontinentalwestgermanischen Varietäten und ihren Abkömmlingen in theoretisch informierter Weise zu untersuchen, wurde weiterverfolgt und hat sich inzwischen zu einem Kennzeichen des Workshops entwickelt. In diesem Band sind die Beiträge nach Phänomen geordnet. Nach einer initialen methodischen Fragestellung, deren Behandlung anhand mehrerer ausgewählter dialektsyntaktischen Konstruktionen illustriert wird, arbeiten wir uns konstituentenweise zum Gesamtsatz vor. Zunächst geht es dabei von Funktionen und Formen der Determinierer- bzw. Nominalphrase, gefolgt von der Thematisierung besonderer Verbalphrasen mit ihren finiten bzw. infiniten bzw. grammatikalisierten Bestandteilen. Den vorläufigen Abschluss bilden Abhandlungen zu diversen Satztypen, und das nicht immer vom gleichen theoretischen Standpunkt aus. Eröffnet wird der Band von einem Aufsatz von ELVIRA GLASER, PHILIPP STOECKLE und SANDRO BACHMANN, der ein grundlegendes Problem anspricht, das der intrapersonellen Variation. Insbesondere, wenn Informanten Mehrfachantworten geben, stellt sich die Frage, wie man mit den Varianten, die neben der Zielform genannt werden, umgehen soll, und welchen Status diese besitzen, ob es sich tatsächlich um semantisch identische Varianten handelt oder ein Bedeutungsunterschied für die jeweiligen Sprecher besteht. In den folgenden Beiträgen geht es um Aspekte der Nominalphrase. SEYNA MARIA DIRANI widmet sich der Variation von voller und reduzierter Artikelform im Südhessischen. Sie geht von der in der Literatur gemachten Beobachtung aus, dass in vielen Varietäten die Vollform mit Kontextabhängigkeit korreliert ist. Eine indirekte Erhebung im Südhessischen konnte diese Hypothese nicht bestätigen, weswegen die Autorin eine neue Analyse im Rahmen der Split-DP-Hypothese vorschlägt, die informationsstrukturelle Faktoren als Auslöser identifiziert. Die Untersuchung von SOPHIE ELLSÄSSER befasst sich mit verschiedenen oberdeutschen Kasussystemen unter dem Gesichtspunkt von Kasussynkretismen. Auch innerhalb ein und desselben Dialektraums können verschiedene Synkretismusmuster auftreten, z. B. ein Dreikasussystem neben einem Zweikasussystem

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Augustin Speyer / Julia Hertel

mit Nominativ-Akkusativ-Synkretismus in verschiedenen Kontexten, z. B. innerhalb von Präpositionalphrasen. Morphosyntaktische Eigenheiten des Verbs bilden die Phänomene der folgenden Beiträge. Ein solches Thema liegt dem Aufsatz von MELISSA FARASYN zugrunde, nämlich Abweichungen vom Einheitsplural im Mittelniederdeutschen. Sie stellt Ergebnisse einer Korpusstudie vor, die sie mit Befunden in anderen Sprachstufen des Niederdeutschen sowie anderer westgermanischer Sprachen vergleicht. Faktoren wie Tempus und phonologische Faktoren spielen eine Rolle für die Wahl der Form der Pluralendung. Die Geschichte – nicht des organisierten Verbrechens, auch wenn der Schluss nach den ersten Sätzen naheläge – sondern des Infinitivmarkers zu, seine Entwicklung in Varietäten des Deutschen inklusive Denkwürdigkeiten der Statuswahl und Gerundien, sowie Hinweise aus denselben auf seine grammatiktheoretische Modellierung bilden den Stoff, aus dem die Studie von OLIVER SCHALLERT ist. Er schlägt eine Analyse im Rahmen der kategorialen Morphologie vor, die seinem Zwischenstatus zwischen Syntax und Morphologie Rechnung trägt. Es folgen zwei Aufsätze, in denen Infinitivkonstruktionen in Abhängigkeit von Verben der Fortbewegung behandelt werden. Im Beitrag von LEA SCHÄFER geht es um Verbindungen von kommen mit Bewegungsverben (z. B. sie kommt gelaufen) in verschiedenen Varietäten des westgermanischen Dialekt-/Sprachkontinuums, z. B. Niederländisch und Jiddisch. Für das Phänomen werden einige Analyseansätze vorgestellt und diskutiert und mit Korpusstudien der Verfasserin in Verbindung gebracht. Das Thema des folgenden Aufsatzes von AUGUSTIN SPEYER ist eine Konstruktion im Schwäbischen, die im Beitrag als Propositiv bezeichnet wird (I gang ge schaffa ‘ich gehe arbeiten’) und herkunftsmäßig mit der Schweizer Verbverdopplung (I gang gò schaffe ‘ich gehe arbeiten’) zusammenhängt, aber einen weniger weit beschrittenen Grammatikalisierungsprozess an den Tag legt. Auf Grundlage einer Fragebogenstudie wird die Konstruktion in eine formale Grammatikalisierungshypothese eingeordnet. Die folgenden Beiträge weiten den Blick auf den Satz als Ganzes bzw. seine linke Peripherie. Die Studie von JULIA BACSKAI-ATKARI befasst sich mit der Frage der linken Peripherie in eingebetteten Fragesätzen aus einem diachronen Blickwinkel. Aufgrund von Daten aus verschiedenen westgermanischen Sprachen und ihren Varietäten argumentiert sie gegen einen kartographischen Ansatz zugunsten eines Ansatzes, in dem nur eine linksperiphere funktionale Projektion (CP) zur Verfügung steht und die Fälle von double-comp durch die Erfordernisse verschiedener Merkmale innerhalb der CP hervorgerufen werden. MARIE-LUIS MERTEN widmet sich in ihrem Beitrag mittelniederdeutschen juristischen Texten aus einer konstruktionsgrammatischen Perspektive. Sie nähert sich dem Thema insbesondere unter der Leitfrage des Sprachausbaus, was bei der gewählten Textsorte besonders virulent ist, da wir über den untersuchten Zeitraum einen Wechsel der Medialität vom Vorlesetext zum Lesetext zu konstatieren haben. Das wird u. a. am Fallbeispiel der Aufspannung, also dem Ausbau des Mittelfelds zu Lasten des Nachfelds in subordinierten Sätzen demonstriert.

Vorwort

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Die Fragepartikel enn im Thüringischen steht schließlich im Zentrum der Studie von ANDREAS PANKAU. Vor dem Hintergrund des Ansatzes von BAYER für die gleichlautende bairische Fragepartikel schlägt er eine Analyse vor, nach der die Partikel kein Agreement-Suffix mit dem w-Element ist, sondern der Exponent des interrogativen Satzmodus: Während die Partikel im Bairischen nur in w-Fragen obligatorisch ist (und daher wh-drop zulässt), ist sie im Thüringischen für alle Fragesatztypen belegt, was reine Kongruenz mit dem w-Element ausschließt. Zu guter Letzt finden sich in diesem Band zwei studentisch verfasste Kurzaufsätze zu jeweils einem salienten syntaktischen Phänomen in diversen saarländischen Dialekten. Sie basieren auf eigens angefertigten Postern, die die jeweiligen Kandidatinnen auf dem SaRDiS 2017 präsentiert haben. DENISE GUILPAIN widmet sich dem in einigen im äußersten Westen des deutschen Sprachgebiets gesprochenen Varietäten verbreiteten Phänomen des Gebrauchs des Neutrum für Referenz auf Personen weiblichen Geschlechts (kennschde eigentlich das Biggi […]?). Im Rahmen einer Korpusstudie (Episoden der saarländischen Fernsehserie „Familie Heinz Becker“) weist sie nach, dass eine Korrelation mit dem Gebrauch des Vornamens und somit einem hohen Grad der Vertrautheit mit der Referentin besteht. Ein weiteres hochsalientes Phänomen der im Saarland und seinem Umfeld gesprochenen Varietäten ist die Verwendung von geben als Vorgangskopula (er gibt alt für: er wird alt) bzw. Vorgangsauxiliar z. B. beim Passiv (er gibt geschlagen für er wird geschlagen). SABETH OFFERGELD betrachtet das Phänomen unter einer Grammatikalisierungsperspektive. Anhand einer Korpusstudie von je einer rhein- und einer moselfränkischen im Dialekt geschriebenen Zeitungskolumne kommt sie zu dem Schluss, dass die Grammatikalisierung dieser Kopula im Moselfränkischen weiter fortgeschritten ist als im Rheinfränkischen. Damit wird die im letzten, d. h. zweiten Band der „Syntax aus Saarbrücker Sicht“ begonnene Rubrik „Schaufenster Saarland“, erfolgreich fortgesetzt. Saarbrücken, den 1. Juli 2019 Augustin Speyer, Julia Hertel

FAKTOREN UND ARTEN INTRAPERSONELLER VARIATION IM MATERIAL DES SYNTAKTISCHEN ATLAS DER DEUTSCHEN SCHWEIZ (SADS)1 Elvira Glaser / Philipp Stoeckle / Sandro Bachmann 1

ZUM VARIATIONSBEGRIFF VERSCHIEDENER LINGUISTISCHER DISZIPLINEN

Sprachliche Variation ist ein Thema, das nun Jahrzehnte schon Gegenstand linguistischer Forschung ist, spätestens seit der Etablierung der Soziolinguistik in den sechziger Jahren (vgl. WEINREICH / LABOV / HERZOG 1968), die das Konzept der variable rule entwickelt hat. Erstaunlich ist, dass dieses Interesse nicht abgeflaut ist, sondern im Gegenteil Variation als zentraler Gegenstand linguistischer Analyse sogar immer mehr Aufmerksamkeit erhält, und zwar von den unterschiedlichsten Richtungen der Linguistik. Natürlich liegt das auch daran, dass sehr Unterschiedliches darunter verstanden wird. Die Aufmerksamkeit gilt also nicht immer den gleichen linguistischen Phänomenen, und die Diskussionen sind auch weitgehend unabhängig voneinander geführt worden. Aber tatsächlich handelt es sich nach unserer Überzeugung und in unserem Verständnis von Variation dabei um ein Kernthema der Linguistik, das mindestens seit HERMANN PAULS Zeiten immer wieder theoretisch zu fassen versucht wurde. Im Grunde ist bis heute Variation in ihrer Funktion in der Sprache nicht zufriedenstellend verstanden. Die rückblickende Feststellung DECAMPS „Language variation has always been a tough problem for linguistic theory“ (DECAMP 1971, 30) gilt heute absolut noch genauso. Aus soziolinguistischer Perspektive stehen die Varianten v . a. als Träger außersprachlicher Information, besonders in der Phonetik und Phonologie, im Vordergrund. Variation wird dabei außerdem meist als Indikator sprachlichen Wandels angesehen. Einige Soziolinguisten, wie JENNY CHESHIRE haben sich allerdings wiederholt auch mit der Frage syntaktischer Variablen beschäftigt (vgl. CHESHIRE 2005), und es wurde hierüber eine längere Debatte um die Definition der Ebene geführt, auf der die strukturelle, semantische, funktionale oder pragmatische Äquivalenz der Varianten bestimmt werden kann (vgl. auch ROMAINE

1

Die folgenden Analysen wurden im Rahmen des SNF-Projekts „Modellierung morphosyntaktischer Raumbildung im Schweizerdeutschen“ (SynMod, Nr. 140716) und des Zürcher Universitären Forschungsschwerpunktes „Sprache und Raum“ (SpuR) durchgeführt, für deren Unterstützung wir danken. Für die Mithilfe bei einzelnen Analysen haben wir GABRIELA BART zu danken. Wir danken auch einem anonymen Gutachter, dass er uns veranlasst hat, die Problematik syntaktischer Variation an einigen Stellen schärfer zu fassen.

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Elvira Glaser / Philipp Stoeckle / Sandro Bachmann

1984; CHESHIRE 1987; WINFORD 1996). Auf diese Problematik kommen wir am Ende nochmals zurück. Variation ist in den letzten Jahrzehnten vermehrt auch als Erscheinung in der Grammatik diskutiert worden, wobei sich hier sehr grundsätzliche Fragen bezüglich der Existenz von Variation in der Kerngrammatik stellen bzw. sich die Untersuchungen darauf richten, zu ermitteln, an welcher Stelle und auf welchen Ebenen der Sprache Variation eigentlich möglich ist. Insbesondere geht es um die Frage, ob Varianten gegebenenfalls bei einem Einzelsprecher auf verschiedene zugrundeliegende Grammatiken schließen lassen, oder ob Varianten auch Bestandteil einer Individualgrammatik sein können (vgl. ADGER / TROUSDALE 2007; NEVINS / PARROTT 2010; HENRY 2002).2 Im Rahmen typologischer Untersuchungen wird manchmal global von Variation in bestimmten Bereichen der Sprache gesprochen, etwa im Aufbau von Nominalphrasen, mit Bezug auf die Position von Determinierern, Adjektiven etc., oder es wird im Rahmen von Sprachfamilien, etwa in der Germania, um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen, von Variation bezüglich des Vorkommens von WInterrogativpronomina als Indefinitpronomina gesprochen. Hier ist in der Regel nicht gemeint, dass ein grammatisches System intern Variation aufweist, die man grammatisch modellieren müsste, sondern die Varianten sind gewissermaßen sprachgeographisch oder sprachgruppenspezifisch determiniert. Variation als Eigenschaft eines Sprachsystems ist also an die Bestimmung einer zugrundeliegenden Sprachgemeinschaft als Träger des Sprachsystems gebunden. So steht etwa bei der Rede von Variation innerhalb eines Dialekts oder innerhalb einer Standardsprache wie etwa des Deutschen meist die Idee dahinter, dass hier Variation in ein abstraktes Gesamt-System, etwa des Deutschen, integriert sei. Dialektologische Forschung ist eigentlich von alters her schon immer mit Variation befasst. Man denke nur an die berühmten kontroversen Aussagen des frühen romanistischen Dialektologen LOUIS GAUCHAT (1905, 222): „L’unité du parler [...] est nulle“3 oder die Bemerkung RUDOLF HOTZENKÖCHERLES (1934, 26) zu seinen Feldforschungen im Walserort Mutten: „Mein erstes Erlebnis war das einer gelinden Verzweiflung. Die Schwankungen […] schienen jede übersichtliche und zugleich um das Tatsächliche bemühte Darstellung auszuschließen.“ In jüngerer Zeit hat WALTER HAAS das Problem aus einer anderen Perspektive beleuchtet und angesichts der oft negativen Bewertung von Variation daran erinnert, dass die Existenz von Variation ein Grundmerkmal von Sprache sei, wie das HERMANN PAUL schon gesehen hatte, und dass sie als solche akzeptiert und erklärt werden müsse. „Die Dialekte zeigen nur besonders scharf konturiert, was überall gilt: Die einheitliche Sprache gibt es nicht, kann es nicht geben, braucht es nicht zu geben und darf es nicht geben“ (HAAS 2014, 147). Angesichts von Vorstellungen einer notwendigen sprachlichen Homogenität, die besonders aus der Beschäftigung mit 2 3

Mit solchen Fragen beschäftigte sich 2007 eigens ein Workshop „Formal Approaches to Variation in Syntax“ an der University of York. Die exakte Äußerung lautet: „L’unité du parler de Charmey, après un examen attentif, est nulle.“

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

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Standardsprachen erwachsen sind, gibt er noch folgenden illustrativen Hinweis: „Auch die Tatsache, dass im Schweizerdeutschen allein das Verb gehen nach mindestens 150 verschiedenen Paradigmen konjugiert wird, führt kaum je zu Verständigungsproblemen“.4 Es gibt erstaunlicherweise aber trotz der Omnipräsenz des Phänomens nicht sehr viel Literatur, die sich im Rahmen dialektologischer Fragestellungen systematisch um das Phänomen der Variation kümmern würde. Ausnahmen stellen CORNIPS (2009) und nachfolgend SCHALLERT (2014) dar, die die Variation im Verbalcluster behandeln, sowie SEILER (2003), der das Phänomen der Präpositionalen Dativmarkierung analysiert. SCHALLERT (2014) widmet dem Phänomen der Variation ein eigenes Kapitel, worauf noch zurückzukommen ist. WEBER (2017, 170–175) setzt sich mit Blick auf die tun-Periphrase mit dem, was unter Variation zu verstehen und in die Analyse einzubeziehen ist, auseinander. Es ist nun nicht unsere Absicht, unmittelbar zu dieser grundsätzlichen Auseinandersetzung um die Rolle der Variation in der Grammatik etwas beizutragen, sondern vielmehr von den empirischen Befunden her das Verständnis von Variation im Bereich der Dialektologie zu erweitern. Dabei gehen wir von Beobachtungen im Rahmen der Ausarbeitung des „Syntaktischen Atlas der deutschen Schweiz“ (SADS) aus, bei der wir uns mit der Klassifikation von Varianten in verschiedener Hinsicht auseinandersetzen mussten. Das bottom-up-Vorgehen ist dabei weniger einer methodischen Überzeugung geschuldet, als vielmehr der Versuch, bei der praktischen Analyse entstandene Fragen und Beobachtungen für theoretische Überlegungen fruchtbar zu machen. Für ein besseres Verständnis von Variation ist es zunächst wichtig, zwischen intrapersoneller, oder nach SCHALLERT (2014) (in Anlehnung an CORNIPS 2009) idiolektaler, einerseits und interpersoneller Variation andererseits zu unterscheiden. Bei letzterer ist es ganz zentral zu bestimmen, was das sprachliche Bezugssystem ist, innerhalb dessen die Variation zu finden ist, z. B. innerhalb eines Dorfdialekts oder einer größeren Dialektregion. Genau diese systematische Bestimmung der zugrundeliegenden Sprachgemeinschaft ist eine theoretisch-methodische Herausforderung, die man praktisch durch die Festlegung äußerer, z. B. administrativer Grenzen lösen kann. Methodisch prinzipiell einfacher ist es, nur von intrapersoneller Variation auszugehen, d. h. nur den individuellen Sprecher als Träger der Sprache anzusehen. Intrapersonelle Variation stellt aber auch das stärkste Indiz für das Vorhandensein variativer Grammatiken dar und ist deshalb von besonderem Interesse. Dass man dann mit der alten Frage konfrontiert ist, wie in diesem Fall die Übereinstimmung verschiedener Sprecher und ihrer Sprachsysteme zu erklären ist, betont nochmals die oben erwähnte Wichtigkeit für das Verständnis von Sprache überhaupt, Variation zu verstehen. Aus der Perspektive des Sprachwandels ist hier nämlich das Problem der Diffusion berührt, also die Frage, wie es dazu kommt, dass über das Individuum hinaus eine Sprechergruppe ein bestimmtes sprachliches Merkmal übernimmt. Sicherlich muss also prinzipiell zwischen intrapersoneller und interpersoneller Variation unterschieden werden, 4

Man vergleiche die Darstellung der Verhältnisse in SDS 3, 62–63.

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Elvira Glaser / Philipp Stoeckle / Sandro Bachmann

wobei die Betrachtung beider Phänomene ihre je eigene Berechtigung hat. Im Hinblick auf die Ausbreitung eines Merkmals über das Individuum hinaus stellt sich dann auch die Frage, ob die sprachgeographisch determinierte Verteilung von Varianten etwas über ihren diachronen bzw. grammatischen Zusammenhang aussagt, wie es etwa dem niederländischen Projekt „Maps and Grammar“ als Hypothese zugrundeliegt (BARBIERS et al. 20165). Eine ähnliche Fragestellung hinsichtlich der Bewertung benachbarter Varianten diskutiert auch SEILER (2004) anhand von SADS-Daten. Diese vorangestellten allgemeinen Überlegungen zum Charakter von Variation sollten den Hintergrund abbilden, der unsere weiteren Ausführungen zu grammatischer Variation motiviert. Wir wollen mit unseren Beobachtungen und Analysen einen Beitrag zu der angedeuteten komplexeren Fragestellung leisten. 2

VARIATION IN DEN SADS-DATEN

Im Folgenden soll das Material des „Syntaktischen Atlas der deutschen Schweiz“ (SADS) (vgl. BUCHELI / GLASER 2002; GLASER / BART 2015), das im Hinblick auf zahlreiche Phänomene und deren sprachgeographische Verbreitung sowie realtime- und apparent-time-Veränderungen, also Variation im Raum und in der Zeit, bereits ausgewertet wurde, auf darin enthaltene weitere Typen von Variation im Bereich der Morphosyntax unter verschiedenen Gesichtspunkten vorgestellt und analysiert werden. Entgegen der ursprünglichen Intention des Atlasprojekts soll hier also nicht die mittlerweile ausgiebig dokumentierte geographische – diatopische – Variation im Vordergrund stehen (vgl. z. B. GLASER 2014; GLASER / BART 2015)6, sondern Variation im Sinne von Varianten, die über den Gesamtraum hinweg gelten können und insbesondere Variation an einem Ort und bei einzelnen Personen. Wir konzentrieren uns dabei insbesondere auf das Vorkommen intrapersoneller Variation, die in unseren Untersuchungen zur Dialektsyntax des Schweizerdeutschen aufgetaucht ist und bislang noch nicht beschrieben wurde. Variation ist dabei als Arbeitsbegriff in dem Sinn zu verstehen, dass es sich um Fälle handelt, in denen unsere Gewährspersonen mehrere offenbar von ihnen als gleichwertig angesehene Antworten geliefert haben. Wir werden zeigen, dass sich diese Fälle nicht gleichmäßig über unser Material verteilen, sondern dass bestimmte Muster erkennbar sind. Unsere Grundlage bilden die Antworten zu 118 Aufgaben/Fragen, die zunächst von 3 187 Gewährspersonen an 383 Orten in der gesamten Deutschschweiz 5 6

Man vergleiche den Projektantrag, der sich unter ; Stand: 10.10.2017. findet. Vgl. die Publikationen der Projekte „Dialektsyntax des Schweizerdeutschen“ und „SynMod – Modellierung morphosyntaktischer Raumbildung im Schweizerdeutschen“ auf den jeweiligen Webseiten: und ; Stand: 10.10.2017.

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

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ermittelt wurden. Insgesamt liegen von 2 771 Personen alle vier Fragebogen ausgefüllt vor. Es handelt sich, wie bereits mehrfach beschrieben, v. a. um Ankreuzfragen zu vorgegebenen dialektalen Konstruktionen (in einigen Fällen bis zu acht), daneben um Übersetzungen einzelner Sätze (Übersetzungsfragen) oder Wörter (Ergänzungsfragen).7 Zunächst werden diejenigen Fälle besprochen, bei denen durch die Gewährspersonen alternative Übersetzungen angegeben wurden (soweit diese auf die syntaktische Konstruktion und nicht auf Lautung oder Lexik bezogen waren) oder bei denen bei der Frage nach der „natürlichsten“ Variante von der gleichen Person mehrere Antworten gegeben wurden. Dabei soll insbesondere folgenden Fragen nachgegangen werden, um das Auftreten von Variation zu charakterisieren: – – – – – –

Gibt es Unterschiede zwischen Ankreuzfragen und Übersetzungsfragen in der Zahl der präferierten Varianten? Gibt es einen Zusammenhang zur Zahl vorgegebener Varianten? Besteht ein Zusammenhang zwischen der Zahl der Varianten und den soziodemographischen Faktoren Alter und Geschlecht der Informanten? Gibt es linguistische Bereiche, die mehr Variation hervorrufen als andere (sei es bei der Akzeptanz oder bei der Präferenz)? Gibt es regionale Häufungen intrapersoneller Variation? Wie ist der Umfang an Varianten zu bestimmen? 2.1

Intrapersonelle Variation (Untersuchungsbasis)

Zur Beantwortung der oben gestellten Fragen greifen wir zunächst auf den Ausschnitt an Fragen zurück, die momentan für die Publikation vorbereitet sind: das sind 71 Fragen zu 25 (morpho)syntaktischen Phänomenen aus den Bereichen Nominalphrase, Pronomina, Kasus, Verbalphrase, Satzverknüpfung usw.8 Bei den Auswertungen muss man im Auge behalten, dass sich die Gesamtanzahl Antworten pro Fragebogen und Frage unterscheiden kann. Die einzige im Sample vorliegende Ergänzungsfrage wird im Folgenden zu den Übersetzungsfragen hinzugezählt, da sie von der vorliegenden Aufgabenstellung her am ehesten einer Übersetzungsaufgabe entspricht (vgl. oben).

7

8

Zur Anlage des Projekts vgl. BUCHELI / GLASER (2002), BUCHELI / GLASER / SEILER (2012) sowie GLASER / BART (2015). Fragen des generellen Einflusses der Erhebungsmethode, etwa schriftliche vs. mündliche Erhebung, Varietätenwahl bei der Exploration, Instruktion der Gewährspersonen u. ä. werden im Folgenden nicht behandelt, wobei auch diese Faktoren die Antworten beeinflussen können, vgl. etwa die ausführliche Diskussion in SCHÜTZE (2016). Da die Versuchsanordnung des SADS diesbezüglich aber weitgehend homogen ist, dürften solche Faktoren für die im Folgenden zu untersuchende Variation kaum relevant sein. Der Analyse der soziodemographischen Faktoren (vgl. 2.6) ist eine davon leicht abweichende Auswahl an Fragen zugrundegelegt, wie sie im Projekt SynMod (s. Anm. 6) verwendet wurde, vgl. auch Anm. 20.

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Elvira Glaser / Philipp Stoeckle / Sandro Bachmann

45 Ankreuzfragen: Bei den Ankreuzfragen (vgl. Abb. 1) wurde nach akzeptierten und präferierten Varianten gefragt. Die Gewährsperson konnte zuerst aus einer Auswahl an suggerierten dialektalen Varianten (1–8 suggerierte Varianten) eine oder mehrere auswählen (Akzeptanz) und musste sich dann für eine (oder mehrere) „natürlichste“ Variante(n) entscheiden (im Folgenden als Präferenz bezeichnet).

Abb. 1: Frage II.21 zur Erweiterung der Nebensatzeinleitung mit dass und zum Subjekt-Drop

Abb. 2: Frage IV.3 zur Stellung und Abfolge von Pronominalobjekten im Mittelfeld

26 Übersetzungsfragen: Bei den Übersetzungsfragen (vgl. Abb. 2) konnten die Gewährspersonen ebenfalls mehrere Varianten notieren, diese wurden dann als Mehrfachpräferenz gezählt, wenn sie von den Gewährspersonen als gleichwertig dargeboten werden.

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Intrapersonelle Variation im Material des SADS

Zunächst werden die präferierten Varianten im gerade dargelegten Sinn analysiert. Dabei ist zwischen Einfach- vs. Mehrfachpräferenz zu unterscheiden: Von den hier behandelten 71 Fragen gibt es nur vier Fragen, die überhaupt keine Mehrfachpräferenz aufweisen. Drei dieser vier Fragen (III.4, III.10, III.11) stammen aus dem Bereich Kasus: – – – –

II.5b Lasst alles liegen! III.4 Die sind nicht für dich/dir! III.10 Wenn sie dich/dir erwischen, [...]! III.11 Also mich/mir erwischt keiner!

67 Fragen hingegen zeigen Mehrfachpräferenzen. Bei beinahe zwei Dritteln (63,2 %) davon haben die Gewährspersonen aber nicht mehr als zwei Antworten präferiert, während es bei einem weiteren guten Viertel (27,9 %) jeweils Gewährspersonen gab, die auch drei Antworten präferierten. Bei fünf Fragen kam Vierfachpräferenz vor. Bei einer Frage wurden sogar fünf Antworten präferiert9 (vgl. Tab. 1). Grundsätzlich ist aber festzuhalten, dass es je Frage immer nur ein kleiner Teil der Gewährspersonen war, die Mehrfachpräferenzen angegeben haben (vgl. Tab. 7 im Anhang). Anzahl Fragen

Prozent

davon A-Fragen

davon Ü-Fragen

42 19 5 1 67

63,2 % 27,9 % 7,4 % 1,5 % 100 %

24 16 4 1 45

18 3 1 – 22

2 Varianten präferiert 3 Varianten präferiert 4 Varianten präferiert 5 Varianten präferiert Summe

Tab. 1: Mehrfachpräferenzen (A = Ankreuzfragen, Ü = Übersetzungsfragen)

2.2

Fragetyp

Nun wollen wir herausfinden, ob der Fragetyp, d. h. Ankreuz- oder Übersetzungsfrage, einen Einfluss darauf hat, wie viele Gewährspersonen mehrere Antworten gleichzeitig präferieren. Dafür haben wir die Verteilung der Anzahl Gewährspersonen mit Mehrfachpräferenz je Fragetyp verglichen. In Abb. 3 sind Boxplots zu sehen, welche die Verteilung der Anzahl Gewährspersonen mit Mehrfachantworten pro Frage zeigen; d. h. man sieht auf der x-Achse die bereits in Tab. 1 betrachteten 67 Fragen aufgeteilt nach Ankreuzfragen und Übersetzungsfragen und auf der y-Achse die Anzahl Gewährspersonen, die je Frage Mehrfachpräferenz auf9

Es handelt sich um Frage IV.14 zum finalen Infinitivanschluss (Muesch s Liecht azünde für/zum/um/für zum (z) läse.); hier wurden 7 Varianten vorgegeben.

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Elvira Glaser / Philipp Stoeckle / Sandro Bachmann

weisen. Der Median für die Ankreuzfragen liegt bei 19 Gewährspersonen mit Mehrfachpräferenz, während der Median für die Übersetzungsfragen bei 14 Gewährspersonen mit Mehrfachpräferenz liegt. Die Streuung für Ankreuzfragen ist generell größer. Insgesamt zeigt sich, dass eine Korrelation10 zwischen dem Fragetyp und der Anzahl Gewährspersonen mit Mehrfachpräferenz besteht: Bei der Beantwortung von Ankreuzfragen ist die Zahl der Gewährspersonen, die mehrere Antworten je Frage präferierten, höher, als dies bei Übersetzungsfragen der Fall ist. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass einige Gewährspersonen erst durch die suggerierten Antworten auf weitere für sie mögliche Varianten einer Konstruktion aufmerksam geworden sind,11 während sie bei den Übersetzungsfragen lediglich die von ihnen am häufigsten verwendete Variante notiert haben.

Abb. 3: Anzahl Gewährspersonen mit Mehrfachpräferenz pro Frage nach Fragetyp (n = 67)

10 F-Test: F = 6,64, p < 0,01. 11 Zum Einfluss vorgegebener Varianten auf die Beurteilung einzelner Konstruktionen vgl. grundsätzlich SCHÜTZE (2016), wobei seine Feststellungen durch den weitgehenden Fokus auf eventuell auch graduelle Grammatikalitätsurteile syntaktisch eher peripherer Konstruktionsvarianten nicht einfach mit den vorliegenden Ergebnissen vergleichbar sind.

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

2.3

19

Anzahl vorgegebener Antwortmöglichkeiten

Als nächstes soll die Frage beantwortet werden, wie die Mehrfachpräferenzen, d. h. der Anteil an Gewährspersonen, die mehrere Antworten präferiert haben, mit der Anzahl der vorgegebenen Varianten zusammenhängt – ausgewertet wurden hierfür die 45 Ankreuzfragen, die Mehrfachpräferenz aufweisen. Folgende zwei Szenarien bieten sich an: Mehrere vorgegebene Varianten führen dazu, dass die Gewährspersonen in Versuchung geraten, auch eine größere Zahl an Varianten zu präferieren; also je mehr vorgegebene Antwortmöglichkeiten, desto mehr präferierte Varianten. Oder der Mangel an vorgegebenen Varianten führt dazu, dass die Gewährspersonen vermehrt eigene Varianten notieren; also je weniger vorgegebene Antwortmöglichkeiten, desto mehr präferierte Varianten. In Abb. 4 sind auf der x-Achse die Anzahl vorgegebener Varianten und auf der y-Achse die Anteile, die die Mehrfachpräferenz im Gegensatz zur Einfachpräferenz ausmachen, in einem Streudiagramm dargestellt. Von den 45 Ankreuzfragen wurden zwei Fragen, welche nur eine Antwortmöglichkeit zur Auswahl stellten, für die folgende Berechnung ausgeschlossen, da sie konzeptionell zu nahe an den Übersetzungsfragen liegen: Zum einen wurde gar nicht erst eine Auswahl aus mehreren Antworten geliefert, wie es Ankreuzfragen typischerweise tun, und zum anderen war es bei diesen beiden Fragen folglich nicht möglich, nach der natürlichsten Antwort zu fragen. Es handelt sich dabei um die Fragen IV.29 (He, das ist mir!), wo es um die pronominale Form des prädikativen Possessors im Dativ ging, sowie IV.33 (Das ist der Lehrerin.), wo nach der Form eines prädikativen Possessors als Nominalphrase gefragt wurde.12 Bemerkenswert ist der Umstand, dass die größten Anteile an Mehrfachpräferenz bei gerade diesen beiden Fragen vorliegen; das heißt, viele Gewährspersonen waren mit der suggerierten Variante nicht zufrieden und haben von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, eigene Varianten zu notieren. Mit 20,3 % resp. 11,4 % an Mehrfachpräferenzen sind das die mit Abstand höchsten verzeichneten Werte.13 Wenn wir Abb. 4 näher betrachten, fällt als erstes auf, dass der Anteil an Gewährspersonen mit Mehrfachpräferenz für die Mehrzahl der ausgewerteten Ankreuzfragen unter 1 % liegt (vgl. Tab. 7 im Anhang). Die Fragen mit 7 (IV.14, Du musst das Licht anzünden, um zu lesen.) und 8 (I.11, Aber jetzt habe ich mich gerade hingesetzt, um ein Buch zu lesen.) suggerierten Varianten zeigen zwar verhältnismäßig hohe Werte von etwa 3 %, doch auch Fragen mit 2–4 vorgegebenen Ankreuzmöglichkeiten verzeichnen teilweise gleich hohe oder höhere Anteile an Mehrfachpräferenzen. Die schwarze Regressionsgerade deutet bereits an, dass zwischen den beiden untersuchten Variablen kein oder höchstens ein leichter Zusammenhang besteht. Das grau hinterlegte Konfidenzintervall ist enorm groß und lässt sogar anders ge12 Diese Fragen sind in der Tabelle im Anhang mit NA (not available) gekennzeichnet. 13 Bei Frage IV.29 notiert beispielsweise eine Gewährsperson aus Uster ZH vier unterschiedliche Varianten für den prädikativen Possessor: 1. He, das ghöört mir. 2. He, he das isch my. 3. He du, das isch myne. 4. He du, das isch mys.

20

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richtete Regressionsgeraden zu, was es unwahrscheinlich macht, dass zwischen der Anzahl vorgegebener Varianten und dem Anteil der Mehrfachpräferenz ein nachweislicher Zusammenhang existiert. Ein Korrelationstest (nach PEARSON) bestätigt, dass in der Tat kein statistisch signifikanter Zusammenhang14 zwischen den beiden Variablen festgestellt werden kann.

Abb. 4: Anteile der Mehrfachpräferenz (n = 43)

Insgesamt bewegen sich Mehrfachpräferenzen also in einem geringen Prozentbereich, sind aber von den ganz wenigen genannten Ausnahmen abgesehen immer vorhanden. Fälle, in denen einzelne Gewährspersonen vier oder (maximal) fünf Varianten präferieren, sind ebenfalls sehr selten und kommen nur bei den Ankreuzfragen vor. Eine Konstruktion mit erhöhtem Anteil an Zweifachpräferenzen stellt aber z. B. die Übersetzungsfrage zum Perfekt von anfangen mit abhängigem Infinitiv dar (III.5, 3,87 %), welche als eine komplexe Frage eingestuft werden kann, insofern hier mehrere Elemente variieren können: Stellung, Typ des Infinitivanschlusses, Form des Partizips (nhd. ich habe schon angefangen zu kochen). Auffällig ist die Konzentration der leicht erhöhten Prozentsätze auf bestimmte Phänomenbereiche, wie Possessivkonstruktionen und Verbalperiphrasen mit dem Verb anfangen (hierzu vgl. 2.7).

14 r = –0,018, p > 0.1, r2 = 0,025.

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

2.4

21

Akzeptanz und Präferenz

Variation lässt sich nicht nur bei den Mehrfachpräferenzen beobachten. Durch die spezifische Versuchsanlage bei den Ankreuzfragen mit Unterscheidung von Akzeptanz und Präferenz lassen sich auch die mehrfachen Akzeptanzangaben als Variation interpretieren (vgl. auch 2.6). Da die Akzeptanzantworten in der Regel mehr Varianten einschließen als die Präferenz, sollen nun die Angaben der Gewährspersonen zu der Frage nach möglichen Konstruktionen (Akzeptanz) und nach der „natürlichsten“ Konstruktion (Präferenz) verglichen und mit der Zahl der vorgegebenen Varianten in Zusammenhang gebracht werden. Dazu führen wir an dieser Stelle das Maß der Präferenzrate ein, welche das Verhältnis von präferierten und akzeptierten Varianten darstellt. Die größte Übereinstimmung zwischen der Zahl an akzeptierten und präferierten Varianten findet sich bei Frage III.13 (Er gibt sich einfach keine Mühe.), bei welcher von den gesamthaft 2 839 akzeptierten Antworten 2 795 auch präferiert wurden. Dies ergibt eine Präferenzrate von 98,5 %. Am tiefsten liegt diese Präferenzrate mit 55,7 % (mit 5 805 akzeptierten und 3 232 präferierten Varianten) für die Frage I.11 ([...] um ein Buch zu lesen.). Es zeigt sich also, dass insgesamt viel mehr Varianten passiv akzeptiert als dann präferiert werden, allerdings nicht in allen Fällen in gleichem Umfang. Die folgende Grafik (Abb. 5) zeigt auf der xAchse die Anzahl vorgegebener Varianten sowie auf der y-Achse die Präferenzrate – also das Verhältnis von präferierten und akzeptierten Antworten – für alle Ankreuzfragen, bei welchen eine Diskrepanz von Akzeptanz und Präferenz möglich war (d. h. bei 42 Fragen, unter Ausschluss von Frage I.13, vgl. Tab. 7 im Anhang). Die schwarze Regressionslinie stellt eine starke negative Korrelation zwischen der Anzahl vorgegebener Varianten und der Präferenzrate dar, welche durch einen Korrelationstest (nach PEARSON15) bestätigt wird. D. h. eine höhere Anzahl vorgegebener Varianten führt zu einer tieferen Präferenzrate, während eine niedrigere Anzahl vorgegebener Varianten zu einer höheren Präferenzrate führt. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass Gewährspersonen von einer höheren Anzahl an vorgegebenen Varianten dazu verleitet werden, mehr Varianten zu akzeptieren, während dies für das Präferieren von Antworten nicht oder nicht in demselben Maße gilt. So waren für die oben beschriebenen Fragen III.13 (Präferenzrate: 98,5 %) und I.11 (Präferenzrate: 55,7 %) beispielsweise 2 resp. 8 Varianten vorgegeben. Bei näherer Betrachtung der akzeptierten Varianten lässt sich erkennen, dass beinahe alle 67 untersuchten Fragen eines gemeinsam haben, nämlich dass sie eine Variante mit relativ hoher Akzeptanz aufweisen, die dementsprechend weit verbreitet ist. Gegenüber den darüber hinaus teils vorhandenen weiteren Varianten lassen sich dann oft hohe Diskrepanzen erkennen. Es wäre also nun als nächstes zu prüfen, welche Fragen eine besonders große Diskrepanz zwischen der häufigsten und den weiteren akzeptierten Varianten zeigen. Hierzu können wir aus Platz15 r = –0,56 p < 0,001 r2 = 0,313.

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gründen nur einige Beispiele geben. Eine große Diskrepanz zwischen den Varianten weisen etwa Fragen zur Verbalstellung in der Perfektperiphrase (I.19, [...] ob sie das Auto schon gezahlt hat.) oder zum Reflexivpronomen in der 3. Sg. (III.13, Er gibt sich einfach keine Mühe.) sowie in der 1. Pl. (III.17, Wir müssen uns das überlegen.) auf (vgl. Tab. 2).

Abb. 5: Präferenzrate (n = 42)

Die bisher noch nicht gelöste Frage ist, was die Akzeptanzantworten eigentlich genau abbilden. Sicherlich ist ein Teil der Antworten durch Unsicherheit und Beeinflussung durch die Vorlage entstanden, die ungleiche Verteilung über die Fragen hinweg deutet aber auf systematischere Gründe. Nicht immer liegen die Akzeptanzwerte sehr viel höher als die Präferenzwerte. Wir schlagen vor, die Unterschiede zwischen Akzeptanz und Präferenzantworten tatsächlich als Ausdruck passiver und aktiver Kompetenz zu werten. Bei nur kleinräumig geltenden Varianten, wie etwa bei Frage III.13 ist die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz dieser

23

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

Variante ebenfalls sehr eingeschränkt, so dass sich eine hohe Präferenzrate ergibt. Auf eine eingehendere Interpretation muss an dieser Stelle leider verzichtet werden.

I.19

III.13

Anzahl akzeptierte Antworten

%

gezahlt hat (2-1)

2 093

88 %

hat gezahlt (1-2)

284

12 %

ihm

74

2,6 %

sich

2 764

97,4 %

1

0,04 %

sich

218

7,5 %

uns

2 704

92,5 %

1

0,03 %

ihm sich

III.17

sich uns

Summe 2 377

2 839

2 923

Tab. 2: Hohe Diskrepanz zwischen häufigster und weiteren Varianten

2.5

Mehrfachpräferenzen am Ort und über Fragen hinweg

Wie oben bereits festgehalten wurde, bewegt sich das Vorkommen von intrapersonellen Mehrfachpräferenzen bei der Versuchsanordnung des SADS insgesamt in einem quantitativ geringen Bereich. Es sind also jeweils weit überwiegend nur einzelne Personen an einem Ort, die bei einer Frage mehr als eine Variante präferieren. Insofern ist das mehrfache Vorkommen von intrapersoneller Variation an einem Ort bemerkenswert und deutet einerseits wohl auf eine starke Verankerung mehrerer Varianten am Ort hin, bezeugt aber andererseits auch klar die Existenz individueller Variabilität. Für den Bereich der 2-Verb-Cluster bei Modalverben belegt SCHALLERT (2014, 256–257) in seinen Vorarlberger Korpusdaten eine erheblich größere Variabilität in der Stellung der beiden Verbalteile, die bei über einem Drittel der Tonaufnahmen festzustellen ist. Diese Diskrepanz dürfte aber auf die unterschiedliche Erhebungssituation zurückzuführen sein, und insofern kann man das Auftreten intrapersoneller Variation in den SADS-Daten, d. h. also in einem für Variabilität ungünstigen Forschungssetting, für besonders signifikant halten. Für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen ähnlichen Fragen, etwa nach der Stellung in verschiedenen 2-Verb-Clustern, wäre es wichtig, die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten, wie sie SCHALLERT (2014, 257–258) in seinen Korpusdaten nachweisen kann, zu kennen. Hierzu sind die Daten innerhalb des SADS begreiflicherweise sehr spärlich.

24

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So kommt es beispielsweise lediglich einmal vor, dass dieselbe Gewährsperson, welche in Frage I.9 (Ich weiß auch nicht, ob er einmal heiraten will) beide Verbstellungen im 2-Verb-Cluster mit Modalverb (1-2: will heiraten; 2-1: heiraten will) präferiert, auch in Frage I.19 (Ich habe keine Ahnung, ob sie das Auto schon gezahlt hat) beide Verbstellungen im 2-Verb-Cluster beim Perfekt (1-2: hat gezahlt; 2-1: gezahlt hat) präferiert, s. Tab. 3.16 Ähnlich sporadisch ist die Mehrfachpräferenz über verwandte Fragen hinweg beispielsweise auch im Bereich der finalen Infinitivsätze zu finden, mit den beiden Hauptvarianten für und zum, s. Tab. 4, obwohl es sich hier z. T., bei den Fragen I.1 und I.11, um strukturell gleichwertige Vorgaben handelt, in diesem Fall jeweils um einen Infinitivsatz mit Objekt. Immerhin findet sich die einzige über mehrere Fragen hinweg belegte Doppelpräferenz genau zu diesen beiden Fragen. D. h. dieselbe Person hat bei I.1 beide Varianten übersetzt und bei I.11. angegeben, dass sie beide Varianten präferiere. Weitere über Fragen hinweg belegte intrapersonelle Mehrfachpräferenzen, etwa mit der dem Standarddeutschen entsprechenden Variante um, gibt es bei diesen Fragen nicht. Frage Varianten Pratteln BL Grabs SG Zermatt VS Zürich ZH

I.9 wett hürate 1-2 hürate wett 2-1 ● ● ● ●

I.19 hät zalt 1-2 zalt hät 2-1

II.2 sött bringe 1-2 bringe sött 2-1 ● ●

● ●

Tab. 3: Mehrfachpräferenzen über Fragen hinweg: Stellung in 2-Verb-Clustern

Von Interesse für die Beurteilung eines überindividuellen Ortsdialekts könnten aber auch Fälle sein, wo Mehrfachpräferenzen über Fragen hinweg zwar nicht bei derselben Gewährsperson vorkommen, aber durch Gewährspersonen am selben Ort bezeugt sind. Für das Phänomen der Verbstellung im Nebensatz (bei 2-VerbClustern) gibt es drei solche Fälle (vgl. Tab. 3), bei den Finalsätzen zwei. Bei letzteren gibt es zwei weitere Fälle, wenn man die Variation von um und zum mit einbezieht. Da es sich bei diesen Mehrfachpräferenzen über Fragen hinweg, wie die Stichprobe gezeigt hat, um seltene Fälle im SADS-Material handelt, die als solche wenig aussagekräftig sind, ergibt sich als Desiderat für die weitere Erschließung der SADS-Materialien eine Einbettung dieser Fälle in die jeweiligen Variationsverhältnisse am Ort, wie das SCHALLERT (2014) und CORNIPS (2009) mit dem Ziel der Ermittlung möglicher vs. individuell realisierter Grammatiksysteme durchgeführt haben.

16 Für die Tabellen 3 und 4 gilt jeweils: grau hinterlegt: intrapersonell; ohne Hervorhebung: am selben Ort.

25

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

Frage Varianten Aarau AG Bern BE Steffisburg BE

I.1 I.11 für [...] z löse für […] .z läse zum […] (z) löse zum [...] (z) läse ● ● ●

I.6 für iizschlafe zum iischlafe

IV.14 für z läse zum läse

● ●



Tab. 4: Mehrfachpräferenzen über Fragen hinweg: Finalsätze (für vs. zum)

2.6

Soziodemographische Faktoren intrapersoneller Variation

Im Folgenden soll nun noch den soziodemographischen Aspekten im Variationsverhalten der Gewährspersonen des SADS nachgegangen werden. Eine Besonderheit (und gleichzeitig ein großer Vorteil) der SADS-Daten liegt darin, dass nicht nur – wie in traditionellen dialektologischen Erhebungen üblich – eine ältere Person pro Ort befragt wurde, sondern mehrere Sprecher unterschiedlichen Alters mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund, wenn diese Parameter auch nicht systematisch pro Ort kontrolliert wurden. Im Folgenden werden einige Analysen vorgestellt, die den „klassischen“ soziolinguistischen Variablen Alter (bzw. Altersgruppe) und Geschlecht gelten. Da zwar das Altersspektrum der Informanten sehr groß ist (zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen 12 und 103 Jahren), die Altersstufen sich jedoch nicht gleichmäßig verteilen und zudem der Median bezüglich des Alters bei 57 Jahren liegt, was einem vergleichsweise hohen Altersdurchschnitt entspricht, haben wir versucht, eine Einteilung vorzunehmen, die einerseits möglichst gleich große Gruppen hervorbringt und durch die andererseits eine sinnvolle Unterteilung hinsichtlich der Altersabschnitte erreicht wird.17 Wir unterscheiden daher zwischen drei Altersgruppen: jung (< 40), mittel (zwischen 40 und 65) und alt (> 65).18 Es wurde jeweils statistisch getestet, ob sich zwischen den Gruppen Unterschiede erkennen lassen.19 In Bezug auf den Parameter Geschlecht ließen sich bei keinem der Fragetypen (d. h. Übersetzungs- und Ankreuzfragen) systematische statistische Effekte feststellen, so dass diese Variable im Folgenden nicht mehr weiter behandelt wird. Hinsichtlich des soziodemographischen Parameters Alter zeigten sich zudem weder bei den Übersetzungsfragen (und Ergänzungsfragen) noch bei den präferierten Varianten der Ankreuzfragen systematische Unterschiede zwischen den Gruppen. In einzelnen Fällen ließen sich zwar Effekte der Parameter Alter oder Geschlecht

17 Ausführliche Überlegungen zu den Phasen des „sozialen Alters“ wurden von MATTHEIER (1980) angestellt. 18 Vgl. zu dieser Einteilung auch STOECKLE (2018). Ähnliche Einteilungen in Altersgruppen auf der Grundlage des SADS-Materials wurden von RICHNER-STEINER (2011) und FRIEDLI (2012) vorgenommen. 19 Das verwendete Testverfahren war der χ²-Test nach PEARSON.

26

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feststellen, jedoch waren diese sporadisch (was nicht heißt, dass es nicht interessant wäre, diese Fälle im Detail zu untersuchen).20 Bei den akzeptierten Varianten der Ankreuzfragen zeigt sich jedoch systematisch ein deutlicher Effekt. Hier kreuzten die jüngeren Sprecher in 74 % der Fälle deutlich mehr Varianten als „akzeptabel“ an als die älteren. Diese Unterschiede sind meist sogar höchstsignifikant. Dafür sind unterschiedliche Erklärungen denkbar. Einerseits könnte der Unterschied ein Effekt der Befragungssituation sein, in dem Sinne, dass die jüngeren Sprecher vermehrt vorgegebene Varianten „unbedacht“ ankreuzen. Andererseits könnte es aber tatsächlich so sein, dass die jüngeren Sprecher mehr grammatische Varianten akzeptabel finden, auch wenn sie sich schließlich für eine Variante als „präferierte“ entscheiden. Dies wiederum könnte mit einer Reihe von Faktoren zusammenhängen wie z. B. mit einer höheren sprachlichen Flexibilität bzw. geringeren sprachlichen Festigung junger Sprecher aufgrund kognitiver Faktoren sowie des geringeren sozialen Drucks, einer sprachlichen Norm zu entsprechen (ECKERT 1996, 164–165 sowie die dort genannte Literatur). Ebenso ist es möglich, dass vermehrter Medienkonsum und erhöhte geographische Mobilität zu einer größeren Bekanntheit anderer Dialekte und somit zu einer größeren Akzeptanz unterschiedlicher grammatischer Varianten führen. Hierzu müssten weitere Untersuchungen stattfinden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es gemeinsame Merkmale bei den „Ausnahmen“ gibt, d. h. die 26 % der Fragen, in denen sich bei der Akzeptanz kein Alterseffekt feststellen lässt, indem hier die jüngeren Sprecher gerade nicht systematisch mehr Antworten akzeptieren als die älteren.21 Die betroffenen Fragen zeichnen sich zwar dadurch aus, dass durchschnittlich weniger Antworten vorgegeben sind als bei den anderen Fragen. Allerdings kann das nicht erklären, warum nicht auch hier die jüngeren Sprecher im Schnitt unter den wenigen vorgegebenen Antworten mehr ankreuzen als die älteren.22 Ein genauerer Blick auf die syntaktischen Phänomene ergibt deutliche Unterschiede. Das folgende Diagramm zeigt die Ergebnisse zusammengefasst nach syntaktischen Bereichen. Jede Säule steht für einen grammatischen Teilbereich und zeigt jeweils die Anzahlen derjenigen SADS-Phänomene, für die ein Alterseffekt (bzw. kein Alterseffekt) festgestellt werden konnte. Die Zuordnung der einzelnen Phänomene zu den verschiedenen grammatischen Bereichen richtet sich dabei nach einer vorläufigen Klassifikation, wie sie auch in Zusammenhang mit den Arbeiten des SADS vorgenommen wurde.23 20 Der Berechnung lagen die weiter unten behandelten 43 Ankreuzfragen sowie 22 Übersetzungsfragen zugrunde, gegenüber der Auswertung in STOECKLE (2016) (57 Fragen) also acht weitere Fragen. 21 In manchen Fällen ist es sogar umgekehrt, d. h. die älteren Sprecher akzeptieren durchschnittlich mehr Varianten als die jüngeren. 22 Im Allgemeinen besteht ein Zusammenhang zwischen der Anzahl vorgegebener und akzeptierter Varianten (Korrelationstest nach PEARSON: r = 0,61, p < 0,001); vgl. auch oben 2.4. 23 Die jeweiligen syntaktischen Bereiche setzen sich aus den folgenden ausgewählten 43 Fragen zusammen – NP Artikel: II.31, II.32, IV.28; sonst. Pronomina: I.13, I.18, III.13, III.17, III.20, IV.16; NP Kasus: I.7, I.20, II.12, II.22, II.23, II.30, IV.11, IV.17, IV.33; Verknüpfung: II.18,

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

27

Abb. 6: Alterseffekte bei Mehrfachakzeptanzen gruppiert nach syntaktischen Bereichen

Für die Fragen zum Artikel bei Eigennamen (NP Artikel) zeigt sich also z. B., dass bei keiner Frage ein Alterseffekt festgestellt werden konnte, während etwa bei den Fragen zu (pro)nominalem Kasus (NP Kasus) die statistische Analyse in sieben von neun Fällen (77,8 %) einen Alterseffekt ergab und sich lediglich in zwei Fällen (22,2 %) kein Effekt zeigte. Vergleicht man die verschiedenen grammatischen Bereiche hinsichtlich der Alterseffekte miteinander, so fällt auf, dass sich diese in erster Linie bei Fragen rund um die Verbalphrase sowie Satzverknüpfungen zeigen, während der Nominal- und Pronominalbereich – mit Ausnahme des Kasus – davon nicht betroffen ist. Damit ist aber nicht gesagt, dass der Alterseffekt direkt mit den syntaktischen Bereichen zu korrelieren ist. Es wäre noch genauer zu prüfen, welche weiteren Gemeinsamkeiten die betroffenen Fragen aufweisen, etwa im Hinblick auf räumliche und zeitliche Charakteristika der Varianten wie bei der Präferenzrate (vgl. 2.4). So handelt es sich etwa bei den konkurrierenden Varianten in den folgenden Fragen eher um altertümliche, im Rückzug befindliche Varianten.

II.20, II.28, III.22, III.25, III.28; VP Inf-Konstr: I.8, I.11, II.7, IV.14, IV.32; VP Modal- und HV: I.9, I.19, II.6, II.9, IV.21, IV.25; VP, Weiteres zum Verb: I.12, II.11, II.13, II.17, II.19, III.16, III.19, III.23. Die Anzahl der Fragen wird jeweils im Balken angegeben. Vgl. zu den Phänomenbereichen auch den Überblick unter .

28 – – –

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IV.28: Artikel bei Eigennamen, z. B. Ich habe (den) Fritz gesehen. I.13: Expletives es: Da wird (es) gearbeitet. III.13: Reflexivpronomen, z. B. Er gibt sich/ihm einfach keine Mühe.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass bei der SADS-Abfrage die jüngeren Sprecher generell mehr Varianten akzeptieren als die älteren, mit Ausnahme einiger Fragen des (pro)nominalen Bereichs, bei dem jüngere und ältere Sprecher gleich viele bzw. gleich wenige Varianten als „akzeptabel“ beurteilen. Diese generelle Feststellung lässt offen, um welche Varianten es sich handelt, die gegebenenfalls gleichzeitig akzeptiert werden. Bei den zuvor angeführten „Ausnahmen“ lässt sich feststellen, dass eher altertümliche Varianten als Konkurrenten beteiligt sind, was erklären könnte, weshalb hier die älteren Gewährspersonen eventuell sogar beide Varianten vermehrt akzeptiert haben. Auch hierzu stehen genauere Analysen noch aus. 2.7

Zur Klassifikation von Varianten am Beispiel der Syntax von anfangen

Im Folgenden soll anhand der Syntax von anfangen 24 noch zwei weiteren Aspekten der Variation nachgegangen werden. Insbesondere wollen wir anhand eines Beispiels der Frage nachgehen, welche Typen von Varianten unter den Mehrfachantworten besonders häufig (und gemeinsam) auftreten. Zuvor soll aber noch ein möglicher Einfluss des Faktors geographischer Raum auf die Verteilung von Mehrfachantworten geprüft werden, also die Frage, ob sich regionale Häufungen intrapersoneller Variation finden lassen. Die folgenden drei Übersetzungsfragen aus dem SADS weisen einen vergleichsweise hohen Anteil25 an Mehrfachantworten auf und bilden so eine geeignete Grundlage für eine genauere Analyse: – – –

III.1, Wenn es so warm bleibt, fängt das Eis an zu schmelzen. 74 Mehrfachantworten (2,7 %) III.5, Ich habe schon angefangen zu kochen. 119 Mehrfachantworten (4,3 %) III.8, Sie findet es nicht gut, dass ich angefangen habe zu rauchen. 87 Mehrfachantworten (3,2 %)

Im ersten Beispiel (III.1) war vor allem von Interesse, ob eine Verdopplung des Elements -fa stattfindet wie in der Variante [...] fangt s Iis afa schmelze, oder ob die Variante [...] fangt s Iis aa (z) schmelze lautet. Insgesamt gab es 74 Mehrfachantworten, was einem Anteil von 2,7 % der Gewährspersonen entspricht. In den beiden anderen Sätzen wurde jeweils das Verb anfangen im Partizip (im Haupt24 Eine ausführlichere Untersuchung der Syntax von anfangen wurde in STOECKLE (2018) vorgelegt. 25 Zum Vergleich der hier behandelten Mehrfachantworten (Übersetzungen) betrachte man Abb. 4 für die Werte der Mehrfachpräferenzen.

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

29

und Nebensatz) abgefragt. Hierbei interessierte vor allem, ob die Gewährspersonen ein Partizip agfange oder einen reduzierten Ersatzinfinitiv afa übersetzen. In beiden Fällen lagen die Anteile der Mehrfachantworten relativ hoch. Die Frage nach einer möglichen regionalen Häufung intrapersoneller Variation kann relativ leicht beantwortet werden, wenn man sich die folgende Karte ansieht. Abb. 7 zeigt alle Orte aus dem SADS-Ortsnetz, in denen bei der Frage III.1 Mehrfachantworten auftraten. Die Punktgröße symbolisiert jeweils den prozentualen Anteil der Sprecher. Die Punkte scheinen ziemlich gleichmäßig über das ganze Gebiet verteilt zu sein, es lassen sich keine regionalen Häufungen erkennen. Ebenso verhält es sich bei den beiden anderen Fragen.

Abb. 7: Regionale Verteilung der Mehrfachantworten zu Frage III.1

Aufschlussreicher ist die Analyse, welche Varianten besonders häufig auftreten und welche vor allem gemeinsam auftreten (vgl. Tab. 5). Bei der Frage III.1 gaben insgesamt 74 Gewährspersonen (von 2 761) jeweils 2 verschiedene Antworten, also insgesamt 148 Antworten. Die häufigste darunter war die Variante [...] fangt s Iis aa (z) schmelze mit insgesamt 56 Nennungen, während die verdoppelte Variante mit afa von 20 Gewährspersonen genannt wurde. Es zeigte sich allerdings, dass die Gewährspersonen noch eine weitere Variante häufig übersetzten, nämlich [...] schmilzt s Iis, d. h. im Präsens ohne anfangen. Diese Variante ist 50 Mal unter den Mehrfachantworten belegt.

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Häufigste [...] fangt s Iis aa Varianten (z) schmelze (56) [...] fangt s Iis aa (z) schmelze (56) [...] fangt s Iis afa schmelze (20) [...] schmilzt s Iis (50)

[...] fangt s Iis afa schmelze (20)

[...] schmilzt s Iis (50)

7

36 11

Tab. 5: Mehrfachantworten bei Frage III.1, [...] fängt das Eis an zu schmelzen26

Sieht man sich nun die Kombinationen bei den Mehrfachantworten an, wird deutlich, dass ein großer Teil darunter eine der beiden intendierten Varianten (mit oder ohne Verdopplung) zusammen mit der alternativen Präsens-Variante enthält (nämlich 47 Kombinationen, dargestellt in den grau unterlegten Zellen), während eine Kombination der beiden intendierten Varianten nur 7 Mal belegt ist. Ähnlich verhält es sich auch bei Satz III.5, Ich habe schon angefangen zu kochen, bei dem die intendierten Varianten [...] agfange (z) choche und [...] afa choche insgesamt 98 bzw. 27 Mal genannt wurden (vgl. Tab. 6). Auch hier wählten die Gewährspersonen jedoch häufig alternative Konstruktionen, zum einen den Anschlusstyp auf mit ([...] mit choche agfange), der 77 Mal genannt wurde, zum andern die Progressivkonstruktion [...] bin scho am choche mit 22 Nennungen. Insgesamt gaben 119 Gewährspersonen 239 Mehrfachantworten. Bei den Kombinationen wird deutlich, dass auch hier die meisten Mehrfachantworten aus einer der intendierten Varianten mit einer alternativen Konstruktion bestehen. Auch beim dritten Beispielsatz (III.8) sind die Verhältnisse ähnlich. Bei den untersuchten Übersetzungsfragen kann man als Fazit festhalten, dass erstens regionale Häufungen bei den Mehrfachantworten nicht erkennbar sind und weiterhin, dass Gewährspersonen, wenn sie mehrere Varianten nennen, als „Zweitantwort“ eine alternative Konstruktion wählen, während strukturell konkurrierende Varianten eher selten gemeinsam genannt werden.

26 Es fällt auf, dass die Summe der Antwortkombinationen (54) nicht der Zahl der Gewährspersonen entspricht, die Mehrfachantworten gegeben haben (74). Dieser Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass für die tabellarische Darstellung aus Gründen der Übersichtlichkeit nur die häufigsten Antwortvarianten aufgenommen wurden, während weitere, nur sporadisch belegte Antworten, nicht in der Tabelle abgebildet sind. Ähnliches gilt auch für Tab. 6.

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Intrapersonelle Variation im Material des SADS

Häufigste [...] agfange (z) Varianten choche (98) [...] agfange (z) choche (98) [...] afa choche (27) [...] mit choche agfange (77) [...] bin scho am choche (22)

[...] afa choche (27)

[...] mit choche agfange (77)

[...] bin scho am choche (22)

14

60

15

9

3 4

Tab. 6: Mehrfachantworten bei Frage III.5, Ich habe schon angefangen zu kochen

3

SCHLUSSFOLGERUNG ZUR KLASSIFIKATION VON VARIANTEN

Bei der Diskussion der Art der gewählten Varianten bei intrapersoneller Variation wird deutlich, dass die Beurteilung des Umfangs der intrapersonellen Variation dadurch beeinflusst wird, was als Variante in die Untersuchung einbezogen wird. Bei allen Befragungen gibt es ja immer eine Anzahl Antworten, die nicht den intendierten Antworten – nach SCHALLERT (2014, 168) der Zielform – entspricht. Das Problem ist auch aus traditionellen dialektologischen Erhebungen bekannt. Zumindest in der germanistischen Tradition werden jedoch nur die als passend erachteten (phonologischen, morphologischen und lexikalischen) Varianten zu Typen geordnet kartographisch präsentiert, während man für weitere Antworten die Originalmaterialien konsultieren müsste.27 Nach SCHALLERT (2014, 168) ist es vor allem bei Übersetzungsaufgaben häufig, „dass Informanten eine alternative syntaktische Konstruktion wählen, die mit der Zielform nur insofern konkurriert, als sie eine weitere Möglichkeit (von vielen) darstellt, auf einen bestimmten Diskursinhalt sprachlich zu reagieren.“ Darunter können dann auch Konstruktionen sein, die man vielleicht vorher nicht kannte oder jedenfalls nicht in Betracht zog und die sich dann sehr wohl als äquivalent herausstellen und unter die intendierten Varianten subsumiert werden können. Zu diesem Typus sind bei der Syntax von anfangen die Konstruktionen mit der Präposition mit zu zählen. Nicht immer ist die Entscheidung, ob eine angegebene Konstruktion als syntaktisch äquivalent anzusehen ist, leicht zu fällen, und das dürfte, wie eingangs angesprochen, ein spezifisch syntaktisches Problem sein, während in den traditionell erforschten dialektologischen Bereichen die Entscheidung über die Adäquatheit einer Form/eines Wortes leichter zu fällen ist. Pointiert formuliert das KIESLING (2011, 15): „Variables at the level of syntax are some of the most diffi-

27 So etwa im Falle des SDS (HOTZENKÖCHERLE et al. 1962–2003), vgl. jetzt ; Stand: 20.11.2017. In der romanistischen Tradition, in der Originalmaterial kartiert ist, begegnet man häufiger Einträgen, die nicht der Zielform entsprechen und vom Bearbeiter erst interpretiert werden müssen.

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cult to define, because it is not always clear whether or not two variants are equivalent at some abstract level.“ SCHALLERT (2014, 169) führt verschiedene Kriterien zur Ermittlung der „Authentizität“ einer Variante an, zu denen auch mehrfaches Vorkommen zählt. Problematisch ist aber dennoch die Entscheidung, ob z. B. die durchaus nicht seltene Progressivphrase oder die Übersetzungen im Präsens bei den Fragen zur Syntax von anfangen in die Betrachtung der Mehrfachantworten einbezogen werden sollen. Oder, um einen weiteren problematischen Fall zu nennen: sollen etwa finale damit-Anschlüsse bei der Ermittlung der Anschlussmittel für finale Infinitivanschlüsse (nhd. ich habe mich hingesetzt, um ein Buch zu lesen) eingerechnet oder – als nicht intendiert – ausgeschlossen werden? Zweifellos haben wir es hier mit einer der von SCHALLERT (2014, 168) angesprochenen alternativen Konstruktion zu tun, die auf den Diskursinhalt adäquat reagiert. Das gilt durchaus nicht für alle von Gewährspersonen notierte Konstruktionen, etwa wenn inhaltlich gänzlich abweichende Sätze übersetzt werden, die dann nicht in die Auswertung des SADS einbezogen werden. Wenn nun einerseits klar ist, dass ein Konjunktionalanschluss nicht einschlägig ist, wenn die Struktur von Infinitivanschlüssen untersucht werden soll, so könnte aber doch der Ausschluss einer solchen Antwort die Tatsache verbergen, dass ein bestimmter Dialekt eventuell „infinitiv-feindlich“ ist und solche Anschlüsse eigentlich vermieden werden. Die Entscheidung darüber, wie in einem solchen Fall zu verfahren ist, muss also jeweils auf der Basis einer guten Kenntnis der sprachlichen Verhältnisse getroffen werden. Bei den SADS-Analysen sind wir im Zweifelsfall eher großzügig vorgegangen und haben auch strukturell nicht mehr äquivalente Varianten mit in die Auswertung einbezogen, um die gerade geschilderte Möglichkeit einer fehlenden genauen strukturellen Parallele nicht auszuschließen. Wenn man anders entscheidet, sollten aber zumindest die ausgeschlossenen Varianten genannt werden, damit man sich ein volles Bild der Variation machen kann. Angesichts der erst wenige Jahrzehnte alten dialektsyntaktischen Feldforschung hat sich hier noch keine Tradition herausgebildet.28 Hier stößt man also auf ganz praktische Auswirkungen des eingangs angesprochenen theoretischen Problems der Bestimmung syntaktischer Varianten, das sich auch im Zusammenhang der syntaktischen Rekonstruktion zeigt (vgl. 28 Man vergleiche die Publikationen SAND (BARBIERS et al. 2005/2008) und SyHD (FLEISCHER / LENZ / WEISS 2017), die über ihr diesbezügliches Verfahren nicht explizit informieren. In den SyHD-Karten sind aber teilweise nicht näher spezifizierte „sonstige“ Varianten verzeichnet, und in den Kommentaren ist gelegentlich von einem „Anteil sonstiger Typalternativen“ die Rede, wobei etwa statt dem Infinitivanschluss bei helfen. „Konstruktionen mit beim und zu-Infinitiv sowie einfache Sätze ohne IPP-Kontext“ (LUKS / SCHWALM 2017, 177) erwähnt sind. Entsprechend sind z. B. auch Zwei-Verb-Cluster statt Drei-VerbCluster aufgeführt (LUKS / SCHWALM 2017, 189) und in die Berechnung einbezogen, während an anderer Stelle „sonstige“ Varianten aus der Berechnung ausgenommen werden (vgl. WEISS / SCHWALM 2017). Zu den Problemen der „Variantenreduktion“ in der Phonologie, wie sie natürlich auch in traditionellen Atlasprojekten gelöst werden mussten, vgl. Anm. 28 sowie WERLEN (1984, z. B. 52–62).

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

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WALKDEN 2013). Eine ähnliche Fragestellung scheint auch für Analysen im Rahmen der optimalitätstheoretischen Syntax vorzuliegen, wenn beurteilt werden muss, welche syntaktischen Varianten als Kandidaten für den „Wettbewerb“ anzusehen sind, vgl. z. B. MÜLLER (2000, 11–15), der verschiedene Kriterien für die Einordnung einer Konstruktionsvariante in die Kandidatenmenge bespricht. Die Zusammenstellung der adäquaten Kandidatenmenge etwa durch syntaktische oder semantische Kriterien ist alles andere als trivial und spiegelt die Probleme der Definition syntaktischer Variation in Dialektologie und Soziolinguistik aus einer anderen Perspektive. MÜLLERS Bemerkung (2000, 13–14), dass der Input zur Erzeugung der Kandidaten in der Phonologie, für die OT zunächst hauptsächlich entwickelt wurde, wesentlich einfacher ist, da hier die zugrundeliegenden Repräsentationen herangezogen werden können, entspricht ebenfalls den Verfahren in der Variationslinguistik. Im Unterschied zur OT-Analyse besteht allerdings im dialektsyntaktischen Forschungsprogramm nicht die Notwendigkeit einen optimalen Kandidaten zu bestimmen. Die Präferenz zweier Varianten als solches, also Optionalität (MÜLLER 2000, 189–224), stellt hier kein Problem dar, es ist lediglich die Frage, welche Varianten als gleichwertig angesehen werden. Im Kontext dialektsyntaktischer Forschung ist es daher wichtig, für eine tragfähige Auswertung und insbesondere auch für einen typologischen Vergleich explizit festzulegen, welche Varianten in die Rechnung einbezogen werden bzw. was alles auf eine Variable bezogen wird. Es ist aber jedenfalls klar, dass die gesamte Kategorienausprägung, und nicht nur eine Einzelvariante, im Hinblick auf die Untersuchung von Variation herangezogen werden muss, wie es WEBER (2017, 170–175) hinsichtlich der tun-Periphrase fordert. Wenn eine Varietät allerdings über eine Variante verfügt, die kein klares Funktionsäquivalent in den anderen Varietäten hat, ist genau diese Bestimmung des Variationsspektrums schwierig. Das lässt sich etwa im SADS-Material an den Fragen zum Partitivpronomen (z. B. re GEN.SG.F mit Bezug auf Milch) zeigen, das nur in wenigen konservativen Dialekträumen erscheint, im übrigen aber in einer ganzen Reihe verschiedener Verfahren (Ellipse, Pronominaladverbien, Demonstrativpronomina, Pronomina der geringen Menge etc. vgl. GLASER i. Vorb., III.6) eine gewisse Entsprechung findet. Letztlich ist der Umfang an Varianten, den man in die Variationsdarstellung und Analyse einbezieht, Resultat einer konkreten, an der eigenen Forschungsfrage ausgerichteten Entscheidung. Geht es um die Dokumentation der Existenz einer ganz spezifischen Konstruktion, wird man eventuell bei der Auswertung strikter sein, als wenn es etwa um die Dokumentation verschiedener Relativsatzstrategien geht. Das steht im Einklang mit der Feststellung von CORNIPS / GREGERSEN (2016, 509) in ihrem Rückblick auf die lange Diskussion über syntaktische Variablen: „the data and researchers’ deep linguistic knowledge of the investigated community guide which elements in what contexts can be identified as variants.“

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Elvira Glaser / Philipp Stoeckle / Sandro Bachmann

4

ZUSAMMENFASSUNG

Auf dem Hintergrund eines kurzen Überblicks über die Bedeutung, die sprachliche Variation in der linguistischen Forschungsgeschichte bislang erlangt hat, wurden anhand der Materialien des „Syntaktischen Atlas der deutschen Schweiz“ (SADS) verschiedene Analysen der hier zutage getretenen intrapersonellen Variation vorgestellt. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Voraussetzungen für das Auftreten einer solchen individuellen Variation in unserem Forschungsdesign, das mit gezielten schriftlichen Erhebungen arbeitete, eher ungünstig sind. Insofern bezeugt ein Vorkommen umso deutlicher die Existenz dieses Phänomens. Dabei zeigt sich, dass bei nur ganz wenigen Fragen gar keine intrapersonelle Variation aufgetreten ist, diese ansonsten aber immer, wenn auch nur in einem geringen prozentualen Umfang vorhanden ist. Im Einzelnen wurde dann das Auftreten intrapersoneller Variation bei der Angabe der präferierten Variante bzw. der vorgelegten Übersetzung auf die Rolle verschiedener Faktoren hin untersucht. Grundsätzlich ist die Anzahl solcher Mehrfachpräferenzen wie erwartet bei Ankreuzfragen höher als bei Übersetzungsfragen, bezüglich der Anzahl vorgegebener Varianten ließ sich dann aber bei den Ankreuzfragen kein deutlicher Zusammenhang ermitteln. Ein solcher besteht aber, wenn man die intrapersonelle Mehrfachakzeptanz betrachtet. In der Regel wird eine deutlich höhere Zahl an Varianten akzeptiert als präferiert, wobei die dadurch gebildete „Präferenzrate“ stark variiert. Die anschließende Untersuchung soziodemographischer Faktoren hat ergeben, dass das Geschlecht, aber auch das Alter keinen Einfluss auf das Vorkommen von Mehrfachpräferenzen hat. Ein Alterseffekt ließ sich aber bei der Mehrfachakzeptanz erkennen, insofern Dreiviertel der jüngeren Gewährspersonen deutlich mehr Varianten akzeptierten als ältere Personen. Eine genauere Analyse der restlichen Fälle („Ausnahmen“), die auffälligerweise aus bestimmten grammatischen Bereichen stammen, steht noch aus, wobei insbesondere der innovative oder konservative Charakter der konkurrierenden Varianten geprüft werden müsste. Die Detailanalyse der vergleichsweise häufigen Mehrfachantworten dreier Übersetzungsaufgaben zur Syntax von anfangen, galt der Frage, welche Varianten bevorzugt zusammen gemeinsam angegeben werden. Dabei zeigte sich, dass die beliebtesten Kombinationen jeweils solche sind, bei denen eine Variante zu den sogenannten nicht-intendierten Varianten gehört, d. h. Varianten, die eigentlich nicht der Fragestellung nach einer bestimmten syntaktischen Struktur entsprechen. In Abschnitt 3 wurden dann theoretische und praktische Aspekte des Umgangs mit nicht-intendierten Varianten diskutiert und in den Kontext der Problematik der Bestimmung syntaktischer Varianten überhaupt gestellt. Wir plädieren schließlich für einen pragmatischen, aber transparenten Umgang mit diesen Varianten bei dialektsyntaktischen Auswertungen, da die Festlegung des Umfangs der einbezogenen Varianten Folgen für die Beurteilung der Häufigkeit syntaktischer Variation hat.

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

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Elvira Glaser / Philipp Stoeckle / Sandro Bachmann

Frage

Fragetyp

Brauchbare GP

GP mit Mehrfachpräferenz

Anzahl vorgegebene Varianten

Total akzeptierte Varianten

Total präferierte Varianten

Präferenzrate

ANHANG

I.7

A

3 184

17

3

4 120

3 201

77,7

I.8

A

3 154

10

4

3 688

3 167

85,9

I.9

A

3 058

56

2

3 624

3 114

85,9

I.11

A

3 142

68

8

5 805

3 232

55,7

I.12

A

3 174

9

4

3 613

3 183

88,1

I.13

A

3 143

35

2

NA

NA

NA

I.17

A

3 162

15

5

4 571

3 177

69,5

I.18

A

3 148

6

2

3 290

3 154

95,9

I.19

A

3 162

23

2

3 377

3 185

94,3

I.20

A

3 182

11

3

3 845

3 193

83,0

II.6

A

2 914

14

3

3 207

2 928

91,3

II.7

A

2  913

19

4

4 566

2 969

65,0

II.9

A

2 911

15

6

3 130

2 926

93,5

II.11

A

2 916

13

3

3 184

2 929

92,0

II.12

A

2 904

21

3

3 651

2 927

80,2

II.13

A

2 916

19

3

3 388

2 937

86,7

II.14

A

2 912

27

3

3 667

2 942

80,2

II.17

A

2 915

26

4

3 351

2 934

87,6

II.18

A

2 863

66

4

4 536

2 938

64,8

II.19

A

2 872

15

5

3 673

2 887

78,6

II.20

A

2 919

12

3

3 489

2 932

84,0

II.22

A

2 921

83

2

4 047

3 005

74,3

II.23

A

2 920

97

3

4 206

3 018

71,8

II.28

A

2 879

46

5

5 027

2 953

58,7

39

Anzahl vorgegebene Varianten

Total akzeptierte Varianten

Total präferierte Varianten

Präferenzrate

3 003

83,3

3 224

2 940

91,2

A

2 923

8

4

3 223

2 931

90,9

III.13

A

2 793

2

2

2 839

2 795

98,5

III.16

A

2 784

7

2

2 972

2 791

93,9

III.17

A

2 795

11

2

2 923

2 806

96,0

III.19

A

2 796

16

2

3 054

2 812

92,1

III.20

A

2 802

30

2

3 257

2 832

87,0

III.22

A

2 796

90

3

4 143

2 891

69,8

III.23

A

2 795

57

3

3 542

2 856

80,6

III.25

A

2 795

66

3

3 796

2 864

75,4

III.28

A

2 795

59

3

3 980

2 862

71,9

IV.11

A

2 617

20

2

2 835

2 637

93,0

IV.14

A

2 767

73

7

4 985

2 851

57,2

IV.17

A

2 761

17

2

3 220

2 778

86,3

IV.21

A

2 707

1

3

3 544

2 740

77,3

IV.25

A

2 729

5

3

4 009

2 781

69,4

IV.27

A

2 774

27

4

3 142

2 803

89,2

IV.28

A

2 771

15

4

3 071

2 787

90,8

IV.29

A

2 762

560

1

NA

NA

NA

IV.33

A

2̄ 747

313

1

NA

NA

NA

II.30 II.31

A

2 919

A

II.32

Frage

Brauchbare GP

3 4

3 604

2 923

83 16

Fragetyp

GP mit Mehrfachpräferenz

Intrapersonelle Variation im Material des SADS

Tab. 7: Absolute Zahlen zu Abb. 3

ZUM UNTERSCHIEDLICHEN ARTIKELGEBRAUCH IM SÜDHESSISCHEN – EMPIRIE TRIFFT AUF THEORIE Seyna Maria Dirani 1

EINLEITUNG1

Der vorliegende Beitrag basiert auf DIRANI (in Bearb.) und verfolgt zwei Ziele: Zum einen sollen neue empirische Befunde in Bezug auf die Distribution der definiten Artikelformen in deutschen Dialekten präsentiert werden, die zum anderen Evidenz für eine neue syntaktische Analyse liefern sollen. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Beobachtung, dass viele Dialekte des Deutschen zwei definite Artikelformen aufweisen, die sich sowohl in ihren morpho-syntaktischen Eigenschaften unterscheiden als auch in unterschiedlichen semantisch-pragmatischen Kontexten auftreten. Während sich in der Forschung ein einheitliches Bild bezüglich der Distribution der beiden Definita herausgebildet hat, herrscht noch Unstimmigkeit hinsichtlich der syntaktischen Analyse der beiden Formen. Im Folgenden möchte ich anhand neu erhobener empirischer Daten aus dem Südhessischen für eine differenziertere Untersuchung der DP-Syntax plädieren.2 Dabei werde ich zunächst auf die unterschiedlichen Formen der definiten Artikel im Südhessischen und anschließend auf deren Funktion unter Berücksichtigung des Forschungsstandes eingehen. Die empirischen Ergebnisse sollen zeigen, dass die bisherige funktionale Einteilung der beiden Artikelformen nicht angemessen analysiert wurde. Schließlich sollen die südhessischen Daten Evidenz für den Einfluss von informationsstrukturellen Faktoren auf die morpho-syntaktische Variation liefern, indem gezeigt wird, dass Teile der Informationsstruktur (insbesondere Fokus) sowohl auf Satzebene als auch innerhalb der nominalen Domäne berechnet werden können. Daher plädiere ich für eine Split-DP Analyse in Analogie zur Split-CP Hypothese (nach RIZZI 1997).

1 2

Ich danke den Herausgebern, den Konferenzteilnehmern sowie einem anonymen Gutachter für wertvolle Hinweise. Die dialektalen Daten, die in diesem Aufsatz aufgeführt werden, stammen von zwei Quellen. Zum einen sind sie auf Basis der sprachlichen Kompetenz der Autorin konstruiert, zum anderen entstammen sie der Dialektliteratur sowie einer empirischen Erhebung mittels Fragebögen. Soweit die Belege nicht von der Autorin stammen, ist die entsprechende Quelle beim jeweiligen Beispiel angegeben.

42

Seyna Maria Dirani

2

FORM UND DISTRIBUTION DER DEFINITEN ARTIKEL 2.1

Der Forschungsstand in Kürze

Traditionell wird in der Forschung von der Einteilung in ein Zweiersystem der Definitartikel ausgegangen.3 Demzufolge ist für viele Dialekte des Deutschen sowohl eine volle (DetF) als auch eine reduzierte (DetR) Form des Artikels belegt. Beschreibungen hierzu finden sich beispielsweise für das Bairische (WEISS 1998), das Bairisch-Österreichische (BRUGGER / PRINZHORN 1995; WILTSCHKO 2013), Ripuarische (HIMMELMANN 1997, 2001), Hessische (SCHMITT 2006) sowie für das Friesische (EBERT 1971a) und das Schweizerdeutsche (MEIER 2012, STUDLER 2011). Hinsichtlich des Gebrauchs der beiden Artikelformen stimmen die verschiedenen Dialekte weitestgehend überein. Demnach wird DetF stets anaphorisch oder deiktisch verwendet, wohingegen DetR sich nur auf Referenten beziehen kann, die bereits inhärent identifiziert/unikal sind.4 In ersterem Fall spricht man auch von pragmatischer Definitheit, während letzterer der semantischen Definitheit entspricht (LÖBNER 1985). Diese Differenzierung resultiert aus den verschiedenen Bedingungen, unter denen auf ein Referenzobjekt Bezug genommen werden kann. Während es zum einen Ausdrücke gibt, die Diskursinformationen benötigen, um den Referenten eindeutig zu bestimmen, existieren zum anderen Nomen, die intrinsisch genau auf ein Element referieren. Hierbei kann entweder aufgrund ihrer Semantik allein oder durch Allgemeinwissen ermittelt werden, dass es nur ein Referenzobjekt gibt, auf das der Ausdruck Bezug nehmen kann (vgl. STUDLERS „Rekurs auf Text/Welt vs. Rekurs auf Wissen“). Somit kann in letzterem Fall die Eindeutigkeit der Referenz (uniqueness condition) auf unterschiedliche Weise erfüllt werden. Es werden verschiedene Funktionen der unikalen Verwendungsweise unterschieden, die sich wie folgt charakterisieren lassen: absolut-unik (Eigennamen, Superlative, Idiome), situativ-unik, assoziativanaphorisch (bridging) und generisch (STUDLER 2011).5 Schließlich lassen sich die verschiedenen Funktionen der definiten Determinierer folgendermaßen zusammenfassen: Der reduzierte Artikel tritt in intrinsisch-definiten Kontexten (1–4) auf, während der volle Artikel in anaphorisch- (5) sowie deiktisch-definiten Kontexten (6) auftritt (siehe hierzu auch EBERT 1971; HAWKINS 1978; SCHWARZ 2009). (1)

Die Sonne scheint heute besonders stark.

(2)

Die Braut trägt tatsächlich ein schwarzes Kleid!

3 4 5

Manche Dialekte weisen auch ein dreier-System auf, in dem zusätzlich noch ein demonstrativer Artikel unterschieden wird wie bspw. im Schweizerdeutschen (siehe STUDLER 2011). Für eine detaillierte Ausführung hierzu siehe bspw. STUDLER (2014). In der Literatur weichen die Bezeichnungen marginal voneinander ab. Allerdings handelt es sich immer um die gleichen Gebrauchskontexte (siehe auch HAWKINS 1978).

Zum unterschiedlichen Artikelgebrauch im Südhessischen

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(3)

Heute früh wollte ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Leider war aber die Kette herausgesprungen.

(4)

Der Löwe gilt als König des Dschungels.

(5)

Es gibt eine Bibliothek in der Innenstadt [...] Die Bibliothek wurde erst vor kurzem renoviert.

(6)

Schau mal wie schön das Haus dort drüben ist!

Des Weiteren wurde die Beobachtung gemacht, dass bei Präsenz eines restriktiven Relativsatzes (RRS) das entsprechende Kopfnomen ausschließlich mit dem vollen Artikel eingeleitet werden kann (bspw. bei BRUGGER / PRINZHORN 1995; MEIER 2012; STUDLER 2011; WILTSCHKO 2013; WEISS 1998). Dies ist insofern nicht verwunderlich, da restriktive Relativsätze als kataphorische Information gelten, mithilfe derer der Referent identifiziert werden kann. Dementsprechend stellen sie eine Unterart von phorischem Kontext dar (STUDLER 2011, 44–45). Im Folgenden möchte ich dennoch restriktive Relativsätze gesondert betrachten und nicht unter den anaphorischen Gebrauchskontext subsumieren. In Bezug auf die Artikelwahl in Abhängigkeit von adjektivischer Modifikation liegen dagegen noch kaum Untersuchungen vor.6 Die folgende Tabelle soll die unterschiedliche Distribution der beiden Artikelformen veranschaulichen. DetR

DetF

deiktisch anaphorisch RRS unikal Tab. 1: Distribution von DetR und DetF in deutschen Dialekten7

Während der volle Artikel eine Kontextabhängigkeit aufzuweisen scheint, referiert die reduzierte Form unabhängig von jeglicher Diskursinformation. Zusammenfassend kann demnach festgehalten werden, dass in der Forschung die Diskurskontextabhängigkeit vs. -unabhängigkeit den ausschlaggebenden Faktor für die Artikelwahl bildet.

6

7

STUDLER (2011) und EBERT (1971) gehen auf die Artikelwahl in Korrelation mit Adjektiven ein. Allerdings wird diese eher am Rande und damit nicht hinreichend untersucht. In der Dissertation von BRECKLER (2013) zum Moselfränkischen wird dieses Zusammenspiel ebenfalls thematisiert (ich danke dem anonymen Gutachter für den Hinweis auf die Arbeit). Die Tabelle 1 fasst die Ergebnisse des aktuellen Forschungsstandes zusammen, siehe hierzu beispielsweise STUDLER (2011), WILTSCHKO (2013) u. WEISS (1998).

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2.2

Die Situation im Südhessischen – eine empirische Untersuchung

Auch im Südhessischen existieren verschiedene morphologische Reihen für die Definitartikel. Die beiden Paradigmen lauten wie folgt: DetR Sing. Nom Akk Dat

Mask de de em, m

Fem di di de

Neutr es, s es, s em, m

Pl. (alle) di di de

Tab. 2: Paradigma des reduzierten definiten Artikels im Südhessischen

DetRSing. Nom Akk Dat

Mask der den dem

Fem di di dere

Neutr des des dem

Pl. (alle) di di dene

Tab. 3: Paradigma des vollen definiten Artikels im Südhessischen

Während sich die Formen im Femininum nur im Dativ Sg. und Pl. unterscheiden, weisen die anderen Genera eine deutliche Differenzierung auf. Im Neutrum in allen Kasus und im Dativ Maskulinum existieren neben den reduzierten Formen sogar klitische Ausprägungen, die besonders in Präposition-Artikel-Verschmelzungen oder adjazent zu finiten Verben in Zweitstellung und Konjunktionen auftreten.8 Eine weitere Auffälligkeit ergibt sich aus der Beobachtung, dass einige reduzierte Formen den dentalen Anlaut beibehalten haben und darüber hinaus die sogenannte Flexionsendung gar nicht realisieren (siehe bspw. im Femininum und Nom./Akk. Maskulinum). Des Weiteren weisen die reduzierten Formen meist einen abgeschwächten Vokal, nämlich einen Schwa-Laut, auf.9 Um Evidenz für die Distribution von DetF und DetR im Südhessischen zu erlangen, wurden empirische Daten erhoben. Dafür wurde zum einen ein eigens zusammengestelltes Textkorpus ausgewertet, zum anderen eine Pilotstudie in Form einer indirekten Erhebung durchgeführt. Im Folgenden werde ich zuerst auf die Ergebnisse der Korpusanalyse eingehen, bevor ich mich in einem zweiten Schritt den Fragebogen zuwende. 8

9

Die klitischen Formen können immer dann verwendet werden, wenn ein geeigneter Klitikhost zur Verfügung steht. Damit sind sie eher den phonologischen als syntaktischen Klitika zuzurechnen. Für detailliertere Informationen zu dieser Unterscheidung siehe WEISS (2015 u. 2016). Zudem werden in DIRANI / WEISS (2019) Artikel und Pronomen dahingehend verglichen, wie die Pragmatik die Distribution der oben genannten verschiedenen Formen steuert. Diese Tatsache ist in Bezug auf die häufig vorgeschlagene morpho-syntaktische Dekomposition der Artikelformen interessant, da das tatsächliche reduzierte Artikelparadigma letztendlich nicht dem erwarteten Paradigma der Zerlegungsanalyse entspricht. Bereits WILTSCHKO (2013) macht auf dieses Problem für das Bairisch-Österreichische aufmerksam.

Zum unterschiedlichen Artikelgebrauch im Südhessischen

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Bei dem Korpus handelt es sich um zwölf kurze Prosatexte, die von vier unterschiedlichen Autoren in den Jahren zwischen 1930 und 1980 in südhessischer Mundart verfasst wurden. Der Entstehungszeit zufolge kann man bei allen Schriftstücken von einer Realisierung des Basisdialekts ausgehen.10 Insgesamt wurden 317 Belege für definite Nominalphrasen innerhalb der genannten Texte gefunden. Diese wurden im Hinblick auf die oben aufgeführten Kriterien zur Distribution der beiden Artikelformen analysiert, d. h., auf pragmatische vs. semantische Definitheit überprüft. Zusätzlich wurden nominale Ausdrücke, die durch Relativsätze und Adjektive modifiziert werden, mitberücksichtigt. Hierbei wurde zwischen restriktiver und nicht-restriktiver Modifikation unterschieden.11 Folgende Tabelle fasst die Ergebnisse der Korpusstudie zusammen.

DetR

DetF

deiktisch anaphorisch (Identitätsanaphora, Hyponym-Hyperonym) Restriktiver RS (RRS) unikal (inklusive Subfunktionen) Restriktives Adjektiv (RAdj) Tab. 4: Distribution von DetR und DetF im Südhessischen (Korpusanalyse)

Auf den ersten Blick zu erkennen ist die komplementäre Distribution der beiden Definita. Die Tabelle 4 macht allerdings auch deutlich, dass die verschiedenen Funktionen differenzierter zu betrachten sind, als bisher in der Forschung angenommen. In Bezug auf die anaphorischen Kontexte hat sich eine signifikante Unterteilung ergeben: „Identitätsanaphora“ vs. „Hyponym-Hyperonym“ (vgl. dagegen Tabelle 1). Beginnend mit den Gemeinsamkeiten von Korpusdaten und Forschungshypothese lässt sich feststellen, dass sowohl in deiktischen Kontexten (7) als auch am Kopfnomen von restriktiven Relativsätzen (8) obligatorisch der volle Artikel im Südhessischen auftritt.

10 Alle Autoren stammen ursprünglich aus den Regionen Bergstraße und Odenwald (Erbach), die zum südhessischen Sprachraum gehören. Bei den Verfassern handelt es sich um Persönlichkeiten wie JOSEPH STOLL, MINA KATZENMEIER, ERIKA PÖSCHL und FRIEDRICH SAUERWEIN, die unter anderem durch ihre Heimatverbundenheit und Mundartdichtung in ihrer Region bekannt geworden sind. 11 Bezüglich der Definition von Restriktivität folge ich FABRICIUS-HANSEN (2009).

46 (7)

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Es beschde is, mer hocke uns unner den Baam do! ‘Das Beste ist, wir setzen uns unter den (DetF) Baum da!’ (STOLL 1989, 71)

(8)

Un sie hot sich doch e bisje scheniert wäije dem Doischenaonne, wou s beim Krobbesuche fabriziert hot. ‘Und sie hat sich doch ein bisschen geniert, wegen dem (DetF) Durcheinander, das sie beim Kochtopf-Suchen fabriziert hat.’ (PÖSCHL 1985, 12)

Unikale Ausdrücke hingegen werden auch im Südhessischen stets mit DetR eingeleitet. Dies gilt für alle oben genannten Gebrauchskontexte, die als sog. Subfunktionen analysiert werden können. Lediglich für die assoziativ-anaphorische Verwendungsweise von DetR konnten im Korpus keine Belege gefunden werden. Nachstehende Beispiele stehen für die absolut-unike (9), situativ-unike (10) und generische (11) Verwendungsweise. (9)

De Deiwel sollse holle! ‘Der (DetR) Teufel soll sie holen.’ (STOLL 1989, 66)

(10)

Wie de Klaa beikumme woar, horrer noch laurer oufange ze plärrn. ‘Als der (DetR) Kleine herbei gekommen war, hat er noch lauter angefangen zu schreien.’ (STOLL 1989, 69)

(11)

[...] daße ubedingt es Raache ausbrowieren mißde. ‘[...] dass sie unbedingt das (DetR) Rauchen ausprobieren müssten.’ (PÖSCHL 1987, 44)

Die Artikelwahl bei Nomina, die durch ein Adjektiv modifiziert werden, wurde bislang nur marginal untersucht, weswegen die empirische Datenlage hierzu noch recht spärlich ausfällt.12 Die südhessischen Daten zeigen diesbezüglich ein klares Bild. Demzufolge wird unabhängig von der Funktion des Adjektivs immer der reduzierte Artikel gebraucht. Im Gegensatz zum RRS fordert ein RAdj eben nicht die volle Artikelform, sondern tritt durchwegs mit DetR auf (12–13). Die südhessischen Daten scheinen Evidenz dafür zu liefern, dass Adjektive keinen Einfluss auf die Artikelwahl haben. Lediglich die jeweilige Funktion, die die definite Nominalphrase erfüllt, scheint ausschlaggebend für die Wahl zwischen DetF und DetR zu sein. Dafür sprechen definite NPs wie in (14–15), die jeweils ein nicht-restriktives Adjektiv in unterschiedlichen kontextuellen Bedin12 Neben wie bereits erwähnt STUDLER (2011) und EBERT (1971a) hat auch WILTSCHKO (2013) die adjektivische Modifikation in ihre Analyse einbezogen, allerdings erbringt sie dafür m. W. nach keinerlei empirische Evidenz aus dem Bairisch-Österreichischen.

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gungen aufweisen und dennoch zwischen DetR und DetF alternieren. In (14) liegt ein unikaler Ausdruck in Form eines Eigennamens vor, der zwar durch ein Adjektiv modifiziert, allerdings in seiner Denotation nicht weiter eingeschränkt wird.13 Der Eigenname wird wie erwartet mit DetR eingeleitet (absolutes Unikum). (12)

Groad in de letzte Zeit hot mer uff aomol däs „Aolde“ wirrer entdeckt. Aolde Ouweplatte [...] So is es aa mit de geistische Dinger. ‘Gerade in der letzten Zeit hat man auf einmal das „Alte“ wieder entdeckt. Alte Ofenplatten [...] So ist es auch mit den (DetR) geistigen Dingen.’ (SAUERWEIN 1985, 8)

(13)

Bei dem Palmsunndaogsspaziergaong lerne die Kinne noch es rischdische Mooscht ze finne, fern Nääschtbau. ‘Bei dem Palmsonntagsspaziergang lernen die Kinder noch das (DetR) richtige Moos für den Nestbau zu finden.’ (PÖSCHL 1987, 34)

(14)

Nadierlich worn die Buwe noud oig mudisch, wall de bäise Feldschitz erscht emol auße Gfäscht gsetzt wor. ‘Natürlich waren die Buben jetzt sehr mutig, weil der (DetR) böse Feldschitz erst einmal außer Gefecht gesetzt war.’ (PÖSCHL 1987, 42)

Das Beispiel in (15) hingegen zeigt einen typischen Fall von anaphorischem Kontext, in dem die resumptive DP (dem großen Sturm) mit DetF eingeleitet werden muss. Das Adjektiv tritt hier ebenfalls in nicht-restriktiver Funktion auf, da es für die Etablierung der Referenz keine Rolle spielt. Allein die anaphorische Resolution trägt zur Referenzidentifikation bei. (15)

Awer en Windstouß horreren aus de Hand geresse un wie e Wageroad isser zwische de Beem de Roah enunnergeweljert. Ich wolldem noach springe, awer vun dem grouße Storm is mer die Luft ausgange. ‘Aber ein Windstoß hat ihn ihr aus der Hand gerissen und wie ein Wagenrad ist er zwischen den Bäumen heruntergerollt. Ich wollte ihm nachspringen, aber von dem (DetF) großen Sturm ist mir die Luft weggeblieben.’ (STOLL 1989, 72)

Als Resultat kann festgehalten werden, dass sich im Südhessischen Adjektive und Relativsätze unterschiedlich auf die Artikelwahl auswirken. Auch in identischer Funktion, nämlich wenn beide restriktiv sind, fordern sie unterschiedliche definite Artikelformen.14 13 Hierbei handelt es sich um eine konzeptuelle Nicht-Restriktivität. Zu den unterschiedlichen Arten der pränominalen Nicht-Restriktivität siehe FABRICIUS-HANSEN (2009). 14 STUDLER (2011) beobachtet für das Schweizerdeutsche dieselbe Verteilung.

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Als nächstes geht es abschließend noch um die zwei Arten von anaphorischen Kontexten, die in der Tabelle 4 als „Identitätsanaphora“ und „Hyponym-Hyperonym“ bezeichnet werden. In der Forschung wird als anaphorischer Kontext ausschließlich der Fall von „Identitätsanaphora“ unter (5) verstanden. Hierbei wird das Antezedens im Folgesatz mittels einer identischen NP wieder aufgegriffen, die durch DetF eingeleitet ist. Im Südhessischen finden sich durchaus solche Beispiele, die ebenfalls den vollen Artikel fordern und demnach unter die Funktion „Identitätsanaphora“ einzuordnen sind (siehe bereits Bsp. 15 und folgendes in 16). (16)

Die kennte doch sou en Robodde hiestelle, der wou ner es Maul uffzemache breischt, waonn me e Plastikkärtche noischiewe will [...] Un der Robodde, der kennt daonn uff dem Kärtche e bisje rimkaue, un do breischt der daonn ner noch die Rezepte hinneraus ze schiewe. ‘Die könnten doch so einen Roboter hinstellen, der nur das Maul aufzumachen bräuchte, wenn man eine Plastikkarte reinschieben will [...] Und der (DetF) Roboter, der könnte dann auf dem (DetF) Kärtchen ein bisschen rum kauen, und dann bräuchte der nur noch die Rezepte hinten raus zu schieben.’ (PÖSCHL 1985, 72–73)

Die Untersuchung des Textkorpus hat allerdings auch ergeben, dass man zwischen unterschiedlichen Arten von anaphorischen Kontexten unterscheiden muss. Demzufolge ist ein differenzierterer Blick auf die einzelnen Beispiele vonnöten, um das genaue Verhältnis zwischen Antezedens und resumptiver NP analysieren zu können. Eine weitere anaphorische Funktion, die DetF fordert, bildet folgendes Beispiel in (17). (17)

De Rasiere wolld Hochzeed mache. Fer den Ouloß horre sich beim Schneire en neije Ouzug oumesse losse. ‘Der Barbier wollte Hochzeit machen. Für den (DetF) Anlass hat er sich beim Schneider einen neuen Anzug machen lassen.’ (PÖSCHL 1985, 38)

In (17) bildet die resumptive NP Anlass, anders als im Falle der Identitätsanaphora, das Hyperonym zum Antezedens Hochzeit. Damit liegt hier eine ganz bestimmte Teil-Ganzes Relation vor, in der das Antezedens stets einen Unterbegriff der nachfolgenden DP darstellt. Ähnlich wie in (17) zeigt auch (18) die genannte Bedeutungsbeziehung auf. Während der erste Abschnitt ein Split-Antezedens enthält, nämlich Weschnitz und Rodau, wird im Folgesatz mit dem Oberbegriff Flüsschen darauf Bezug genommen. Sowohl in (17) als auch in (18) liegen demzufolge anaphorische Kontexte vor, in denen die resumptive NP stets ein Hyperonym zum Antezedens bildet und mit dem vollen Artikel eingeleitet werden muss. Die vorgenommene Differenzierung ist insofern interessant, da in den sogenannten assoziativ-anaphorischen Kontexten (bridging), eine umgekehrte Teil-Ganzes-Beziehung vorliegt,

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für die in vielen Dialekten des Deutschen der reduzierte Artikel am Resumptivum belegt ist (siehe Bsp. 3). Aus diesem Grund wurde in der indirekten Erhebung zum Südhessischen letztere Funktion mitabgefragt. (18)

Die Weschnitz is do a schun erwähnt, mit dem Nome „Wisgoz“, un die Rodau is do „Rohaha“ gschrewwe worn [...] Keltische Siedler solle denne Flissjien sällemols die Nomen gäwwe hou. ‘Die Weschnitz ist da schon mit dem Namen „Wisgoz“ erwähnt und die Rodau wurde „Rohaha“ geschrieben [...] Keltische Siedler sollen den (DetF) Flüsschen damals die Namen gegeben haben.’ (PÖSCHL 1985, 59–60)

Bei der genannten Pilotstudie wurde die Methode der indirekten Befragung angewendet. Hierzu wurden Fragebogen an zehn Gewährspersonen aus dem südhessischen Sprachraum verschickt. Die Konzeption und Durchführung der Erhebung erfolgte in Anlehnung an das SyHD-Projekt.15 Neben den bereits bekannten Funktionen aus Forschung und Korpusstudie wurden zusätzlich die folgenden Bedingungen zur Distribution von DetR und DetF abgefragt: assoziativ-anaphorische Verwendung, Kontrasttopik, Kontrastfokus.16 Bezieht man nun die Ergebnisse der Fragebogen in die vorliegende Untersuchung mit ein, so ergibt sich ein noch differenzierteres Bild bezüglich der Distribution von DetF und DetR im Südhessischen.17 Die komplementäre Distribution von DetR und DetF bleibt laut der Daten weiterhin bestehen. Außerdem zeigt sich, dass die Differenzierung der anaphorischen Gebrauchskontexte durchaus sinnvoll ist, da sie einen unterschiedlichen Artikelgebrauch aufweisen. Je nachdem, welche Teil-Ganzes-Beziehung vorliegt, wird entweder der volle oder der kurze Artikel gebraucht. In (17) und (18) liegt ersterer Fall vor, in dem jeweils die resumptive NP das „Hyperonym“ bzw. die „Summe“ des Antezedens bildet. Folgende Beispiele in (19–20) stellen den umgekehrten Fall dar.

15 SyHD („Syntax hessischer Dialekte“) ist ein von der DFG von 2010–2016 gefördertes, gemeinschaftliches Projekt der Universitäten Frankfurt, Marburg und Wien, das sich der Analyse und Dokumentation von syntaktischen Phänomenen hessischer Dialekte widmete (vgl. ). 16 Besonders Phänomene wie Kontrasttopik und -fokus wurden bislang für die Analyse der Definitartikel entweder gänzlich vernachlässigt oder nur am Rande erwähnt, da sie zu unerwarteten Ergebnissen führen. 17 Tabelle 5 fasst die Ergebnisse der gesamten empirischen Erhebung für das Südhessische zusammen auf Basis sowohl der Korpusanalyse als auch der Fragebogen. Die Tabelle berücksichtigt lediglich die Varianten, die am häufigsten im Korpus sowie im Fragebogen vorkommen. Natürlich existiert auch Variation zwischen den Informanten, allerdings konnte in jedem Kontext eine klare Präferenz für nur eine Option festgestellt werden. Eine detaillierte Beschreibung der Ergebnisse samt statistischer Auswertung findet sich in DIRANI (in Bearb.).

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DetR

DetF

deiktisch anaphorisch 1 (Identitätsanaphora, Hyperonym/Summe) Restriktiver RS (RRS) unikal (inklusive Subfunktionen) anaphorisch 2 (Hyponym/Subsektion) Restriktives Adjektiv (RAdj) Kontrastfokus Kontrasttopik Tab. 5: Distribution von DetR und DetF im Südhessischen (Fragebogen)

(19)

Moi neije Noachbern sinn wohl goanz nett. De Moann schafft bei de Polizei! ‘Meine neuen Nachbarn sind wohl ganz nett. Der (DetR) Mann arbeitet bei der Polizei.’ (Frage 21)

(20)

Isch woar letschde Samstag erscht im Seegmüller und hoab mir en poar fesche Möbel gekaaft. Die sehe rischdisch stoark aus. Es Regoal hoat bunde Dubbe iwweroal. ‘Ich war letzten Samstag erst im Segmüller und habe mir ein paar tolle Möbel gekauft. Die sehen richtig gut aus. Das (DetR) Regal hat lauter bunte Punkte.’

Während man in (20) durchaus von der Bedeutungsbeziehung „HyperonymHyponym“ sprechen kann, ist die Bezeichnung „Subsektion“ für Fälle wie in (19) treffender.18 Entscheidend ist jedoch, dass in beiden Beispielen das jeweilige Resumptivum (Mann und Regal) eine Teilmenge des Antezedenten bildet und mit DetR eingeleitet wird. Für anaphorische Kontexte muss deswegen die Relation zwischen Antezedens und resumptiver NP berücksichtigt werden, da diese Einfluss auf die Artikelwahl zu haben scheint.

18 MEIER (2012) unterscheidet bereits zwischen Summe vs. Subsektion in Bezug auf die unterschiedliche Artikelwahl im Schweizerdeutschen.

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Im Fragebogen wurden schließlich auch Kontexte erfragt, in denen ein Kontrastfokus in Form einer Korrektur (21) und kontrastive Topiks in einer parallelen Struktur (22) vorliegen. Die Ergebnisse zeigen, dass in beiden Fällen die kontrastierten definiten NPs obligatorisch mit DetR eingeleitet werden. (21)

A: Woas? Du willschd doi Oaldtaamer vekaafe? B: No, im Lääwe net! Isch moan doch es Kabrio! A: ‘Was? Du willst deinen Oldtimer verkaufen?’ B: ‘Nein, im Leben nicht! Ich mein doch das (DetR) Cabriolet!’ (Frage 17)

(22)

Letschd Woch hoab isch mer en Meerschwoansche un en Kannikel gekaaft. Es Meerschwoansche is gonz scheij fresch, soach isch der, awwer dodefär is es Kannikel bsonners broav! ‘Letzte Woche habe ich mir ein Meerschweinchen und ein Kaninchen gekauft. Das (DetR) Meerschweinchen ist ganz schön frech, sag ich dir, aber dafür ist das (DetR) Kaninchen besonders brav.’ (Frage 9)

Insbesondere Beispiele mit Kontrasttopiks stellen sich als problematisch für die Forschungsannahme heraus, der zufolge in anaphorischen Kontexten stets die volle Artikelform erscheint.19 Die empirische Untersuchung lässt den Schluss zu, dass, entgegen der Forschungshypothese, die Diskurskontextabhängigkeit vs. -unabhängigkeit nicht der ausschlaggebende Faktor für die unterschiedliche Verteilung der definiten Artikel im Südhessischen sein kann. Im anschließenden Kapitel wird daher ein empirisch basierter Analysevorschlag gemacht, der die Artikelwahl in Bezug auf die verschiedenen Funktionen (siehe Tabelle 5) erklären soll. 2.3

Warum Fokus auch innerhalb der DP existiert – Evidenz für eine Split-DP Analyse

Aus den oben genannten Beobachtungen zur Distribution der beiden Definita im Südhessischen lassen sich nun die folgenden Generalisierungen ableiten: Ausschließlich die volle Artikelform evoziert ein Set an alternativen Referenten „innerhalb der DP“. Während bei Gebrauch von DetF eine Menge an potentiellen Referenten innerhalb der nominalen Domäne verfügbar ist, trifft dies bei Verwendung von DetR nicht zu. Dementsprechend wird im letzteren Fall der Referent stets als unikal interpretiert. DetF hingegen zeigt an, dass der Referent noch nicht identifiziert ist und sich die relevante Information im umliegenden Kontext befindet. Weiterhin indiziert DetF, dass mithilfe dieser Information eine Entität aus der 19 Auf dieses Problem weisen bereits WILTSCHKO (2013) und STUDLER (2011) hin, lassen es allerdings für weitere Untersuchungen offen.

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Seyna Maria Dirani

Menge an Alternativen herausgenommen wird. Diesen Unterschied führe ich auf unterschiedlich komplexe syntaktische Strukturen der beiden Artikelformen zurück. Die Annahme ist, dass ausschließlich DetF eine zwischengeschaltete Projektion oberhalb von NP selegiert. Bei dieser Projektion handelt es sich um eine Fokus-Phrase (FocP), die das Set an möglichen Referenten innerhalb der DP indiziert.20 Den Begriff Fokus definiere ich in Anlehnung an die Alternativensemantik nach ROOTH (1992) und KRIFKA (2008), denen zufolge die Kategorie „Fokus“ die Präsenz von Alternativen, die für die Interpretation des linguistischen Ausdrucks relevant sind, markiert. Somit plädiere ich für die folgenden Strukturen der beiden definiten Artikelformen, die auf unterschiedliche Merkmals-Spezifikationen zurückzuführen sind.21 (23)

DetR: [DP [NP]] DetF: [DP [FocP [DemP [NP]]]]

Die dialektalen Daten stützen durchaus die vorgeschlagene Hypothese. Schaut man sich erneut die Funktionen an, in denen DetF auftritt, so wird deutlich, dass hier jeweils ein Set an alternativen Referenten innerhalb der nominalen Domäne vorliegt. Bei der „Situationsdeixis“ wird erst aufgrund der deiktischen Geste eine Entität aus der Menge an Alternativen herausgenommen und damit die Unikalität des Referenten gewährleistet (siehe Bsp. 7). Da deiktische Kontexte die Präsenz von alternativen Referenten innerhalb der DP implizieren, wird der volle Artikel gebraucht. Das Kopfnomen von „restriktiven Relativsätzen“ wird ebenfalls stets mit DetF eingeleitet, da die zusätzliche Information des Relativsatzes nötig ist, um den Referenten eindeutig identifizieren zu können (siehe Bsp. 8). Die hierbei implizierten alternativen Referenten bilden ein charakteristisches Merkmal von RRSen (BACH 1974). CABREDO-HOFHERR (2013, 16) formuliert treffend die Funktion von DetF im Zusammenhang mit RRSen:22 20 Siehe hierzu die Variable C bei WILTSCHKO (2013), die ausschließlich von DetF selegiert wird und neben anderen textuellen Funktionen auch Alternativensets repräsentiert. Allerdings werden diese Funktionen allesamt unter den Faktor der Diskurskontextabhängigkeit subsumiert, der letztlich für das Auftreten der vollen Artikelform verantwortlich gemacht wird. 21 Neben den Merkmalen [+def, +phi] besitzen DetF sowie das Demonstrativum zusätzliche Merkmalskomponenten. Die genaue Merkmalskomposition und die damit einhergehenden syntaktischen Derivationen werden in vorliegendem Aufsatz nicht behandelt. Dies soll im Rahmen des derzeitigen Dissertationsprojekts ausführlich analysiert werden (siehe DIRANI in Bearb.) 22 Im Gegensatz zu CABREDO-HOFHERR unterscheide ich nicht zwischen verschiedenen Formen von restriktiven Relativsätzen, sondern folge BACHS Definition (1974), in der ein RRS die Existenz von Entitäten präsupponiert, auf die die Beschreibung innerhalb des RSes nicht zutrifft. In der Forschung wird zudem für weitere Arten von Relativsätzen neben appositiven und restriktiven argumentiert, um die unterschiedliche Artikelwahl am Kopfnomen erklären zu können. Dabei wird die Artikelwahl stets auf die Diskurskontextabhängigkeit/-unabhängigkeit zurückgeführt. Ausschlaggebend ist letztendlich, dass sich die Forschung bei aller Vielfalt an Relativsatztypen in einem Punkt einig ist: Sobald der RS alternative Entitäten in-

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In the Vorarlberg dialect the choice between a reduced and a full definite article on the head noun is clearly correlated with a contrastive reading of the RC […] when the full article is used, the referent described by the DP+RC is contrasted with another potential referent of the DP.

Man würde vermuten, dass auch adjektivische Modifikatoren in restriktiver Funktion potentielle Referenten implizieren und damit den vollen Artikel fordern. Die empirischen Daten belegen allerdings das Gegenteil. Nomina, die durch ein RAdj modifiziert werden, weisen den reduzierten Artikel auf. STUDLER (2011) beobachtet im Schweizerdeutschen die gleiche Artikelverteilung und führt den Unterschied zwischen RRSen und RAdjen auf die Fügungsenge zurück. Demzufolge wird bei engen Fügungen die reduzierte Artikelform gebraucht, auch wenn es sich um einen restriktiven Modifikator handelt. Das Adjektiv wird zusammen mit dem Nomen als ein unikaler Ausdruck interpretiert, weshalb er schließlich mit DetR eingeleitet wird (STUDLER 2011, 110). Da es sich in beiden Fällen um dieselbe semantische Funktion handelt, plädiere ich dafür, dass der Unterschied zwischen den beiden Modifikatoren syntaktisch begründet sein muss und in der Einbettungstiefe zu verorten ist. Auf eine ausführliche Analyse dieses Problems kann in der vorliegenden Arbeit aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Der unterschiedliche Artikelgebrauch in den verschiedenen anaphorischen Kontexten lässt sich auf die jeweils vorliegenden Bedeutungsbeziehungen zurückführen. In den Fällen, in denen die resumptive NP das „Hyperonym“ des Antezedenten bildet, tritt der volle Artikel am Nomen auf (Bsp. 17 hier wiederholt als 24). (24)

De Rasiere wolld Hochzeed mache. Fer den Ouloß horre sich beim Schneire en neije Ouzug oumesse losse. ‘Der Barbier wollte Hochzeit machen. Für den (DetF) Anlass hat er sich beim Schneider einen neuen Anzug machen lassen.’ (PÖSCHL 1985, 38)

(25)

Isch woar letschde Samstag erscht im Seegmüller und hoab mir en poar fesche Möbel gekaaft. Die sehe rischdisch stoark aus. Es Regoal hoat bunde Dubbe iwweroal. ‘Ich war letzten Samstag erst im Segmüller und habe mir ein paar tolle Möbel gekauft. Die sehen richtig gut aus. Das (DetR) Regal hat lauter bunte Punkte.’

Das Hyperonym Anlass beinhaltet ein Set an Alternativen („Kohyponyme“), weshalb es durch DetF eingeleitet wird. Erst durch den anaphorischen Bezug zum Antezedenten kann die korrekte Referenz von DetF sichergestellt werden. Im umgekehrten Fall wie in (20), wiederholt als (25), wird DetR am Resumptivum gebraucht. Als Hyponym stellt es keine potentiellen Referenten aus dem Alternatidiziert, erscheint DetF obligatorisch am Kopfnomen. Dieser Fakt stützt meine These, dass ausschließlich DetF alternative Referenten innerhalb der DP evoziert.

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ven-Set von Regal zur Verfügung, sondern gilt als bereits identifiziert, weshalb der reduzierte Artikel obligatorisch ist. Folgendes Kontrastpaar aus dem Friesischen liefert zusätzliche Evidenz für den unterschiedlichen Artikelgebrauch in Bezug auf die Verfügbarkeit von Alternativen. (26)

a.

b.

Me a tjiisken haa wi nimer föl uun san hed. A tjiisken san för üs imer freemen weesen. ‘Mit den Deutschen haben wir nie viel im Sinn gehabt. Die (DetR) Deutschen sind für uns immer Fremde gewesen.’ Me a tjiisken haa wi nimer föl uun san hed. Dön/*a mensken san för üs imer freemen weesen. ‘Mit den Deutschen haben wir nie viel im Sinn gehabt. Diese (DetF) Menschen sind für uns immer Fremde gewesen.’ (EBERT 1971a, 109–110)

Während in (26a) der reduzierte Artikel a wie erwartet in der generischen Verwendung gebraucht wird, tritt in (26b) obligatorisch die volle Form dön auf, sobald der generische Ausdruck durch ein „Hyperonym“ zum vorausgehenden Antezedens ersetzt wird. Auch MEIER (2012) zeigt für das Schweizerdeutsche, dass die jeweilige Teil-Ganzes-Beziehung im anaphorischen Gebrauchskontext die Artikelwahl bestimmt. Anstelle der „Hyponym-Hyperonym“-Relation spricht MEIER allerdings von „Summe vs. Subsektion“. (27)

a. b.

S Heidi hat de Peter am baanhoof troffe. Das päärli isch uf Acapulco. ‘Heidi hat den Peter am Bahnhof getroffen. Das (DetF) Paar ist auf Acapulco.’ S Heidi und de Peter sind i tschtadt gfahre. S maitli isch nervös gsi. ‘Heidi und Peter sind in die Stadt gefahren. Das (DetR) Mädchen war nervös.’ (MEIER 2012, 2–4)

Die beiden Eigennamen in (27a), eingeleitet durch DetR, bilden die konstitutiven Teile des Ausdrucks Paar, der schließlich als „Summe“ alternative Referenten zur Verfügung stellt. Dementsprechend muss er mit DetF eingeleitet werden. Im Kontrast dazu formt in (27b) die resumptive NP Mädchen eine Untermenge des SplitAntezedens. Als Teilmenge („Subsektion“) in der vorliegenden anaphorischen Relation wird der Referent als inhärent unikal interpretiert und fordert damit den reduzierten Artikel. Somit stützen die zusätzlichen dialektalen Daten aus dem Friesischen und Schweizerdeutschen meine Hypothese, dass ausschließlich DetF ein Set an möglichen Referenten innerhalb der nominalen Domäne evoziert. Betrachtet man nun den Fall der „Identitätsanaphora“ (28a), stellt sich zunächst die Frage, inwiefern die resumptive NP ein Set an alternativen Referenten indiziert. Im Gegensatz zu den eben aufgeführten Kontexten liegt hier keinerlei Teil-Ganzes-Beziehung vor, die das potentielle Alternativen-Set impliziert.

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Als Lösungsvorschlag plädiere ich für die Annahme eines koverten RRS. Demzufolge weisen solche Konstruktionen wie in (28b) einen elidierten RRS auf, der die im vorherigen Satz ausgedrückten Informationen über das Antezedens enthält. Folglich kann die korrekte Referenz von DetF sichergestellt werden. (28)

a.

b.

Isch hoab mer geschdern wirrer e Buch ausde Bischerei ausgelieje. Des Buch woar sou spoannend, isch hoab’s schunn faschd doisch gelese. ‘Ich habe mir gestern wieder ein Buch aus der Bücherei ausgeliehen. Das (DetF) Buch war so spannend, dass ich es schon fast durch gelesen habe.’ (Frage 28) Isch hoab mer geschdern wirrer e Buch ausde Bischerei ausgelieje. Des Buch woar sou spoannend (woas isch mer geschdern ausde Bischerei ausgelieje hoab), isch hoab’s schunn faschd doisch gelese. ‘Ich habe mir gestern wieder ein Buch aus der Bücherei ausgeliehen. Das (DetF) Buch (das ich mir gestern aus der Bücherei ausgeliehen habe) war so spannend, dass ich es schon fast durch gelesen habe.’

Die Idee der Einführung eines RRSes zur Identifizierungshilfe des Referenten findet sich bereits bei EBERT (1971a). (29)

Broor kaam me a tsuch. Di tsuch wiar am a klook njüügen uun Hamboreg. ‘Brar kam mit dem Zug. Der (DetF) Zug war um neun Uhr in Hamburg.’ (EBERT 1971a, 112)

Ähnlich wie in (28) muss auch im Friesischen im Falle der „Identitätsanaphora“ die wiederaufnehmende NP (Zug) mit dem vollen Artikel realisiert werden. EBERT (1971a, 112) erklärt hierzu: Im ersten Satz […] ist „Zug“ nicht spezifisch, da die Art des Verkehrsmittels, nicht aber ein bestimmtes Exemplar eines Zuges gemeint ist. Gleichzeitig aber wird „Zug“ durch den sprachlichen Kontext spezifiziert als „der Zug, mit dem Brar kam“. Die Möglichkeit der Einführung eines solchen identifizierenden Relativsatzes bildet ein brauchbares Kriterium für die Setzung des D-Artikels [= DetF].

Da RRSe schließlich die Existenz von alternativen Referenten innerhalb der DP implizieren, wird das entsprechende Kopfnomen obligatorisch mit DetF eingeleitet. Als besonders interessant gelten Kontexte, die ein Kontrastfokus oder -topik enthalten. Sie zeigen zum einen, dass Anaphorizität und damit der Faktor der Diskurskontextabhängigkeit kein ausreichendes Kriterium bildet, um für das Auftreten des vollen Artikels zu argumentieren. Zum anderen liefern die genannten Phänomene Evidenz dafür, dass informationsstrukturelle Faktoren nicht nur auf der Satzebene, sondern ebenso innerhalb der nominalen Domäne berechnet werden

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können. Beispiele wie in (30), zuvor als (22), haben in der Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit erhalten, was möglicherweise an der unerwarteten Artikelwahl liegt. (30)

Letschd Woch hoab isch mer en Meerschwoansche un en Kannikel gekaaft. Es Meerschwoansche is gonz scheij fresch, soach isch der, awwer dodefär is es Kannikel bsonners broav. ‘Letzte Woche habe ich mir ein Meerschweinchen und ein Kaninchen gekauft. Das (DetR) Meerschweinchen ist ganz schön frech, sag ich dir, aber dafür ist das (DetR) Kaninchen besonders brav.’ (Frage 9)

Im vorliegenden Beispiel liegt eine parallele Struktur mit zwei Kontrastpaaren vor. Zwei alternative Entitäten, Meerschweinchen und Kaninchen, die sich zudem in ihrer Prädikation unterscheiden, werden auf der Satzebene miteinander kontrastiert, was einen typischen Fall von „Kontrasttopik“ darstellt (REPP 2010). Beide definite NPs werden hier obligatorisch mit DetR eingeleitet. Da es sich allerdings hierbei um eine anaphorische Relation handelt, müsste laut Forschungshypothese DetF auftreten (siehe Tab. 1). Auf dieses Problem macht WILTSCHKO (2013) mit folgendem Beispiel aus dem Bairisch-Österreichischen aufmerksam. (31)

In der Bücherei gibt es ein Buch über Kanada. Ich war kürzlich dort und habe es mir ausgeliehen. Auf meinem Heimweg habe ich noch kurz gestoppt, um die New York Times zu kaufen. Als ich zuhause ankam, wollte ich unbedingt noch etwas lesen vor dem Abendessen [...] [...] Owa i hob net gwusst, ob i mit da zeitung oda mi m’buach ofonga soi. ‘[...] aber ich habe nicht gewusst, ob ich mit der (DetR) Zeitung oder mit dem (DetR) Buch anfangen soll.’ (WILTSCHKO 2013, 172)

WILTSCHKO (2013, 172) merkt an, dass das Auftreten von DetR eventuell auf die Anzahl der Antezedenten zurückzuführen sei. Demzufolge erfordern solche Kontexte eine Definition von anaphorischer Referentialität, die sensitiv für die Anzahl potentieller Antezedenten sei. Entscheidend für die Artikelwahl scheint jedoch zu sein, auf welcher Ebene der Faktor „Kontrast“ operiert und welche Alternativen damit zur Verfügung stehen. Sowohl in (30) als auch in (31) wird der Kontrast zwischen den Entitäten auf Satzebene berechnet, weshalb es sich hier lediglich um alternative aboutness topics handelt (zu Kontrasttopik siehe auch KRIFKA 2008). Es sind jedoch keine potentiellen Alternativen für die jeweiligen Denotate auf der DP-Ebene verfügbar. Die Referenten Meerschweinchen und Kaninchen in (30) gelten als bereits identifiziert, weshalb schließlich DetR gebraucht wird. Aus dem Schweizerdeutschen findet sich ebenso Evidenz für die unterschiedliche Kontrastierung von Alternativen in Korrelation mit der Artikelwahl. STUDLER (2011) verweist ebenso wie

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WILTSCHKO (2013) auf eine anaphorische Relation, in der wider Erwarten DetR anstelle von DetF an der resumptiven NP auftritt. (32)

Uf mim Buurehoof gets es Ross und e Hund. S Ross louft schnäuer as de Hund. ‘Auf meinem Bauernhof gibt es ein Pferd und einen Hund. Das (DetR) Pferd läuft schneller als der (DetR) Hund.’ (STUDLER 2011, 55)

Werden die beiden Referenten Pferd und Hund miteinander verglichen, dann wird die reduzierte Artikelform gebraucht. „Steht das Referenzobjekt allerdings in direktem Vergleichsverhältnis zu anderen Vertretern seiner Gattung (z. B. zu den anderen Pferden im Stall), wird vorwiegend der volle Artikel verwendet“ (STUDLER 2011, 55). Das vorliegende Beispiel macht erneut deutlich, dass die Ebene, auf der das Alternativen-Set verfügbar ist, ausschlaggebend für die Artikelwahl ist. Der volle Artikel tritt obligatorisch dann auf, wenn alternative Referenten innerhalb der nominalen Domäne verfügbar sind. Auch beim nachfolgenden Kontrastpaar, (21) wiederholt als (33), werden zwei Entitäten auf der Satzebene gegenübergestellt, nämlich Oldtimer und Cabriolet. (33)

A: Woas? Du willschd doi Oaldtaamer vekaafe? B: No, im Lääwe net! Isch moan doch es Kabrio! A: ‘Was? Du willst deinen Oldtimer verkaufen?’ B: ‘Nein, im Leben nicht! Ich mein doch das (DetR) Cabriolet!’ (Frage 17)

Im Gegensatz zu vorhergehenden Beispielen handelt es sich in (33) allerdings um „Kontrastfokus“ in Form einer Korrektur. Dennoch existieren auch in diesem Kontext keine potentiellen Referenten aus dem Alternativen-Set Cabriolet und darum muss die reduzierte Artikelform auftreten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sowohl „Kontrasttopiks“ als auch „Kontrastfoki“ keine alternativen Referenten innerhalb der nominalen Domäne implizieren, weshalb DetR die definite NP einleitet. Bei EBERT (1971b) findet sich bereits ein eindrückliches Minimalpaar, das die vorliegenden Beobachtungen stützt. (34)

Üüb’t markels wul’s mi an kü an hingst üübdrei. Di/A hingst haa ik natüürelk ei keeft. Wi haa jo al trii stak. Man det/at kü fing’k dan dach me. ‘Auf dem Jahrmarkt wollten sie mir eine Kuh und ein Pferd andrehen. Das (DetF/DetR) Pferd hab ich natürlich nicht genommen. Wir haben ja schon 3 Stück. Aber die (DetF/DetR) Kuh kriegte ich dann doch mit.’ (EBERT 1971b, 165)

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In (34) sind grundsätzlich beide Artikelformen möglich. Wird DetR gebraucht, so liegt ein Kontrast zwischen den beiden Referenzobjekten Pferd und Kuh vor. Wenn hingegen DetF verwendet wird, entsteht eine kontrastive Lesart zwischen dem genannten Pferd und anderen Exemplaren derselben Gattung (EBERT 1971b). Damit impliziert DetF, dass mehrere Pferde – realiter oder potentiell – zum Verkauf stünden, auch wenn diese nicht explizit genannt werden, wohingegen DetR die Alternativen-Lesart nicht zulässt. Liegt also ein Kontrasttopik vor, so muss obligatorisch DetR als Definitum fungieren. Ausschließlich dann, wenn mögliche Referenten innerhalb eines Alternativen-Sets, nämlich innerhalb der DP, impliziert werden, leitet DetF das Nomen ein. 3

SCHLUSSBEMERKUNG

Ausgehend von der Forschungshypothese, dass die Diskurskontextabhängigkeit vs. -unabhängigkeit den ausschlaggebenden Faktor für die Distribution der beiden definiten Artikelformen in deutschen Dialekten bildet, war ein Ziel dieses Beitrags, neue empirische Erkenntnisse bezüglich dieses Phänomens zu gewinnen. Die neu gewonnenen Daten aus dem Südhessischen sollten dazu dienen, die formulierten Bedingungen zur Artikelverteilung zu überprüfen sowie ergänzende Faktoren zu eruieren. Die Analyse der Daten hat schließlich ergeben, dass die funktionale Einteilung der Definita einer feineren Differenzierung bedarf als bisher angenommen. Zudem konnten die dialektalen Daten die Hypothese widerlegen, dass die genannte Distribution auf die semantische (DetR) vs. pragmatische (DetF) Definitheit zurückzuführen sei. Im Vergleich zur Standardanalyse bedeutet das: Wenn kein Alternativenset innerhalb der DP vorhanden ist, leitet DetR den Referenten ein, welcher schließlich als unikal interpretiert wird. Das Fehlen von Alternativen innerhalb der nominalen Domäne entspricht demnach der oben erläuterten Funktion der semantischen Definitheit. Tritt allerdings DetF am Nomen auf, sind alternative Referenten innerhalb der DP verfügbar (Alternativenset). Die eindeutige Identifizierung des genannten Referenten bedarf weiterer kontextueller Information. Somit entspricht das Vorhandensein von Alternativen innerhalb der DP der Funktion der pragmatischen Definitheit. Die hier vorgeschlagene Analyse hat im Gegensatz zur Standardanalyse insofern einen Mehrwert, da sie mithilfe der Annahme von Alternativen die Distribution der beiden definiten Artikelformen in weiteren, für die Standardannahme problematischen Kontexten erklären kann und außerdem eine ausdifferenziertere Funktion der Definita ermöglicht, die in der Grammatik der jeweiligen Determinierer begründet liegt (unterschiedliche morphosyntaktische Merkmale). Als zweites Ziel dieses Beitrags konnten aus den empirischen Daten für die Theoriebildung relevante Generalisierungen formuliert werden, die die Annahme einer Split-DP Hypothese erlauben. Es konnte gezeigt werden, dass ausschließlich DetF ein Set an alternativen Referenten innerhalb der DP evoziert und damit eine oberhalb von NP angesiedelte Fokus-Phrase selegiert. DetR und DetF besitzen

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folglich unterschiedlich komplexe Strukturen, worauf letztendlich die informationsstrukturellen Unterschiede basieren. Die Untersuchung der Definitartikel liefert schließlich Evidenz für den Einfluss der Informationsstruktur auf morpho-syntaktische Variation sowie für die Berechnung von informationsstrukturellen Faktoren sowohl auf Satzebene als auch innerhalb der nominalen Domäne, was sich letztlich in der unterschiedlich komplexen Syntax der Definita widerspiegelt. LITERATUR Primärquellen KATZENMEIER, MINA (1980): Meu Auerbach. Mundartliches. Gedichte und Geschichten von Mina Katzenmeier. Zusammengestellt von Walter Katzenmeier. Bensheim-Auerbach. PÖSCHL, ERIKA (1985): Paonnekuche in de Sunn gebagge. Ourewälle Gschichte. Brauchtum un Gedichte vun sällemols un heitzedaogs. Ober-Ramstadt/Rohrbach. PÖSCHL, ERIKA (1987): Oigebutzeld. Die Muttersprache ist der Mantel der Geborgenheit. Geschichten und Gedichte in Odenwälder Mundart. Ober-Ramstadt/Rohrbach. SAUERWEIN, FRIEDRICH (1985): Vadder, ve’zäihl emol. Ourewäller G’schichte un Schnorrn vun friejer un heit. Kevelaer: Anrich. STOLL, JOSEPH (1989): Moi Nadurgeschichd un annern Sache zum Noochdenke un zum Lache. Gedichte und Erzählungen in Mundart. Hrsg. von KURT GIOTH. Bensheim-Gronau.

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KASUSSYNKRETISMUS: BEDINGUNGEN IDIOLEKTALER VARIATION. EINE KORPUSANALYSE ZUM OBERDEUTSCHEN Sophie Ellsäßer 1

EINLEITUNG

In dieser Arbeit möchte ich die Untersuchung der oberdeutschen Kasussysteme ins Zentrum stellen und die Möglichkeiten, die eine gebrauchsbasierte Korpusanalyse eröffnet, anhand erster beispielhafter Ergebnisse präsentieren. Dabei soll die genutzte Methode der Korpusanalyse einer „klassischen“ Analyse von Ortsmonographien und Dialektgrammatiken im selben Gebiet gegenübergestellt werden. Ein besonderes Augenmerk liegt hier auf der Untersuchung idiolektaler Variation, also Variation synkretischer bzw. distinkter Formen im Kasussystem einzelner SprecherInnen. Im Rahmen der hier vorgestellten Pilot-Untersuchung sollen erste Anhaltspunkte zu kanonischen Kasusdistinktionen im Gebiet und zum Auftreten von Variation gesammelt werden. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob freie Variation auftritt oder konditionierte Variation als Charakteristikum des Untersuchungsgebietes angesehen werden kann. Es werden einige mögliche Faktoren zur Konditionierung idiolektaler Variation im Oberdeutschen diskutiert. Auch wenn die Datengrundlage derzeit noch keine statistisch belastbaren Aussagen zum Einfluss dieser Faktoren erlaubt, lassen sich erste Tendenzen zur Konditionierung der Variation erkennen und darauf basierend vertiefende Fragestellungen ableiten. Angelehnt an bisherige Arbeiten zur intrasystematischen Variation in oberdeutschen Kasussystemen (vgl. etwa DAL NEGRO 2004; WEBER 1964; MEYER 1976), konzentriert sich dieser Beitrag beispielhaft auf den maskulinen Definitartikel, dessen synkretische Tendenzen häufig als salientes Merkmal zur geographischen Einteilung oberdeutscher Kasussysteme genutzt werden (vgl. etwa SHRIER 1965) und der damit ein besonders ergiebiges Untersuchungsfeld zu bieten verspricht. Kapitel 2 gibt zunächst einen kurzen Überblick zum Forschungsstand zu dialektalen Kasussystemen (2.1) und möglichen Formen (idiolektaler) Variation (2.2) und mündet in einer Darstellung erster Ergebnisse der Analyse oberdeutscher Kasussysteme auf Basis von Ortsgrammatiken und Dialektmonographien (2.3). Kapitel 3 präsentiert die Datengrundlage (3.1) und das Vorgehen in der Korpusanalyse (3.2). In Kapitel 4 werden erste Ergebnisse der Korpusanalyse präsentiert und mit den Erkenntnissen aus der Literatur in Bezug gesetzt. Kapitel 5 bietet schließlich einen Ausblick auf mögliche Interpretationsansätze und weitere Arbeitsschritte.

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Sophie Ellsäßer

2

FORSCHUNGSSTAND: EIN KURZER ÜBERBLICK 2.1

Dialektale Kasussysteme

Die Kasussysteme der deutschen Dialekte stellen ein bislang relativ wenig beachtetes Forschungsfeld dar. Dies gilt insbesondere für die geographische Verbreitung der Kasussysteme, aber auch für die intrasystematische Variation. Die Notwendigkeit neuer Erkenntnisse im Bereich der geographischen Verbreitung von Kasussystemen in den deutschen Dialekten zeigt sich insbesondere, wenn man betrachtet, welche Literatur und Datengrundlage in den bisher erschienenen Arbeiten zu diesem Thema herangezogen wurde. Die Arbeit von SHRIER (1965) scheint dabei unumgänglich und wird in zahlreichen Arbeiten zitiert (vgl. etwa ROWLEY 2004; RAUTH 2016; KÖNIG 2015). Dabei sind insbesondere die methodische Problematik der Untersuchung sowie die wenig intuitive Darstellung der Ergebnisse zu bemängeln. SHRIERS (1965) Erkenntnisse basieren ausschließlich auf sekundären Daten aus Dialektmonographien und Ortsgrammatiken (SHRIER 1965, 421). Die exakte Datengrundlage, die SHRIER (1965) genutzt hat, ist auf der Basis ihrer Publikation aber nicht nachvollziehbar. Außer einer einfachen kartographischen Darstellung, in der die genutzten Grammatiken als Nummern markiert sind, gibt der Artikel keinen Hinweis darauf, welche Werke den Ergebnissen genau zugrunde liegen (vgl. SHRIER 1965, 422). Die Darstellungen, in denen die Ergebnisse der Arbeit präsentiert werden, sind – natürlich auch bedingt durch das Alter der Publikation und die eingeschränkten technischen Möglichkeiten – graphisch unübersichtlich gestaltet und durch die fehlenden geographischen Referenzen nicht exakt mit anderen Untersuchungen abzugleichen. Zudem konzentriert sich SHRIERS (1965) Analyse ausschließlich auf die diatopische Variation einzelner Kasusparadigmen. Intrasystematische Variation und die Interaktion mit anderen linguistischen Ebenen wurden nicht berücksichtigt. Bei aller Kritik an Methode und Darstellung soll dennoch der Wert der Ergebnisse keinesfalls geleugnet werden. SHRIERS (1965) Arbeit eignet sich in jedem Fall für einen ersten (wenn auch recht groben) Überblick über die geographische Verteilung bestimmter synkretischer Muster, der als Grundlage für weitere Untersuchungen genutzt werden kann: Für das oberdeutsche Gebiet findet sich dabei insbesondere ein wichtiges Isoglossenbündel, das etwa auf Höhe der politischen Grenze von Baden-Württemberg und Bayern verläuft (SHRIER 1965, 423) und das ein westoberdeutsches von einem ostoberdeutschen Muster unterscheidet. Im Ostoberdeutschen findet sich die dreigliedrige Distinktion von Nominativ, Akkusativ und Dativ nur noch beim Pronomen der 1. Person Singular. Die maskulinen Relationen – und damit auch der maskuline Definitartikel – zeichnen sich durch eine Tendenz zum Synkretismus von Akkusativ und Dativ bei distinktem Nominativ aus. Das Westoberdeutsche zeigt eine kleinräumige Gliederung, in der die Distinktion aller drei Kasus unterschiedlich stark in den jeweiligen Wortarten ausgeprägt ist, jedoch in mehr als einer Wortart auftritt. Die maskulinen Relationen tendieren im Zentrum des westoberdeutschen Gebietes ebenfalls zu einer

Kasussynkretismus: Bedingungen idiolektaler Variation

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dreigliedrigen Distinktion, wohingegen im westlichen Westoberdeutschen ein Synkretismus von Nominativ und Akkusativ bei distinktem Dativ zu beobachten ist und sich über das Oberdeutsche hinaus nach Norden und Westen erstreckt (vgl. SHRIER 1965, 423–436).1 SHRIERS (1965) dialektgeographische Übersicht lässt sich durch die Beobachtungen einiger weiterer Arbeiten ergänzen und verfeinern. Insbesondere die Interaktion der Kasussysteme mit nicht-morphologischen Faktoren ist hier von besonderem Interesse: ALBER / RABANUS (2011) beschäftigen sich mit Synkretismus und Distinktion von Kasus bei Personalpronomen in germanischen Sprachen und deutschen Dialekten. Neben der Belebtheit werden hier auch Genus, Numerus und Person als mit Kasusdistinktion interagierende Faktoren untersucht. Anhand einer Synkretismusquote, die sich aus der Differenz möglicher und tatsächlicher Synkretismen im Paradigma ergibt, ermitteln sie eine Skala der Wahrscheinlichkeit für Kasussynkretismus. Sie beschreiben insbesondere das Maskulinum und die belebten Relationen als Kontexte, die Synkretismus dispräferieren (vgl. ALBER / RABANUS 2011, 44). KRIFKA (2009, 8–9), der sich mit der Interaktion von Kasussynkretismus und Genus im (Standard-)Deutschen beschäftigt, führt eben diese ausgeprägte Kasusdistinktion im Maskulinum auf dessen im Vergleich zu den anderen Genera häufigere Korrelation mit belebten Referenten zurück. RAUTH (2016, 117–122) geht am Rande seiner Analyse zur Interaktion von Kasusmarkierung und Wortfolgemustern in ditransitiven Sätzen SHRIERS (1965) räumlicher Darstellung der Kasusmarkierung in den deutschen Dialekten nach. Er bestätigt und ergänzt diese um einige Erkenntnisse aus großlandschaftlichen Dialektgrammatiken und geht dabei auch auf die idiolektale Variation des maskulinen Definitartikels ein. Er weist auf das Phänomen variierender synkretischer und distinkter Formen im Südhessischen hin, das, nach bisherigen Erkenntnissen, eine Distinktion aller drei Kasus in dieser Konstruktion aufweist. RAUTH (2016, 188) führt hier (basierend auf MOTTAUSCH 2001, 3) die Möglichkeit an, zwischen den SprecherInnen bekannten (kodiert z. B. durch Eigennamen) und unbekannten Referenten zu differenzieren, indem erstere mit einer synkretischen abgeschwächten und letztere einer distinkten Vollform auftreten. Ähnliche Beobachtungen zum Problem intrasystematischer Variation, insbesondere beim maskulinen Definitartikel, finden sich auch in zahlreichen weiteren Beschreibungen dialektaler Kasus1

An dieser Stelle muss auf zwei Ungenauigkeiten in der betreffenden Karte in SHRIER (1965, Karte 13) hingewiesen werden: Zum einen bezieht sich die Autorin in der Legende auf das Pronomen der 3. Person Singular im Allgemeinen, welches, so SHRIER (1965, Karte 13), eine dreigliedrige Distinktion aufweise. Da jedoch dieses Pronomen beim Femininum und Neutrum bereits in älteren Sprachstufen Synkretismus aufweist (vgl. etwa KRIFKA 2009), ist davon auszugehen, dass sie sich hier lediglich auf das Maskulinum bezieht. In Bezug auf den maskulinen Definitartikel kann hier zudem von einer Verwechslung zweier Gebiete ausgegangen werden. Während SHRIER (1965) bei dieser Karte die Distinktion aller drei Kasus für diesen Kontext im Gebiet im äußersten Westen beschreibt, erwähnt sie diese nicht für den östlichen Teil des westoberdeutschen Gebiets. Dies widerspricht den Ergebnissen in ihrer Karte zum maskulinen Definitartikel (SHRIER 1965, Karte 2).

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Sophie Ellsäßer

systeme (vgl. etwa Abb. 2). Daher soll im Folgenden ein Überblick über die Formen und möglichen Ausprägungen dieser Variation gegeben werden. 2.2

Formen der Variation beim maskulinen Definitartikel

Um einen Überblick über die möglichen (synchronen) Formen idiolektaler Variation zu erhalten, sollen hier zunächst anhand der beobachteten Entwicklungsrichtungen von Synkretismus und Variation zwei Typen und deren verschiedene Ausprägungen postuliert werden: Bisherige Arbeiten zur Variation im maskulinen Definitartikel im Oberdeutschen beschäftigen sich insbesondere mit Systemen, die kanonischen Synkretismus von Nominativ und Akkusativ aufweisen, in denen dieses Muster also den (frequenten) Normalfall abbildet, und bei denen die Variation im Auftreten einer nicht-kanonischen Distinktion, also einer niedrigfrequenten Abweichung, besteht. Hier geht man also in der Regel davon aus, dass Synkretismus von Nominativ und Akkusativ auftritt. Lediglich in speziellen Kontexten können distinkte Formen für Nominativ und Akkusativ in den betreffenden Systemen genutzt werden. Ein Beispiel hierfür ist u. a. bei DAL NEGRO (2004) zu finden, die der Frage nachgeht, inwiefern Variation innerhalb des Kasusparadigmas Relevanz für das Sprachsystem besitzt. Anhand einer Untersuchung zum Artikelsystem in der walserdeutschen Mundart von Issime weist sie auf eine Möglichkeit der intrasystematischen Variation zur Markierung semantischer Distinktionen, wie etwa von Belebtheit und Spezifizität, hin. Dabei deutet sie auch eine Art Exaptation2 der ursprünglich im Gebiet vorhandenen Distinktion von Nominativ- und Akkusativformen, die im Gebiet kanonisch durch eine synkretische Nominativform ausgedrückt werden, zur Distinktion semantischer und referentieller Kontexte an (DAL NEGRO 2004, 109). Hier zeichnet sich ab, dass die (historische) Nominativform där häufig in Bezug auf eher belebte Referenten (Menschen, Tiere), also prototypische Agentia, genutzt wird, während die (historische) Akkusativform da, dan häufiger unbelebte Referenten und damit eher prototypische Patientia, bezeichnet. In Bezug auf die referentielle Unterscheidung zeichnet sich ab, dass die (historische) Nominativform där eher Individuativa bezeichnet, während die (historische) Akkusativform da, dan auf generische Referenten verweist (vgl. DAL NEGRO 2004, 108). Die Variation besteht hier also in der nicht-kanonischen Distinktion in einem zum Synkretismus neigenden Gebiet. Eine weitere Form intrasystematischer Variation, die bislang nicht systematisch beschrieben wurde, die allerdings im Rahmen dieses Beitrags relevant sein wird, tritt in Systemen mit kanonischer Distinktion auf und äußert sich dort in nicht-kanonischem Synkretismus. Diese Form der Variation deutet sich etwa in der Dialektgrammatik von EBERLE (1938) für den Raum Kupfer (im Hohenlohe-

2

Inwiefern es sich in DAL NEGROS (2004) Beispielen tatsächlich um Exaptation handelt, wird in SIMON (2010) genauer beleuchtet.

Kasussynkretismus: Bedingungen idiolektaler Variation

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kreis im Nordosten Baden-Württembergs) an. Er beschreibt das folgende Paradigma: Kasus Nominativ Akkusativ Dativ Genitiv

Form (mask. Definitartikel) dər, də, dę də əm s

Tab. 1: Paradigma des maskulinen Definitartikels nach EBERLE (1938, 41)

Das Paradigma zeigt eine Möglichkeit zur Variation im Nominativ. Die distinkte Nominativform dər impliziert ein dreigliedriges Paradigma, wohingegen die zweite mögliche Nominativform də hier formal dem Akkusativ entspricht und damit ein synkretisches Muster impliziert.3 Für das Gebiet um Kupfer kann jedoch, wie für das gesamte hier untersuchte Gebiet, eine Distinktion aller drei Kasus beim maskulinen Definitartikel als kanonisches Muster angenommen werden. Die Variation besteht hier also im Auftreten des nicht-kanonischen Synkretismus. Die hier beschriebenen beiden Formen der Variation können wiederum unterschiedliche Ausprägungen aufweisen: Wie oben dargestellt, beschreibt DAL NEGRO (2004) die Entstehung des distinkten Musters in Form eines Ausbaus des Akkusativs durch eine historische Form. Dabei deutet sich an, dass die Formen, die ursprünglich zur Distinktion von Nominativ und Akkusativ genutzt wurden, in einer (rekonstruierten) Zwischenstufe synkretisch auf die historische Nominativform zusammengefallen waren. Der Ausbau des Akkusativs erfolgt hier durch eine Art Wiederverwendung der historischen Akkusativform unter Berücksichtigung neuer Bedeutungskomponenten. Die in WEBER (1964) für das Zürichdeutsche beschriebenen Paradigmen hingegen zeigen einen Ausbau der Nominativform, die etwa dem standarddeutschen der entspricht und sich damit von der synkretischen de-Form abgrenzt. Die Variation kann sich hier also durch eine Art Wiederbesetzung eines Kasus durch eine möglicherweise historische Form oder durch den Ausbau einer Kasusmarkierung, etwa durch die Nutzung von vollen gegenüber abgeschwächten Formen in bestimmten Kontexten und bei verschiedenen Kasus äußern.4 Abbildung 1 illustriert die beiden Typen der Variation und die bereits angeführten beiden möglichen Ausprägungen der Verstärkungsprozesse, 3

4

Auffällig ist, dass EBERLE (1938, 41) eben diese Beobachtung in einer – etwas kryptischen – Fußnote aufgreift: „[zu dər] auch ohne r dę oder d, aber bewußt vom lautgleichen Sing.Akk.Mask. unterschieden“. EBERLE (1938, 41) hat hier offensichtlich ebenfalls eine Formengleichheit, zumindest auf orthographischer Ebene bemerkt, bezeichnet diese allerdings bewusst nicht als Synkretismus. Leider gibt er hier keine Hinweise darauf, inwiefern es sich um einen nicht kodifizierten phonologischen Unterschied oder etwa eine idiolektal basierte, komplementäre Verteilung der Varianten handelt. Eine gewisse Möglichkeit zur Variation klingt in diesem Beispiel jedoch deutlich an. Hierbei deutet sich an, was HARNISCH (2010) als sprachlichen Verstärkungsprozess durch Semantisierung formaler Substanz benennt.

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die in der Literatur genannt werden, und gibt einen ersten Hinweis auf eine mögliche Entwicklungstendenz, auf die in Kapitel 4 und 5 näher eingegangen wird.

Abb. 1: Mögliche Typen der Variation im Kasussystem, deren Ausprägungen und erste Hypothese zur Diachronie der Kasusnivellierung im Untersuchungsgebiet (vgl. Kapitel 4 und 5)

Auch mögliche Ursachen und Konditionierungen bzw. Kontexte solcher Variation werden in einigen Arbeiten bereits angesprochen und diskutiert: WEBER (1964, 102) etwa führt die Variation beim zürichdeutschen Definitartikel auf Sandhi-Effekte zurück und damit auf einen gewissen Einfluss des phonologischen Kontextes. Auch MEYER (1967) geht bei den variierenden Formen im SDS-Material von einer phonologischen Erklärung aus. DAL NEGRO (2004, 103) greift diese These MEYERS (1967) auf, kommt aber in ihrer Untersuchung zum walserdeutschen Definitartikel in Issime zu dem Ergebnis, dass es sich bei der dort auftretenden Variation um ein semantisch konditioniertes morphologisches Phänomen handelt (DAL NEGRO 2004, 109). Im Bereich der Semantik geht sie dabei insbesondere auf den Einfluss von Belebtheitsdistinktionen ein, die besonders in der Objektposition eine eindeutige Markierung der Kasusopposition auszulösen scheinen. Dies entspricht dem Konzept der differenziellen Objektmarkierung, die in einigen Arbeiten als Muster in NominativAkkusativsprachen beschrieben wird (vgl. etwa BLAKE 2001, 118–120; PRIMUS 2011). Zudem weist sie, wie oben angeführt, in gewissen Kontexten auf eine referentiell bedingte Konditionierung der Variation durch Distinktion zwischen Individuativa und generischen Referenten hin. Auch diskurspragmatische Einflüsse auf das Kasussystem sind denkbar. DIRANI (in diesem Band) beschäftigt sich etwa mit vollen und abgeschwächten Formen, deren unterschiedlicher Gebrauch diskursbedingt ist und variierende Synkretismustendenzen zur Folge haben kann. Sie begründet die Wahl der häufig

Kasussynkretismus: Bedingungen idiolektaler Variation

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distinkten Vollform durch die Notwendigkeit eines Fokus bei mehreren alternativen Referenten. Auch HIMMELMANN (1997) und NÜBLING (2005, 108–109) führen für die unterschiedlichen Ausprägungen des Definitartikels (Demonstrativa, volle Definitartikel und Klitika) unterschiedliche Gebrauchskontexte an. So finden sich Klitika in Kontexten semantischer Definitheit, wohingegen Demonstrativa und volle Artikelformen im Bereich der pragmatischen Definitheit angesiedelt werden.5 Auch eine syntaktische Konditionierung intrasystematischer Variation ist durchaus vorstellbar. So können die Disambiguierung syntaktischer Funktionen und damit einhergehende Ökonomisierungsprinzipien Variation im Kasussystem hervorrufen. Die Interaktion von Serialisierungsmustern und Kasusdistinktionen ist in dieser Hinsicht bereits ein häufig diskutiertes Thema (vgl. etwa RAUTH 2016 zu Kasussynkretismus und Abfolge von direktem und indirektem Objekt in deutschen Dialekten; SIEWIERSKA 1998 zum grundlegenden Zusammenhang von Kasusdistinktion und Serialisierungsfreiheit im typologischen Vergleich; WERLEN 1990 zum Zusammenhang von Subjekt-Objekt-Abfolge und Kasussynkretismus im Alemannischen). Schließlich sind auch systemexterne Faktoren der Konditionierung zu überprüfen. So deuten die bisher genannten Arbeiten an, dass verschiedene Formen sowie das generelle Auftreten intrasystematischer Variation diatopisch beschränkt sind. Dabei ist insbesondere denkbar, dass die Variation verstärkt in Übergangsgebieten zwischen Regionen mit verschiedenen Kasussystemen auftritt und damit auf einen möglichen Einfluss des benachbarten Systems oder auch auf eine, möglicherweise durch Kontaktphänomene verursachte, diachrone Entwicklung, also einen systematischen Umbruch schließen lassen. 2.3

Variation in Ortsgrammatiken und Dialektmonographien

Da es nicht möglich ist, die Daten aus SHRIER (1965) auf exakte Ortspunkte zu beziehen, ist es für einen Methodenvergleich sinnvoll, eine eigene Analyse nach dem Vorbild von SHRIER (1965) vorzunehmen. Dazu wurden zahlreiche zum oberdeutschen Gebiet vorhandene Ortsgrammatiken, die Aufschluss über Flexionsmorphologie versprechen, ausgewertet und mit exakter geographischer Referenzierung versehen. Neben den Werken, die SHRIER (1965) möglicherweise zur 5

Da die systematische Einteilung in distinkte und synkretische Formen die Grundlage dieser Arbeit bildet, wird hier zunächst bewusst keine Distinktion zwischen verschiedenen Artikelparadigmen (wie etwa vollen und reduzierten Definitartikeln) vorausgesetzt, denn Vollformen und reduzierte Formen können nicht grundlegend mit Distinktion und Synkretismus assoziiert werden (vgl. etwa Paradigmen in STUDLER 2013, 152–153). Dennoch ist es durchaus denkbar, dass auch intrasystematische Variation zwischen Distinktion und Synkretismus, bedingt durch den unterschiedlichen Aufbau der Paradigmen verschiedener Artikelformen im Untersuchungsgebiet, durch die oben angesprochenen Gebrauchskontexte konditioniert ist. NÜBLING (1992, 40–41) bespricht etwa die Neutralisierung bestimmter Kasusoppositionen klitischer Verbindungen im Ruhrdeutschen.

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Verfügung standen, konnten so auch zusätzliche Werke, die nach Erscheinen des Artikels veröffentlicht wurden, in die Untersuchung integriert werden. Grundlage der Recherche waren hierbei die Informationen in der „Georeferenzierten Bibliographie für Areallinguistik“ (GOBA) und die Angaben über morphologieorientierte Kapitel in Dialektgrammatiken bei BIRKENES (2014). Insbesondere letztere Monographie bietet einen guten Ausgangspunkt für Analysen morphologischer Systeme auf der Basis von Ortsgrammatiken.6 Die in Abbildung 2 dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf die Paradigmen zum maskulinen Definitartikel, wie sie in den jeweiligen Werken angegeben sind. Neben den Werken zum Alemannischen, Schwäbischen. Ostfränkischen und Bairischen wurden hier auch diejenigen zum Rheinfränkischen einbezogen. Dabei sind nicht die exakten Formen, sondern, angelehnt an SHRIER (1965, 420), lediglich die Distinktionen der einzelnen Kasus, also deren Funktion im System, abgebildet. Wie in SHRIER (1965) werden auch hier jeweils alle drei möglichen morphologischen Kasus in gekürzter Form aufgeführt. Distinktion wird durch einen Schrägstrich markiert. Steht „kein“ Schrägstrich zwischen den Kasus, findet sich dort eine synkretische Form. Abbildung 2 zeigt die Verbreitung von Kasussystemen basierend auf Dialektgrammatiken und Ortsmonographien im oberdeutschen Sprachgebiet. Jedes Symbol auf der Karte illustriert einen Ortspunkt, auf den eine untersuchte Grammatik referiert. Die Kreuz-Symbole verweisen auf Grammatiken, aus denen sich kein vollständiges Paradigma des maskulinen Definitartikels erschließen lässt. In den Grammatiken, die durch Symbole dargestellt sind, die sowohl graue als auch schwarze Komponenten beinhalten, wurde Variation innerhalb des Paradigmas verzeichnet. Auf der Karte sind die unterschiedlichen Tendenzen zum Synkretismus, die auch SHRIER (1965) vermerkt, gut zu erkennen: Während der Westen hier zu einem Synkretismus von Nominativ und Akkusativ neigt, finden sich im Osten, soweit Dialektgrammatiken vorhanden sind, Belege für Synkretismus von Akkusativ und Dativ. Im Zentrum des Westoberdeutschen, aber auch vereinzelt im Ostoberdeutschen, tritt auch die vollständige Distinktion von Nominativ, Akkusativ und Dativ auf.7 Inwiefern es sich hierbei um Einflüsse des Systems der Standardsprache handelt bzw. inwiefern möglicherweise die AutorInnen der Grammatiken ihre Aufzeichnungen hier an das standardsprachliche System angelehnt haben, lässt sich im Rahmen dieser Analyse nicht verifizieren.

6

7

Angelehnt an BIRKENES (2014, 40) wurden die entsprechenden Belege auch einer geographischen Referenz zugeordnet: In den meisten Fällen bezieht sich der Autor / die Autorin der betreffenden Grammatik in einem einführenden Text auf einen bestimmten Ort, in dem womöglich genauere Untersuchungen angestellt wurden, zuweilen bezieht sich der Autor / die Autorin auch auf seine eigene dialektale Kompetenz. Anders als in BIRKENES (2014, 40) kann in dieser Arbeit noch kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Es handelt sich bei dieser Karte lediglich um eine erste Orientierung basierend auf laufenden Arbeiten. Der synthetische Genitiv gilt in den deutschen Dialekten – mit wenigen Ausnahmen, wie etwa einigen höchstalemannischen Dialekten – als ausgestorben (vgl. SHRIER 1965, 421 und DAL 1971, 173).

Kasussynkretismus: Bedingungen idiolektaler Variation

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Abb. 2: Kasusdistinktion von Nominativ, Akkusativ und Dativ8 beim maskulinen Definitartikel im Oberdeutschen auf Basis der Analyse von Ortsmonographien und Dialektgrammatiken

Die Analyse der Grammatiken birgt noch weitere Schwierigkeiten. So liegt der Schwerpunkt in diesen Werken häufig auf phonologischen Phänomenen oder, in den Fällen, in denen ein flexionsmorphologisches Kapitel vorhanden ist, auf Phänomenen der Numerusmarkierung. Dies erschwert das Erstellen eines feinmaschigen Ortsnetzes. Die Beschreibung von Kasus erfolgt zumeist auf Basis der Paradigmen einzelner kasustragender Wortarten und damit nicht basierend auf Spontansprache, sondern auf Nennformen. Der maskuline Definitartikel gehört dabei allerdings zu den häufig behandelten Formen, da sich seine Paradigmen auch häufig aus Beschreibungen der Nominalflexion erschließen lassen. Ein größeres Problem stellt allerdings die Uneinheitlichkeit der Datengrundlage dar. Die Methoden reichen hier von Introspektion über die Befragung einzelner Verwandter der AutorInnen bis hin zu groß angelegten Erhebungen. Trotz dieser Probleme bietet die Analyse der Grammatiken jedoch eine gute Grundlage für weitere Analysen. Die hervorgehobene quadratische Fläche in Abbildung 2 markiert das Gebiet, aus dem die Daten der unten ausgeführten Korpusanalyse stammen. Im Rahmen dieses Beitrags kann also in diesem Raum ein 8

Teilweise werden in den Grammatiken auch Genitivformen angeführt. Da sich diese Arbeit aber zunächst auf die Distinktion von Nominativ, Akkusativ und Dativ konzentriert und nicht zu klären ist, inwiefern die Anführung des Genitivs in den Grammatiken möglicherweise von einem gewissen Normgedanken geprägt ist, werden hier zunächst ausschließlich diese drei Kasus dargestellt.

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Methodenvergleich in Bezug auf die geographische Verbreitung von Synkretismuskonstellationen erfolgen. 3 3.1

METHODIK DER KORPUSANALYSE

Die „Alltagstexte“ von RUOFF (1984) als Datenbasis

Das Korpus, das die Grundlage der Analyse bildet, sind die „Alltagstexte I“, RUOFF (1984). Die „Alltagstexte I“ bieten eine Auswahl an Transkripten dialektaler Tonaufnahmen der Arbeitsstelle „Sprache in Südwestdeutschland“ der Universität Tübingen, die von den 1950er bis zu den 1970er Jahren unter Leitung von HERMANN BAUSINGER und ARNO RUOFF in Baden-Württemberg und BairischSchwaben durchgeführt wurden (vgl. RUOFF 1973). In diesem Beitrag wird ein Teilkorpus aus 31 Transkripten im Norden des Untersuchungsgebietes genutzt (vgl. Tabelle 2). Einen großen Vorteil der Daten stellt die spezielle Transkription dar, die sich zwar an der Standardsprache orientiert, aber dennoch morphosyntaktische und teilweise phonologische Phänomene relativ genau wiedergibt. Dies erleichtert die morphologische Analyse der Daten, da einerseits relativ verlässliche Informationen9 über phonologische Eigenschaften und damit auch über synkretische und distinkte Wortformen vorliegen, andererseits, durch die Anlehnung an die Standardorthographie eine digitale Analyse möglich ist. Der Redeanteil der InformantInnen in jedem Transkript wird hier als Ausschnitt des idiolektalen Systems einzelner SprecherInnen gewertet. Durch die zahlreichen zusätzlichen Informationen, die in der Publikation für jede einzelne Gewährsperson und jeden Erhebungsort genannt sind, lassen sich diese idiolektalen Proben geographisch wie auch soziolinguistisch gut einordnen. 3.2

Vorgehen bei der Korpusanalyse

Die Analyse erfolgt auf Basis der einzelnen (möglicherweise) kasustragenden Wortform. Jede Wortform, die möglicherweise Kasus markiert – im Fall dieses Beitrags jeder maskuline Definitartikel – wird einzeln und im jeweiligen morphosyntaktischen und semantischen Kontext analysiert. Ein großer Vorteil der Korpusanalyse liegt darin, dass das Paradigma nicht isoliert betrachtet, sondern integriert in den linguistischen Kontext untersucht wird. Grundlage dafür bildet gesprochene, relativ natürliche Sprache. Dabei sind im Prinzip kaum Vorannahmen über die Interaktion des Kasussystems mit ande9

Trotz der aufwendigen Transkription wurde in den hier vorliegenden Daten eine stichprobenhafte Kontrolle der Transkription durchgeführt. Ein Großteil der Tonaufnahmen ist über die DGD (IDS, Datenbank für Gesprochenes Deutsch (DGD)) zugänglich, allerdings mit anderen Siglen als in RUOFF (1984).

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Kasussynkretismus: Bedingungen idiolektaler Variation

ren Phänomenen notwendig; die Analyse kann jederzeit vertiefend ausgebaut werden. Insbesondere in Bezug auf die Ursachen idiolektaler Variation im Sprachsystem erweist sich eine Korpusanalyse daher als äußerst sinnvoll. Durch die Arbeit mit Einzelbelegen können Kasussynkretismus und -distinktion quantifiziert werden. Damit sind Aussagen über die Frequenz bestimmter Konstruktionen möglich. In Bezug auf die Beschreibung eines Kasusdiasystems, insbesondere aber zur Abgrenzung einzelner Gebiete, ergibt sich so die Möglichkeit, dominante und weniger dominante Muster zu identifizieren und damit eine frequenzbasierte Relevanz einzelner Muster für die Beschreibung des Systems zu benennen. Um eine einheitliche Zuordnung der Kasussynkretismen im gesamten Untersuchungsgebiet anzusetzen, werden diese auf Basis der kanonischen Typologie (vgl. etwa BROWN / CHUMAKINA 2013) zugeteilt. Dabei wird ein recht einfaches kanonisches Ideal der vollen Distinktion von Nominativ, Akkusativ und Dativ in jedem Kontext angesetzt. Jeder Wortform wird der vom Verb aufgrund der semantischen Rollenverteilung im jeweiligen Kontext geforderte Kasus zugeteilt, auch wenn dieser im tatsächlichen System nicht distinkt markiert wird (vgl. auch ELLSÄSSER 2017, 72–75). Das folgende Beispiel illustriert das Vorgehen bei der Zuteilung der Kasus: (1)

des tut doch d’r Gemeinderaat beschtimmt da ‘Das macht hier bestimmt doch der Gemeinderat’ (RUOFF 1984, 26)

In dem hier angeführten Beispiel wird die Wortform des als Akkusativ und die Wortform d’r als Nominativ betrachtet. In der Analyse werden so alle tatsächlich auftretenden Synkretismen quantitativ erfasst; dies gilt auch in Kontexten, in denen man bereits ohnehin auf Basis der Analyse der Ortsgrammatiken von totalem Synkretismus ausgehen kann. Synkretismus oder Distinktion werden hier für jeden Beleg induktiv aus den Daten, die zum jeweiligen idiolektalen System der einzelnen SprecherInnen vorliegen, erschlossen. Dabei werden alle Formen einer paradigmatischen Zelle innerhalb eines idiolektalen Systems untersucht. Finden sich zwei Belege mit derselben Form in unterschiedlichen Kasus, werden diese als synkretisch gewertet. Treten in verschiedenen Kasus Belege mit unterschiedlichen Formen auf, werden diese als distinkt klassifiziert. Da nicht jedes Transkript ausreichend Material für vollständige Paradigmen bietet, werden diejenigen Belege, für die keine kontrastiven Kasus gefunden werden, mit „unsicherer Distinktion“ aus der Analyse ausgeschlossen.10 Für die geographische Analyse der Daten bedeutet dieses Vorgehen, dass nicht wie in einigen bisherigen Arbeiten Kasussysteme bezogen auf bestimmte (größtenteils phonologisch definierte) Dialektgebiete beschrieben werden. Vielmehr ermöglicht dieses Vorgehen, falls vorhanden, morphologisch determinierte 10 Für einen genaueren Überblick zu diesem Vorgehen siehe ELLSÄSSER (2017).

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Dialektgebiete zu ermitteln, ohne Vorannahmen über bereits definierte Dialektgebiete einzubeziehen. Es lässt sich so bestimmen, inwiefern bestimmte Muster lediglich als freie Variation im einzelnen Idiolekt auftreten, inwiefern idiolektale Synkretismus-Muster sich als raumbildend erweisen oder global im gesamten Untersuchungsgebiet zu finden sind. 4

ERGEBNISSE

Im Rahmen der Korpusanalyse wurde, wie bereits erwähnt, ein Teilkorpus von 33 Transkripten erstellt. Hier finden sich nach der oben beschriebenen Vorgehensweise 11 440 Belege für alle möglicherweise kasusmarkierenden Wortarten.11 Davon weisen 4 402 eine distinkte Kasusmarkierung auf, 4 658 sind als synkretisch zu klassifizieren, und für 2 380 Belege konnte kein vollständiges Paradigma rekonstruiert werden. Das Teilkorpus enthält 1 019 Belege für den maskulinen Definitartikel. Tabelle 2 zeigt die Muster von Synkretismus und Distinktion dieser Belege aufgeteilt nach den Erhebungsorten der jeweiligen Transkripte. Die Systeme, in denen Variation auftritt, die also sowohl synkretische als auch distinkte Belege eines Kasus aufweisen, sind hier fett gedruckt. Die exakte Quantifizierung der einzelnen Muster in diesen in der Tabelle angeführten variierenden Systemen wird kurz an einem Beispiel angeführt: Im Transkript aus Meßbach/Künzelsau (RUOFF 1984, 85–88) finden sich insgesamt 29 Belege für den maskulinen Definitartikel. Er variiert zwischen zwei Mustern, N/A/D, also der vollen Distinktion aller drei Kasus, und NA/D, also dem Synkretismus von Nominativ und Akkusativ bei distinktem Dativ. Im Transkript finden sich 8 distinkte und 2 synkretische Nominativformen und 2 distinkte und eine synkretische Akkusativform. Diese können der Gesamtzahl der jeweiligen Muster hinzugefügt werden (=10 Belege für N/A/D und 3 Belege für NA/D). Die 16 Dativformen im Transkript hingegen werden, in Ermangelung einer exakteren Methode, zu je 50 % auf die beiden Muster aufgeteilt, so dass in Tab. 2 letztendlich 18 Belege für N/A/D und 11 Belege für NA/D verzeichnet sind. Da beide Muster hier einen distinkten Dativ aufweisen, muss dieses Vorgehen als Hilfsmittel eingesetzt werden.

11 Im Rahmen meiner größeren Untersuchung werden Pronomina, Artikel und Adjektive analysiert.

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Kasussynkretismus: Bedingungen idiolektaler Variation Ortspunkt Alfdorf/Schwäbisch Gmünd Beimbach/Crailsheim Bieringen/Künzelsau Bondorf/Böblingen Erkenbrechtsweiler/ Nürtingen Eschach/Schwäbisch Gmünd Eschenau/Schwäbisch Hall Flochberg/Aalen Frankenbach/ Heilbronn Gellmersbach/ Heilbronn Gemmrigheim/ Ludwigsburg Grab/Backnang Häfnerhaslach/ Vaihingen Heimsheim/Leonberg Hengstfeld/ Crailsheim Herkheim/ Nördlingen Hirrlingen/Tübingen Hirsau/Calw Kusterdingen/Tübingen Meßbach/Künzelsau Michelfeld/ Schwäbisch Hall Munzingen/ Nördlingen Neuler/Aalen Öhringen (Kreisstadt) Schwörsheim/ Nördlingen Serres/Vaihingen

Gesamtbelege12

N/A/D-Muster

NA/D-Muster

N/AD-Muster

167

165

0

0

11 26 37 30

7 26 28 30

4 0 9 0

0 0 0 0

10

10

0

0

14

14

0

0

18 59

18 59

0 0

0 0

16

10

6

0

39

38

0

0

32 24

32 24

0 0

0 0

23 16

14 9

9 0

0 7

36

26

0

9

45 30 25

45 7 24

0 22 0

0 0 0

29 12

18 12

11 0

0 0

13

7

0

6

31 36 30

31 35 19

0 0 0

0 0 21

43

43

0

0

Tab. 2: Anzahl synkretischer und distinkter maskuliner Definitartikel in den untersuchten idiolektalen Systemen

12 Unter die Gesamtbelege fallen alle analysierten Belege des maskulinen Definitartikels. Für einzelne Belege konnte kein Kasus bzw. keine eindeutige Kategorie von Synkretismus oder Distinktion festgestellt werden. Diese werden in den folgenden Spalten nicht berücksichtigt.

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Die Tabelle zeigt zunächst, dass trotz der bereits relativ großen Datenmenge und recht hohen Belegzahl der maskulinen Definitartikel im Teilkorpus (gesamt: 1 019, davon distinkt: 928, synkretisch: 83, unsicher: 8) die Belege für Systeme mit variierenden Formen in diesem Gebiet noch so niedrig sind (lediglich 9 Systeme mit 164 Belegen), dass in diesem Beitrag keine statistisch belastbaren Aussagen zu möglichen konditionierenden Faktoren der Variation getroffen werden können. Dennoch sollen hier erste Hinweise auf mögliche relevante Faktoren angeführt werden: Grundlegend zeigen sich im Teilkorpus drei Muster von Kasusmarkierung, die sich, basierend auf Abbildung 1, auf verschiedene Typen von Variation projizieren lassen. Es finden sich zahlreiche Systeme mit voller Distinktion (z. B. Alfdorf/Schwäbisch Gmünd), in denen alle drei Kasus ausschließlich distinkte Formen aufweisen (N/A/D) und keine Variation auftritt. Es finden sich zudem Systeme, die kanonische Distinktion mit einer Variante des Synkretismus zeigen. Diese Variante kann dabei sowohl dem Muster NA/D (z. B. Meßbach/Künzelsau) oder N/AD (Schwörsheim/Nördlingen) entsprechen. Kanonische Distinktion wird dabei in den Systemen angenommen, die das Muster N/A/D in ≥ 50 % der Belege aufweisen. Das Transkript aus Hirsau/Calw repräsentiert schließlich beispielhaft ein System, für das man aufgrund der hohen Belegzahlen dieses Musters einen kanonischen Synkretismus (NA/D) annehmen kann mit dem distinkten Muster (N/A/D) als Variante. Schließlich finden sich auch Systeme (z. B. Wittelshofen/Dinkelsbühl), die vollen Synkretismus (in diesem Fall im Muster N/AD) zeigen. Auf der Suche nach einer möglichen innersystematischen Konditionierung der variierenden Formen, also solchen sprachlichen Kontexten, die etwa das Auftreten des Synkretismus in Systemen mit Kasus in den betreffenden Systemen bedingen, lassen sich beispielhaft die Gebiete, die die Variante NA/D aufweisen, betrachten: Hier wird dieses Muster häufig dann gewählt, wenn ein Beleg in präpositionalen Kontexten auftritt (vgl. etwa (2b) oder, wenn der Beleg, etwa in einer Ergänzung, in ausgeklammerter Position auftritt (vgl. (2a)). Das Muster scheint also eher in funktional schwach belasteten Kontexten außerhalb der Argumentstruktur aufzutreten. Innerhalb der Argumentstruktur finden sich hier zumeist distinkte Formen (vgl. (2c)). (2)

a.

un då warer draußa, da Fäschtgottesdenscht ‘und da war er draußen, der Festgottestdienst’

b.

aber schafft ja da Tååch iber neta ‘aber arbeitet ja den Tag über nicht’

c.

on nå wie halt då dr Kriech härkumma is, ‘und dann, als hier der Krieg gekommen ist,’

(RUOFF 1984, 87) (RUOFF 1984, 87) (RUOFF 1984, 85)

Kasussynkretismus: Bedingungen idiolektaler Variation

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Dieser erste Hinweis spricht für eine eher syntaktische Konditionierung der idiolektalen Variation basierend auf der Funktion in der Argumentstruktur, wobei hier die eindeutige Zuweisung der Subjekts- und Objektfunktion relevant zu sein scheint. Er lässt vermuten, dass Synkretismus in den betreffenden Idiolekten eher funktional schwach belastete Kontexte ergreift und damit eine Art Ökonomisierungsprozess darstellt. Eine ähnliche Beobachtung deutet auch DAL NEGRO (2004, 106) für einen Teil der Südwalser Mundarten an: Dort weisen akkusativische Kontexte innerhalb der Argumentstruktur eine historische Nominativform auf, während sich hier außerhalb der Argumentstruktur eine historische Akkusativform findet. Auch die Beobachtung SCHIRMUNSKIS (2010, 535), dass die Verbindung von schwachbetonten Determinierern und Präpositionen im Oberdeutschen häufig mit einer formalen Reduktion einhergeht, weist in eine ähnliche Richtung. Hier zeichnet sich ab, dass zudem möglicherweise redundante Kasusmarkierung (durch präpositionale und zudem adverbale Markierung) abgebaut wird. Das wiederholte Auftreten dieser Beobachtungen in der Literatur deutet in jedem Fall darauf hin, dass es sich hier durchaus um ein wiederkehrendes Muster handelt. Für die übrigen der oben in Abschnitt 2.2 angeführten Faktoren, also Belebtheits- oder referentielle Distinktionen, Sandhi-Effekte oder Einflüsse aus Diskurspragmatik oder Gebrauchskontext, konnten in dieser ersten Untersuchung bislang keine belastbaren Hinweise gefunden werden.13 Dafür sind mehrere Gründe vorstellbar: Durch die bislang noch geringe Datenmenge konnten noch nicht alle möglicherweise relevanten Kontexte erschöpfend analysiert werden. Insbesondere die äußerst geringe Anzahl an Belegen aus variierenden Systemen im Teilkorpus lässt hier noch keine verlässlichen Generalisierungen zu. In einer größer angelegten Analyse könnten sich womöglich weitere konditionierende Faktoren der Variation abzeichnen. Hinweise auf einen weiteren konditionierenden Faktor sowie auch eine bessere Übersicht über die Einzelsysteme bietet die kartographische Abbildung der Daten in Abbildung 3. Abbildung 3 zeigt die Verbreitung und Struktur der einzelnen idiolektalen Systeme im Untersuchungsraum. Die Größe der Kreisdiagramme variiert hierbei abhängig von der Anzahl der analysierten Belege. Die weißen Flächen weisen auf die Anzahl der Belege hin, die eine volle Distinktion aller drei Kasus aufweisen (N/A/D), die schwarzen Flächen weisen auf einen Synkretismus von Nominativ und Akkusativ bei distinktem Dativ (NA/D) und die grauen Flächen weisen auf einen Synkretismus von Akkusativ und Dativ bei distinktem Nominativ (N/AD) hin. Obwohl es sich bei dem untersuchten Gebiet noch um ein relativ kleines Areal handelt, ergeben sich aus dieser Darstellung bereits äußerst interessante Hinweise:

13 Auch eine gezielte Analyse zum Zusammenhang von Synkretismusmustern und vollen bzw. reduzierten Formen konnte in dieser ersten Untersuchung aufgrund der geringen Datenmenge nicht angestellt werden.

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Die Gebiete, die das Muster N/AD in seinen verschiedenen Ausprägungen aufweisen, befinden sich ausschließlich im Nordosten des Untersuchungsgebietes, entlang und hinter der politischen Grenze zu Bayern und bilden dort ein eigenes, in sich geschlossenes Gebiet. Das Zentrum des Untersuchungsgebiets weist zum größten Teil Systeme der vollen Distinktion auf, während Systeme mit kanonischer Distinktion und der Variante NA/D im Westen und Nordosten des Gebietes auftreten. Das System, das kanonischen Synkretismus des Typs NA/D zeigt, befindet sich im äußersten Westen, während sich das System, das vollen Synkretismus (N/AD) aufweist, im äußersten Osten befindet.

Abb. 3: Kasusdistinktion und Synkretismus von Nominativ und Akkusativ beim maskulinen Definitartikel auf Basis der Analyse des Testsamples aus RUOFF (1984)

Abbildung 3 deutet darauf hin, dass die Struktur der Variationstypen in Abbildung 1 durchaus als diatopische Struktur angesehen werden kann, wobei hier die volle Distinktion das Zentrum des Untersuchungsgebietes charakterisiert, während angenommen werden kann, dass der volle Synkretismus in verschiedenen Mustern jeweils nach Osten und Westen hin auftritt. Für die kasusmorphologische Gliederung der Dialekträume bedeutet das, dass diese weniger, wie etwa durch die Karten in SHRIER (1965) angedeutet, durch feste Isoglossen charakterisiert sind. Ähnlich wie etwa in SEILER (2005) für die syntaktische Raumgliederung beschrieben, kann hier vielmehr, in Anlehnung an die dort genutzte Metapher der „schiefen Ebene“, von einer Hügelstruktur ausgegangen werden: Die volle Distinktion im Zentrum des Gebietes fällt hier zu beiden Seiten, quasi in schiefen Ebenen, all-

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mählich – über kanonische Distinktion und kanonischen Synkretismus – zum vollen Synkretismus ab. Diese Vermutung wird jedoch durch den Vergleich mit den analysierten Ortsgrammatiken (in Abbildung 2) gestützt. Auch dort finden sich im selben Gebiet variierende Systeme und Systeme, die volle Distinktion aufweisen. Über das geographische Gebiet der Korpusanalyse hinaus zeigen sich im Südwesten und Nordosten dort zudem Systeme mit vollem Synkretismus der beiden Muster. Dies weist in jedem Fall darauf hin, dass es sich bei der idiolektalen Variation der Kasussysteme des maskulinen Definitartikels um ein raumbildendes Phänomen handelt, das damit in jedem Fall (auch) diatopisch konditioniert ist. 5

FAZIT UND AUSBLICK

Im Rahmen einer gebrauchsbasierten Korpusanalyse wurde in dieser Arbeit das Phänomen der idiolektalen Variation in oberdeutschen Kasussystemen behandelt. Erste Ergebnisse weisen bislang darauf hin, dass diese ein spezielles Charakteristikum der Kasussysteme im Untersuchungsgebiet darstellt und dass deren Auftreten damit zum Teil diatopisch konditioniert ist. In einer kleinen Typologisierung wurde hier auch eine angenommene diachrone beziehungsweise räumliche Entwicklung verschiedener Typen von Variation zwischen voller Distinktion und vollem Synkretismus angesetzt, bei der Varianten von einem kanonischen Muster in bestimmten Kontexten graduell abweichen. Inwiefern diese Kontexte systemintern, also durch bestimmte linguistische Merkmale konditioniert sind, konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht eindeutig nachgewiesen werden. Erste Hinweise legen allerdings die Vermutung nahe, dass zumindest die Ausbreitung des NA/D-Musters auf Basis von Ökonomieprinzipien funktioniert, wobei sich diese Ökonomie nach der Notwendigkeit zu richten scheint, Subjekt und Objekt distinkt zu markieren, diese also eher distinkt zu markieren als NichtArgumente. Man könnte aus diesen ersten Erkenntnissen vorsichtig schließen, dass eine beginnende Formenreduktion hier womöglich zunächst die für die Zuordnung semantischer Relationen weniger relevanten Kontexte ergreift und erst später auch auf die Komponenten der Argumentstruktur übergreift. Damit könnte die Variation als Phänomen eines systematischen Wandels und damit (auch) als systemintern konditionierte Variation interpretiert werden. Für genauere Analysen zu dieser Frage ist allerdings eine noch größere Datenmenge notwendig. Dazu wäre es unter Umständen notwendig, in solchen Systemen, in denen idiolektale Variation auftritt, „Tiefenbohrungen“ anzustellen, in denen gezielt maskuline Definitartikel in den oben angeführten Variationskontexten untersucht werden, um noch mehr, auch statistische belastbare, Belege zu erhalten. Der Vergleich der beiden Methoden und Datengrundlagen – der Auswertung von Grammatiken und der Korpusanalyse – konnte zudem interessante Erkenntnisse liefern: Während die Grammatiken größtenteils Auskunft über Variation eines zum Teil nicht näher definierten Systems (dieses kann sich dort aufgrund der variierenden Datengrundlage sowohl auf eine Einzelperson als auch ein meh-

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rere Personen beziehen) geben konnten, konnte Variation mithilfe der Korpusanalyse zum einzelnen Idiolekt zurückverfolgt werden. Die geographisch ähnliche Verbreitung der einzelnen Muster ermöglicht eine Validierung der Ergebnisse beider Methoden. Während der Vorteil der Auswertung von Ortsgrammatiken dabei auf der geographischen Breite der Erkenntnisse liegt, liefert die Korpusanalyse mit einem dichteren Ortsnetz ein detailliertes Bild einzelner Systeme und deckt die Gradualität von Variation auf. Die Methoden scheinen sich also, insbesondere bei einem derart wenig erforschten Gegenstand wie den dialektalen Kasussystemen, äußerst gut zu ergänzen. LITERATUR Primärquellen ALTENHOFER, EDUARD (1932): Untersuchungen zur Dialektgeographie der Westpfalz und der angrenzenden Teile des Kreises Saarbrücken und Lothringens. Marburg: Friedrich. BATZ, HANS (1912): Lautlehre der Bamberger Mundart. In: Zeitschrift für deutsche Mundarten 7, 3–53. BAUER, ERIKA (1957): Dialektgeographie im südlichen Odenwald und Ried. Marburg: Elwert (Deutsche Dialektgeographie. 43). BAUMGARTNER, HEINRICH (1922): Die Mundarten des Berner Seelandes. Frauenfeld: Huber (Beiträge zur schweizerdeutschen Grammatik. 14). BAUR, GERHARD WOLFRAM (1982): Der Dialekt von Schiltach und Umgebung. Eine Fallstudie im Rahmen der ‘klassischen’ Dialektologie. In: BESCH, WERNER / ULRICH KNOOP / WOLFGANG PUTSCHKE / HERBERT ERNST WIEGAND (Hg.): Dialektologie: ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Berlin/New York: de Gruyter (Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft. 1.1), 316–340. BERTALOTH, GEORG (1935): Zur Dialektgeographie des vorderen Odenwalds und des nördlichen Rieds. Erlangen: Palm & Enke (Fränkische Forschungen. 5). BERTRAM, OTTO (1937): Die Mundart der mittleren Vorderpfalz. Erlangen: Palm & Enke (Fränkische Forschungen. 7). BESCHER, HERMANN (1933): Die Grundlagen der Mundartgeographie des südlichen Rheinhessens. Gießen: Münchow’sche Universitätsdruckerei (Giessener Beiträge zur deutschen Philologie. 30). BLUMENSTOCK, FRIEDRICH (1911): Die Mundart von Klein-Allmerspann. OA. Gerabronn. Dissertation, Universität Tübingen. BOCK, GUDRUN (1965): Die Mundart von Waldau bei Schleusingen. Köln/Graz: Böhlau (Mitteldeutsche Forschungen. 35). BOGER, KARL W. (1935): Die Mundart des Enz-Pfinz-Gebiets nach Lauten und Flexion. Dissertation, Universität Tübingen. BRAUNSTEIN, HERMANN (1978): Der Dialekt des Dorfes Schutterwald (Ortenaukreis). Grammatik und Wortschatz. Schutterwald: Eigenverl. d. Verf. BRÄUTIGAM, KURT (1934): Die Mannheimer Mundart. In: Mannheimer Geschichtsblätter 1 (3), 114–134. BURKART, HANS (1965): Laut- und Formenlehre der Mundart von Bühl-Kappelwindeck II. Konsonantismus – Anhang zur Lautlehre – Formenlehre. Examensarbeit, Universität Freiburg. DELLIT, OTTO (1913): Die Mundart von Kleinschmalkalden. (Laut- und Formenlehre, Syntax und Wortschatz). Marburg: Elwert. DÖLKER, HELMUT (1935): Die Mundart im Kreis Eßlingen am Neckar. Ms., Esslingen am Neckar.

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ALTERNATING ENDINGS IN THE PLURAL VERBAL PARADIGM IN MIDDLE LOW GERMAN: AN INTERFACE PHENOMENON Melissa Farasyn 1

INTRODUCTION

Middle Low German is a collective name for the dialects spoken north of the Benrath line from ca. 1250 until 1600. The language is, concerning verbal inflection, particularly known for its Einheitsplural ‘unitary inflection in the plural’: all verb forms in the plural bear the same ending. In the present tense, this ending alternates between -en (or in the later period -ent) and -et, originally depending on the region, although both forms are in a constant struggle for domination (LASCH 1914, 226). The ending -et is usually more often visible in the most common forms such as wi/gi/si gevet ‘we/you/they give’ or wi/gi/si hebbet ‘we/you/they have’. The endings -et and -en, however, are not the only ones found in the Middle Low German plural: another ending -e is attested as well in the first and second person plural (henceforth 1st and 2nd p.pl.) (LASCH 1914, 227; FEDDERS 1993, 235). The absence of the final consonant typical for the Einheitsplural depends on the position of the verb towards the subject pronoun.1 This study gives an overview of the exact syntactic distribution of this alternating ending and an analysis, which is based on this distribution in a corpus of historical Low German and additional data from related West Germanic languages. We argue that deletion of the final consonant in Middle Low German is an interface phenomenon, finding its origin in the 2nd p.pl. forms in the optative mood. The deletion then analogically extends to the 1st p.pl. and is re-interpreted as a speech-act participant marking mechanism. From there, the construction further spreads, being no longer phonologically, but systematically conditioned.

1

This position-dependent agreement will often be referred to with absence or deletion (of the final consonant) in this article, as the article is written from a diachronic point of view, taking into account earlier languages stages. In the earlier stages of the Ingvæonic languages for instance, the unitary inflection, ending in a consonant, was present in all environments in the plural. This phenomenon gets in the literature also referred to as Double Agreement (ZWART 1993; WEISS 2005) or Agreement Weakening (ACKEMA / NEELEMAN 2003).

86

Melissa Farasyn

2

BACKGROUND 2.1

The issue

Middle Low German strong and weak verbs have endings that are identical to one another in the present tense (LASCH 1914, 224). In the past, weak verbs have dentals, whereas strong verbs do not, but the plural endings are identical as well. Tables 1 and 2, based on DIETL (2002, 14), respectively give an overview of the verbal paradigm for the strong verbs, exemplified with riden ‘drive’ and for the weak verbs, exemplified with salven ‘salve’. Pres., ind.

Pres., subj.

Past., ind.

Past., subj.

1 sg.

rid-e

rid-e

reet

red-e

2 sg.

rid-e-st

rid-e-st

red-e-st

red-e-st

3 sg.

rid-e-t

rid-e

reet

red-e

1–3 pl.

rid-e-n/t

rid-e-n

red-e-n

red-e-n

Table 1: Conjugation of riden (‘drive’, strong verb)

Pres., ind.

Pres., subj.

Past., ind.

Past., subj.

1 sg.

salv-e

salv-e

salv-e-d-e

salv-e-d-e

2 sg.

salv-e-st

salv-e-st

salv-e-d-est

salv-e-d-est

3 sg.

salv-e-t

salv-e

salv-e-d-e

salv-e-d-e

1–3 pl.

salv-e-n/t

salv-e-n

salv-e-d-en

salv-e-d-en

Table 2: Conjugation of salven (‘salve’, weak verb)

As can be seen in table 1 and 2, Middle Low German has only one ending for each number in the plural, which is referred to as Einheitsplural (‘unitary inflection in the plural’). Plurals in the indicative present can have -n or -t as their final consonant. In the past, the ending in the indicative plural cannot be -t. Subjunctive plural forms always end in -n as well, making them indistinguishable from the past indicative for strong verbs. Texts containing both -t and -n in the present are not exceptional, as can be seen in example (1), which shows a coordinated structure with wente ‘as, because’. In the first conjunct, the ending of the verb in the first person plural is -et, whereas the other coordinate shows a parallel structure in which -en is used. As this diversity is not structurally connected to specific phonological/syntactic environments, it will not be further taken into account in this study.

Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German

(1)

87

Wente wi hebbet yd suluen hort Wente wi weten werliken because we have.1PL it ourselves heard Because we know.1PL truly ‘Because we have heard it ourselves, because we know truly’ (“Buxtehuder Evangeliar”)

Verb forms of 1st as well as 2nd p.pl. can sometimes also display a different ending in Middle Low German. As for the 1st p.pl., the ending of the verb in clauses with inversion is usually -e instead of -et or -en. This is illustrated with example (2a) for clauses without and in example (2b) for clauses with a topic. The endings of both types of verbs in inversion structures, i.e. verb + subject and topic + verb + subject, in which the pronoun follows the verb, are identical. Only in subjectinitial verb second clauses (2c), the verb displays the ordinary ending of the Einheitsplural, which is in this case -en. (2)

a. b. c.

late wy ene let.1PL we him ‘Let us leave him alone’ Nu bekenne wi […] now confess.1PL we [...] ‘Now we confess [...]’ wi hebben geuunden ihesum uan nazareth josepes sone we have.1PL found Jezus of Nazarath joseph’s sun ‘we have found Jezus of Nazareth, Joseph’s sun’ (“Buxtehuder Evangeliar”)

The same phenomenon occurs in the 2nd p.pl. If the pronoun follows the verb, the final consonant -t is not present, resulting in the ending -e. Examples of 2nd p.pl. structures are given in examples (3a) for clauses without and in (3b) for clauses with a topic. In clauses without inversion, as for instance in (3c), the ending is -t or -n. (3)

a.

b.

c.

Wylle gij na dessem leuende myt vrowden syn want you.2PL after this life with joy be ‘Do you want to be joyful after this life?’ (“Bordesholmer Marienklage”) Nu schulle gy horen vnde merken rechte Von des suluen groten heren slechte now shall.2PL you hear and notice truly about the same big lord evil ‘Now you will hear and learn truly about the same bad old lord’ (“Buxtehuder Evangeliar”) Gy schullen wol seyn you will good be.2PL ‘You will be good’ (“Chroniken der Sassen”)

88

Melissa Farasyn

In later Middle Low German texts, the 2nd p.pl. verb forms and pronouns can also be used as formal addressings in letters. The ending of the verb is not present in those cases as well (cf. more in 6.2). 2.2

Overview

This study will provide a deeper insight in the properties of the alternating ending missing the final consonant in the 1st and 2nd p.pl. verbs in Middle Low German. The corpora used for gathering the data and the annotation methods are discussed in the next section. An overview of original data gathered from an extensive Middle Low German corpus looking at internal linguistic factors as verb type and function, as well as to extra-linguistic factors as text type, writing language and period follows in section 4. The last part of the section also focuses on three types of exceptions/anomalies in the data. In section 5, an overview is given of how Middle Low German compares to its predecessor Old Saxon and to related languages as Old English, Old Frisian, Old and Middle Dutch and Old and Middle High German. Section 4 and 5 form the foundation of section 6, in which an analysis of the alternating endings in inversion will be proposed, offering an explanation for why it can only happen in the 1st and 2nd p.pl. Section 7 briefly summarizes our findings. 3

CORPUS AND METHODOLOGY

The absence of the final consonant in inversion in the Middle Low German dialects is investigated using new data collected from a corpus covering texts from the whole period in which Middle Low German was written (ca. 1300–1600). The scribal dialects (Schreibsprachen) from the three main linguistic dialect areas from the Altland (the area where Old Saxon was spoken before), Westphalian, Eastphalian and North Low Saxon, and a book of charters from the dialect from Lübeck in the Neuland (colonised after the Old Saxon period) have been incorporated in the corpus. It is important to remember that these scribal dialects in all probability do not equal the spoken language. They usually adapted to standards set by influential chanceries (like for instance Münster in the Westphalian area or Lübeck in the North Low Saxon area (respectively PETERS 2012a, 2012b), which was useful to enable international or interregional communication. The corpus further comprises texts of multiple genres, such as charters, laws, letters, chronicles, religious texts and literary texts. The chosen texts are all part of the Referenzkorpus Mittelniederdeutsch/Niederrheinisch (ReN)2 already partly available online, some of them are also to be part of the Corpus of Historical Low German (CHLG).3 Both corpus projects combine their forces to annotate the texts with 2 3

URL: ; last accessed: 3/31/2017. URL: ; last accessed: 3/31/2017.

Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German

89

both part-of-speech tags and morphological tags. Furthermore, the authors of the CHLG plan to add an extra syntactic layer to the structure in the near future (KOLEVA et al. 2017). Table 3 gives an overview of the texts selected for the corpus for this study. The study is based on a corpus of 21 texts, from which each text was split up into finite clauses. The corpus consequently comprises 13,500 finite clauses, roughly corresponding to 125,000 words. All clauses were analysed for type of subject (NP or pronoun), person (singular or plural) and number (1/2/3). Additionally, the clause type (main clause/subclause; ± second conjunct) was analysed, as well as the nature of the pronominal subjects, which were classified by type (overt, referential null subject, gap in relative clause, imperatives with unexpressed subject/agent, expletive or second conjunct with conjunction reduction). As not all the texts are POS- and morphologically tagged yet, most of this analysis was done manually. Dialect area

North Low Saxon North Low Saxon

Period

Genre

1501–1550 Literature 1501–1550 Letter

Eastphalian North Low Saxon

1201–1300 Law

Eastphalian North Low Saxon

1451–1500 Chronicle

Eastphalian

1451–1500 Literature

1451–1500 Literature

1551–1600 Literature

Westphalian 1451–1500 Religious Westphalian 1451–1500 Religious Eastphalian

1451–1500 Letter

North Low Saxon

1501–1550 Literature

Text [Giovanni Boccaccio], “Historie van veer Koepluden vnde eyner thuchtigen vramen Vrouwen”, Druck: Hamburg, Hans Borchard, 1510 [BC 470] Agneta Willeken, Hamburg: “Briefe” (gleichzeitige Abschriften) “Älteste Hs. des Goslarer Kramerrechts”, 1281 (Digitalisierte Fassung des ASnA) (Stadtarchiv Goslar) “Bordesholmer Marienklage”, 1475/76, Hs. “Cronecken der sassen”, Druck: Mainz, Peter Schoeffer, 1492 [BC 197] “Dre kortwilige Historien”, Druck: Hamburg, Joachim Loew, um 1560 [BC 1785] “Gandersheimer Reimchronik des Priesters Eberhard”, Hs., vor 1484 (HAB Wolfenbüttel) Prayer 1: “Ene oeffenynge in der gheboerte vnsesleuen heren ihesu cristi” Prayer 2: “Ey(n) Jnnige clage to gode” “Göttinger Liebesbriefe” (Stadtarchiv Göttingen) “Griseldis (nebst) Sigismunda und Guiscardus”, Druck: Hamburg, [Drucker des Jegher], 1502 [BC 362]

90

Melissa Farasyn

Dialect area

Period

Genre

Westphalian 1351–1400 Law Lübeck North Low Saxon North Low Saxon Eastphalian North Low Saxon Westphalian Westphalian Westphalian

1301–1500 Charters 1301–1500 Charters 1301–1350 Law 1501–1550 Religious 1451–1500 Religious 1351–1400 Law 1401–1450 Religious 1401–1450 Religious

Westphalian 1451–1500 Religious

Text “Herforder Rechtsbuch”, um 1375 (Stadtarchiv Herford) [Faksimile-Edition] “Lübecker Urkunden” (50 digitalisierte Urkunden aus dem ASnA) “Oldenburger Urkunden” (25 digitalisierte Urkunden aus dem ASnA) “Oldenburger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels”, Kloster Rastede 1336 “Ostfälische Psalmen” “Qvatuor Evangeliorum versio Saxonica”, 2. H. 15. Jh. Soest, “Schrae im Statutenbuch”, ca. 1367 “Spieghel der leyen”, Hs., Münster 1444 “Südwestfälische Psalmen” Thomas von Kempen, “Dat myrren bundeken”, Hs., Fraterhaus Münster 1480 (ULB MS, Ms N.R. 1550)

Table 3: Texts in a Middle Low German corpus by dialect area, period and genre.

After analysing all clauses, those clauses containing a verb in the 1st or 2nd p.pl. were collected in a smaller dataset. They were additionally annotated for having inversion or not, deletion in the ending or not, type of verb (weak/strong/preteritepresent/irregular) and function of the verb (full verb/copula/auxiliary). The smaller dataset consists of verbs in the indicative as well as in the subjunctive mood, in the past as well as in the present tense. This is because all of the verbal endings are identical in the plural (except for the earlier variation -t/-n). The exception on this is the verb sin ‘to be’, which has the verb form were in all persons of the subjunctive in the singular in the past and weren in the plural. The final dataset on which we focus, comprises all of the clauses in the smaller dataset that were marked as having inversion. 4

SYNTACTIC DISTRIBUTION

The corpus study delivers proof of robust position-dependent agreement in inversion structures in 1st and 2nd p.pl. in Middle Low German. The smaller dataset of clauses in 1st and 2nd p.pl. distilled from the corpus comprises 227 finite clauses with inversion, of which 145 in the 1st p.pl. and 82 in the 2nd p.pl.

Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German

4.1

91

Overall

Overall, the deletion of the final consonant in inversion occurs in 95.15 % of all the relevant verbs in inversion structures. Table 4 shows that the amount of different endings varies across person: verbs in the 1st p.pl. lose their ending in 95.86 % of all cases, whereas 83.90 % of all verbs in the 2nd p.pl. lose their ending. This difference in person is not significant in FISHER’S Exact Test (p = 0.5317), i.e. the ending does not tend to be deleted more often in one person or another. person

deletion

no deletion

Total

1

139 (95.86 %)

6 (4.14 %)

145

2

77 (93.90 %)

5 (6.10 %)

82

Total

216 (95.15 %)

11 (4.85 %)

227

Table 4: (Relative) frequency of verbs with and without deletion of the final consonant in a Middle Low German corpus

4.2

Language internal factors

In table 5, the ten most common verbs in inversion are listed. It shows that most of the verb forms found in the corpus belong to schölen ‘shall’, followed by hebben ‘have’ and willen ‘want’, which can all be used as auxiliaries. Infinitive

Type

Total

schölen (‘to shall’)

preterite-presents

51

hebben (‘to have’)

weak

28

willen (‘to want’)

irregular

27

mögen (‘to may’)

preterite-presents

12

werden (‘to become’)

strong

10

sin (‘to be’)

irregular

10

betügen (‘to profess’)

weak

6

loven (‘to promise’)

weak

4

don (‘to do’)

irregular

4

können (‘to be able to’)

preterite-presents

3

Table 5: Verb type and number of occurrences of the most common verbs in inversion in a Middle Low German corpus.

92

Melissa Farasyn

Though the table consequently might give the impression that deletion is more common in auxiliaries, the type of the verb does not have an influence on the occurence of deletion in Middle Low German: Deletion is robustly attested in strong verbs, weak verbs, irregular verbs and preterite-presents. Auxiliaries being on top of the list is just the consequence of them being more common in the corpus overall. Another parameter that has no influence on the presence of absence of the final consonant of the verb in inversion is the verb mood, as indicative and subjunctive mood are equally affected. 4.3

Extra-linguistic factors

The ending without a final consonant in 1st or 2nd p.pl. in inversion is virtually ubiquitous throughout the corpus. There is no real evolution over time in the period in which Middle Low German was written for 1st p.pl.: the very first examples date from 1300–1350. Only one text in ReN – “Goslarer Kramerrecht” – dates from before 1300, but this text only contains verbs and pronouns in the 3rd p. (sg. or pl.). The earliest examples of deletion in Middle Low German thus date from the first half of the 14th century. From 1300 onwards, the deletion is present whenever a text in the corpus contains 1st p.pl. in inversion. For the 2nd p.pl., attestations from 1300 onwards are available in the corpus as well. The deletion in inversion is thus very stable throughout the Middle Low German period from the attestations in the earliest period onwards. Few exceptions will be discussed in 4.4. Other external factors show a similar picture: No significant differences can be found across dialect or text type. The ending without the final consonant is present in all investigated scribal dialects, which suggest it is not a phenomenon linked to orthographic variation in certain chanceries. The ending is attested throughout all text types in the corpus as well. The text type does however have an influence on the occurence of 1st or 2nd person plurals (both in inversion and non-inversion contexts). 1st p.pl. is much more common in charters, as the city council almost always used it to announce decisions. 2nd p.pl. on its turn is very common in religious texts, especially in psalms, in which the writer often addresses the reading or listening public. 4.4

Exceptions

Although the ending without the final consonant is very often present, the data also reveal several exceptions. These can be divided into three types, being (i) the ones in which the end consonant is present, (ii) the ones in which only the stem of the verb is kept in inversion and (iii) verbs in 1st or 2nd p.pl. in the second conjunct of a coordinated structure with vnde (‘and’). (i) The dataset contains multiple clauses in which the verb in the 1st or 2nd person plural has a -t/-n as its final consonant. Most of these clauses contain the 1st or

Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German

93

2nd p.pl. of the verb sin (‘to be’), which can either be sind or sin in Middle Low German. Both forms can alternate within one and the same text (in non-inversion contexts). In inversion, two forms in the corpus are sy (4a) and thus drop the -n/-t/-nt and and two have the subjunctive past form were without the final -n (4b). On the other hand, four are syn (4c) and two are sint/synt (4d). (4)

a.

b.

c.

d.

Nu sy wij myt groten sorgen huten gar vorborgen vnde in der yamercheyt now are.1PL we with great sorrow today completely hidden and in the heartache ‘Now we are with great sorrow at the moment completely hidden and with a heartache’ (“Bordesholmer Marienklage”) Beter were wij vngeboren better were.1PL we unborn ‘We would better be unborn’ (“Südwestfälische Psalmen”) Mer bi vnser ghebreclicheit syn wi neder ghe uallen vn(de) ghebreken but with our helplessness are.1PL we down fallen and broken ‘But because of our helplessness, we fell down and broke’ (“Dat myrren bundeken”) Leuen heren Nu sint wy an desseme dage gantz vrolick gewest dear lord now are.1PL we on this day very happy been ‘Dear Lord. We have been very happy upon this day’ (“Historie van veer Koepluden”)

Further verbs that (in some cases) keep the final consonant are schouwen, werken, gan and hebben. Their (absolute) frequencies are given in table 6. verb

deletion

no deletion

hebben

21

1

gan

1

1

schouwen

0

2

werken

0

1

Table 6: Absolute frequence of deletion and non-deletion cases in schouwen, werken, gan and hebben.

It is remarkable that in case of schouwen (5a) and gan (5b), the pronoun is in fact an expressed subject/agent of an imperative, i.e. a vocative expressed as head of an adposition. In clauses with covert agents/subjects of the imperative, containing a gap, the ending of the verb is identical to this one (i.e. the verb keeps the ending identical to the one in 2nd p.pl. present, as in (5c)).

94 (5)

Melissa Farasyn

a.

b.

c.

Nu schowet gij salygen lude now look.2PL you sainted people ‘Now have a look, you, sainted people.’ (“Bordesholmer Marienklage”) gat gy vormaledieden go you accursed_ones ‘Go, you accursed ones!’ (“Südwestfälische Psalmen”) O gij saligen lute Schowet dessen groten yamer O you blessed people see.2PL this great sorrow ‘O you blessed people, see this great sorrow’ (“Bordesholmer Marienklage”)

(ii) Another type of remarkable forms are the ones which do not only miss the very last consonant -n or -t, but the complete ending -en or -et, i.e. only keep the stem of the verb. These type of deletions only affect two verbs: schölen (‘shall’) and willen (‘want’). For the first verb, this means that in 5 of the 51 cases in which we find a 1st or 2nd p.pl. form of schölen in inversion, the verb form is sul (6a). In the other cases, the form maintains the -e, resulting on verb forms like sculde/schole/scole/scholle/schulle/schulde. The verb willen gets the form wil instead of the expected form wille/wylle/wolde in 10 of the 28 cases in which the verb appears in the 1st or 2nd p.pl. (6b). (6)

a.

b.

Vn(de) van dusser materien sul ghi in den derden boke wal meer beschreuen vinden. and from this material shall you in the third book well more described find ‘You will find more descriptions of this material in the third book.’ (“Spieghel der Leyen”) Dat lydent sunte marien dat wyl wij hijr nu anheuen the suffering saint Mary that want.1PL we here now commence ‘We want to commence the suffering of saint Mary now’ (“Bordesholmer Marienklage”)

(iii) The third type of special forms is associated with null elements. Middle Low German has a high amount of null pronominal arguments, in particular of nonexpressed subjects in second conjuncts, i.e. of conjunction reduction (FARASYN / BREITBARTH 2016). This means that if a subject is expressed in the first conjunct and there is a second conjunct in which the same subject is supposed, the subject in the second (or third or fourth) conjunct is almost always dropped. In an ordinary coordinated structure with verb second in the first conjunct, the second conjunct is parallel to the first one and the second conjunct contains a null pronominal argument, as seen in example (7a). When there is inversion in the first conjunct however, as in example (7b), the structure can be interpreted in two different ways, since there are two ways of placing the gap in the second conjunct. A first

Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German

95

possibility is that the gap follows the verb, which would make the second conjunct structurally parallel to the first one. A second one is that the gap is located in front of the finite verb. As it is impossible to have deletion in coordinated structures with first person singular and third person singular/plural, it is impossible to know where the gap is located exactly. (7)

a.

b.

dey sal deme Rayde wedden eyn half puͦnt ande [ ] sal vte deme gherichte ewelike wesen vorwyset he shall the council pay a half pound and [ ] shall out the court everlasting be outlawed ‘he will pay the council half a pound and [he] will forever be outlawed from the court’ (“Schrae im Statutenbuch”) Do nemen se orloff van synen gnaden vnde [?] voren [?] in groter vrolichheyt wedder to Genay then take they leave of his mercy and [?] rode [?] in great joy back to Genay ‘Then they took their leave of his mercy and rode back to Genay in great joy’ (“Historie van veer Koepluden”)

A remarkable phenomenon emerges in the corpus data in coordinated structures with vnde (‘and’) in the 1st or 2nd p.pl. If the first conjunct does not have verb second, as in (7a), but inversed agreement instead, the second conjunct does not seem to show the expected ending for inversed agreement. This phenomenon is visualised in example (8a): the first conjunct, vortmer, bidde wi (‘Furthermore, we pray’) clearly shows inversion of verb and subject. The verb has the n-less verb form, which is standardly used in non-subject-initial verb second clauses. Meanwhile, in the second conjunct, the n-ending is expressed in the structure. If the second conjunct were parallel to the first one and the gap of the subject were following the verb, one would expect to see the n-less ending here as well. A similar example for the 2nd p.pl. is shown in (8b). Consequently, coordinations with 1st and 2nd p.pl. could provide evidence for a pronominal gap preceding the verb in the second conjunct of coordinated structures in Middle Low German, since the ending of the verb in the second conjunct is the ending without deletion that also appears in uninverted verb second clauses. Such an interpretation is in all probability possible, as similar conclusions about the structure of second conjuncts in High German have been described by REICH (2009). If that is the case, these structures do not form an exception to the data with overt subjects, as they carry the regular ending that is expected in clauses without inversion. On the other hand, the presence of the ending could mean that, if the pronominal gap were located after the verb, the change does not apply if there is no phonological expression of the pronoun. The latter possibility is supported by cases like (9), in which the verb is most probably followed by a null

96

Melissa Farasyn

referential subject, keeping the final consonant of the verb (cf. FARASYN / BREITBARTH 2016, 539). (8)

a.

b.

(9)

5

Vortmer ,bidde wi vnde manen alle guode lude, Houeman, vnde husman Dat se alle mit eneme schrichte volghen [...] furthermore pray.1PL we and demand all good people noblemen and peasants that they all with a complaint follow [...] ‘Furthermore we pray and demand from every good man, noblemen and peasants, that they all sue with a complaint [...]’ (“Urkundenbuch Lübeck”) szo hedde gy my dar gerne vnde wolden my dar ock henne hebben so have you.2SG me there gladly and want.2SG me there also there have ‘In this way, you would like to have me and you would also want to have me there’ (“Briefe”)

God gheue iv also to soeken vn(de) to lesen [dat ghi daer by verbetert weerden.] Vnde willen [pro] dit boeck to godes eeren beghinne(n) ‘May God give you to seek and to read, that you may be improved by it. And may [you] begin to read this book to the glory of God.’ (FARASYN / BREITBARTH 2016, ex. 22, own translation) POSITION-DEPENDENT AGREEMENT IN NORTHWEST GERMANIC

In order to retrieve information on the exact nature and the origin of the verbal ending without a final consonant, a closer look at languages overlapping in period or related languages is necessary. 5.1

Predecessor Old Saxon

Written sources from the predecessor of Middle Low German, Old Saxon (or Old Low German), are available from 800 until 1100/1150 (SANDERS 1973, 33). As stated above, written documents in Middle Low German are available from the first half of the 13th century onwards. This means that there is an attestation gap of about 150 years between Old Saxon and Middle Low German (PETERS 1973, 67). Continuity or change between Old Saxon and Middle Low German can consequently only ever be assumed and not be proven. It is furthermore important that the representativeness of the Old Saxon written documents for the predecessor of Middle Low German is questionable. Old Saxon has a unitary inflection -að/-oð in the present and a unitary inflection -un/on in the past. The present paradigm derives from an older system: the original 3rd p.pl. ending -nð lost the spirant ð after the n. Since the 3rd and the 2nd

Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German

97

p.pl. consequently became identical, the old ending of the 1st person, -m, was lost as well and equalized with the plural forms (GALLÉE 1892, 246). This unitary inflection is the one that is most common in Old Saxon written sources, although the old 3rd p.pl. ending is still sporadically attested as well (GALLÉE 1891, 246). A search through “Heliand” (HeliPad, WALKDEN 2016; SEHRT 1925), “Genesis” (SEHRT 1925) and the “Kleinere altsächsische Sprachdenkmäler” (WADSTEIN 1899) yields 52 examples of clauses with inversion, 7 with a 1st and 45 with a 2nd p.pl. pronoun. These show that Old Saxon never displays deletion of the final consonant when there is inversion with a 1st (10a) or 2nd p.pl. pronoun (10b). Evidence of the fact that not finding any deletion in Old Saxon is not a coincidence due to the much smaller amount of data than in Middle Low German will be given in chapter 6.1. (10)

a.

than faran uui thar alla tuo then move.1PL we there all to ‘Then we all go to that place’

b.

Sô uuitin gi ôk bi thesun têknun so know.2PL you.2PL also by this sign ‘So you also know by this sign’

(“Heliand” 2567)

(“Heliand” 4344) 5.2

Modern Low German dialects

In the modern Low German dialects, the distinction that is visible in Middle Low German is still made, for instance in Mecklenburgian (cf. NERGER 1869, 156). In these dialects, the verb in the 1st and 2nd p.pl. has the ending of the unitary inflection in non-inversion contexts, but deletes the final consonant in inversion (HÖHLE 1997). In one particular East Dutch dialect, i.e. the dialect of Vriezenveen, something different can be noticed. HÖHLE (1997) refers to the following paradigm in the present and in inversion for this East Dutch dialect, which was heavily influenced by the Westphalian dialect (ENTJENS 1968). The unitary inflection ending is -t in the present and -n in the past forms in non-inversion contexts. In the 2nd p.pl., the -t drops in the present (11b) and the -en is dropped in the past (12b). In the 1st p.pl. the ending -en is kept in the past, whereas the present ending -t changes to -en. Consequently, this means that some modern Low German dialects distinguish all persons and numbers in the present tense, but solely in inversion. In non-inversion contexts, the unitary inflection is maintained.

98 (11)

Melissa Farasyn

a. b. c.

wii/ii/zii kiikt ‘we/you/they look’ kiik ii ‘look.2PL you’ kiiken wii ‘look.1PL we’ (HÖHLE 1997, 109, ex. 4, own English translation)

(12)

a. b. c.

wii/ii/zii bjeten ‘we/you/they asked’ bjet ii ‘asked you’ bjeten wii ‘looked we’ (HÖHLE 1997, 110, ex. 5, own English translation) 5.3

Deletion in the Ingvæonic languages

Middle Low German does not form an isolated case in the West Germanic languages with its deletion in inversion in the plural. Especially in the Ingvæonic languages (i.e. in Old English, Old Frisian and Old Saxon), deletion in inversion is fairly common in the 1st and 2nd p.pl. Old Frisian for instance, which largely overlaps in time with Middle Low German, shows a very similar picture to the one in Middle Low German: the present plural unitary inflection ending -ath changes to -a (or later -e) when a 1st or 2nd p.pl. pronoun (respectively wi or i) follows (HOEKSTRA 2001). This happens in lexical verbs as well as in preteritepresents in Old West Frisian. Hoekstra does not find cases in Old East Frisian, which could be a coincidence due to the fact that there is only one context of a verb on -ath + a personal pronoun in the 1st or 2nd p.pl. (HOEKSTRA 2001, 347). Modern East Frisian dialects show deletion effects, which could proof that Old East Frisian had deletion as well, and that the phenomenon is thus quite old (i.e. from before the first charters dating from about 1300). Deletion in the 1st and 2nd p.pl. is also robustly attested in Old English. HOGG / FULK (2011, 214–215) and BENSKIN (2011) mention that the deletion is most typical for West Saxon Old English. We conducted a search through the York-Toronto-Helsinki Parsed Corpus of Old English Prose (YCOE, TAYLOR et al. 2003), which shows that deletion of the final consonant happens in Old English prose in 61 % of all the occurrences of a verb followed by a 1st or 2nd p.pl. pronoun. Just like in Middle Low German and Old Frisian, the deletion can happen in all kinds of verbs and in present as well as in past forms. The deleted ending can be -t/-n for lexical verbs and -n in have, auxiliaries and modal verbs.

Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German

5.4

99

Deletion in other West-Germanic languages

Examples of inversion with a first or second person pronoun in the Old Dutch dictionary (ONS, PIJNENBURG et al. 2009, annotated with morphology and flexion) are sparse. They show that there is exactly one form with deletion (13a) in inversion, alternating with several ones without deletion (13b). It must however be mentioned that the example with deletion could be influenced by the Old High German (OHG) original of the text. In Middle Dutch (MD), deletion is more frequent, but certainly not as frequent as in Middle Low German. (13)

a.

b.

wanda uano thir Christo heyze wir Christiani because of you Christ name.1PL we Christians ‘Because from you, Christ, we are named Christians’ (“Leiden Williram”) Zich mich nah thir, so louphen wer in themo stanke thinero saluon. pull me to after you, so walk we in the fragrance of your ointment ‘Take me in tow, so we walk in the fragrance of your ointment’ (“Leiden Williram”)

As BRAUNE (2004, §307, remark 5 & 7) mentions, Old High German displays deletion effects as well, but only in later texts, as for instance in “Williram”. PAUL (2007) mentions that the -n in the first person plural often drops in Middle High German of the 13th and the 14th century and thus partly overlaps in time with Middle Low German, only when the pronoun follows the verb. Further research will need to ascertain if deletion in Old High German and Old Dutch might be borrowed through language contact, as these languages seem to be affected to a much lesser extent than Middle Low German, Old English and Old Frisian. 6 6.1

ANALYSIS

Original environment and spread

The absence of the final consonant in Middle Low German is virtually omnipresent, which makes it very difficult to trace if it might have originated in one specific environment. Another difficulty with tracing the origins of the structure is the fact that Old Saxon has no occurrences of deletion at all. One might argue that deletion is just not visible since the amount of data is too small, and that Old Saxon could have had sparse examples of deletion that coincidentally not showed up in the small amounts of texts that still exist. This hypothesis has been tested with FISHER’S exact test by comparing the amount of examples with and without deletion within the Old Saxon and Old English datasets. The result shows that the difference between deletion in Old Saxon and Old English is statistically significant on the 1 percent level (p < 2.2-16), i.e. the fact that the Old Saxon text(s) (fragments) show no deletion, is not a coincidence. The datasets show no significant

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correlation and thus are completely different concerning deletion. This could mean that the deletion in Old Saxon only developed after the 9th century during the time in which there is an attestation gap. On the other hand, it could support the criticized position of the attested Old Saxon text fragments as representative for the predecessor language of Middle Low German. The fact that the Old Saxon documents might not be representative for the spoken Old Saxon language could be supported by the fact that the closely related Old Frisian and Old English do have deletion and by the fact that Middle Low German has it in such a great extent, even in the earliest texts. The deletion in Old English in particular suggests that the deletion is a much older phenomenon, which has been present in Ingvæonic even before the angelsächsische Landnahme, i.e. the Anglo-Saxon settlement of Britain from the early 5th century onwards (cf. SANDERS 1973, 30). The large amount of Old English data in which deletion is common – though not as common as in Middle Low German, can indirectly shed a light on the question whether it originated in a certain environment from which it spread. In order to test this hypothesis, we designed multiple queries to search through all clauses with a finite verb followed by a 1st or 2nd p.pl. pronoun in inversion in the YCOE (TAYLOR et al. 2003), excluding forms of be. The output shows that person, type of verb and tense have a statistically significant influence on the possibility of deletion and that the verbs actually do seem to spread from a specific environment. person tense

type

endings with endings without percent total cases deletion deletion deletion

2PL

present

LEX

268

61

329

81.46 %

2PL

present

MHA

57

23

80

71.25 %

2PL

past

LEX

38

19

57

66.67 %

1PL

past

MHA

5

3

8

62.50 %

1PL

present

MHA

120

82

202

59.41 %

2PL

past

MHA

4

5

9

44.44 %

1PL

present

LEX

113

149

262

43.13 %

1PL

past

LEX

16

55

71

22.54 %

621

397

1018

61.00 %

Totals:

Table 7: Percent of deleted endings in inversion in the YCOE, by person, time and verb type

In the first place, the deletion is significantly more common in the 2nd than in the 1st p.pl., as the former person has deletion in about 68.15 % of the cases, while 1st person only has it in 46,36 % of all cases (p = 5,784e-13 in a chi-squared test of independence). A further relevant distinction is one between lexical verbs and modals/have and auxiliaries (henceforth MHA verbs), which are all labeled separately in the corpus. The latter always have -n as an ending in the plural, unlike

Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German

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the lexical verbs, which have -t. Combined with the distinction in person, the deletion is most common in lexical verbs in the second person plural (68.37 % of all cases), but only slightly less frequent in the MHA verbs (deletion in 67.03 % of all inversion cases). The difference between both is not statistically significant for 2nd p.pl. in a chi-squared test (p = 0.985), which means that 2nd p.pl. present (in both lexical and MHA verbs) is a relevant environment for the origin, in any verb type. The percentages for deletion in the 1st p.pl., however, are lower and differ between the verb types: there is 60 % deletion in MHA verbs, but only 30 % in lexical verbs, which is statistically significant in a chi-squared test of independence (p = 0.004981). Furthermore, tense has a statistically significant influence on the occurence of deletion as well: deletion in the present happens in 61 % of all cases in the present, whereas it happens in the past in only 39 % of all past cases (p = 4.478-06 in a chi-square test). Combining these three parameters together results in the in table 7, which shows that the leading environment for deletion is 2nd p.pl. verbs in the present tense. The deletion is least common in 1st person lexical verbs in the past tense, with a difference of almost 60 %. The assumption that deletion in Middle Low German originated from the same environment as it did in Old English, i.e. the 2nd p.pl., is supported by the fact that examples of polite addressing of single persons using the 2nd p.pl. form in Middle Low German letters contain deletion as well, as mentioned in 2.1. Furthermore, related Standard Dutch also has these effects in the 2nd sg. As in Middle Low German, the ending of the verb in the 2nd sg. in Dutch results from the ending of the 2nd p.pl. in polite addressing. An example of deletion of the final consonant in the 2nd p.pl. in Dutch and in the formal addressing of a single person in Middle Low German is given in examples (14a) for inversion and in (14b) for non-inversion for Dutch, and in (14c) and (14d) for inversion and non-inversion in Middle Low German respectively. (14)

a. b. c.

d.

Jij klaagt elke dag over iets anders. you complain.2SG every day about something different ‘You complain about something different every day.’ Klaag jij elke dag over iets anders? complain you every day about something else ‘Do you complain about something different every day?’ gy heffet my gesant x gulden you have.PL me.ACC sent ten guilder ‘You have sent me ten guilder’ (“Göttinger Liebesbriefe”) des moghe gy gelouen my this may.2PL you believe me ‘You may believe me in this’ (“Göttinger Liebesbriefe”)

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Applying the stages of spread from table 7 to the modern Saxon dialect data of Vriezenveen, the verbal paradigm corresponds to the data given in 1.2, in which deletion happens in all forms the second person plural, in the present as well as in the past. Deletion also happens in the first person plural in the present, but does not apply in the first person plural in the past. The Old English data show that the deletion started and spread from the 2nd p.pl. verbs. In addition to this, HOGG / FULK (2011, 215) suggest, following BAMMESBERGER (1981, 80), that deletion might have been initiated by anology to the 3rd p.sg. in the optative mood. Furthermore, they mention that “Gmc [Germanic] subjunctive corresponds formally to the PIE optative rather than to the PIE subjunctive, and hence in many handbooks it is called an optative” (HOGG / FULK 2011, 211). BRUNNER (1965, 276–277) argues for an origin in the optative as well, especially because the verb in inversion takes the stem vowel of the optative. Unfortunately, this hypothesis can not be tested in the YCOE, as plural forms in -e followed by a plural subject pronoun always stay unmarked in the corpus (cf. Part-of-speech Reference Manual)4. The Middle Low German examples, in which the subjunctive plural forms of sin do lose their ending and the indicative ones don’t, speak in the advantage of such an origin in Middle Low German. 6.2

Phonological and syntactic conditions

The last part of this section deals with the questions (i) why another verb form arises, (ii) why deletion exclusively takes place in inversion, (iii) why it happens only ever in the first and second person plural and (iv) why the ending of the imperative is not affected. Assuming that 2nd p.pl. verbs (possibly in the optative mood) must have been the leading environment for change in Old Saxon/Middle Low German as well, the deletion might have been purely phonological and due to the initial velar in the pronoun. This might have been accelerated by analogy to the 1st and 3rd person (polysyllabic) verb forms, which were identical to the 2nd p.pl. one after deletion (e.g. hebbe ick ‘have I’). A question still needing to be dealt with is why the deletion does spread to the 1st, but not to the 3rd p.pl. A possible reason for that is phonological as well, as the coda of the third person plural ending in indicative and imperative used to be longer (-nð) and pre-existed quite long until changing to the unitary inflection ending. This can still sometimes be seen in forms in which the nasal before the spirant ð is still written in Old Saxon (GALLÉE 1891, 246). This complex coda may have blocked deletion. Two elements can support this theory. In the first place, table 7 showed that the deletion originates in the present tense, which is the only tense in which the ending -nð used to occur (cf. 5.1). A second argument is that deletion often does not happen in forms of the verb sin ‘to be’. The fact that sin only sometimes drops -n/-t/-nt at the end of the verb could be due 4

URL: ; last accessed: 9/22/2017.

Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German

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to the fact that sin is an irregular, suppletive verb, consisting of three different roots (NÜBLING 2000, 296), and therefore behaves different from other verbs consisting of a root and an ending. On the other hand, it is possible that deletion is blocked due to the complex coda in synt as well, as the deletion does apply in all subjunctive forms of sin (i.e. were instead of weren [cf. 4.4]). Still, the absence of the final consonant cannot be purely phonological: deletion in Middle Low German does for instance not happen in any sequence of consonant/coda and initial velar (for instance dat gold ‘that gold’, dat geschah (‘that happened’), de sassen weren grote lude ‘the Saxons were tall people’, all from “Sassenchronik”). It also does not happen in the same syntactic sequence of complementizer and pronoun in the same position as verb and 1st or 2nd person pronoun in inversion (nor in any other person) in Middle Low German (for instance dat gi […] scolen anbeden ‘that you […] will worship’, from “Qvatuor Evangeliorum versio Saxonicum”). Complementizer agreement is however possible in this exact environment in other (non-Ingvæonic) Westgermanic dialects (cf. HOEKSTRA 1997), as for instance in West-Flemish (HAEGEMAN / VAN KOPPEN 2012) and Bavarian (WEISS 2005). The change is consequently in all probability linked to these clausal positions as well. Deletion only happening in a sequence of verb and pronoun has been linked to the fact that verb and pronoun seem to form some sort of unit. ZWART (2012) proposes, basing on GOEMAN (2000), that Dutch dialects develop complementizer agreement via analogic extension of a pattern developed by 1st sg. forms of monosyllabic auxiliaries forming a morphophonological unit with unstressed pronouns. The idea of a unit consisting of verb and pronoun is appealing and has been formulated earlier by SOLA (1996). He proposes that the enclisis of a pronoun can convey a morpheme in itself, independently of the content of the host, but does not elaborate in-depth on this idea. A more tangible variation on the idea of a unit has been formulated by ACKEMA / NEELEMAN (2003, 2017) using the framework of Distributed Morphology and bases partially on phrosody (DM; HALLE / MARANTZ 1993, 1994; BOBALJIK Ms. 2015). ACKEMA and NEELEMAN (2003, 2017) propose the deletion to be an interface phenomenon within phonological phrases in which readjustment rules can apply. In that way, the spell-out of features can be triggered or inhibited. This approach is particularly interesting for the Middle Low German data, as 1st and 2nd p.pl. pronouns differ from 3rd p.pl. pronouns in features in that they carry speech act participant features, i.e. a speaker feature in the 1st p.pl. and a participant and a speaker feature in the 2ndpl. Concretely, ACKEMA and NEELEMAN (2003) give the Standard Dutch second person singular examples of jij loopt (‘you walk’) and loop jij (‘do you walk’, lit. ‘walk you’). They state that the observed alternation is due to an allomorphy rule that applies on the underlying morphological features if verb and pronoun belong to the same prosodic phrase. The difference between clauses with inversion and subject initial ones is that subject and verb belong to the same prosodic phrase in inversion (15a), whereas they belong to a different prosodic phrase in clauses without inversion (15b). In languages with a leftalignment property, the right edges of XP’s correspond to the right boundaries of

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prosodic phrases, as can be seen in (15c) for inversion and in (15d) for noninversion contexts. (15)

a. b. c. d.

{bidde wie} {wie}{bidden} [CP [C bidde [IP [DP wie] [...]]]] [IP [DP wie] [I bidden] [...]]

We propose a change that originates in the prosodic phrase of 2nd p.pl. verb in the subjunctive mood followed by the 2nd p.pl. pronoun, phonologically triggered by the adjacency of the consonant in the coda of the verb and the initial velar of the pronoun and accelerated by analogy to the 1st and 3rd p.sg. Deletion analogically extended to the first person plural, but not to the 3rd, as it is blocked by the longer coda. This results in the deletion of the final consonant in 1st and 2nd p.pl., as opposed to 3rd p.pl. In this way, the phonological change is reinterpreted as a systematic one. The deletion spreads to other moods and tenses by analogical levelling. It remains a feature specific to 1st and 2nd person environments, even when -nð in the 3rd person is completely lost, consolidating the Einheitsplural. The allomorphic rule behind the new systematic change in Middle Low German means that the common morphosyntactic features that are carried by the verb and the pronoun and which are normally only spelled out by the pronoun will be spelled out by the verb as well in this specific environment, if the verb and the pronoun holding a common plural feature are in the same phonological phrase. In non-inversion context, only the plural feature is spelled out, resulting in the regular endings of the Einheitsplural. The rule for the 1st p.pl. is given in (16a), the one for the second person plural in (16b). A change in the 3rd p.pl. is consequently impossible, as it is impossible to express more or less features than the one that is expressed already (i.e. plural (Plr)). (16)

a. b.

{[V Plr]…[D Plr, Prt]}→{[V Plr, Prt]…[D Plr, Prt]} {[V Plr]…[D Plr, Prt, Add]}→{[V Plr, Prt, Add]…[D Plr, Prt, Add]}

That is, although orthographically, the -n/-t is deleted in 1st and 2nd p.pl., an extra feature actually is expressed. Two interpretations of mapping the speech act participant features to spell-out in Middle Low German are possible: One option is that only the feature Participant has a phonological expression, the other is that both Participant and Addressee have a phonological expression, but are identical in the Middle Low German examples from the corpus. The latter option is supported by data from the modern Low German dialects, i.e. from Vriezenveen (cf. 1.2), in which all persons and numbers are distinguished for each person, but only in inversion. The expression of more information with a reduced form may seem surprising from a point of view of iconicity, but is supported by similar findings about complementizer agreement in other West Germanic languages. In case of complementizer agreement, more features are expressed in this specific domain as well. In

Alternating endings in the plural verbal paradigm in Middle Low German

105

languages with complementizer agreement, the endings on C are moreover identical to the inversion endings on the verb (ZWART 1993). A last point that should be addressed is the status of the expressed subject/agent in imperatives. This because clauses with imperatives seem to map exactly with 2nd p.pl. phonological phrases with inversion on the first sight, although no deletion applies. Examples like (17), however, seem to show that imperatives might be located further to the left than other verbs. Here for instance, there is an interjection of o between the imperative and the vocative. (17)

Seet o sote maria […] see.IMP-2SG INTJ sweet Mary ‘See o sweet Mary […]’ (“Dat myrren bundeken”)

This could mean that the imperative in these Middle Low German examples is not part of the same phonological phrase as the subject, or too far away in the structure to form a phonological unit. This suggests that it plays a role in deletion whether the verb immediately dominates the pronoun or not, as there is never an intervener between verb (with deletion) and pronoun in inversion in our corpus. This would explain why deletion is not possible in the Middle Low German data in imperatives with either an overt or a covert agent/subject. 7

CONCLUSION

In this paper, we focused on a special kind of verbal ending in Middle Low German arising in inversion contexts in the 1st and 2nd p.pl., as in those cases, the regular consonant in the unitary inflection ending, i.e. -t/-n, is absent. Based on an extensive corpus study delivering new data from the whole period in which Middle Low German was written, we showed that this type of deletion is robustly attested in the corpus. Furthermore, we shed a light on the syntactic distribution of deletion in Middle Low German. Indirect evidence from closely related languages suggests that person, tense and type of the verb had an influence on the emergence of the structure, which most probably dates from before the angelsächsische Landnahme, as there are numerous examples from Middle Low German, Old English and Old Frisian. The reason of the origin of the structure was phonological, emerging in a context where verb and pronoun form a phonological phrase, with a sequence of a verbal coda containing a consonant and an initial velar in the pronoun. However, the structure soon developed a systematic character, as a different ending in 1st and 2nd p.pl. corresponds to a distinction between regular plural markings and a speech act participant marker. This results in the situation in some modern Low German dialects, which distinguish all persons in the plural again, but only in inversion.

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PORTRAIT OF THE CLITIC AS A YOUNG AFFIX: INFINITIVISCHES ZU IM NIEMANDSLAND ZWISCHEN MORPHOLOGIE UND SYNTAX1 Oliver Schallert 1

EINLEITUNG

Infinitivkonstruktionen und Dialekte haben gewisse Gemeinsamkeiten mit dem Organisierten Verbrechen: Sie sind (beinahe) allgegenwärtig und demjenigen, der ihnen sein Leben widmet, bieten sie kaum Ausstiegsmöglichkeiten ohne Gefahr wenn nicht für Leib und Leben, so doch für die seelische Gesundheit. MICHAEL CORLEONE, mein Lieblingsmafioso, hat für diese fatale Anziehung, der auch ich unterliege, die passenden Worte gefunden („The Godfather“, Teil 3): „Just when I thought I was out, they pull me back in.“ Weil nicht alles, was hinkt, ein Vergleich ist, kommen wir zum Thema: Gegenstand des Artikels, den Sie, geneigte Leserin und geschätzter Leser, in Händen halten, ist der Infinitivmarker zu und seine morphosyntaktischen Merkwürdigkeiten. Ich werde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass eine sprachgeschichtlich und dialektologisch informierte Perspektive einiges dazu beitragen kann, synchron seltsam erscheinende Gegebenheiten in ein anderes Licht zu rücken. Zuerst werde ich auf die morphosyntaktischen Eigenschaften des Infinitivmarkers im Standarddeutschen eingehen (Abschn. 2). In diesem Zusammenhang werde ich auch auf verschiedene grammatische Zweifelsfälle eingehen, für die zu den Anlass bildet. Daran anschließend (Abschn. 3) stelle ich einige allgemeine Informationen zur Entstehung des zu-Infinitivs zusammen und verwende diese als Grundlage, um einige Konstruktionsmuster, die die modernen Dialekte zeigen (Dislozierung bzw. Doppelung von zu, dessen Verhalten in Koordinationen) einzuordnen. Dann geht es um die Frage, wie eine befriedigende grammatiktheoretische Modellierung 1

Beim vorliegenden Artikel handelt es sich um eine Ergänzung zu dem, was ich in SCHALLERT (2018) zur zu-Problematik zusammengetragen habe. Ich möchte ANTJE DAMMEL für die Einladung nach Münster im November/Dezember 2018 danken, wo ich einige der hier ausgearbeiteten Gedanken im Rahmen einer Vorlesung präsentieren konnte. Einige Anregungen habe ich von LEA SCHÄFER (Düsseldorf) bekommen, die eine Vorversion dieses Artikels gelesen und kommentiert hat. Verbunden fühle ich mich auch ROLAND HINTERHÖLZL, der als anonymer Gutachter fungierte (sich dann aber zu erkennen gab) und dem ich den einen oder anderen Schubser in die richtige Richtung verdanke. Verbliebene Fehler und Bullshit gehen allein auf mein Konto. Zuletzt möchte ich Augustin Speyer und seinem Team – insbesondere Julia Hertel und Philipp Rauth – für editorischen Beistand und die große Geduld danken, die sie mit mir hatten.

110

Oliver Schallert

dieses Phänomens aussieht (Abschn. 4). An letzter Stelle gibt es neben dem gewohnten Fazit noch einige Überlegungen zu seiner (kurzzeit-)diachronen Entwicklung (Abschn. 5). 2

MORPHOSYNTAKTISCHE EIGENSCHAFTEN VON ZU

Beginnen wir mit den morphologischen und syntaktischen Eigenschaften des Infinitivmarkierers zu (< ahd. zi, za). Ein klassisches Problem der deutschen Syntax ist der kategoriale Status dieses Elements: Handelt es sich hierbei um eine Partikel (also ein freies Morphem) oder ein Affix (sein gebundenes Gegenstück)? Nach mehrheitlicher Auffassung ist letzteres der Fall (VOGEL 2009, 327, Fn. 15), wofür sich verschiedene Argumente ins Feld führen lassen (siehe die Diskussion bei HAIDER 2010, 272–273). So geht auf BECH (1955, 15) die Beobachtung zurück, dass zu wie echte Flexive in Koordinationen nicht ausgelassen werden kann, vgl. (1); diese Eigenschaft wird bei ihm unter dem Begriff „Statuskongruenz“ subsumiert. (1)

a. b.

Er versuchte gleichzeitig [zu essen und *(zu) trinken] [Goethe*(s) und Schillers] Werke

Nun zeigt aber (2a), dass genau dies bei kognatem to im Englischen erlaubt ist, was auf einen relevanten syntaktischen Unterschied zwischen den beiden Sprachen hinweist. Überdies kann dieses Element vom zugehörigen Verbstamm abgetrennt werden (2b). (2)

a. b.

He tried to [eat and drink at the same time] … to boldly go where no man has gone before (Star Trek)

In Ellipsen-Kontexten wie (3) darf to im Englischen nicht getilgt werden, was ebenfalls darauf hindeutet, dass es einen eigenen Phrasenkopf – und kein Flexionselement – darstellt. (3)

They are [VP laying eggs now], just like they used to [VP _] (HAIDER 1993, 234)

Ein Problem für die Affix-Analyse stellen Daten wie (4a) dar. Sie zeigen, dass die zu-Markierung auf den rechten Rand des Verbalkomplexes beschränkt ist (MERKES 1895; BECH 1963, 291–292). Bei Prozessen wie der Auxiliar-Voranstellung (z. B. in Ersatzinfinitiv-Kontexten) muss es zurückgelassen werden, was am Unterschied zwischen (4a) und (4b) ersichtlich wird; im Niederländischen gilt diese Beschränkung nicht (4c).

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

(4)

a. b. c.

111

Ich glaube, es haben tun zu können. ??Ich glaube, es tun gekonnt/können zu haben. Ik geloof het te hebben kunnen doen. 2.1

Grammatische Zweifelsfälle

Dass mit zu etwas nicht ganz koscher ist, lässt sich daran erkennen, dass dieses Element Quelle verschiedener grammatischer Zweifelsfälle ist. Die Unsicherheit, was denn bei formseitig teilidentischen Varianten die standardsprachlich korrekte sei (so die Definition von KLEIN 2003, 7), kann als Indikator dafür gewertet werden, dass ein gerüttelt Maß an Variation vorliegt bzw. grammatisch etwas im Fluss ist. Bei zu sind es zwei Auffälligkeiten, auf die der entsprechende „Duden“Band hinweist (HENNIG 2016, 1060): 1. Vermeide zu-Haplologie à la (5a)! 2. In Koordinationen wie (5b) sollen beide Konjunkte mit dem Infinitivmarkierer versehen werden! Ich werde später noch auf diese beiden Strukturen eingehen und zu zeigen versuchen, dass sie uns wertvolle Einsichten in die Funktionsweise grammatischer Systeme und deren Sollbruchstellen liefern. (5)

a. b.

Ich hoffe mich §(zu) erkennen geben zu können. Es begann zu stürmen und §(zu) schneien.

Widmen wir uns zuerst einem Zweifelsfall (oder besser: Problemfall), der dem „Duden“ entgangen zu sein scheint: Wie würden Sie, geschätzte Leserin und geneigter Leser, nach Ihren muttersprachlichen Intuitionen die infinite Variante von (6a) formulieren, d. h. einen Infinitivsatz mit den drei Verben in geschweiften Klammern (6b) bilden? (6)

a. b.

Ich hoffe, dass ich Ihnen damit habe helfen können. Ich hoffe, Ihnen damit {haben, können, helfen}

Teilen Sie die folgende Einschätzung? Wie man es dreht und wendet, es scheint hier keine wirklich gute Lösung für einen Infinitivsatz zu geben. Zur Illustration seien in (7) einige Fehlzündungen angeführt. HAIDER (2011, 228–229) zitiert eine für die Tücken dieses syntaktischen Kontexts illustrative Diskussion aus dem DaF-Onlineforum „Café Deutsch“, die mit Restzweifeln bei Variante (7b) als Lösung endet. Werfen wir noch einen genaueren Blick auf eine andere dieser Varianten: Bei (7a), unten wiederholt als (8a), liegt die „teilinvertierte“ Abfolge 3-1-2 vor,2 die in 2

Indizes kennzeichnen wie üblich die Einbettungstiefe der einzelnen Verben.

112

Oliver Schallert

süddeutschen Dialekten bzw. Regiolekten nicht ungewöhnlich ist – man vergleiche das finite Gegenstück in (8b) –, allerdings tragen alle Verben die „falsche“ morphologische Markierung: Statt geholfen (Partizip II) wäre helfen zu erwarten; der reine Infinitiv bei haben überrascht, denn es wäre zu haben zu erwarten; bei der Form zu können schließlich ist es die zu-Markierung, die hier nicht hingehört, denn wenn es mit normalen morphosyntaktischen Dingen zuginge, wäre man auf können als Ersatzinfinitiv von gekonnt gefasst. (7)

(8)

a. b. c. d.

Ich hoffe, Ihnen damit {haben, können, helfen} ?geholfen haben zu können ?helfen gekonnt zu haben ?haben helfen zu können …

a. b.

Ich hoffe, Ihnen damit geholfen haben zu können. %Ich hoffe, dass ich Ihnen damit helfen habe können.

Um die Katze aus dem Sack zu lassen: Es handelt sich hierbei um eine Spielart der sogenannten „Skandalkonstruktion“ (REIS 1979), der in letzter Zeit wieder stärkere Aufmerksamkeit vonseiten der Grammatiktheorie zuteil geworden ist (siehe z. B. VOGEL 2009; WURMBRAND 2012; SALZMANN 2017; HINTERHÖLZL 2018). Das bekannteste Beispiel für dieses syntaktische Muster stammt aus dem „Spiegel“ und wird bei REIS (1979, 15) zitiert: (9)

Eine Pariserin namens Dimanche soll sich ein gewaltiges Stirnhorn operativ entfernt haben lassen.

HAIDER (2011, 224) sieht in dieser Konstruktion eine „grammatische Illusion“; darunter versteht er Phänomene, die von (einigen) Sprechern als akzeptabel beurteilt werden, aber offenkundige grammatische Restriktionen verletzen. Seiner Meinung nach handelt es sich hierbei um das Spiegelbild von Garden-path-Sätzen, die ja grammatisch sind, aber qua Intraktabilität als unakzeptabel empfunden werden. Typische Beispiele für diese Konstruktion sind flektiertes genug (als einziger rechtsköpfiger Modifikator, der sich in dieser Form in allen westgermanischen Sprachen findet) in Beispielen wie eine groß genug-e Summe oder syntaktische Haplologie bei Reflexivkonstruktionen (HAIDER 2011, 239). Wie der Kontrast zwischen (10a) und (10b) zeigt, kann im selben einfachen Satz ein formgleiches Argument getilgt werden, was in eklatantem Widerspruch zum ThetaKriterium steht. (10)

a. b.

Lass uns (uns) dort treffen. Man riet uns, *(uns) dort nicht zu treffen.

Einschlägig ist auch der bekannte Missing-VP-Effekt (z. B. GIBSON / THOMAS 1999), der im Falle von mehrfach zentral eingebetteten Relativsätzen dazu führt,

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

113

dass sich der Parser wegen überlastetem Arbeitsspeicher sozusagen mit Wohlgefallen abwendet (siehe dazu auch die Diskussion bei HAIDER 2011, 240). So zeigte die Untersuchung von HÄUSSLER / BADER (2015) zum Deutschen, dass ein Stimulus-Satz wie (11a) mit jeweils einer elidierten VP zwar signifikant schlechter beurteilt wird als dessen vollständiges Gegenstück, aber immer noch überraschend bzw. unerwartet gut (41 % Akzeptanz bei fehlender VP2, 33 % bei fehlender VP1; siehe HÄUSSLER / BADER 2015, 9–10). Sobald aber die beiden Relativsätze extraponiert werden, wie dies in (11b) veranschaulicht ist, lässt sich der Parser nicht mehr hinters Licht führen und jedes unentschuldigte Fehlen einer Relativsatz-VP führt zu Unakzeptabilität. (11)

a. b.

Ich habe gehört, dass seit heute Mittag die Praktikantin, die den Systemabsturz, der die Technikerin für etliche Stunden beschäftigt hatte, [VP2 verursacht hat,] [VP1 verschwunden ist.] Ich habe gehört, dass seit heute Mittag die Praktikantin [VP1 verschwunden ist], die den Systemabsturz [VP2 verursacht hat], der die Technikerin für etliche Stunden beschäftigt hatte.

Und zum Schluss eine vieldiskutierte semantische „Illusion“, die bei HAIDER (2011) nicht erwähnt wird und die sich auf die korrekte Verrechnung der Negation bezieht (zuletzt mit Zweifel am Illusionscharakter, vgl. FORTUIN 2014): (12)

a. b.

No head injury is too trivial to be ignored. No missile is too small to be banned. (WASON / REICH 1979)

Der Knackpunkt ist folgender: Wieso interpretieren wir (12a) nicht nach dem Muster von (12b)? Offensichtlich ist es medizinisch nicht ratsam, Kopfschmerzen zu ignorieren, egal wie leicht sie sind.3 Diese Illusion scheint übrigens auch im Deutschen zu funktionieren (13a); interessanterweise verschwindet der Effekt aber, wenn man den kopf-finalen Modifikator genug verwendet (13b). (13)

a. b.

Dinge, für die wir nicht zu dumm sind, um darauf reinzufallen. Dinge, für die wir nicht dumm genug sind, um darauf reinzufallen.

Ob man nun die Skandalkonstruktion in ihren verschiedenen Spielarten als Ganzes ins Mordor der Ungrammatikalität verbannen sollte, ist eine Frage, die wir hier nicht abschließend klären können, aber ich werde eine Lanze brechen für die Ansicht, dass zumindest das falschplatzierte zu nicht dorthin gehört. Dieses Phänomen verhält sich gerade in den Dialekten viel zu regulär und vorhersagbar, als dass man ihm einfach das Bleiberecht als grammatische Konstruktion entziehen 3

Der netzaffinen Leserin sei ein hervorragender Beitrag zu diesem Phänomen im Blog „Languagelog“ empfohlen. URL: ; Stand: 27.07.2018.

114

Oliver Schallert

dürfte. Die morphosyntaktischen Eigenschaften sowie das Stellungsverhalten von standarddeutschem zu sind jedenfalls nicht so anormal, wie man das angesichts der bisher diskutierten Daten vermuten möchte. So habe ich bei einem Gastvortrag an der Universität Münster im letzten November die Gelegenheit beim Schopf gepackt, um die Befragung von HAIDER (2011) zu replizieren und in Beziehung zu setzen zu einer älteren (und kleineren) Befragung, die ich seinerzeit (WiSe 2013/14) mit Studierenden der Universität Mainz durchgeführt habe.4 Die Ergebnisse entsprachen nur teilweise meinen Erwartungen, und da sie auch für unser Thema von Relevanz sind, seien sie an dieser Stelle referiert: Die Aufgabe für die Befragten bestand darin, die in (14a)–(16a) vorgegebenen dass-Sätze jeweils als Infinitivsatz umzuformulieren, und zwar möglichst unter Beibehaltung der beteiligten Verben. (14)

a. b.

Man glaubt, dass man das nicht hat finden können. Man glaubt, [...]

(15)

a. b.

Sie behauptet, dass sie das nicht getan haben kann. Sie behauptet, [...]

(16)

a. b.

ohne dass man ihn muss haben rufen hören ohne [...]

Bei der ersten Frage (A1:1), deren Vorgabe in (14a) wiedergegeben ist und für die von Münsteraner Seite insgesamt 26 Beantwortungen vorhanden sind, liegt die Skandalkonstruktion (gefunden haben zu können; ID 2/23m) mit 4 Nennungen ungefähr gleichauf mit der „erwartbaren“ Variante (finden gekonnt zu haben; ID 12/21m5) mit 5 Nennungen; als dritte ernstzunehmende Option ist Oberfeldbildung und fehlplatziertes zu zu nennen (haben finden zu können; ID 22/26w), die vier Nennungen auf sich verbuchen kann. Bemerkenswerterweise ist die Zahl der Fehlleistungen (z. B. finites Verb zusammen mit zu-markiertem Infinitiv à la nicht habe finden zu können; ID 26/23w) hier mit 8 sehr hoch. Entweder gibt es notorische Variation oder die Informanten konvergieren zu keiner grammatischen Variante, was HAIDER (2011, 236) als zentrale empirisch fassbare Eigenschaft von „grammatischen Illusionen“ betrachtet. In Tab. 1 sind die Ergebnisse zusammengefasst und um jene der Mainzer Befragung ergänzt. Abgesehen davon, dass die „erwartbare“ Variante (siehe oben) von den Mainzer Studierenden deutlich weniger oft genannt wurde, entsprechen sich die Resultate in der Tendenz.

4 5

Den Teilnehmer*innen dieser beiden Befragungen sei an dieser Stelle mein aufrichtiger Dank ausgesprochen. Die Siglen sind nach dem Schema „Informanten-ID, Alter, Geschlecht“ zusammengesetzt.

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

A1:1 Skandalkonstruktion erwartbare Abfolge Oberfeldbildung verunglückt irrelevant Beantwortungen [Rest]6

Mainz 3 1 3 4 3 15 [1]

115

Münster 4 5 4 8 1 26 [3]

Tab. 1: Beantwortungen zur Skandalkonstruktion (Frage 1)

Bei der zweiten Frage (A1:2), wiedergegeben als (15a) oben, ist die Skandalkonstruktion ganz klar ein Attraktor (contra HAIDER), von 27 Beantwortungen produzierten die Münsteraner Informant*innen diese 20-mal; 5 Beantwortungen enthielten irrelevante Varianten (z. B. einen eingebetteten Verbzweitsatz mit zweigliedriger rechter Satzklammer). Hält man wiederum die Mainzer Ergebnisse dagegen, wie dies in Tab. 2 getan ist, zeigen sich keine augenscheinlichen Unterschiede. Im Falle der dritten Frage (A2) mit der Vorgabe in (16a) oben ließen die insgesamt 25 Beantwortungen nichts Skandalträchtiges erkennen; am ehesten scheint noch die Variante mit Oberfeld (und fehlplatziertem zu) mit 6 Nennungen als Konsens zu fungieren (haben rufen hören zu müssen; ID 24/22w), gefolgt von der „erwartbaren“ Variante (rufen gehört haben zu müssen; ID 17/28w) mit 3 Nennungen. Alles andere würde ich als grammatisches Hintergrundrauschen interpretieren. Dieser Befund stellte sich in verstärktem Maße bei der Mainzer Enquête ein, denn dort umfassten gar 10 von insgesamt 15 Antworten irrelevante bzw. verunglückte Strukturmuster, wobei die 5 verbliebenen Varianten alle Einzelnennungen umfassten – darunter jene mit Oberfeldbildung sowie die „erwartbare“.

A1:2 Skandalkonstruktion irrelevant Beantwortungen [Rest]

Mainz 8 4 15 [3]

Münster 20 5 27 [2]

Tab. 2: Beantwortungen zur Skandalkonstruktion (Frage 2)

Was also tun mit dem merkwürdigen Verhalten von zu? Auf BECH (1963) geht die Einsicht zurück, dass die zu-Platzierung mit anderen grammatischen Regeln in Konflikt steht, die sich damit nicht zur Deckung bringen lassen, und zwar handelt es sich hierbei um folgende Klauseln:

6

Hinweise zu Tab. 1 und Tab. 2: Als „irrelevant“ wurden jene Wiedergaben klassifiziert, die nicht der Zielkonstruktion entsprachen (z. B. eingebetteter Verbzweitsatz statt eines Infinitivsatzes oder zweigliedrige Verbketten à la getan zu haben statt getan haben zu können usw.). In der letzten Tabellenzeile sind die Anzahl der Beantwortungen sowie sonstige Varianten („Rest“) angeführt.

116

Oliver Schallert

1. zu muss am rechten Rand des Verbalkomplexes verharren. 2. Auxiliare können bzw. müssen in bestimmten Kontexten vorangestellt werden (z. B. Ersatzinfinitivkonstruktion, werden-Futur). 3. In komplexen Perfektkonstruktionen können bestimmte Verben (z. B. Modalverben, kausatives lassen) nicht als Partizip auftreten; stattdessen tritt der Infinitiv auf (Ersatzinfinitiv). REIS (1979) hat diese Konstellation sozusagen modelltheoretisch gedeutet, und zwar in dem Sinne, dass grammatische Systeme nicht für alle Kontexte passende „Lösungen“ parat haben. Als wissenschaftstheoretischer Hintergrund spielen dabei, wie ich in SCHALLERT (2018) dargelegt habe, implizite Annahmen über den generellen Aufriss von Grammatiktheorien eine Rolle, die sich zwei konträren Positionen zuordnen lassen (PULLUM / SCHOLZ 2001; siehe auch die Diskussion bei MÜLLER 2016, Kap. 14): „Generativ-enumerative Ansätze“ sehen wohlgeformte Strukturen als das Ergebnis einer konvergenten Anwendung von Ersetzungsregeln, während „modelltheoretische Ansätze“ sie als konform zu strukturellen Beschreibungen betrachten, die von der Theorie spezifiziert sind. Oder, um diese Einsicht in Form eines alten Witzes auszudrücken, wie dies MÜLLER (2016, 490, Fn. 1) getan hat: […] in dictatorships, everything that is not allowed is banned, in democracies, everything that is not banned is allowed and in France, everything that is banned is allowed. Generativeenumerative approaches correspond to the dictatorships, model-theoretic approaches are the democracies and France is something that has no correlate in linguistics.

Beide Ansätze machen aber auch divergierende Aussagen über graduelle Akzeptabilität und damit letztlich auch über den vermeintlichen Illusionscharakter von sprachlichen Strukturmustern. Modelltheoretisch betrachtet ist sie der kumulative Effekt von verletzten (gekränkten) Beschränkungen, generativ-enumerativ ist sie die Unmöglichkeit, eine konvergente Ableitung zu finden. Diese Verhältnisse erinnern jedenfalls an SAPIRS (1921, 39) bekanntes Diktum, wonach Grammatiken Systeme mit „Lecks“ sind: Were a language ever completely “grammatical” it would be a perfect engine of conceptual expression. Unfortunately, or luckily, no language is tyrannically consistent. All grammars leak.

2.2

Der Status von zu

Wenden wir uns nun etwas genauer der Frage zu, welcher syntaktischen Kategorie zu angehört. Eingangs wurde erwähnt, dass eine Affix-Analyse mit Blick auf die Koordinationskontraste plausibler erscheint, wenngleich die Dislozierungsbefunde damit nicht gut in Einklang zu bringen sind. Es könnte auch der Fall sein, dass zu einen Sondertyp eines freien Morphems darstellt, nämlich ein (spezielles) Klitikum (im Sinne von ZWICKY / PULLUM 1983) oder gar ein phrasales Affix, was etwa der Ansicht von VOGEL (2009, 324) entspricht, der davon ausgeht, dass die-

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

117

ses Element an das letzte Verb im Verbalkomplex affigiert wird: Während der reine Infinitiv und das Partizip II als morphologische Varianten von Verben anzusprechen sind und somit zum Gegenstandsbereich der „Wort-Morphologie“ gehörten, handele es sich beim zu-Infinitiv „um eine morphologische Eigenschaft der Verb-Phrase“. Nun sind solche Zuordnungen nur insofern aussagekräftig, als sie in hinreichender Tiefe auf strukturelle Gegebenheiten Bezug nehmen, und davon kann angesichts von nur zwei bemühten Diagnostika nicht die Rede sein. Daher möchte ich zuerst genauer untersuchen, ob zu typische Eigenschaften eines Klitikums aufweist oder ob es sich auch unter einer verfeinerten Betrachtung eher wie ein Affix verhält. Im Anschluss daran möchte ich noch einmal das Koordinations-Kriterium, demzufolge zu in Koordinationen nicht getilgt werden kann, einer eingehenderen Betrachtung unterziehen. ZWICKY / PULLUM (1983) schlagen verschiedene operationale Kriterien vor, die bei der Unterscheidung zwischen Affixen und Klitika helfen sollen. Als typische Vertreter der ersten Klasse sehen sie phonologisch reduzierte Auxiliare wie z. B. ’s für is bzw. has, ’ve für have im Englischen; als Vertreter der zweiten Klasse fungiert die reduzierte Negationspartikel n’t. Auch zu kann als einschlägiger Kandidat für ein schwachtoniges bzw. phonologisch reduziertes Element angesprochen werden, da in den Dialekten auch die vokallose bzw. nicht-silbische Variante z auftritt (siehe dazu Abschn. 3.2). Nun zu den Kriterien im Einzelnen ... Klitika zeigen erstens einen niedrigen Selektionsgrad, d. h. sie können mit Hosts beliebiger syntaktischer Kategorie kombiniert werden. Affixe sind demgegenüber hochselektiv. Das uns interessierende zu gehört mit Blick auf dieses Kriterium eindeutig zur letzteren Gruppe, denn es kann – Dislozierung hin oder her – nur mit Verben kombiniert werden, und zwar im Speziellen mit infinitivisch markierten (siehe auch SALZMANN 2017, 27):7 (17)

zu les-en, *zu ge-mach-t

Zweitens erscheinen arbiträre bzw. zufällige Lücken, wie sie sich typischerweise bei Flexionsparadigmen ergeben können (z. B. gibt es kein Perfekt von scheinen in seiner Verwendung als Anhebungsverb oder fehlt der Dativ des neutralen Interrogativpronomens was) im Falle von Klitika unerwartet. Für zu sind in diesem Falle keine Auffälligkeiten zu vermerken. Drittens lassen Klitik-Gruppen keine morphophonologischen Idiosynkrasien erwarten in dem Sinne, dass sie eine unerwartete phonologische Form aufweisen; Affigierungen zeigen demgegenüber durchaus Besonderheiten, beispielsweise flexionsklassenbezogene Allomorphie sowohl beim Stamm als auch beim Affix: In (20) ist ein entsprechendes Beispiel aus dem Deutschen angeführt. Je nach Verbklasse kann die 3. Pers. Sg. Präs. mit den Allomorphen t (schwache Flexion),

7

Ich ignoriere hier Fälle von zu-markierten Partizipien in attributiven Kontexten (der schwer zu verstehende Artikel). BECH (1955, 12) spricht in diesem Zusammenhang von infiniten Verbformen der Stufe II („Partizipium“).

118

Oliver Schallert

ø (Präteritopräsentien) oder mit t plus „Wechselflexion“, d. h. Umlautung oder Hebung des Stammvokals, realisiert werden. (18)

mach-t.3.SG – muss-ø.3.SG – wäsch-t.3.SG

Für zu gibt es mit dem Partizip-Präfix ge- einen interessanten Vergleichspunkt, denn für dieses Affix sind ganz eindeutig solche Restriktionen zu beobachten (WIESE 2000, 92–93): Nur trochäische (bzw. einfüßige) Partizipien können mit ihm versehen werden (19), während dies bei nicht-trochäischen nach dem Muster von (20) nicht möglich ist. (19)

a. b.

gekauft geheiratet

(20)

a. b.

*gekrakeelt *geverlobt

Orthogonal dazu kann es in jenen Dialekten, die ə-Synkopierung aufweisen, in entsprechenden Kontexten auch zu Totalassimilation oder Modifikation des stammanlautenden Konsonanten kommen (z. B. alem. binda ‘binden’ – punda ‘gebunden’, züüha ‘ziehen’– zoga ‘gezogen’; vgl. GABRIEL 2000, 155–156). Für zu-Affigierungen sind indes keine solchen Restriktionen zu beobachten. Das vierte Kriterium bezieht sich auf semantische Idiosynkrasien, die im Falle von Affigierungen zu erwarten sind (wenn auch vor allem im Bereich der Wortbildung), für klitische Fügungen indes nicht. So ergeben sich bei der englischen Negation ganz deutliche Kontraste zwischen kontrahierter und voller Version: Während (21a) die Lesart hat, dass ein guter Christenmensch auch als säumiger Kirchengänger auf Erlösung hoffen kann, ist dies bei (21b) nicht der Fall (ZWICKY / PULLUM 1983, 509). (21)

a. b.

A good Christian can nót attend church and still be saved. A good Christian {cánnot | can’t} attend church and still be saved.

Mit unserem Kandidaten sind diesbezügliche Auffälligkeiten allerdings nicht zu testen, da sich hier keine minimal variierenden Kontexte anbieten, die entsprechende Kontraste zeigten. Das interessanteste Kriterium für unsere Zwecke bezieht sich auf die Applizierbarkeit syntaktischer Regeln. Diese können affigierte Wörter erfassen, nicht jedoch klitische Gruppen. Zwischen den englischen Auxiliaren und der Negation tut sich die erwartete Sollbruchstelle auf, denn Subjekt-Verb-Inversion kann nur das letztere Element gemeinsam mit seinem Träger verfrachten (23), nicht jedoch die Vertreter der ersteren Klasse, zu sehen an (22) (ZWICKY / PULLUM 1983, 506). (22)

a. b.

You could’ve been there. *Could’ve you been there?

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

(23)

a. b.

119

You haven’t been there. Haven’t you been there.

Prüfen wir die Verhältnisse bei zu. Die bereits erwähnte Nicht-Verschiebbarkeit bei Umstellung des Trägerverbs, erkennbar an (4a) und hier wiederholt als (24a), spricht gegen dessen Status als Affix. Andererseits ist der Infinitivmarker auch bei Dislozierung immer auf einen verbalen Träger angewiesen, d. h. es gibt keine Konfigurationen, in denen zwischen zu und einem verbalen Kopf nichtverbales Material auftreten könnte, wie der Kontrast zwischen (24b) und (24c) belegt. (24)

a. b. c.

Ich glaube, es haben tun zu können. Er schien die Frage langsam zu kapieren. *Er schien die Frage zu langsam kapieren.

Im Falle von mehrgliedrigen Verbformen wie in (24c) ist die Unmöglichkeit nichtverbaler Intervenierer allerdings unabhängig motiviert, da etwa linksverzweigende Verbketten sich immer kompakt verhalten (siehe dazu die Diskussion bei SCHALLERT 2014a, 271–274): (25)

a. b.

Er scheint es haben nachvollziehen (*langsam) zu können Er hat es nachvollziehen (*langsam) können.

Als letztes Kriterium führen ZWICKY / PULLUM (1983) den Befund an, dass nur an bestehende Klitik-Komplexe weitere Klitika angefügt werden können – mit Affixen ist dies nicht möglich. Dies ist der Grund, warum eine Fügung wie I’d’ve ‘I would have’ wohlgeformt ist, aber eine wie I’dn’t ‘I would not’ nicht. Ich sehe keine Möglichkeit, dieses Diagnostikum auf den uns interessierenden zu-Fall anzuwenden. Fassen wir abschließend die Koordinationsdaten ins Auge. Wir haben die eingangs angeführten Beispiele in (1), hier wiederholt als (26), als Hinweis gewertet, dass zu wie echte Flexive in beiden Konjunkten vorhanden sein muss (siehe auch SALZMANN 2017, 37–38 für eine Diskussion dieses Aspekts). Im Vorübergehen sei erwähnt, dass die Situation im Niederländischen vergleichbar ist (vgl. ZWART 1993, 104). (26)

a. b.

Er versuchte gleichzeitig [zu essen und *(zu) trinken] [Goethe*(s) und Schillers] Werke

Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass Statuskongruenz nicht obligatorischerweise vorhanden sein muss. SALZMANN (2017, 38, Fn. 28) verweist auf Fälle, in denen zu in Xo-Koordinationen auch fehlen kann. Eine von mir durchgeführte Untersuchung anhand des DWDS-Korpus8 scheint diese Beobach8

Dieses Korpus ist online zugänglich, und zwar unter der folgenden URL: ; Stand: 27.07.2018).

120

Oliver Schallert

tung zu stützen: Während Beispiele wie (27a), die diese strukturelle Konfiguration zeigen, überraschend häufig auftreten (49 Fälle), ist die zu-Markierung bei komplexen Koordinationen immer an beiden Verben zu finden (27b) (keine Gegenbelege). (27)

a. b.

Du wirst wissen, was zu tun und lassen ist, damit alle Spaß haben. (BRAUN / NELL: „Man muß sich nur zu helfen wissen“)9 Die Franzosen haben das Recht, ihre Ansichten zu veröffentlichen und drucken zu lassen [...]. (HABERMAS: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“)10

Anhand der Zusammenschau in Tab. 3 lässt sich deutlich erkennen, dass sich zu mit Blick auf einige feinere Diagnostika nur wenig eindeutiger verhält, d. h. Affix-Eigenschaften und Klitik-Eigenschaften halten sich annähernd die Waage. Kriterium Selektion Arbiträre Lücken Morphonologische Idiosynkrasien Semantische Idiosynkrasien Zugänglichkeit für syntaktische Regeln Affigierung von Klitik-Clustern Koordination

Verhalten von zu Affix Klitikum Klitikum – Affix – Klitikum

Tab. 3: Morphosyntaktische Eigenschaften von zu im Überblick

Natürlich wäre es möglich, zu – in Ermangelung einer Vollform – als „special clitic“ (im Sinne von ZWICKY / PULLUM 1983, 510–511) zu betrachten. So schlägt NÜBLING (1992, 11–55) auch mit Blick auf dialektale Daten aus dem Pronominalbereich eine verfeinerte Taxonomie vor, die neben einfachen Klitika auf der einen und Flexiven auf der anderen Seite auch zwei Typen von speziellen Klitika umfasst, nämlich morphologisch distribuierte (M-Klitika) und syntaktisch distribuierte (S-Klitika). Die erhöhte morphologische Selektivität von zu (nur Verben) ließe sich als Indiz für dessen Zugehörigkeit zur ersteren Untergruppe werten, aber da die meisten der von NÜBLING (1992, 49–51) ins Feld geführten Abgrenzungkriterien zwischen spezieller Klise und Flexion auf unseren Fall nicht anwendbar sind, haben wir dadurch nicht viel gewonnen.

9 Leipzig 1971, S. 148. 10 Neuwied 1965 [1962], S. 83.

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

3

121

DIE DIACHRONE UND DIALEKTOLOGISCHE PERSPEKTIVE

Ich werde nun den Zweifelsfall zu aus einer diachronen bzw. dialektologischen Perspektive beleuchten. Es wird sich zeigen, dass viele der Merkwürdigkeiten, die dieses Morphem aufweist, als Indiz dafür zu werten sind, dass sich bei diesem Element sozusagen die Grammatikalisierungsschraube weiter dreht. 3.1

Zur Entstehung des Infinitivmarkers

Betrachten wir in aller Kürze die Entstehung bzw. Entwicklung des Infinitivs; im Fokus steht dabei natürlich der mit zu markierte Infinitiv, aber ich will auch den einen oder anderen Seitenblick auf den reinen Infinitiv wagen. Infinitive sind ursprünglich Nominalformen, die in Beziehung zum Verbalsystem treten (vgl. DAL / EROMS 2014, 108); nach allgemeiner Auffassung handelt es sich dabei um einen erstarrten Kasus, vermutlich einen Akkusativ des Ziels (DEMSKE 2001, 66). Noch im Althochdeutschen gibt es flektierte Formen des Infinitivs (das sogenannte „Gerundium“), und zwar sowohl in Nominalisierungen (28a) als auch regiert von verschiedenen Präpositionen (28b, c). In die letztere Gruppe gehört der Vorläufer des modernen zu-Infinitivs, der auf die allative Präposition ahd. zi, za (mit Dativrektion) zurückgeht (29). Diese Formen fallen ab mhd. Zeit allmählich mit den nicht nach Kasus flektierten Formen des reinen Infinitivs (Suffix -en) zusammen. (28)

a. b. c.

(29)

Oba ir hiar fíndet iawiht thés thaz wírdig ist des lésannes:GEN ‘ob er hier etwas findet, das des Lesens würdig ist’ (O S. 7, zit. nach DEMSKE 2001, 61)11 Nu gárawemes unsih álle zi themo féhtanne:DAT ‘nun bereiten wir uns alle auf das Fechten vor’ (O II.3.55, zit. nach DEMSKE 2001, 61) thie andere iungoron mit ferennu:INSTR quamun ‘die anderen Jünger kamen zu Schiff fahrend’ (T 337.24, zit. nach DEMSKE 2001, 61)

Tînen brûte-stûol lústet mih ze zîerenne:DAT mít sánge ‘Deinen Brautstuhl begehre ich mit Gesang zu schmücken’ (N MC 112.1b, zit. nach DEMSKE 2001, 68)

11 Morphosyntaktische Annotation: GEN = Genitiv; GER = Gerundium; DAT = Dativ; INSTR = Instrumental; SUP = Supinum; INF = Infinitiv.

122

Oliver Schallert

Nach Auffassung von HASPELMATH (1989) ist der zu-Infinitiv nun durch Grammatikalisierung der oben erwähnten allativen Präposition (plus flektiertem Infinitiv) entstanden. Neben adverbialen Verwendungskontexten, und zwar im Speziellen Finalsätzen, sei der zu-Infinitiv in Komplementfunktion anfangs allerdings nur auf Matrixverben beschränkt, die eine – wenn auch abgeschwächte – finale Bedeutungskomponente umfassten (siehe dazu auch DEMSKE 2001, 71). Diese finale Bedeutung tritt im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte immer weiter in den Hintergrund, und zwar entlang der Hierarchie in (30), die sich auf verschiedene Prädikatsklassen bezieht (siehe dazu insbesondere HASPELMATH 1989, 298–299). Demnach setzt eine Verwendung des zu-Infinitivs bei Matrixprädikaten mit irrealis-potentialer Bedeutung (z. B. modale Prädikate wie möglich sein, in der Lage sein oder evaluative Prädikate wie interessant sein usw.) auch jene bei irrealis-direktiven Prädikaten (z. B. manipulative Verben wie befehlen oder desiderative Verben nach dem Muster von wollen, bevorzugen usw.) voraus, aber nicht umgekehrt. (30)

allative → purposive → irrealis-directive → irrealis-potential → realis non-factive → realis-factive (HASPELMATH 1989, 298)

Das von HASPELMATH (1989) beschriebene Szenario ist von DEMSKE (2001, 66– 74) kritisiert worden. Sie zeigt auf überzeugende Weise, dass es nur für adverbiale Infinitive Plausibilität beanspruchen kann, wobei sie zwei wichtige Gegenargumente ins Feld führt, nämlich: Erstens ist das Auftreten des zu-Infinitivs nicht in direkter Weise an die Semantik des Matrixprädikats gekoppelt, denn schon im Ahd. zeigt eine Reihe von Verben Schwankungen zwischen Rektion eines Nullinfinitivs und eines zu-Infinitivs, ohne dass damit ein semantischer Unterschied einherginge. So kann hier auf das Verb gilimphan ‘ziemen’ verwiesen werden, aber man könnte genauso gut auch das Phasenprädikat bilinnan ‘aufhören’ heranziehen (siehe DEMSKE 2001, 72, 76). Überhaupt demonstriert die von DEMSKE (2001) durchgeführte Korpusuntersuchung zum Ahd., dass die Varianz bezüglich der Infinitivmarkierung nur in weniger Fällen semantisch gesteuert ist, sondern viel eher strukturelle Faktoren wie Subjekt- oder Objektkontrolle sowie die syntaktische Funktion des Infinitivkomplements eine Rolle spielen. Insbesondere bei Objektkontrolle durch das direkte Objekt überwiegt der Null-Infinitiv sehr deutlich, und es könnte in diesem Fall ein blockierender Effekt durch die AcI-Konstruktion vorliegen, die schon in ahd. Zeit eindeutig ohne zu konstruiert (siehe dazu insbesondere DEMSKE 2001, 76–81). Zweitens ist der von HASPELMATH (1989) aufgestellte Verlaufspfad insofern nicht mit den historischen Daten kompatibel, als zuInfinitive bereits in ahd. Zeit als Komplemente von Prädikaten auftreten, die in Bezug auf ihre Semantik erst in späteren Sprachstufen zu erwarten wären. DEMSKE (2001, 72) verweist etwa auf modale Prädikate (als Untergruppe der Klasse „irrealis-potential“ bei HASPELMATH) à la (31a) oder kognitive Prädikate („realis-non-factive“) wie in (31b).

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

(31)

a. b.

123

Sô íst únnúzze den rât íuuih zu hélenne ‘So ist es nichtig, diese Ansicht vor euch zu verbergen.’ (N MC 80.22) dhar meinida leohtsamo zi archennenne dhen heilegan gheist ‘meinte er, den Heiligen Geist deutlich erkennbar gemacht zu haben’ (Is 4.3)

Ein modifiziertes Szenario für die Entstehung des zu-Infinitivs wird von SMIRNOVA (2016) vorgeschlagen. Sie fasst insbesondere auch die Parallele zu dass-Sätzen sowie im Falle der direktiven Dativkontrollverben die Reanalyse aus attributiven Strukturen als Einflussfaktoren ins Auge. Stärker formal ausgerichtete Ansätze betrachten demgegenüber die Entwicklung des zu-Infinitivs unter dem Blickwinkel der (In-)Kohärenz der Infinitiv-Fügung sowie des Subjektbezugs, d. h. ob bzw. inwiefern Anhebungs- oder Kontrollkonstruktionen vorliegen und wie sich im letzteren Fall die Koreferenz-Eigenschaften gestalten (DEMSKE 2008, 2015; MACHÉ / ABRAHAM 2011; SPEYER 2015). Bemerkenswerterweise wird in den meisten Ansätzen die Grammatikalisierung bzw. Reanalyse von zu von einer Präposition zum Infinitivmarkierer bereits in ältester Zeit als abgeschlossen betrachtet, ohne dass hierfür eine Rechtfertigung gegeben würde.12 Am deutlichsten wird diese Annahme von SMIRNOVA (2016, 495) ausgesprochen: Es wird davon ausgegangen, dass der zu-Infinitiv in Verbindung mit den hier untersuchten Verben stets satzwertig ist, auch schon in der althochdeutschen Periode […]. Die Reanalyse der Präposition zu zu einem Infinitiv-Markierer muss also bereits in der voralthochdeutschen Zeit stattgefunden haben (worin sich formale und funktionale ,Grammatikalisierungsszenarien‘ einig sind), und über die Einzelheiten dieser Reanalyse kann angesichts der fehlenden Daten nur spekuliert werden.

Da bisher schon von Grammatikalisierung die Rede war und dieses Konzept auch im Folgenden noch eine Rolle spielen wird, möchte in an dieser Stelle eine Präzisierung einschieben. Grammatikalisierung kann allgemein als Verlust von Autonomie eines sprachlichen Zeichens verstanden werden, wobei verschiedene Parameter unterschieden werden können, die sich sowohl auf die syntagmatische als auch die paradigmatische Ebene beziehen (LEHMANN 2015, Kap. 4; siehe dazu auch SZCZEPANIAK 2011, 19–24). Für unsere Zwecke sind die folgenden dieser Parameter von Interesse … –

„Integrität“: Grammatikalisierung geht einher mit phonologischer Erosion, inhaltsseitig mit semantischer Ausbleichung (desemantization), d. h. einem Verlust an distinktiven semantischen Merkmalen.

12 Als Ausnahmen kann man DEMSKE-NEUMANN (1994, 123–124) sowie insbesondere ABRAHAM (2004, 137–144) nennen, der ein detailliertes Reanalyse-Szenario für die Herausbildung des modernen Infinitivmarkers entwirft, das aber nur sehr indirekt auf die strukturellen Eigenschaften des Infinitivmarkers eingeht (siehe dazu die Diskussion am Schluss dieses Artikels).

124 –





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„Struktureller Skopus“: Grammatikalisierung ist durch einen Verlust der syntagmatischen Bezugsmöglichkeiten gekennzeichnet (Kondensierung), die vom Satz über die Phrase bis hin zum Stamm eines Wortes reduziert werden können. „Fügungsenge“: Grammatikalisierung führt zu einer größeren formalen Abhängigkeit eines Zeichens, insbesondere zu einem höheren Verschmelzungsgrad (z. B. Klitikum > Affix). „Stellungsfreiheit“: Grammatikalisierung äußert sich in einer Einschränkung der Stellungsmöglichkeiten eines sprachlichen Zeichens, wobei sich diese schon früh zeigen kann.

Diese Parameter werden im Folgenden als Folie dienen, um die dialektalen Besonderheiten in Bezug auf die Eigenschaften von zu besser einordnen und bewerten zu können; zum Thema Fügungsenge sei auf die vorangegangene Diskussion in Abschn. 2.2 verwiesen. 3.2

Dialektale Vielfalt

In den modernen Dialekten des Deutschen ist eine große Vielfalt im Bereich der infiniten Verbalmorphologie (und freilich nicht nur dort) festzustellen. Man denke nur an die verschiedenen, syntaktisch bedingten Sonderformen, die in mehrgliedrigen Perfektformen (und einigen anderen Kontexten) vorkommen können und die bei HÖHLE (2006) beschrieben werden (er spricht von „supines“), oder Formenzusammenfälle zwischen Infinitiv und Partizip II, wie sie von SCHALLERT (2014a, b) genauer untersucht wurden. Ein Beispiel für die letztere Phänomenklasse ist in (32) wiedergegeben. Interessanterweise tritt im Alemannischen sowie größeren Teilen des Mittelbairischen eine mit dem Infinitiv übereinstimmende Form auch in Kontexten auf, in denen das Partizip obligatorisch ist, d. h. es ist kein morphosyntaktischer Unterschied mehr zwischen einfachen (mit regulärem Partizip) und erweiterten Perfektkonstruktionen (mit Ersatzinfinitiv) zu erkennen; DAL (1954) spricht in Fällen wie diesen von „Indifferenzformen“. (32)

Vorarlberger Alemannisch: Denn hät’s wid’r därige g’hã, wo’s ne(t) gua(t) könna hen. ‘Dann hat es wieder solche gegeben, die es nicht gut gekonnt haben.’ (XI/31: Satteins, nach SCHALLERT 2014b, 267)

Ein einschlägiges Beispiel für supinische Sonderformen ist in (33) angeführt. Es stammt aus dem Südniederdeutschen, das im Gegensatz zu den nördlicheren niederdeutschen Varietäten noch über ein Partizip-Präfix e- verfügt, siehe (33a). Bemerkenswerterweise wird dieses Präfix in erweiterten Perfektkonstruktionen nach dem Muster von (33b) getilgt, d. h. in diesem syntaktischen Kontext tritt eine trunkierte Version des Partizips auf, die im Falle der schwachen Verben nur am Dentalsuffix erkennbar ist. Wie (34) demonstriert, sind in anderen Varietäten auch

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

125

supinische Formen mit Vokalwechsel zu finden (HÖHLE 2006; siehe dazu auch FLEISCHER / SCHALLERT 2011, 188). Eine wichtige Quelle solcher Formen sind Kürzungs- und begleitende Irregularisierungsprozesse seit mhd. Zeit (PAUL et al. 2007, 280–284, §§ 108–113 und insbesondere NÜBLING 1995). Halten wir fest: Die Dialekte sind durch ein größeres Repertoire an infiniten Formen gekennzeichnet. Besonders interessant sind nun Szenarien, wie wir sie von der Skandalkonstruktion kennen, in denen die damit assoziierten morphologische Marker an unerwarteten bzw. „falschen“ Stellen auftreten (siehe dazu zuletzt SALZMANN 2017 sowie aus diachroner Perspektive GAETA 2013 und JÄGER 2018). Zu diesen Fällen gleich mehr. (33)

Schaumburg-Lippe, Niedersachsen: a. hei hat kont loupen (normales Partizip: ekont) er hat kann:SUP laufen ‘Er hat laufen können.’ b. wei harren wolt loupen (normales Partizip: ewolt) wir haben woll:SUP laufen ‘Wir haben laufen wollen.’ (BÖLSING 2011, 208)

(34)

Oberschwöditz, Sachsen-Anhalt: de håsd darfd driŋke (reguläres Partizip: gedorfd) du hast darf:SUP trinken ‘du hast trinken dürfen’ (TREBS 1899, 21)

Was haben nun die modernen Dialekte mit engerem Blick auf zu zu bieten? Was für Auffälligkeiten zeigt dieser Infinitivmarker und in welchen syntaktischen Kontexten tritt er auf? Leider sind zu diesen Fragen nur wenige Informationen verfügbar; eine kompakte, aber gut geordnete Übersicht findet sich bei SCHIRMUNSKI (1962, 517–518) sowie HÖHLE (2006, 63–65). Kleinteilige Darstellungen zur diatopischen Verbreitung von gerundischen Formen bieten verschiedene Regionalatlanten, z. B. SSA 3 (= STEGER / GABRIEL / SCHUPP 1996–2012, 1 301–1 302). Was die Markierung des Infinitivs selbst anlangt, sind die folgenden einschlägigen Suffixvarianten zu beobachten: Sprachlandschaftlich gerichtet ist noch die direkt auf das alte Gerundium zurückgehende Form -e(n) (< mhd. -enne) erhalten, die aber nur in bestimmten Konstellationen in formalem Gegensatz zum Suffix des reinen Infinitivs steht. So sind in jenen Dialekten, in denen das Infinitivsuffix geschwunden ist (typisch für das ostfränkisch-hessisch-thüringische Übergangsgebiet) Kontraste nach dem Muster maχ ‘machen’, tsə maχə ‘zu machen’ zu beobachten (Thüringisch [Salzungen]; HERTEL 1888), während sich in Gebieten mit n-apokopiertem Infinitivsuffix ein Gegensatz nach dem Muster von äsə ‘essen’ und tsə äsn ‘zu essen’ (Ostfränkisch; zit. nach SCHIRMUNSKI 1962, 518) zeigen kann. Insbesondere vom Alemannischen kennt man auch dentalhaltige Gerundium-Formen nach dem Muster -et/-it, die in deutlichem Kontrast

126

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zum regulären Infinitiv stehen und die sich im Mhd. in Anlehnung an Flexionsformen des Präsenspartizips mit -nd- entwickelt haben (vgl. PAUL 2007, 42, § E 32; 245, § M 70, Anm. 16 und die dortigen Verweise). Interferenzen mit dem alten Präsenspartizip werden auch für n-haltige Infinitivformen in Rektion durch futurisches werden13 oder eine Reihe weiterer Prädikate, insbesondere ECMVerben oder stative Prädikate wie stehen, bleiben oder sitzen vermutet. Typische Formen des linksperipheren Infinitivmarkers sind zə oder – phonologisch reduziert – z, die auf ahd. zi, za zurückgehen (mhd. ze). Wir haben es etymologisch mit der unbetonten Variante der allativen Präposition wg. *te zu tun, deren Vollform ahd./mhd. zuo später sozusagen als Verstärkungsform in infinitivischen Kontexten auftritt und die der modernen standarddeutschen Form zu zugrundeliegt (siehe KLUGE / SEEBOLD 2011, 1015). Wir sind also beim Parameter der „Integrität“. Die genaue sprachgeschichtliche Entwicklung ist allerdings noch nicht genau untersucht worden. HÖHLE (2006, 64) bemerkt, dass es im Ostmitteldeutschen kleinräumig auch ein be-Gerundium gibt, das ausschließlich in Rektion durch das stative Prädikat bleiben auftritt (35). In diesem Zusammenhang weist er übrigens darauf hin, dass die insbesondere aus dem Hessischen bekannten gepräfigierten Infinitive, für die ein Beispiel in (36) angeführt ist, immer mit Endungslosigkeit des abhängigen Infinitivs verbunden und daher nicht als gerundiale Formen anzusprechen sind. (35)

a.

blei bətraatən ‘Bleib stehen’

b.

iç sol b(ə)sidsn blai ‘ich soll sitzen bleiben’

(SCHLEICHER 1894, 71) (LUTHARDT 1963, 290) (36)

Das will ich gemach ‘das will ich machen’ (FRIEBERTSHÄUSER 1987, 93)

Insbesondere im Oberdeutschen sind alternativ auch zum-markierte Formen zu beobachten (im Bairischen auch zun/zan; siehe z. B. SNiB I [= EROMS / RÖDER / SPANNBAUER-POLLMANN 2006], Karte 11D). Für die Genese solcher Formen sind unterschiedliche Hypothesen vorgetragen worden, im Falle des Bairischen zum ist sicherlich von Nominalisierungen als Ausgangspunkt auszugehen (siehe BAYER 1993 sowie WEISS 1998, Kap. 4), d. h. hier wiederholt sich sozusagen die Sprachgeschichte, indem eine Nominalform allmählich Bestandteil des verbalen Para13 Nach gängiger Auffassung ist das Futur im Deutschen aus einer aspektuellen Periphrase mit dem Partizip Präsens (-ende > -en) entstanden (sogenannte „Abschleifungstheorie“), wobei die Kopula werden als Tempusauxiliar und in einem weiteren Schritt durch pragmatische Anreicherung als epistemische Modalitätskennzeichnung reanalysiert wurde (siehe dazu KRÄMER 2005).

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

127

digmas wird. Für das Alemannische kommt auch eine Beeinflussung durch die Subjunktion zum in Frage, die in infinitivischen Adverbial-, aber auch Komplementsätzen auftritt (siehe dazu grundlegend BRANDNER 2006). Bei jüngeren Sprechern ist ein dazu homophoner Infinitivmarker anzutreffen, der angesichts seiner syntaktischen Eigenschaften eindeutig als Allomorph zu älterem z betrachtet werden muss (siehe dazu SCHALLERT 2013, 121; BRANDNER 2008, 373). So tritt dieses Element genau in der strukturellen Position auf, in der auch der „normale“ Infinitivmarkierer zu finden ist, was sich beispielweise an Partikelverben klar zeigt: (37)

Vorarlberger Alemannisch: a. aa-zum-fanga ‘anzufangen’ uuf-zum-hööra ‘aufzuhören’ b. aa-g-fanga ‘angefangen’ uuf-g-hört ‘aufgehört’ (nach SCHALLERT 2013)

Kommen wir zu den syntaktischen Eigenschaften des Infinitivmarkierers. Der Interessenlage des vorliegenden Artikels geschuldet konzentriere ich mich auf dieses Morphem selbst und weniger auf die generellen syntaktischen Kontexte, in denen Gerundien auftreten können. Dazu ist verschiedentlich schon gearbeitet worden (z. B. BAYER / BRANDNER 2004; ABRAHAM 2016), auch wenn noch viele wichtige Fragen offen geblieben sind. So wissen wir zwar, dass Gerundien sowohl in Komplement- als auch Adjunktfunktion zu finden sind; ihre Einbindung ins Diathesensystem zeigt sich daran, dass sie auch im modalen Passiv bzw. in toughMovement-Kontexten vorkommen. Nehmen wir das Vorarlberger Alemannische als mir vertrautes Idiom als Beispiel und grammatiktheoretische Fruchtfliege. Dort (wie auch weiträumiger im Südwesten) sind Formen des Gerundiums weitgehend auf modale Infinitivkonstruktionen (38a) sowie als Komplemente zu indefiniten bzw. quantifizierenden Ausdrücken (light nouns wie viel, nichts, [et]was) beschränkt (38b) (siehe dazu auch MERKLE 1976 und BAYER / BRANDNER 2004): (38)

Vorarlberger Alemannisch: a. Jå, jå, es isch net and’rsch z’sägan ‘Ja, ja, es ist nicht anders zu sagen’ (XI/111, 1: Bezau; SCHALLERT 2010) b. z’ ässat håt ma o’ fascht nüt meh kriagt, net ‘zu essen hat man auch fast nichts mehr gekriegt, nicht’ (XI/200, 6: Doren; SCHALLERT 2010)

Wie BAYER / BRANDNER (2004, 168) im Hinblick auf (39) anmerken, sind Gerundien – im Gegensatz zu konkurrierenden Infinitivmarkern wie zum – nur mit einfachen transitiven Verben möglich.

128 (39)

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Bodenseealemannisch: a. hosch em Pfarrer ebbes zum beichte/*z’beichtit hast pro dem Pfarrer etwas zu beichten / zu=beicht:GER b. ich ha ihm nünt zum ge/*z’gebit ich habe ihm nichts zu geben/zu=geb:GER c. *ich ha nünt uff de Tisch z’stellit Ich habe nichts auf den Tisch zu=stell:GER (BAYER / BRANDNER 2004)

Was bei der Untersuchung von Gerundien indes noch gänzlich fehlt, ist eine genauere Betrachtung der Matrixprädikate, die gerundisch markierte Infinitive regieren, sowie die Rolle von zu ± Gerund-Markierung bei verschiedenen syntaktischen Prozessen. So gilt es generell als offene Frage, ob zu (bzw. die entsprechenden Suffixvarianten) syntaktisch aktiv ist oder nur „ornamental“, wie dies für andere nichtfinite morphologische Marker (z. B. ge- [...] -t/-en) angenommen wurde (STERNEFELD 2006, 92; RATHERT 2009, 184). In einem grammatiktheoretischen Setting, in dem lexikalische Integrität als Design-Merkmal nicht angenommen wird, wird man demgegenüber mit der Annahme konfrontiert, dass zu als Exponent einer funktionalen Kopfposition aufzufassen sei. Beispiele sind HINTERHÖLZL (2006, 157–158; 2018), der zu als aspektuellen Kopf analysiert, oder SALZMANN (2016; 2017), der den Infinitivmarker als Haupt einer rechtsköpfigen FP deutet, ohne aber konkrete Aussagen über dessen semantischen Gehalt zu machen. Soweit mir bekannt, war HAIDER (1984) der erste, der den Vorschlag ins Spiel brachte, dass zu im (Standard-)Deutschen das designierte Argument in kohärenten Infinitivkonstruktionen blockiert, wodurch sich auch eine natürliche Erklärung für modale sein-Passive wie (40a) bietet. Im Falle der modalen haben-Konstruktion ist er allerdings dazu gezwungen, Deblockierung anzunehmen (40b). (40)

a. b.

Die Handtücher sind (von allen Badegästen) gewaschen zurückzugeben. Alle Badegäste haben die Handtücher gewaschen zurückzugeben.

RAPP / WÖLLSTEIN (2009) wiederum gehen von zwei zu-Varianten aus – einer, die für die referenzielle Verankerung von Komplementen von faktiven oder propositionalen Verben verantwortlich ist, und einer expletiven Variante, die in Vo inkorporiert ist. Die Annahme, dass der Infinitivmarker ein syntaktisch aktives Element ist, findet also noch immer Befürworter. Interessante Hinweise, dass zu auch in Bezug auf seine Stellungseigenschaften (berührt ist hier der Parameter der „Stellungsfreiheit“) kein inertes Morphem ist, zeigen die folgenden Konstruktionsmuster (vgl. SALZMANN 2017; SCHALLERT 2018):

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

– – –

129

Fehlplatzierung bzw. Dislokation variable Statuskongruenz Haplologie bzw. Doppelung von zu

Fehlplatzierungen von zu, aber auch von anderen infiniten Morphemen, können inzwischen als hinreichend bekannt in der theoretischen Literatur gelten.14 Als wichtige Generalisierung wird die Beschränkung auf rechtsverzweigende Strukturen (bzw. rechtsverzweigende Segmente in disharmonischen Konfigurationen) betrachtet (HÖHLE 2006, 73–74 sowie im Anschluss daran SALZMANN 2016; 2017). Man könnte noch ergänzen, dass Fehlplatzierungen bzw. Dislozierungen auf kohärente Fügungen beschränkt sind, aber nicht notwendigerweise Adjazenz der betroffenen Verben voraussetzen. So ist falsch platziertes z im Schweizer Alemannischen beispielsweise auch im Zusammenhang mit nichtverbalen Intervenierern im Verbalkomplex („verb projection raising“) anzutreffen: (41)

ohni mi [V welle [V uf d bullesite z stelle ]], im gegeteil, aber [...] ‘ohne mich auf die Bullenseite stellen zu wollen, im Gegenteil, aber [...]’ (SALZMANN 2013, 77)

Anders als in der Literatur – und insbesondere von SALZMANN (2016, 409; 2017, 11) – behauptet, tauchen Fehlplatzierungen robust in beide Richtungen auf, d. h. sowohl nach links (42a) als auch nach rechts (42b); erste Belege für dieses Strukturmuster finden sich in fnhd. Zeit, wie die Beispiele in (43) demonstrieren (SCHALLERT 2018). (42)

a.

b.

(43)

a. b.

Er ist lieber humplig ham glofa, als sich vo mir zfahra lo. ‘Er ist lieber hinkend nach Hause gelaufen, als sich von mir fahren zu lassen.’ (ID 58/62w; Satteins, Vorarlberg) Schämsch di nüüd cho z bättle ‘Schämst du dich nicht, betteln zu kommen’ (Zürichdeutsch; WEBER 1987, 244, Fn. 1) habt angefangen, das dag auf deim hausz zu verstreichenn lassenn (PAUMGARTNER 1; zit. nach BEHAGHEL 1924, 308–309) sich entslossen hat, kein verbot aus lassen zu geen (TOPPLER 136; zit. nach BEHAGHEL 1924, 308–309)

14 Fehlplatzierungen finiter Flexionsmorphologie sind ebenfalls zu finden (z. B. im Schwäbischen oder Ostfränkischen), jedoch sind sie verhältnismäßig selten. Ein typisches Beispiel wäre: Schieb mir helfe! an der Stelle von Hilf mir schiebe! (HÄFNER 1951, 136). Siehe SCHALLERT (2018, 13–14) sowie SALZMANN (2017, 45) für einige weitere Referenzen zu diesem Phänomen.

130

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Kommen wir zum zweiten Phänomenkomplex: Wie wir in Abschn. 2.2 gesehen haben, ist im Gegenwartsdeutschen – anders als die bekannten Beispiele von BECH (1955, 15) suggerieren – durchaus Variation in Bezug auf die morphologische Markierung von zu-koordinierten Infinitiven zu beobachten; der entsprechende Band des „Duden“ spricht sie als grammatischen Zweifelsfall an. Auch in älteren Sprachstufen des Deutschen sind solche Schwankungen in der Statuskongruenz zu beobachten, wie die Beispiele in (44)–(45) demonstrieren; einschlägige Belege aus gegenwärtigen Dialekten (auf Basis des Zwirner-Korpus) werden bei SCHALLERT (2018, 7) zitiert. (44) (45)

das ain yeglicher widersach / vndersteet seynen wiedersacher zu belaydigen. beswaren vnd zu raitzn̄ (GEILER, „Predigten teütsch“ 144a; EBERT et al. 1993, 397) der gewonet auch die leute zu reissen und fressen (LUTHER, Ez. 19,6; HASPELMATH 1989, 297)

Der relevante Grammatikalierungsparameter ist hier „struktureller Skopus“ (vgl. auch HASPELMATH 1989, 297), d. h. offensichtlich kann zu sich auf die V-Koordination als Ganzes beziehen.15 In (46a) aus dem Berndeutschen erscheint zu haplologiert, denn das Verb schiine ‘scheinen’ regiert einen zu-Infinitiv, der an seinem Dependens probiere ‘versuchen’ jedoch nicht ausgedrückt wird; stattdessen trägt das vom letztgenannten Verb abhängige häuffe ‘helfen’ gemäß dessen Rektionsanforderungen diese zu-Markierung. HÖHLE (2006, 70) geht in solchen Konstellationen, die übrigens dialektübergreifend nicht selten sind, davon aus, dass ein Verb die Selektionsanforderungen von zwei übergeordneten Verben gleichzeitig erfüllt. Ein analoges Beispiel aus dem thüringischen Dialekt von Barchfeld a. d. Werra ist in (46b) wiedergegeben. Hier selegieren meçd ‘möchte’ bzw. kend ‘können’ jeweils einen ge-präfigierten Infinitiv, aber nur das am tiefsten eingebettete Verb in dieser Kette trägt die erwartete Markierung, während die Form kent eine trunkierte Partizipform („supine“) darstellt. (46)

a. b.

dr Hans schiint sine Fründe _ probiere z’häuffe ‘Hans scheint seinen Freunden zu versuchen zu helfen’ (Berndeutsch; BADER 1995, 22) ə meçd lɪwɚ kend gəaʁwəd ‘er möchte lieber können:SUP arbeiten:INF’ (Hessisch-Thüringisch; WELDNER 1991, 217)

15 Interessanterweise diskutiert LEHMANN (2015, 159–160) das Verhalten von zu im Deutschen (bzw. seinem Pendant to im Englischen) im Zusammenhang mit dem Grammatikalisierungsparameter „Fügungsenge“ (engl. bondedness). Diese Abweichung kann man als Indiz dafür werten, dass diese beiden Parameter (noch) nicht hinreichend genau abgrenzbar sind. Auf eine eingehendere Diskussion dieses Problems möchte ich indes verzichten, zumal sich beide Parameter auf die syntagmatische Ebene beziehen.

Infinitivisches zu im Niemandsland zwischen Morphologie und Syntax

131

Spiegelbildlich dazu treten in manchen Regionen (Mitteldeutsch, Niederdeutsch) auch Doppelungen von zu auf (weitere Beispiele werden in SCHALLERT 2018 angeführt): (47)

a. b.

ich brauch merr deß net zu gefalle zu gelasse (Frankfurt; BRÜCKNER 1988, 3651) det brauch er sich nich zu jefallen zu lassen (Berlin; SCHILDT / SCHMIDT 1986, 241)

Das Interessante an diesem Strukturtyp ist, dass er auf linksverzweigende Konfigurationen beschränkt zu sein scheint. Hier tritt ein zu-Token an der erwartbaren Stelle auf, nämlich am letzten Verb des Verbalkomplexes, jedoch ist zusätzlich auch dessen Dependens auf diese Weise markiert. Soweit ich die Datenlage bisher überschaue, sind bei Umstellungen im Verbalkomplex („verb raising“) keine zuDoppelungen zu beobachten. Die hier betrachteten dialektalen Eigenheiten von zu zeigen m. E. recht deutlich, dass sich dieses Element von anderen nicht-finiten Morphemen unterscheidet. Zwar sind Haplologie bzw. Dislokation auch von anderen entsprechenden Morphemen bekannt, die variable Direktionalität, d. h. das Auftreten sowohl in links- als auch rechtsverzweigenden Konstruktionen, sowie die Doppelung sind demgegenüber völlig merkwürdig und erklärungsbedürftig. 4

GRAMMATIKTHEORETISCHE MODELLIERUNG

Welche Werkzeuge bietet die Grammatiktheorie an, um die zu-Platzierung in den Griff zu bekommen? Fälle von „falsch platzierter“ Morphologie – allen voran die Skandalkonstruktion – haben in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit auf sich gezogen (VOGEL 2009; HAIDER 2011; WURMBRAND 2012; SALZMANN 2016, 2017; HINTERHÖLZL 2009, 2018; SCHALLERT 2018), ohne dass jedoch ein Konsens darüber erzielt worden wäre, wie eine adäquate Modellierung auszusehen hat. Fest steht jedoch, dass solche Verquickungen gerade in den Dialekten viel zu systematisch auftreten, um sie als „grammatische Illusion“ (HAIDER 2011) wegzudiskutieren. Sogar die Skandalkonstruktion erwies sich nach Maßgabe der von mir durchgeführten Befragungen durchaus als Attraktor, d. h. deren Systemcharakter kann man durchaus empirisch untermauern. 4.1

Erklärungsmotive

Betrachten wir nun kurz einige der Erklärungsmotive, die in den eingangs zitierten Arbeiten vorgetragen wurden, und überlegen uns, was sie für das uns interes-

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sierende Phänomen anzubieten haben.16 Wohlgemerkt soll es hier nicht darum gehen, diese Ansätze einer detaillierten Kritik bzw. Evaluation zu unterziehen. Dies ist größtenteils schon an anderer Stelle und in kenntnisreicher Form geschehen (siehe dazu beispielsweise HAIDER 2011, 249–254 und ausführlich SALZMANN 2017, besonders Abschn. 3–4), wenngleich sich ein solches Unterfangen mangels einer einheitlichen empirischen Grundlage schwierig gestaltet. OT-basierte Ansätze wie jener von VOGEL (2009) bieten den Vorteil, dass sie sehr fein skalierbar sind; zudem erlauben sie eine direkte Interaktionen zwischen Morphologie und Syntax über entsprechende Beschränkungen. Auch für Fälle von „gestufter“ (d. h. gradienter) Akzeptabilität und grammatische Regelkonflikte (man erinnere sich an BECHS 1963 diesbezügliche Diskussion) bietet dieses Modell interessante Ansatzpunkte (siehe beispielsweise SORACE / KELLER 2005 zu „weichen“ vs. „harten“ Beschränkungen und damit assoziierte Beurteilungsdifferenzen). Ob der Ansatz von VOGEL (2009) dies in der vorliegenden Form einlösen kann, ist allerdings zweifelhaft (siehe dazu die Diskussion von HAIDER 2011, 249–252), denn einige der von ihm angenommenen Beschränkungen wirken doch ziemlich ad hoc (z. B. MORPH2, das als selbstkonjugierte Beschränkung Verletzungen seiner selbst sanktioniert; siehe VOGEL 2009, 335). Derivationelle Ansätze wie jener von HINTERHÖLZL (2009; 2018) versuchen morphologische Fehlplatzierungen direkt in der Syntax abzuleiten, und zwar durch eine Reihe von komplexen Ableitungsschritten. Die involvierten infiniten Morpheme, im Speziellen die Partizipialmorphologie und der Infinitivmarker zu, werden als Exponenten von (rekursiven) Aspektphrasen gedeutet, was sie eo ipso zu „phrasalen Affixen“ und damit zu syntaktisch aktiven Einheiten macht. Eine große Schwäche solcher Ansätze, die m. E. kaum reflektiert wird, ist der Umstand, dass es keine ernsthaften Beschränkungen zu geben scheint, die diese Umstelloperationen im Zaum halten: Nicht nur lexikalische Projektionen wie die VP/νP können scheinbar beliebig evakuiert und dann selbst angehoben werden, sondern auch (semantische) Merkmale selbst, sofern syntaktische Operationen ihre Bezugsmöglichkeiten stören, d. h. zu unkorrekten Interpretationen führen (vgl. HINTERHÖLZL 2018, 76 und die schon von SALZMANN 2017, 24–25 geäußerten Kritikpunkte). Immerhin kann man die in Abschn. 3.2 erwähnten zu-Verdoppelungen als Indiz für die von HINTERHÖLZL (2018, 76–77) angenommenen rekursiven AspPs nehmen – zwingend ist dies freilich nicht. Der bisher umfassendste Ansatz wurde von SALZMANN (2016; 2017) ausgearbeitet, der eine postsyntaktische Analyse im Rahmen der „Distribuierten Morphologie“ vorschlägt. Fehlplatzierungen sind der Effekt von „local dislocation“ (im Sinne von EMBICK / NOYER 2001), einer Operation, die m. E. hinreichend empirisch motiviert ist. Auch wenn dieser Ansatz mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert ist – beispielsweise bietet er derzeit keine Erklärung für Fehlplatzierungen nach links bzw. die bereits erwähnten zu-Doppelungen (siehe dazu Abschn. 16 Ich gehe an dieser Stelle nicht näher auf WURMBRAND (2012) ein, da sich dieser nur mit parasitärer Partizip-Morphologie beschäftigt; siehe HAIDER (2011, 252–254) zu einer etwas älteren Version dieses Ansatzes.

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3.2 sowie die Diskussion in SCHALLERT 2018, 6–7) – bietet er doch eine interessante und vergleichsweise oberflächennahe Perspektive auf Form-FunktionsMissverhältnisse in der Morphologie. In gewisser Weise kann man die im folgenden diskutierten Wrapping-Regeln als Ergänzung bzw. Alternative zu postsyntaktischen Prozessen à la „local disclocation“ sehen. 4.2

Ein Ansatz im Rahmen der Kategorialen Morphologie

In SCHALLERT (2018) wird eine verallgemeinerte Affigierungs-Operation verwendet, die im Rahmen der „Kategorialen Morphologie“ erstmals ausgearbeitet wurde (vgl. BACH 1984; HOEKSEMA 1985; HOEKSEMA / JANDA 1988, 206–221). Diese Operation kann sowohl auf Morphem- als auch Wortebene greifen und ist entsprechend parametrisierbar (SCHMERLING 1983). Eine solche Analyse wurde ursprünglich für Verb-raising-Konstruktionen im Niederländischen entwickelt, sie lässt sich aber auch gewinnbringend für das uns interessierende Phänomen anwenden. BACH (1984) schlägt verschiedene Wrapping-Regeln17 vor, die über einer Kette x von grammatischen Kategorien x1 … xn operieren. Diese Operationen wurden von HOEKSEMA / JANDA (1988, 206–221) aufgegriffen, um eine Reihe von (morphologischen) Infigierungsoperationen zu analysieren. Für unsere Zwecke sind nur der Prozess der Präfigierung und die damit verbundenen Operationen relevant (48). (48)

a. b.

LWRAP-pref(x, y) = (LREST(x) (y LAST(x)))) RWRAP-pref(x, y) = (FIRST(x) (y RREST(x)))

Diese Operationen erlauben Präfigierung eines Elements y entweder an xn, die letzte Kategorie von x (48a), oder an den rechten Rand von x, d. h. das erste Element, das auf x1 folgt (48b). Hier ergibt sich eine Analogie zu den typischen String-Methoden, die in praktisch allen modernen Programmiersprachen implementiert sind. Dies ist im folgenden Python-Codeschnipsel veranschaulicht: Der String Kette wird mittels der Kommandos s[:1], s[1:0] in dessen erstes Element und den Rest aufgetrennt, die spiegelbildliche Operation kann man als s[:-1], s[-1:] schreiben.

17 Solche Regeln wurden von BACH (1979) für die Analyse einer Reihe von Phänomenen vorgeschlagen, und zwar insbesondere für Abfolge-sensitive Linking-Effekte (siehe dazu BALDRIDGE / HOYT 2015, 1065–1066). Ein Beispiel für eine solche Regel ist forward wrap: (X/Y)/wZ ⇒Wrap (X/Z)/Y. Technisch gesprochen haben wir es mit einem kommutativen Operator zu tun, der die Argumente einer gegebenen Funktor-Kategorie vertauscht (BALDRIDGE / HOYT 2015, 1065).

134 >>> >>> >>> >>> >>>

(49)

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s = ”Kette” s[:1], s[1:] (’K’, ’ette’) s[:-1], s[-1:] (’Kett’, ’e’)

FWRAP-pref(x, y) = ((y FIRST(x)) LAST(x))

Jene Fälle, in denen zu an die linke Seite angefügt wird, d. h. an das erste Element des Verbalkomplexes, können mit einer zusätzlichen Wrap-Operation abgeleitet werden, die ich FWRAP nenne (49). Diese Operation präfigiert zu an das erste Element der Kette x1, …, xn. Empirische Motivation für eine solche Regel kommt von der Beobachtung, dass Partikelverben im Niederländischen (und teilweise auch in deutschen Dialekten) am linken Rand des Verbalkomplexes auftreten, und zwar losgelöst vom zugehörigen Verbstamm (50). (50)

Niederländisch: a. dat Jan het meisje wil opbellen dass Jan das Mädchen will an=rufen b. dat Jan het meisje op will bellen dass Jan das Mädchen an will rufen ‘dass Johann das Mädchen anrufen will’ (NEELEMAN / WEERMAN 1993, 435)

Als Ergänzung wollen wir uns kurz ansehen, wie „normale“ konkatenative Operationen wie Affigierung in der „Kategorialen Morphologie“ abgeleitet werden. HOEKSEMA (1985) definiert Kategorien, seien sie einfach oder abgeleitet, als Tripel nach der Blaupause von (51). Diese umfassen eine phonologische (πp), eine kategorielle (πc) und eine semantische Komponente (πs) (HOEKSEMA 1985, 15). (51)

L := ⟨πp(L); πc(L); πs(L)⟩

Affigierung wird durch zwei direktional spezifizierte Applikationsregeln abgeleitet – HOEKSEMA (1985, 19) spricht von „cancellation“ –, deren kategoriale Dimension in (52a) und (52b) angeführt sind. (52)

a. b.

Right cancellation (RC) (Präfigierung): (A/B, B) = A Left cancellation (LC) (Suffigierung): (A, A\B) = B

Normale zu-Präfigierung bedeutet nichts anderes, als das Affix als Funktor mit einem geeigneten Argument zu kombinieren, wobei die phonologischen Repräsentationen konkateniert werden (siehe die Darstellung bei STEWART 2016, 23). In kategorialgrammatischer Diktion kann man dies folgendermaßen schreiben: V[zu]/V, V ⇒> V[zu]. Dies bedeutet, dass ein Verb wie scheinen im Deutschen

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für eine Kategorie V mit dem morphologischen Index [zu] subkategorisiert ist („Statusrektion“ im Sinne von BECH 1955). Die Doppelungsfälle, die ich in Abschn. 3.2 diskutiert habe, hier wiederholt als (53), können durch eine Kombination von „einfacher“ Applikation (X/Y Y ⇒> X) plus FWRAP (wie oben definiert) abgeleitet werden. (53)

ich brauch merr deß net zu gefalle zu gelasse (Frankfurt; BRÜCKNER 1988, 3651) 5

WEITERE ÜBERLEGUNGEN UND FAZIT

Mit diesem Artikel habe ich zu zeigen versucht, dass der Infinitivmarker zu einer gesonderten Betrachtung wert ist und nicht nur ein zu vernachlässigendes Detail der Grammatikalisierung des zu-Infinitivs darstellt. Wir haben gesehen, dass sich dieses Element im Gegenwartsdeutschen wie ein Zwitterwesen zwischen Affix und Klitikum verhält und Anlass verschiedener grammatischer Zweifelsfälle ist. Aus einer dialektologisch bzw. sprachgeschichtlich informierten Perspektive lassen sich diese Seltsamkeiten zumindest teilweise relativieren, etwa die Konfigurationen, in denen zu vom zugehörigen Verb getrennt erscheint. Hier zeigen die Dialekte ganz systematisch Versetzungen nach links und nach rechts, wobei sich Doppelungen à la zu gefallen zu gelassen auf den ersteren Typ beschränken. In Bezug auf diese Eigenschaften weicht zu allerdings auch sehr deutlich von anderen Fällen von „falsch platzierter“ Morphologie ab, die in letzter Zeit verstärkte Aufmerksamkeit vonseiten der Grammatiktheorie erfahren haben. Daran anschließend habe ich skizziert, wie eine Analyse von zu im Rahmen der „Kategorialen Morphologie“ (vgl. BACH 1984; HOEKSEMA 1985; HOEKSEMA / JANDA 1988) aussehen kann. Mit Blick auf die Diachronie ist zu sagen, dass zu in Bezug auf wichtige Eigenschaften erstaunlich stabil geblieben ist, d. h. sein struktureller Skopus hat sich seit frühneuhochdeutscher Zeit eigentlich nicht geändert. In Bezug auf die Stellungsfreiheit scheinen die Dialekte mit ihren Fehlplatzierungen innovativer zu sein, während standarddeutsches zu stellungsfest am rechten Rande des Verbalkomplexes verharrt, was im Falle der Oberfeldumstellung freilich dazu führen kann, dass dieses Element – wie in den Dialekten – am falschen Verb landen kann. Abschließen möchte ich dieses Portrait eines seltsamen Affixes mit einem Zitat von THORSTEN LEGAT, in dem es wie eine lästige Laus von einem Verb zum anderen hüpft und immer dort landet, wo man es nicht erwartet.18 Es ist einfach ’ne Faszination, hier zu sein zu dürfen. Die Region braucht natürlich Erfolgserlebnisse. Mein größter Wunsch war ebenthalb, einmal [...] Trainer zu sein dürfen. So, das ist jetzt eingetroffen. Nichtsdestotrotz freu’ ich mich da drauf. 18 Quelle dieses Zitats: ; Stand: 27.07.2018.

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Dass uns zu hier in Form eines eindeutigen Produktionsfehlers begegnet (THORSTEN LEGAT ist berühmt-berüchtigt für seine Spoonerismen), mag angesichts der großen Systematizität von zu-Dislozierungen in den Dialekten überraschen. In SCHALLERT (2018) habe ich aber dafür argumentiert, dass man den Infinitivmarker als Paradebeispiel für das nehmen kann, was HARRIS / CAMPBELL (1995, 73) „exploratory expressions“ genannt haben. Darunter verstehen sie Strukturmuster, die sozusagen als Ausweitung der grammatischen Kampfzone fungieren. Was deren Genese anlangt, bleiben sie leider nur vage, denn einerseits können solche Strukturen wohl als Abfallprodukt von normaler Regelanwendung entstehen, andererseits kommen auch Regelverletzungen als Quelle in Frage, etwa bei Produktionsfehlern. Was deren weiteres Schicksal anlangt, ergeben sich zwei Pfade (HARRIS / CAMPBELL 1995, 73): The vast majority of such expressions are never repeated, but a few will come to be used frequently, will gain unmarked status, and will be grammaticalized. It is only when the exploratory expression has been reanalyzed as an obligatory part of the grammar that we may speak of a grammatical change having occurred.

Die Dialekte haben zu also zumindest in Bezug auf die syntaktische Distribution schon vollständiger in ihr grammatisches System integriert, während es im Standarddeutschen noch vor sich hindümpelt. Was ist aber in dem uns interessierenden Fall als Quelle solcher Mutationen zu betrachten? Sie könnte darin liegen, dass es sich bei zu um ein syntaktisches Objekt handelt, dessen Subkategorisierungsrahmen von feinskalierten Änderungen betroffen ist.19 Wenn wir von allen anderen relevanten Faktoren abstrahieren (deren Bedeutung ich nicht herunterspielen möchte, die aber gesondert ausgearbeitet werden müssen), dann bezieht sich Subkategorisierung u. a. auf den kategorialen Status des geforderten syntaktischen Objekts, d. h. im Speziellen seine Projektionsstufe. Für die Analyse des Verbalkomplexes werden üblicherweise drei solche Stufen herangezogen:20 Köpfe (V°), segmentierte Köpfe (V°-Adjunktion; im Folgenden: VV) und Projektionen von Köpfen (≥ V’; im Folgenden einfach V’). Es ist nicht schwer, die Relevanz dieser Unterscheidung empirisch zu untermauern, denn während sich nicht-finite Morphologie üblicherweise auf Köpfe bezieht (54), bieten segmentierte Köpfe eine empirisch adäquate Analyse für die Kompaktheitseigenschaft des Verbalkomplexes, wie sie insbesondere für linksverzweigende Segmente gilt (55). Auch der Umstand, dass Verbpartikeln im Niederländischen zwar variabel positionierbar sind, aber immer innerhalb des Ver19 Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin nicht der Auffassung, dass wir kategoriale Gradienten („squishes“ à la ROSS 1972) wieder aus der grammatiktheoretischen Versenkung heraufbeschwören sollten. Wir machen keine Aussagen über den kategorialen Status des Selektors, sondern über die Kategorie des abhängigen Elements. 20 Natürlich gab es immer wieder Versuche, mit weniger Abstufungen auszukommen, z. B. Verbalkomplexbildung plus begleitende Umordnungen als alleinigen Effekt von XPBewegung zu deuten. Siehe WURMBRAND (2017) für eine umfassende Übersicht zu verschiedenen Ansätzen und deren Vor- und Nachteilen.

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balkomplexes verharren müssen (siehe Abschn. 4), demonstriert die Relevanz von segmentierten Köpfen. Projektionen von Köpfen sind im Falle von nichtverbalen Intervenierern im Verbalkomplex („verb projection raising“) im Spiel (56). In kategorialgrammatisch inspirierten Analysen des Verbalkomplexes, die ja auf einer strikt rekursiven Kategoriendefinition aufbauen, spielen solche Überlegungen natürlich eine zentrale Rolle (siehe dazu beispielsweise WILLIAMS 2003 und in der Folge BADER / SCHMID 2009 sowie SCHALLERT 2014a, b). (54)

a. b.

ge[hüpft wie *(ge)sprungen] [gehüpf*(t) und getanz]t

(55)

a. b.

weil das Beispiel so am besten [V [V [V analysiert] werden] kann] weil das Beispiel so analysiert (*am besten) werden (*am besten) kann

(56)

das de Hans [V wil [V es huus chaufe]] ‘dass der Hans ein Haus kaufen will’ (nach HAEGEMAN / VAN RIEMSDIJK 1986, 419)

Mit Blick auf die Analyse von zu besteht eine einfache Möglichkeit, diese Intuition auszudrücken, darin, einen strukturierten Lexikoneintrag zu entwerfen. Ich verwende hier die aus der „Kopfgesteuerten Phrasenstrukturgrammatik“ (HPSG) bekannten Konventionen als Ausgangspunkt und beschränke mich auf das SUBCAT-Attribut (siehe dazu MÜLLER 2013, 243), wie dies in Abb. 1 veranschaulicht ist. Die Idee besteht darin, dass zu die Argumente der von ihm regierten Kategorie über die Append-Relation anzieht; formal wird dies über Strukturteilung ausgedrückt. In Bezug auf die Projektionsstufe des subkategorisierten Objekts gibt es die drei oben erwähnten Möglichkeiten, die als Belegung für die Variable V* in Frage kommen (V°, VV, V’); V* selbst ist ein Element der Kategorie V (in der Grundform bse [= base]), eine Annahme, die mit Blick auf das Alt- und Mittelhochdeutsche durchaus zu hinterfragen bzw. zu modifizieren wäre. Die in diesen Sprachstufen noch fassbaren Gerundien haben ja den Charakter von Verbalnomina, was sich nicht zuletzt an deren Flexionsmorphologie zeigt. Entscheidend für unsere Überlegungen ist nun aber der Projektionsstatus: Im heutigen Deutschen kommen als Belegungen für diese Variable nur noch VV bzw. V° in Frage, für ältere Sprachstufen auch V’. Nun könnte man sich für den diachronen Wandel das im unteren Teil von Abb. 1 visualisierte Szenario überlegen, demzufolge der Status von V* zeitweilig unterspezifiziert ist, d. h. mit zwei Projektionsstufen kompatibel ist, die in einem echten Teilmengen-Verhältnis stehen. Wandel in der Subkategorisierung kommt sozusagen auf Taubenfüßen daher.

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Abb. 1: Diachrone Entwicklung des Subkategorisierungsrahmens von zu

Wir haben hier also die formale Ausbuchstabierung des am Ende von Abschn. 3.1 erwähnten Grammatikalisierungsparameters „struktureller Skopus“. Welche genauen Restriktionen für ein solches Übergangsszenario gelten, ist letztlich eine empirische Frage, die ich nicht in allen Details klären kann. Für das Gegenwartsdeutsche (einschließlich der Dialekte) lassen sich allerdings ganz klare morphosyntaktische Reflexe identifizieren, man denke nur an die eingangs (Abschn. 2.2) diskutierten Diagnostika von ZWICKY / PULLUM (1983) für Klitik- bzw. AffixStatus sowie die Verfügbarkeit von Dislozierung, die wir in Abschn. 4 kategorialgrammatisch gedeutet haben, und zwar als Effekt von Wrapping-Regeln. Die Idee, dass die Grammatikalisierung von zu sich nicht nur auf dessen kategorialen Status, sondern auch auf seine Selektionsanforderungen bezieht, ist freilich nicht neu; sie wurde in ähnlicher Form bereits von DEMSKE-NEUMANN (1994, 123–125) sowie – mit stärkerem Blick auf die verbalen bzw. nominalen Flexionseigenschaften – ABRAHAM (2004, 137) vorgeschlagen, ich bin aber der Überzeugung, dass sie eine weitere bzw. detailliertere Ausarbeitung wert ist. Modelltheoretisch gedeutet handelt es sich beim Infinitivmarker also um ein syntaktisches Objekt, dessen Selektionsanforderungen (temporär) unterspezifiziert sind. LITERATUR ABRAHAM, WERNER (2004): The grammaticalization of the infinitival preposition – toward a theory of „grammaticalization reanalysis“. In: Journal of Comparative Germanic Linguistics 7 (2), 111–170. ABRAHAM, WERNER (2016): Pervasive underspecification of diathesis, modality, and structural case coding: the gerund in historical and modern German. In: Linguistische Berichte 248, 435–472. BACH, EMMON (1979): Control in montague grammar. In: Linguistic Inquiry 10, 513–531. BACH, EMMON (1984): Some generalizations of Categorical Grammars. In: LANDMAN, FRED / FRANK VELTMAN (eds.): Varieties of Formal Semantics. Dordrecht: Foris (GroningenAmsterdam Studies in Semantics. 5), 1–23. BADER, MARKUS / TANJA SCHMID (2009): Verb clusters in colloquial German. In: Journal of Comparative Germanic Linguistics 12, 175–228. BADER, THOMAS (1995): Missing and Misplaced z’ in Bernese Swiss German. In: PENNER, ZVI (ed.): Topics in Swiss German Syntax. Bern: Peter Lang, 19–27. BALDRIDGE, JASON / FREDERICK HOYT (2015): Categorial Grammar. In: KISS, TIBOR / ARTEMIS ALEXIADOU (eds.): Syntax – Theory and Analysis, Bd. 2. Berlin/München/Boston: Mouton de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 42.2), 1045–1087. BAYER, JOSEF (1993): Zum in Bavarian and Scrambling. In: ABRAHAM, WERNER / JOSEF BAYER (Hg.): Dialektyntax. Opladen: Westdeutscher Verlag (Linguistische Berichte. Sonderhefte. 5), 50–70.

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‘KOMMEN’ UND BEWEGUNGSVERB IN WESTGERMANISCHEN VARIETÄTEN1 Lea Schäfer Rätselhaft ist die schon im Mhd. übliche Verbindung des Part. imperfektiver Bewegungsbezeichnungen mit kommen: gegangen, gelaufen, gerannt, gesprungen, gekrochen, geschlichen, geschwommen, geflogen, geritten, gefahren u.a. Aktiv gefasst würden diese Partizipien allem was wir wissen, widersprechen.

(PAUL 1920, 80) 1

EINLEITUNG

Das hier zur Diskussion stehende Phänomen der Verbalperiphrase von kommen und Bewegungsverb wie in (1) wurde bereits vielfach diskutiert und war wegweisend für INGERID DALS (1954) Arbeiten zu morphosyntaktischen Indifferenzformen. Insbesondere den sprachgeschichtlichen Stationen dieser speziellen Konstruktion wurden mehrere Aufsätze gewidmet (vgl. GRIMM 1837, 8; BEHAGHEL 1989, 411; DAL 1954; HIRAO 1965; SCHÖNDORF 1991, 1998; VOGEL 2005). Neu an dem vorliegenden Beitrag ist die Perspektive auf die mikrotypologische Variation, d. h. in Hinblick auf das kontinentalwestgermanische Dialektkontinuum und die mikrotypologische, dialektsyntaktische Variation. Im Zentrum stehen hier die Formen und Entwicklungen der Konstruktion in westgermanischen Varietäten des Deutschen, Niederländischen, Westfriesischen, Afrikaans und Jiddischen. (1)

a. b. c. d. e.

dt. Ich komme gelaufen/laufend ndl. k kom aanlopen/aangelopen westfries. Ik kom (te) rinnen af. Ek kom gehardloop jid. ikh kum tsu loyfn

Dieser Beitrag wird zeigen, dass sich die Situation im Jiddischen als besonders konstant erweist, während sich in den deutschen und niederländischen Varietäten besonders viel synchrone und diachrone Variation findet. 11 Die Arbeit an diesem Artikel wurde durch ein Brücken- und Gleichstellungstipendium der MArburg [sic!] University Research Academy (MARA) ermöglicht. Darüber hinaus danke ich einer Reihe an entsprechenden Stellen namentlich genannten Kolleginnen und Kollegen für die Bereitstellung von Daten, Intuitionen und fachlichen Austausch. Auch dem Reviewer sei an dieser Stelle für die nützlichen Anmerkungen ein Dank ausgesprochen.

146

Lea Schäfer

An sich ist das vorliegende Phänomen allerdings äußerst niedrigfrequent und stark situations- und textsortenabhängig, was es erschwert, Aussagen über die quantitative Verteilung der Konstruktion in den unterschiedlichen Varietäten zu treffen. Trotzdem wird versucht, mit Hilfe von Korpusuntersuchungen (s. Tabelle 4 im Anhang), zumindest in Ansätzen Rückschlüsse über die Frequenz der Konstruktion in den einzelnen Varietäten zu ziehen. Die bestehenden Arbeiten haben eine gemeinsame Perspektive auf die Konstruktion. Sie wollen mit ihr die Mechanismen beschreiben, die dafür verantwortlich sind, wenn sich eine Form gegenüber einer anderen durchsetzt (vgl. GRIMM 1837, 8; BEHAGHEL 1989, 411; DAL 1954; HIRAO 1965; SCHÖNDORF 1991, 1998; VOGEL 2005). Mit dieser Arbeit soll der Fokus jedoch deutlich auf parallel stattfindender Variation unterschiedlicher Formen liegen, um damit die Grundlage für eine präzisere Annäherung an eine Untersuchung von Variation auf der Inhaltsseite (Semantik) dieser Konstruktion zu legen. Ziel dieses Beitrags ist es darzustellen, ob und in welchen Fällen morphosyntaktische, diachrone, diatopische und – sofern evaluierbar – semantische Variation vorliegt. So wird gezeigt, dass man im eigentlichen Sinne nicht davon sprechen kann, dass sich eine Form gegenüber der anderen durchsetzt. Vielmehr zeigt sich die Konstruktion in den westgermanischen Varietäten generell variabel und es gibt allerhöchstens Präferenzen für eine Form gegenüber einer anderen. Obwohl dieser Beitrag über weite Teile lediglich Belegmaterial präsentiert, um die Variation der Konstruktion kommen + Bewegungsverb zu illustrieren, soll hier nicht allein Variation um der Variation Willen im Sinne eines everything goes behandelt werden, sondern auch Lösungsansätze geboten werden, die den Ursprung dieser Variation herzuleiten versuchen. 2

DIE KONSTRUKTION IM DEUTSCHEN 2.1

Die Situation im Standarddeutschen

Im Standarddeutschen bestehen unterschiedliche Möglichkeiten, um der inhärenten Bewegung von Bewegungsverben eine konkrete Richtung zu geben. Vor allem Richtungsadverbien, die sich komplexer Mechanismen zwischen Derivation und Syntax bedienen, spielen dabei eine wichtige Rolle (vgl. 2 b–d, 3b, 4b). Daneben existiert die Bildung eines komplexen Prädikats mit kommen als finitem Vollverb (2, 3). Mit dem Partizip Perfekt eines Bewegungsverbs kombiniert, spezifiziert und modalisiert (s. u.) kommen die Zielgerichtetheit der Bewegung (vgl. 2a vs. 4a). Gleichzeitig geht in der Konstruktion mit kommen (2a) gegenüber der einfachen Verwendung des Bewegungsverbs (4a) Agentivität verloren (vgl. 2e u. 4c). Das deiktische Zentrum kann dabei durch Richtungsadverbien näher definiert werden (2b–c; vgl. RICCA 1993). Eine Bewegung mit kommen kann immer nur in Richtung auf das deiktische Zentrum erfolgen (2b, c) und nicht davon weg (2d). In Sätzen mit Partizip Präsens (3) fungiert das Bewegungsverb eher als Adverbial denn als Vollverb. In (3) modifiziert fahren die Bewegung des Kommens, während in (2) kommen die Bewegung des Fahrens modifiziert.

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

(2)

a. b. c. d. e.

dt. dass der Zug gefahren kommt dt. dass der Zug angefahren kommt dt. dass der Zug vorbeigefahren kommt dt. *dass der Zug abgefahren kommt dt. *dass der Zug versehentlich (an)gefahren kommt

(3)

a. b. c.

dt. dass der Zug fahrend kommt dt. dass der Zug fahrend ankommt dt. *dass der Zug an fahrend kommt

(4)

a. b. c.

dt. dass der Zug fährt dt. dass der Zug anfährt dt. dass der Zug versehentlich (an)fährt

147

Mit anderen Worten heißt dies, dass, während das Partizip Perfekt in der Komplementposition steht, das Partizip Präsens in der Konstruktion ein Adjunkt ist: (5)

a. b. c. d.

dt. dass der Zug [V’her [V° gefahren kommt]] dt. dass der Zug [V’ fahrend [V° herkommt]] dt. *dass der Zug [V’her [V° fahrend kommt]] dt. *dass der Zug [V’gefahren [V° herkommt]]

Unter semantischen Gesichtspunkten interessiert an der Konstruktion mit kommen und Partizip Perfekt, dass die Perfektivität von kommen als telisches Verb mit der Imperfektivität und der Atelizität des Bewegungsverbs konkurriert, wodurch die Konstruktion als Ausdruck von cessativer bzw. terminativer Aspektualität fungiert. Kommen liefert in dieser Konstruktion der Bewegung einen Bewegungsraum, in dem sich die Handlung in Bezug auf ein deiktisches Zentrum (Richtungsadverb) vollzieht (vgl. RICCA 1993). Dabei überrascht nicht, dass dazu das Verb kommen verwendet wird, da besonders die Verben kommen und gehen häufig aspekt-, tempus- und modusmarkierend grammatikalisieren (vgl. u. a. DEVOS / VAN DER WAL 2014; BOURDIN 1997; RICCA 1993; NÜBLING 2006). Prinzipiell ist diese Bildung mit allen Bewegungsverben möglich. Eine Ausnahme bildet gehen, welches für die Konstruktion mit kommen im Standard blockiert ist (6). Die Blockierung fußt vermutlich darauf, dass sich die venitive Semantik von kommen und die andative Bedeutung von gehen widersprechen. Dies scheint in vielen anderen Sprachen (vgl. 10c) und auch in den deutschen Dialekten (s. u. Kap. 2.3), allerdings keinerlei Probleme zu bereiten. (6)

dt. *?Er kommt vorbei gegangen

Eine verwandte Semantik liegt in der Konstruktion mit kommen und dem zuInfinitiv stativer Verben (Zustandsverben) wie in (7) vor. Hier wird der Übergang von Direktivität (kommen) zur Stativität (Zustandsverb) ausgedrückt und – wie in der Konstruktion mit Bewegungsverb – das Ende einer Bewegung markiert. In

148

Lea Schäfer

wenigen Fällen sind hier auch Nominalisierungen mit zum möglich (7b, d). Allerdings ist in der Konstruktion mit zu-Infinitiv die Handlung weniger agentivisch als mit zum (vgl. 7a vs. 7b). In dieser Konstruktion erhält kommen den Status einer Ingressiv-Kopula. (7)

a. b. c. d.

dt. Der Zug kommt *(versehentlich) zu stehen. dt. Der Zug kommt versehentlich zum Stehen. dt. Ein Vöglein kommt neben mir zu sitzen. dt. *Ein Vöglein kommt neben mir zum Sitzen.

Auch für Schallverben sind im Deutschen ähnliche Konstruktionen mit kommen möglich (8a–b), was für eine überlappende Semantik von Schall- und Bewegungsverben spricht (vgl. VOGEL 2005, 72–74; KRAUSE 1994, 164–165). Allerdings ist die Konstruktion mit Schallverb im Partizip Perfekt stärker auf die Ausformulierung eines deiktischen Zentrums, z. B. durch ein Richtungsadverb, angewiesen (8c). Bei dieser Konstruktion scheint es eigenen Befragungen zufolge starke sprecherspezifische Schwankungen zu geben. Detailuntersuchungen zu diesem Phänomen stehen noch aus. (8)

a. b. c. d.

dt. Er kommt vorbei gekeucht. dt. Er kommt keuchend vorbei. dt. *?Er kommt gekeucht. dt. ?Er kommt keuchend. 2.2

Diachrone Entwicklungen im Deutschen

Wie VOGEL (2005) herausarbeitet, weist diese Konstruktion in ihren historischen Entwicklungen mehr Variation auf, als die synchrone Perspektive auf das Standarddeutsche vermuten lässt. In den germanischen Sprachen lassen sich insgesamt fünf Typen der Konstruktion kommen + Bewegungsverb identifizieren (9), die sich zunächst allein in der morphologischen Form des Bewegungsverbs unterscheiden. (9)

a. b. c. d. e.

COME + Partizip Präsens COME + Partizip Perfekt COME + Infinitiv COME + (TO)-Gerundium(-s) COME + TO-Infinitiv

Das Deutsche zeigt unter den germanischen Sprachen in seiner Diachronie besonders viel morphologische Variation. Jeder der fünf Typen ist im Deutschen diachron belegt. Die große Frage ist, ob mit der Variation der Form auch eine Variation der Semantik einhergeht.

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

149

Die ältere Form in den germanischen Sprachen ist (9a) mit Partizip Präsens (DAL 1954, 492). Bildungen dieser Art sind bereits für das Altsächsische und Altenglische bezeugt (10a, b) und sind in den nordgermanischen Sprachen bis heute die einzig mögliche Form (10c). Im Altsächsischen und Altenglischen tritt kommen jedoch bereits bald vorwiegend mit dem Infinitiv auf (DAL 1954, 493; VOGEL 2005, 65). Besonders frequent sind hier Bildungen mit kommen und gehen als zweites Bewegunsgverb. Für das Althochdeutsche sind keine Belege mit kommen und einem Bewegungsverb überliefert, sondern nur Fügungen mit anderen Bewegungsverben wie in (10d) (vgl. VOGEL 2005, 64–66). (10)

a.

as. quam gangandi ‘kam gehend’

b.

aengl. cōm farende ‘kommt fahrend’

(„Heliand“ 5961; zit. n. DAL 1954, 494)

c. d.

(zit. n. WILLIAMS 1980, 375) norw. (Bokmål) Da folket fikk se Jesus komme gående ‘Das Volk bekam zu sehen Jesus kommen gehend’ („Det Nye Testament“ 1978/1988, Markus 9, 15) ahd. Sih fuarun thrángonti umbi ínan tho thie líuti ‘Sich bewegend (wörtl. fahrend) zusammendrängend rings um die Leute dort’ (OTFRID IV, 30, 1; vgl. BEHAGHEL 1989, 384)

Erst ab dem Mittelhochdeutschen sind Bildungen mit kommen + Bewegungsverb im Deutschen belegt (11) (vgl. DAL 1954, 492). Im Mittelhochdeutschen liegt eine große Variation der morphologischen Form des Bewegungsverbs vor. Hier tritt das Bewegungsverb sowohl im Partizip Präsens (11a), im Partizip Perfekt (11b, c), im Gerundium (11d) und auch im Null-Infinitiv (11e, f) auf. HIRAO (1965, 226) zufolge ist die Bildung mit Partizip Perfekt im Hochdeutschen ein Import aus den nördlicheren westgermanischen Sprachen, insbesondere des Mitteldniederländischen, der im Laufe des 12. Jahrhundert stattgefunden habe (HIRAO 1965, 226; s. a. SCHÖNDORF 1998, 269; VOGEL 2005, 70). Eine ähnliche Einflussnahme des Niederländischen und Niederdeutschen wurde auch für die Bildung mit NullInfinitiv vorgeschlagen (SCHÖNDORF 1998, 267–268; vgl. Kap. 3). Nur in seltenen Fällen, wie z. B. in (11c), wird im Mittelhochdeutschen auf die direkte Formulierung eines deiktischen Zentrums verzichtet. Zuo ist klar als lokale und direktionale Präposition (11f) vom funktionalen zu vor Gerundium (11d) und Infinitiv differenziert. Bildungen mit kommen + zu-Infinitiv (9e) sind im Mittelhochdeutschen nicht belegt. Belege mit zu-Infinitiv des Bewegungsverbs finden sich vereinzelt und bisher ausschließlich im lyrischen Kontext im Neuhochdeutschen des 17. und 19. Jahrhunderts (12).

150

Lea Schäfer

(11)

a.

b. c. d. e. f.

(12)

a. b.

c.

mhd. so lang das ein geistlich man kam rytende2 mit eim knappen ‘so lange dass ein geistlicher Mann geritten kam (wörtl. kam reitend) mit einem Knappen’ (Prosalancelot Teil 1 Seite 42, Zeile 28) mhd. indes kam Ruolant zuo gerant ‘währenddessen kam Roland her gerannt’ (Virginal, Stanza 1084, Zeile 4) mhd. dô kom gevarn Kailet ‘da kam Kaylet geritten’ („Parzival“ Absatz 39, Zeile 11) mhd. Da kam der gezwergk zu ritende ‘da kam der Zwerg geritten (wörtl. zu reitende)’ („Prosalancelot“ Teil 1 Seite 396, Zeile 6) mhd. Sie kamen off ein rivier ryten an ein schöne wißen ‘Sie kamen geritten (wörtl. reiten) an eine schöne Wiese’ („Prosalancelot“ Teil 1 Seite 88, Zeile 19) mhd. Kament zuo dem keiser ryten ‘Kamen zu dem Kaiser geritten (wörtl. reiten)’ („Diocletianus“, Seite 9 Zeile 10) nhd. Wohin ihr Fuß nur kommt zu gehen \\ Da sollen nichts als Rosen stehen. (MÜHLPFORT „Glückwünschungs Gedichte“ 1686, 27) nhd. der knabe zurück zu laufen kam \\ Entgegen der Schönen in Schmerzen, \\ Es wußt es niemand, doch beide zusamm’, (GOETHE „Wirkung in die Ferne“) nhd. da kommt herr Roland herzureiten.\\ Viel kühne Degen ihn begleiten. (HEINE „An eine Sängerin“)3

Die Variation, wie sie im frühen Mittelhochdeutschen vorliegt, wird schnell zu Gunsten der Partizipialformen abgebaut. In frühneuhochdeutscher Zeit ist die Konstruktion an sich kaum belegt. Während das Gerundium zum Neuhochdeutschen hin abgebaut wird und damit nicht mehr in der Konstruktion belegt ist, tritt kommen mit Null-Infinitiv noch in einzelnen Belegen (13) im 17.–19. Jahrhundert auf (vgl. SCHÖNDORF 1998, 267–268). Auch diese Form ist auffällig häufig in der gebundenen Sprache verbreitet (13c).

2 3

Das Gerundium rytende könnte hier auch eine Adverb-Markierung sein (< ahd. -o, mhd. -e). Da HEINE in diesem Gedicht „eine alte Romanze“ nachbildet, ist es durchaus möglich, dass er hier die mhd. Präposition zuo oder ein zuo-Gerundium zu imitieren versucht (vgl. 8–9).

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

(13)

a. b. c.

151

nhd. die vöglein kamen fliegen (17. Jh.; zit. n. KEHREIN 1856, 5, Bsp. 234) nhd. da das Wasser in ein Thal / auß dem Gebirg kömpt lauffen / (GOTTFRIED „Newe Welt Vnd Americanische Historien“ 1631, 17) nhd. Auch die Vöglein kamen fliegen, \\ Kam auch manche Nachtigal \\ Deinem Spielen, will nicht lügen, \\ (ARNIM / BRENTANO „Des Knaben Wunderhorn“ 1806, 225)

Ein Vergleich der Frequenzen von Konstruktionen mit kommen und Bewegungsverb (unabhängig von der morphologischen Form) im Referenz- und Zeitungskorpus des „Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache“ (DWDS) und der „Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank“ (MHDBDB) zeigt eine deutlich Abnahme im Neuhochdeutschen. Da auf Grund lexikalischen und technischen Wandels nicht alle Bewegungsverben in ihrer Frequenz konstant geblieben sind, beschränke ich mich auf Belege der Konstruktion mit dem Verb laufen. In der MHDBDB finden sich 163 Belege für Konstruktionen mit kommen + laufen; im DWDS-Referenz- und Zeitungskorpus finden sich 60 Belege.4 Der Log-Likelihood-Test zeigt einen hochsignifikanten Unterschied in der Verteilung in beiden Korpora (LL-Wert = 1 311,74; ELL = 0,00000; Bayes Factor/BIC > 10 = 1 290,76 s. a. Kap. 5). Die hohe Frequenz der Konstruktion in mittelhochdeutscher Zeit könnte darauf hinweisen, dass hier ein Grammatikalisierungsprozess in vollem Gang war, der zum Neuhochdeutschen damit abgeschlossen wurde, dass die Konstruktion ihre spezifische Funktion erlangt hat. Kaum ein Unterschied zwischen den Daten des DWDS und der MHDBDB besteht jedoch in der Verteilung der Belege mit Richtungsadverb und der ohne Richtungsadverb. In beiden Korpora überwiegen Belege ohne Richtungsadverb und es ist nur ein geringer (ggf. Textsortenbedingter)5 Anstieg (MHDBDB 67 % vs. DWDS 79 %) der Gesamtbelege. 2.3

Variation in deutschen Dialekten

Die modernen deutschen Dialekte zeigen deutlich mehr Variation, als die synchrone Situation vermuten lässt. Um einen ersten Eindruck von der diatopischen Verteilung zu gewinnen, wurden Einträge zum Verb kommen in Dialektwörterbüchern ausgewertet. Diese stellen sich als ertragreiche Quelle für erste Einblicke in die diatopische Situation heraus. Das Resultat ist in Abbildung 1 zusammengefasst (Belegliste in Anhang). Bildungen mit Partizip Präsens sind laut untersuchter 4 5

55 davon mit Partizip Perfekt, 4 mit Partizip Präsens und ein in (13b) wiedergegebener Beleg mit Infinitiv. Da das Korpus Part-of-speech (POS) getaggt ist, reichte der einfache Suchausdruck kommen laufen. Dramen verzerren im DWDS mit Belegen aus Regieanweisungen wie z. B. Hinze (kömmt gelaufen.) (TIECK, LUDWIG: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812) ggf. die Belege ohne Richtungsadverb.

152

Lea Schäfer

Literatur in den Dialekten in der Konstruktion kaum erwähnt. Einzige Ausnahme findet sich im „Siebenbürgischen Wörterbuch“ (außerhalb des Kartenbereichs). Das Partizip Perfekt wird in 13 Wörterbüchern für die Konstruktion angeführt. Daneben finden sich in sechs Wörterbüchern Belege für die Konstruktion mit kommen und zu-Infinitiv und in zweien Hinweise auf die Verwendung des puren Infinitivs. Wenn man in der Karte in Abbildung 1 ein Raumbild erkennen möchte, dann dieses, dass zu-Infinitivformen eher in Randgebieten auftreten, während kommen mit Partizip Präsens (kommt laufend) des Bewegungsverbs eher im Kerngebiet belegt ist.

Abb. 1: kommen + Bewegungsverb in Dialektwörterbüchern und dem SADS auf Basis der Dialekteinteilung nach WIESINGER (1983, 830, Karte 47.4); der Übersichtlichkeit halber wurde hier auf die Darstellung von Übergangszonen verzichtet

Kleinräumige Variation ist laut „Rheinischem Wörterbuch“ in den moselfränkischen und ripuarischen Dialekten gegeben. Ohne dies diatopisch weiter zu reflektierten, werden dort die beiden in (14) angeführten Formen mit Partizip Perfekt und zu-Infinitiv genannt. Besondere Hinweise finden sich im „Obersächsisch-Erzgebirgischen Wörterbuch“ (Bd. 2, 78). Hier scheint das Partizip Perfekt das Partizip Präsens gänzlich ersetzt zu haben und in dessen Funktion als Modifikator von kommen zu fungieren: kommen in Verbindung mit der Mittelform, besonders von Zff. mit an (f. angebattalcht kommen) wird nicht nur von Zw. der Bewegung gebraucht, sondern überhaupt zur Bezeichnung der Art und Weise des Kommens: er kommt gesungen = singend, geschrien = schreiend, gegessen, gekaut usw.; sie kamen geführt = sich führend.

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

(14)

a.

moselfr. do küt e gegange ‘da kommt er gegangen’

b.

moselfr. do küt e ze gohn ‘da kommt er gegangen’

153

(„Rheinisches Wörterbuch“ Bd. 4, 1151) („Rheinisches Wörterbuch“ Bd. 4, 1151) In den Wörterbüchern sind wenige Hinweise für die Verwendung eines NullInfinitivs in den modernen Dialekten zu finden. In erster Linie wird dieser als historische Form angegeben (vgl. „Schwäbisches Wörterbuch“ Bd. 4, 592; „Hamburger Wörterbuch“ Bd. 2, 930; „Wörterbuch der westfälischen Mundarten“, 148). Im „Hamburger Wörterbuch“ werden Belege für den reinen Infinitiv (15a) vom 16. bis ins 19. Jahrhundert genannt. Ab dem 18. und v. a. 19. Jahrhundert setzen sich aber vermehrt der zu/to-Infinitiv (15b) und das Partizip Perfekt (15c) durch. (15)

a. b. c.

ndt. wan ein geselle wandern kumpt (1577) ‘wenn ein Geselle gewandert kommt’ („Hamburger Wörterbuch“ Bd. 2, 930) ndt. kem en Stutzer öbern Wall to gahn (um 1870) ‘[da] kam ein Stutzer über den Wall gegangen’ („Hamburger Wörterbuch“ Bd. 2, 930) ndt. he kam in mine Kamer hergeflagen (1716) ‘er kam in meine Kammer geflogen’ („Hamburger Wörterbuch“ Bd. 2, 930)

Im „Westfälischen Wörterbuch“ treten sogar alle drei Formen (Part. Perf., Inf., zuInf.) gemeinsam auf und explizit mit derselben Bedeutung „zur Umschreibung der Art und Weise des Kommens“ („Westfälisches Wörterbuch“ Bd. 3, 1046; s. a. „Wörterbuch der westfälischen Mundarten“ 148). Es scheint, als liege besonders viel Variation im niederdeutschen und westmitteldeutschen Raum vor. Um die Situation in diesem Gebiet besser zu verstehen, kann der Blick auf die niederländischen Varietäten helfen (vgl. Kap. 3). Wie die Beispiele in (14) und (15b) illustrieren, besteht in den deutschen Dialekten die im Standard blockierte Verwendung der Fügung mit gehen. Kommen mit stativen Verben ist in den Wörterbüchern kaum belegt. Das „Rheinische Wörterbuch“ führt einige Belege für das Moselfränkische auf (16), wo diese Konstruktion mit dem zu-Infinitiv auftritt. (16)

a. b.

moselfr. he kennt ze leien (aufs Krankenbett) ‘Er kommt (auf dem Krankenbett) zu liegen’ moselfr. ze setzen (ins Gefängnis) ‘er kommt ins Gefängnis’ wörtl. er kommt (ins Gefängnis) zu sitzen („Rheinisches Wörterbuch“ Bd. 4, 1151)

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Auch zur Obligatorität der Setzung eines Richtungsadverbs (bzw. PP-Adverbiale) konnten in den Dialektwörterbüchern keine Angaben gefunden werden. Generell bieten die Wörterbücher nur ein sehr grobes Bild und erste Hinweise darauf, dass eine dialektsyntaktische und dialektsemantische Untersuchung dieses Phänomens interessante Resultate liefern kann. Auch liefern sie keine negative Evidenz der Struktur. Eine Besonderheit im Schweizer Alemannischen ist die Verwendung der Konstruktion mit einem flektierten zu-Gerundium (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 517), welches aus dem Partizip Präsens entstanden ist (17), (vgl. SADS-Kommentar zu Frage Nr. II.19). (17)

alem. Er chunnt z’laufets ‘er kommt gelaufen’ („Schweizer Idiotikon“ Bd. 3, 263)

In der Ankreuzfrage Nr. II.19 des „Syntaktischen Atlas der Deutschen Schweiz“ (SADS) wurden neben der Bildung mit zu-Infinitiv auch Belege mit den Suffixen -en, -end(e), -id, -ete, -edse, -eds abgefragt (INDERBITZIN 2006).6 Das Ergebnis zeigt, dass der zu-Infinitiv deutlich präferiert wird (2 635-mal in 2 923 Antworten). Lediglich 34 Mal tritt der Null-Infinitiv insbesondere in den westlichen und südlichen Randgebieten auf. Ein zu-Gerundium findet sich bei 141 Informanten. Die Daten zeigen in der diatopischen Verteilung der Gerundiumformen ein klares Kartenbild: Das zu-Gerundium findet sich neben wenigen Streubelegen in Graubünden und Schaffhausen, vor allem in der Ost- und Zentralschweiz und im Wallis. Die Erhebung im SADS zeigt, dass die Konstruktion selbst im kleinen Sprachraum der Schweiz ein Potenzial an Variation aufweist. Die Situation in der Schweiz lässt vermuten, dass auch in anderen Dialektregionen außerhalb des Schweizer Alemannischen ein deutlich höheres Maß an Variation aufgefunden werden kann, als es der grobe Filter der Dialektwörterbücher vermuten lässt. (18)

alem. und den ischt schich ä Fux chon gan schleikn ‘Und dann ist ein Fuchs geschlichen kommen’ wörtl. Und dann ist ein Fuchs kommen gehen/zu schleichen (SADS II.19 Ferden VS, zit. n. BURGMEIER 2006, 75 Bsp. 87c)

Obwohl im alemannischen Raum die Bildung mit zu-Infinitiv verbreitet ist, findet sich diese dort, wo der gi/go/ga-Infinitiv gebräuchlich ist, kaum belegt (vgl. BRANDNER / SALZMANN 2011). Im SADS wurde von zwei Informanten aus Ferden (Wallis) die Partikel ga an Stelle von zu angegeben (18), doch ist hier nicht gänzlich auszuschließen, dass es sich dabei um die Verbverdopplung von kommen mit der Kurzform von gehen (Crossdoubling) und nicht um die Infinitivpartikel handelt (vgl. LÖTSCHER 1993, 181–182; BURGMEIER 2006, 67–71). Doch nur Be6

Für die Bereitstellung der Daten danke ich ELVIRA GLASER und GABRIELA BART vom Deutschen Seminar der Universität Zürich.

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

155

lege mit der Partikel gi- könnten eine Verbverdopplung ausschließen, da diese Form eindeutig die Infinitivpartikel repräsentiert und auf keine Kurzform des Verbs gehen bezogen ist (vgl. BURGMEIER 2006). Auch das moderne Zimbrische kennt Konstruktionen mit kommen und Bewegungsverb, welches entweder im Partizip Perfekt (19a) oder mit einem besonderen Partizip Präsens steht. Das Partizip Präsens ähnelt dem italienischen Gerundio (19b), da es „einen infiniten Adverbialsatz bildet, der temporal, kausal oder konditional sein kann“ (WEISS 2017, 58; s.a. PANIERI et al. 2006, 355, 357).7 Das Richtungsadverb hängt hier entweder an kommen oder dem Bewegungs- bzw. Schallverb und ist in der Verwendung mit Partizip Perfekt obligatorisch, mit Partizip Präsens („Gerundium“) jedoch optional. Allgemein scheint im Zimbrischen die Verwendung des Partizips Präsens („Gerundium“) die präferierte Variante zu sein. Um dies zu bestätigen, sind jedoch detailliertere Untersuchungen zur diachronen Situation im Zimbrischen und auch zur Funktion des „Gerundiums“ notwendig. In älteren Quellen des Zimbrischen (z. B. im sog. „Zimbrischen Katechismus“ von 1602; MEID 1985) konnten keine relevanten Belege nachgewiesen werden. (19)

a. b.

(20)

a. b. c.

zimbr. Dar iz herkhent geloft pa platz ‘Er kam über den Platz gelaufen’ wörtl. Er ist hergekommen gelaufen durch Platz zimbr. Dar iz (her)khent lovante pa platz ‘Er kam über den Platz gelaufen’ wörtl. Er ist (her) gekommen laufen-de durch Platz zimbr. Dar iz herkhent gesunk pa platz ‘Er kam singend über den Platz’ wörtl. Er ist hergekommen gesungen durch Platz zimbr. *Dar iz khent gesunk pa platz ‘Er kam singend über den Platz’ wörtl. Er ist gekommen gesungen durch Platz zimbr. Dar iz herkhent rauchante pa platz ‘Er kam rauchend über den Platz’ wörtl. Er ist her gekommen rauchen-de durch Platz (Alle Beispiele: Informantenbefragung durch ERMENEGILDO BIDESE)

Diese Konstruktion im Zimbrischen ist sowohl im Partizip Perfekt (20a) als auch im Partizip Präsens („Gerundium“) (20c) neben Bewegungsverben mit anderen Verben möglich. Auch in diesen Fällen wird die Konstruktion mit Partizip Perfekt ohne Richtungsadverb als nicht akzeptabel bewertet (20b). Die weitere Ausdehnung von kommen-Konstruktionen auf andere Verben spricht dafür, dass kommen hier bereits stark grammatikalisiert ist.

7

Für den Austausch und die Befragung von Zimbrischsprechern danke ich ERMENEGILDO BIDESE.

156

Lea Schäfer

Im Zimbrischen hat kommen (neben stehen und bleiben) den Status eines Passivauxiliars erreicht (WIESINGER 1989, 258). Offen bleibt allerdings zunächst, ob die kommen-Konstruktion (mit Partizip Perfekt) im Zimbrischen eine generalisierbare Funktion, z. B. als Progressivitätsausdruck (s. u. Bsp. 23d), trägt. (21)

a.

b.

c.

d.

e.

bair. I kum ze lachen ‘Ich beginne zu lachen’ wörtl. Ich komme zu lachen („Bayerisches Wörterbuch“ Bd. 1, 1246) alem. Es chunnt cho regne ‘Es beginnt zu regnen’ wörtl. Es kommt kommen regnen (EBNETER 1980, 50) rätoroman. Geu vign a vagnir ‘Ich werde kommen’ wörtl. Ich komme zu kommen (EBNETER 1980, 48 Bsp. 21.1) it. viene a piovere ‘es beginnt zu regnen’ wörtl. es kommt zu regnen (EBNETER 1980, 47 Bsp. 17) zimbr. ‘Z heft å zo renga ‘es beginnt zu regnen’ wörtl. es hebt an zu regnen (Informantenbefragung durch ERMENEGILDO BIDESE)

Die oberdeutschen Dialekte kennen darüber hinaus eine Verwendung von kommen als Ingressiv, die in der Standardsprache nicht üblich ist, die aber als spiegelbildliche Konstruktion zur Bildung von kommen + Bewegungsverb betrachtet werden kann. Kommen markiert hier den Start eines Prozesses, während es in der Konstruktion mit Bewegungsverb den Fokus auf den Abschluss eines Prozesses legt (egressiv). Diese Konstruktion ist vergleichbar mit der von kommen + zu-Infinitiv stativer Verben (Zustandsverben), s. o. Bsp. (7). Kommen als Ingressiv ist sowohl in den Dialekten mit zu(m)- bzw. gi-Infinitiv als auch mit Null-Infinitiv (mit Verdopplung von kommen) im Oberdeutschen (21a–b) belegt (vgl. EBNETER 1980; s. a. BURGMEIER 2006, 74). Nach EBNETER (1980; 1973) ist eine Beeinflussung aus dem Rätoromanischen möglich, wo vegnir ‘kommen’ + a-Infinitiv (21c– d) ein analytisches Futur bildet. In den norditalienischen Dialekten hingegen ist ingressives venire ‘kommen’ + a-Infinitiv wie in den oberdeutschen Dialekten nur mit wenigen Verben möglich (EBNETER 1980, 50; vgl. Bsp. 14d). Im Zimbrischen scheint eine solche Verwendung von kommen nicht möglich zu sein (vgl. 21e). Auch MAYERTHALER et al. (1980, 173) führen strukturelle Ähnlichkeiten der Futurkonstruktionen in westbairischen Dialekten mit kommen zum + nominalisiertem Infinitiv und in norditalienischen Dialekten mit venire ad + Infinitiv an. Die oberdeutschen ingressiven Verwendungen von kommen-Periphrasen zeigen zwar

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

157

Ansätze eines analytischen Futurs, allerdings müssen diese Formen nicht auf romanischen Einfluss zurückgehen, da futurische Bedeutung von Bewegungsverben (kommen und gehen) + Infinitiv nicht auf die romanischen Sprachen beschränkt ist, sondern auch in den germanischen Sprachen verbreitet ist, wie die Beispiele in (22) zeigen (vgl. EBNETER 1973; s. u. Kap. 6.2). (22)

a. b. c. d.

(23)

a.

b.

c.

d.

engl. It’s going to rain ‘Es wird regnen’ wörtl. Es ist gehen zu regnen ndl. Ik ga koken ‘Ich werde kochen’ wörtl. Ich gehe kochen schwed. Det kommer att regna ‘Es wird regnen’ wörtl. Es kommt zu regnen norw. (Bokmål) Det kommer til å regne ‘Es wird regnen’ wörtl. Es kommt zu regnen bair. s’Feld kimmt gebaut ‘das Feld wird gepflügt’ wörtl. das Feld kommt gepflügt (WIESINGER 1989, 258, zit. n. NÜBLING 2006, 178) aleman. er chunt gschlage ‘er wird geschlagen’ wörtl. er kommt geschlagen (HODLER 1969, 474, zit. n. NÜBLING 2006, 179) aleman. Nei, si isch grad verchauft cho. ‘Nein, sie ist gerade verkauft worden.’ wörtl. […] verkauft kom [Kurzverb] (BUCHELI 2005, 474) zimbr. di tokkn khemmen getoalt ‘Die Stücke werden verteilt’ wörtl. Die Stücke kommen verteilt (TYROLLER 2003, 122)

Über die hier angesprochene Funktion als Ingressiv und Futurauxiliar kann kommen in den deutschen Dialekten eine Reihe weiterer Funktionen besetzen. So kann kommen + Partizip Perfekt in oberdeutschen Dialekten auch als Passivauxiliar (23) auftreten (vgl. NÜBLING 2006, 178–179). Auch hier steht ein möglicher romanischer Einfluss zur Diskussion (vgl. MICHAELIS 1998). Nach den Grammatikalisierungsstufen von NÜBLING (2006) ist diese Verwendung als Passivauxiliar die höchstmögliche Stufe, die kommen in den deutschen Dialekten erreicht. Die letzte und höchste Grammatikalisierungsstufe NÜBLINGS, die des Konjunktivauxi-

158

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liars, wird von kommen im Deutschen (und auch in keiner anderen mir bekannten Sprache) nicht erreicht. Es ist zunächst festzuhalten, dass kommen in analytischen Strukturen in den deutschen Varietäten unterschiedliche Funktionen übernehmen kann. Die hier relevante Bildung mit kommen + Bewegungsverb ist dabei eine vielleicht wenig spektakuläre, aber nicht minder interessante Konstruktion. Hier ist das Bewegungsverb kommen nicht vollständig desemantisiert, wie es zum Beispiel bei Fügungen als Passivauxiliar der Fall ist. Zum einen verstärkt in der hier relevanten Konstruktion die Dopplung zweier Verben (kommen, Bewegungsverb) die generelle Bedeutung der Bewegung. Zum anderen liefert kommen als telisches Verb in der Konstruktion mit Bewegungsverb auch eine Richtung, in der diese Bewegung stattfindet. VOGEL (2005, 64) spricht hier von räumlicher Determiniertheit, in der die Bewegung erfolgt. Mit anderen Worten: Die Überschneidung der in der Konstruktion kommen + Bewegungsverb zweifach formulierten Bedeutung „Bewegung“ unterstreicht den Akt der Bewegung. Damit steht weniger die Art und Weise oder das deiktische Zentrum im Mittelpunkt der Konstruktion, sondern die Bewegung, der Prozess der Bewegung an sich. Mit einem Progressiv, wie z. B. in am- oder tun-Infinitiven (vgl. VAN POTTELBERGE 2004), hat diese Konstruktion aber wenig gemein, da sie im telischen Verb kommen bereits ein deiktisches Zentrums formuliert und damit deutlich terminativer ausgerichtet ist, als von einem Progressiv zu erwarten ist (s. u. Kap. 6.3). Doch bleibt die Frage, ob die morphologische Variation, wie wir sie in den deutschen Varietäten der hier ausgewerteten Quellen finden, auch auf der Inhaltsseite besteht. Erst gezielte Sprecherbefragungen können hier genauer Aufschluss geben. 3

DIE KONSTRUKTION IM NIEDERLÄNDISCHEN

Richten wir nun unseren Blick auf die Konstruktion komen + Bewegungsverb im Niederländischen. Die Situation unterscheidet sich nicht nur morphologisch, sondern auch semantisch deutlich vom Deutschen. 3.1

Die Situation im Standardniederländischen

Das Standardniederländische kennt sowohl die Verwendung der Konstruktion mit Partizip Perfekt als auch mit Infinitiv des Bewegungsverbs (24) (vgl. „Algemene Nederlandse Spraakkunst“ (ANS) §18, 5, 3). Laut ANS handelt es sich hierbei um morphologische und nicht um semantische Variation. Im Perfekt ist die Verwendung des Partizips blockiert, weil sonst eine Verletzung morphologischer Treuebeschränkung im Ersatzinfinitiv vorläge (IPP-Effekt) (Bsp. 25a; s. a. BELIËN 2016, 19–20). Auch im Imperativ gilt eine ausschließliche Verwendung des puren Infinitivs (25b; CORNIPS 2002; HAESERYN 1997, 982).

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

(24)

(25)

159

ndl. Iedere morgen komt ze hier voorbijgefietst / voorbijfietsen. ‘Jeden Morgen kommt sie hier vorbei geradelt/radeln’ (ANS, §18, 5, 3, Bsp. 1.2) a.

b.

ndl. Ze is hier vanmorgen al twee keer komen voorbijfietsen/*voorbijgefietst. ‘Sie ist hier heute morgen zweimal vorbei radeln/*geradelt.’ (BELIËN 2016, 20, Bsp. 5) Kom hier zitten! *Kom hier gezitten/te zitten! ‘Komm setz dich her!’ (CORNIPS 2002, Bsp. 5)

Laut ANS ist im Niederländischen auch komen mit Partizip Präsens (26) eine Option. Diese prinzipiell mögliche Form ist aber wenig gebräuchlich; zumindest ist sie in den herangezogenen schreibsprachlichen Korpora nicht belegt. Für die Dialekte zeigt sich allerdings ein anderes Bild (s. u. Kap. 3.3). (26)

ndl. Hij komt lopend. ‘Er kommt gelaufen.’ (ANS, §2, 4, 5, Bsp. 2.3)

In der Konstruktion mit Partizip Perfekt oder Infinitiv ist die Verwendung eines Richtungsadverbs im modernen Niederländischen deutlich wichtiger als im Deutschen. Die Obligatorität deutet darauf hin, dass das Richtungsadverb ein Komplement ist, während es sich im Deutschen (s. o. Kap. 2) und Jiddischen (s. u. Kap. 4), wo sie nicht-obligatorisch ist, wie ein Adjunkt verhält. Im Niederländischen hängt das Richtungsadverb bzw. die Partikel am Bewegungsverb, während die Analyse der Struktur im Deutschen ergeben hat, dass das Richtungsadverb an kommen gekoppelt ist. BELIËN (2016) und bereits EBELING (2006) zeigen die Möglichkeit auf, dass zwischen den beiden Formen (Perfektpartizip u. Infinitiv) tatsächlich ein semantischer Unterschied besteht. BELIËN (2016) zufolge drückt der Infinitiv einen Fokus „on an internal portion of the process“ aus, das Partizip aber „highlights the end of a process“ (BELIËN 2016, 18; s. a. EBELING 2006, 418). Die Konstruktion mit Infinitiv bietet laut BELIËN (2016, 27) einen „background for some other event happening at the same time“. Die Arbeiten von HAESERYN (1997) und CORNIPS (2002) zu diesem Phänomen im Niederländischen stellen allerdings keine semantische Differenzierung zwischen den beiden Typen fest, sondern behandeln die bestehende Variation in erster Linie in ihrer arealen Dimension, wie sie in Kapitel 3.3 näher erläutert ist. Im DBNL-Korpus findet sich komen mit dem Bewegungsverb lopen ‘laufen’ im Präsens in 75 Belegen im Infinitiv und in 14 Belegen im Partizip Perfekt (bei 161 642 988 Tokens). Ungeachtet des Tempus und der Verbindung mit komen ist lopen im Infinitiv 267-mal belegt und im Partizip 48-mal. Der Vergleich mit den

160

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Daten aus dem deutschen DWDS-Korpus zeigt nur eine gering höhere Frequenz im niederländischen Korpus (s. a. Kap. 5). Der überwiegende Teil der Belege stammt aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da nicht ermittelt werden konnte, wie die Texte des Korpus diachron verteilt sind, können daraus keine gesicherten Aussagen über die Entwicklung der Konstruktion im Niederländischen getroffen werden. Auffällig ist, dass Belege mit Partizip erst ab dem 19. Jahrhundert vermehrt auftreten. Vor 1900 ist lopen im Partizip Perfekt lediglich in drei Belegen von 1690, 1700 und 1810 im DBNL-Korpus zu finden. Im Korpus der DBNL tritt die Konstruktion auch mit te-Infinitiv auf, wie in (27). Mit dem Verb te lopen finden sich dort zwölf Belege (viermal im Präsens, achtmal im Perfekt). Wie diese Konstruktion in der gesprochenen Sprache verbreitet ist, ist allerdings noch unklar. (27)

ndl. en ze gaf Bart een duw zodat hij voor haar kwam te lopen. ‘und sie gab Bart einen Stoß, sodass er zu ihr gelaufen kam’ wörtl. […] sodass er vor sie kam zu laufen (DBNL „Tirade, Nr. 417–421“ 2007)

(28)

ndl. Het huis komt te vervallen. ‘Das Haus beginnt zu verfallen’ wörtl. Das Haus kommt zu verfallen

Die Situation der Konstruktion komen + Bewegungsverb im modernen Standardniederländischen zeigt eine ähnliche Variation zweier Formen wie im Deutschen (Partizip Perfekt vs. Partizip Präsens im Deutschen und Infinitiv vs. Partizip Perfekt im Niederländischen). Es sei darauf hingewiesen, dass die semantischen Möglichkeiten von komen im Standardniederländischen weiter grammatikalisiert sind als im Standarddeutschen. Im Niederländischen fungiert komen zum Beispiel als ingressives Anhebungsverb (28). Im Niederländischen ist die Konstruktion komen + gaan ‘gehen’ semantisch durch die Futurbildung mit gaan blockiert (29). (29)

a. b.

ndl. En ook áls er straks een kudde olifanten voorbij komt gaan ‘Und auch wenn bald eine Herde Elefanten vorbei kommen wird’ („Maatstaf. Jaargang 26“ 1978) ndl. De onderzoekers zullen gaan komen ‘Die Forscher werden kommen’ wörtl. […] sollen gehen kommen (PIETER FRANS VAN KERCKHOVEN „Volledige werken. Deel 6“ 1870)

Die im Deutschen verwandte Konstruktionen kommen + Schallverb (s. o. Kap. 2.1), ist im DBNL-Korpus für das frühe 20. Jahrhundert sowohl im Partizip Prä-

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

161

sens (30a) als auch im Infinitiv (30b) belegt. Hier fehlt es allerdings an soliden Daten moderner Sprecher. (30)

a. b.

ndl. Iemand komt fluitend de gang in. ‘Jemand kommt pfeifend in den Flur’ (DBNL „Groot Nederland. Jaargang 1“, 1903) ndl. Vliebers komt fluiten ‘Vliebers kommt pfeifend’ wörtl. Vliebers kommt pfeifen (DBNL „Dietsche Warande en Belfort. Jaargang 1“, 1900)

Die Konstruktion mit kommen und te-Infinitiv von Zustandsverben wie in (31) ist im niederländischen DBNL-Korpus bereits ab dem 15. Jahrhundert bezeugt und im Gegenwartsniederländisch vital (vgl. ANS, §18,5,4,3, ivb). (31)

a.

b.

ndl. het joodse volk, dat de slavernij ontvlucht uit Egypte en komt te staan voor de Rode Zee ‘das jüdische Volk, das der Sklaverei in Ägypten entflieht und vor dem Roten Meer zu stehen kommt’ (DBNL „Liter. Jaargang 3“, 2000) ndl. Als de boer op een paard komt te zitten, kan niemand hem meer bijhouden! ‘Als der Bauer auf dem Pferd zu sitzen kommt, kann ihn niemand mehr halten!’ (DBNL „De Huisvriend“, 1891) 3.2

Diachrone Entwicklungen im Niederländischen

Die ältere Form von den im modernen Niederländischen variierenden Konstruktionen ist jene mit komen und Partizip Perfekt. HIRAO (1965, 226) sieht den „niederdeutsch-niederländische[n] Raum als das Entstehungsgebiet der Fügung von kommen mit dem Partizip Perfekt“. HIRAO (1965, 206) und auch VAN DER HORST (2008, 910) stellen fest, dass sich die Konstruktion mit Infinitiv im 13. Jahrhundert auszubreiten beginnt. Im „Corpus Middelnederlands“ (CMNL), welches den Zeitraum zwischen 1250 und 1550 abdeckt, treten bereits Infinitiv und Partizip Perfekt nebeneinander auf. Mit dem Bewegungsverb lopen finden sich im Präsens fünf Belege mit Infinitiv (32a) und sechs Belege mit Partizip Perfekt (32b). Beide Typen sind im Korpus ab dem 14. Jahrhundert belegt. Im Perfekt sind beide Varianten jeweils dreimal im frühen 16. Jahrhundert belegt. Achtmal tritt im CMNL comen mit der nicht eindeutigen Form lopende auf (jeweils viermal im Perfekt und im Präsens). Diese Form repräsentiert entweder das Partizip Präsens (nndl. lopend) oder ein Gerundium (32c). Diese Verbform findet sich besonders bei Autoren aus Flandern, wie z. B. JACOB VAN MAERLANT, JAN YPERMAN und PIETER VOSTAERT. Wie

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in Kapitel 3.3 gezeigt wird, ist vor allem im Raum Lüttich ein solches Gerundium noch immer vital. Ein Großteil der Belege mit comen + lopende stammt aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts; der letzte Beleg ist von 1462. Wie im Mittelund Frühneuhochdeutschen zu beobachten (s. o. Kap. 2.2), tritt auch innerhalb einzelner Texte Variation bezüglich der Form des Bewegungsverbs auf, wie die Beispiele (32a) und (32c) illustrierten. (32)

a.

b. c.

mndl. van desen donckeren lande so comt lopen ‘von diesem dunklen Lande kommt gelaufen’ wörtl. […] kommt laufen („Reis van Jan van Mandeville“, 134rb)8 mndl. Gyon of Nylus comt gelopen ‘Gyon von Nylus kommt gelaufen’ („Die Dietsche Lucidarius“ ca. 1400–1420, 950) mndl. Dese riuiere comt lopende vten aerdschen ‘Dieser Fluss kommt aus der Erde gelaufen’ („Reis van Jan van Mandeville“ 1462, 35)

Es fällt auf, dass in den Belegen mit lopen im CMNL kein Richtungsadverb bzw. keine Verbpartikeln mit deiktischem Gehalt in der Konstruktion auftreten. Die Beschränkung der obligaten Verwendung einer deiktischen Verbpartikel scheint damit eine eher jüngere Entwicklung des Niederländischen darzustellen. 3.3

Variation in Dialekten des Niederländischen, Friesischen und Afrikaans

Die im Standardniederländischen konkurrierenden Bildungen mit Partizip Perfekt und Infinitiv haben auch eine diatopische Komponente. HAESERYN (1997) zeigt, dass regionale Präferenzen im Norden für den Infinitiv und im Südosten für das Partizip Perfekt bestehen. Eine Erhebung des Meertens Instituut von 1978 bestätigt dieses Bild (s. Abb. 2). Allerdings gibt es eine breite Übergangszone beider Varianten und sogar idiolektale Variation (vgl. CORNIPS 2002; HAESERYN 1997). Idiolektale Variation zwischen den Typen Infinitiv und Partizip Perfekt findet sich laut der Erhebung des Meertens Instituuts besonders in den Dialekten (Nord-) Brabants. Das Partizip Perfekt wird nach den Daten des Meertens Instituuts nahezu ausschließlich in der südzentralen Dialektgruppe (Süd-Gelders, Brabants) sowie im Flämischen und Limburgischen verwendet, während der Infinitiv in der nordöstlichen, niedersächsischen Dialektgruppe (Kollumerlands, Drents, Twents, GeldersOverijssels, Veluws) präferiert wird (Abb. 2). Eine Übergangszone zwischen Infinitiv und Partizip Perfekt findet sich entlang des Gebiets zwischen Maas, Waal und Lek (Rhein). Auch in den Grenz- und Küstenregionen sind vermehrt beide Varianten parallel gebräuchlich. Keine areale Beschränkung findet sich bei der 8

ca. 1357–1371, veröffentlicht 1462.

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

163

Bildung mit Partizip Präsens, die im gesamten niederländischen Sprachraum belegt ist (vgl. Archiv des Meertens Instituut, Karten Nr. 606 u. 608 in KRUIJSEN / VAN DER SIJS 2013). Die Frage ist, ob diese Variation auch semantische Variation widerspiegelt.

Abb. 2: Karte Nr. 606 des Meertens Instituut in KRUIJSEN / VAN DER SIJS 2013; basierend auf Vragenlijst 52, Frage Nr. 6: De agent kwam de straat in fietsen/gefietst oder kwam fietsend de staat in; eigene Darstellung auf Basis der SAND-Grundkarte

Im Fragebogen des Meertens Instituuts wird diese Konstruktion in zwei Sätzen (einmal mit Präsens, einmal mit Perfekt) als Ankreuzfrage getestet (Vragenlijst 52, Fragen Nr. 6 u. 7). Die Informanten sollten angeben, ob die Konstruktion vorkommt und welche von ihnen die gebräuchlichste Variante sei. Zusätzlich steht ein leeres Textfeld zur freien Antwort auf die Frage „Wenn Ihr Dialekt sowohl über die Konstruktion mit lopen oder fietsen als auch die mit gelopen oder gefietst verfügt, was ist dann der Unterschied in der Bedeutung?“ (s. Abb. 3).

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Abb. 3: Ausschnitt eines Fragebogens der Vragenlijst 52 des Meertens Instituut. Antwort auf IV: b) hij komt pas de straat ingereden (of gefietst); c) hij is al in de straat en rijdt (fietst) door ‘b) er kommt gerade in die Straße gelaufen (oder geradelt); c) er ist schon in der Straße und läuft / radelt dort’

Einige wenige dieser Antworten, wie z. B. jene in Abb. 3, sprechen für die von BELIËN (2016) und EBELING (2006) vorgeschlagenen semantischen Unterschiede zwischen Infinitiv und Partizip Präsens.9 Allerdings findet sich, wie in Abb. 3, die spiegelbildliche Beschreibung von BELIËNS (2016, 18) Feststellung: Hier unterstreicht das Partizip Perfekt den Anfang einer Bewegung. Beide Positionen lassen sich diplomatisch mit der Annahme vereinen, dass vermutlich das Partizip Perfekt im Gegensatz zum Infinitiv den Zustandswechsel einer Handlung hervorhebt. Von der niederländischen Dialektologie bislang wenig beachtet wurde die Konstruktion mit te-Infinitiv. Im „Dynamische Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten“ (DynaSAND Frage Nr. 310)10 finden sich Hinweise darauf, dass diese Form in den limburgischen (33a) und friesischen (33b) Dialekten Ver9

Für die Bereitstellung der Fragebögen danke ich dem Meertens Institut (insbesondere NICOLINE VAN DER SIJS). JEFFREY PHEIFF danke ich für Transliterierung und Übersetzung relevanter Fragebögen. 10 Bei Frage Nr. 310 handelt es sich um Bewerungsaufgaben (und ggf. Übersetzung) des Satzes Zij kwamen aan te gewandelen ‘Sie kamen angelaufen’. Die Antworten zu dieser Frage entsprechen dem Bild aus Vragenlijst 52 des Meertens Instituut (s. o.) mit einem gröberen Netz von 107 Ortspunkten: während im Süden das Partizip Perfekt vorherrscht, ist im Norden der Infinitiv weiterverbreitet.

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

165

wendung finden. In den Belegen aus der Provinz Limburg tritt ein te-Infinitiv mit ge-Präfix auf (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 517). (33)

a.

b.

limb.-ndl. Zeej kwaeme aan te gelaupe ‘Sie kamen angelaufen’ wörtl. kamen an zu gelaufen (Baarlo, DynaSAND Frage Nr. 310) fries. Ze kwamen der an te kuieren ‘Sie kamen angelaufen’ wörtl. kamen an zu laufen (Oostermeer/Eastermar, DynaSAND Testsatz Nr. 310)

Belege für den te-Infinitiv finden sich jedoch nicht im Korpus des gesprochenen Friesischen (KSF). Eine weitere Besonderheit des Limburgischen ist die Verwendung eines Gerundiums wie in (34) (vgl. DynaSAND Testsatz Nr. 330). Diese Form wurde im SAND lediglich in den limburgischen Dialekten abgefragt, wo sie laut DynaSAND nur im Süden verbreitet ist (Abb. 4) und hier bereits seit dem Mittelniederländischen belegt ist (s. o. Kap. 3.2). (34)

limb.-ndl. Lopentere kwam ik hem tegen ‘laufen-d kam ich ihm entgegen’ (Opglabbeek, DynaSAND Frage Nr. 330)

Abb. 4: DynaSAND Frage Nr. 330: Lopentere kwam ik hem tegen

Auch im Afrikaans gibt es die Konstruktion mit Bewegungsverb. Laut meiner muttersprachlichen Informantin JOHANITA KIRSTEN steht das Bewegungsverb im Perfekt Partizip (35). Die Richtungspartikel scheint nicht obligatorisch zu sein. Allerdings ist die Konstruktion weder im VivA Korpus belegt, noch wird sie in

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Lea Schäfer

der Übersichtsarbeit von DU PLESSIS (1990, 72) zu Funktionen von kom ‘kommen’ und gaan ‘gehen’ im Afrikaans erwähnt. (35)

a. b.

af. Die man het om die hoek gehardloop gekom. ‘Der Mann kam um die Ecke gerannt.’ wörtl. Der Mann hat um die Ecke gelaufen gekommen. af. Sittend by die venster kom twee voëls verbygevlieg. ‘Am Fenster sitzend kommen zwei Vögel vorbei geflogen.’ wörtl. Sitzend an dem Fenster kommen zwei Vögel vorbei geflogen. (Übersetzungen von JOHANITA KIRSTEN)

Bei stativen Verben steht der te-Infinitiv (36). Besonders die Konstruktion mit te staan ist wie im Niederländischen stark lexikalisiert. (36)

af. ’n groot uitdaging te staan gekom ‘Eine große Herausforderung kam’ wörtl. Eine große Herausforderung zu stehen gekommen (VivA Korpus; s. a. DU PLESSIS 1990, 73 Bsp. 54)

(37)

a.

b.

c.

d.

e.

af. Dit kom reën, aber *Dit kom om te/en reën ‘Es fängt an zu regnen/Regen’ wörtl. Es komme regnen, *Es kommen zu regnen (DU PLESSIS 1990, 72 Bsp. 46a; ebenfalls belegt im VivA Korpus) af. Dit gaan reën ‘Es fängt an zu regnen’ wörtl. Es gehen regnen/Regen (DU PLESSIS 1990, 72 Bsp. 46b; ebenfalls belegt im VivA Korpus) af. Dit gaan kom reën ‘Es fängt an zu regnen’ wörtl. Es gehen kommen regnen/Regen (Blogeintrag von März 2017)11 af. Dit sal kom/gaan reën ‘Es wird anfangen zu regnen’ wörtl. Es soll kommen/gehen regnen/Regen (DU PLESSIS 1990, 72 Bsp. 46c) af. Dit begin (net) te reën. ‘Es beginnt (gerade) zu regnen’ (Übersetzung von JOHANITA KIRSTEN)

Laut DU PLESSIS (1990, 72) hat kom in der ingressiven Verwendung Hilfsverbstatus und ist mit gaan austauschbar (37b). Auch gibt es Hinweise auf die gleichzeitige Verwendung von gaan und kom (37c), die an das alemannische Crossdoub11 URL: ; Stand: 01.07.2017.

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

167

ling erinnern (vgl. LÖTSCHER 1993). Allerdings scheint diese Verwendung mit kom und Infinitiv (bzw. Nomen) auf das Orange River Afrikaans im Westen und Norden Südafrikas (und ggf. auch auf das Afrikaans Namibias) beschränkt zu sein (vgl. DU PLESSIS 1990). Das Futur wird hier, wie im Niederländischen, mit sal ‘sollen’ gebildet (37d). Die aus dem Süden stammende Informantin lehnte die Konstruktion mit kom dementsprechend ab (37e). Allerdings konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden, ob reën hier einen Infinitiv oder ein Substantiv darstellt und ob die Konstruktion auch mit anderen Verben Ingressivität ausdrücken kann. Recherchen im Korpus des „Virtuele Instituut vir Afrikaans“ (VivA) blieben erfolglos. Das Partizip Präsens ist im Afrikaans, wie (38) zeigt, durchaus erhalten. (38)

af. Hy kom rokend uit die huis uit. ‘Er kommt rauchend aus dem Haus heraus’ (Übersetzung von JOHANITA KIRSTEN) 4

DIE KONSTRUKTION IM JIDDISCHEN

Richten wir nun unseren Blick auf das Jiddische als eine weitere westgermanische Sprache, die sich durch ihre besondere soziolinguistische Situation und den intensiven Kontakt zu slavischen Varietäten im gewisser Hinsicht losgelöst von den typischen kontinentalwestgermanischen Sprachen, wie Niederländisch und Deutsch, entwickelt hat. 4.1

Die Situation im modernen Ostjiddischen

Zur Semantik der Konstruktion im Jiddischen bestehen bislang keine Arbeiten. Aus Mangel an muttersprachlichen Informanten kann im Folgenden lediglich die Formseite behandelt werden. Konstruktionen mit kumen und Bewegungsverb werden im Jiddischen äußerst systematisch mit tsu-Infinitiv gebildet wie in (39) illustriert. Die Setzung eines Richtungsadverbs ist – wie im Deutschen – nicht obligatorisch. (39)

a. b. c.

jid. az der tsug kumt tsu forn jid. az der tsug kumt aher tsu forn jid. *az der tsug kumt tsu aher forn

Üblicherweise steht das Adverb zwischen kumen und dem Bewegungsverb (40a, 41a). In seltenen Fällen des Gegenwartsjiddischen kann das Richtungsadverb nach rechts verschoben werden (40b, 41b). In älteren Quellen finden sich vereinzelte Belege für die Position rechts des Kopfes (41c), die im modernen Jiddischen mit seiner kopfinitialen VP kaum mehr möglich sind (40c).

168

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(40)

a. b. c.

jid. az der tsug kumt aher tsu forn jid. az der tsug kumt tsu forn aher jid.?*az der tsug aher kumt tsu forn

(41)

a.

jid. vayl yeder yid, vos kumt aher tsu forn („Corpus of Modern Yiddish” = CMY, Forverts 01.09.2009) jid. vos zey zaynen gekumen tsu flien aher (CMY, Forverts 06.05.2009) jid. un vel aheym kumen tsu forn (CMY, Briv fun Sholem Ash)

b. c.

Die Konstruktion ist im Jiddischen mit allen Bewegungsverben möglich; sogar mit geyn ‘gehen’ (42a), welches im deutschen Standard bei dieser Konstruktion blockiert ist (42b) aber auch in den deutschen Dialekten belegt ist (42c). (42)

a.

b. c.

jid. es iz a meydl gekumen tsu geyn ‘Es ist ein Mädchen gegangen kommen’ wörtl. gekommen zu gehen (CMY, Forverts 07.11.2008) dt. *es ist ein Mädchen gegangen kommen moselfr. do küt e ze gohn ‘da kommt er gegangen’ wörtl. [...] kommt er zu gehen („Rheinisches Wörterbuch“ Bd. 4, 1151)

Der morphologische Unterschied im Gegenwartsdeutschen zwischen Konstruktionen mit kommen und Bewegungsverb (Partizip I/II) und kommen mit Zustandsverb (zu-Infinitiv) (vgl. Bsp. 7) findet sich auch im Jiddischen. Hier wird bei Zustandsverben zum + Infinitiv verwendet, also eher eine Nominalisierung (43). (43)

a.

b.

jid. yedn gekumenem tsum shteyn hot men aroysgegebn a liste [...] ‘Jedem der zu stehen kam (wörtl. zum Stehen), hat man eine Liste gegeben [...]’ (CMY, Forverts 2006–2010) jid. ven es kumt tsum lign oyf a geleger ‘wenn es zu liegen kommt auf dem Bett’ wörtl. [...] zum Liegen [...] (Forverts 17.08.2007)

Belege mit kumen + Schallverb konnten in den Korpora nicht gefunden werden. Im modernen Jiddischen existiert eine weitere Konstruktion mit oyskumen + tsu-Infinitiv wie in (44a), die eine Semantik des Sich-zufällig-Ergebenden ausdrückt (vgl. WEINREICH 1968, 778). Diese Form ist vergleichbar mit Konstruktionen mit ausgehen im Bairischen (v. a. Südbairischen) wie in (44b). Wobei oysku-

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

169

men + tsu-Infinitiv im Jiddischen allen Anschein nach deutlich stärker grammatikalisiert ist als in den deutschen Dialekten. (44)

a. b.

jid. mir iz mer nit oysgekumen tsu zen di froy. ‘Es hat sich mir nicht die Gelegenheit ergeben, die Frau zu sehen.’ (CMY, Forverts 28.11.2008) österr.-dt. Es geht sich noch aus, dass wir den Zug erreichen. („Duden“ Online)12 4.2

Diachrone Entwicklungen im Jiddischen

Die Überschrift dieses Kapitels ist irreführend, denn eine diachrone Entwicklung der Konstruktion ist im Jiddischen nicht zu verzeichnen. Überraschend früh ist die Bildung mit tsu-Infinitiv bezeugt. Mir ist lediglich ein Beleg aus einem dem Mittelhochdeutschen sehr nahestehendem altjiddischen Text bekannt, in dem das Partizip Perfekt Verwendung findet (45). (45)

mjid. da kåm ain dén rink gågån / aiin altår uualéra ‘da kam in den Ring gegangen / ein alter Walera’ („Dukus Horant“ um 1300, 44.4)

Vor dem Hintergrund der starken mittelhochdeutschen Beeinflussung des Jiddischen ist eine naheliegende Idee, dass im Kontext der Bewegungsverben tsu nicht der Infinitivmarkierer ist, sondern die mittelhochdeutsche Präposition zuo (vgl. 11b, f). So sind Belege für die alte Präposition zuo noch im Mitteljiddischen (1500 – ca. 1700) durchaus häufig (46a).13 Dagegen sprechen Belege wie in (46b), die zeigen, dass im Gegenwartsjiddischen zwar durchaus noch die direktionale Präposition tsu erhalten geblieben ist, allerdings in der Konstruktion mit kommen und Bewegungsverb auch ein tsu in der Funktion des Infinitivmarkers fungiert. (46)

a.

b.

mjid. un wu im is zu-gėkume’n ouf den feld ‘und der ihm entgegen gekommen (wörtl. zu gekommen) ist auf dem Feld’ („Historische Syntax des Jiddischen“ = HSJ)14 jid. ven der yungerman iz gekumen tsu im tsu loyfn mit a vey‫־‬geshray ‘Als der junge Mann mit einem Wehklagen zu ihm gelaufen’ wörtl. [...] zu laufen gekommen ist (CMY, Forverts 10.4.2009)

12 URL: ; Stand: 12.07.2017. 13 Auch im Mittel- und Frühneuhochdeutschen der MHDBDB findet sich die Präposition zuo häufig mit der Konstruktion kommen + Bewegungsverb. 14 „Maese Westindie“, Prag ca. 1665.

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Wie im Deutschen unterscheidet das Jiddische demnach zwischen der Präposition tsu und dem Infinitivmarker tsu. Leider fehlen Detailuntersuchungen zur Grammatikalisierung des tsu-Infinitivs im Jiddischen; vorerst muss angenommen werden, dass sich die Situation im Jiddischen nicht sonderlich stark von den Entwicklungen im Deutschen unterscheidet (vgl. HASPELMATH 1989; DEMSKE 2001; SCHALLERT in diesem Band). Ein Szenario zur Erklärung der Bildung mit zuInfinitiv des Bewegungsverbs würde eine analogische Ausdehnung im Zuge der Grammatikalisierung des tsu-Infinitivs annehmen (47). (47)

wenn a1 : b1 dann a2 : b2; x = 2 dich fahren zu können : *du kommst zu gefahren dich fahren zu können ⇒ du kommst zu fahren

HANSEN (2014, 160) zeigt, dass im Gegenwartsjiddischen die meisten Verben einen Null-Infinitiv gegenüber dem tsu-Infinitiv vorziehen.15 Eigene Auswertungen der Belege in den jiddischen Korpora (vgl. Tabelle 4 im Anhang) zeigen, dass kumen mit Bewegungsverb immer mit tsu-Infinitiv auftritt und der Null-Infinitiv nicht belegt ist. Der tsu-Infinitiv bei kumen + Bewegungsverb verhält sich damit synchron nicht identisch zum Infinitiv von z. B. Modalverben. Auch ist er fester Bestandteil der Konstruktion in allen Stadien des Jiddischen und Evidenz für mögliche Übergangsformen wie du kommst zu gefahren ist nicht vorhanden. Auch eine dialektale Variation ist im Jiddischen nicht zu erkennen. Sowohl ost- als auch westjiddische Varietäten zeigen die Bildung mittels tsu-Infinitiv (vgl. SCHÄFER 2017, 293–299). Mit der diatopischen Kontinuität dieser Konstruktion im Jiddischen kann sie als ein weiteres Phänomen gelten, das die Monogenese von Ost- und Westjiddisch unterstreicht (vgl. FLEISCHER 2014). Die Konstruktion schwankt in den Jiddisch-Korpora in der Häufigkeit ihrer Verwendung stark, was v. a. als Indiz gewertet wird, dass Verwendungen der Bildung textsorten- und sprecherabhängig sind. Während das „Diachronic Corpus of Yiddish“ (= DCY) bei ca. 200 000 Tokens insgesamt 27 Belege für die Konstruktion aufweist (drei Funde mit dem Verb loyfn „laufen“), finden sich im deutlich kleineren HSJ (41 878 Tokens) lediglich zwei Belege, jeweils mit dem Verb tsien „ziehen“ (als explizites Bewegungsverb). In den Korpora des Gegenwartsjiddischen ist die Konstruktion hingegen etwas häufiger. Im „Corpus of Modern Yiddish“ (= CMY; ca. 10 Mio. Tokens) finden sich insgesamt 60 Belege (allein in der Konstruktion mit loyfn „laufen“ 41 Funde), während im Korpus zum gesprochenen Jiddischen („Yiddish multimedia corpus“ = YMC) mit 90 869 Tokens 4 Belege mit forn ‘fahren’ und geyn ‘gehen’ auftreten. Proportional ist das deutlich mehr. Wenn das YMC gleich viel Tokens hätte wie das CMY hätte, würde man 400 Belege erwarten. Leider sind jedoch keine Belege mit loyfn im YMC zu fin-

15 Dies ist eher eine jüngere Entwicklung des Ostjiddischen. So stellt HANSEN (2014, 158) fest, dass Jiddischsprecher mit einer Familiengeschichte im polnischsprachigen Gebiet stärker am tsu-Infinitiv festhalten als andere.

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

171

den, was den direkten Vergleich mit den übrigen Korpusdaten ausschließt (vgl. Kap. 5). Interessant ist ein Vergleich zwischen der Häufigkeit der Konstruktion mit laufen im CMY (41 Belege ca. 10 000 000 Tokens) und im DWDS (60 Belege bei 1 278 300 140 Tokens), da beide Korpora auf literarische Texte bzw. Zeitungstexte fußen. Der Log-Likelihood-Test zeigt, dass sich die Verteilungen in beiden Korpora signifikant voneinander unterscheiden (LL-Wert = 262,91; ELL = -0,00000; Bayes Factor/BIC > 10 = 241,93). Im jiddischen CMY-Korpus ist die Struktur frequenter als im deutschen DWDS-Korpus. Der Vergleich zwischen der MHDBDB (163 Belege) und dem DCY (3 Belege) zeigt hingegen nahezu keinen Unterschied in der Häufigkeit der Konstruktion mit laufen als Bewegungsverb (vgl. Kap. 5). Es muss beachtet werden, dass ins DCY auch Quellen des modernen Ostjiddischen eingeflossen sind; die hier relevanten Belege stammen aus vorwiegend westjiddischen Quellen von 1465, 1665 (ostjiddisch) und 1666. Die strikte Verwendung des tsu-Infinitivs überrascht besonders in Hinblick auf die relative Seltenheit dieser Form in deutschen und niederländischen Varietäten. Der zu-/te-Infinitiv tritt eher selten und vor allem in Phasen und Regionen auf, die durch eine generell hohe morphologische Variation dieser Konstruktion gekennzeichnet sind. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass im Jiddischen in einer Konstruktion mit kumen keinerlei Bildung mit dem Präsenspartizip (z. T. auch als Gerundium bezeichnet; vgl. JACOBS 2005, 176) möglich ist (48) und auch in den diachronen Quellen nicht belegt ist. (48)

jid. *az der tsug kumt forndig ‘dass der Zug fahrend kommt’ 4.3

Die Korpusdaten im Vergleich

Da die untersuchten Korpora deutlich in ihrer Größe schwanken, wurden die Daten normalisiert. Dazu wurde die Frequenz der Belege auf eine einheitliche Korpusgröße von 1 Mio. Tokens angepasst (vgl. Tabelle 1). Wie in Abbildung 5 illustriert, fällt auf, dass die historischen Korpora deutlich mehr Belege der Konstruktion mit dem Bewegungsverb laufen aufweisen als die der Gegenwartsprachen (20.–21. Jahrhundert). Jiddisch (DCY) und Mittel- bzw. Frühneuhochdeutsch (MHDBDB) verhalten sich bezüglich der Frequenz der Struktur in der Normalisierung nahezu identisch, während im Niederländischen die Struktur auch im historischen Korpus (CMNL) insgesamt niedrigfrequent ist. Nur ein geringer Unterschied findet sich in der Häufigkeit der Konstruktion in den von der Auswahl der Textsorten und dem historischen Zeitraum sehr ähnlichen Korpora DWDS und DBNL. Das Bild eines allgemeinen Rückgangs der Konstruktion zu den Gegenwartssprachen hin kann aber auch ein Reflex der unterschiedlichen Textsorten sein.

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Während die historischen Korpora mehr poetische beinhalten, bestehen die Korpora zu den Gegenwartssprachen vorwiegend aus Zeitungstexten.

Korpora MHDBDB DWDS DCY CMY CMNL DBNL

Token 10 422 716 1 278 300 140 200 000 10 Mio. 3 044 417 161 642 988

Belege (laufen) 163 60 3 41 11 89

Normalisiert (1 Mio.) 15,639 0,047 15 4,1 3,613 0,551

Tab. 1: Belegte Typen der Konstruktion kommen + Bewegungsverb in germanischen Varietäten

Sofern wir annehmen können, dass der Frequenzrückgang der Konstruktion in den untersuchten Korpora nicht durch textlinguistische Faktoren hervorgerufen wird, stellt sich die Frage, welche internen Faktoren hier gewirkt haben. Im Folgenden werden mögliche Szenarien vorgestellt.

Abb. 5: Frequenz von kommen + laufen-Konstruktionen in den untersuchten Korpora auf 1 Mio. Wörter pro Korpus normalisiert

5

HYPOTHESEN

Es konnte gezeigt werden, dass die Konstruktion in den untersuchten kontinentalwestgermanischen Varietäten ein hohes Variationspotenzial an ihrer morphologischen Oberfläche aufweist. Nun sollen erste Überlegungen zu möglichen Entwicklungsstufen und Katalysatoren zusammengetragen werden, die sich gegenseitig nicht zwangsläufig ausschließen müssen.

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

173

Tabelle 2 listet die belegten morphologischen Typen auf. Daraus ergibt sich, dass das Partizip Präsens als die ältere Ausgangsstruktur der Konstruktion angenommen werden kann, aus der sich die Bildungen mit Partizip Perfekt, Gerundium oder (zu-)Infinitiv entwickelt haben. Typ kommen + Partizip Präsens kommen + Partizip Perfekt kommen + (zu-) Gerundium kommen + Infinitiv kommen + zu-Infinitiv

Varietäten Ahd.–Nhd., As.–Ndt./Ndl., Fries., Norw., Schwed., Isl. Mhd.–Nhd., Mnd., Mndl.–Ndl., Af., mod. dt. Dialekte Mhd., Zimbrisch, alem. Dialekte, Limburgisch Mhd.–Frnhd., Mndl.–Ndl., dt. Dialekte Jid., Frnhd.–Nhd., dt. Dialekte, (Fris.)

Tab. 2: Belegte Typen der Konstruktion kommen + Bewegungsverb in germanischen Varietäten

Eine lineare Entwicklung der Konstruktion könnte, wie in (49) vorgeschlagen, davon ausgehen, dass sich aus den Partizipien allmählich Formen mit Infinitiv herausbilden. Ein solcher Prozess würde auf eine Grammatikalisierung von kommen zu einer Kopula (und evtl. darüber hinaus) hindeuten. (49)

Part. I > Part. II > zu-Gerundium/Infinitiv > Infinitiv

Möglich wäre es auch eine diachrone Entwicklung wie im Schema (50) anzunehmen, die alle Konstruktionstypen direkt aus dem Partizip Präsens ableitet. Hierfür wären in erster Linie phonologische Prozesse verantwortlich, wie z. B. die Apokope (-de > -d) und die Assimilation von nd > n (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 394), die eine Indifferenzform zwischen Partizip Präsens und Infinitiv bewirkt (s. u. Kap. 6.1). Dies wiederum kann eine morphologische Reaktion auslösen, in der als Profilierung des Partizips die Form des Partizips Perfekt an die Stelle des Partizips Präsens gesetzt wird. Nicht ganz passend in dieses Schema ist die Bildung mit zuInfinitiv des Bewegungsverbs. Die Frage ist hier, ob es sich eher um ein „defektes“ Gerundium handelt oder um ein Nebenprodukt der Grammatikalisierung des Infinitivmarkers zu, der ggf. auch den Infinitiv als solchen besonders markiert. (50)

Part. I / | \ Gerund. Inf. Part. II

Während für eine Entwicklung wie in (49) morphologische Prozesse eine Rolle spielen, wäre (50) morphophonologisch motiviert. Beide Hypothesen schließen sich gegenseitig jedoch nicht aus, sondern beeinflussen zusammen den Grammatikalisierungsprozess der Konstruktion. So wäre in etwa die Profilierung des Partizips gegenüber dem Infinitiv ein Indiz dafür, dass die Struktur im Gegensatz zu

174

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Bildungen mit (zu-)Infinitiv keine semantische Spezialisierung erfährt. Die Szenarien können ausschließlich die unterschiedlichen Optionen erklären, in denen die Konstruktion in den westgermanischen Varietäten auftritt. Da aber in der Regel immer auch eine komplementäre Bildung mit Partizip Präsens möglich ist, muss dieses erhalten geblieben sein. 5.1

Indifferenzhypothesen

DAL (1954) geht davon aus, dass Partizip Perfekt und Infinitiv indifferent (formgleich) wurden und sich daraus resultierend in der Konstruktion mit kommen + Bewegungsverb im Deutschen das Partizip Perfekt durchgesetzt hat und im Niederländischen der Infinitiv (51). (51)

Part. II Inf. \ / Indifferenzform

Der vorliegende Beitrag konnte soweit zeigen, dass es in einer Vielzahl deutscher und niederländischer Varietäten zu keiner klaren Durchsetzung einer Form gegenüber einer anderen gekommen ist und auch nirgends Indifferenzformen zwischen Partizip Perfekt und Infinitiv auftreten. Auch VOGEL (2005) schließt DALS Szenario aus, weil Partizip Perfekt und Infinitiv nicht inhaltsgleich sind und so ihrer Meinung nach zwar lautliche Indifferenz besteht, aber keine semantische. Vor allem aber erklärt DAL damit lediglich die Opposition zwischen Partizip Perfekt und Infinitiv, nicht aber die zwischen diesen beiden und dem Partizip Präsens bzw. den daraus hervorgegangenen Gerundien. Ein mit DALS Hypothese verwandter Ansatz nimmt Indifferenzformen zwischen Partizip Präsens und Infinitiv an, die dazu geführt haben, dass in den Varietäten des Mittelniederländischen, Mittelhochdeutschen und Jiddischen durch den Verlust bzw. Abbau des Partizips Präsens der Infinitiv bzw. zu-Infinitiv in der hier behandelten Fügung an der Position des Partizips Präsens auftritt. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung des Partizips Präsens (bzw. „Gerundiums“ s. o. Kap. 4.2) im modernen Jiddischen als ein Phänomen zu nennen, das zeigt, wie stark phonologische Prozesse die Differenzierung zwischen Infinitiv und Partizip Präsens in mittel- und frühneuhochdeutscher Zeit angreifen. Wirksam wird hier zum einen die Apokope (-de > -d) und zum anderen die Assimilation und nd > n (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 394). TIMM (2005, 126) zufolge entstand im Jiddischen zur Markierung des Partizips Präsens ein Fusionssuffix aus partizipialem -end und adjektivischem -ig, um die durch Lautwandel wie in (52)

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

175

bedrohte Opposition von Infinitiv und Partizipien aufrechtzuerhalten (TIMM 2005, 124–126).16 (52)

jid. as ain dragén vraw ‘als eine schwangere Frau’ wörtl. als eine tragen Frau (Codex Reuchlin IX Jes 26.17, um 1400; zit. nach TIMM 2005, 125)

Bildungen auf -endig sind im Deutschen bereits für das Alt- und Mittelhochdeutsche und auch für einige moderne mitteldeutsche Dialekte belegt (TIMM 2005, 126). Im Mitteljiddischen setzt sich das Präsenspartizip auf -endig (> mod. oj. -ndik), wie z. B. blü’éndig ‘blühend’, zwischen 1400 und 1550 durch TIMM (2005, 125–126). Hinzu kommt, dass das moderne Ostjiddische sehr deutlich Partizipien von Infinitiven unterscheidet und Indifferenzformen damit vermeidet. Allgemein zeigt sich das Jiddische eher infinitivscheu, z. B. mit dem Verlust von IPP (vgl. VIKNER 2001, 77), und hält strikt an der Bildung von ge-Partizipien ungeachtet phonologischer Bedingungen fest (vgl. SCHÄFER 2017, 245–248). Ein vergleichbares Bild zeigen die deutschen Dialekte. Auch die Gerundien des Schweizer Alemannischen und des Zimbrischen sind aus dem Partizip Präsens hervorgegangen (s. o.). Laut „Westfälischem Wörterbuch“ (Bd. 3, 1046) geht auch dort die Form des Infinitivs auf das Partizip Präsens zurück. Allerdings wurde die Entwicklung vom Präsenspartizip zum Infinitiv bereits im Kontext der Grammatikalisierung von werden als Futurauxiliar im Deutschen ausführlich diskutiert und v. a. auf Grund geolinguistischer Faktoren abgelehnt (vgl. BECH 1882; DAL 2014, 151–154; NÜBLING et al. 2013, 280). Doch der räumliche Faktor darf auch nicht überbewertet werden. 5.2

Grammatikalisierungshypothese

Neben der Möglichkeit, dass die in den westgermanischen Sprachen verbreitete morphologische Variation durch phonologische Prozesse beeinflusst ist, besteht die Option, dass die bestehende Vielfalt der morphologischen Bildungstypen durch Grammatikalisierungsprozesse ausgelöst wurde. An dieser Stelle ist das bereits angesprochene werden-Futur im Deutschen zu erwähnen. Dieses hat sich aus einer bereits im Althochdeutschen belegten Inchoativ- und Ingressiv-Kopula ab dem 13. Jahrhundert entwickelt. Die Grammatikalisierung dieser Futurformen wird allerdings erst für das 16. Jahrhundert angesetzt (BOGNER 1989, 74–78). Auch hier nahm die Auxiliarisierung den Weg vom Partizip Präsens zum Infinitiv. Im Mittelhochdeutschen stehen sich mit Partizip Präsens + werden und Partizip 16 Derartige Fusionen sind in der jiddischen Wortbildungsmorphologie keine Seltenheit, wie zum Beispiel mit Blick auf die Diminutiva, bei denen mehrfache Plural- und Diminutivsuffixe aneinandergereiht werden können, deutlich wird (vgl. SCHÄFER im Ersch.).

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Perfekt + werden zwei semantische Oppositionen entgegen. Während das Partizip Präsens ingressive Bedeutung trägt, drückt das Perfektpartizip inchoative Bedeutung aus (PAUL 2007, 295).17 Dem entspricht auch SCHIRMUNSKIS (1962, 515) Feststellung, dass das Partizip Präsens generell eine durative Semantik ausdrückt (s. a. WEISS 2017). Es fällt auf, dass diese Dichotomie ein Äquivalent in der von BELIËN (2016) und EBELING (2006) vorgeschlagenen Semantik der Konstruktion komen und Bewegungsverb im modernen Niederländischen findet (vgl. Tabelle 3). NÜBLING et al. (2013, 280) sehen in der Verwendung von werden als inchoativ-Kopula eine „semantische Brücke“ in der Grammatikalisierung zum Futurauxiliar. Insgesamt gestaltet sich die Entstehung des werden-Futurs als äußerst komplexes und noch nicht gänzlich enträtseltes Ereignis der deutschen Sprachgeschichte (vgl. DAL 2014, 151–154). Mhd. werdenBildungen (PAUL 2007, 295)

Semantik

Partizip Präsens

inchoativ (Übergang/ Phase) ingressiv (Beginn)

Partizip Perfekt

Ndl. komen + Bewegungsverb (BELIËN 2016; EBELING 2006) Infinitiv Partizip Perfekt

Semantik

inchoativ (Handlungsorientiert) egressiv/ingressiv (Zustandswechsel)

Tab. 3: Mhd. semantische Nähe zwischen werden vs. ndl. komen + Bewegungsverb

Darüber hinaus muss ein bisher vernachlässigter, aber entscheidender Aspekt herangezogen werden. Verben der Bewegung sind übliche Futurgrammeme (BYBEE et al. 1994, 266–267). Die Konstruktionen von kommen mit Schall- und Zustandsverben zeigen, dass kommen als Inchoativ- und Ingressivkopula in allen untersuchten Varietäten – mit Ausnahme der Schallverben im Jiddischen – Verwendung findet. Typologisch und besonders in den indoeuropäischen Sprachen ist kommen vielfach als Futurauxiliar grammatikalisiert (DEVOS / VAN DER WAL 2014; FLEISCHMANN 1982, 79) und ist z. B. im Schwedischen mit att-Infinitiv (22 c) zu finden (vgl. HILPERT 2008, 54–69; 125–131). Im Deutschen und Niederländischen übernimmt kommen in vielen Fällen Zukunftsbedeutung, z. B. (53a–d). Ähnliches gilt für das Verb gehen (53e), welches im Niederländischen sogar als reguläres Futurauxuliar auftritt (29; vgl. u. a. HILPERT 2008, 106–118). Die Bildung mit Bewegungsverb und Partizip Perfekt 17 Leider werden die Begriffe „ingressiv“ und „inchoativ“ zum Teil unterschiedlich oder auch synonym verwendet (vgl. HEINOLD 2015, 27). Ich folge der auch von NÜBLING et al. (2017) verwendeten Terminologie von FLÄMIG (1965), der unter „inchoativ“ eine sich im Übergang befindende Aktionsart (reifen) versteht und „ingressiv“ zur Beschreibung einer einsetzenden Aktionsart (einschlafen) verwendet.

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten

177

hebt im Deutschen das zukünftige Erreichen/Passieren des deiktischen Zentrums hervor (53f vs. g). Insofern modalisiert kommen die Wahrheitsbedingung der ankommenden Bewegung als zutreffend. Neben dem Deutschen werden-Futur ist das typologisch deutlich häufiger auftretende gehen-Futur ein interessanter Vergleichspunkt für unsere kommen-Konstruktion. Die Grammatikalisierung des niederländischen gaan + Infinitiv-Futurs war bereits im 17. Jahrhundert vollständig abgeschlossen (HILPERT 2008, 114). Laut HAESERYN (1997) waren gaan-Konstruktionen zunächst Progressivmarkierungen. (53)

a. b. c. d. e. f. g.

dt. Ich komme nach Augsburg. dt. Ich komme heute nicht arbeiten. (umgangssprachlich) ndl. ik kom niet werken vandaag. (Blogeintrag auf )18 ndl. Ik kom naar Amsterdam. (Gleichnamiger Schlager von Ed Palermo) dt. Ich gehe in den Botanischen Garten. dt. Ich komme zu dir gelaufen. dt. Ich laufe zu dir.

Kommen und gehen sind als deictic discourse sequencers (TRAUGOTT 1978, 385) gleichermaßen zur Tempusmarkierung geeignet. SUZANNE FLEISCHMANN (1982, 79) nimmt auf Basis romanischer Varietäten an, dass, wie in Schema (54) veranschaulicht, das gehen/kommen-Futur mit seinem progressiven Charakter sowohl die Semantik von ‘kommen’ als auch von ‘gehen’ abdeckt und einen deiktischen Nullpunkt benötigt, der in der Regel die Gegenwart des Sprechers (S) darstellt (vgl. REICHENBACH 1947). Nach ihrem Schema ist sowohl ein kommen- als auch ein gehen-Futur möglich und meist nur auf lexikalischer Oberfläche unterschieden. Allerdings beschreibt sie auch semantische Unterschiede zwischen den beiden Optionen. Während ein gehen-Futur die Zukunft eines sich bewegenden Egos (moving-ego) ausdrückt, dient das kommen-Futur dazu, die Zukunft eines Bewegungsereignisses (moving-event) auszudrücken (FLEISCHMANN 1982, 80). (54) COME ⇒ S ⇒ GO PAST

FUTURE

(The go-future perspective nach FLEISCHMANN 1982, 79) In den behandelten Varietäten konnte nur für westfälische Dialekte ein kommenFutur nachgewiesen werden (55). Das überrascht rein geographisch wenig, da sich 18 URL: ; Stand: 01.07.2017.

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das werden-Futur im 16. Jahrhundert laut BOGNER (1989, 84) von Osten nach Westen ausbreitet. Mit Vorsicht betrachtet könnte die areale Verteilung der Belege der kommen + Bewegungsverb-Bildung in den Dialektwörterbüchern eventuell auch ein Relikt dieser Entwicklung sein: v. a. im äußersten Westen und in den Randgebieten trägt kommen noch mehr futurische bzw. modalisierende Bedeutung (s. o. Kap. 2.3 Abb. 1). Dies bedarf allerdings weiterer Daten, als die hier vorgenommene Einschränkung auf die Konstruktion mit Bewegungsverb in Dialektwörterbüchern liefern kann. (55)

westfäl. Dat Bild kömmt tïegen ’n Spaigel te hangen. ‘Das Bild wird neben den Spiegel gehängt.’ wörtl. Das Bild kommt neben dem Spiegel zu hängen. („Westfälisches Wörterbuch“ Bd. 3, 1046)

In der Konstruktion mit Bewegungsverb ist kommen in den behandelten Varietäten kein Tempusauxiliar. Sie deckt allerdings, neben weiteren verwandten kommen-Konstruktionen, einige Aspekte ab, die für die Grammatikalisierung zu einem Futurauxiliar nötig sind (vgl. MAYERTHALER et al. 1980, 173, s. o. Kap. 2.3; NÜBLING 2006) und zeigt besonders Ähnlichkeiten zur Entwicklungen des werden-Futurs (vgl. DAL 2014, 151–154; BOGNER 1989, 84). Meines Erachtens sind Strukturen wie kommen + Bewegungsverb Indizien zum einen für das Futurpotenzial von kommen-Periphrasen,19 zum anderen aber auch ein Hinweis für stagnierende Grammatikalisierungsprozesse. Sprache, trotz all ihrer Dynamik, ist an und für sich ein träges Medium, in dem Prozesse auch abgeblockt werden können. Diese sprachstatischen Eigenschaften stagnierender Grammatikalisierungsprozesse haben bislang in der Variationslinguistik wenig Aufmerksamkeit bekommen. Im Gegenteil vermittelt die moderne Dialektologie vermehrt den Eindruck, Sprache sei ein instabiles, anfälliges und sich stets im Wandel befindendes System, das so ökonomisch wie möglich sein will und wie Wasser den schnellsten Weg sucht. Welche Rolle genau dem „historischen Junk“ in diesem System zukommt, ist dabei kaum von Interesse. Um die Idee einer aufgehaltenen Grammatikalisierung eines kommen-Futurs, deren Überreste in diversen Konstruktionen (u. a. jener mit Bewegungsverb) konserviert ist, zu prüfen, bedarf es weiterer Untersuchungen. Aufschlussreich wäre eine vergleichende (frequenzbasierte) Studie zur Verwendung der unterschiedlichen Konstruktionen mit kommen und mit werden vom Mittel- zum Neuhochdeutschen bzw. gaan vom Mittel- zum Neuniederländischen. Die Belegdaten zur Konstruktion mit Bewegungsverb zeigen, dass die Frequenz im Deutschen und Niederländischen ab der frühneuhochdeutschen Zeit deutlich zurückgeht. Dies dürfte unter Umständen mit dem Siegeszug des werden- bzw. gaan-Futurs zusammenhängen. 19 ROTHSTEIN (2011, 374), der in der Standarddeutschen kommen + Bewegungsverb Konstruktion durchaus temporale Elemente erkennt, führt diese allerdings v. a. auf die Verwendung des Partizip Perfekts zurück und nicht auf die inhärent futurische Semantik von kommen.

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Der langwierige Prozess der Grammatikalisierung des be going to-Futurs im Englischen (s. Bsp. 22a; vgl. u. a. BYBEE et al. 1994; HOPPER / TRAUGOTT 2003; WU et al. 2016), erfolgte nach HOPPER / TRAUGOTT (2003, 93) in drei Stadien: Während im ersten Stadium go-Konstruktionen mit einem directional verb und einem Finalsatz Progressivausdrücke sind, erlangt diese Konstruktion mit go im zweiten Stadium über eine Reanalyse des Progressivs bereits den Status eines Futurauxiliars. Jedoch erst im dritten Stadium wird die Zukunftsbedeutung der Konstruktion durch analogische Ausdehnung auf andere Verben übertragen. Parallel zur Ausdehnung des be going to-Futurs ist im Englischen ein Rückgang des will-Futurs zu verzeichnen (WU et al. 2016, 339). In den hier behandelten kontinentalwestgermanischen Varietäten ist die Grammatikalisierung der kommen-Konstruktion deutlich weniger vorrangeschritten, als in der vergleichbaren englischen Konstruktion. Vorausgesetzt Progressivität spielt für kommen-/gehen-Konstruktionen eine Rolle, müssen wir zunächst prüfen, ob diese in der hier behandelten Bildung von kommen + Bewegungsverb vorliegt. 5.3

Progressivhypothese

VOGEL (2005, 62) erkennt in der deutschen Konstruktion kommen + Bewegungsverb „als Nebenbedeutung […] Progressivität“. Auch BELIËNS (2016, 18) und EBELINGS (2006, 418) Einschätzung zur Bedeutung von niederländisch komen + Bewegungsverb im Infinitiv zielt auf den Ausdruck von Progressivität ab. Es lässt sich darüber streiten, inwiefern kontinental-westgermanische Sprachen im klassischen Sinne überhaupt aspektmarkierend sind. Dieser Diskussion ungeachtet wird hier zunächst angenommen, dass die in vielen westgermanischen Varietäten verbreiteten am- und tun-Infinitive (56c, d) Progressivkonstruktionen darstellen (vgl. VAN POTTELBERGE 2004). Im Unterschied zu den imperfektiven am- und tun-Konstruktionen (56c, d) trägt kommen + Bewegungsverb (56b) perfektive Bedeutung. Darüber hinaus trägt die Konstruktion deutlich mehr deiktische Information. Damit zeigt sie wiederum eine gewisse Nähe zur Tempusmarkierung und hebt sich deutlich von Aspekt als nicht-deiktischer Kategorie ab (vgl. REICHENBACH 1947; KLEIN 1969). Damit trägt sogar das reine Präsens (56a) mehr Potenzial zum Ausdruck von Progressivität als die Konstruktion mit kommen. (56)

a. b. c. d.

dt. er läuft : Raum- und Zeitdeixis unbestimmt, imperfektiv dt. er kommt gelaufen : Raum- und Zeitdeixis begrenzt, perfektiv dt. er ist am laufen : Raum- und Zeitdeixis unbegrenzt, imperfektiv dt. er tut laufen : Raum- und Zeitdeixis unbegrenzt, imperfektiv

Meines Erachtens liegt die progressive „Nebenbedeutung“ in der Grundbedeutung von Bewegungsverben, die in der Konstruktion durch die Dopplung zweier Bewegungsverben (kommen + Bewegungsverb) verstärkt ist. Die Konstruktion an

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sich trägt zumindest im Deutschen aber keine Eigenschaften von Aspekt. Auch für das moderne Ostjiddische, welches Perfektivität und Imperfektivität, zumeist mittels Präfixen und Verbpartikeln und dem reinen Infinitiv ausdrückt (vgl. JACOBS 2005, 221–222),20 ist kaum anzunehmen, dass die Konstruktion kumen + tsuInfinitiv aspektmarkierend ist, da sie nicht den bekannten aspektmarkierenden Mustern des Jiddischen entspricht. 5.4

Wortbildungshypothese

Ein nicht zu vernachlässigendes Randphänomen der Konstruktionen mit kommen und Bewegungsverb ist die Funktion der Richtungsadverbien/Verbpartikeln. Eine theoretische Erfassung der Konstruktion muss eine überzeugende Erklärung für den Umstand liefern, dass in einigen Varietäten die Richtungsadverbien obligatorisch sind und in anderen optional. Zunächst einmal kann angenommen werden, dass den Richtungsadverbien Funktionen von Wortbildung zukommen (vgl. ÖHL 2016). Ankommen, herkommen, vorbeikommen sind eigene lexikalische Einträge, die deiktisch unspezifische Bedeutungen von kommen ausschließen. Dies kann z. B. für das Zimbrische angenommen werden. Da hier kommen auch mit passivischer Bedeutung besteht, muss im Partizip Perfekt deutlich formuliert werden, dass in der Konstruktion mit Bewegungsverb (und vergleichbaren Konstruktionen, s. o. Kap. 2.3) nicht das Passivauxiliar kommen gemeint ist, sondern jenes zur deiktischen Verortung einer Bewegung. Interessant und für weitere Untersuchungen in dem Bereich unerlässlich ist der Umstand, dass im Zimbrischen dies nur im Fall von kommen + Partizip Perfekt geschehen muss und nicht bei Bildungen mit Partizip Präsens („Gerundium“). Eine weitere generelle Frage ist auch, ob die Richtungsadverbien/Verbpartikeln an kommen oder an den Bewegungsverben hängen. Während ich annehme, dass sie im Deutschen und Jiddischen als Richtungsadverbien an kommen hängen, gehören sie im Niederländischen (und vermutlich auch im Zimbrischen) als Verbpartikeln direkt zum Bewegungsverb. Auch dies könnte ein Grund dafür sein, dass sie im Niederländischen obligatorisch sind. Wenn das deiktische Zentrum und auch die direktionale Semantik aber nicht an kommen ausgedrückt wird, welche Funktion von kommen bleibt dann in der Konstruktion übrig? Eine Möglichkeit wäre der Ausdruck von Perfektivität, der nur von kommen und nicht von Verbpartikeln und Bewegungsverben übernommen werden kann. Ein näherer Blick auf die unterschiedlichen Bedeutungen der Konstruktion mit Infinitiv und Partizip Perfekt im Niederländischen und der Obligatorität von Verbpartikeln könnte hier aufschlussreich sein. 20 Die in Kapitel 4.1 beschriebene Konstruktion mit oyskumen steht z. B. in Verdacht aspektmarkierend zu sein.

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Eine mögliche Erklärung für die unterschiedliche Obligatorität von Richtungsadverbien/Partikeln bietet JACKENDOFFS (1990) Lexical Conceptual Structure (LCS). Die darin getroffene Unterscheidung zwischen MOVE- und GO-Verben geht davon aus, dass GO-Verben selbst einen PATH21 ausdrücken, während MOVE-Verben dazu weiterer Elemente (Partikel, Adverbien, Präpositionalphrase) bedürfen. Auch im Modell von TALMY (u. a. 1985) findet sich eine solche Unterscheidung von MOVE- und GO-Verben. Unsere Konstruktion, wie sie im Deutschen und Jiddischen vorliegt, lässt sich in LCS folgendermaßen ausdrücken: (57) {[Event-GO ([Thing],[Path TO])]+[Event-MOVE ([Thing])]} z. B.: ich[Thing] komme[GO ([Thing],[Path TO])] gelaufen[MOVE ([Thing])] Bewegungsverb (MOVE) und kommen (GO) teilen sich ein gemeinsames Objekt und den Path von kommen als GO-Verb. Im Niederländischen, wo das Bewegungsverb Path-Informationen von einer Partikel fordert ist entweder die Verbindung der beiden Elemente gestört, dass das Bewegungsverb nicht auf die PathInformationen von komen zugreifen kann (58a), was hinsichtlich der bestehenden Objekt-Kongruenz als wenig sinnvolle Annahme erscheint. Plausibler ist die zweite Möglichkeit, dass sich komen in der niederländischen Konstruktion als zweites MOVE-Verb ohne inhärenten Path verhält (59b) bzw. aanlopen komen ein komplexes Prädikat ist, in dem komen um seine GO-Verb-Eigenschaften entleert ist und wie ein Hilfs- oder Modalverb agiert (59c). In letzterem Fall wäre die Konstruktion als Ganzes vollständig grammatikalisiert. (58) a. {[Event-GO ([Thing],[Path TO])], [Event-MOVE ([Thing])+[Path TO]]} z. B.: ik[Thing] kom[GO ([Thing],[ Path TO])] aanlopen[MOVE ([Thing]) + [Path TO]] b. {[Event-MOVE ([Thing)]+[Event-MOVE ([Thing])]+[Path TO]} z. B.: ik[Thing] kom[MOVE ([Thing])] aanlopen[MOVE ([Thing])] + [Path TO] c. {[Event-MOVE ([Thing])]+[Path TO]]} z. B.: ik[Thing] kom aanlopen[MOVE ([Thing]) + [Path TO]] Neben der Idee, dass im Niederländischen eine Grammatikalisierung von komen zum Hilfs- oder Modalverb in dieser Konstruktion stattgefunden hat, könnte auch eine analogische Ausdehnung der noch jungen Entwicklungen im Zuge der Grammatikalisierung von gaan ‘gehen’ als Futurauxiliar stattgefunden haben. Die in den germanischen Sprachen unterschiedenen Verben ‘kommen’ und ‘gehen’ teilen sich ein gemeinsames Pool semantischer Eigenschaften. In vielen Sprachen wird daher oft ein Lexem verwendet und nur die unterschiedliche Direktionalität markiert (59). Im Niederländischen mag eine Abstrahlung der morphosyntakti21 Path = der Weg, den Objekt (Thing/Figure) in Bezug auf den Hintergrund (Ground) nimmt.

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schen Funktionalisierung von gaan auf komen analogisch gewirkt haben, so dass komen in bestimmten periphrastischen Kontexten den 1. Status (= Infinitiv) fordert. (59)

a. b. c.

jap. 行きます ikimasu ‘gehen’ vs. 来ます kimasu ‘kommen’ maori haere ‘gehen’ vs. haere mai ‘kommen’ armenisch գնալ gnal ‘gehen’ vs. գալ gal ‘kommen’

Sowohl für eine eigenständige Grammatikalisierung von komen, als auch die analogische Wirkung der Grammatikalisierung des gaan-Futurs spricht die diachrone Entwicklung im Niederländischen von Partizip > Infinitiv (von Nord nach Süd). Besonders die Analogie zum gaan-Futur könnte erklären, wieso sich der reine Infinitiv im Niederländischen weiter durchgesetzt hat, als in den anderen untersuchten germanischen Sprachen. Insbesondere der Vergleich zu Situation im Englischen wäre für weitere Untersuchungen sinnvoll, da hier mit dem going-to-Futur eine vergleichbare Entwicklung wie im Niederländischen vorliegt. 6

AUSBLICK

Mit diesem Beitrag konnte gezeigt werden, dass kommen + Bewegungsverb eine häufige und in ihrer morphologischen Form variierende Konstruktion in den westgermanischen Varietäten darstellt. In Kapitel 6 wurden mögliche Hypothesen diskutiert, die diese Variation erklären können. Das Rätsel der Konstruktionen in den kontinentalwestgermanischen Varietäten ist weiterhin, ob die bestehende strukturelle Variation auch mit semantischer Variation einhergeht, wofür es besonders im Niederländischen Hinweise gibt, oder ob die unterschiedlichen morphosyntaktischen Typen nur Variation an der Oberfläche darstellen, die möglicherweise durch andere morphosyntaktische Mechanismen motiviert ist bzw. Relikte einer gescheiterten Grammatikalisierung darstellen. Für weitere Untersuchungen sind, um der Semantik dieser Struktur und ihren Beschränkungen etwas näher zu kommen, Sprecherbefragungen unerlässlich. Zunächst ist dies für eine Überprüfung der von BELIËN (2016) vorgeschlagenen Bedeutungsvariation im Niederländischen vorgesehen (vgl. PHEIFF / SCHÄFER 2018). Um der historischen und dialektalen Entwicklung näher zu kommen wäre es hilfreich, detailliertere Daten zu den Entwicklungen dialektaler Verbalsysteme (insbesondere des Partizips Präsens) zu erlangen.

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MHDBDB = „Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank“; lit. Texte (ca. 1100– 1500). 10 422 716 Tokens.

CMNL = „Corpus Middelnederlands“ basiert auf dem „Middelnederlandsch Woordenboek“; vorwiegend lit. Texte (1250–1500). 3 044 417 Tokens KSF = „Korpus Sprutsen Frysk“; freie Rede Transkripte (2. Hälfte 20. Jh.–2013). 650 000 Tokens; URL: ; Stand: 01.07.2017 VivA = „Virtuele Instituut vir Afrikaans“; Annotierte Sammlung verschiedener Textquellen und anderer Korpora. 132 916 578 Tokens; URL: ; Stand: 01.07.2017 CMY = „Corpus of HSJ = „Historische DCY = „Diachronic YMC = „YidCorpus of Yiddish“; Syntax des Jiddidish multimedia Modern Yiddish“; lit. Texte, Gevorwiegend lit. schen“; lit. Texte, corpus“; Tonrichtsprotokolle Texte, Zeitungsarti- wenige Briefe aufnahmen (21. (1462–1993). Ca. kel (20.–21. Jh.). (1572–1692/96). Jh.). 90 869 200 000 Tokens; Ca. 10 000 000 41 878 Tokens; Tokens; URL: Tokens; URL: URL: 01.07.2017 Stand: ; Stand: 01.07.2017 Tab. 4: Herangezogene Korpora

188

Lea Schäfer

BELEGE DIALEKTWÖRTERBÜCHER Partizip Präsens – „Siebenbürgisches Wörterbuch“ (Bd. 5, 261) er ist reitend, fahrend gekommen Kommen + Partizip Perfekt – „Hamburger Wörterbuch“ (Bd. 2, 930) (vereinzelt im 18. Jh., häufiger seit dem 19. Jh.): he kam in mine Kamer hergeflagen (1716); een Eagen hummt gefah’n (1860); an Deck suust k.; mit etw. anslēpt k.; anböst, andrōvt, anhumpelt k. – „Badisches Wörterbuch“ (Bd. 3, 213) er kommt gfahre – „Siebenbürgisches Wörterbuch“ (Bd. 5, 261–262) kommen die Haiducken gerant, e kit gedräwelt – „Westfälisches Wörterbuch“ (Bd. 3, 1046) Hei kömmt angelaupen, Do kamm öener achtern Bäme weg sprungen, Hä kām angetoddelt – „Thüringisches Wörterbuch“ (Bd. 3, 517) des Wasser kümmt gerollt – „Mittelelbisches Wörterbuch“ (Bd. 2, 655) De Hunne kamten ahnelopen – „Schwäbisches Wörterbuch“ (Bd. 4, 592) er kommt gelaufen, gefahren, gerennt – „Nordharzer Wörterbuch“ (S. 104) e koum do gerannt – „Luxemburger Wörterbuch“ (Bd. 2, 424) hei kommen se gedanzt – „Pfälzisches Wörterbuch“ (Bd. 4, 423) gefahre (geloffe, geschliche, gehuppst) k. – „Obersächsisch-Erzgebirgisches Wörterbuch“ (Bd. 2, 78) angebattalcht kommen – „Wörterbuch der obersächsischen Mundarten“ (Bd. 2, 616) kimmet der awer onjebärscht! – „Rheinisches Wörterbuch“ (Bd. 4, 1151) k. se gelaf, geräst, gezu (‘gezogen’), ugewalz usf. Merz, Allg.; do küt e gegange, gespronge, geschlapp, gepöngelt (mit einer Last), herangehöpp – gedanz usf. Kommen + zu-Infinitiv – „Schweizer Idiotikon“ (Bd. 3, 263) er chunnt z’laufen, er chunnt chon z’rennen – „Hamburger Wörterbuch“ (Bd. 2, 930) (seit dem 19. Jh): da kummt he all h’ruuttoslieken (1834); kem en Stutzer öbern Wall to gahn (um 1870); da köhm se achter mi to loopen (1875); mit sien Sack antodrēgen k.; antojōgen, antosnuven, rintopedden, vortofōren k. – „Mecklenburgisches Wörterbuch“ (Bd. 4, 67) he is to riden kamen, do kemen se hertokamen

‘Kommen’ und Bewegungsverb in westgermanischen Varietäten



– – – – –

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„Rheinisches Wörterbuch“ (Bd. 4, 1151) de Vogel kom ze flegeεε. k. + ze (te) + Inf. […]; do küt e ze gohn, lofe, flege, fahre; he kom ze regge (‘reiten’), renne, lans de Bösch ze gohn usf.; he kom ze sterve Rip, Berg, Nfrk; heə könnt mich ze begeəne (‘begegnen’) Aach-Stdt; nur Klevld in folgenden Verb. dor komm ek an en von die klein Hüskes te gohn; do kömmp en Knos (‘Stechmücke’) her te steken (‘stechen’) „Westfälisches Wörterbuch“ (Bd. 3, 1046) Do kām ’e te läop’m, Do kümet ’e an te biäßen „Wörterbuch der westfälischen Mundarten“ (S. 148): he küəmt te lôpen = er kommt gelaufen; (früher mit dem blossen infinitiv: ik kom slîken) „Elsässisches Wörterbuch“ (Bd. 2, Sp. 888a) Jetz kummen sie ze fahren „Preußisches Wörterbuch“ (Bd. 3, 440) He käm to foahre „Fering-Öömrang Wurdenbuk / Wörterbuch der friesischen Mundart von Föhr und Amrumwan“ (S. 275): a kaat tuluupen komt ‘wenn die Katze angelaufen kommt’

Kommen + zu-Gerundium(-s) – „Schweizer Idiotikon“ (Bd. 3, 263) Er chunnt z’ gumpets, z’ chrüchets, z’laufets Null-Infinitiv – „Schwäbisches Wörterbuch“ (Bd. 4, 592) (nicht mehr geläufig) Kom [...] der Kunig S. hie einreytten – „Hamburger Wörterbuch“ (Bd. 2, 930) wan ein geselle wandern kumbt (1577); dar kümt he syn sinnigen hergahn (1633); seht, wo he doch man loepen kumpt (1650); „tostygen kamen: angewandert kommen“, Ri (1755), 291; do keem he anstiegen (1802); da kahmt se herstiegen (1818); dor kamt’s mir ehr andregn Mähl (1868); as de Floot öber den Slick loopen keem G. Fock; an Deck biestern k.; in de Döns pedden k.; üm de Eck tappen k.; uut de Dör susen k.; mit etw. anslēpen k.; e-n nōlopen k.; anfössen, dōljumpen, ranswümmen rinseiln, roberschippern, uut’n Düüstern ruutscheten k. – „Fering-Öömrang Wurdenbuk / Wörterbuch der friesischen Mundart von Föhr und Amrumwan“ (S. 275): diar komt en skap uunsilen da segelt ein Schiff heran, diar komt en tonerbi apsaaten da zieht ein Gewitter auf – „Westfälisches Wörterbuch“ (Bd. 3, 1046) (urspr. Part. Präs.) He kümp d’r an loop’n, Dör kummt heï anschlïepen mit sinen Akten, He kāim drūt biärß’n – „Wörterbuch der westfälischen Mundarten“ (S. 148): he küəmt te lôpen = er kommt gelaufen; (früher mit dem blossen infinitiv: ik kom slîken)

GRAMMATIKALISIERUNG AUF BEKANNTEN WEGEN: DIE SCHWÄBISCHE GE+INFINITIV-KONSTRUKTION („PROPOSITIV“)1 Augustin Speyer 1

EINFÜHRUNG

Ein viel begangener Grammatikalisierungspfad ist der von Konstruktionen, in denen ein Bewegungsverb mit einer Zielangabe versehen wird – nach dem Muster wie im Englischen I am going to Rome ‘ich gehe nach Rom’ – zu einer periphrastischen Verbform, die Finalität oder, im Endeffekt, Futurität ausdrückt (wie im Englischen I am going to roam – ‘ich werde umherstreifen’, vgl. z. B. ECKARDT 2012, 2684 und dort zitierte Literatur). Beispiele dafür gibt es, wie gesagt, im Englischen, im Französischen (das Futur mit aller in z. B. je vais chanter ‘ich werde singen’), und in einer Reihe weiterer Sprachen. Was weniger bekannt ist, ist, dass ein ähnlicher Grammatikalisierungsprozess auch im Deutschen, genauer: in den alemannischen Varietäten des Deutschen, stattgefunden hat.2 Die Rede ist von der „Schweizerdeutschen Verbverdopplung“ (SDV), mit der eine Konstruktion im Schwäbischen eng verwandt ist, auf der das Hauptaugenmerk dieses Aufsatzes liegen soll. Diese Konstruktion möchte ich mit dem Namen „Propositiv“ belegen, um zu verdeutlichen, dass es sich hier ähnlich 1

2

Das hier vorgestellte Material wurde in verschiedenen Vorträgen vorgestellt, unter anderem auf der „19. Arbeitstagung zur alemannischen Dialektologie“ (Freiburg i.Br., 11–13. Oktober 2017), und auf dem „GraModAT“-Workshop in Göttingen (26. Februar 2018). Für viele interessante Beiträge bin ich den Zuhörern auf den Vorträgen sehr dankbar, allen voran Ellen Brandner. An dieser Stelle sei mein Dank auch an die vielen Personen ausgesprochen, die durch Verteilung der Bögen oder durch Teilnahme an der direkten Erhebung entscheidend bei der Datensammlung mitgewirkt haben. Dies sind: Reinhild Bader, Anton Bischofberger, Johanna Blumentritt, Daniel Bullinger, Günter u. Gerlinde Bürk, Harald u. Anita Domschke, Wilfried Eisele, Almut Fechtner, Helga Frick, Markus Hauser, Franz u. Annemarie Hummel, Ekkehard Kaupp, Walter Klumpp, Birgit Kohl, Dieter Krattenmacher, Hans-Jörg u. Thea Kübler, Waltraut Kurtenbach, Waltraut Maierhofer, Wolfgang Pandalicka, Harald Paulsen, Dietlinde Speyer, Erna Stegherr-Hausmann, Herbert u. Gisela Straub, Susanne Traulsen, Armin O. Vogel, Michael Vollmer, Doris Wacker und Sabina Wieser. Besonderer Dank gilt Helena Raber für die Verwaltung der Daten, Philipp Rauth für die Erstellung der Karten, und einem anonymen Gutachter für eine sehr eingehende, anregungsreiche Review. Alle Fehlleistungen gehen auf mein Konto. In diesem Aufsatz werden Formen wie „Teilnehmer“ oder „Bürgermeister“ etc., wie es dem Sprachgebrauch entspricht, als Utrum gebraucht. Dies ist ein schönes Beispiel dafür, wie wichtig für die syntaktische Forschung es ist, andere Varietäten als die Standardvarietät im Blick zu behalten.

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Augustin Speyer

wie beim „am-Progressiv“ (vgl. z. B. RAMELLI 2016; FLICK 2016) oder dem „Absentiv“ (vgl. z. B. FORTMANN / WÖLLSTEIN 2013) um eine sich herausbildende spezifische, aspektuell konnotierte Verbform handelt, die durchaus das Potential hat, in das Verbparadigma eingegliedert zu werden. Nach einer kurzen Klärung, wie in diesem Aufsatz Grammatikalisierung verstanden wird (Abschnitt 2) werden die SDV und der verwandte schwäbische Propositiv kurz vorgestellt (Abschnitt 3). Der schwäbische Propositiv wird oft als eine Art Ausläufer der SDV verstanden und kaum per se in der Forschung gewürdigt (mit wenigen Ausnahmen, wie BRANDNER / SALZMANN 2012). Dass sich erhebliche Unterschiede zeigen, hat eine eigene Erhebung gezeigt, die in Abschnitt 4 vorgestellt wird, wobei die Unterschiede auf den verschiedenen Grad der Grammatikalisierung von SDV und Propositiv, sowie auf eine spezifische weitere Reanalyse, die die SDV, nicht aber den Propositiv charakterisiert, zurückzuführen ist. In Abschnitt 5 werden die Hauptergebnisse zusammengefasst. 2

DAS WESEN DER GRAMMATIKALISIERUNG

Deskriptiv werden unter „Grammatikalisierung“ eine Reihe von Sprachwandelphänomenen zusammengefasst, die typischerweise eine Kombination zweier Lexeme LA und LB betreffen (im Endeffekt eine „Konstruktion“), wobei LA im Endeffekt variabel bleibt und konzeptuellen Gehalt aufrechterhält – an LA ändert sich also nichts – während LB „grammatikalisiert wird“, also sich zu einem Exponenten einer grammatisch-funktionalen Kategorie hin entwickelt. Diese Sprachwandelprozesse weisen typischerweise die folgenden Eigenschaften auf: –

– –

auf syntaktischer Seite: ein Verlust an Variabilität von LB, sowohl was die Positionierung innerhalb des Satzes und speziell relativ zu LA betrifft, als auch, was das Selektionsverhalten angeht, auf phonologischer Seite: ein Substanzverlust von LB von freiem Wort/Morphem über Klitikum zu gebundenem Morphem, auf semantischer Seite: eine „semantische Ausbleichung“ (bleaching) von LB, also eine extreme Form der Bedeutungserweiterung, die sich üblicherweise von einer eher konzeptuellen Bedeutung zu einer grammatischen Funktion hin erstreckt.

Die deskriptiv relevanten Merkmale von Grammatikalisierung wurden beispielsweise übersichtlich von LEHMANN (1995) in seinen sechs Parametern der Grammatikalisierung zusammengefasst (LEHMANN 1995, 123). Ihr Status als definierende und kategorische Kriterien für Grammatikalisierung ist zwar unter Diskussion (vgl. z. B. NORDE 2012), sie bieten aber eine Richtschnur zur Identifikation von Grammatikalisierung bzw. ihrem Gegenteil, Degrammatikalisierung. Ebenfalls zur Diskussion steht, was der Status der Grammatikalisierung ist (vgl. z. B. NEWMEYER 2001). Während viele darin einen unitären Prozess sehen, ist es für andere, namentlich aus der diachron orientierten theoretischen Syntax- bzw. Se-

Der schwäbische Propositiv

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mantikforschung kommende Sprachwissenschaftler, ein Zusammenspiel von Wandelprozessen aus den genannten drei Modulen, wobei ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis dieser Wandelprozesse besteht (vgl. z. B. NEWMEYER 2001; ECKARDT 2012). Wir schließen uns letztgenannter Sichtweise an. Die syntaktische Seite der Grammatikalisierung lässt sich gut als Reanalyseprozess beschreiben (im Sinne von LANGACKER 1977, 58). Charakteristisch für „Grammatikalisierung“ sind eine Untermenge möglicher Reanalyseprozesse (vgl. ROBERTS / ROUSSOU 2003), z. B. das Relabeling einer Kategorie von einer lexikalischen zu einer funktionalen Kategorie (wie im Deutschen z. B. von [PP von [NP [DP des Königs] WegenN ]] über [PP [DP des Königs] wegenP ] zu [PP wegenP [DP des Königs]]) oder die Entwicklung eines Elements von Phrase zu einem Kopf (unter Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses, z. B. die häufige Entwicklung von Demonstrativa in adjektivischer Funktion zu Artikeln; im Deutschen wäre das von vor-ahd. [NP [AP der] König] zu nhd. [DP der [NP König]]). Die semantische Seite lässt sich weniger klar fassen. Das „Ausbleichen“ ist m. E. der Trigger, der letztlich zur Reanalyse führt (vgl. auch ECKARDT 2012). Doch was genau ist unter Ausbleichen zu verstehen? In einer klassischen merkmalssemantischen Theorie in der Tradition von KATZ / FODOR (1963) lässt sich Bedeutungserweiterung allgemein als ein Verlust von semantischen Merkmalen (Semen) darstellen (vgl. LANGACKER 1977, 84–87). Man beachte, dass dies zunächst ausschließlich den semantischen Gehalt von LB betrifft. Für die mit der Grammatikalisierung verbundene semantische Ausbleichung gilt grundsätzlich dasselbe (so auch LEHMANN 1995, 127), nur mit dem Unterschied, dass hier gewisse Voraussagen über Verlust und Verbleib der betroffenen Seme getroffen werden können: –



Je spezifischer ein Sem von LB ist (bzw. je konzeptueller, denn je konzeptueller ein Bedeutungsbestandteil ist, desto mehr ist er auf das einzelne Denotatum beziehbar), desto wahrscheinlicher ist sein Verlust. Je implikativer für die Syntax ein Sem ist, desto wahrscheinlicher ist sein Verbleib.

Wichtig ist, dass im Ausbleichungsprozess keine semantischen Bestandteile zu LB bzw. dem Komplex aus LA und LB hinzutreten, sondern dass alle Bedeutungsbestandteile, die übrig bleiben werden – gerade die „funktionalen“ und „grammatischen“ – bereits Bestandteil der konventionellen Bedeutung (also der lexikalischen Merkmalsmatrix von LB plus mit dem Ausdruck LB verbundener konventioneller Implikaturen) vor der Grammatikalisierung gewesen sind, oder konversationelle Implikaturen sind, die sich an einem bereits vorhandenen Bedeutungsbestandteil festmachen. Damit ist nicht gesagt, dass alle semantischen Wandelprozesse im Zuge von Grammatikalisierung Ausbleichungsprozesse sind – z. B. scheint bei der Entwicklung von Adjektiven wie schrecklich oder dem in früheren Sprachstufen gebräuchlichen sehr, das in der Grundbedeutung ‘schmerzend’ bedeutet (vgl. engl. sore) zu Intensitätsmarkern eher eine Bedeutungsverschiebung stattzufinden – LEHMANNS Formulierung impliziert aber, dass Ausbleichungspro-

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Augustin Speyer

zesse grundsätzlich durch den Wegfall von semantischen Merkmalen charakterisiert sind. Das lässt sich mit einem Paradebeispiel für Grammatikalisierung demonstrieren, der Entwicklung von to be going + to-Infinitiv bzw. aller + Infinitiv zu einer Futurform im Englischen bzw. Französischen (für eine kompositionalsemantische Analyse vgl. ECKARDT 2012, 2684–2685). Das Prädikat λyλx.GEH(x,y)3 involviert unter anderem Seme wie [+ Bewegung], [– Instrument] (letztere Bedeutungskomponente verschwindet beispielsweise unabhängig von Grammatikalisierung, wenn gehen/to go/aller im Sinne von ‘sich fortbewegen’ gebraucht wird), und ein Sem [+ Ziel], an dem sich das innere Argument festmacht und das die Form des Komplements bestimmt, als ein Ausdruck, der ein Ziel denotieren kann, z. B. eine Richtungsadverbiale. Dies wäre ein Beispiel für ein Sem, das Implikationen für die Syntax hat, während z. B. [+ Bewegung] ein spezifisches und konzeptuell gebundenes Sem ist. Zusätzlich trägt das Prädikat B λyλx.GEH(x,y) eine konventionelle Implikatur dahingehend, dass man ein Ziel nicht zwecklos ansteuert, sondern dass davon auszugehen ist, dass man eine verbale Aktion A an diesem Ziel ausübt. Diese verbale Aktion kann durch einen Ausdruck LA denotiert werden. Wenn nun diese verbale Aktion tatsächlich explizit gemacht wird – was zunächst nicht einmal eine Erweiterung des Subkategorisierungsrahmens des Verbs ‘gehen’ (LB) voraussetzt; verbale Komplemente sind dadurch lizensiert, dass die Ziel-PP nicht nur ein „normales“ Nomen, sondern auch ein deverbales Nomen, sprich: einen substantivierten Infinitiv, zu sich nehmen kann – wird aus dieser Implikatur ein Bestandteil der wörtlichen Bedeutung. In der Folge findet eine Schnittmengenbildung der semantischen Merkmale von LA und LB statt (vgl. ECKARDT 2012), und im Zuge dessen kann ein Sem wie [+ Aktivität], das den Anker für die Event-Variable von LA darstellt, von LA nach LB migrieren, so dass es fortan ein semantischer Bestandteil von LB ist. Dies entspricht in etwa dem Prozess, den LANGACKER (1977, 123–124) „realignment“ nennt. Konkret bedeutet das, dass sich ein Komplex aus LA und LB = ‘gehen’ erst zu einer Ausdrucksweise entwickeln kann, die einen Zweck ausdrückt, und schließlich, unter Verlust der finalen Komponente zu einer Ausdrucksweise, die nur noch Futurität ausdrückt (vgl. auch HASPELMATH 1989). Ein konkretes Beispiel wäre z. B. wie folgt. Der Satz Ich gehe [PP zum [NP Schwimmbad]] involviert einen konkreten Ort und die Implikatur, dass man an diesem Ort eine Tätigkeit ausübt (in diesem Fall ist die konkrete Tätigkeit schwimmen naheliegend). Der Satz Ich gehe [PP zum [NP Schwimmen]] hat syntaktisch dieselbe Form, das Komplement der richtungsangebenden Präposition ist hier deverbal und denotiert somit kein konkretes Ziel mehr, sondern eine Verbalhandlung; die Verbalhandlung, die in der Quellkonstruktion implikatiert wurde. Von dort kann, z. B. im Englischen, eine reine Futurkonstruktion entstehen (I am going [V to swim]), wobei im Zuge des Ausbleichungsprozesses eine Reanalyse 3

Man hätte auch GO oder ALLER wählen können; es handelt sich um das gleiche Prädikat, das sich in den drei Sprachen ähnlich verhält. Ich habe mich, da das Prädikat später für die schwäbische Konstruktion wichtig werden wird, für die deutsche Form entschieden.

Der schwäbische Propositiv

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der Präposition to zu einem Flexiv stattgefunden hat. Die Quellkonstruktion würde alle möglichen Richtungspräpositionen erlauben (z. B. nach, (ge)gen, in), im Zuge des Grammatikalisierungsprozesses wird nur eine als Bestandteil der Konstruktion gewählt, im Englischen (im konkreten Fall) das semantisch relativ unspezifische to. Der semantische Teil eines Grammatikalisierungsprozesses, das „Ausbleichen“, lässt sich also als eine Reduktion von semantischen Merkmalen verstehen, die von dem zu grammatikalisierenden Lexem LB stammen oder von ihm implikatiert werden. Letzterer Fall dient als eine Brücke zur Verbindung mit einem Ausdruck LA (der später den variablen, konzeptuellen Part der grammatikalisierten Fügung übernimmt), von dem grammatisch relevante semantische Merkmale, die ursprünglich von LB nur implikatiert worden sind, zu LB migrieren und damit Teil der semantischen Repräsentation von LB werden. Dies entspricht in etwa dem Konzept von functional enrichment bei KIPARSKY (2015, 73). Die Idee, das Implikaturen zu Bedeutungsbestandteilen werden, tritt schon in TRAUGOTT / DASHER (2002, 34–40) auf; in vorliegendem Ansatz wird der Prozess aber etwas restriktiver gesehen, insofern als sie nur dank ihrer Eigenschaft, ein Anker für syntaktisch relevante semantische Merkmale zu sein, in die semantische Repräsentation des zu grammatikalisierenden Ausdrucks LB eingehen und in diese semantische Repräsentation von den konzeptuell verbleibenden Ausdrücken LA, mit denen sich die grammatikalisierten Ausdrücke LB verbinden, übergehen. 3

DIE SCHWEIZERDEUTSCHE VERBVERDOPPLUNG UND DER SCHWÄBISCHE PROPOSITIV 3.1

Der schwäbische Propositiv

Im Fokus der Untersuchung stehen schwäbische Beispiele, wie sie in (1a,b) demonstriert werden. Eine morphosyntaktische Generalisierung ist unter (1c) gegeben. (1)

a. b. c.

I gang ge schaffë. ‘Ich gehe arbeiten.’ mir sin nô immër ge bach hopsë gangë. ‘wir sind dann immer Bachhopsen gegangen’4 Verbform von gehen (VB)+ ge + Infinitiv eines anderen Verbs (VA)

Von der Bedeutung her wird damit die Ausführung eines Vorhabens nach Ortsveränderung beschrieben, wovon sich der hier gebrauchte Begriff „Propositiv“ 4

Das Graphem gibt hier den Laut wieder, der aus mhd. [ən] entstanden ist (annähernd [ᴧ]). Mit bach hopsen ist gemeint, ein kleines Stauwehr zur Überflutung der Wiesen im Vorfrühling zu bedienen, wozu man über den gestauten Bach springen musste. Der Beleg ist ein Hörbeleg (Börstingen (TÜ), 24.9.2017, Sprecher ca. 80a, m).

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Augustin Speyer

(lat. propositum ‘das Vorhaben’) herleitet.5 Die etwas ausführlichere Bedeutung wäre: ‘Ich gehe irgendwohin, um dort eine bestimmte Tätigkeit auszuüben’. Wie oben (Abschnitt 2) erwähnt, bilden solche Propositivkonstruktionen einen Ausgangspunkt für eine weitergehende Grammatikalisierung zu einer Ausdrucksmöglichkeit für das Futur. Diese Weiterentwicklung hat im Fall der zur Rede stehenden Konstruktionen, sowohl des schwäbischen Propositivs als auch der im Folgenden behandelten schweizerdeutschen Verbverdopplung, nicht stattgefunden; diese Konstruktionen haben nach wie vor ausschließlich die propositive Lesart. Sowohl von der äußeren Form als auch von der Bedeutung her direkt vergleichbar mit dem Propositiv ist die sogenannte „Schweizerdeutsche Verbverdopplung“ (SDV), die in (2) demonstriert wird (zur SDV vgl. u. a. LÖTSCHER 1993; NÜBLING 1995; BURGMEIER 2006; BRANDNER / SALZMANN 2011 u. 2012). (2)

I gang gò schaffe. ‘Ich gehe arbeiten.’ (BURGMEIER 2006, 4)

Es stellt sich unmittelbar die Frage, ob es sich hierbei um dieselbe Konstruktion handelt, zumal Schwäbisch und Schweizerdeutsch beide zur alemannischen Dialektgruppe zählen und somit nahe verwandt sind. Davon abhängig sind weitere Fragen, die sich aus dem Verständnis von „derselben Konstruktion“ ergeben: Haben beide Konstruktionen denselben Ursprung? Haben sie denselben Grammatikalisierungsgrad? Aus letzterem ergibt sich die Frage: Haben sie dieselbe Struktur? In diesem Aufsatz soll eine Annäherung an diese Fragen auf der Grundlage der bestehenden Forschungen sowie einer eigenen Erhebung versucht werden. 3.2

Kurzer Abriss zur SDV

Dieser Abschnitt stützt sich auf LÖTSCHER 1993, NÜBLING 1995, BURGMEIER 2006 sowie BRANDNER / SALZMANN 2011 u. 2012, die im Folgenden nicht mehr eigens angeführt werden. Als Ursprung der SDV sind zwei Szenarien im Gespräch. Das eine Szenario geht davon aus, dass der Ursprung eine Fügung der Richtungspräposition (ge)gen mit einem nominalisierten Infinitiv ist (standarddeutsches hypothetisches Beispiel: ich gehe gen Schaffen). Im Rahmen eines Grammatikalisierungsprozesses findet eine Umdeutung der Präposition zu einer verkürzten Form des Infinitivs statt (ich gehe geh’n schaffen) und damit eine Umkategorisierung der Präposition zu einem verbalen Element. Von dort aus ist Extension zu anderen Verben wie kommen möglich, die dann ebenfalls eine verkürzte Form ihres Infinitivs vor das Infinitivkomplement einschieben (ich komme ko’ schaffen). Das andere Szenario geht nicht den Umweg über die Präposition, sondern sieht die Verdopplung des Infinitivs von gehen als ersten Schritt der Genese der Konstruktion an, der prokli5

Für die Form ist auch die Bezeichnung purposive in Gebrauch (vgl. z.B. HASPELMATH 1989)

197

Der schwäbische Propositiv

tisch an den Komplementinfinitiv angehängt wird (ich gehe gehen-schaffen). Die Szenarien werden weiter unten ausführlicher besprochen. Die SDV tritt mit verschiedenen Verben VB als Regens auf, nicht nur gehen, sondern auch z. B. kommen, lassen, anfangen. Man sieht, dass es sich nicht nur um Bewegungsverben handelt, sondern ein etwas weiteres Feld umfasst wird. Die Partikel, die im Schwäbischen als ge wiedergegeben wurde, ist hierbei variabel und kann Formen annehmen, die wie verkürzte Formen des Infinitivs von VB anmuten (3). (3)

a.

I chum cho schaffe. ‘Ich komme vom Arbeiten.’

b.

D Roose fönd aafo blüeje. ‘Die Rosen fangen an zu blühen.’

(NÜBLING 1995, 173) (STOECKLE 2018, 174) Dennoch ist die dominante Partikel auch bei der SDV ga etc. (also, die Partikel, die als verkürzter Infinitiv von gehen angesehen werden kann), was daran sichtbar ist, dass sich diese Partikel mit anderen Verben verbinden kann (4a), nicht aber andere Partikeln sich mit dem Verb gehen verbinden lassen (4b, nach LÖTSCHER 1993, 181). (4)

a. b.

Er chunt/gaat ga jasse. ‘Er kommt vom Kartenspielen / er geht kartenspielen.’ *Er gaat cho jasse. ‘Er geht kartenspielen.’

Die Position der Partikel bei Verbalausdrücken, die aus einem Verb und Ergänzungen bzw. Angaben bestehen, ist variabel. Sie kann vor der gesamten VP (5a), innerhalb der VP vor dem Komplement (5b), oder direkt vor dem Verb (5c) stehen. In der Erhebung von SynAlm (FB 3.15) wurden alle Varianten akzeptiert, wobei die Variante (5a) auch in Vorarlberg und nördlich des Bodensees, (5b) noch weiter nach Oberschwaben hinein akzeptiert wurden. Die Sätze in (5) sind aus dem Fragebuch von SynAlm. (5)

a. b. c.

… gi [V‘ gemüetlich [V‘ e Bier trinke]] … [V‘ gemüetlich gi [V‘ e Bier trinke]]. … [V‘ gemüetlich [V‘ e Bier gi trinke]] ‘gemütlich ein Bier trinken’

Da es synchron zumindest tatsächlich nach einer Verdopplung aussieht (zu einer syntaktischen Analyse vgl. BRANDNER / SALZMANN 2011 u. 2012, SALZMANN 2013, HINTERHÖLZL 2018), stellt sich die Frage, ob die Quelle der Konstruktion tatsächlich eine Verbverdopplung ist, also das oben erwähnte zweite Szenario zutrifft. HODLER (1969) argumentiert dafür, Belege von 1525 anführend, wo die

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Partikel formgleich mit dem Infinitiv bzw. der 1. Ps. Sg. des Verbs gehen ist (6a, zitiert nach LÖTSCHER 1993, 183). (6) a. Ich gan weder gan bredigen noch gan toufen. ‘Ich gehe weder gehen predigen noch gehen taufen.’ b. Zum babst louft er gon klagen. ‘Zum Papst läuft er zum Klagen.’ Das oben als erste angeführte Szenario (nach SCHÖNENBERGER / PENNER 1995; LÖTSCHER 1993; s. auch BRANDNER / SALZMANN 2012, 84–85) zur Herkunft der Konstruktion geht hingegen davon aus, dass sich die Partikel aus der Präposition (ge)gen, die entgegen ihrem heute rein adversativen Sinn ursprünglich als neutrale Richtungspräposition gebraucht wurde. Die Konstruktion hätte ihre Wurzeln dann in einer PP mit gen als Kopf, der einen substantivierten Infinitiv regiert, ähnlich wie dies auch über ein Jahrtausend früher für den Infinitivmarker zu gegolten hat. Der Erstbeleg für die Konstruktion gen + Infinitiv von 1460 ist übrigens mit dem Matrixverb laufen, so dass Verbverdopplung hier ausgeschlossen ist (6b, zitiert nach BURGMEIER 2006, 24). Zumindest für das Schwäbische spricht für die Richtigkeit der letzteren Annahme, dass eine Entwicklung des Infinitivs von gehen im Schwäbischen, der gãõ bzw. gõ lautet, zu einer Form ge (mit leicht gespanntem e) phonologisch nicht plausibel ist; man würde höchstens [gᴧ] erwarten (vgl. FISCHER 1911, 211). 4

ERHEBUNG ZUM SCHWÄBISCHEN PROPOSITIV

Die schwäbische Propositivkonstruktion weist viele Merkmale der SDV nicht auf. Zum einen gibt es keine konkurrierenden, von verkürzten Infinitiven herleitbaren Partikeln, zum anderen ist die Stellung bei weitem nicht so frei wie bei der SDV belegt. Das lässt Zweifel aufkommen, dass der schwäbische Propositiv nichts als der nördliche „Ausläufer“ der SDV ist. Zum Verhältnis der Konstruktionen lassen sich zwei Möglichkeiten denken: Entweder es handelt sich um tatsächlich zwei unabhängige Konstruktionen. Das ist angesichts der nicht zu bestreitenden gestaltlichen Ähnlichkeiten unwahrscheinlich. Oder es handelt sich um dieselbe Konstruktion, zumindest vom Ursprung her, die aber unterschiedlich weit auf dem Grammatikalisierungspfad fortgeschritten ist, dahingehend, dass der schwäbische Propositiv auf einem Stadium verharrt, das die SDV schon hinter sich gelassen hat. Um diese Hypothese zu testen, wurde im Rahmen einer Pilotstudie ein Akzeptabilitätstest im schwäbischen Raum mit einigen Vergleichspunkten im Alemannischen, Südrheinfränkischen und Südfränkischen durchgeführt. Grundsätzlich wurde die Form der indirekten Erhebung gewählt; einige Teilnehmer wurden direkt erhoben, um das Stimulusmaterial zu testen. Die Beispielsätze wurden in Gruppen präsentiert, die Aufgabe bestand darin, die Akzeptabilität der einzelnen Vertreter der Gruppen zu werten. Ein Beispiel ist unten angezeigt.

Der schwäbische Propositiv

(7)

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a. I gang sach eikaufa. b. I gang sach ge eikaufa. c. I gang ge sach eikaufa. d. I gang zum sach eikaufa. e. I gang sach zum eikaufa. f. I gang ins sach eikaufa. g. I gang sach ins eikaufa.

Zur Bewertung wurde eine 4er-Skala benutzt; ein neutraler „Fluchtweg“ wurde bewusst nicht angeboten. Zusätzlich hatten die Teilnehmer die Aufgabe, die für sie beste Variante anzukreuzen bzw. frei zu formulieren. In den Stimuli wurden folgende Parameter variiert: – – – –

Typ des Komplements: „kein Komplement“ vs. „Einzelwort“ vs. „indefinite NP“ vs. „definite NP“ (stets Wahl von Akkusativobjekten als Komplemente) Stellung der Partikel relativ zur Ergänzung: „NP Part. V“ vs. „Part. NP V“ Art der Partikel („Null“ vs. ge vs. zum vs. ins; vgl. zu den Kompetitoren BURGMEIER 2006, 96) bei komplementlosen Bedingungen wurde noch die Aktionsart variiert (state vs. activity vs. accomplishment, in der Terminologie von DOWTY 1979)

Es wurden 96 auswertbare Fragebögen gesammelt. Da die Zahl der zu testenden Parameter relativ groß war, wurde in dieser Pilotstudie darauf verzichtet, Distraktoren einzubauen, um die Partizipanten nicht übermäßig zeitlich zu strapazieren. Pro Ortspunkt wurden wenigstens zwei Partizipanten erhoben; einige mussten jedoch aussortiert werden, da sie offenbar die Fragestellung nicht verstanden oder sonstwie den Kriterien nicht entsprachen. Der Plan war ursprünglich, zwei Alterskolonnen zu testen (unter 40, über 60), am Ende war die Zahl der jüngeren Partizipanten so gering, dass, wenigstens für diese Pilotstudie, auf diese Altersgruppe verzichtet werden musste.6 Ein Kriterium für die Wahl der Teilnehmer war, dass Wohnort und Geburtsort nicht weiter als 10 Kilometer auseinanderliegen. Die Bögen wurden nach Geburtsort sortiert, weswegen im Einzelfall Cluster von nahe zusammenliegenden Orten entstehen. Da die Ergebnisse innerhalb dieser Cluster durchaus differieren, wurde darauf verzichtet, diese in einen Ortspunkt zusammenzufassen. Die Bögen wurden durch örtliche Bürgermeister und Ortsvorsteher verteilt; da die Resonanz auf die Anschreiben sehr unterschiedlich war (hier noch einmal der ausdrückliche Dank an alle Bürgermeister, Ortsvorsteher und deren Mitarbeiter, die sich mit großem Engagement an der Erhebung beteiligt haben), mussten irgendwann die großen Lücken durch persönliche Kontakte aufgefüllt werden. Unter anderem deswegen ist die Verteilung etwas ungleichmäßig – gerade im Ostschwäbischen und im nördlichen Zentralschwäbischen sind Lücken. Im Folgenden sollen einige Ergebnisse vorgestellt werden. 6

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die wenigen Bögen der jüngeren Alterskolonne sich nicht wesentlich von den der jeweiligen älteren Kolonne unterschieden.

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Abb. 1: Grundsätzliche Akzeptabilität der ge-Konstruktion (einstellige Verben, z. B. 1a: I gang ge schwimma)

Abb. 2: Akzeptabilität mit artikellosem Objekt (ge N V), z. B. 6c: I gang ge sach eikaufa

Der schwäbische Propositiv

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Wie Abb. 1 zeigt, lassen sich hinsichtlich der grundsätzlichen Akzeptabilität deutliche Areale ausmachen. Die Konstruktion ist im westlichen Oberschwaben, am oberen Neckar, sowie in einer kleinen Insel um Heidenheim voll akzeptiert. Dazu treten die alemannischen Punkte um den Donauursprung, im Hegau und am Bodensee sowie der westliche außerschwäbische Vergleichspunkt Oppenau. Die Akzeptabilität ändert sich kaum, wenn ein artikelloses Objekt hinzutritt und die Partikel ge vor dem Komplex steht (Abb. 2., z. B. ge Eikäuf machë). Hingegen nimmt die Akzeptabilität dramatisch ab, wenn die Partikel zwischen Nomen und Verb zu stehen kommt (Abb. 3., z. B. Eikäuf ge machë).

Abb. 3: Akzeptabilität mit artikellosem Objekt (N ge V), z. B. 6c: I gang sach ge eikaufa

Dies kann so interpretiert werden, dass in den meisten schwäbischen Ortspunkten die Konstruktion grundsätzlich nur mit einfachen Verben akzeptiert wird, was ein Nachwehen der ursprünglichen Konstruktion, in der die Präposition gen einen substantivierten Infinitiv regiert, darstellt. Substantivierte Infinitive sind syntaktische Konversionen von Wörtern, nicht von Phrasen, deshalb lassen sich Komplemente oder andere Zusätze nicht integrieren. Die einzige Möglichkeit ist, das Objekt in das Verb zu inkorporieren, also ein N+V-Kompositum zu bilden, das dann substantiviert wird. Wir dürfen annehmen, dass die akzeptablen Fälle von ge N V von den befragten Sprechern genau so analysiert werden. Wenn die Partikel zwischen N und V interveniert, steht die Inkorporationsanalyse nicht zur Verfügung, was sich in einer grundsätzlich schlechten Akzeptabilität niederschlägt. Es ist zu bemerken, dass die Version N ge V gerade um den Donauzusammenfluss akzeptiert wird. In der SDV wäre die Stellung von Partikel zwischen N und V akzepta-

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bel, so dass wir mutmaßen können, dass die Konstruktion bei den Informanten im Gebiet des Donauzusammenflusses eher der SDV-Analyse folgt als der schwäbischen Propositivanalyse. Es ist zu bemerken, dass die Version N ge V gerade um den Donauzusammenfluss akzeptiert wird. In der SDV wäre die Stellung von Partikel zwischen N und V akzeptabel, so dass wir mutmaßen können, dass die Konstruktion bei den Informanten im Gebiet des Donauzusammenflusses eher der SDV-Analyse folgt als der schwäbischen Propositivanalyse. Wenn dies zuträfe, würden wir bei der Kondition DP ge V (z. B. bei dë Wochëeikauf ge machë) ein ähnliches Bild erwarten, da diese Kondition strukturell mit der Kondition N ge V strukturell identisch ist – die Form der ObjektNP/DP sollte keinen Unterschied machen. Wie Abb. 4 zeigt, ist dies nicht der Fall; wir haben hier, von ein paar Streudaten abgesehen, kein Areal, in der die Kondition voll akzeptiert wird – mit Ausnahme des Ortspunktes Rielasingen an der Schweizer Grenze. Mit unbestimmtem Artikel (Bsp.: I gang ë Zigarettle ge rauchë) waren die Verhältnisse ähnlich, nur dass hier gar kein Ortspunkt den Satz voll akzeptiert hat. Dies führt zu der Vermutung, dass es nicht an semantischen Gegebenheiten liegt wie beispielsweise der Individuiertheit, sondern rein an syntaktischen Eigenschaften wie z. B. der fehlenden Möglichkeit, das Verb als N+VKompositum zu analysieren, da das Objekt eindeutig phrasal und somit als Kompositionsglied unmöglich ist.

Abb. 4: Akzeptabilität mit artikelhaltigem Objekt ([DP d- N] ge V), z. B. 8b: I gang da Wochaeikauf ge macha

Der schwäbische Propositiv

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Abb. 5: Akzeptabilität mit artikelhaltigem Objekt (ge [DP d- N] V), z. B. 8c: I gang ge da Wochaeikauf macha

Das Areal um den Donauzusammenfluss erscheint erst wieder bei der Kondition, in der ge vor der Objekt-DP steht (ge DP V, z. B. ge dë Wochëeikauf machë; Abb. 5). Es scheint so, dass hier die höhere Permissivität der schweizerdeutschen SDV mit hineinspielt, wie es ja für das Bodenseealemannische festgestellt wurde (BRANDNER / SALZMANN 2011, 2012). Mit Sigmaringen und vereinzelten Punkten weiter nördlich haben wir aber auch Ortspunkte, deren Dialekt schwäbisch und nicht alemannisch ist. Eine Inkorporationsanalyse ist hier unmöglich, da es sich um eindeutig referierende Objekt-DPs handelt, die folglich nicht inkorporiert werden können. Wir müssen den Befund so interpretieren, dass die Partikel ge in den besagten Regionen, namentlich südlich von Rottweil, grundsätzlich am linken Rand der VP möglich ist und nicht nur direkt vor dem Verb, was diese Region eher an das Alemannische, genauer: an das von BRANDNER / SALZMANN (2011, 2012) beschriebene Bodenseealemannisch, als an das Schwäbische in dieser Hinsicht anschließt. Es wurden auch diverse Charakteristika der SDV für den schwäbischen Propositiv erhoben. Die SDV ist variabel, was das Matrixverb anlangt, weshalb auch die Akzeptabilität der Konstruktion mit dem Matrixverb kommen (z. B. I komm ge eikaufë ‘ich komme vom Einkaufen’, Abb. 6) erhoben wurde. Zusätzlich wurden weitere Konstruktionen mit Infinitiv erhoben, der am-Progressiv sowie die Fügung mit dem Hilfsverb sein und Infinitiv (der isch ge eikaufë ‘er ist weg, um einzukaufen / er ist einkaufen’, Abb. 7). Letztere entspricht in der partikellosen Variante dem in vielen Varietäten akzeptierten Absentiv (der ist einkaufen).

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Abb. 6: Akzeptabilität mit kommen (kommen ge V), z. B. 16b: I komm ge eikaufa

Abb. 7: Kompatibilität mit sein (Absentiv: sein ge V), z. B. 12b: I bin ge eikaufa.

Der schwäbische Propositiv

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Der Propositiv lässt sich in den meisten Gegenden des Schwäbischen nicht mit kommen konstruieren. Das Verb anfangen wurde ebenfalls erhoben, dort waren die Urteile vergleichbar mit denen von kommen. Die einzigen, die die Konstruktion tolerieren, sind die Informanten aus Rielasingen an der Schweizer Grenze sowie zumindest einigermaßen wieder das Cluster um den Donauzusammenfluss. Wir dürfen das ähnlich wie die Befunde zur Kondition mit artikelhaltiger DP als Objekt so interpretieren, dass die Sprecher in diesen Regionen die Konstruktion eher nach dem Muster der SDV analysieren. Die Konstruktion kombiniert mit sein hingegen wird weitgehend toleriert, und zwar in den Arealen, die die Konstruktion mit ge grundsätzlich akzeptieren. Das mag damit zu erklären sein, dass diese Konstruktion hier tatsächlich als eine Art elliptische Form des Perfekts der Propositivkonstruktion interpretiert wird, also I bin ge eikaufë [sc. gangë] ‘ich bin GE einkaufen gegangen’, und weniger als ein Absentiv. 5

DER SCHWÄBISCHE PROPOSITIV UND DIE SDV UNTER GRAMMATIKALISIERUNGSGESICHTSPUNKTEN

Auf der Grundlage dieser Befunde können wir versuchen, die Reanalyseschritte im Schwäbischen und bei der SDV nachzuzeichnen (vgl. LÖTSCHER 1993, 190, BRANDNER / SALZMANN 2011). Am Anfang stand sicherlich eine Konstruktion, in der die Präposition (ge)gen mit einem substantivierten Infinitiv verbunden wurde (7a). Grundsätzlich sind solche Verbindungen nicht ungewöhnlich, im heutigen Standarddeutschen sind solche Verbindungen produktiv (z. B. mit Staunen und Zittern), und ein ähnlicher Ursprung wurde für andere grammatikalisierte Verbformen wie den zu-Infinitiv bzw. Status-II-Infinitiv (z. B. HASPELMATH 1989) und den am-Progressiv (FLICK / KUHMICHEL 2013, RAMELLI 2016) angenommen. Die erste Reanalyse beträfe den Infinitiv, der nicht mehr als nominale Kategorie, sondern als verbale Kategorie aufgefasst wurde (8b). Diese Reanalyse zieht eine Erweiterung des Subkategorisierungsrahmens der Präposition nach sich, der auch VPs einschließt. Solch ein Reanalyseschritt würde sich im Althochdeutschen am Verlust von Flexionsendungen am Infinitiv nachvollziehen lassen, wie es ja bei der Entwicklung des zu-Infinitivs sichtbar ist. In späteren Sprachstufen ist dieser Reanalyseschritt jedoch nicht an unabhängigen morphologischen Kriterien nachweisbar. Im vorliegenden Fall von gen + Infinitiv mag die Reanalyse dadurch befördert worden sein, dass kein Artikel vor dem substantivierten Infinitiv steht, der morphosyntaktisch den Infinitiv eindeutig als nominal ausweisen würde. Das Schwäbische ist mit seinem Propositiv auf dieser Stufe angekommen, ähnlich wie der am-Progressiv oder der zu-Infinitiv. Die SDV hingegen hat eine weitere Reanalyse erfahren, auch eine Umkategorisierung, nämlich der Präposition als eine reduzierte Form des Verbs gehen (8c). Die Motivation für die weitergehende Realisierung im Schweizerdeutschen ist schwierig zu ermitteln; eventuell spielt der bereits oben erwähnte Umstand eine Rolle, dass dort in vielen Varietäten Formgleichheit zwischen der Präposition und dem Infinitiv des Verbs gehen herrscht,

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während dies im Schwäbischen nicht der Fall ist. Wenn nun die Umkategorisierung der Präposition zu einem verbalen Element stattgefunden hat, ist Extension auf andere Verben möglich, die im Schweizerdeutschen ja auch stattgefunden hat (8d).7 (8)

a. b. c. d.

ich gehe [PP gen [NP Schaffen]] ich gehe [PP gen [VP schaffen]] ich gehe [V geh’n [VP schaffen]] ich komme [V ko’ [VP schaffen]]

Der Schwäbische Propositiv unterscheidet sich also von der SDV dadurch, dass ein Reanalyseschritt, der bei der SDV stattgefunden hat, im Schwäbischen nicht stattgefunden hat. Die Herkunft beider Konstruktionen ist identisch. Die Reanalyse vom nominalen zum verbalen Infinitiv zieht grundsätzlich eine Reihe von Extensionen nach sich, die für den am-Progressiv von RAMELLI (2016) untersucht wurden. Er unterscheidet 5 Grammatikalisierungsstadien, je nach Grad der Extension. Einige seiner Kriterien sind für den Propositiv und die SDV anwendbar und sind in Tab. 1 wiedergegeben. In den rechten Spalten ist angezeigt, ob das Kriterium für den Propositiv bzw. die SDV zutreffen; v (= Häkchen) bedeutet: trifft zu, x bedeutet: trifft nicht zu. Man sieht, dass der Propositiv auf dem Weg zu GS3 ist; um den Donauzusammenfluss ist dieses Stadium bereits erreicht. Die SDV hingegen erfüllt alle Kriterien des höchsten Stadiums, sprich: maximaler Extension. Dass die beiden Konstruktionen sich einfach morphosyntaktisch gesehen auf verschiedenen Stufen der Grammatikalisierung (sprich: höhere bzw. geringere Zahl erfolgter Reanalysen bzw. Extensionen) befinden, zeigt sich auch, wenn man einige der LEHMANN’schen Parameter (1995, 123) auf beide Konstruktionen anzuwenden versucht, im Bewusstsein der oben angedeuteten Probleme mit diesen Parametern. Beiden Konstruktionen gemeinsam ist, dass die „Integrität“ niedrig ist: bei der SDV sind die verdoppelten Infinitive phonetisch stark reduziert (NÜBLING 1995, 166) – z. B. ist der reguläre Infinitiv von kommen im Schweizerdeutschen chomme, die Partikel jedoch tritt in der Form cho auf –, und auch im Schwäbischen ist die Präposition reduziert. Die „syntagmatische Variabilität“ ist 7

Die Stellungsvariabilität der Partikel bei der SDV könnte zumindest teilweise das Ergebnis einer weiteren Reanalyse sein – bei der Variante, bei der die Partikel adjazent zum Infinitiv steht, könnte die Partikel als Exponent einer funktionalen Projektion wie Aspekt interpretiert werden. Dagegen spricht, dass wir dann einerseits keine Variabilität mehr erwarten würden – die Partikel sollte dann immer adjazent zum Verb auftauchen – ferner sollten wir dann bei Partikelverben eine Stellung zwischen Verbpartikel und Verbstamm erwarten, analog zur Infinitivpartikel zu. Dies ist aber nicht zutreffend: Im Schweizerdeutschen heißt es nicht *I gang ii-gi-kaafe (‘ich gehe ein-ge-kaufen’). Eher ist mit BRANDNER / SALZMANN (2011, 2012) anzunehmen, dass die Stellung der Partikel am linken Rand der VP stabil ist – über die Natur der Position, ob es sich um eine adjungierte Position oder einen funktionalen Kopf handelt (s. BRANDNER / SALZMANN 2011, 2012), sei hier nichts gesagt – und Varianten wie DP ge V durch Extraposition entstanden sind: DP1 [ ge [VP t1 V]].

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Der schwäbische Propositiv

im Schwäbischen tatsächlich niedriger als bei der SDV (die Subkategorisierung im Schwäbischen ist eingeschränkt, indem sich im Wesentlichen nur Infinitive ohne eindeutige strukturell externe Ergänzung verwenden lassen und die Positionierung der Partikel grundsätzlich an den Rändern der VP stattfinden muss; im Schweizerdeutschen sind Ergänzungen möglich und die Position relativ zur Ergänzung ist frei), was eigentlich auf einen höheren Grammatikalisierungsgrad hinweist, aber sich einerseits aus der Geschichte der Konstruktion erklärt, andererseits eine direkte Folge der für die SDV charakteristischen Reanalyse der Präposition gen zu einem verbalen Element ist; als verbales Element kann die Partikel sich innerhalb des Verbalkomplexes frei bewegen (vgl. BRANDNER / SALZMANN 2012, 68). Zudem kann bei der SDV die Partikel verdoppelt werden, was als Concord-Phänomen zu erklären ist und auf einen hohen Grad an bondedness hinweist (BURGMEIER 2006, 31, vgl. ähnlich beim am-Progressiv RAMELLI 2016). Stadium GS 5 GS 4

GS 3 GS 2

GS 1

Extension Obligatorik in allen propositiven Kontexten ge als verbales Präfix Matrixverb Imperativ PP-Komplemente möglich Dativobjekte möglich nicht-inkorporierte Akkusativobjekte möglich Infinitiv von transitiven Verben inkorporierte Akkusativobjekte möglich Infinitive von atelischen Verben möglich

SDV? v

Propositiv? x

v v v v

x x x x Donau: v Rest: x v v v

v v v v

Tab. 1: Grammatikalisierungsstadien (= Extensionen) von am-Progressiv, schwäbischem Propositiv und SDV

Schließlich ist die „paradigmatische Variabilität“ bei der SDV niedrig, wenn man den Parameter so versteht, dass hohe Variabilität bedeutet, dass Konkurrenzkonstruktionen möglich sind. Dies ist im Schweizerdeutschen nicht der Fall, wo die Setzung der Partikel ga obligatorisch ist (BURGMEIER 2006, 52). Im Schwäbischen ist die Obligatorik nicht sichtbar. Grundsätzlich stehen dort (laut dem Südwestdeutschen Sprachatlas) vier Möglichkeiten zur Verfügung: die für alemannische Dialekte charakteristische Partikel ge, die Nullvariante ohne Partikel, die dem Standarddeutschen entspricht, die Variante als substantivierter Infinitiv mit der Präposition-Artikel-Kombination zum, die ebenfalls im Standarddeutschen möglich ist, sowie eine weitere, im Südwestdeutschen Sprachatlas nur für ein kleines Areal um Esslingen bezeugte Variante, bei der ein substantivierter Infinitiv mit der Präposition-Artikel-Kombination ins konstruiert wird. Bei der Erhebung hat sich gezeigt, dass in allen Fällen die Nullvariante möglich war, wenn-

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gleich auch in den Regionen, in denen die ge-Partikel grundsätzlich akzeptabel war, sie auch die präferierte Variante war (Abb. 8).

Abb. 8: Präferierte Partikeln

Insgesamt war ge die am häufigsten präferierte Variante und auch die Variante, die am ehesten ein Areal bildet. Die Konkurrenzvarianten mit zum, das einen insgesamt weiteren Verwendungsbereich hat (BRANDNER / SALZMANN 2012, 78), sowie die Nullvariante zeigen keine deutlichen Areale, sondern scheinen in freier Variation in den Orten zu sein, wo ge nicht die präferierte Variante ist. Die Verbreitung von zum hat sich gegenüber der Erhebung des Südwestdeutschen Sprachatlas erweitert; dort war es nur in den Kreisen Biberach und Ulm vermerkt (s. BURGMEIER 2006, 96). Das für den Esslinger Raum als typisch notierte ins findet sich dort nach wie vor (Ostfildern-Ruit), seltsamerweise auch im Ortspunkt Schemmerhofen nördlich von Biberach. Die semantische Entwicklung der Konstruktion ähnelt nun in gewisser Weise der des going-to-futures. Allerdings ist die Ausbleichung von gehen nicht so weit fortgeschritten; der Bedeutungsbestandteil [+ Bewegung] ist nach wie vor vorhanden, da die Konstruktion – sei es der Propositiv, sei es die SDV – nur mit einer Ortsveränderung glückhaft ist (vgl. auch BRANDNER / SALZMANN 2012, 73). Die semantische Ausbleichung der Präposition (ge)gen ist hingegen deutlicher, da Bedeutungsbestandteile wie [+ adversativ], [+ Bewegung] verloren gehen, während [+ Ziel] erhalten bleibt. Es sei aber darauf hingewiesen, dass dies nicht für diesen Grammatikalisierungsprozess spezifisch ist, sondern dass dies eine allgemeine Bedeutungserweiterung dieser Präposition darstellt, die im Frühneuhoch-

Der schwäbische Propositiv

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deutschen und auch dialektal eine reine Richtungsangabe darstellt. Die Entwicklung von einer Präposition, die eine Richtungsangabe macht (mit Merkmalen, die die Zielgerichtetheit und die physische Bewegung darstellen) zu einer Präposition oder Partikel, die nur Merkmale der Zielgerichtetheit unter Streichung der Merkmale, die eine physische Bewegung implizieren, aufweist, ist in den Sprachen der Welt sehr verbreitet (BRANDNER / SALZMANN 2012, 85). 6

ZUSAMMENFASSUNG

Die schwäbische Propositivkonstruktion, also die Konstruktion mit gehen (VB), der Partikel ge und einem Infinitiv eines Verbs VA, weist an der Oberfläche mehrere Unterschiede zu der ansonsten ähnlich aussehenden SDV-Konstruktion auf: sie ist auf gehen als Matrixverb VB beschränkt, als Partikel erscheint nur ge, es sind als Infinitiv VA eigentlich nur bloße Verben bzw. Verben, die als Inkorporationen analysiert werden können, toleriert, die Partikelsetzung ist nicht obligatorisch etc. Diese Unterschiede reflektieren unterschiedliche Stadien der Grammatikalisierung aus derselben Quellkonstruktion, nämlich der Kollokation von dem Matrixverb gehen (VB) mit einer das Ziel ausdrückenden Präpositionalphrase, deren Kopf die Präposition ge(gen) ist und deren Komplement ein substantivierter Infinitiv (VA) ist. Im Schwäbischen ist die Grammatikalisierung weniger weit fortgeschritten; eine Reanalyse des nominalisierten Infinitivs zu einem verbalen Infinitiv hat stattgefunden und davon ausgehend einige Extensionen. Im Schweizerdeutschen ist die Grammatikalisierung weiter fortgeschritten, weitere Extensionen und ein weiterer Reanalyseschritt – Umkategorisierung der Präposition zu einem verbalen Element – hat stattgefunden. Eine Fragebogenerhebung hat innerhalb des Schwäbischen gewisse Abstufungen zeigen können. Die Konstruktion ist grundsätzlich am oberen Neckar, im westlichen Oberschwaben sowie in einer kleinen Insel auf der Ostalb voll akzeptiert, dort ist sie auch die präferierte Variante. Das gilt aber nur unter Verwendung einfacher Verben oder Verben, deren Objekt als inkorporiert analysiert werden kann, als VA. Nicht-inkorporierte Objekte sind im Übergangsbereich zum Alemannischen – um den Donauzusammenfluss – akzeptiert, dort wird auch die Verwendung anderer Matrixverben VB wie kommen toleriert. Semantisch kann die mit der Grammatikalisierung verbundene Ausbleichung als Merkmalstreichung aufgefasst werden, wobei die Merkmale nicht nur von dem grammatikalisierten Lexem LB stammen, sondern auch von den anderen involvierten Lexemen, z. B. dem variablen Infinitiv LA, von wo sie durch die im Zuge der Grammatikalisierung (bzw. Konstruktionsbildung) erfolgenden Intersektion der semantischen Matrizes von LA nach LB migrieren können. Der Grammatikalisierungspfad ist identisch mit dem des englischen going-to-Futurs bzw. des französischen Futurs mit aller + Infinitiv, nur ist der Propositiv nicht so weit fortgeschritten (semantisch ist das Merkmal [+ Bewegung] nach wie vor vorhanden).

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DOUBLY FILLED COMP UND POLARE FRAGEN IM WESTGERMANISCHEN1 Julia Bacskai-Atkari 1

EINLEITUNG

Satztyp und Finitheit werden bekanntlich in der CP-Domäne am linken Satzrand kodiert, wobei die Overtheit der entsprechenden Elemente auch eine wichtige Rolle spielt. Eingebettete Interrogativsätze im Standarddeutschen zeigen folgendes Muster: (1)

a. b.

Ich frage mich, mit wem er gesprochen hat. Ich frage mich, ob er mit Anna gesprochen hat.

Der interrogative Satztyp kann auf zwei Weisen overt markiert werden (vgl. ZIMMERMANN 2013, 86). In kategorialen Fragen wie in (1a) ist das overte WElement (hier: mit wem) im [Spec,CP] dafür zuständig, während in polaren Fragen wie in (1b) die overte Markierung durch den overten Komplementierer (ob) im CKopf erfolgt. In keinem der beiden Fälle in (1) gibt es eine Verdoppelung in der CP (d. h. eine Kombination eines overten Operators und eines overten Komplementierers): Dies betrifft nicht nur das Standarddeutsche, sondern auch allgemein die Standardvarianten im Westgermanischen. Im Gegensatz zum Standarddeutschen ist eine Verdoppelung in kategorialen Fragen mit dass in bestimmten Dialekten möglich. Betrachten wir das folgende alemannische Beispiel: (2)

I ha koa Ahnung, mid wa für-e Farb dass-er zfriede wär. ‘Ich habe keine Ahnung, mit was für einer Farbe er zufrieden wäre.’ (BAYER / BRANDNER 2008, 88, Beispiel 4b)

In diesem Fall erscheint der overte Komplementierer dass neben dem ebenfalls overten, komplexen W-Element. Während eine Verdoppelung in kategorialen Fra1

Die in diesem Aufsatz beschriebene Forschung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert, im Rahmen meines Projekts „Die Syntax funktionaler linker Peripherien und ihr Bezug zur Informationsstruktur“ (BA 5201/1-1). Für hilfreiche Kommentare und Anregungen möchte ich mich bedanken bei der Zuhörerschaft des Workshops „SaRDiS 2016“ (insbesondere bei Ellen Brandner, Oliver Schallert und Göz Kaufmann), sowie bei Gisbert Fanselow, Malte Zimmermann, Craig Thiersch, Theresa Biberauer, Bettelou Los und Marco Coniglio.

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Julia Bacskai-Atkari

gen in den deutschen Dialekten generell möglich ist, ist eine ähnliche Verdoppelung mit ob dass in polaren Fragen grundsätzlich nicht möglich.2 Ein Satz wie (3) ist also im Deutschen generell nicht möglich:3 (3)

*Ich frage mich, ob dass er mit Anna gesprochen hat.

Hinsichtlich des Kontrasts zwischen (2) und (3) stellen sich die folgenden Fragen. Erstens soll geklärt werden, ob eine Verdoppelung in polaren Fragen universell ausgeschlossen ist: Wenn ja, dann muss der Grund dafür identifiziert werden. Wenn dies aber nicht der Fall ist, dann stellt sich die zweite Frage, nämlich warum die konkrete Kombination ob dass nicht attestiert ist. Drittens sollte untersucht werden, was der Unterschied zwischen (2) und (3) über die syntaktische Struktur aussagt. Letztens sollte geklärt werden, warum dass in (2) eingesetzt wird, im Gegensatz zu (3). Die vorliegende Arbeit zeigt, dass Verdoppelungen auch in polaren Fragen möglich sind, jedoch nicht mit Komplementierern wie ob, sondern mit Operatoren wie zum Beispiel whether ‘ob’ im Englischen. Hier wird angenommen, dass ob und dass die gleiche Position besetzen und Verdoppelungen mit dass (etwa in kategorialen Fragen) keine verdoppelte CP verlangen, da keine separate Projektion für Subordination vorliegt. Im Wesentlichen argumentiert die vorliegende Arbeit, dass der Komplementierer dass in C eingesetzt wird, um das Merkmal [fin] zu lexikalisieren, was dem regulären Muster im Westgermanischen entspricht. 2

DIE ANALYSE

Es gibt zwei Möglichkeiten für die Analyse der Verdoppelungen in kategorialen Fragen. Einerseits kann der traditionellen Ansicht gefolgt und ein Doubly-FilledCOMP-Muster angenommen werden, wobei die beiden overten Elemente sich in 2

3

Im Alemannischen sind Verdoppelungen in kategorialen Fragen, siehe (2), belegt, laut ELLEN BRANDNER (persönliche Mitteilung) ist aber die Verdoppelung ob dass nicht möglich. Der „SyHD-atlas“ für das Hessische erwähnt ebenfalls keine entsprechenden Belege. Dies betrifft auch die umfangreiche Studie von BAYER (1984) für das Bairische (obwohl sämtliche Kombinationen mit dass diskutiert werden). Laut MEINUNGER (2011, 226) sind Verdoppelungen mit dass (wie ob dass) in Dialekten sporadisch belegt: In diesen Fällen ist jedoch von einem Wort (praktisch von einem grammatikalisierten komplexen Komplementierer) auszugehen, wie auch im Fall von sodass (und damit wäre ob dass eigentlich obdass). GILLMANN (2018) argumentiert, dass Kombinationen im Form von „Konnektor + dass“ im 17. Jahrhundert durchaus möglich waren, aber bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erheblich zurückgegangen und seitdem auf wenige grammatikalisierte Fälle beschränkt sind. Wie WEISS (2013, 778–779) beschreibt, tritt in den meisten deutschen Dialekten ob in eingebetteten polaren Fragen auf, jedoch gibt es einige Dialekte, wo was anstelle von ob auftreten kann, siehe ZIMMERMANN (2011) für das Niederdeutsche und vgl. auch LÜHR (1989) für das Oberbairische (Zitate von WEISS 2013, 778 übernommen). Jedoch konnten bislang keine Verdoppelungen mit was in polaren Fragen festgestellt werden, wie SCHALLERT / DRÖGE / PHEIFF (2016, 24) beschreiben.

215

Doubly Filled COMP und polare Fragen im Westgermanischen

einer einzigen CP befinden, wie BAYER / BRANDNER (2008) argumentieren. Andererseits kann eine gespaltene CP angenommen werden, um eine Verletzung des Doubly-Filled-COMP-Filters zu vermeiden: In diesem Fall gibt es zwei CPs. Dies ist der Vorschlag von zum Beispiel BALTIN (2010),4 der die kartografische Analyse von RIZZI (1997) teilweise5 annimmt.6 Die entsprechenden Strukturen werden unter (4) gezeigt, basierend auf dem Beispiel in (2): (4)

a.

CP

b.

mid wa für-e Farb[wh] C' C[wh],[fin] TP

CP

mid wa für-e Farb[wh] C' C[wh]

CP

dass[fin]

C' C[fin]

TP

dass[fin]

4 5

6

Für Argumente gegen die Analyse von BALTIN (2010), siehe auch BAYER (2015). Die Basis der von RIZZI (1997) vorgeschlagenen Analyse besteht darin, dass in der linken Peripherie zahlreiche Projektionen zwischen der obersten CP (ForceP) und der untersten CP (FinP) auftauchen können, wobei die meisten Projektionen mit informationsstrukturellen Merkmalen verknüpft sind. Für das Deutsche wurden auch (teilweise) kartografische Analysen vorgeschlagen, siehe u. a. GREWENDORF (2002; 2008), FREY (2004; 2005), BAYER (2004; 2006). Die vorliegende Arbeit kann selbstverständlich nicht alle Aspekte der kartografischen Analyse diskutieren und wird sich auf eine konkrete ausgewählte Fragestellung konzentrieren. BALTIN (2010) argumentiert, dass eine doppelt besetzte CP vermeidbar ist, da die CP sowieso in ForceP und FinP gespalten ist, wie von RIZZI (1997) vorgeschlagen. Danach sollte der WOperator in ForceP und der finite Komplementierer in FinP lokalisiert werden. Diese Annahme ist jedoch nicht vollständig im Einklang mit der kartographischen Vorlage von RIZZI (1997; 2004): W-Operatoren sind grundsätzlich in FocusP, einige Operatoren jedoch eher in IntP, wobei die beiden Projektionen sich zwischen ForceP und FinP befinden. Auf der anderen Seite sind finite Komplementierer wie that und dass in ForceP in RIZZI (1997), da topikalisierte Elemente nicht vor diesen Komplementierern auftreten können. Die Reihenfolge in Beispielen wie (2) stellt also ein Problem für die kartografische Vorlage dar, das nicht ohne weitere Annahmen (wie zum Beispiel eine Distinktion zwischen that-Force und that-Fin) zu lösen ist. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Diskussion von einer gespaltenen CP (ohne dabei genauere Bezeichnungen zu verwenden) und wird nicht weitere Probleme der kartografischen Analyse beleuchten. Die Repräsentation in (4b) ist nicht nur mit einer klassischen kartografischen Analyse, sondern auch mit CP-Rekursion kompatibel, wie von VIKNER (1995) und VIKNER / CHRISTENSEN / NYVAD (2017) vorgeschlagen. Anzumerken ist, dass CPRekursion vor allem für die Analyse von eingebetteten V2-Sätzen entwickelt worden ist. Sie muss nicht zwingend auch in Doubly-Filled-Strukturen wie (2) auftreten (siehe auch die Diskussion im Abschnitt 5 bezüglich CP-Verdoppelung).

216

Julia Bacskai-Atkari

In (4a) gibt es nur eine einzige CP, deren Kopf mit dass und deren Spezifikator mit dem W-Element mid wa für-e Farb overt gefüllt ist, was letztendlich das klassische Doubly-Filled-COMP-Muster ergibt. In (4b) hingegen gibt es zwei CPs mit unterschiedlichen Funktionen: Die untere CP kodiert lediglich Finitheit, und der Kopf wird dementsprechend vom finiten Komplementierer dass gefüllt, während die obere CP für die W-Eigenschaft zuständig ist und das W-Element sich zum Spezifikator der oberen CP bewegt. Jedoch gibt es verschiedene Probleme mit (4b). Erstens suggerieren die beiden CPs mit unterschiedlichen Funktionen (hier lediglich als Merkmale gekennzeichnet) eine kartografische Analyse, obwohl BALTIN (2010) einen minimalistischen Ansatz annimmt. Ferner ist eine funktionale Differenzierung nicht in allen Verdoppelungen möglich, was zum Beispiel in Relativsätzen der Fall ist, wo sowohl der Operator als auch der Komplementierer [rel] markiert (zum Beispiel in den Verdoppelungen von der/die/das und dem Komplementierer wo im Alemannischen, siehe die Daten von BRANDNER / BRÄUNING 2013; siehe auch BACSKAIATKARI 2018a). Zweitens wird die Minimal Link Condition (siehe FANSELOW 1990, 1991; CHOMSKY 1995) durch (4b) möglicherweise verletzt, da der Operator sich nicht zur nächstmöglichen Position bewegt, insofern der Spezifikator der unteren CP eine für W-Bewegung verfügbare aber vom W-Element in der Derivation nicht belegte Position darstellt. Um dieses Problem zu vermeiden, ist eine strikte funktionelle Spaltung zwischen den beiden CPs notwendig. Einerseits kann dann angenommen werden, dass die untere CP für W-Bewegung keine Landungsposition darstellt, da nur die obere CP mit dem [wh] Merkmal ausgestattet ist. Andererseits kann im Einklang mit GREWENDORF (2002) angenommen werden (siehe auch die Diskussion von BAYER 2006), dass der W-Operator sich zuerst zu [Spec,FinP] und dann zu [Spec,FocP] bewegt. In beiden Fällen sollte aber eine strikte funktionelle Aufspaltung angenommen werden, was an sich problematisch ist, siehe den ersten Punkt. Drittens bleibt die Frage, warum eine separate CP für Finitheit im Standarddeutschen nicht erreichbar sei, obwohl die Projektion in eingebetteten Deklarativsätzen verfügbar ist. Insbesondere entsteht aber ein Problem in Verbindung mit eingebetteten polaren Fragen. Wenn eine separate CP für die interrogative Eigenschaft, etwas IntP, in kategorialen Fragen nötig ist, dann sollte diese Projektion auch in polaren Fragen vorhanden sein (die Analyse von RIZZI 1997; 2004 suggeriert jedenfalls, dass eine separate IntP zwischen ForceP und FinP in polaren Fragen vorhanden ist). Die entsprechende (und, wie (4) zeigt, nicht mögliche) Struktur ist in (5) abgebildet:

Doubly Filled COMP und polare Fragen im Westgermanischen

(5)

217

*CP C' C[Q]

CP

ob[Q]

C' TP

C[fin] dass[fin]

Wenn eine separate CP für das Merkmal [Q],7 etwa IntP, nötig wäre, dann sollte diese Projektion auch in polaren Fragen vorhanden sein, was selbstverständlich die Kombination ob dass erlauben würde, was aber nicht der Fall ist. Die Kombination zweier Komplementierer ist an sich nicht ausgeschlossen: Die Kombination als wie in Komparativen in süddeutschen Dialekten ist attestiert (siehe JÄGER 2016; 2010; BACSKAI-ATKARI 2014, 2018a). Wird hingegen keine Spaltung in zwei CPs mit unterschiedlichen Funktionen angenommen und ist somit nur eine einzige CP verfügbar, so stehen die beiden Komplementierer ob und dass in komplementärer Distribution, und wenn ob schon in C eingesetzt wurde, kann dass nicht mehr eingesetzt werden: (6)

CP Op.[Q]

C'

C[Q],[fin]

TP

ob[Q],[fin] Da in diesem Fall nur eine einzige C-Position zur Verfügung steht, kann kein weiterer Komplementierer eingesetzt werden; der Komplementierer ob markiert die W-Eigenschaft overt und lexikalisiert gleichzeitig [fin]. Der Operator in (6) ist phonologisch unsichtbar: Der polare Operator kann im Allgemeinen entweder overt oder kovert sein (er entspricht whether) und markiert den Skopus eines phonologisch unsichtbaren oder (LARSON 1985).8 Er wird direkt in [Spec,CP] eingesetzt (BIANCHI / CRUSCHINA 2016), daher ist keine W-Bewegung nötig. 7 8

Im Einklang mit BAYER (2004) nehme ich an, dass es einen Unterschied zwischen den beiden Merkmalen [wh] und [Q] gibt, wobei [Q] für Disjunktion steht. Diese Frage wird noch in den folgenden Abschnitten weiterdiskutiert. Laut LARSON (1985), im Einklang mit ROOTH / PARTEE (1982), hat or ‘oder’ die Eigenschaften eines skopustragenden Elements. Betrachten wir das folgende Beispiel:

218

Julia Bacskai-Atkari

Was die Analyse unter (4a) betrifft, so wird hier angenommen, dass der Komplementierer dass in C eingesetzt wird, um [fin] zu lexikalisieren, was dem regulären Muster im Westgermanischen entspricht. Im Standarddeutschen wird ein C-Kopf mit [fin] regelmäßig lexikalisiert, und eingebettete kategoriale Fragen, bei denen keine solche Lexikalisierung stattfindet, sind die Ausnahme. Die Abbildungen unter (7) zeigen, wie Finitheit in Deklarativsätzen lexikalisiert wird (vgl. FANSELOW 2009): (7)

a.

CP

DP[edge]

b. C'

Ralf

C[fin],[edge] V

C

hat

Ø[fin]

CP C'

TP

C[fin],[sub]

TP

dass[fin],[sub]

Es gibt zwei Möglichkeiten für die Lexikalisierung für [fin] in C. Erstens kann sie durch Verbbewegung erfolgen wie in (7a), wobei das Verb an den eigentlichen CKopf adjungiert wird: Diese Bewegung ist notwendig, da das Finitheitsmerkmal auf dem phonologisch leeren Komplementierer nicht interpretierbar ist. Zweitens kann sie durch die Einsetzung des regulären finiten Subordinators dass erfolgen wie in (7b).

(i)

Mary is looking for a maid or a cook. Maria ist schauend für eine Magd oder eine Köchin ‘Maria sucht eine Magd oder eine Köchin.’ (LARSON 1985, 218, Beispiel 1; zitierend: ROOTH / PARTEE 1982)

Der Satz in (i) ist mehrfach ambig: Neben der de re Lesart (Maria sucht eine bestimmte Person) gibt es zwei de dicto Lesarten, die relevant sind: (ii)

Mary is looking for [[a maid] or [a cook]]. ‘Maria sucht eine Hausangestellte, die eine Magd oder eine Köchin sein sollte.’ (iii) Mary is looking for [a maid] or Mary is looking for [a cook]. ‘Maria sucht eine Magd oder sie sucht eine Köchin.’ Die Ambiguität entsteht dadurch, dass der Skopus von or nicht overt markiert ist: Wie LARSON (1985) argumentiert, können Elemente wie either ‘entweder’ oder whether ‘ob’ den Skopus overt markieren. In polaren Fragen ist das Element or meistens nicht overt: (iv) Ich weiß nicht, ob Maria schon angekommen ist (oder nicht). In diesem Fällen besteht die Disjunktion aus einer Proposition und derer Verneinung (LARSON 1985, 225–227).

219

Doubly Filled COMP und polare Fragen im Westgermanischen

Die Lexikalisierung von Finitheit in Matrix-Interrogativsätzen wird in (8) gezeigt: (8)

a.

CP

mit wem[wh]

b. C' C[wh],[fin]

CP

Op.[Q] TP

C' C[Q],[fin]

TP

V

C

V

C

hat

Ø[wh],[fin]

hat

Ø[Q],[fin]

In diesem Fall wird [fin] sowohl in kategorialen Fragen, siehe (8a), als auch in polaren Fragen, siehe (8b), durch Verbbewegung lexikalisiert – in der gleichen Art und Weise, wie es in Matrix-Deklarativsätzen attestiert ist. Der W-Operator ist entweder overt oder kovert: Da der Operator in kategorialen Fragen neue Informationen kodiert, muss er dementsprechend overt sein, sonst wird aber der Satztyp auch durch eine distinktive Intonation kodiert, und daher muss der Operator nicht unbedingt lexikalisiert werden. In eingebetteten Interrogativsätzen wird Finitheit lexikalisiert, wie in (9) abgebildet: (9)

a. wer[wh]

CP

b. C'

C[fin],[wh],[sub] dass/Ø[fin],[sub]

CP

Op.[Q] TP

C'

C[fin],[Q],[sub]

TP

ob[fin],[Q],[sub]

Die Lexikalisierung von [fin] zeigt hier zwei unterschiedliche Möglichkeiten. In eingebetteten polaren Fragen, siehe (9b), wird der Komplementierer ob in C eingesetzt: Dieses Element ist auch dafür zuständig, [Q] overt zu markieren, was in eingebetteten Sätzen nur morphologisch kodiert werden kann, da keine distinktive Intonation möglich ist.9 In eingebetteten kategorialen Fragen, siehe (9a), wird 9

In den meisten Dialekten muss [Q] in eingebetteten Fragen morphologisch overt kodiert werden: Wenn es also keinen overten polaren Operator gibt, dann muss der interrogative Komplementierer eingesetzt werden. Jedoch ist der Satztyp grundsätzlich auch vom Matrixprädikat ableitbar. Es sollten also Konfigurationen nicht universell ausgeschlossen werden, wo keine overten polaren Markierer auftreten. Dies kann auch im Deutschen beobachtet werden, und zwar im Thüringischen: (i) ich soll frägn, daß sie heint zu uns kommen ‘Ich sollte fragen, ob sie heute zu uns kommen.’ (SCHALLERT / DRÖGE / PHEIFF 2016, 25, Beispiel 33; zitierend: LÖSCH et al. 1990)

220

Julia Bacskai-Atkari

[wh] durch den Operator markiert, und daher kann lediglich der reguläre finite Subordinator dass in C eingesetzt werden. Dies erfolgt jedoch nur dialektal, und damit weist die Standardsprache eine Ausnahme im syntaktischen Paradigma auf, indem das Finitheitsmerkmal auf dem phonologisch leeren Komplementierer interpretierbar ist, wenn dieser auch als interrogativ spezifiziert ist und sich in einem eingebetteten Satz befindet (muss also letztendlich von einem Matrixelement lizenziert werden). In diesem Sinn entspricht die Verdoppelung eines W-Elements und des dass in deutschen Dialekten dem regulären westgermanischen syntaktischen Paradigma. Der reguläre finite Subordinator dass wird nicht wegen einer separaten CP für Finitheit oder Subordination eingesetzt, sondern weil das Merkmal [fin] im CKopf lexikalisiert werden muss, was in Matrixsätzen generell durch Verbbewegung geschieht (siehe die Diskussion in BACSKAI-ATKARI 2018c). Die Unerreichbarkeit der Kombination ob dass im Alemannischen ist daher erwartbar, da ob selbst ein Komplementierer ist. Dies weist darauf hin, dass Verdoppelungen in eingebetteten polaren Fragen nur möglich sind, wenn der Operator overt ist. 3

DEUTSCH

Im Deutschen gibt es keine Verdoppelung in eingebetteten polaren Fragen in den heutigen Dialekten. Im Althochdeutschen und Altsächsischen ist ebenfalls keine Verdoppelung mit dass attestiert (siehe die Korpusstudie unten), jedoch gibt es Beispiele, wo das finite Verb direkt nach ob oder (h)wedar steht: In diesen Fällen ist es nicht auszuschließen, dass [fin] möglicherweise durch Verbbewegung lexikalisiert wird. Im DDD-Referenzkorpus Altdeutsch sind althochdeutsche eingebettete polare Fragen durch ob (eventuell durch den etymologisch verwandten ibu) markiert, und in den allermeisten Fällen steht das Verb nicht in der zweiten Position. Tabelle 1 zeigt die althochdeutschen Daten:

Text „Benediktiner Regel“ OTFRID TATIAN „Ludwigslied“ „Psalm 138“ „St. Galler Schularbeit“ „Benediktbeuer Glaube“ und „Beichte III“

ibu + V 1 – – – – – –

ob – 11 8 2 1 1 1

ob + V – – 1 – – – –

Tab. 1: Polare Fragen im Althochdeutschen

In diesem Fall wird [Q] im Nebensatz nicht overt markiert: Der Komplementierer dass wird jedoch eingesetzt, um [fin] im C zu lexikalisieren.

221

Doubly Filled COMP und polare Fragen im Westgermanischen

Im DDD-Referenzkorpus Altdeutsch sind altsächsische eingebettete polare Fragen entweder durch ef ‘ob’ (etymologisch verwandt mit ob und mit dem englischen if ‘ob’) oder durch (h)wedar (etymologisch verwandt mit dem englischen whether) markiert. Tabelle 2 zeigt die altsächsischen Daten: Text „Genesis“ „Heliand“

ef 1 5

(h)wedar 1 2

(h)wedar + V – 1

Tab. 2: Polare Fragen im Altsächsischen

Betrachten wir nun die Beispiele in (10): (10)

a. b.

láz nu, gisehemes oba come Helias losenti inan. ‘lass uns sehen, ob Elias kommt, um ihn zu lösen.’

(TATIAN 208)

endi he frâgoda sân, huilic sie ârundi ûta gibrâhti, uueros an thana uuracsîð huueðer lêdiad gu uundan gold te geƀu huilicun gumuno? ‘und er fraget sofort, was für ein Geschäft sie aus ihrem Land in dieses fremde Land gebracht hatte, und ob ihr Geschenk an jemanden bringt?’ („Heliand“ 7)

Das Beispiel in (10a) stammt aus dem Althochdeutschen und das Beispiel in (10b) stammt aus dem Altsächsischen. Es gibt keine ähnlichen Beispiele mit ef wie (10), was darauf hinweist, dass ef immer im C-Kopf als Komplementierer steht wie auch if im Englischen. Die Abbildungen in (11) zeigen die möglichen Positionen der Elemente, die [Q] in polaren Fragen markieren: (11) a.

CP

CP

c.

C'

C'

(h)wedar[wh]

C[fin],[Q],[sub] TP

C[fin],[Q],[sub] TP

Op.[Q]

b.

ef[fin],[Q],[sub]

(h)wedar[wh]

C

CP C'

C[fin],[Q],[sub] V

Ø[fin],[Q] lêdiad

TP

C Ø[fin],[Q]

In (11a) ist das Element ef ein Komplementierer, der sich im C-Kopf befindet und sowohl Finitheit und Subordination als auch [Q] markiert. Da es keine Hinweise dafür gibt, dass ef im Altsächsischen ein Operator gewesen sein könnte, ist (11a) die einzige Struktur, die für ef angenommen wird. Das Element (h)wedar hingegen war sehr wahrscheinlich ein Operator, nicht nur, weil die Konfiguration in (10b) attestiert ist, sondern auch, weil whether im Englischen ebenfalls ein Opera-

222

Julia Bacskai-Atkari

tor ist (sowohl im Altenglischen als auch in späteren Perioden). Dementsprechend wird hier angenommen, dass (h)wedar als [wh] spezifiziert ist: Wie auch bei whether, ist das Auftreten von (h)wedar auf Fragesätze beschränkt und kann nicht in anderen disjunktiven Sätzen, wie Konditionalsätzen, auftreten. Da [wh] aber [Q] impliziert, kann das [Q]-Merkmal auf dem C-Kopf durch den Operator mit dem [wh]-Merkmal überprüft werden.10 Dies bedeutet jedoch nicht, dass (h)wedar immer in [Spec,CP] zu lokalisieren ist, gefolgt von einem overten Element im C. Wie BAYER / BRANDNER (2008) zeigen, können Operatoren entweder in [Spec,CP] oder auch in C eingesetzt werden, vorausgesetzt, dass der Operator die Größe eines Kopfes (X) hat und nicht die einer Phrase (XP). Diese Bedingung wird bei polaren Operatoren erfüllt. Im Gegensatz zu BAYER / BRANDNER (2008) wird hier angenommen, dass WElemente nicht als C-Köpfe fungieren, sondern eher an einen leeren C-Kopf adjungiert werden (siehe auch BACSKAI-ATKARI 2016a; 2018b). Diese Annahme setzt voraus, dass die Einsetzung des Operators in C nicht gleichzeitig mit Verbbewegung auftreten kann, dann sowohl der Operator als auch das Verb fungieren nicht als Komplementierer, vielmehr adjungieren sie sich an einen Komplementierer. Wenn der Operator in [Spec,CP] eingesetzt wird wie in (11c), bewegt sich das Verb nach C und adjungiert an den C-Kopf wie in V2-Matrixsätzen. Die Bewegung des Verbs ist für die Lexikalisierung von [fin] verantwortlich. Wenn der Operator direkt in C eingesetzt wird wie in (11b), adjungiert er an den C-Kopf. In diesen Fällen ist das Finitheitsmerkmal auf dem leeren Komplementierer (ganz wie in der heutigen Standardsprache) interpretierbar. Im Gegensatz zu der Standardsprache wird das uninterpretierbare Merkmal [Q] an dem leeren Komplementierer durch Kopfadjunktion geprüft, ganz wie die Überprüfung von [fin] in V2Sätzen. Der leere Komplementierer ist in diesem Sinn ein Enklitikon, welches ein einziges phonologisches Wort mit dem adjungierten Element bildet.11 Die Struktur in (11b) ist zudem ökonomischer als die in (11c), da das adjungierte Element direkt in die CP inseriert wird und damit keine Bewegung stattfinden muss (CHOMSKY 1995 formulierte dieses Ökonomieprinzip als Merge over Move, und diese Annahme spielt in Grammatikalisierungsprozessen in der CP auch eine große Rolle, siehe zum Beispiel VAN GELDEREN 2009). 10 BAYER (2004) argumentiert, dass Sprachen wie das Deutsche und das Englische keine morphosyntaktische Spaltung zwischen [Q] und [wh] zeigen, im Gegensatz zum Koreanischen, zum Japanischen und zu einigen niederländischen Dialekten (siehe Abschnitt 5 für das Niederländische). 11 Es gibt mindestens drei verschiedene Arten von (finiten) leeren Komplementierern, die für das Deutsche relevant sind und deren Distribution von dem jeweiligen Dialekt abhängig ist. Erstens gibt es leere Komplementierer mit einem uninterpretierbaren Finitheitsmerkmal, wie in (7a), (8) und (11c), welche durch Verbbewegung geprüft werden müssen. Zweitens gibt es leere Komplementierer mit einem interpretierbaren Finitheitsmerkmal, wie in (11b), welche eine Kopfadjunktion verlangen, da sie an einem anderen Element klitisieren müssen. Drittens gibt es leere Komplementierer mit einem interpretierbaren Finitheitsmerkmal, wie in (9a), die eigenständig auftreten können.

Doubly Filled COMP und polare Fragen im Westgermanischen

223

Das Element ob im Althochdeutschen tritt überwiegend nicht mit vorgestelltem Verb auf, und die Verbvoranstellung in Beispielen wie (10a) könnte eventuell auch durch eine vom heutigen Standarddeutschen abweichende Basisposition des Verbs erklärt werden. Wenn aber ob in (10a) ein Operator war, dann entspricht die Konfiguration der Struktur in (11c). Andere Beispiele hingegen, wo das Element ob ohne Verbvoranstellung attestiert ist, weisen darauf hin, dass ob entweder überwiegend in C eingesetzt wurde, wie in (11b), oder bereits völlig grammatikalisiert wurde, wie in (11a). Eine mögliche Grammatikalisierung von Operatoren beginnt also mit einer Struktur, die (11c) entspricht, gefolgt von der Konfiguration in (11b) und endet im grammatikalisierten Komplementierer in (11a). Die drei verschiedenen Möglichkeiten zeigen auch, dass C in polaren Fragen nicht immer durch einen Komplementierer lexikalisiert wird. Da insgesamt wenige historische Belege zur Verfügung stehen (siehe Tabelle 1 und Tabelle 2), kann der Status des ob im Althochdeutschen nicht völlig geklärt werden. Die Beispiele mit Verbvoranstellung schließen einerseits nicht aus, dass ob ursprünglich auch ein Operator war, der später als Komplementierer grammatikalisiert wurde. Andererseits weist die geringe Zahl solcher Beispiele darauf hin, dass eine entsprechende Grammatikalisierung bereits im Althochdeutschen überwiegend vollzogen worden war, was natürlich erklärt, warum ob in heutigen Dialekten nicht als Operator (etwa in Konfigurationen wie ob dass) zur Verfügung steht. 4

ENGLISCH

Im Englischen gibt es keine Verdoppelung in eingebetteten polaren Fragen mit if ‘ob’, das ein Komplementierer ist und daher die gleichzeitige Einsetzung eines weiteren Komplementierers (wie that ‘dass’) oder eines vorangestellten Verbes ausschließt. Verdoppelungen mit whether hingegen sind möglich. Einerseits kann die Verdoppelung mit that in eingebetteten polaren Fragen beobachtet werden. Diese Option ist schon im Altenglischen gegeben und kann auch in modernen Dialekten (jeweils Substandard) beobachtet werden, jedoch tritt diese Verdoppelung nicht so häufig wie mit normalen W-Operatoren auf (VAN GELDEREN 2009). Andererseits kann das Element whether in historischen Beispielen mit einem vorangestellten Verb in Matrixsätzen beobachtet werden, und zwar entweder mit einem lexikalischen Verb oder später mit dem Hilfsverb do (vor dem Frühenglischen bewegte sich das Verb nach T, danach dient do-Einsetzung als Polaritätsmarkierung, siehe WALLAGE 2015). Die Beispiele in (12) zeigen die diversen Möglichkeiten:

224 (12)

Julia Bacskai-Atkari

a.

b.

c.

d.

I wot not whether that I may come with him or ich weiß nicht ob dass ich mag kommen mit ihm oder not. nicht. ‘Ich weiß nicht, ob ich mit ihm kommen darf oder nicht.’ (Paston Letters XXXI) Hwæðer wæs iohannes fulluht þe of heofonum þe of ob war Johannes Taufe das von Himmel oder von mannum Mensch. ‘War die Taufe des Johannes vom Himmel oder vom Mensch?’ (West Saxon Gospel; VAN GELDEREN 2009, 141, Beispiel 15) Hwæðer ic mote lybban oðdæt ic hine geseo ob ich mag leben bis ich ihn sehen ‘Werde ich so lange leben, bis ich ihn sehe?’ (Aelfric „Homilies“; VAN GELDEREN 2009, 141, Beispiel 16)12 Whether did he open the Basket? ob tat er öffnen der Korb ‘Hat er den Korb geöffnet?’ („The Tryal of Thomas Earl of Macclesfield“)13

Die Verdoppelung in (12a) entspricht dem regulären Doubly-Filled-COMP-Muster, wobei das W-Element im Spezifikator derselben CP auftritt, dessen Kopf von dem Komplementierer gefüllt wird wie in (9a). Des Weiteren können die folgenden Strukturen für das Englische angenommen werden: (13)

a.

CP

CP

c.

C'

C'

whether[wh]

C[fin],[Q],[sub] TP

C[fin],[Q],[sub] TP

Op.[Q]

b.

if[fin],[Q],[sub]

whether[wh]

C

CP C'

C[fin],[Q],[sub] V

Ø[fin],[Q] wæs/did

TP

C Ø[fin],[Q]

Der Komplementierer if befindet sich im C, sowohl historisch als auch synchron; der Operator ist in diesem Fall phonologisch unsichtbar, siehe (13a). Wenn whether als Operator auftritt, kann es entweder direkt in den C-Kopf via Kopfadjunktion eingesetzt werden, siehe (13b), oder in den Spezifikator wie in (13c): Im letz12 zitierend: ALLEN 1980. 13 Quelle: Thomas Salmon and Sollon Emlyn (1730) A complete collection of state-trials, and proceedings for high-treason, and other crimes and misdemeanours: 1715–1725.

Doubly Filled COMP und polare Fragen im Westgermanischen

225

teren Fall bewegt sich das Verb zum C. Die Repräsentation in (13b) entspricht damit der Struktur von (12c) und diejenige in (13c) den Optionen in (12b) und (12d). Die Frage stellt sich jedoch, ob die Struktur in (13a) auch mit whether möglich gewesen ist, wenigstens historisch. Der Unterschied zwischen (13a) und (13b) liegt letztendlich nur in der Grammatikalisierung, aber nicht in der Position: Das Element in C lexikalisiert [fin] in beiden Fällen, obwohl if ein regelmäßiger Komplementierer ist, während whether an den C-Kopf adjungiert. VAN GELDEREN (2009) nimmt an, dass whether in Beispielen wie (12c), wo keine Verbbewegung stattfindet, als grammatikalisierter Komplementierer auftrete. Da aber whether auch in späteren Perioden als eindeutiger Operator und nicht als Komplementierer auftritt, ist die Annahme eines solchen Grammatikalisierungsprozesses nicht plausibel, wie WALKDEN (2014) auch für das Altenglische argumentiert. Stattdessen wird hier angenommen, dass whether auch in Beispielen wie (12c) als Operator auftrete. Die Abwesenheit des vorangestellten Verbs kann damit erklärt werden, dass whether an den C-Kopf adjungiert wie in (13b) und damit Verbbewegung blockiert. Der Operator kann auf diese Weise C lexikalisieren, ohne dass eine Grammatikalisierung stattfinden würde. Die Grammatikalisierung von whether als Komplementierer wird einerseits dadurch verhindert, dass es [fin] nicht kodieren kann, und andererseits dadurch, dass es als W-Operator transparent ist und damit überspezifiziert für das [Q]-Merkmal des Komplementierer ist, d. h. es gibt keine Übereinstimmung bezüglich der Merkmale zwischen dem Komplementierer und dem Operator.14 Die englischen Daten zeigen, dass [fin] in C in polaren Fragen nicht immer durch einen Komplementierer lexikalisiert wird: Die Einsetzung von Operatoren und die Verbbewegung sind auch attestierte Optionen. Ferner weisen die englischen Daten darauf hin, dass Verdoppelungen in polaren Fragen möglich sind, wenn die Grammatikalisierung des Operators verhindert wird. Jedoch wird offenbar die direkte Einsetzung in C (mit Kopfadjunktion) präferiert, da die Zahl der Belege mit Verdoppelungen in allen Perioden unterhalb der Zahl der Belege ohne Verdoppelungen liegt (VAN GELDEREN 2009): Dies kann womöglich mit Ökonomiebeschränkungen erklärt werden: In (13b) wird, im Gegensatz zu (13c), das 14 Die abweichenden syntaktischen Positionen von if und whether sind auch dadurch erkennbar, dass die Verdopplung whether if zwar nicht häufig belegt, aber wenigstens möglich ist: (i) The local authority will know whether if they let the council die lokal Behörde wird wissen ob ob sie.PL vermieten das sozial house to the tenant. Haus zu der Mieter ‘Die zuständige Behörde wird wissen, ob sie die Sozialwohnung dem Mieter vermietet.’ (BNC-FC3-80; VAN GELDEREN 2004, 96, Beispiel 82) Dass solche Verdoppelungen jedoch nicht typisch sind kann mit Ökonomiebeschränkungen begründet werden: Die beiden overten Elemente markieren eine eingebettete polare Frage, und die Verdoppelung ist deshalb redundant.

226

Julia Bacskai-Atkari

adjungierte Element nicht bewegt, sondern direkt in die CP inseriert (siehe die Diskussion in Abschnitt 3). 5

NIEDERLÄNDISCH

Im Niederländischen wie auch im Deutschen und Englischen gibt es keine Verdoppelungen mit of ‘ob’ in der Standardsprache, entsprechende Konfigurationen sind aber in Dialekten möglich (auch mit normalen W-Operatoren in kategorialen Fragen). Betrachten wir das folgende Beispiel: (14)

Ik vraag me af of dat Ajax de volgende ronde haalt. ich frage mich PRT ob dass Ajax die nächste Runde erreicht ‘Ich frage mich, ob Ajax die nächste Runde erreicht.’ (BAYER 2004, 65, Beispiel 14, zitierend: HOEKSTRA 1993)

Hier wird angenommen, basierend auf BOEF (2013, 141–142), dass of in diesen Fällen ein Operator in [Spec,CP] sei, im Gegensatz zu BAYER (2004), der annimmt, dass of ein Kopf einer separaten CP-Projektion sei. Damit hat of einen anderen syntaktischen Status als ob im Deutschen, weshalb (14) im Deutschen nicht möglich ist. Außer der Abwesenheit von Strukturen wie (14) im Deutschen gibt es Indizien dafür, dass of einen anderen Status hat. Einerseits kann of auch in kategorialen Fragen eingesetzt werden (siehe unten); andererseits ist of im Niederländischen generell als disjunktives Element (‘oder’) verfügbar, siehe BOEF (2013). Die Struktur für (14) wird in (15) gezeigt: (15)

CP of[Q]

C' C[Q],[fin] dat[fin]

TP (BNC-FC3-80: VAN GELDEREN 2004, 96, Beispiel 82)

Damit entspricht die Verdoppelung of dat Konfigurationen wie whether that im Englischen, obwohl of im Niederländischen kein W-Operator (sondern ein QOperator) ist. Obwohl der Operatorstatus des ob im Althochdeutschen auch nicht auszuschließen ist, stellt sich die Frage, inwiefern of sich von if und ob unterscheidet, d. h., ob es weitere Unterschiede gibt, die darauf hinweisen, dass of dialektal auch als Operator erscheinen kann. Tatsächlich kann of dialektal, im Gegensatz zu ob und if, auch in kategorialen Fragen erscheinen, wobei dem W-Operator of und möglicherweise auch dat ‘dass’ nachfolgt, zum Beispiel wie of (dat) ‘wer ob (dass)’. Das Auftreten der drei Elemente wird in (16) gezeigt:

Doubly Filled COMP und polare Fragen im Westgermanischen

(16)

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Ze weet wie of dat hij had willen opbellen. sie weiß wer ob dass er hatte wollen anrufen ‘Sie weiß, wen er anrufen wollte.’ (BAYER 2004, 66, Beispiel 17, zitierend: HOEKSTRA 1993)

Hier wird angenommen, dass es in diesem Fall zwei Operatoren gebe, und dabei muss der polare Operator im Skopus des W-Operators stehen. Die Frage stellt sich jedoch, ob [wh] auf diese Weise zweifach markiert wird. Wie BAYER (2004) argumentiert, tritt eine Spaltung zwischen den beiden Merkmalen [Q] und [wh] auf, wobei [Q] Disjunktion markiert. Die Struktur für die Kombination wie of dat sieht wie folgt aus: (17)

CP wie[wh] of[Q]

C' C' C[wh],[fin],[sub]

TP

dat[fin],[sub] Die Verdoppelung kann wie folgt erklärt werden: Da es um eine kategoriale Frage geht, enthält der C-Kopf das Merkmal [wh], im Gegensatz zu polaren Fragen, wo die Spezifizierung [Q] ist. Das Merkmal [wh] impliziert [Q], daher ist es möglich, ein Q-Element (hier of) einzusetzen, jedoch ist damit [wh] im C nicht überprüft, und deshalb projiziert die CP weiter, wobei ein zweiter Spezifikator entsteht. Das W-Element bewegt sich nach vorne und überprüft das Merkmal [wh] im höheren Spezifikator. Die Minimal Link Condition wird dabei nicht verletzt, da der Operator sich zum nächstmöglichen Spezifikator bewegt, der in diesem Fall der höhere [Spec,CP] ist, weil der untere [Spec,CP] bereits den polaren Operator enthält. Wenn of in den C-Kopf (und nicht in den Spezifikator) eingesetzt wird, tritt dat nicht auf, was Kombinationen aus einem W-Operator + of ergibt (zum Beispiel wie of). Wird of nicht eingesetzt, so bewegt sich der W-Operator zum einzigen Spezifikator der CP, im Einklang mit der Minimal Link Condition, und überprüft das Merkmal [wh]. Die niederländischen Daten weisen darauf hin, dass Verdoppelungen in polaren Fragen auch mit Operatoren möglich sind, die nicht zum W-Paradigma gehören. Ferner ist eine weitere Verdoppelung in kategorialen Fragen möglich, wobei der W-Operator mit einem polaren Operator auftritt, entweder mit oder ohne dat ‘dass’, je nachdem, ob der polare Operator in [Spec,CP] oder in C eingesetzt wird.

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6

MERKMALE

Wie die vorigen Abschnitte zeigen, weisen verschiedene – historische oder heutige – westgermanische Dialekte darauf hin, dass polare Operatoren mit Subordinatoren wie dass verdoppelt werden können, ebenso lässt sich ein polarer Operator mit einem W-Operator kombinieren. BAYER (2004) zeigt, dass es einen Unterschied zwischen den beiden Merkmalen [Q] und [wh] gibt, und dieser Unterschied ist auch in den Operatoren nachweisbar. W-Operatoren sind jeweils mit einem [wh]-Merkmal spezifiziert. Polare Operatoren hingegen können entweder als [wh] wie whether im Englischen oder als [Q] wie of im Niederländischen spezifiziert werden. Der C-Kopf ist in kategorialen Fragen als [wh] spezifiziert, in polaren Fragen hingegen als [Q], jedoch können Operatoren mit einem [wh]-Merkmal wie whether auch in polaren Fragen eingesetzt werden, da das Merkmal [wh] das Merkmal [Q] impliziert (siehe Abschnitt 4): W-Operatoren sind in diesem Sinn überspezifiziert. Ferner weisen grammatikalisierte Komplementierer in polaren Fragen immer das Merkmal [Q] auf: Wenn das Element im C-Kopf mit dem Merkmal [wh] versehen ist, dann handelt es sich um einen Operator, der in den CKopf via Kopfadjunktion eingesetzt wird.15 Im Gegensatz zu kategorialen Fragen, wo der C-Kopf als [wh] spezifiziert ist, ist der C-Kopf in polaren Fragen als [Q] spezifiziert. W-Operatoren wie whether sind in polaren Fragen überspezifiziert: Daher sind sie in eingebetteten polaren Fragen zwar erlaubt, jedoch können sie nicht als rein disjunktive Komplementierer interpretiert werden, was ihre Grammatikalisierung als Komplementierer verhindert. Für eine Grammatikalisierung wäre der Verlust des [wh]-Merkmals (und gleichzeitig die Zuweisung eines [Q]-Merkmals) notwendig,16 dies ist aber dadurch verhindert, dass whether morphophonologisch transparent als W-Operator ist. Ferner können W-Operatoren nicht in Konditionalsätzen auftreten, da das eigentliche Interrogativmerkmal semantisch nicht lizenziert ist, obwohl Konditionalsätze ebenfalls als [Q] spezifiziert sind und synchron oder diachron die Komplementierer (teilweise Operatoren) if/of/ob/ef aufweisen (vgl. BHATT / PANCHEVA 2006; ARSENIJEVIĆ 2009; DANCKAERT / HAEGEMAN 2012). Eingebettete polare Fragen unterscheiden sich nicht im Merkmal des C-Kopfes von Konditionalsät-

15 Die Frage stellt sich, warum Verdoppelungen von polaren Operatoren und polaren Komplementierern (etwa whether if) kaum attestiert sind. Letztendlich ist der Komplementierer lediglich [Q], während der Operator auch als [wh] spezifiziert sein kann, und dabei gäbe es keine vollständige Übereinstimmung zwischen den Merkmalen. Einerseits muss hier betont werden, dass polare W-Operatoren nicht unbedingt verfügbar sind: Im Englischen ist whether möglich, wie auch (h)wedar im Altsächsischen, aber solche Operatoren sind im Deutschen und im Niederländischen nicht attestiert. Andererseits sind solche Verdoppelungen redundant und im Englischen auch eindeutig Substandard (siehe auch die Diskussion im Abschnitt 4). 16 Solche Voraussetzungen gelten für Grammatikalisierungsprozesse im Allgemeinen, sodass sie von VAN GELDEREN (2009) als Merkmalökonomie (feature economy) bezeichnet werden. In Relativsätzen musste zum Beispiel das Element that seine EPP-Merkmale verlieren, um vom Operator als Komplementierer reanalysiert werden zu können.

Doubly Filled COMP und polare Fragen im Westgermanischen

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zen: Der Unterschied liegt vor allem im Matrixprädikat, das auch den Komplementierer selegieren kann (zum Beispiel ob versus wenn im heutigen Deutschen). 7

ZUSAMMENFASSUNG

In diesem Aufsatz wurden verschiedene westgermanische Dialekte untersucht, die Verdoppelungen in eingebetteten Fragen aufweisen. Es wurde gezeigt, dass Verdoppelungen in polaren Fragen mit Operatoren möglich sind, und zwar nur in der Form Operator + Subordinator (wie dass). Es gibt keine Verdoppelungen in der Form „Komplementierer + Komplementierer“ (etwa ob dass) in polaren Fragen im Deutschen,17 was davon abgeleitet werden kann, dass es keine gesonderte CP für Subordination (oder Finitheit) gibt. Der polare Operator ist entweder als [Q] oder als [wh] spezifiziert, wobei [wh] überspezifiziert ist und die Möglichkeiten für den Operator beschränkt, in anderen Konstruktionen auftreten zu können (etwa in kategorialen Fragen oder in Konditionalsätzen). Ferner ist die Grammatikalisierung als Komplementierer für Operatoren mit dem Merkmal [wh] nicht möglich. Der Komplementierer dass wird in Verdoppelungen eingesetzt, um [fin] zu lexikalisieren. Dies entspricht dem regulären Muster im Westgermanischen, wobei [fin] im C regelmäßig lexikalisiert wird: Die gleiche Funktion können aber auch direkt eingesetzte Operatoren und bewegte Verben erfüllen, was dafür spricht, dass keine separate Projektion für den finiten Komplementierer notwendig ist.

17 Dies schließt natürlich nicht aus, dass Komplementierer in anderen Satztypen miteinander kombiniert werden können. In verschiedenen Dialekten des Deutschen ist die Kombination als wie in Komparativsätzen belegt (siehe JÄGER 2010; 2016), die laut BACSKAI-ATKARI (2014; 2016b) als verdoppelte Komplementierer gelten. In hypothetischen Vergleichskonstruktionen ist ebenfalls mit einer Verdoppelung zu rechnen (zum Beispiel als ob, als wie), wobei die beiden Komplementierer unterschiedliche Funktionen haben (BACSKAI-ATKARI 2018c). In diesen Konstruktionen sind aber jeweils koverte Operatoren vorhanden, die zwischen den beiden Komplementierern auftauchen und somit eine direkt Merge-Operation zwischen den Komplementierern ausschließen. Verdoppelte Komplementierer treten auch in anderen Sprache auf, siehe u. a. POLETTO (2000), ROBERTS (2005), PAOLI (2007), BOEF (2013).

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ENTSTEHEN UND WANDEL LITERATER KONSTRUKTIONEN: SYNTAKTISCHES AUFSPANNEN UND SEMANTISCHES AUFLADEN Marie-Luis Merten 1

EINLEITUNG

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Ausbauphänomenen des Mittelniederdeutschen, das einen in der institutionalisierten Syntax-/Grammatikgeschichtsschreibung bislang weitestgehend marginalisierten Gegenstand darstellt (vgl. HUNDT / LASCH 2015). Als Untersuchungsgegenstand fungieren FunktionswortKonstruktionen, der Schwerpunkt liegt dabei im Besonderen auf präpositionalen wie auch subjunktionalen Form-Funktions-Kopplungen. Mit dem Konzept des literaten Sprachausbaus, wie ihn MAAS (2010) diskutiert, wird der Fokus auf mediengebundene Sprachwandelprozesse – sie sind an den schriftlichen Verwendungskontext gekoppelt – gerichtet. Sie münden in der Herausbildung schriftsprachlicher Einheiten, die entsprechend dem zugrunde gelegten konstruktionsgrammatischen Sprachverständnis (CROFT 2001; LANGACKER 2008) als (schriftinduzierte) Form-Funktions-Kopplungen (Konstruktionen) modelliert werden. Bei den nachzuzeichnenden Entwicklungen, die v. a. die Ebenen Satz und Text betreffen, handelt es sich demnach um Phänomene der Konstruktionalisierung (Entstehen von Konstruktionen) und des Konstruktionswandels (TRAUGOTT / TROUSDALE 2013). Das Augenmerk des Beitrags liegt auf komplexen Konstruktionen des syntaktischen Aufspannens und semantischen Aufladens, wie sie im Rahmen des mittelniederdeutschen Recht-Schreibens aufkommen und zunehmend von zentraler Bedeutung sind. Das im Spätmittelalter wachsende Bestreben, rechtsrelevante Sachverhalte wie auch Sachverhaltsrelationen möglichst explizit, präzise und objektiv schriftlich zu konstruieren bzw. zu fixieren, legt nahe, dass die historisch-juristische Schreibpraxis eine für Fragen des Sprachausbaus aufschlussreiche Domäne darstellt. Dass sich die in den Blick genommenen mittelniederdeutschen Rechtstexte (13. bis 17. Jahrhundert) zudem von Vorlese- zu Lesetexten entwickeln (vgl. TOPHINKE 2009), sich also ihre bei der Textproduktion zu berücksichtigende Adressierung (Hörer vs. Leser) grundlegend ändert, ist hinsichtlich einer sich etablierenden literaten Formung der Texte höchst relevant. Der Beitrag gliedert sich folgendermaßen: Zunächst wird in den Bereich der Grammatik- bzw. Syntaxgeschichtsschreibung des Mittelniederdeutschen eingeführt und der konstruktionsgrammatische Zugriff vorgestellt (Kap. 2). Darauf aufbauend wird das Konzept des literaten Sprachausbaus aus einer kognitiv-funk-

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Marie-Luis Merten

tionalen Perspektive beleuchtet, v. a. die Entwicklung literater Form-FunktionsKopplungen im Kontext einer übergreifenden Textualisierung im Spätmittelalter bzw. in der Frühen Neuzeit ist von Interesse (Kap. 3). Ausgewählte Fallbeispiele werden im sich anschließenden Kapitel mit Blick auf übergeordnete (mediengebundene) Sprachwandelprozesse diskutiert (Kap. 4). Ein Fazit, das zentrale Überlegungen und Ergebnisse resümiert, schließt den Beitrag (Kap. 5). 2 2.1

MITTELNIEDERDEUTSCHE GRAMMATIK IM FOKUS – KONSTRUKTIONSGRAMMATISCHER ZUGRIFF Desiderata: Mittelniederdeutsche Grammatikgeschichtsschreibung

In der institutionalisierten Grammatikgeschichtsschreibung spielt das Mittelniederdeutsche eine nur marginale Rolle. Dies halten jüngst auch HUNDT / LASCH (2015, 3) – allerdings mit Blick auf den Bereich der gesamten Sprachgeschichtsforschung – fest (siehe ebenso WALLMEIER 2012, 33–35). So finden sich im Vergleich zu den hochdeutschen Sprachstadien, wie bspw. für das Mittelhochdeutsche oder Frühneuhochdeutsche, nur wenige Sprachstufengrammatiken (u. a. LÜBBEN 1970 [1882]; LASCH 1914; SARAUW 1924), von denen zudem keine aktuelleren Überarbeitungen und/oder Erweiterungen vorliegen.1 Dass diese Überblicksdarstellungen kaum dem derzeitigen Stand der germanistischen Grammatikographie entsprechen, liegt auf der Hand. Der oft junggrammatische Zugriff wird den unterschiedlichen sprachlichen Phänomenen häufig nicht gerecht: Greift man sich exemplarisch den Bereich der nichtflektierbaren Funktionswörter2 heraus, bei denen es sich zweifelsohne um wichtige grammatische Größen handelt, sticht deren oberflächliche und bedeutende Konstitutiva dieser Wortgruppe(n) vernachlässigende Behandlung ins Auge (vgl. MERTEN 2013). Anstatt die Leistung bzw. Funktion dieser Wörter im Satzund Textkontext eingehender zu thematisieren, Überschneidungsbereiche der jeweiligen Wortarten zu problematisieren, diachrone Übergänge – etwa die semantische Dimension betreffend – zu besprechen etc., finden sich, sodenn sie überhaupt behandelt werden, tlw. lediglich kurze Inventarlisten von mehr oder weniger frequent gebrauchten Adverbien, Subjunktionen und/oder Präpositionen. Problematisch – da jedweder empirischen Grundlage entbehrend – sind darüber hinaus Parallelisierungen von Mittel-/Frühneuhochdeutsch und Mittelniederdeutsch, wie sie in der Kurzgrammatik von DIETL (2002, 26) auszumachen sind (vgl. WALLMEIER 2012, 33). Der Transfer von Befunden zu den hochdeutschen

1 2

Die einzig aktuellere Grammatik des Mittelniederdeutschen, die im 21. Jahrhundert erschienen ist, stellt die 30-seitige Kurzgrammatik von DIETL (2002) dar. Dass es sich bei der Erforschung dieser Wortarten in der gesamt-germanistischen Grammatikforschung um ein Desiderat handelt, stellt KRAUSE (2010) heraus.

Syntaktisches Aufspannen und semantisches Aufladen

235

Sprachstadien auf das Mittelniederdeutsche ist ohne ein Absichern auf korpuslinguistischer Basis zu umgehen.3 Dieser Missstand der mittelniederdeutschen Grammatik/Grammatikgeschichtsschreibung4 verwundert, nimmt das Mittelniederdeutsche bzw. genau genommen: nehmen die mittelniederdeutschen Schreibsprachen als überregionale Schriftsprache(n) im Spätmittelalter / in der Frühen Neuzeit eine zunehmend tragende Rolle ein. Als Hansesprache (SANDERS 1982), deren Geltungsbereich deutlich über den norddeutschen Sprachraum hinausreicht, stellt das Mittelniederdeutsche die lingua franca der damaligen Zeit dar. Es dient u. a. der (schriftbasierten) Organisation und Koordination städtischer Belange (exemplarisch SCHRÖDER 2001), erlangt zentralen Stellenwert für die hanseatische Kaufmannspraxis (TOPHINKE 1999) und löst in vielen Städten/Kanzleien – dies ist v. a. für den vorliegenden Beitrag von Bedeutung – das über einen langen Zeitraum den Volkssprachen gegenüber dominante Lateinische im juridischen Diskurs ab. 2.2

Konstruktionen, Konstruktionalisierung, Konstruktionswandel

Grammatik als dynamisches Gebilde (ZIEM / LASCH 2013, 8; DIESSEL 2015) ist stetig im Wandel. Weitreichende Veränderungen zeigen sich dabei nicht von heute auf morgen, werden aber über die Jahrhunderte hinweg – dies zeigt u. a. der vorliegende Beitrag – mehr als augenfällig. Entsprechend konstruktionsgrammatischer Überlegungen, wie sie an dieser Stelle leitend sind, handelt es sich bei den im Wandel befindlichen Spracheinheiten um mehr oder weniger komplexe Konstruktionen. In Form von mitunter für einzelne Sprachgemeinschaften5 unterschiedlich stark konventionalisierten Kopplungen formaler und semantisch-funktionaler Eigenschaften fungieren Konstruktionen als sprachliche Ressourcen, auf die in der kommunikativen Praxis zurückgegriffen wird / werden kann (vgl. CROFT 2005, 274): According to Construction Grammar, a distinct construction is defined to exist if one or more of its properties are not strictly predictable from knowledge of other constructions existing in the grammar: C is a construction iffdef C is a form-meaning pair such that some aspect of Fi or some aspect of Si is not strictly predictable from C’s component parts or from other previously established constructions.

(GOLDBERG 1995, 4) 3

4 5

Begrüßenswert ist, dass in den letzten Jahren im Kontext von wissenschaftlichen Einzelvorhaben sowie (größeren) akademischen Projekten ein zunehmendes Interesse an der Syntax sowie Syntaxgeschichte des Mittelniederdeutschen zu verzeichnen ist (vgl. TOPHINKE 2009; 2012; TOPHINKE / WALLMEIER 2011; WALLMEIER 2012; PETROVA 2012; 2013; DREESSEN / IHDEN 2015). Zur mittelniederdeutschen Grammatikographie auch SCHRÖDER (2014). Bedeutend ist an dieser Stelle, dass der Definition von speech community nach CROFT (2000, 92) gefolgt wird: „[A] linguistic code belongs to a (speech) community, and a community is defined by a domain. Every person is a member of multiple (speech) communities, hence every person speaks multiple codes, depending on which communities he or she belongs to.“

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Setzt diese häufig angeführte Definition nach GOLDBERG – eine Vertreterin der Cognitive Construction Grammar – die Idiomatizität von Konstruktionen relevant, so finden sich ebenfalls Forschungsbeiträge, die die Notwendigkeit dieses Kriteriums in Frage stellen, ggf. gar ablehnen. LANGACKER (1987, 409), Begründer der Cognitive Grammar, weist das Kriterium bspw. zurück, CROFT (2001, 180), zentraler Vertreter der Radical Construction Grammar, stuft es als nicht zentral ein und ersetzbar durch den Aspekt der (hohen) Frequenz einer FormFunktions-Kopplung in der Sprachpraxis: Eine häufige, repetitive Verwendung führt auch zur kognitiven Verfestigung (Entrenchment) sprachlicher Form-Funktions-Paare, die sich nicht durch (einen hohen Grad an) Idiomatizität auszeichnen. Mit der Kognitiven Grammatik (u. a. LANGACKER) und der Radikalen Konstruktionsgrammatik (u. a. CROFT) sind die beiden (i. w. S.) konstruktionsgrammatischen Spielarten angeführt, die wesentliche Bezugspunkte für zentrale Überlegungen und Annahmen des zugrundeliegenden grammatiktheoretischen Zugriffs liefern. Im Gegensatz zu einem Großteil nichtkonstruktionistischer Ansätze kommt auf diese Weise semantischen Kategorien ein besonderer Stellenwert bei der Beschreibung und Erklärung struktureller Muster zu. Über die Dynamizität des grammatischen Gebildes hinaus ist auch dessen Netzwerkcharakter – Grammatik/Sprache als ein Netzwerk von Konstruktionen (Konstruktikon) – zentral (GOLDBERG 2003, 220). Für dieses Konstruktikon, das eine fluide Knotenstruktur aufweist, sind von ZIEM / LASCH (2013, 97–98) beschriebene Vererbungsbeziehungen zwischen übergeordneten stärker abstrakten Konstruktionen und untergeordneten (mehr oder weniger) konkreten Konstruktionen wesentlich. Mit Blick auf eine solche Hierarchisierung von Form-FunktionsKopplungen findet sich in der Forschung die Einteilung in Makro-, Meso- und Mikrokonstruktionen (TROUSDALE 2008, 52) bzw. die Unterscheidung von schematischen, teil- und vollspezifizierten Form-Funktions-Kopplungen (CROFT / CRUSE 2004, 255). Das Instanziieren von Konstruktionen in der Sprachpraxis führt zu Konstrukten, die mit LANGACKER (1987) als usage based events zu fassen sind. Es handelt sich bei ihnen um „empirisch attestierte Token“, die wiederum als „Ort von Innovationen“ (DIEWALD 2009, 451), wie es an späterer Stelle sichtbar wird, fungieren. Konstruktionen kennzeichnet darüber hinaus sowohl deren kognitive Gestalthaftigkeit (ZIEM / LASCH 2013, 16) als auch ihre soziokulturelle/pragmatische Prägung (vgl. MERTEN 2017 sowie 2018; ZIEM 2015). Anknüpfungspunkt für die soziokulturelle Perspektivierung von Form-Funktions-Kopplungen ist v. a. deren Konventionalität als „intrinsisch soziopragmatische Kategorie“ (ZIEM 2015, 2). Wie bereits angedeutet, unterscheiden sich Sprachgemeinschaften – etwa im Sinne von soziolektal, dialektal etc. bestimmten Gruppen – in divergierendem Ausmaß hinsichtlich der für sie konventionalisierten Konstruktionen. Eine solche Sprachgemeinschaft bilden im Spätmittelalter bzw. in der Frühen Neuzeit die historischen Recht-Schreiber, deren sich entwickelnde schriftlich-kommunikative Praxis in den Blick genommen wird. Sie verbindet ein geteiltes Wissen um rechtsschriftliche Konstruktionen, Form-Funktions-Paare des juristischen Schreibens, die – im Sinne einer Sociocultural Construction Grammar (MERTEN 2017) – in

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ihrer Gesamt- und Vernetztheit als ein kommunales Konstruktikon (sprachgemeinschaftliches Netzwerk an Konstruktionen) zu fassen sind. Im empirischen Abschnitt (Kap. 4) soll es um ausgewählte Einheiten dieses kommunalen Konstruktikons der mittelniederdeutschen Recht-Schreiber gehen. Im Vordergrund stehen dabei sogenannte Funktionswort-Konstruktionen. Aus den vorherigen Ausführungen (Kap. 2.1) sollte deutlich geworden sein, dass (a) Funktionswörter als grammatische Einheiten einzustufen sind, denen die mittelniederdeutsche Grammatikforschung bzw. Grammatikgeschichtsschreibung bislang zu wenig Beachtung geschenkt hat. Zudem wird (b) der bisherige grammatiktheoretische Zugriff – und dies gilt für den Gesamtbereich der historischen Grammatik, inkludiert also die Forschung zum Mittel- und Frühneuhochdeutschen (vgl. KRAUSE 2010) – diesen funktionalen Größen nicht gerecht. Vernachlässigt wird nicht nur die hochgradige Ko(n)textgebundenheit jener Wörter, also deren Kopplung an spezifische lexikogrammatisch bestimmte Rahmen, sondern auch die zu beobachtende Medien- bzw. Textsortengebundenheit zahlreicher Grammeme als pragmatische Prägung bzgl. bestimmter Kommunikationspraxen (FEILKE 1996). Insbesondere mit Blick auf den ersten Aspekt (Bindung an lexikogrammatisch bestimmte Rahmen) liegt ein konstruktionsgrammatischer Zugriff nahe. Funktionswörter sind in dieser Perspektive als konstruktionsbasierte Größen zu verstehen: Erst das Vorhandensein weiterer Elemente (Nominalphrasen, prozessualfinite Einheiten, ...), die in einer spezifischen Relation zueinander konstruiert werden und wiederum selbst ein gewisses Profil aufweisen (LANGACKER 2008), führt dazu, dass das jeweilige Element im Ko(n)text als Präposition, Subjunktion usw. kategorisiert werden kann. Es wird v. a. eine distributionelle Perspektive relevantgesetzt (CROFT 2001), in deren Rahmen allerdings kognitiv-grammatischen Überlegungen eine wesentliche Rolle zukommt. Dass das Etablieren von Relationen für (nichtflektierbare) Funktionswörter zentral ist, liegt auf der Hand. Es ist konstitutives Momentum der konstruktionalen Funktionsseite. Dabei gilt: „A relationship is conceptually dependent on its participants; it evokes its participants (if only schematically) as an intrinsic aspect of its own conception“ (LANGACKER 2008, 114). LANGACKER (2008, 114) schließt daraus, dass „the focal participants in a profiled relationship are themselves part of the relational profile“. Bei diesen fokalen Partizipanten, die demnach samt dem jeweiligen Funktionswort die Funktionswort-Konstruktion konstituieren, handelt es sich im Sinne der Kognitiven Grammatik um die Größen Trajektor und Landmarke: The most prominent participant, called the trajector (tr), is the entity construed as being located, evaluated, or described. Impressionistically, it can be characterized as the primary focus within the profiled relationship. Often some other participant is made prominent as a secondary focus. If so, this is called a landmark (lm).

(LANGACKER 2008, 70)

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Sie fungieren als Bestandteile der Funktionswort-Konstruktion, deren abstrakte Semantik folglich unter Rückgriff auf kognitiv-grammatische Überlegungen modelliert wird. An dieser Stelle geht es mit Blick auf Kap. 4 vordergründig um präpositionale sowie subjunktionale Form-Funktions-Kopplungen. Für eine eingehendere Behandlung des konstruktionalen Funktionswortartenbereichs im Mittelniederdeutschen sei auf MERTEN (2013) sowie MERTEN (2018) verwiesen. Gezeigt wird in diesen Beiträgen auch, dass die konstruktionsgrammatische Herangehensweise graduelle Übergänge, synchrone Gradienzfälle, Phänomene der Unschärfe usw. nicht marginalisiert, sondern als wesentliche Charakteristika von Sprache (im Gebrauch und Wandel) begreift. Im kognitiv-grammatischen Verständnis profilieren Präpositionen und Subjunktionen ein aprozessuales Verhältnis zwischen einem Trajektor und einer Landmarke. Für die Differenzierung dieser Makrokonstruktionstypen ausschlaggebend ist das construal der Landmarke: Im Falle subjunktionaler Konstrukte – in der Sprachpraxis realisierte Konstruktionen – weist die Landmarke wie in Bsp. (1) ein prozessuales Profil auf (process), präpositionale Landmarken zeichnen sich durch ein sogenanntes thingProfil aus (Bsp. 2). Dabei kann ein und derselbe konzeptuelle Inhalt (SCHLITTENFAHREN) sowohl prozessual als auch reifiziert konstruiert werden und als Landmarke unterschiedlicher Funktionswort-Konstrukte fungieren: (1)

Bevor [wir Schlitten fahren]process-lm, [kaufen wir eine Tanne]process-tr.

(2)

Vor [dem Schlittenfahren]thing-lm [kaufen wir eine Tanne]process-tr.

Diese Konstruktebene, auf der es zur Fusion (Kombination) verschiedener FormFunktions-Kopplungen innerhalb einer sprachlichen Realisierung wie etwa in Bsp. (1) oder (2) (von lexikalisch konkreten „Wort“-Konstruktionen über die instanziierten Tempuskonstruktionen bis hin zu möglichen Satzkonstruktionen [transitiv, intransitiv, ditransitiv, ...]) kommt, ist der Ort, an dem sprachliche Entwicklungen stattfinden und sich abzeichnen. Es ist also die vom Linguisten / von der Linguistin beobachtbare Kommunikationspraxis, in der aus dem Gebrauch von Sprache heraus Mikroveränderungen – materialisiert in Form von Konstrukten – emergieren. Sie können zu Entwicklungen wie neuen Knotenherausbildungen, -verschiebungen etc. auf den nächst höheren Ebenen in der Konstruktionshierarchie führen. Unterschieden wird bei diesen konstruktionalen Entwicklungsprozessen zwischen Konstruktionalisierungen und Konstruktionswandelerscheinungen. Konstruktionswandel (HILPERT 2013) umfasst „changes that affect features of an existing construction“ (TRAUGOTT / TROUSDALE 2013, 1). Modifiziert werden bereits bestehende Konstruktionen bzgl. einzelner sprachlicher Merkmale. Beispiele stellen Desemantisierungsprozesse oder Entwicklungen mit Blick auf die konstruktionale Formseite (Veränderungen/Festigungen von Stellungen innerhalb der Konstruktionsinstanziierungen usw.), aber ebenso Frequenzveränderungen dar:

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Konstruktionswandel erfasst selektiv ein konventionalisiertes Form-Bedeutungs-Paar einer Sprache und verändert es in seiner Form, seiner Bedeutung, seiner Frequenz, seiner Verteilung in der Sprechergemeinschaft oder in einer beliebigen Kombination dieser Aspekte.

(HILPERT 2011, 69) Der Prozess der Konstruktionalisierung hingegen ist als „creation of a formnewmeaningnew pairing“ (TRAUGOTT / TROUSDALE 2013, 22) zu verstehen, es kommt zur Herausbildung eines neuen Knotens im Konstruktikon. Dabei können als Ergebnis einer graduellen Konstruktionalisierung neue Form-Funktions-Paare entstehen, die das Produkt sequenziellen Konstruktionswandels (TROUSDALE 2013, 32) sind. In den untersuchten Rechtstexten sind beide Entwicklungen belegt (vgl. Kap. 4). 3

SPRACHAUSBAU KOGNITIV-FUNKTIONAL – ZUR ENTWICKLUNG LITERATER FORM-FUNKTIONS-KOPPLUNGEN

3.1

Literater Sprachausbau als ein mediengebundener Sprachwandelprozess

Das Konzept des Sprachausbaus wird erstmals in den späten 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von KLOSS (1929; 1967) zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung gemacht. Er legt mit seinen Arbeiten den Grundstein für die später von KOCH / OESTERREICHER (1994, 589) ausgearbeitete Unterscheidung von extensiver und intensiver Sprachausbaudimension. In dieser Perspektive lässt sich der Ausbau einer Sprache verstehen als (a) eine sprachliche Polyfunktionalisierung (extensiver Ausbau; WARNKE 1999), die mit (b) einer Zunahme an schriftsprachlichen Strukturen (intensiver Ausbau) einhergeht. Es handelt sich um ein Sprachwandelphänomen, das insbesondere in der medialen Schriftlichkeit zu beobachten ist (vgl. WEBER 2010, 52), Entwicklungsrichtung ist die zunehmende Verschriftlichung einer Sprache, die sich auf der strukturellen Ebene als „Differenzierung und Komplektisierung der sprachlichen Ausdrucksmittel“ (KOCH / OESTERREICHER 2007, 364) manifestiert. Zu beobachten sind das Entstehen und die Weiterentwicklung distanzsprachlicher bzw. nach MAAS literater Strukturen. Dabei ist die Verflochtenheit einzelner schriftsprachlicher Form-FunktionsKopplungen „mit konkreten Anwendungssituationen“ (WEBER 2010, 53) hervorzuheben: Ein besonderes Augenmerk bei der Untersuchung solcher Phänomene des intensiven Ausbaus sollte auf ihre (anfängliche) Verknüpfung mit ganz bestimmten sprachlichen Anwendungskontexten gelegt werden, womit der Bereich des extensiven Ausbaus angeschnitten ist. Ausbauinnovationen sind in der Regel nicht von Beginn an ‚allgemeinsprachlich‘, sondern zunächst an individuelle Textsorten gebunden.

(WEBER 2010, 71)

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Beim (historischen) Recht-Schreiben handelt es sich um einen solchen Anwendungsbereich, der Ausbauinnovationen evoziert und mitunter literate Konstruktionen hervorbringt, die als rechtsschriftlich, d. h. mit Blick auf die juristische Schreibtätigkeit geprägt, einzustufen sind (vgl. die nachfolgenden Subkapitel). Auch MAAS, dessen Arbeiten das Konzept des „literaten“ Ausbaus entnommen ist, beschäftigt sich mit dem „Ausbau des Deutschen zu einer (demotisierten) Schriftsprache“ (2010, 67). Er betont das Wechselverhältnis zwischen sprachlichen Ressourcen – hier verstanden als Konstruktionen – und sprachlichen Aufgaben/Anforderungen im Kontext verschiedener (Schrift)Domänen und stellt dabei, die deutsche Schriftsprachgeschichte rekonstruierend, die zu beobachtende Funktionalisierung von Schrift und Ausbreitung von Schriftlichkeit in einer wachsenden Anzahl an Domänen im Spätmittelalter / in der Frühen Neuzeit heraus. Wesentlich ist, dass literate Strukturen auf einen generalisierten Anderen abzielen (MAAS 2008, 332). Impliziert wird „die Sicherstellung der Interpretierbarkeit unter allen möglichen Rezeptionsbedingungen – und damit eben die Maximierung des Formaspektes“ (MAAS 2010, 81). Das Literate entspricht ihm zufolge zu großen Teilen dem formellen Register und zeichnet sich durch seine empraktische Ent-Bindung aus. Denn literate Strukturen „reizen gewissermaßen die sprachlichen Potentiale aus und machen die Äußerungen damit von den kommunikativen Zwängen frei“ (MAAS 2010, 69). In Anlehnung an BÜHLER (1934) lassen sie sich daher auch als „Strukturen des Symbolfeldes“ (MAAS 2010, 71) beschreiben (vgl. TOPHINKE 2012, 31). Diese Loslösung von einer situativ bedingten Interpretationsvariabilität ist zentral. Es gilt also, hochgradig explizit zu konstruieren (FEILKE 2006, 26). Gesetzestexte stellen mit Blick auf diese Überlegungen den Prototyp literater Texte dar: Sie sind auf maximale Kontextentbindung sowohl hinsichtlich situativer Umfeldbedingungen als auch hinsichtlich stillschweigend geteilter Wissens- und Verstehenskontexte angelegt. In dem Maße, in dem Propositionen sprachlich integriert werden, wird auch die Assertion pragmatisch gebunden. Es können Propositionszusammenhänge behauptet werden, bzw. umgekehrt betrachtet, müssen in einem Kontext rechtsverbindlicher Äußerungen, z. B. eines Vertrags, Propositionszusammenhänge geäußert werden können, auf die sich die Vertragspartner wechselseitig festlegen und die für sie pragmatisch bindend sind. Niemand soll sich später zu seinem Vorteil auf kontingente, nicht versprachlichte Verstehensvoraussetzungen berufen können. Es zählt nicht der Common sense, sondern nur, was sprachlich „verbrieft“ und „schwarz auf weiß“ festgehalten worden ist.

(FEILKE 2010, 210–211) 3.2

Textualisierung strukturell, konzeptuell, kulturell – Juridischer Diskurs

Mit dem Konzept der Textualisierung lässt sich an Überlegungen zum literaten Ausbau anknüpfen, dabei allerdings eine umfassendere bzw. verschiedene Dimensionen verknüpfende Perspektive einnehmen. Grundlegend ist dafür die Unterteilung SCHWYTERS (1998) in linguistic, conceptual und cultural textualization. Das Entstehen schrift- bzw. distanzsprachlicher Mittel, also literater Konstruktionen,

Syntaktisches Aufspannen und semantisches Aufladen

241

ist als linguistic textualization zu verstehen. Vor dem Hintergrund eines kulturlinguistischen Interesses ist dieses Textualisierungsphänomen im Kontext eines auf der kulturell-funktionalen Ebene anzusiedelnden Übergangs von oralen zu literalen Gesellschaftsformen – durch das zunehmende Eindringen von Schriftlichkeit in gesellschaftlich relevante Domänen – als sich linguistisch manifestierender Ausdruck weitreichenderer Veränderungen zu deuten. Diese Entwicklung hin zu einer Schriftkultur wird von SCHWYTER (1998) als cultural textualization gefasst. Mit Blick auf die Rückgebundenheit sprachlicher Oberflächen-/Praxisphänomene an die konzeptuell-kognitive Ebene ist das Auftreten literater Konstruktionen bspw. als Indikator für Veränderungen im Bereich des Kognitiven zu deuten, was u. a. die Herausbildung eines literalen Bewusstseins betrifft. Mit dieser Schlussfolgerung liegt eine mögliche Ausdeutung der conceptual textualization vor, die von SCHWYTER (1998) teils abweicht, aber mit Überlegungen RAIBLES (1998, 175) konformgeht. Durch den Schriftgebrauch evozierte strukturelle Entwicklungen stehen also in einem (interdependenten) Verhältnis zu konzeptuellen Veränderungen, die u. a. als Movens für kulturelle Entwicklungen interpretiert werden können. Der Rechtsbereich, wie zuvor angedeutet, stellt dabei „nicht irgendeine koordinierte Domäne im Zuge der funktionalen Entfaltung von Kultursprachen“ dar, sondern ist als ein „Kernbereich je kulturspezifischer Literalisierungen überhaupt“ (WARNKE 1997, 225) zu begreifen. Diese Relevantsetzung ergibt sich aus den (neuen) Anforderungen, die an Rechtstexte herangetragen werden und die damit Verschriftlichungsprozesse nicht nur begünstigen, sondern regelrecht „einfordern“ bzw. obligatorisch werden lassen. Diese Anforderungen als juristische Kommunikationsbedürfnisse sind auf linguistischer Ebene u. a. als (grammatische) Möglichkeiten zum expliziten construal sowie zur schematischen Fassung der Rechtssachverhalte bzw. -sachverhaltsrelationen zu verstehen: Die Rechtsverordnungen müssen zum einen in einer expliziten, möglichst voraussetzungsfreien Form notiert werden, die alle regelungsrelevanten Aspekte des Rechtssachverhaltes sprachlich expliziert [...]. Zum anderen verlangen sie nach einer stärker schematischen Fassung des Rechtssachverhaltes, die es erlaubt, denselben auf wechselnde konkrete Einzelfälle zu beziehen.

(TOPHINKE 2012, 29–30) Zurückzuführen ist der entscheidende „Nexus zwischen juridischer Kommunikation und Literalität“ (WARNKE 1997, 225) auf das Potenzial geschriebener Sprache, „weit eher Exaktheit im Sinne wörtlicher Genauigkeit als orale Kommunikation für den Bedarf an konsistenten Rechtskodifikationen“ (WARNKE 1997, 229) bereitzustellen. Es ist die Schrift, an die die „lingualen Interaktionen der juridischen Diskursdomäne [...] gebunden sind“ (WARNKE 1997, 229). In diesem Rahmen entwickelt sich Recht allmählich zu einer von Schrift durch und durch bestimmten Domäne, zu einer „Texte be- und verarbeitende[n] Institution“ (BUSSE 2000, 664). Schrift bzw. Schriftlichkeit und Rechtsdomäne stehen dabei – dies sollte deutlich geworden sein – in einem „Bedingungsverhältnis“ (WARNKE 1997,

242

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223). Besonders ist die zuvor angedeutete Rekursivität dieses Verhältnisses, denn Schrift ist nicht nur maßgebliche Ressource für die Herausbildung einer Rechtsinstitution, wie sie (in weiten Teilen) unserem modernen Verständnis entspricht, sondern die rechtsschriftliche Praxis wiederum befördert den fokussierten literaten Sprachausbau (vgl. MERTEN 2015). 3.3

Vom Vorlese- zum Lesetext – Konstruktionen des syntaktischen Aufspannens und semantischen Aufladens

Neben diesem ohnehin bestehenden Nexus zwischen Schrift(lichkeit)/Literalität und Recht ist für die mittelniederdeutsche Rechtspraxis die sich im Untersuchungszeitraum verändernde weitere Praktikeneinbettung der Rechtstexte hervorzuheben. Denn das über einen längeren Zeitraum praktizierte Verlesen der Rechtsschriftstücke vor der städtischen Gemeinschaft rückt mehr und mehr in den Hintergrund und wird zugunsten eines stillen Lesens aufgegeben. Die Textausrichtung verschiebt sich folglich weg vom „mündlichen Vermittlungskontext“ (TOPHINKE 2009, 177) hin zu einem situationsfernen Lesen (ERBEN 2000, 1585). Diese Entwicklung nimmt wesentlichen Einfluss auf die Strukturierung bzw. Konzeption der Schriftstücke. Sie werden mit Blick auf eine stärker kontextentbundene Rezeption produziert, also (hochgradig) literat strukturiert. [S]yntaktische Entwicklungen sind vielfach gebunden an Texttypen und Schriftpraxen, abhängig von schrift- und textkulturellen Orientierungen, von der spezifischen Nutzung des Textes und seinen Funktionen im Rahmen der historischen Schriftpraxis bzw. Alltagswelt. [...] [D]ie spezifische Textnutzung kann sich (text-)syntaktisch auswirken. Texte, die für das stille Lesen gedacht sind, entwickeln vielfach andere Strukturen als Texte, die vorgetragen und mit Blick auf die Vortragssituation konzipiert werden.

(TOPHINKE 2012, 28) Anders als der städtische Vorlesekontext kennzeichnet die still-lesende Rezeptionssituation der entfallende Zeitdruck, ermöglicht wird ein wiederholtes In-denText-Gehen bzw. eine beinahe unbegrenzte Reflexion (BERNDT 2013, 196) der textuellen Strukturen sowie des Textgegenstandes. Dabei zeigen die entstehenden und sich durchsetzenden Funktionswort-Konstruktionen, dass sich die mittelniederdeutschen Rechtsdokumente zu spezifischen Lesetexte entwickeln: Sie werden v. a. mit Blick auf einen „konsultativen“ Lesezugriff produziert (dazu MERTEN 2018). Aber auch zahlreiche Konstruktionen des syntaktischen Aufspannens sowie des semantischen Aufladens, deren Dekodierung durch diese Art des rezeptiven Zugriffs erleichtert wird, bilden sich heraus und werden zunehmend zu erwartbaren Strukturen des rechtsschriftlichen Schreibens. Damit sind die beiden Konstruktionstypen angesprochen, die der vorliegende Beitrag nachfolgend eingehender beleuchtet. Das Aufkommen von Form-Funktions-Kopplungen des syntaktischen Aufspannens ist als das Herausbilden von v. a. syntaktisch bestimmten Mustern zur Vorgabe „sprachliche[r] Infrastruktur[en]“ (MAAS 2010, 106) zu fassen. Es ent-

Syntaktisches Aufspannen und semantisches Aufladen

243

stehen aufspannende Konstruktionen, die sich durch Slots für spezifizierende Attribute (Bsp. 4) sowie modifizierende Adverbiale (als Landmarken; Bsp. 5) auszeichnen, also Spracheinheiten, die einem expliziten, präzisen construal zuspielen. (3)

Die Anwältin verteidigte ihn.

(4)

Die hart arbeitende Anwältin verteidigte ihn.

(5)

a. b.

Die Anwältin verteidigte ihn, obwohl ein sehr belastendes Video vor lag. Trotz des Vorliegens eines sehr belastenden Videos verteidigte [...]

Dabei übernehmen Funktionswort-Konstruktionen wie die in Bsp. (5a) instanziierte obwohl-Konstruktion oder die trotz-Konstruktion in (5b) nicht nur die Funktion des Realisierens modifizierender Inhalte als eine Form des syntaktischen Aufspannens, sie explizieren zudem die semantische Relation, die zwischen Trajektor (hier der konzeptuelle Inhalt VERTEIDIGUNG DURCH DIE ANWÄLTIN) und Landmarke (hier der konzeptuelle Inhalt VORLIEGEN EINES SEHR BELASTENDEN VIDEOS) besteht. In den angeführten Beispielen ist es ein konzessives Verhältnis, das konstruiert wird. Darüber hinaus zeigen die Sprachbeispiele (5a) und (5b) abermals, dass das construal der Landmarke (= von der Präposition trotz regierte NP sowie im Skopus von obwohl stehende prozessual-finite Entität) die Differenzierung von subjunktionalen und präpositionalen Konstrukten bestimmt. Damit ist zugleich der angrenzende Bereich des semantischen Aufladens, dessen wesentliches Moment in der Integration desententialisierter Einheiten liegt, angesprochen: „[W]ritten language tends to have an ‚integrated‘ quality which contrasts with the fragmented quality of spoken language“ (CHAFE 1982, 37–38). Im Spätmittelalter/ in der Frühen Neuzeit sind das Entstehen und vermehrte Nutzen von grammatischen Verfahren, die dem semantischen Aufladen dienen, zu beobachten. Dabei handelt es sich um Verdichtungstechniken, die zu einer Steigerung der „Informationshaltigkeit der Äußerungseinheit“ (MAAS 2010, 107) – hier als (einfacher) Satz gefasst – beitragen. Erhöht wird also die propositionale Dichte eines Satzes, indem Produkte von Reifizierungsprozessen (Derivationen, Konversionen usw.) unter Verwendung von bspw. präpositionalen Konstruktionen integriert werden (Bsp. 5b). MAAS (2010, 89) beschreibt diese sich im Untersuchungszeitraum herausbildenden und für das kanzlistische Schreiben (zunehmend) typischen semantisch aufladenden Sprachgebrauchsmuster als Manifestationen einer sich etablierenden „nominale[n] Strategie“: Die nominale Strategie bietet die Möglichkeit zum Ausbau mit sekundären Prädikationen, die maximal in ein Nexusfeld integriert sind. Dazu dienen eine ganze Reihe janusartiger Formen, die einerseits im Nexusfeld als nominale ‚Endknoten‘ fungieren, andererseits selbst aber die syntaktischen Potentiale zum Aufspannen eines eigenen Nexusfeldes haben [...].

(MAAS 2010, 89)

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4

FALLBEISPIELE UND ÜBERGEORDNETE ENTWICKLUNGEN

Die Untersuchungsgrundlage des nachfolgenden Auszugs aus den gewonnenen Ergebnissen meiner Dissertation (MERTEN 2018) bildeten 13 mittelniederdeutsche Stadtrechtskodifikationen aus dem Zeitraum von 1227 bis 1567, insgesamt umfasste das Korpus 244 140 Token. Im Rahmen eines durch das Konkordanzprogramm AntConc unterstützten qualitativ-explorativen Zugriffs sind rechtsschriftliche Form-Funktions-Kopplungen (Funktionswort-Konstruktionen) herausgearbeitet und im Untersuchungszeitraum beobachtbare Konstruktionalisierungen sowie Konstruktionswandelerscheinungen nachgezeichnet worden. Dabei konnten – auch unter Berücksichtigung der in Kap. 2.2 angesprochenen Vererbungshierarchien – Entwicklungen auf Ebene der teilspezifizierten Meso-/Mikrokonstruktionen nicht nur Einfluss nehmen auf, sondern letztlich – sofern über mehrere untergeordnete Konstruktionen hinweg beobachtbar – auch als Ausdruck gewertet werden für Veränderungen auf den hierarchiehöheren Konstruktionsebenen. 4.1

Syntaktisches Aufspannen

(6)

Of ein man sin hus uth setten wil . dot he dat vor den borgereN . it is gelike stade . also he dat dede vor deme vogede ‘Wenn ein Mann sein Haus aussetzen (verpfänden) will: Tut er das vor den Bürgern, es ist ebenso fest, als wenn er das täte vor dem Vogt’ (Braunschweig 1227)

(7)

So wanne enen manne ein pant gheset wert. it si erue that eme ane sinen danch wert gheset. ofte ein kisten pant. that scal he up beden to theme nagesten thinghe. to theme anderen thinghe. [...] ‘So wenn einem Mann ein Pfand gesetzt wird: Es sei Erbe, das ihm ohne seinen Willen wird gesetzt oder ein Kistenpfand. Das soll er aufbieten zu dem nächsten Dinge, zu dem anderen Dinge, [...] ’ (Stade 1279)

(8)

Wanne en vser borghere sterft de eyne echte husvrowen let · wel de vrowe then in clostere · spettal eder conuent · de scal laten [...] ‘Wenn einer unserer Bürger stirbt, der eine Ehefrau hinterlässt: Will die Frau in ein Kloster, Spital oder einen Konvent ziehen: Die soll lassen [...]’ (Goslar 1350)

Am Beispiel der konditionalen wanne/of-Konstruktion (‘wenn’), deren Wandel von der Aggregation über die Korrelation hin zur Integration verläuft, kann die Herausbildung und Festigung des komplexen Satzes – eine (Makro)Konstruktion des syntaktischen Aufspannens par excellence – im Mittelniederdeutschen skizziert werden. Besonderes Augenmerk ist allerdings zunächst auf das Stadium I (aggregative Aneinanderreihung von formal markiertem, aber nicht-integrierten

Syntaktisches Aufspannen und semantisches Aufladen

245

„Nebensatz“ [Subjunktion, Verbspätstellung] und Folgestruktur) zu richten. Aus einer kognitiv-linguistischen Perspektive ist dies als Instanziierung einer sogenannten space building-Konstruktion zu fassen (Bsp. 6 bis 8): Die Funktionalität der – aus gegenwartssprachlicher Sicht ggf. ungewöhnlichen – syntaktischen Gestalt ist u. a. vor dem Hintergrund der Rezeptionssituation der älteren Rechtstexte zu klären: Wie herausgestellt (Kap. 3.3), handelt es sich bei ihnen (noch) um Vorlesetexte. Durch die formale Desintegration der einem Nebensatz ähnelnden vermeintlichen Protasis wird der Grad an Hierarchietiefe, die die auditive Rezeption erschweren könnte (vgl. SZCZEPANIAK 2015, 108), relativ niedrig gehalten. Perspektiven, die derartige (frequente) Strukturen als Ausdruck eines „Mangel[s] an logischer Explizitheit“ (SCHULZE 1975, 198) bzw. Resultat der „Ungenauigkeit des sprachlichen Ausdrucks“ (ADMONI 1990, 123) fassen, setzen vor der Folie eines gegenwartssprachlichen Subordinationsverständnisses die nicht vorgenommene (syntaktische) Einbettung relevant, gehen allerdings nicht der Funktionalität solcher sprachlichen Einheiten nach (vgl. TOPHINKE 2009, 165–166). Denn diese lässt sich in den angeführten Fällen als eine inhaltsbezogene Art des space building beschreiben: Die hervorgehobenen Strukturen etablieren als space builder einen mentalen Raum, der von den darauffolgenden Strukturen, die z. T. selbst noch einmal komplex konstruiert (bspw. syntaktisch aufspannend) auftreten können, weiterführend modifiziert / angereichert wird. In mentalen Räumen wird „online“ – also in der Situation des Sprachgebrauchs – Kotext- und Kontextwissen mit Blick auf den Produktions-, aber ebenso Rezeptionsprozess konstruiert und aktualisiert: [M]ental spaces operate in working memory but are built up partly by activating structures available from long-term memory. Mental spaces are interconnected in working memory, can be modified dynamically as thought and discourse unfold, and can be used generally to model dynamic mappings in thought and language.

(FAUCONNIER / TURNER 2002, 102) Auf dem Weg zum syntaktisch aufspannenden Sprachgebrauchsmuster, wie es unserer heutigen Vorstellung von (prototypischen) subjunktionalen Konstruktionen entspricht, folgt auf dieses aggregative construal eine bereits relativ früh anzusetzende – hier u. a. Beispiel aus dem Jahr 1350 – Phase der Korrelation. Charakteristisch ist die Wiederaufnahme des wanne/of-Nebensatzes durch Formen wie so, aber etwa auch denne, alsdan usw. Der nicht integrierte Nebensatz steht folglich im Vorvorfeld und wird von einem Adverb im Vorfeld wiederaufgenommen: (9)

Wanne me(n) dat ok lost · so scal me(n) de kost ghelden · de it heft vor dan ‘Wenn man das aber einlöst, so muss man die Kost bezahlen, die es verbraucht hat’ (Goslar 1350)

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(10)

Of emme sin tins wert vntsetten · so scal he nemen den scultechten / vn(de) twene bederue man ‘Wenn einem sein Zins geschuldet wird, so soll er den Schultheißen hinzuziehen und zwei unbescholtene Männer’ (Goslar 1350)

(11)

Wannehr de Unmu+endige achtein Jahr old geworden / so wert he vo+er Mu+endig geachtet ‘Wenn der Unmündige achtzehn Jahre alt geworden (ist), so wird er für mündig geachtet’ (Dithmarschen 1567)

Das darauffolgende Stadium, das nur in den jüngsten Rechtstexten belegt ist, zeichnet sich durch die Integration der subordinierten Größe aus – es handelt sich also bei dieser formalen Weiterentwicklung um einen Konstruktionswandel. Der Nebensatz (wanne/of + Landmarke) besetzt das Vorfeld der Matrixstruktur, steht also vor dem finiten Modalverb der Apodosis, wie dies u. a. für das Rietberger Stadtrecht (1524) sowie vermehrt für das Dithmarscher Landrecht (1567) belegt ist: (12)

Erstlich offte unnse gnedigenn hernn myt eynem unser borger tho donde hedden, mostenn ere gnadenn denn solvigenn vor uns … ‘Erstens wenn unsere gnädigen Herren mit einem unserer Bürger zu tun hätten, müssten ihre Gnaden denselbigen vor uns …’ (Rietberg 1524)

(13)

Wannehr einer syne Sake dorch Tu+egen wahr maken und bewysen wil / schal he de Tu+egen im Rechten nahmku+endig maken ‘Wenn einer seine Sache durch Zeugen wahrmachen und beweisen will, soll er die Zeugen rechtlich namenkundig machen’ (Dithmarschen 1567)

(14)

Und effte he nene Kinder hedde / mo+egen ehn syne Erven an sodahner Gave nicht verhindern ‘Und wenn er keine Kinder hat, sollen ihn seine Erben an solcherlei Gabe nicht verhindern’ (Dithmarschen 1567)

Dieser skizzierte Wandel der wanne/of-Konstruktion von der Aggregation über die Korrelation hin zur Integration als literates Sprachausbauphänomen steht exemplarisch für die Herausbildung und Festigung des komplexen Satzes, die sich auch am Beispiel weiterer subjunktionaler Konstruktionalisierungen/Konstruktionswandelerscheinungen aufzeigen lässt (MERTEN 2018). Dabei liegt insofern eine schriftinduzierte bzw. „schriftspezifische Entwicklung“ (TOPHINKE 2012, 37) vor, als die entstehenden Konstruktionen hinsichtlich des Schreib-/Lese-Kontextes

Syntaktisches Aufspannen und semantisches Aufladen

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motiviert sind. Denn sowohl die Produktion als auch Rezeption (weit) aufgespannter Strukturen wird durch die kommunikative Entlastung zu einem gewissen Grad erleichtert: Texte, die zur Leserezeption bestimmt sind, [können] durch erhöhte Satzkomplexität eine höhere Informationsdichte bieten. Es ist also anzunehmen, dass sich die veränderten Rezeptionsbedingungen in der syntaktischen Organisation der Texte niederschlugen, indem sie die Verwendung komplexer Sätze förderten.

(SZCZEPANIAK 2015, 108) 4.2

Semantisches Aufladen

Vor allem ab dem 14. Jahrhundert stechen in den untersuchten Stadtrechtskodifikationen das Aufkommen und die zunehmende Realisierung präpositionaler Konstruktionen unter Hinzunahme deverbaler Nomen, die v. a. in den jüngeren Rechtstexten von weiteren (komplexen) Genitivattributen spezifiziert werden, ins Auge. Deren Funktion ist das semantisch aufgeladene Modifizieren, wie es bereits als ein entscheidendes Charakteristikum der Textverdichtung besprochen wurde. Ins Blickfeld geraten auf diese Weise – in ihrer Ausprägung für das mittelniederdeutsche Recht-Schreiben – solche Form-Funktions-Paare, die zu dem beitragen, was JEAND’HEUR (1998, 1289) als den hohen „Verdichtungsgrad weitgehend abstrakter Informationen im Satzinnern der Normtexte“ bezeichnet und mitunter als „inhaltliche […] Überfrachtung“ legislativer Fachtexte einstuft. Die Zunahme an propositionaler Dichte erfolgt dabei in einem ersten Schritt durch – auch unabhängig von Funktionswort-Konstruktionen – aufkommende Konstruktionen der „Abstraktbildung“ (SCHMID 2015, 232), also: durch Derivations-, Konversionsverfahren usw. Einzelne zu konstruierende Inhalte, für die zuvor zu großen Teilen nur prozessuale construal-Techniken zur Verfügung standen, können so reifiziert versprachlicht und etwa als nominaler Bestandteil modifizierender Präpositionalkonstrukte instanziiert werden: (15)

Is auer de medinghe ghe schen er der sattinghe · Dat mot he deme ir lekghen · deme he dat sattighe ghe dan hef ‘Ist aber die Vermietung erfolgt vor der Verpfändung: Das muss er dem ersetzen, dem er die Verpfändung gegeben hat’ (Goslar 1350)

(16)

Sunder were dat al so dat yenich den menschen de den bruke ghedan hedde na siner betteringe vmme den selue(n) bruke inder stat efte dar en buten beclaghede [...] ‘Außer wäre das also, dass irgendeiner einen Menschen, der ein Vergehen begangen hat, nach seiner Sühneleistung wegen desselben Vergehens in der Stadt oder außerhalb anklagt [...]’ (Rüthen 1350)

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Marie-Luis Merten

In den Beispielen (15) und (16) sind es die Derivate betteringe (‘Sühneleistung’) und sattinghe (‘Verpfändung’) mit dem Derivationsmorphem {-ing(h)e}, die ein reifizierendes construal aufweisen. In Kombination mit dem jeweiligen lexikalischen Verbalstamm entstehen in dieser Form Nomen actionis, die auf einen Prozess bzw. eine Handlung – teilweise auf verschiedene Stadien dieser – Bezug nehmen, sich jedoch durch ihr thing-Profil auszeichnen. Denn die deverbalen Formen konstruieren den konzeptuellen Inhalt als eine abstrakte, sich auf Grundlage einzelner „Bestandteile“ des Prozesses zusammensetzende Entität, die das „product of conceptual reification“ (LANGACKER 2003, 253) darstellt. Ermöglicht wird in den Beispielen etwa das Bezugnehmen auf einen temporalen Referenzpunkt, der sich als die (vollendete) Ausübung einer rechtsrelevanten Handlung manifestiert. Es sind aber auch weitere semantische Relationstypen, die kodiert werden. So ist vielfach ein modales Konstruieren, indem auf die präpositionale ane-Konstruktion – in Bsp. (17) realisiert mit dem deverbalen Nomen orlof und dem spezifizierenden Subjektsgenitiv des rades – oder die spezifizierende/modifizierende to-Konstruktion wie in Bsp. (18) zurückgegriffen wird, zu beobachten: (17)

Men ne schal nemanne in tauernen vp halden · sunder binne(n) den verwenden · ane des rades orlof vn(de) vor deme tappen ‘Man darf niemanden in Schenken ergreifen, außer innerhalb der vier Wände, ohne des Rates Erlaubnis, und vor dem Zapfhahn’ (Goslar 1350)

(18)

Und dat Geld tho Betahlinge der Kinder Schu+elde / edder [...] ‘Und das Geld zur Bezahlung der Kinder Schulden oder [...]’ (Dithmarschen 1567)

(19)

Worde he yt averst ahne Befehl desjennigen / de yt tho truwen Ha+enden hinderlecht hefft / enem andern thostellen [...] ‘Würde er es aber ohne Befehl desjenigen, der es zu treuen Händen hinterlegt hat, einem anderen zustellen [...]’ (Dithmarschen 1567)

(20)

So averst dat hinderlechte Guht dorch einen plotzlykn Thofall alse Brand / Watersnoht / Rovery / Deeffstall / und dergelyken ahne des truwen Innehebbers arglistigem Vorsahte / effte grave apenbahre Verwahrlosinge tho nichte worde / und verquehme [...] ‘So aber das hinterlegte Gut durch einen plötzlichen Zufall wie Brand, Wassernot, Räuberei, Diebstahl und dergleichen ohne des treuen Inhabers arglistigen Vorsatz oder gravierende offensichtliche Verwahrlosung zunichte wird und verkomme [...]’ (Dithmarschen 1567)

Syntaktisches Aufspannen und semantisches Aufladen

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Durch die realisierten Genitivattribute steigt – verglichen mit den Korpusauszügen (15) und (16) – der Komplexitätsgrad der modifizierenden Bestandteile. Er ist allerdings als deutlich niedriger einzustufen, als dies v. a. für einzelne Rechtsbestimmungen jüngeren Alters der Fall ist. So finden sich insbesondere im Dithmarscher Landrecht 1 567 hochkomplexe Konstrukte, in deren Fall bspw. die präpositionale ane-Konstruktion mit einem slotfüllenden deverbalen Nomen (hier: Befehl) und spezifizierenden Subjektsgenitiv, dessen attributive Erweiterung wiederum eine tertiäre Prädikation eröffnet, auftritt (Bsp. 19). Auch können als den nominalen Bestandteil spezifizierende Größe wiederum deverbale Nomen (hier: Innehebbers) auftreten, die selbst adjektivisch spezifiziert (hier: truwen) werden (Bsp. 20). Dass insbesondere die sich im Wandel befindende Praktik des Schreibens von Rechtstexten, die sich von Vorlese- hin zu Lesetexten entwickeln (Kap. 3.3), die Herausbildung einer solchen construal-Technik befördert, liegt auf der Hand: Ziel der Recht-Schreiber ist ein möglichst explizites, eine Vielzahl von potentiell eintretenden Rechtskonflikten berücksichtigendes und abdeckendes Kodieren von Normen. Zum grundsätzlich im Vordergrund stehenden syntaktisch aufspannenden Konstruieren von Konditionalverhältnissen, die dem Rechtssachverhaltsrelationsmuster [[STRAFTATBESTAND] [FOLGE DER STRAFTAT]] folgen (vgl. WALLMEIER 2013, 17), treten vorzunehmende temporale, modale, kausale, … Modifikationen, die sowohl den konstruierten Straftatbestand als auch die sprachlich fixierte Folge der Straftat „anreichern“ können. Insgesamt zeigt sich in den Rechtstexten die Konstruktionalisierung eines komplexen, stark schematischen Form-Funktions-Paares zum semantisch aufgeladenen Modifizieren, wie es in der nachfolgenden Abb. 1 samt exemplarischen Auszügen der beobachtbaren Slotrealisierungen dargestellt ist. Diese rechtsschriftliche construal-Technik ist als grundlegende Größe des kommunalen Konstruktikons der frühneuzeitlichen Recht-Schreiber zu interpretieren. 5

ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

Die vorangehenden Ausführungen ermöglichen einen begrenzten, aber aufschlussreichen Einblick in die sich verändernde Praxis des historischen RechtSchreibens. Am Beispiel von sich herausbildenden und weiterentwickelnden Funktionswort-Konstruktionen im Kontext eines übergeordneten, an das schriftliche Medium gekoppelten literaten Sprachausbaus zeigt sich, dass Veränderungen hinsichtlich der Rezeption der Texte (vom Vorlese- zum Lesetext) ebenso Entwicklungen auf konstruktionaler Ebene korrespondieren. Dazu sind in empirischer Hinsicht die Sprachausbaubereiche des syntaktischen Aufspannens und semantischen Aufladens angerissen worden. Erfreulicherweise wird dem literaten Sprachausbau des Mittelniederdeutschen seit Anfang 2017 eingehender, d. h. auf Basis eines deutlich umfangreicheren Korpus und unter Verwendung computerlinguistischer/informatischer Verfahren, im Rahmen des DFG-Projekts „InterGramm“ an der Universität Paderborn nachgegangen.

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to na sunder ane dorch mit uht up ...

betheringe bekantnisse orlof wedersprake ...

des kleghers des ghenen, des dat is des richters der scepenen …

nominales Derivat Infinitivkonvertat Stammkonvertat ... …

[ARTW (ADJ) [VERBSTAMM + er]N]NP [des ghenen, [des/-n X]AttrS]NP [ARTW RECHTSINSTANZ]NP ...

FORM

tr PRÄP [NOMEN ACTIONIS (GENATTR)]lm semantisch aufgeladenes Modifizieren // Relationieren von tr und deverbaler lm

komplexe, stark schematische Konstruktion

FUNKTION

Abb. 1: Präpositionale Konstruktion zum semantischen Aufladen

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Syntaktisches Aufspannen und semantisches Aufladen

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THE QUESTION PARTICLE ENN IN THURINGIAN AND ITS IMPLICATIONS FOR THE ANALYSIS OF WH-DROP1 Andreas Pankau 1

INTRODUCTION

A number of German dialects feature the particle ’n in questions, for example South Hessian and Bavarian. (1)

Wos hosd * (’n) gsogd? what have.you PRT said ‘What did you say?’ (WEISS 2002, 324; BAYER 2012, 23)

(2)

Wɔn kimd-ņ dɔn fadǝ hɔ:m? when comes-PRT your father home ‘When does your father come home?’ (MOTTAUSCH 2009, 323)

This particle ’n has three properties. First, it is obligatory. Both WEISS (2002, 324) and BAYER (2012, 23) call ’n in Bavarian obligatory and note that omitting it in (1) results in ungrammaticality.2 MOTTAUSCH (2009, 323) calls ’n in South Hessian “basically obligatory” as well. Second, ’n is restricted to direct wh-questions. Neither in South Hessian nor in Bavarian does ’n occur in direct yes/no-questions3 or indirect questions (BAYER 2013b, 41; MOTTAUSCH 2009, 331). Third, as extensively discussed by BAYER (2010; 2012; 2013a; 2013b), ’n licenses wh-drop, that is, the ellipsis of a moved wh-phrase.4 BAYER (2010) argues that all three properties of ’n (obligatoriness, restriction on wh-questions, licensing of wh-drop) jointly follow if ’n is analyzed as an 1 2 3 4

I wish to thank Josef Bayer, Hans-Martin Gärtner, Helmut Weiß, the audience of SaRDiS 2017, and an anonymous reviewer for their questions and comments that siginificantly improved both presentation and content of this paper. All remaining errors are mine. The obligatoriness of ’n in Bavarian was also noted by SCHIEPEK (1899, 34, 47). More specifically, ’n does not occur obligatorily in yes/no-questions (WEISS 2002, 324; BAYER 2012, 24). Crucially, if ’n occurs in yes/no-questions, its presence comes along with an additional pragmatic effect that is absent from wh-questions with ’n (BAYER 2012, 25). The set of wh-phrases that can be dropped is severely restricted in German: only was ‘what’ and wo ‘where’ allow wh-drop. I ignore this aspect in this paper as it is orthogonal to the general claim I wish to make, namely that wh-drop is not an agreement phenomenon.

256

Andreas Pankau

agreement suffix for moved wh-phrases. The obligatoriness of ’n follows because agreement suffixes are generally obligatory, for example person and number suffixes on verbs. The restriction on wh-questions and the exclusion of yes/noquestions follows because only wh-questions provide a local agreement controller for ’n, namely the moved wh-phrase. Lastly, the presence of ’n guarantees recoverability of the elided wh-phrase because ’n can only be present if a moved whphrase was present at some stage of the structure as well. (3)

Wos/wos deats ’n es do? what do.2.PL PRT you.PL there ‘What are you doing there?’ (BAYER 2013b, 41)

In this paper, I challenge BAYER’S (2010) syntactic analysis of wh-drop in terms of agreement and recoverability and argue instead that the licensing condition for wh-drop is pragmatic. The argument I develop for this analysis comes from the behavior of the particle enn in Thuringian. The particle enn appears in whquestions but also in yes/no-questions. So enn cannot be an agreement suffix for moved wh-phrases. Yet it is obligatory in wh-drop. I argue that wh-drop is only possible in clauses that are unambiguously marked as questions. This derives that enn is required in wh-drop because questions are marked by enn in Thuringian. The obligatoriness of ’n in Bavarian in wh-drop is a special case of this general requirement as only wh-questions have to be marked as questions in Bavarian. The paper is structured as follows. In section 2, I provide some background on Thuringian and the Thuringian data that form the basis of this paper. In section 3, I turn to enn in Thuringian and show that it is a genuine question particle. In section 4, I show which problems the status of enn as a question particle creates for BAYER’S syntactic analysis of wh-drop. Finally, in section 5 I provide a pragmatosyntactic analysis for the obligatory presence of enn and ’n in wh-drop. 2

THURINGIAN

Thuringian is an East Central German dialect spoken in an area demarcated very roughly by the Harz Mountains in the north, the river Saale in the east, the Thuringian Forest in the south, and the river Werra in the west. Its linguistic border to the north coincides with the border separating Central from Low German (the Uerdingen line), and its linguistic border to the west coincides with the border separating West from East Central German (the Germersheim line). Its southern border to East Franconian is demarcated by a number of morphological criteria (ROSENKRANZ 1964): the shape of the diminutive suffix (-chen vs. -lein), the shape of the infinitival suffix (-en vs. -e), and the retention of stem forming n (Mann vs. Mo ‘man’). Its eastern border to Upper Saxon is demarcated by the shape of infinitival suffix (-en vs. -e).

The question particle enn in Thuringian

257

Despite its name, the area of the federal state Thuringia does not coincide with the area where Thuringian is spoken. On the one hand, Thuringian is spoken also in the southern parts of the federal states Saxony Anhalt and Lower Saxony. On the other hand, there are parts of Thuringia where dialects other than Thuringian are spoken. In the south west, East Franconian is spoken and in the north west, Low German is spoken. Map 1 gives an overview of the Thuringian dialect area.

Map 1: Thuringian dialect area (source: Arbeitstelle Thüringische Dialektforschung; reprinted with permission)

The data used in this article come from two types of written sources. The first source is the dialect grammar and lexicon from Sondershausen (DÖRING 1903; 1904; 1912), and the dialect description and lexicon from Gotha (CRAMER 1998). The second source is dialectal literature. I consulted the works of the three authors: KURT ZEISING (ZEISING 1995, 2000a, 2000b, 2000c u. 2002), BERNHARD STUCKI (STUCKI 1996) and WALTHER TRÖGE (TRÖGE 1930, 1931 u. 1932).

258 3

Andreas Pankau

THE STATUS OF ENN IN THURINGIAN AS A QUESTION PARTICLE

As already observed by WEISE (1900), Thuringian possesses a particle reminiscent to ’n in South Hessian and Bavarian, namely enn.5 Similar to ’n, enn in Thuringian appears in wh-questions, licenses wh-drop, and is restricted to direct questions (WEISE 1900, 25). (4)

a.

Wu wuhn’n S’ änn? where live they ENN ‘Where do you live?’

b.

Issän jetz schonn widder? is.ENN now already again ‘What’s going on now again?’

(TRÖGE 1932, 95)

(CRAMER 1998, 38) There are however two important differences between ’n and enn. First, enn is optional.6 One finds examples that are minimal pairs, being pragmatically basically identical to each other and differing only in the presence of enn, illustrated in (5). (5)

a.

Was mach’n S’ änn da? what make they ENN there ‘What are you doing there?’

b.

Was machste da? what make.2.PL there ‘What are you doing there?’

(TRÖGE 1931, 53)

(TRÖGE 1932, 12) Second, enn is not restricted to wh-questions, but also appears in yes/no-questions. 5

6

The relevant particle surfaces in different forms ([ǝn], [ǝ], [dṇ], [ṇ], [a], [an], [ɪn]), depending on the specific subdialect and/or the phonological environment. Moreover, the unrounded mid-high vowel is orthographically represented as either {e} or {ä}. I ignore this variation and refer to the relevant particle as enn throughout the paper and in the glosses. There is a tension between the dialect descriptions and the dialect texts on this issue. In the dialect descriptions, enn is called obligatory (WEISE 1900, 25). Moreover, enn also appears in basically all example questions in the dialect description of Sonderhausen (DÖRING 1903; 1904; 1912) and in the dialect description of Gotha (CRAMER 1998). However, in all the dialect texts I consulted enn appears only optionally in questions. This is even true for the dialect of Gotha: in the dialect texts from the same author (CRAMER / KRETZSCHMAR 2005) enn hardly appears in questions. This could either indicate that the dialect texts are not true representatives of the dialect (cf. SPERSCHNEIDER 1959, 11–12) or that the dialect descriptions highlight this unique aspect. Since the dialect texts often differs syntactically to a huge extent from the standard language, I consider them a reliable source and therefore take the particle enn to be optional.

259

The question particle enn in Thuringian

(6)

Hast ‘änn oo ä schienes Lunzch’n gemacht? nap made have.2.SG ENN also a nice ‘Did you also take a nap?’ (TRÖGE 1931, 91)

In the next subsections, I argue that enn is not a wh-agreement suffix but a question particle. More specifically, I argue for the following characterization of enn. (7)

characterization of enn a. enn is a question particle: enn[Q]. b. If enn appears in a clause S, then S is a true question.

The first clause (7a) defines the relevant property of enn, namely that it is a question particle. The second clause (7b) captures that enn is optional as (7b) is compatible with clauses where no enn appears but that are nevertheless true questions. In the remainder if this section, I will first show that enn is indeed restricted to interrogative clauses. I then show that despite its optionality, enn marks questionhood. The argument for this claim comes from special questions, that is, interrogative clauses that only look like questions but pragmatically are not questions. After that, I show that enn does not correspond to the modal particle denn found in Standard German because enn and denn have different pragmatic usage conditions. 3.1

enn is Restricted to Interrogative Clauses

In order to show that enn is a question particle, one needs to show first that enn is restricted to interrogative clauses. A number of alternatives for the occurrence of enn in (4)–(6) suggest themselves, all of which are inadequate. First, enn could be taken as an indicator of A'-movement in general, that is, movement of an operator to SpecCP. This analysis captures the data in (4)–(6) because in each case an A'-moved operator appears in SpecCP: a wh-phrase in (4) and (5), and a null operator in (6) (cf. BARBIERS 2007 for arguments that yes/noquestions contain null operators). This analysis predicts that enn occurs in all A'movement contexts. However, this is incorrect: enn never occurs in relative clauses, even though they contain an A'-moved operator, namely a relative pronoun. Since relative clauses are embedded, one might suggest as a second alternative that enn only appears in main clauses with A'-movement, that is, in all clauses containing an A'-moved operator and verb second order. This captures the data in (4)–(6) and excludes the data in (8) because the latter do not feature verb second order. This second alternative then predicts that all main clauses containing an A'moved operator license enn. But this is incorrect as well: sentences featuring topic drop never feature enn.

260 (8)

Andreas Pankau

a.

b.

c.

d.

On e war värenträssiert fär alles, was de neie Zeit brachte. and he was interested for everything what the new time brought ‘And he had an interest in everything the modern times brought.’ (TRÖGE 1930, 8) Wie e sech ‘mal mät Wilhelm Grimm’n, där alle ält’n Räste how he REFL once with Wilhelm Grimm.OBJ who all older rests von dr deitsch’n Sprache gesammelt hat, ongerhul … of the German language collected has talked.with ‘When he once talked with Wilhelm Grimm, who collected all the oldest documents of the German language …’ (TRÖGE 1930, 4) Oddo’n sei Liebstes war, en Bichchern ze läs’n, was mr ju bei to read what one PRT at Otto.OBJ his favorite was in books Dorfjong’n nöch su ofte föngkt. village.boys not so often finds ‘Otto’s favorite hobby was reading books, which is rather atypical for village people.’ (TRÖGE 1930, 9) Was hier geschräm’n on gespaßt wärd, das kann jedes hiere. what here written and jested becomes that can everyone hear ‘What is written and jested here, that can everyone hear.’ (TRÖGE 1930, 6)

The sentence in (9) is a verb second clause and features topic drop, that is, a construction where a null pronoun is A'-moved and elided (cf. TRUTKOWSKI 2016 for a comprehensive treatment). Yet enn never surfaces in such clauses. (9)

__ ’s eich zu kraß mät dän Gewärche on Geflitze dahiert’n en Bärlin! is you too extreme with the turmoil here in Berlin ‘That is too extreme for here for you in Berlin, with all the turmoil!’ (TRÖGE 1930, 58)

Finally, the presence of enn in (4)–(6) could be tied to the mood of the clauses such that enn is licensed in non-declarative clauses. But this option is inadequate as well because non-declarative clauses other than interrogative clauses never contain enn. (10)

a.

Komm’n Se nor fix ‘rein! come they only quickly in ‘Please come in!’

b.

Du bäst etze värheirat’t? you are now married ‘You are married now?’

(TRÖGE 1930, 8)

(TRÖGE 1930, 103)

The question particle enn in Thuringian

261

(10a) illustrates an imperative clause, which is non-declarative; but enn never occurs in imperative clauses in Thuringian. Similarly, enn is never licensed in socalled rising declaratives, as shown in (10b), which are only form-wise declarative clauses but have interrogative force. 3.2

enn is Restricted to True Questions

As mentioned at the beginning of this section, enn is optional. This adds a complication to the argument that enn is a question particle. Consider why. That enn is optional means that there are interrogative clauses without enn. Instead of appealing to optionality, it could equally be the case that enn is not a question particle but a particle marking a meaning component that happens to occur in only a subset of questions. I nevertheless wish to claim that enn is a question particle. The reason for this is that all the interrogative clauses containing enn differ in one crucial aspect from the interrogative clauses not containing enn. The questions containing enn are always true questions, whereas the ones not containing enn can also be special questions. Or to put it differently, the following generalization holds. (11)

enn never appears in special questions.

By “true questions”, I refer to all questions that are pragmatically questions. I follow the imperative-epistemic approach to questions (ÅQVIST 1975; HINTIKKA 1974; WACHOWICZ 1978) and take a question in the pragmatic sense to be any question where (i) the speaker requests the hearer to provide the speaker with some knowledge that (ii) the speaker doesn’t have. “Special questions” – sometimes also called non-standard or pseudo questions – are all those questions that lack one of the two components or both (BAYER / OBENAUER 2011; MUNARO / OBENAUER 1999; OBENAUER 2004). A well-known case of special questions are questions embedded under extensional verbs like know, tell, or find out (GROENENDIJK / STOCKHOF 1982). With these verbs, the meaning of the embedded question is equivalent to the true answer to the question. For example, the meaning of I know who John likes is ‘I know the true answer to the question: Who does John like?’. So what is lacking in questions embedded under extensional verbs are both components, the one of request and the one of ignorance. As expected, enn never occurs in questions embedded under extensional verbs. In (12a), the verb wöss’n ‘to know’ embeds a wh-question, in (12b) the complex predicate en Sorge sein ‘to be worried’ embeds a yes/no-question. As indicated in the translations, the meaning of the embedded questions is equivalent to the true answers to the questions. But not all embedded questions are special questions. Questions embedded under so-called intentional verbs like wonder or ask are true questions (GROENENDIJK / SOTHO 1982; MOONSET 1986). For example, the meaning of I asked who John likes is ‘I asked for an answer to the question:

262

Andreas Pankau

Who does John like?’. So in questions embedded under intentional verbs the two components of ignorance and request are present. And as expected, enn occurs in questions embedded under intentional verbs. (12)

a.

b.

(13)

a.

b.

Die wöss’n, wu mr en Jäne ä gutes Gläsch’n Weine lecke kann. they know where one in Jena a good glas wine lick can ‘They know where one can drink a good glas of wine in Jena.’ (TRÖGE 1930, 39) Där äs öm die Zeit ömmer en Sorge, äb nöch änne Modder he is around the time always in worry if not a mother keene Zockerdeite brängt. no candy.cone brings ‘He is always worried during this time of the year whether some mother might not afford a candy cone’ (TRÖGE 1930, 89) E hätte ämal ä ält’n Bauern gefra’t, wie väl ’s ’änn Drach’n he had once a old farmer asked how many it ENN dragons bei’n en Dorfe geb. at.him in village gives ‘He once asked a farmer how many dragons there are in the village.’ (TRÖGE 1932, 35) Jeder michte wösse, äb ’n das mät n Steiern su weiter everyone wants know if ENN that with the taxes so further geih’ sull. go should ‘Everyone wants to know if it can go on like this with the taxes.’ (TRÖGE 1932, 35)

In (13a), the verb fra’n ‘to ask’ embeds a wh-question, in (13b) the complex predicate wösse micht’n ‘want to know’ embeds a yes/no-question. As both predicates count as intentional, the embedded question is a true question and the particle enn is licensed. Similar to enn in direct questions, enn is optional in questions embedded under intentional verbs. (14)

Gottschalks Theedor fra’te seine Lina, äb se ’n als Mann ha’ wulle. Gottschalk Theodor asked his Lina if she him as man have want ‘Theodor Gottschalk asked his Lina, if she wants to marry him.’ (TRÖGE 1930, 49)

Apart from questions embedded under extensional verbs, there are six more types of special questions in which enn never occurs. The first type is “exclamative clauses”, illustrated in (15).

The question particle enn in Thuringian

(15)

a. b.

263

Was hat Peter lange Arme! what has Peter long arms ‘What long arms Peter has!’ Ist Schulz blöd! is Schulz stupid ‘Is Schulz stupid!’

Exclamative clauses look on the surface like interrogative clauses, but are not requests for information. Instead, they express that the speaker considers the content of the proposition as unexpected or deviating from a general norm (FRIES 1988). In (15a), the unexpectedness/deviation is related to the length of Peter’s arms, in (15b) it is the fact that Schulz is stupid. Interestingly, enn never appears in exclamatives in Thuringian. Two examples of exclamatives, which lack enn, are given in (16). (16)

a.

b.

Wie hatt’ die sech hinte mal wädder ahngedockt! how had she REFL this.evening once again dolled.up ‘How much she dolled her up this evening again!’ (TRÖGE 1930, 61) Dunnerlittch’n, hat där awer änne Schwarte! gosh has he but a rind ‘Gosh, is he fat!’ (TRÖGE 1930, 107)

In both examples, the speaker is not asking for information, but considers the content of the proposition unexpected/deviant: in (16a), it’s the degree of dressing up, in (16b), it’s the fatness of someone. The second type are “rhetorical questions with negative force”, illustrated in (17). (17)

a. b.

Wer zahlt schon gerne Steuern. who pays already gladly taxes ‘Who likes to pay taxes.’ [= No one likes to pay taxes.] Ist Karneval lustig. is carnival funny ‘Is Carnival funny.’ [= Carnival is not funny]

Rhetorical questions with negative force are only questions at the surface. As indicated through the translations, they are equivalent to declarative questions whose truth value is opposite to the truth value of the proposition. So (17a) expresses that no one likes to pay taxes, and (17b) expresses that carnival is not funny. Interestingly, enn never appears in rhetorical questions in Thuringian. Given the context of the two questions, both count as rhetorical questions with negative force. Regarding (18a), the author discusses several hypotheses about the etymology of the name for a typical local Thuringian festival; and in (18b), the

264

Andreas Pankau

author uttering this sentence mentions that an English and a Thuringian place have the same name. (18)

a.

Wär wall ’s sa! who wants it say ‘Who can say it’ [= No one can say it.]

b.

Äs das nöch komesch? is that not funny ‘Isn’t that funny.’ [= It is funny.]

(TRÖGE 1932, 26)

(TRÖGE 1931, 18) The third type of special question is what I call “attentive questions”. In attentive questions, the speaker wants to highlight the importance of a certain event by first posing a question that attracts the attention towards this event. Consider a scenario where someone tells a long story with many new information, only a few of which however are in fact relevant for the course of the story. In such a scenario, the speaker can insert a general question such as (19a) to highlight what happened next, or he can insert a more specific question such as (19b). (19)

a. b.

Und was ist dann passiert? and what is then happened ‘And then what happened?’ Und wen hat Peter plötzlich gesehen? and who has Peter suddenly seen ‘And who did Peter suddenly see?’

Both questions are fine in a situation where the speaker wants to highlight that Peter saw someone. Attentive questions are not true questions, but rather the opposite of it. Not only does the speaker in fact know the answer, the person he asks cannot possibly know the answers. Attentive questions are very frequent in the Thuringian dialect texts I consulted and they never occur with enn. (20)

On was moß e da hiere? and what must he there hear ‘And what does then hear?’ (TRÖGE 1931, 8)

In (20), the speaker asks a child a relatively trivial question but gets a surprising answer. Since the speaker knows the relevant surprising answer and only wants to direct the attention of the reader towards the answering-event, the question in (20) counts as an attentive question. The fourth type are “guess questions” (WILSON / SPERBER 2012, 222). Guess questions are questions that the speaker uses after he described an object or with which he describes this object such that he now wants the hearer to identify it.

The question particle enn in Thuringian

265

Typically, such questions have a joking flavor because the descriptions usually lead one up the garden path. Two examples are given in (21). (21)

a. b.

Was hat vier Beine und kann fliegen? what has four legs and can fly ‘What has four legs and can fly?’ Es hat vier Beine und kann fliegen; was ist das? it has four legs and can fly what is that ‘It has four legs and can fly; what is that?’

The answer for both questions is “two birds”. The joking flavor results from the the clash between the hearer’s expectation that the question is about a single animal and his world knowledge that the animals that can fly – namely birds – only have two legs. Guess questions do not count as true questions as the speaker already knows the answer and the hearer cannot be expected to know the answer. Consequently, enn is absent from guess questions in Thuringian. (22)

a.

b.

’s äs mein’n Vader sei Jonge on dach nöch mei Bruder. it is my father his boy and still not my brother Was äs das? what is that ‘It’s my father’s son but yet not my brother; what is that?’ (TRÖGE 1932, 27) Ech wall dr ämal ä Ongerschied offgä. Was äs dr Ongerschied I want you once a difference assign what is the difference zwöschen ä Bäcker on ä Paster? between a baker and a pastor ‘Let me give you the task to find out a difference. What’s the difference between a baker and a pastor?’ (TRÖGE 1930, 27)

Both questions count as guess questions. In (22a), the context makes it clear that the speaker knows the answer because he provides the relevant description and hence indicates that he knows the answer; the joking flavor comes from the apparent inconsistency of the question (the answer the speaker gives is “myself”). In (22b), the context makes it clear that the speaker knows the answer because he explicitly assigns a task to the hearer. Making the illocutionary force explicit is not uncommon (when using for example let me ask you something) but the speaker doesn’t indicate that he wants to ask a question; instead, he assigns a task, which implies that he knows the answer. The fifth type of question are “expository questions” (WILSON / SPERBER 2012, 222). Expository questions are questions the speaker uses in order to arouse the hearer’s interest in an answer the speaker is going to give himself. A typical example are questions used by lecturers when introducing a new topic. For exam-

266

Andreas Pankau

ple, before discussing possible explanations for island phenomena in syntax, a lecturer can ask the question in (23). (23)

Warum kann man nun nicht aus Inseln herausbewegen? why can one now not out islands to.move.out ‘Why can’t one move out of islands.’

Also these questions do not count as true questions: the speaker already knows the answer and doesn’t even expect an answer from the hearer. It therefore doesn’t come as a surprise that enn never appears in expository questions in Thuringian. (24)

a.

b.

Wie kömbt das nunne? how comes this now ‘Why is this so.’ (TRÖGE 1931, 17) Wie warsch nunne bei ons dahiert’n en Thiering’n? how was.it now at us here in Thuringia ‘How was it back then here with us in Thuringia.’ (TRÖGE 1932, 41)

Both questions count as expository questions. In (24a), the context is the observation that there are unexpected dialectal differences within a small region in Thuringia, and the author wants to clarify why this is so. In (24b), the author discusses the burning of witches in German history and wishes to lead over to the burning of witches in Thuringia. The sixth type of special questions are “self-addressed questions” (WILSON / SPERBER 2012, 223). As the name makes clear, self-addressed questions are questions where speaker and hearer are the same person. Consider a scenario where John is shopping and wants to buy trousers and can’t decide between two pairs. In such a context, he could ask the question in (25). (25)

Welche Hose kaufe ich jetzt? which trousers buy I now ‘Which trousers will I buy?’

In true questions, the speaker asks the hearer because the speaker lacks some knowledge and expects the hearer to be able to provide him with this knowledge. Self-addressed questions then trivially don’t count as true questions. Since speaker and hearer are the same person, this person would both possess and lack the relevant knowledge, which is inconsistent. Unsurprisingly, enn is barred from self-addressed questions in Thuringian. The context for (26a) is one where a mother wonders about the future life of her child, the context in (26b) is one where someone hears a strange sound downstairs and wonders where it might come from. So both sentences count as selfaddressed questions, and the absence of enn is captured.

The question particle enn in Thuringian

(26)

a.

b.

267

Was wärd wuhl aus dän Kinne wäre? what will well out the child become ‘What will be the future of my child?’ (TRÖGE 1930, 91) Äs ’s ämänge ä Einbrächer odder gar ä Gespenste? is it maybe a burglar or even a ghost ‘Is it maybe a burglar or even a ghost?’ (TRÖGE 1932, 21)

To sum up, even though enn is optional, enn is nevertheless a genuine question particle because it is restricted to true, that is, information seeking questions.7 3.3

enn Does Not Correspond to denn in Standard German

The claim that enn in Thuringian is a separate question particle implies that it doesn’t correspond functionally to the modal particle denn ‘then’ in Standard German. This claim seems a bit strange at the outset because both denn and enn are optional, and denn shares with enn the property that it is restricted to direct questions.8 (27)

a. b.

Wen hast du (denn) eingeladen? who have you PRT invited ‘Who did you invite?’ Bist du (denn) schwanger? are you PRT pregnant ‘Are you pregnant?’

So a straightforward alternative for enn in Thuringian is that enn corresponds to denn in Standard German, the only difference being that enn is phonologically reduced. However, there are five arguments against such a correspondence. First, denn is compatible with some special questions that enn is not compatible with, namely rhetorical questions with negative force and exclamatives.

7

8

Thuringian is not exceptional in this respect, ’n in the dialect of North East Berlin is barred from basically the same special questions as enn in Thuringian (PANKAU 2018). ’n in Bavarian differs. According to JOSEF BAYER (p.c., 2018/04/14) ’n in Bavarian is fine exclamatives, a judgment shared by HELMUT WEISS (p.c., 2018/04/05), who additionally pointed out that ’n is also fine in rhetorical questions with negative force. WEISS (2002, 324) notes that echo questions bar ’n in Bavarian, similar to ’n in the dialect of North East Berlin (PANKAU 2018). Whether Thuringian allows enn in echo questions I could not determine because such questions did not occur in the texts I consulted. But see section 5 where I show that this claim is factually incorrect and that denn is not restricted to questions.

268

Andreas Pankau

(28)

a.

b.

Wer will das denn? who wants that PRT ‘Who wants that’ [= Nobody wants this] (MEIBAUER 1994, 223) Wen haben die denn heute nur wieder alles eingeladen! who have they PRT today only again all invited ‘Who they again invited today!’ (MOTTAUSCH 2009, 335)

If enn corresponded to denn in Standard German, then it is unexpected that they occur in different environments. The second piece of evidence against the idea that enn corresponds to denn in Standard German comes from so-called “surprise-disapproval questions” (OBENAUER 2004). Surprise-disapproval questions are questions where the speaker doesn’t expect a certain situation, considers this situation negative, and asks why the situation is the way it is. Imagine that Paul’s girlfriend combs her hair as every morning, but this morning, she starts screaming and running around. When in such a context John asks What’s going on?, then this question counts as a surprise-disapproval question: the state of affairs (John’s girlfriend runs around screaming) is against John’s expectations, he doesn’t approve of it, and he asks to eventually find out why his expectations were wrong. Interestingly, enn and denn can appear together in surprise questions in Thuringian.9 (29)

a.

b.

9

De neie Haushälterin des Farrers besichticht ehre Schlafkammer. the new housekeeper of.the pastor inspects her sleeping.room Plötzlich rennt se laut schreiend aus dähn Raum. suddenly runs she loudly screaming out the room ‘Was issen denn lohß?’ frahte dor Pastor vorschtöhrt. what is.ENN PRT loose asked the pastor puzzled ‘The new housekeeper inspects her sleepingroom. All of the sudden, she runs out of the room screaming. “What’s going on?”, the pastor asked puzzled. (ZEISING 1995, 8) Context: a woman runs to the station to bring her husband his suitcase for an unexpected trip. Upon arrival, the husband picks up the suitcase and locks it up into a locker. His wife doesn’t understand and asks: Ja, mußten du denn niche wägk? yes must.ENN you PRT not away ‘Well, don’t you have to catch your train!?’ (ZEISING 2000, 35)

This doubling also occurs in the dialect of North East Berlin (PANKAU 2018). A phenomenon similar to this type of doubling is observed for Bavarian by WEISS (2013, 772–773). Bavarian has the particle nou/nä that pragmatically corresponds to the Standard German modal particle denn. As WEISS (2013, 772) notes, some speakers allow the co-occurrence of ’n and nou/nä.

The question particle enn in Thuringian

269

Note that denn in Standard German can never be doubled. (30)

* Was ist denn denn los?! what is PRT PRT loose ‘What’s going on?!’

Consequently, enn cannot be possibly analyzed as the correspondent of denn in Standard German. Third, enn and denn have different usage conditions. As for yes/no-questions, the presence of denn expresses that the speaker expects the proposition he asks for to be false but that the context provides him with evidence that his expectation is wrong (HENTSCHEL / WEYDT 1983). Consider a scenario where John meets with his two friends Peter and Paul. They often discuss sports, but Peter never showed any interest in tennis. So John is very sure that Peter doesn’t like tennis. Yet this time, Peter talks to Paul about tennis rackets, tennis shoes, and the latest news from the world of tennis. In such a context, it would be natural for John to ask Peter the question in (31). (31)

Spielst du denn Tennis? play you PRT tennis ‘Do you play tennis?’

The reason (31) is natural is because it expresses exactly the mismatch between John’s expectation and the context: John expects Peter to not like tennis but the context (Peter’s apparent expertise in tennis) provides John with counterevidence for his expectation. Crucially, enn in Thuringian is not pragmatically restricted in such a way. Consider the following example. (32)

Korz vorm Helzchen, jleich zwischen dähn erschten Baehmern, shortly before.the forest right between the first trees lahk ä tohter Fucks. De Jroohßemudder blew schtehn, zeichte uff lay a dead fox the grandmother stayed stand pointed on the animal and said for Juste see.2.SG.ENN the dead fox here dasVieh und sahte for Justen: “Siehsten dähn tohten Fucks hier lie lähn?” ‘Shortly before the forest, right between the first trees, lay a dead fox. The grandmother stopped, pointed to the animal, and said to Juste: “Do you see the dead fox lying here?”’ (ZEISING 2002, 55)

In (32), the grandmother (the speaker) cannot possibly have the expectation that Juste (the hearer) doesn’t see the dead fox because the grandmother just showed the dead fox to Juste. Yet enn appears. Note additionally, that in such a situation, denn in Standard German is not licensed, that is, (33) in the context of (32) is out.

270 (33)

Andreas Pankau

# Siehst du denn den toten Fuchs hier liegen? here lie see you PRT the dead fox ‘Do you see the dead fox lying here?’

As for wh-questions, it is generally agreed on that denn is fine those wh-questions that connect to something the hearer said or did (BAYER / OBENAUER 2011, 450; THURMAIR 1989; KÖNIG 1977; WEYDT 1969) and hence adds a flavor of involvedness on the side of the speaker towards the content of question (BAYER 2012; CSIPAK / ZOBEL 2014). For this reason, wh-questions with denn cannot be uttered out of the blue. KÖNIG (1977) gives the following illustration. Consider a scenario where John wakes up and asks his wife next to him what time it is. In this scenario, John cannot possibly connect to something his wife said or did because she was asleep. For this reason, (34a) is fine but (34b) is out. (34)

a. Wie spät ist es? how late is it b. # Wie spät ist es denn? how late is it PRT ‘What time is it?’

enn in Thuringian, however, can be used in questions uttered out of the blue. In (35), the context is identical to the one of (34), yet enn appears. (35)

Dän ein Tahk war bei Vetter Holzen ewwer Nacht dr Sejer stehen the one day was at father Holzen over night the clock stand jeblewwn. Dr Vetter wore munter, als dr Hahn krähte. Da remained the father became awake as the rooster crowed there knuffte seine Frau in Bette ahn un frahte: “Rieke, wie speete punched.he his wife in bed on and asked Rieke how late mahks änn mant sin?” may.it ENN only be ‘One day, father Holzen’s clock stopped working overnight. The father woke up when the rooster crowed. The father punched his wife in bed and asked: “What time is it?”’ (STUCKI 1996, 12)

Given the contrast between (35) and (34), and the contrast between (32) and (31), enn cannot be analyzed as an element corresponding to denn in Standard German. A fourth difference concerns disjunctive questions, illustrated in (36). In disjunctive questions, the pair of alternatives is explicitly stated and the speaker wants to know which alternative holds. In (36), the speaker doesn’t only want to

271

The question particle enn in Thuringian

know what to eat tonight, he wants to know which of the two alternatives the hearer prefers. In disjunctive questions, denn is extremely bizarre.10 (36)

Willst du Pizza oder Nudeln essen heute Abend? want you pizza or pasta eat today evening ‘Do you want to eat pizza or pasta tonight?’

(37)

* Willst du denn Pizza oder Nudeln essen heute Abend? want you PRT pizza or pasta eat today evening ‘Do you want to eat pizza or pasta tonight?’

The reason for this oddity is arguably pragmatic. Recall the usage conditions of denn in yes/no-questions, of which disjunctive questions are a subtype, described in connection to example (31). As mentioned there, denn expresses that the speaker expects the proposition he asks for to be false, but that the context provides him with evidence that his expectation is wrong. So with respect to (37), the speaker expects that the hearer does not want to eat pizza or pasta, that is, neither pizza nor pasta. If the speaker now has evidence that his expectation is wrong, then he has evidence that the hearer wants to eat both pizza and pasta. But then, the speaker should have used a conjunction instead of a disjunction, which is fine. (38)

Willst du denn Pizza und Nudeln essen heute Abend? want you PRT pizza and pasta eat today evening ‘Do you want to eat pizza and pasta tonight?’

If enn in Thuringian corresponded to denn in Standard German, it should not occur in disjunctive questions. Yet it does occur in such questions. (39)

Wùman a Laĕγ otǝr a Kàm kêjǝlĕ? want.we.ENN a kugelleich or a Kammspiel bowl ‘Do we want to bowl a Kugelleich or a Kammspiel?’ (DÖRING 1903, 44)

The grammaticality of (39) shows clearly that questions with enn pattern with interrogative clauses in Standard German without denn, indicating that enn really only marks questionhood. The fifth and final difference relates to the position of enn. As (40) shows, enn can appear directly after a clause initial wh-phrase.

10 CSIPAK / ZOBEL (2014, 92) disagree and judge comparable examples acceptable. In my view, this discrepancy is apparent because the example they use is also compatible with the construal as a polar question (cf. BIEZMA / RAWLINS 2012), which generally allow denn.

272 (40)

Andreas Pankau

A: Sagk mal, Mäch’n, de hast wuhl heite frieh Dein’n Bleistöft say once girl you have well today morning your pencil ahngespötzt? sharpened ‘Say, darling, you sharpened your pencil this morning, right?’ B: Wuhär ‘änn weeßt’e das? whence ENN know.you that ‘How do you know?’ (TRÖGE 1931, 107)

This is at first sight not a real difference between enn and denn in Standard German because also denn can appear after a clause initial wh-phrase (BAYER / OBENAUER 2011, 461; pace OTT / STRUCKMEIER 2018). (41)

Wer denn hat Hartz IV beschlossen! who PRT has Hartz IV decided ‘Who decided about Hartz IV!’

However, there is a crucial interpretative difference between (40) and (41) ignored by BAYER / OBENAUER (2011). The question in (40) is a true question: B wonders why A knows that B used A’s sharpener. The question in (41) on the other hand is not a true question, but a special question, namely what OBENAUER (2004, 364) calls “obvious-x questions”: the assignment of the variable bound by the whoperator is generally known, hence obvious. Obvious-x questions are hence a subtype of rhetorical questions, but one type where the answer is generally known to the interlocutors. In (41), the answer is obvious, namely the SPD, the Social Democratic Party of Germany. A typical context for (41) would be a discussion where someone claims that the SPD is a left party; (41) can then be used to correct this claim. What would be an impossible context for (41) is any context where someone doesn’t know who enacted the Hartz IV reforms. 4

PROBLEMS FOR BAYER’S THEORY OF WH-DROP

Having shown that enn is a genuine question particle and neither a wh-agreement suffix nor an element corresponding to denn in Standard German, I will now show that this creates a serious problem for BAYER’S (2010) syntactic analysis of whdrop. BAYER (2010) develops a theory for ’n in Bavarian according to which it is an agreement suffix whose agreement controller is a wh-phrase that is overtly moved to SpecCP. From this, BAYER (2010) derives that wh-drop obligatorily features ’n: the presence of ’n guarantees recoverability of the elided wh-phrase. Consider the structure in (43) for the sentence in (42a).

The question particle enn in Thuringian

(42)

273

a.

Was deats-n es do? what do-ENN you.PL there b. * Was deats es do? what do you.PL there ‘What are you doing?’ (BAYER 2013b, 41)

(43)

CP wasi

C` C° C° deatsk

TP ’n[uwh]

ti … tk



As the structure in (43) indicates, the finite verb deats moves and adjoins to C°, ’n adjoins to C°, the wh-phrase was moves to SpecCP and is elided. The dotted arrow indicates the agreement relation between the wh-phrase and ’n. Since ’n is a wh-agreement suffix, it requires a local agreement controller. This is the whphrase in SpecCP. For ease of exposition, the requirement of ’n for an agreement controller is implemented via a specific feature on ’n, namely [uwh]; strikethrough indicates that agreement has applied. After agreement with the wh-phrase, ’n marks the presence of a wh-phrase. Elision of the wh-phrase can now apply because ’n preserves the information that a wh-phrase was present. The ungrammaticality of (42b) is then a simple consequence of the absence of any element preserving the information that a wh-phrase was present. Consequently, elision of the wh-phrase is not licensed. The crucial ingredient for BAYER’S (2010) analysis is therefore that ’n serves the function to encode the presence of a wh-phrase. Now the problem enn creates for this analysis is that enn is required in wh-drop but that enn is not a whagreement suffix. Consider the sentence in (44) and its structure in (45). (44)

Was issän jetz schonn widder? what is.ENN now already again ‘What’s going on now again?’ (CRAMER 1998, 38)

The structure differs from the one in (43) in one crucial aspect: enn is not a whagreement suffix, but a question particle. The trivial consequence of this is that the wh-phrase in SpecCP does not enter into an agreement relation with enn. enn can therefore not possibly serve the function to encode the presence of a wh-

274

Andreas Pankau

phrase. But then, the obligatoriness of enn in wh-drop in Thuringian is not captured under BAYER’S analysis. In fact, since enn does not encode the presence of a wh-phrase at all, the possibility for wh-drop should be independent of the presence of enn. So enn is predicted to be as optional in wh-drop as in wh-questions. But this is not the case: enn is obligatory in wh-drop in Thuringian. (45)

CP wasi

C` C° C° issk

5

TP enn[Q]

ti … tk



A PRAGMATO-SYNTACTIC ANALYSIS OF WH-DROP

If enn is not a wh-agreement suffix, then why is it obligatory in wh-drop? What I suggest is that wh-drop is not restricted by a condition on the recoverability of the dropped wh-phrase but by a condition on the shape of the clause it applies to. More specifically, I suggest the condition in (46). (46)

Wh-drop is possible in any clause S if S is identifiable as a question.

The notion “identifiable as a question” is defined in (47). (47)

A clause S is identifiable as a question iff S contains at least one grammatical formative F such that F is incompatible with non-questions.

In a nutshell, what (46) requires is that wh-drop is possible only in questions that have a marker that signals questionhood. I will now show that this condition captures the obligatory presence of enn and ’n, and that it excludes the option to have denn in wh-drop. As for enn, consider the sentence in (48) and its structure in (49). (48)

Was issän jetz schonn widder? what is.ENN now already again ‘What’s going on now again?’ (CRAMER 1998, 38)

The question particle enn in Thuringian

(49)

275

CP C`

wasi C° C°

TP enn[Q]

ti … tk



issk

The reason that (48) is fine is that it satisfies the condition on wh-drop: the clause is uniquely identifiable as a question. The relevant identifier is the particle enn, which as I showed in section 3 is only compatible with questions but incompatible with non-questions. The same line of reasoning applies to ’n in Bavarian. Consider the sentence in (50) and its structure in (51). (50)

Was deats-n es do? what do-ENN you.PL there ‘What are you doing?’ (BAYER 2013b, 41)

(51)

CP wasi

C` C° C° deatsk

TP ’n[Q:wh]

ti … tk



Instead of analyzing ’n as a wh-agreement suffix, I take ’n to be a question particle that is restricted to wh-questions. In (51), this is indicated by the subscript on ’n, which is [Q:wh]. So the reason that (50) satisfies the condition on wh-drop is that ’n makes the clause uniquely identifiable as a question because there are no non-questions in Bavarian that contain ’n. Singling out wh-questions seems dubious, but it is a common phenomenon that wh-questions and yes/no-question are treated separately. For instance, there are languages that use distinct question particles for wh-questions and yes/no-questions (KROEBER 1997). Moreover, predicates selecting questions in German come in three types: some allow both yes/noand wh-questions, some allow only wh-questions, and still others only allow yes/no-questions.

276 (52)

Andreas Pankau

a. b. c.

Ich frage,√ wer kommt. / √ ob er kommt. I ask who comes if he comes ‘I wonder who comes / if he comes.’ Ich beschreibe, √ wer kommt / * ob er kommt. I describe who comes if he comes ‘I describe who comes / *if he comes.’ Er bettelt, * wer Geld für ihn hat / √ ob jemand Geld für ihn hat. he begs who money for him has if someone money for him has ‘He begs * who has money / √ whether someone has money for him.’

Finally, as pointed out by an anonymous reviewer, German dialects treat indirect questions quite differently. Whereas indirect yes/no-questions involve a separate complementizer, namely ob ‘if’, indirect wh-questions are built around indirect declarative clauses involving the complementizer dass ‘that’. So the idea that ’n is a question particle restricted to wh-questions instead of a wh-agreement marker is independently motivated. As for questions without enn or ’n, as shown in (53), they are excluded because they do not contain any element that marks them uniquely as questions (53)

a. * Was iss jetz schonn widder? what is now already again ‘What’s going on now again?’

(based on CRAMER 1998, 38)11

b. * Was deats es do? what do you.PL there ‘What are you doing?’ (BAYER 2013b, 41) After wh-drop, the clauses look like topic drop clauses (cf. 9), that is, like declarative clauses. So the condition in (46) is violated and the sentences are excluded. An important consequence of this analysis for wh-drop is that it also accounts for the curious fact that the modal particle denn does not license wh-drop,12 as shown 11 An anonymous reviewer correctly points out that CRAMER (1998) does not explicitly state that wh-drop requires enn. However, all the examples in CRAMER (1998) with wh-drop feature the particle enn, whereas there are numerous wh-questions in that very same work that lack enn. This asymmetry allows in my view the inference that enn is obligatory in wh-drop, similar to Bavarian and the dialect of North East Berlin (PANKAU 2018). 12 BAYER (2010, 35) shares my intuition that denn doesn’t rescue wh-drop. He later partly retreats his view (BAYER 2013b, 42) on the basis of data by ANDREAS TROTZKE from Ruhrdeutsch according to whom data like (54) are fine, that is, denn does rescue wh-drop. In order to resolve the contradictory observations, BAYER (2013b, 42) makes the important observation that denn in Ruhrdeutsch must have already undergone weakening because denn only saves wh-drop when it appears in the Wackernagel position. (i) * Was hast du dem Hans denn gegeben? what have you the Hans PRT given ‘What did you give to Hans?’

The question particle enn in Thuringian

277

in (54), whose structure is provided in (53) (for ease of exposition, I assume that denn is adjoined to VP and hence appears TP-internally). (54) * Was hast du denn gemacht? what have you PRT made ‘What have you done?’ (55)

CP wasi

C` C° hast

TP C°

ti…denn…tk

At first sight, the ungrammaticality of (54) appears to be a problem for my analysis because denn is usually considered to be restricted to interrogative clauses (THURMAIR 1989). But this view is as wrong as it is common. Already MEIBAUER (1994, 222) notes that denn is not restricted to interrogative clauses but is also fine in free conditionals (cf. THEILER 2018; ZOBEL / CSIPAK 2017; HÄUSSLER 2015).13 Taking this observation into consideration, the exclusion of (54) is a trivial consequence of the condition in (46): the clause is not uniquely identifiable as a question because denn is also compatible with non-questions.14 I would even go a step further and claim that speakers don’t judge denn but the substandard version ’n. Although ’n is usually treated as a reduced version of denn (WEGENER 2002, 379; THURMAIR 1991, 378) they are different modal particles because they have different usage conditions (PANKAU 2018). 13 Additionally, HANS-MARTIN GÄRTNER has pointed out to me (p.c., 2018/03/28) that denn is also licensed in declarative clauses embedded in an interrogative clause, cf. (i). (i) Glaubst du, dass es denn stimmt? believe you that it PRT is.right ‘Do you think it’s true?’ 14 For the sake of completeness, let me mention that there are two aspects of wh-drop that this analysis does not capture. First, as already mentioned in footnote 2, the set of droppable whphrase is restricted to was (and to some extent wo). Second, wh-drop is restricted to verbsecond clauses (BAYER 2013a, 202). The first aspect deserves further investigation quite generally because there are cases where was and wo in my view cannot be dropped: (i) * Stimmt ’n nun? / * Interessiert ’n dich am meisten? is.right PRT now interests PRT you at.the most ‘What’s true now?’ ‘What interests you most?’ (ii) * Hast ’n du dich für beworben? have PRT you REFL for applied What did you apply for? As for the second aspect, all I can offer is the speculation that the host for ’n and enn in C° needs to be properly lexical, which includes finite verbs but excludes complementizers.

278

Andreas Pankau

(56) A: B:

Wir müssen um 6 Uhr aufstehen. we must around 6 o’clock get.up ‘We have to get up at 6 am.’ Na wenn es denn sein muss. well if it PRT be must ‘Well, if we really have to.’ 6

CONCLUSION

I have argued in this paper for a pragmato-syntactic analysis for wh-drop, according to which wh-drop is licensed if the clause hosting wh-drop can be uniquely identified as a question. The reason for adopting such an approach is that the purely syntactic account suggested by BAYER (2010) is not viable. According to this approach, wh-drop is an agreement phenomenon that is licensed if the dropped wh-phrase can be recovered via an agreement suffix. This approach fares well for dialects like Bavarian: wh-drop requires the presence of the element ’n and ’n is restricted to wh-questions. However, Thuringian also requires a specific element to appear, namely enn, but enn is not restricted to wh-questions. Instead, enn must appear in all questions. Hence it cannot be an agreement suffix but must be a marker for questionhood, which claim I backed up by ample evidence from its behavior in special questions. I extended this analysis to Bavarian and suggested that ’n is a question particle for wh-questions. I also argued that this analysis captures why the modal particle denn does not license wh-drop. REFERENCES ÅQVIST, LENNART (1975): A new approach to the logical theory of interrogatives: Analysis and formalization. Tübingen: Narr. BARBIERS, SJEF (2007): On the periphery of imperative and declarative clauses in Dutch and German. In: VAN DER WURFF, WIM (ed.): Imperative Clauses in Generative Clauses. Amsterdam: Benjamins, 95–112. BAYER, JOSEF (2010): Wh-drop and recoverability. In: ZWART, JAN-WOUTER / MARK DE VRIES (eds.): Structure Preserved. Amsterdam: Benjamins, 31–40. BAYER, JOSEF (2012): From Modal Particle to Interrogative Marker: A Study of German denn. In: BRUGÉ, LAURA / ANNA CARDINALETTI / GIULIANA GIUSTI / NICOLÀ MUNARO / CECILIA POLETTO (eds.): Functional Heads. Oxford: Oxford University Press (The Cartography of Syntactic Structures. 7), 13–28. BAYER, JOSEF (2013a): W-Frage, Fragepartikel und W-drop im Bairischen. In: HARNISCH, RÜDIGER (Hg.): Strömungen in der Entwicklung der Dialekte und ihrer Erforschung: Beiträge zur 11. Bayerisch-Österreichischen Dialektologentagung in Passau, September 2010. Regensburg: Ed. Vulpes (Regensburger Dialektforum. 19), 188–207. BAYER, JOSEF (2013b): Klitisierung, Reanalyse und die Lizensierung von Nullformen: zwei Beispiele aus dem Bairischen. In: ABRAHAM, WERNER / ELISABEH LEISS (Hg.): Dialektologie in neuem Gewand: zu Mikro-, Varietätenlinguistik, Sprachenvergleich und Universalgrammatik. Hamburg: Buske (Linguistische Berichte. Sonderheft. 19), 29–46.

The question particle enn in Thuringian

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VERTRAUTHEIT UND RESPEKT IM SAARLÄNDISCHEN – WAS SAGT DIE VERWENDUNG DES NEUTRALEN GENUS IN BEZUG AUF WEIBLICHE PERSONEN ÜBER DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN SPRECHER UND REFERENTIN AUS? Denise Guilpain 1

EINLEITUNG

Was macht es Sarah am Wochenende? – Das geht mit seinem Mann ins Restaurant. Dieser Dialog würde in weiten Teilen Deutschlands sicher für Verwunderung sorgen, wird doch hier neutrales Genus in Bezug auf eine ganz offensichtlich weibliche Person gebraucht. Das widerspricht der im Deutschen geltenden GenusSexus-Korrelation, die besagt, dass das grammatische dem natürlichen Geschlecht entspricht (vgl. NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013, 152). Allerdings gibt es Dialekte, darunter das Saarländische, in denen bei Bezugnahme auf weibliche Personen gegen die Genus-Sexus-Korrelation verstoßen wird (vgl. NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013, 152). Von den Sprechern der Dialekte wird das neutrale Genus hierbei nicht als „stets abwertend oder neutral, niemals aber mit einer positiven Konnotation verbunden“ (EISENBERG 2013, 155) betrachtet, ganz im Gegenteil: „Pejorisierende Nuancen scheinen […] nicht enthalten zu sein“ (NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013, 154). Indessen lassen sich auch im Saarländischen Beispiele dafür finden, dass auf weibliche Personen feminin referiert wird. Die vorliegende Arbeit setzt an dieser Stelle an. Basierend auf vier ausgewählten Folgen der Serie „Familie Heinz Becker“1 als Quelle für sprachliche Daten sollen erste Thesen darüber entwickelt werden, was die Verwendung des neutralen Genus in Bezug auf eine weibliche Person bzw. der Verzicht darauf über die Beziehung des Sprechers zu ihr aussagt. Ziel ist es dabei nicht, ein umfangreiches Modell zu entwickeln, sondern grundlegende Tendenzen festzuhalten. Die Serie bietet sich als Datenbasis für eine solche Untersuchung an, weil die Dialoge zwar auf einem Drehbuch beruhen, sie aber mündlich vorgetragen werden und so im Wesentlichen dem natürlichen Sprachgebrauch entsprechen. Da bei „Familie Heinz Becker“ die rheinfränkische Variante des Saarländischen gesprochen wird, beziehen sich die Ergebnisse nur auf den

1

Die vier Folgen sind: „Stefans Geburtstag“ (im Folgenden zitiert als S) aus der 2. Staffel, „In der Galerie“ (G) aus der 3. Staffel, „Der erste Preis“ (P) aus der 4. Staffel und „Der Hausball“ (H) aus der 5. Staffel. Alle vier wurden in den 1990er Jahren produziert, liefern also vergleichsweise aktuelle Daten.

282

Denise Guilpain

rheinfränkischen Teil des Saarlandes. Der Einfachheit halber wird im Folgenden dennoch der Begriff „Saarländisch“ gebraucht. Es existieren mehrere Studien, die sich mit dem Phänomen der neutralen Referenz auf Frauen beschäftigen (z. B. NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013), allerdings wurde dem Saarländischen in Bezug auf dieses Thema bisher keine exklusive Betrachtung zuteil. Es wurde in der Forschungsliteratur höchstens am Rande erwähnt, dass auch im Saarland das neutrale Genus in Bezug auf Frauen gebräuchlich ist (vgl. CHRISTEN 1998, 268; NÜBLING 2015, 168). Die vorliegende Arbeit stützt sich daher hauptsächlich auf DÖHMERS Untersuchung der Pronomen im Luxemburgischen (DÖHMER 2016), da das Luxemburgische bezüglich der Verwendung des neutralen Genus in Bezug auf weibliche Personen Analogien zum Saarländischen aufweist (vgl. NÜBLING 2015, 168). Im Folgenden werden zuerst einige grundlegende Punkte zu Artikeln und Pronomen im Saarländischen erläutert. Danach wird versucht, anhand des verwendeten Datenmaterials Aussagen über die Bedingungen der Verwendung des neutralen Genus zu treffen. Dabei ist es nötig, insbesondere auch die Fälle zu betrachten, in denen auf das neutrale Genus zugunsten des femininen verzichtet wird. Zudem wird der Variation der Genuszuweisung bei der Referenz auf eine bestimmte Frau ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und die Fragestellung beantwortet. 2 2.1

NEUTRALES GENUS BEI DER REFERENZ AUF WEIBLICHE PERSONEN

Einleitende Bemerkungen zu Artikeln und Pronomen im Saarländischen

Zum besseren Verständnis der folgenden Untersuchung soll an dieser Stelle ein kurzer Überblick über die neutralen und femininen bestimmten Artikel und die wichtigsten neutralen und femininen Pronomen im Saarländischen gegeben werden. Der bestimmte Artikel Singular lautet im Neutrum es, im Femininum die (vgl. STEITZ 1981, 72). Sie werden beide auch in Kombination mit Namen gebraucht, obwohl zumindest bei Vornamen Sexus und Genus bereits in der semantischen Bedeutung des Lexems enthalten sind (vgl. NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013, 153). Die Personalpronomen der dritten Person Singular lauten es und se; daneben existieren die emphatischen (besonders betonten) Formen äs und sie (vgl. STEITZ 1981, 104–106). Äs stellt einen besonderen Fall dar. Wie das luxemburgische hatt ist es ein eigenes Pronomen für die phorische, aber auch deiktische Referenz, das sich nur auf menschliche Referenten beziehen kann2 (vgl. DÖHMER 2016, 20–21; NÜBLING 2015, 180). Determinativpronomen im Singular sind das (Neutrum) und die (Femininum) (vgl. STEITZ 1981, 111); das Possessivpronomen 2

Eine Ausnahme stellen weibliche Tiere, die einen Rufnamen tragen, dar; ihre Behandlung als „Persönlichkeit“ ermöglicht ebenfalls eine Pronominalisierung mit äs (vgl. DÖHMER 2016, 22).

Das neutrale Genus bei weiblichen Personen im Saarländischen

283

(in der Artikelform) im Singular lautet im Falle eines neutralen Possessors sei, bei femininem Possessor ihr (vgl. STEITZ 1981, 122). 2.2

Neutrales Genus und die Beziehung zwischen Sprecher und Referentin

2.2.1 Einheitliche Verwendung des Genus in Bezug auf weibliche Personen Die vier ausgewerteten Folgen der Serie „Familie Heinz Becker“ liefern 39 Belege für neutrale und 66 Belege für feminine Referenz auf weibliche Personen.3 Auffällig ist, dass tatsächlich die Fälle, in denen feminines Genus zugewiesen wird, überwiegen. Dies verdeutlicht, dass es im Saarländischen durchaus viele Kontexte gibt, in denen die sexuskongruente Referenz auf Frauen präferiert wird. In STEITZ’ (1981, 81) „Grammatik der Saarbrücker Mundart“ heißt es: „Weibliche Vornamen haben den sächlichen Artikel.“ Für die Referenz auf eine Frau mit ihrem Nachnamen wird dagegen die Regel formuliert: „Weibliche Zunamen haben den weiblichen Artikel“ (STEITZ 1981, 81). Letzteres wird durch die analysierten Daten eindeutig belegt: Im Fall der Kombination Frau + Nachname wird stets der feminine Artikel verwendet. Die pronominale Wiederaufnahme erfolgt ebenfalls in 11 von 11 Fällen mit femininem Genus (1). (1)

Hat ned die Frau Spengler gesaad, dass ihr Mann sich mit Fotos auskennt? (G 1:08 MIN; Hervorhebungen D.G.)

Die Referenz auf eine weibliche Person mit ihrem Vornamen erfolgt in den meisten Fällen (29 von 33) ebenfalls wie von STEITZ (1981, 81) dargestellt, nämlich mit neutralem Artikel (2); Ausnahmen von dieser Regel, die bei dem ausgewerteten Material auftreten, werden an späterer Stelle noch näher beleuchtet. (2)

Es Marianne hat gesaad, dass ma im Bürgerhaus so gud isst. (S 9:09 MIN; Hervorhebungen D.G.)

Diese Befunde decken sich auch mit DÖHMERS (2016, 26) These, dass weibliche Vor- bzw. Künstlernamen relativ einheitlich neutrales Genus, die Nachnamen weiblicher Personen sowie feminine Titel und Appellative (wie Mutter, Oma) dagegen feminines Genus zugewiesen bekommen. Nur bei der Kombination aus Vor- und Nachname konkurrieren diese beiden Systeme miteinander; in diesem Fall kann sowohl das neutrale als auch das feminine Genus gewählt werden (vgl. DÖHMER 2016, 26–27). DÖHMER (2016, 24) erklärt diese nahezu komplementäre Verteilung mit Hilfe pragmatischer Faktoren: demzufolge wird Neutrum im Zusammenhang mit weiblichen Personen verwendet, die entweder a) vom Sprecher 3

In der Serie „Familie Heinz Becker“ treten auch Figuren auf, die Standarddeutsch sprechen. Die genannten Zahlen beziehen sich aber nur auf sprachliche Äußerungen im saarländischen Dialekt.

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geduzt werden, b) eine gleiche oder eine niedrigere Position innehaben oder c) gleich alt oder jünger sind. Das Femininum dagegen wird entweder für a) vom Sprecher gesiezte, b) höhergestellte oder c) ältere weibliche Personen gebraucht (vgl. DÖHMER 2016, 24). Die neutrale Genuszuweisung bei weiblichen Namen erscheint also bei einer ersten Betrachtung als Zeichen von Vertrautheit und sozialer Nähe, während das feminine Genus „soziale Distanz und Respekt“ ausdrückt (NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013, 154). Die Tatsache, dass appellativische weibliche Verwandtschaftsbezeichnungen, hier insbesondere das Lexem Mudda ‘Mutter’ bzw. Mama immer in Kombination mit dem femininen Genus gebraucht werden, stützt diese These (vgl. DÖHMER 2016, 30). „Intrafamiliäre Hierarchien“ (NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013, 176) und die Tatsache, dass die Mutter mit Respekt behandelt wird, führen dazu, dass sowohl die Artikelzuweisung als auch die pronominale Wiederaufnahme ausschließlich mit femininem Genus erfolgen (in 5 von 5 Fällen [3]). Dies gilt unabhängig davon, ob die Mutter des Sprechers oder Hörers gemeint ist4 und wie groß der Abstand zwischen dem Lexem Mudda und dem ko-referenten Pronomen ist.5 (3)

Dei Mudda hat heit beim Meewel Plotzer schon Kunststigge vorgeführt. […] Sie hat sich in so e Plastiksessel gesitzt, in dem Moment geht die Luft raus, unn dann hat se doo gehängt. (S 23:39 MIN; Hervorhebungen D.G.)

Es ist sogar anzunehmen, dass selbst dann das feminine Pronomen gewählt wird, wenn Mudda/Mama in einer Situation überhaupt nicht verwendet wird, es aber aus dem Äußerungskontext hervorgeht, dass die Mutter des Sprecher/Hörers gemeint ist. Bei gleichaltrigen Verwandten wird dagegen das neutrale Genus verwendet (vgl. auch NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013, 181–182) für das Rheinfränkische von Langenlonsheim). Die Mutter der Familie Becker bspw. nennt ihre Schwester es Elsje (z. B. H 2:14 MIN); Schwester stellt also eine Ausnahme unter den femininen Appellativen dar (vgl. DÖHMER 2013, 30). Hier spielt wohl ebenfalls die „Rangordnung“ in der Familie eine Rolle. Als weiterer Fall, in dem die pragmatische Unterscheidung zwischen Vertrautheit und Respekt zu Tage tritt, sei die Referenz auf eine Frau genannt, die dem Sprecher nicht persönlich bekannt, aber eine Person des öffentlichen Interesses ist. Im Luxemburgischen bekommen laut NÜBLING / BUSLEY / DRENDA (2013, 165) bekannte Persönlichkeiten neutrales Genus zugewiesen. NÜBLING (2015, 179) schränkt diese These in Bezug auf weibliche Personen mit „high social status“ (z. B. Professorinnen) jedoch ein; bei der Referenz auf Frauen in exponierten Positionen wird ihr zufolge das feminine Genus gewählt. DÖHMER (2016, 30) wiederum differenziert zwischen jüngeren und älteren „berühmten“ Frauen; in 4 5

Auf die Bedeutung des Verhältnisses zwischen Referent und Hörer, wie DÖHMER (2016, 30– 31) sie beschrieben hat, wird unter 2.2.2 noch näher eingegangen. Zum „Prinzip der linearen Distanz“ (NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013, 156) siehe auch 2.2.2.

Das neutrale Genus bei weiblichen Personen im Saarländischen

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Bezug auf ältere Frauen zeigt sich ihrem Befund nach ebenfalls eine Präferenz des femininen Genus. Für das Saarländische liefert das ausgewertete Material leider nur einen Beleg für die Referenz auf eine berühmte Person: wenn die Mutter der Familie Becker gefragt wird, als was sie sich an Fastnacht verkleide, antwortet sie (4): (4)

Als Lotti Krekel. […] Ei ja, die gefallt mir so gut. (H 2:09 MIN; Hervorhebungen D.G.)

Bei Lotti Krekel handelt es sich um eine Frau mittleren Alters; sie wird mit einem femininen Pronomen wiederaufgegriffen. Darüber, ob der Name einer jüngeren „berühmten“ Frau im Saarländischen neutral pronominalisiert wird, lässt sich anhand der verwendeten Daten keine Aussage treffen. Auf das konkrete Beispiel bezogen kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Lotti Krekel der Sprecherin als besonders bewundernswert erscheint und sie deshalb den Unterschied zwischen sich und ihr auch sprachlich betont. Mit Blick auf die bisher angesprochenen Fälle kann NÜBLING / BUSLEY / DRENDAS (2013, 154) These, neutrales Genus korreliere mit Vertrautheit und feminines mit Respekt, also uneingeschränkt zugestimmt werden. Ein Problem ergibt sich aber hinsichtlich der Referenz auf weibliche Personen, die dem Sprecher gänzlich unbekannt sind oder die er siezt. Auf sie erfolgt die (häufig auch deiktische) Referenz mit femininem Pronomen (5); (vgl. DÖHMER 2013, 26). Dass diese Tatsache nicht in jedem Fall als Zeichen von Respekt gewertet werden kann, ergibt sich daraus, dass feminine Pronomen auch dann in Bezug auf eine Referentin verwendet werden, wenn der Sprecher sich kritisch oder gar abfällig über diese äußert (6): (5)

Is se weg? Was wollt se dann?

(P 9:12 MIN; Hervorhebungen D.G.)

(6)

Saa moo, schnitzt die denne Abbelkuche!? (S 21:25 MIN; Hervorhebungen D.G.)

Wenn also das feminine Genus in (6), wenn Heinz Becker sich über die Bedienung und die lange Wartezeit in einem Café beschwert, sich nicht mit der Kategorie Respekt erklären lässt, wirft dies die Frage auf, warum trotzdem auch hier nicht das Neutrum verwendet wurde. Als Erklärung bietet sich der Parameter Vertrautheit an, auf den das neutrale Genus in Bezug auf weibliche Personen ja, wie bereits erwähnt, verweist. Vertrautheit will der Sprecher aber sowohl in der wertenden als auch in der nicht-wertenden Variante verneinen. Der Gebrauch des femininen Genus scheint demnach in beiden Fällen eher Ausdruck der Fremdheit der Referentin als Ausdruck der emotionalen Einstellung6 des Sprechers zu ihr zu 6

Dass die emotionale Einstellung aber, wie DÖHMER (2013, 28) festgestellt hat, auch eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für oder gegen neutrales Genus spielt, wird an späterer Stelle noch näher beleuchtet.

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sein. Es lässt sich also für die Wahl des Genus in Bezug auf weibliche Personen eine grobe Zuordnung treffen: neutrales Genus zeugt im Allgemeinen von Vertrautheit, feminines von Respekt oder Fremdheit. Für detaillierte Aussagen ist im Folgenden ein Blick auf die Fälle, in denen auf eine bestimmte Frau unterschiedlich referiert wird, nötig. 2.2.2

Variation des Genus in Bezug auf weibliche Personen

Es ist im Saarländischen wie auch im Luxemburgischen grundsätzlich möglich, das Genus bei der Referenz auf ein und dieselbe Frau zu variieren (vgl. NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013, 165). Beispiele für dieses Phänomen liefert auch das ausgewertete Material. So verwendet bspw. der Sohn der Familie Becker, wenn er im Laufe der Serie mit seinen Eltern über seine diversen Freundinnen spricht, mal den neutralen (7a), mal den femininen Artikel (7b): (7)

a. b.

[…] isch gen ganz normal mit em Miriam e bissje ford. Die Miriam kennsche joo schonn. (H 6:42 MIN; 8:39 MIN; Hervorhebungen D.G.)

Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn Heinz Becker über seine Frau spricht (8): (8)

a. b.

Nä, es Hilde is in Kur. Nä, nä, sie war e paar Moo beim Arzt unn dann hat der gesaad, er find, das wär fier sie es Beschde. (P 11:00 MIN; 4:44 MIN; Hervorhebungen D.G.)

Unabhängig vom Alter der Referentin wird also das Genus variiert. Dass in (7) sogar der Artikel ausgetauscht wird, dürfte laut NÜBLING (2015, 172) eigentlich nicht vorkommen. Sie geht für den „Central German dialect of Saarbrücken“ davon aus, dass die vormals freie Wahl zwischen neutralem und femininem Genus in Bezug auf den Artikel eine „(re-)grammaticalisation“ erfahren hat, sodass bei weiblichen Vornamen der neutrale Artikel nun zwingend ist (NÜBLING 2015, 172). Bei Pronomen besteht dagegen NÜBLING / BUSLEY / DRENDA (2013, 186) zufolge die Möglichkeit, dass sie sich „gegen das Artikelgenus stellen, das heißt einen pragmatischen Mehrwert transportieren.“ Dennoch scheint die Verwendung des femininen Artikels in Kombination mit dem Rufnamen zumindest nicht ganz unmöglich zu sein. Die Position, die der Sprecher in (7) zur Referentin einnimmt, ändert sich dabei nicht. Gleiches gilt für (8): Heinz Becker ist z. B. in (8b) weder wütend auf seine Frau, noch will er ihr gegenüber eine besondere Höflichkeit ausdrücken. Allerdings spielt nicht nur die Beziehung zwischen Sprecher und Referent eine Rolle, sondern auch die zwischen Hörer und Referent (vgl. DÖHMER 2016, 30–31). Ist der Referent dem Hörer unbekannt, lässt sich seitens des Sprechers eine Tendenz zum Gebrauch des femininen Genus festmachen, da er die

Das neutrale Genus bei weiblichen Personen im Saarländischen

287

fehlende Vertrautheit zwischen Hörer und Referent berücksichtigt (vgl. DÖHMER 2016, 30–31). In (7a) ist Miriam abwesend. Ihr Freund verwendet ihren Namen mit neutralem Artikel, wenn er seinen Eltern mitteilt, dass er mit ihr ausgeht. Er drückt auf diese Weise aus, dass er voraussetzt, dass seine Eltern wissen, wer Miriam ist. In (7b) ist Miriam anwesend; ihr Freund gebraucht nun den femininen Artikel für ihren Namen, um dem weniger vertrauten Verhältnis zwischen seinem Vater und ihr Rechnung zu tragen und eine gewisse Distanz zwischen ihnen zu wahren.7 Mit (8a) und (8b) verhält es sich ähnlich; es kommt aber noch hinzu, dass der Hörer in (8a) Heinz Beckers Frau bei ihrem Vornamen Hilde kennt, die Hörerin in (8b) sie dagegen siezt. Es lassen sich jedoch auch Situationen festmachen, in denen sich die unterschiedliche Referenz nicht mit der Beziehung zwischen Hörer und Referent erklären lässt (9): (9)

a. b.

Unn dann han ich zum Anni gesaad: Beim Hausball gen ich als Kermit. Das Koschdüm is von ihrem Bruder. Unn immer was der ned anziehe will, das muss ich dann anziehe. (H 10:55 MIN; 12:00 MIN; Hervorhebungen D.G.)

Beide Male sind Sprecher, Hörer und Referentin dieselben. In (9b) zeigt sich der Sprecher allerdings genervt von Anni, seiner Frau, weil er diese für die Wahl seines unbequemen Fastnachtskostüms verantwortlich macht. Bevor auf eine Begründung für den Unterschied im verwendeten Genus eingegangen wird, soll zunächst ein weiteres aufschlussreiches Beispiel betrachtet werden. Es handelt sich um einen Dialog, den ein Bekannter Heinz Beckers mit ihm führt (10): (10)

-

Wer is’n das? Isch wääs ned, isch han die noch nie gesiehn. Ei nä, die Dornfelder! Wääsch du, wo früher die ald Poschd war? […] Doo schrääsch gescheiwwer die Drogerie, die han die gehat. - Ach, es gifdisch Maria! […] Hat die ned doomools ihr Mann… (P 12:18 MIN; Hervorhebungen D.G.)

Der Bekannte erkundigt sich, wer die Dornfelder sei; sobald ihm klar wird, dass es sich bei ihr um eine Frau handelt, die er kennt, wechselt er bei der Referenz auf sie vom Nach- zum Vornamen (Maria) und vom femininen (die) zum neutralen Genus (es) – ein weiteres Indiz dafür, dass weibliche Vornamen im Normalfall mit dem Neutrum korrelieren. Interessant ist aber vor allem, dass er im darauffol7

Die Befunde sind hier allerdings nicht eindeutig: einmal verwendet der Sohn der Familie auch in Abwesenheit seiner Freundin Miriam den Artikel die (H 8:20 MIN), von einer anderen Freundin spricht er im Beisein von ihr und seinen Eltern als es Charlotte (z. B. S 24:37 MIN).

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genden Satz doch wieder das feminine Pronomen benutzt. Eigentlich wäre an dieser Stelle die pronominale Wiederaufnahme des Namens Maria mit das angebracht. Das „Prinzip der linearen Distanz“ fordert, dass bei geringer Entfernung zwischen einem Substantiv (in diesem Fall einem Namen) und einem koreferenten Pronomen diese grammatisch kongruent sein müssen (NÜBLING / BUSLEY / DRENDA 2013, 156). Dennoch wählt der Sprecher in Bezug auf die Referentin, die ihm offenbar unsympathisch ist (er bezeichnet sie als gifdisch ‘giftig’), das feminine Genus. Dies ist durchaus mit der Vorstellung vom femininen Genus als Zeichen des Respekts vereinbar, zumindest wenn man den Begriff Respekt dahingehend ausweitet, dass er nicht mehr nur für Höflichkeit und Ehrerbietung, sondern für eine „grammatikalisierte[n] Distanzfunktion“ steht (DÖHMER 2016, 26). Der Sprecher distanziert sich hier also von der Frau, die er gifdisch Maria nennt, indem er auf das mit Vertrauen konnotierte neutrale Genus verzichtet. Die Genuszuweisung in (9b) erfolgt mit großer Wahrscheinlichkeit nach demselben Prinzip. Die beiden genannten Beispiele sind nicht die einzigen dieser Art. Unter den analysierten Daten finden sich zahlreiche weitere Belege dafür, dass in Bezug auf eine Person, die vom Sprecher geduzt und mit Vornamen angeredet wird, je nach Kontext das feminine Genus verwendet wird, so auch (11): (11)

a. b.

Kennschde eigentlich das Biggi doo schonn lang? Saa moo, was bild dann die sich in? (G 20:40 MIN; 22:03 MIN; Hervorhebungen D.G.)

Die Referentin in (11) ist Biggi. Sie ist eine Bekannte des Sohnes der Familie Becker und bekommt von seiner Mutter den Artikel das zugewiesen, da sie deutlich jünger als diese ist. Nachdem sie aber im Hause Becker einen Wutanfall bekommen hat und aus der Tür gestürmt ist, bezeichnet Frau Becker sie als die. Dass dieser Wechsel dadurch zu erklären ist, dass sich Pronomen mit deiktischer Referenz „einzig auf den Sexus des menschlichen Verweisobjekts beziehen“ (CHRISTEN 1998, 269), ist unwahrscheinlich, schließlich kennt das Saarländische, wie unter 2.1 bereits gezeigt, mit äs ein Pronomen, dass die neutrale Referenz auch bei deiktischen Verweisen ermöglicht. Im Saarländischen wird die feminine Referenz auf eine mit Vornamen bekannte und geduzte weibliche Person also wie im Luxemburgischen zur bewussten „persönliche[n]/emotionale[n]“ Distanzierung von ihr genutzt (vgl. DÖHMER 2013, 28), entweder weil der Sprecher ihr Verhalten in einer bestimmten Situation nicht billigt (9b)/(11b) oder weil er generell eine Abneigung gegen sie hegt (10). Er demonstriert damit, dass die betreffende Person es aus seiner Sicht nicht wert ist, das mit Vertrautheit konnotierte neutrale Genus zugewiesen zu bekommen. Eine ähnliche Funktion des femininen Genus findet sich CHRISTEN (1998, 275) zufolge auch im Schweizerdeutschen: „das sexuskongruente feminine Genus kann bei weiblichen Personennamen sogar abwertende Konnotationen bekommen.“ Umgekehrt lässt sich der Gebrauch des neutralen Genus in Bezug auf fremde oder flüchtig bekannte Frauen, für den das ausgewertete Material zwar keine Belege

Das neutrale Genus bei weiblichen Personen im Saarländischen

289

liefert, der aber im Saarländischen durchaus vorkommen kann, als Anmaßung verstehen, ähnlich wie die Verwendung des Du (vgl. CHRISTEN 1998, 275). 3

FAZIT

Die Analyse hat gezeigt, dass das neutrale Genus im Saarländischen hauptsächlich durch die Verwendung des Vornamens ausgelöst wird. Dies führt dazu, dass das Neutrum mit Vertrautheit in Verbindung gebracht wird. Aus diesem Grund wird im formelleren Umgang mit fremden oder nur flüchtig bekannten Frauen der Gebrauch des femininen Genus deutlich bevorzugt. Das hängt nicht immer damit zusammen, dass der Sprecher besonders höflich sein will, sondern drückt lediglich die Distanz zwischen ihm und der Referentin aus, sei es sozial, emotional oder auf den Altersunterschied bezogen. In bestimmten Fällen ist es jedoch auch möglich, auf eine geduzte Person mit femininem bzw. auf eine gesiezte Person mit neutralem Genus zu referieren. Beides stellt eine Abweichung vom Normalfall dar und beides drückt in gleichem Maße Geringschätzung gegenüber der Referentin aus. Es kommt bei der Beantwortung der Frage, was das neutrale Genus bei der Referenz auf weibliche Personen über die Beziehung des Sprechers zur Referentin aussagt, demnach vor allem auf den Kontext an, in dem es gebraucht wird. Sicher ist, dass es keineswegs per se als respektlos gilt, auf eine Frau wie im eingangs zitierten Satz mit es Sarah zu referieren. Das Neutrum drückt ganz im Gegenteil Vertrautheit und Wertschätzung gegenüber der betreffenden Person aus. Erst wenn das neutrale Genus in Bezug auf eine Frau gebraucht wird, die nicht in einem vertrauten Verhältnis zum Sprecher steht, bekommt es eine abwertende Bedeutung, da es uminterpretiert und als Anmaßung verstanden wird. Auf der anderen Seite ist es auch möglich, Kritik an einer Frau, mit der man einen familiären Umgang pflegt, dadurch zu äußern, dass man bei der Referenz auf sie das feminine Genus verwendet und dadurch auf Distanz zu ihr geht. Die Möglichkeiten, durch die Verwendung des neutralen Genus die Beziehung zu einer weiblichen Person zu charakterisieren, sind im Saarländischen also vielfältig. Es bleibt zu hoffen, dass die Forschung zum neutralen Genus in Verbindung mit Frauennamen dem Saarländischen in Zukunft mehr Beachtung schenken wird, da es sich um ein Themenfeld mit viel Potenzial für weitere Untersuchungen handelt.

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LITERATUR Primärquellen Familie Heinz Becker. Staffel 2. SERAFINI, MARCO (Regie). DE 1992/1993. Familie Heinz Becker. Staffel 3. SERAFINI, MARCO (Regie). DE 1994. Familie Heinz Becker. Staffel 4. BERGMANN, RUDI / GERD DUDENHÖFFER (Regie). DE 1995. Familie Heinz Becker. Staffel 5. BERGMANN, RUDI / GERD DUDENHÖFFER (Regie). DE 1998.

Sekundärliteratur CHRISTEN, HELEN (1998): Die Mutti oder das Mutti, die Rita oder das Rita? Über Besonderheiten der Genuszuweisung bei Personen- und Verwandschaftsnamen in schweizerdeutschen Dialekten. In: SCHNYDER, ANDRÉ / KARL-ERNST GEITH (Hg.): Ist mir getroumet mîn leben? Vom Träumen und vom Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag. Göppingen: Kümmerle (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 632), 267–281. DÖHMER, CAROLINE (2016): Formenbestand und strukturelle Asymmetrien der Personalpronomen im Luxemburgischen. In: SPEYER, AUGUSTIN / PHILIPP RAUTH (Hg.): Syntax aus Saarbrücker Sicht 1. Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax. Stuttgart: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 165), 15–38. EISENBERG, PETER (2013): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 2. Der Satz. 4. aktual. und überarb. Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler. NÜBLING, DAMARIS / SIMONE BUSLEY / JULIANE DRENDA (2013): Dat Anna und s Eva: Neutrale Frauenrufnamen in deutschen Dialekten und im Luxemburgischen zwischen pragmatischer und semantischer Genuszuweisung. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 80 (2), 152–196. NÜBLING, DAMARIS (2015): Between feminine and neuter, between semantic and pragmatic gender: Hybrid names in German dialects and in Luxembourgish. In: FLEISCHER, JÜRG / ELISABETH RIEKEN / PAUL WIDMER (eds.): Agreement from a Diachronic Perspective. Berlin/Boston: de Gruyter (Trends in Linguistics. Studies and Monographs. 287) [E-Book], 167– 187. STEITZ, LOTHAR (1981): Grammatik der Saarbrücker Mundart. Saarbrücken: Saarbrücker Druckerei und Verlag (Beiträge zur Sprache im Saarland. 2)

DIE GRAMMATIKALISIERUNG VON GEBEN IM RHEINFRÄNKISCHEN UND MOSELFRÄNKISCHEN AM BEISPIEL ZWEIER MUNDARTLICHER ZEITUNGSKOLUMNEN Sabeth Offergeld 1

EINLEITUNG

Ein wichtiges Identifikationsmerkmal für einen Saarländer ist sein Dialekt. In der Linguistik wird hierbei zwischen Rheinfränkisch im Südosten des Bundeslandes und Moselfränkisch im Nordwesten differenziert,1 deren Hauptunterscheidungsmerkmal durch die dat/das-Linie gegeben ist.2 Eine Besonderheit dieser beiden Dialekte ist die Grammatikalisierung des Vollverbs geben. Hierbei benutzen Dialektsprecher neben der im Standarddeutschen üblichen Konstruktion als Existenzverb es gibt zusätzlich drei spezielle Formen: die geben-Kopula (Abb. 1, d), geben als Passivauxiliar (Abb. 1, e) und im Luxemburgischen sogar als Konjunktivauxiliar (Abb. 1, f). Diese geben-Varianten sind Ergebnisse von Grammatikalisierungsprozessen und in keiner anderen germanischen Sprache zu finden (vgl. LENZ 2007, 53). Sie markieren deshalb einen besonders deutlichen Unterschied zur Standardsprache und verdienen besondere Aufmerksamkeit in einer Zeit, in der der Dialekt auch im rhein- und moselfränkischen Raum unter anderem durch Massenmedien und Internet praktisch permanent unter standardsprachlichem Einfluss steht. Auch die zur Analyse ausgewählten Textbeispiele sind gewissermaßen Dialektinseln in einem standardsprachlichen Umfeld. Es handelt sich um zwei regelmäßig erscheinende mundartliche Zeitungskolumnen aus dem Rheinfränkischen („Die Atzel“, HORST LANG), und dem Moselfränkischen („Hall dich kurrasch!“, KARIN PETER), bei denen im Folgenden untersucht werden soll, wie weit geben grammatikalisiert ist, und inwieweit sich die Grammatikalisierung in den beiden Dialekten unterscheidet. Dafür werden die Kolumnen analysiert: Hierbei werden die grammatikalisierten geben-Varianten erfasst, ausgezählt und die Ergebnisse zum Schluss verglichen. 1 2

In dieser Arbeit wird der Dialekteinteilung nach WIESINGER (1983) gefolgt. Danach liegt St. Ingbert (Dialekt von „Die Atzel“) im rheinfränkischen Übergangsgebiet, Saarlouis (Dialekt von „Hall dich kurrasch!“) im moselfränkischen Übergangsgebiet. Weitere Unterschiede zeigen sich beispielsweise bei den Vokalen: aus e und a entwickeln sich im Moselfränkischen die offenen Vokale /ɛː/ und /ɔː/, im Rheinfränkischen die geschlossenen Vokale /eː/ und /oː/. Im konsonantischen Bereich wird b im Moselfränkischen außerdem nach /r/, /l/ auf Höhe der dat/das-Linie, und etwas weiter westlich nach Vokalen zu /f/ verschoben (vgl. WIESINGER 1983, 848).

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Der Analyse vorangestellt wird ein Überblick über die aktuelle Forschungslage zur Grammatikalisierung von geben im Deutschen und in anderen deutschen Sprachgebieten. Daraufhin wird die eigene Forschungsmethode erläutert, anschließend erfolgt die Analyse der Texte, und zum Schluss werden die Ergebnisse zusammengefasst. 2

DIE GRAMMATIKALISIERUNG VON GEBEN: ZUM FORSCHUNGSSTAND

Zu dem speziellen Thema der Grammatikalisierung von geben gibt es vor allem Literatur zum Luxemburgischen ginn, einige Texte beschäftigen sich aber auch mit dem Phänomen in mehreren Sprachgebieten. Am einschlägigsten ist der sehr detaillierte Aufsatz zur Grammatikalisierung von geben von LENZ (2007). Sie versucht die Grammatikalisierungskanäle, die zu den verschiedenen Varianten des Verbs geben führen, nachzuzeichnen und erläutert, in welchen Regionen die grammatikalisierte Verwendung von geben zu finden ist. So existiert geben als Funktionsverb, perfektives (präfigiertes) Verb und als Existenzverb im Standarddeutschen, die Variante als Kopula (werden) und Passivauxiliar (werden) sind dagegen auf regionalsprachliche Varietäten beschränkt. Allein im Luxemburgischen nimmt geben die Funktion des Konjunktivauxiliars (würde) ein: BEISPIEL a. Er gibt eine Bestellung in Auftrag. b. Das ergibt eine hohe Summe. c. Es gibt einen Gott. d. Er gibt ein guter Lehrer. / Er gibt alt. e. Er gibt geschlagen. f. Er gäbe schwimmen.

FUNKTION Funktionsverb Perfektives (präfigiertes) Verb Existenzverb Kopula (‘werden’) Passivauxiliar (‘werden’) Konjunktivauxiliar (‘würde’)

Abb. 1: Grammatikalisierte geben-Varianten in deutschen und lëtzebuergischen Varietäten (LENZ 2007, Abb. 1, 53)

Außerdem stellt sie fest, dass das geben-Passivauxiliar die geben-Kopula impliziert, das heißt das Gebiet des Passivauxiliars liegt bis auf zwei Ortspunkte vollständig im Areal der geben-Kopula (vgl. LENZ 2007, 59). Daraus folgt nach LENZ in Hinblick auf diese Arbeit, die sich auf das Rhein- und Moselfränkische beschränkt:

Die Grammatikalisierung von geben im Rhein- und Moselfränkischen

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a. Standardsprache: b. Rheinfränkisch:

- Existenzverb es gibt (ingressiv + generisch) - Existenzverb es gibt (ingressiv + generisch) - Kopula + Nominalphrase (Kopula + NP) c. Westmoselfränkisch: - Existenzverb es gibt (ingressiv + generisch) - Kopula + NP - Kopula + Adjektivphrase (Kopula + AdjP) - Passivauxiliar Abb. 2: Grammatikalisierte geben-Varianten in der Standardsprache, im Rheinfränkischen und Westmoselfränkischen (vgl. LENZ 2007, Abb. 10, 63)

Diese Bestandsaufnahme muss aber ergänzt werden, da schon STEITZ (1981) in seiner Saarbrücker Dialektgrammatik (Saarbrücken ist klar dem rheinfränkischen Dialektraum zuzuordnen) eindeutig geben auch die Funktion als Passivauxiliar zuschreibt, wobei das Passiv wahlweise mit geben und werden gebildet werden kann, geben aber das geläufigere der beiden ist. Für die Verwendung von geben als Passivauxiliar liefert auch die Analyse der rheinfränkischen „Atzel“ zahlreiche Belege. Die LENZ’sche Übersicht ist insofern um einen wichtigen Grammatikalisierungsschritt zu vervollständigen. BELLMANN (1998) beschäftigte sich vor allem mit der Entstehung der Grammatikalisierung von geben sowie ihrer Verbreitung und untersucht und interpretiert dafür bereits vorhandenes Karten- und Befragungsmaterial. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass für die Herausbildung des geben-Passivs im Moselfränkischen der Zeitraum zwischen alter und jüngerer Abwanderung der Banater und riograndenser Hunsrückern (ab etwa 1824; vgl. ALTENHOFEN 1996, 57) in Frage kommt (vgl. BELLMANN 1998, 246). Der Ursprung von geben als Hilfsverb der Passivperiphrase könnte nach BELLMANN durch den Sprachkontakt, etwa mit dem Französischen, entstanden sein (vgl. BELLMANN 1998, 251). Diese Auxiliarisierung erfordert aber sprachinterne Voraussetzungen. So ist ein wichtiger Punkt, dass das Verb im weitesten Sinne ein Bewegungsverb war, ingressiv/inchoativ ist oder war, deiktisches Richtungsverb und intransitiv ist. Des Weiteren stellt BELLMANN fest, dass es einen Unterschied im westlichen und östlichen Verwendungsbereich von geben als Hilfsverb gibt. Im Westen, grob dem moselfränkischen Dialektgebiet entsprechend, ist die Grammatikalisierung konsequent durchgeführt worden, während sie im östlichen Areal, das in etwa dem rheinfränkischen Sprachraum entspricht, auf einer geringeren Ausbaustufe stehen geblieben ist (vgl. BELLMANN 1998, 263).3 Einen ähnlichen Weg geht NÜBLING (2006). Sie dehnt ihre synchrone und diachrone Untersuchung auf vier Passivauxiliare in der deutschen Standardsprache und Dialekten, im Schwedischen und im Luxemburgischen aus, um damit die 3

Vgl. die Isoglossen bei BELLMANN (1998, Abb. 1, 255 sowie Abb. 3a, b, 260). Die Trennungslinie der Grammatikalisierung von geben verläuft laut ihm etwas westlich der dat/dasIsoglosse, in etwa entlang einer Linie Saarbrücken-Mayen. Als deutlichen Beleg für die Grammatikalisierung verweist BELLMANN auch auf die Perfektbildung: Im Westen wird geben mit sein konstruiert, im Osten mit haben.

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komplizierte geben-Auxiliarisierung zu erklären. Als Areal des geben-Passivs legt Nübling das Luxemburgische, Südwestmoselfränkische sowie Teile des Rheinfränkischen und Lothringischen fest. Außerdem schließt sie sich der Ansicht von BELLMANN (1998) an, dass die geographische Verbreitung von geben als Kopula relativ deckungsgleich ist mit der von geben als Passivauxiliar. Die Grammatikalisierungskanäle legt sie als vom Vollverb zur Inchoativkopula, von der Inchoativkopula zum Passivauxiliar fest. Damit geht NÜBLING insgesamt einen ähnlichen Weg wie LENZ (2007):

Abb. 3: Grammatikalisierungskanäle (LENZ 2007, Abb. 15, 71)

GIRNTH (2000) bestätigt in seinen Untersuchungen zur Theorie der Grammatikalisierung ebenfalls größtenteils die Ergebnisse von BELLMANN (1998). Er stellt außerdem die These auf, dass die Verbsemantik von geben „die kommunikative Funktion des unausgedrückten Agens“ stärkt, denn geben bezeichnet die Zustandsveränderung des Besitzwechsels aus der Perspektive des alten Besitzers und bewahrt somit die „semantischen Merkmale des Vollverbs und kann auf diese Weise seine grammatische Funktion entfalten“ (GIRNTH 2000, 144–145). GAETA (2005) untersucht in seinem Aufsatz hingegen speziell den Passivtyp des Luxemburgischen ginn. Seiner Ansicht nach kreuzte geben in seiner Entwicklung das Gleis des bereits grammatikalisierten werden und entwickelte sich so aus seiner fientiven (auf das Werden bezogenen) Bedeutung zur inaktiven Kopula. Nach LEHMANN (1995) gehen die Grammatikalisierungsprozesse mit Veränderungen auf formaler und semantisch-pragmatischer Seite der sich im Wandel befindenden sprachlichen Elemente einher. Im Moselfränkischen kann man zum Beispiel Prozesse starker phonologischer Reduktion und der Irregularisierung feststellen; geben gehört hier zu den kontrahierten Verben. Aus den verschiedenen Forschungsmeinungen ergibt sich nun ein relativ klares Bild der Grammatikalisierung von geben. So konnte sich das Vollverb zunächst auf Basis gegebener sprachinterner Voraussetzungen in seiner Bedeutung wandeln, womöglich durch Einflüsse anderer Sprachen. Dadurch wurde es vielfältig einsetzbar und konnte in neuen Zusammenhängen gebraucht werden, wodurch es immer mehr an seiner ursprünglichen Bedeutung verlor. Am Ende der verschiedenen Grammatikalisierungskanäle steht eine grammatische Bedeutung von geben, die sich aber unterschiedlich weit ausbreitete. So ist das Phänomen heute vor allem im Südwesten Deutschlands links

Die Grammatikalisierung von geben im Rhein- und Moselfränkischen

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des Rheines und in Luxemburg zu finden und variiert in seiner Ausprägung weiter von Dialekt zu Dialekt. Während es im Rheinfränkischen und Moselfränkischen auf die Existenzverb-, Kopulaverb- und Passivauxiliar-Varianten beschränkt ist, erreicht es im Luxemburgischen einen Status als voll grammatikalisierte Kopula in allen Tempora und Modi sowie als voll ausgebautes Passiv- und sogar Konjunktivauxiliar. In der anschließenden Analyse der zwei Texte soll untersucht werden, wie weit geben speziell in den Dialekten aus St. Ingbert (Rheinfränkisch) und Saarlouis (Moselfränkisch) grammatikalisiert ist und wo die Unterschiede liegen. Dabei wird der Fokus auf die Varianten von geben als Existenzverb, Kopulaverb und Passivauxiliar gelegt.4 3

ANALYSE DER TEXTE

Für das Rheinfränkische wird die Mundart-Kolumne „Die Atzel – Aufgepickt“, von HORST LANG zu Rate gezogen. Sie erschien von 2003 bis 2010 wöchentlich in der St. Ingberter Ausgabe der Saarbrücker Zeitung. „Hall dich kurrasch!: amüsante Geschichten in Saarlouiser Moselfränkisch“ von KARIN PETER, soll das Moselfränkische repräsentieren. Die Kolumne erschien von 2005 bis 2014 ebenfalls in der Saarbrücker Zeitung. Sowohl St. Ingbert als auch Saarlouis liegen räumlich relativ nah an den Trennlinien zwischen rhein- und moselfränkischem Dialektgebiet und insofern innerhalb eines Übergangsraumes, in dem mit wechselseitigen Einflüssen zu rechnen ist. Saarlouis ist allerdings explizit als eine „Festung“ des moselfränkischen Dialekts bezeichnet worden, die sich erfolgreich gegen die Einflüsse des Saarbrücker Raumes behauptet (vgl. RAMGE 1982, 49–150). In der Analyse werden die ersten 50 Kolumnen der „Atzel“ untersucht, was einem Textumfang von 50 Seiten entspricht. Um einen guten Vergleich herstellen zu können, werden auch bei „Hall dich kurrasch!“ die ersten 50 Seiten (hier werden nur die rechten Seiten der Doppelseiten betrachtet, da hier die Kolumnen in der Mundart abgedruckt sind, auf der linken Seite befindet sich eine standarddeutsche Übersetzung) untersucht, das entspricht den ersten 29 Kolumnen (ohne die Kolumne „Ohné Schdroom“). Dabei wurde so vorgegangen, dass zuerst die Kolumnen nach den einzelnen geben-Varianten durchgesehen und diese dann notiert wurden. Anschließend wurde eine Variante nach der anderen untersucht, ob beispielsweise irgendwelche Besonderheiten in der Verwendung auffallen; diese werden dann mit der Standardsprache und dem entsprechend anderen Dialekt verglichen. Zum Abschluss jeder Variante wird ein kleines Resümee gezogen. 4

Auf eine Untersuchung der Verwendung von geben als Konjunktivauxiliar wird an dieser Stelle verzichtet, im analysierten Textcorpus sprechen einige Belege für den Gebrauch dieser Grammatikalisierungsvariante im Mosel- und Rheinfränkischen, während die Forschung dies bisher ausschließlich für das Luxemburgische annimmt. Die Frage verdiente eine nähere Untersuchung auf umfangreicherer Textgrundlage.

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Existenzverb Kopula

Passivauxiliar

Rhfrk.

Mosfrk.

gesamt

39

11

50 32

werdenKopula 13

werdenPassiv 19

gebenKopula 8 +AdjP +NP 7 1 geben-Passiv 16

werdenKopula 0

werdenPassiv 0

gebenKopula 11 +AdjP +NP 7 4 geben-Passiv

56

21

Tab. 1: Ergebnisse der Auswertung

Der Ausführung der einzelnen Unterkapitel wird nun das Ergebnis der Auswertung in tabellarischer Form vorangestellt, grau unterlegt der Nachweis des gebenPassivs im Rheinfränkischen. 3.1

geben als Existenzverb

Zunächst wird nun die geben-Variante als Existenzverb in „Die Atzel“ analysiert. Mit 39 Zählungen bildet diese Variante die häufigste, was aber nicht unbedingt verwunderlich ist, da die Existenz-Konstruktion auch in der Standardsprache gängig ist. In den untersuchten Sätzen sind allerdings nur generische es gibt-Konstruktionen zu finden, keine ingressiven. (1)

… dass es midde in der Palz e Ortsdääl gebbd. ‘… dass es mitten in der Pfalz einen Ortsteil gibt.’

Wie in der Standardsprache auch, existiert die es gibt-Konstruktion in allen Tempora und Modi. (2)

Es hadd joo aach Zeide gebb [...] . ‘Es hat ja auch Zeiten gegeben [...].’

(3)

Es gääbd nix meh se feiere [...]. ‘es gäbe nichts mehr zu feiern [...].’

(4)

… obs intelligendes Lääwe uff annere Planete gääb. ‘… ob es intelligentes Leben auf anderen Planeten gäbe.’

(5)

Es gääb ball in Dengmerd so [...] e Breedche-Taste. ‘Es gäbe bald in St. Ingbert so [...] eine Brötchen-Taste.’

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(6)

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Es gääbt bei uns kää richische Windere meh. ‘Es gäbe bei uns keine richtigen Winter mehr.’

In „Hall dich kurrasch!“ kann die es gibt-Konstruktion nur elfmal gefunden werden. Im Gegensatz zum Rheinfränkischen Text können hier sowohl die generische (7) als auch die ingressive (8) Variante festgestellt werden: (7)

Das géffdet doch nét! ‘Das gibt es doch nicht!’

(8)

Óff äämòò géffdet Zuuchlóft. ‘Auf einmal gibt es Zugluft.’

Wie in „Die Atzel“ ist die es gibt-Konstruktion in allen Tempora und Modi zu finden: (9)

Dò hoddet der Émmermied génn. ‘Da hatte es den Immermüden gegeben.’

(10)

… daddet dat nääkscht Jòhr aach vill Kirsch géfft! ‘dass es das nächste Jahr auch viel Kirschen gibt!’

(11)

[...] dò gääwet nuur zwaai Mijjelichkätten [...] ‘[...] da gäbe es nur zwei Möglichkeiten [...]’

Besondere dialektale Abweichungen von der Standardsprache lassen sich in beiden Texten nicht feststellen, auch im Vergleich untereinander zeigen die beiden Dialekte in ihrer Verwendung der Existenzkonstruktion praktisch keinen Unterschied. 3.2

geben als Kopula

Eine Kopula mit geben, statt standardsprachlich werden, kann in „Die Atzel“ achtmal festgestellt werden. Im Gegensatz zu den Ergebnissen von LENZ (2007, 63) gibt es eindeutig Kopula-Adjektiv-Verknüpfungen (Kopula + AdjP): (12)

Der Luftraum hie owwe gebbd langsam e bissje eng. ‘Der Luftraum hier oben gibt (= wird) langsam ein bisschen eng.’

(13)

Unser Stadt soll scheener genn. ‘Unsere Stadt soll schöner geben (= werden).’

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Insgesamt können sieben Kopula + AdjP gezählt werden und lediglich eine Kopula-Nomen-Verknüpfung (Kopula + NP): (14)

Do gebbd mer ander Thek schnell zum edle Spender [...]. ‘Da gibt (= wird) man an der Theke schnell zum edlen Spender [...].’

Auffällig bei den Kopula + AdjP ist, dass sie alle einen Zukunftsbezug aufweisen, also ingressiv sind. Wie oben bereits erwähnt, dienen sowohl geben als auch werden als Passivauxiliar. Gleiches kann auch für die Kopula festgestellt werden. So ist die werden-Kopula sogar häufiger, nämlich 13mal im Text zu finden. Zum Beispiel taucht werden in der Verbindung älter werden dreimal auf. (15)

[...] mir werre all älder. ‘[...] wir werden alle älter.’

(16)

[...] dass mer schunn widder e ganzes Johr älder worr is. ‘[...] dass man schon wieder ein ganzes Jahr älter geworden ist.’

(17)

[...] wammer älder wird. ‘[...] wenn man älter wird.’

Eine ingressive Bedeutung kann den meisten werden-Kopulas auch zugewiesen werden. (18)

Unser Saarland soll e richdischi Golf-Reeschion werre. ‘Unser Saarland soll eine richtige Golf-Region werden.’

(19)

Das se all mool scheen groß unn kerzegraad werre. ‘Dass sie alle mal schön groß und kerzengerade werden.’

Es kann also festgehalten werden, dass erwartungsgemäß beide Kopulavarianten vorkommen. Dabei ist die der standardsprachlichen Form entsprechende Variante mit werden mit 13 Beispielen häufiger vertreten als die geben-Kopula (acht Beispiele), was als Beleg für die in der Literatur vertretene Position zur unvollständigen, gewissermaßen „stehengebliebenen“ Grammatikalisierung von geben im Rheinfränkischen gewertet werden kann. Ein klares Muster, in welchen Fällen welche Variante gewählt wird, ist dabei nicht erkennbar. Gegebenenfalls könnte hier von weiteren, umfangreicheren Arbeiten mehr Aufschluss erwartet werden. Mit elf Zählungen tritt die geben-Kopula in „Hall dich kurrasch!“ etwas häufiger auf als im rheinfränkischen Text. Hier fällt besonders die Redewendung „es wird Zeit“ ins Auge, die gleich viermal vorkommt: (20)

Et géfft Zeit. ‘Es gibt (= wird) Zeit.’

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(21)

Et géfft de allerheegscht Zeit. ‘Es gibt (= wird) die allerhöchste Zeit.’

(22)

Et géfft die heeegsch Zeit. (zweimal in der Form) ‘Es gibt (= wird) die höchste Zeit.’

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Daraus kann man schließen, dass auch feste Redewendungen nicht von Veränderung durch den Dialekt ausgenommen sind. Auch in dieser Kolumne gibt es mehr Kopula + AdjP, nämlich sieben, dem gegenüber stehen vier Kopula + NP. Im Gegensatz zum eingangs untersuchten rheinfränkischen Text werden im moselfränkischen Beispiel Altersangaben konsequent mit geben gebildet: (23)

[...] wammer äller géfft. ‘[...] wenn man älter gibt (= wird)’

(24)

[...] wó er ball dreißisch géfft. ‘wo er bald dreißig gibt (= wird).’

In Bezug auf die ingressive Bedeutung der geben-Kopula sind die beiden Dialekttexte gleich. (25)

Wat éset doch e schee Fraaiché génn! ‘Was ist es doch ein schönes Frauchen gegeben (= geworden).’

(26)

Alles móss noch fescht genn. ‘Alles muss noch fest geben (= werden).’

(27)

Ich génn nerwees. ‘Ich gebe (= werde) nervös.’

Zur Kopulafunktion kann abschließend festgehalten werden, dass im Rheinfränkischen die Kopula sowohl mit geben als auch mit werden gebildet werden kann, ein determinierender Faktor (wie zum Beispiel eine bestimmte Wortumgebung, Sprechintention oder Tempus) ist dabei nicht ersichtlich. Im Moselfränkischen ist die Grammatikalisierung vollständig durchgeführt, alle Kopulas werden mit geben gebildet. 3.3

geben als Passivauxiliar

Diese Grammatikalisierungsvariante verdient besondere Aufmerksamkeit, da sie bei LENZ (2007) für das Rheinfränkische in Abrede gestellt wurde. Mit 16 Beispielen ist das Passivauxiliar in „Die Atzel“ aber sogar häufiger zu finden als die geben-Kopula.

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(28)

Awwer nidd nur die Fassad gebbd renoviert. ‘Aber nicht nur die Fassade gibt (= wird) renoviert.’

(29)

[...] so gebbd gesaad. ‘[...] so gibt (= wird) gesagt.’

Ähnlich wie bei der geben-Kopula tritt auch hier parallel das standardsprachliche werden als Hilfsverb auf, insgesamt 19mal. Demnach ist also der Feststellung von STEITZ (1981) Recht zu geben, dass das Passiv im Rheinfränkischen wahlweise mit geben oder werden gebildet werden kann. Ob geben tatsächlich das geläufigere der beiden ist, kann aufgrund des begrenzten Umfangs des hier untersuchten Textkorpus nicht entschieden werden. Zur Bildung mit werden sind folgende Beispiele aufzuführen: (30)

Biecher werre aah gääre verschenkt. ‘Bücher werden auch gerne verschenkt.’

(31)

Es missde hald hie vill mehr Kinner in die Welt gesetzt werre. ‘Es müssten halt viel mehr Kinder in die Welt gesetzt werden.’

(32)

Iwwrischens iss aach Mussig gebodd woor. ‘Übrigens ist auch Musik geboten worden.’

In „Hall dich kurrasch!“ bildet das geben als Passivauxiliar die größte Gruppe der grammatikalisierten geben-Varianten: (33)

Vielleicht géffder jò mòòl é London gefròòt [...] ‘Vielleicht gibt (= wird) er ja mal in London gefragt [...]’

(34)

Ò wie er der näägschd Daach wach génn éss [...] ‘Und als er den nächsten Tag wach gegeben (= geworden) ist [...]’

Den größten Unterschied stellt aber das völlige Fehlen des Passivs mit werden dar. Während es im rheinfränkischen St. Ingberter Dialekt noch leicht häufiger gebraucht wurde als geben, tritt es im Saarlouiser Moselfränkisch gar nicht auf. Geben scheint in diesem Kontext also stärker grammatikalisiert zu sein als im rheinfränkischen Raum. 4

SCHLUSS

Bei der Analyse der rheinfränkischen und moselfränkischen Beispieltexten ist erkennbar geworden, dass sowohl im St. Ingberter als auch im Saarlouiser Dialekt eine Grammatikalisierung von geben vorhanden ist, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt.

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Dabei liegen im Bereich der Existenzkonstruktion es gibt lediglich quantitative Unterschiede vor (39 im Rheinfränkischen, elf im Moselfränkischen), was aber eher an der Gestaltung der Texte liegen dürfte als an dem Phänomen der Grammatikalisierung an sich. Bei geben als Kopulaverb lassen sich schon größere Differenzen erkennen. So dominiert im Moselfränkischen im Zuge einer konsequenten Grammatikalisierung vollständig die geben-Kopula, während im Rheinfränkischen auch die Variante mit werden gebildet werden kann, was sogar der häufigere Fall ist. Allerdings ist im Rheinfränkischen – ausweislich des hier untersuchten Textkorpus – das Funktionssystem insofern vollständig ausgebildet, als neben der grammatikalisierten Verbindung von geben mit Nominalphrase auch die Verbindung mit einer Adjektivphrase auftritt und sogar die daraus resultierende Verwendung als Passivauxiliar festgestellt werden kann. Dies ist zwar nur in begrenztem Umfang der Fall, weil das Passiv häufiger mit werden gebildet wird, dennoch sind die Befunde von LENZ (2007) in dieser Hinsicht definitiv zu ergänzen. Im Moselfränkischen wird hingegen ausschließlich geben als Passivauxiliar verwendet. Die gesammelten Befunde bestätigen somit die in der Literatur vertretene Auffassung, dass die Grammatikalisierung von geben im Moselfränkischen weitgehend abgeschlossen ist. Für das Rheinfränkische konnte zwar gegenüber der Darstellung bei LENZ (2007) eine Erweiterung der Grammatikalisierungsvarianten gezeigt werden, jedoch bestätigt die Häufigkeit der Belege eindeutig, dass die Grammatikalisierung hier nicht das selbe Ausmaß erreicht hat wie im Moselfränkischen. Geben und werden treten in der Kopula- und Passivverbindung in häufigem Wechsel auf, für eine Steuerung nach semantischen oder pragmatischen Kriterien konnte kein klares Muster beobachtet werden. In weiteren Arbeiten auf Basis umfangreicherer Textkorpora könnte dieser Fragestellung noch genauer nachgegangen werden. LITERATUR ALTENHOFEN, CLÉO VILSON (1996): Hunsrückisch in Rio Grande do Sul: ein Beitrag zur Beschreibung einer deutschbrasilianischer Dialektvarietät im Kontakt mit dem Portugiesischen. Stuttgart: Steiner. BELLMANN, GÜNTER (1998): Zur Passivperiphrase im Deutschen. Grammatikalisierung und Kontinuität. In: PETER, ERNST / FRANZ PATOCKA (Hg.): Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag. Wien: Edition Präsens, 241–269. GAETA, LIVIO (2005): Hilfsverben und Grammatikalisierung: Die fatale Attraktion von geben. In: LEUSCHNER, TORSTEN / TANJA MORTELMANS / SARAH DE GROODT (Hg.): Grammatikalisierung im Deutschen. Berlin: Walter de Gruyter, 193–209. GIRNTH, HEIKO (2000): Untersuchungen zur Theorie der Grammatikalisierung am Beispiel des Westmitteldeutschen. Tübingen: Niemeyer (Germanistische Linguistik. 223). LANG, HORST (2011): Die Atzel: Mundart-Kolumnen aus der Saarbrücker Zeitung 2003–2010. Sulzbach-Neuweiler: Bexx, Medien- und Verlagsgesellschaft.

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LEHMANN, CHRISTIAN (1995): Thoughts on Grammaticalization. Revised and expanded version. First published edition. München, Newcastle: Lincom Europa (Lincom Studies in Theoretical Linguistics. 01). LENZ, ALEXANDRA (2007): Zur Grammatikalisierung von geben im Deutschen und Lëtzebuergeschen. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 35 (1/2), 52–82. NÜBLING, DAMARIS (2006): Auf Umwegen zum Passivauxiliar – Die Grammatikalisierungspfade von GEBEN, WERDEN, KOMMEN und BLEIBEN im Luxemburgischen, Deutschen und Schwedischen. In: MOULIN, CLAUDINE / DAMARIS NÜBLING (Hg.): Perspektiven einer linguistischen Luxemburgistik. Studien zu Synchronie und Diachronie. Heidelberg: Winter, 171– 202. PETER, KARIN (2015): Hall dich kurrasch!: amüsante Geschichten in Saarlouiser Moselfränkisch. Wadgassen: Selbstverlag Karin Peter. RAMGE, HANS (1982): Dialektwandel im mittleren Saarland. Saarbücken: Institut für Landeskunde im Saarland (Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde im Saarland. 30). STEITZ, LOTHAR (1981): Grammatik der Saarbrücker Mundart. Saarbrücken: Saarbrücker Druckerei und Verlag. WIESINGER, PETER (1983): Die Einteilung der deutschen Dialekte. In: BESCH, WERNER / ULRICH KNOPP / WOLFGANG PUTSCHKE / HERBERT ERNST WIEGAND (Hg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Halbbd. 2. Berlin/New York: Walter de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 1.2), 807–900.

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beihefte

In Verbindung mit Michael Elmentaler, Jürg Fleischer und Mark L. Louden herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0341–0838

155. Dominique Huck (Hg.) Alemannische Dialektologie: Dialekte im Kontakt Beiträge zur 17. Arbeitstagung für alemannische Dialektologie in Straßburg vom 26.–28.10.2011 2014. 300 S. mit 39 s/w- und 4 Farbabb., 29 Tab., 16 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-10343-5 156. Magnus Breder Birkenes Subtraktive Nominalmorphologie in den Dialekten des Deutschen Ein Beitrag zur Interaktion von Phonologie und Morphologie 2014. 256 S. mit 12 Abb. und 52 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10785-3 157. Thomas Krefeld / Elissa Pustka (Hg.) Perzeptive Linguistik: Phonetik, Semantik, Varietäten 2014. 216 S. mit 39 Abb. und 10 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10314-5 158. Michael Elmentaler / Markus Hundt / Jürgen Erich Schmidt (Hg.) Deutsche Dialekte. Konzepte, Probleme, Handlungsfelder Akten des 4. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) 2015. 516 S. mit 57 Abb. und 55 Tab., 40 Farbabb. auf 20 Tafeln, kt. ISBN 978-3-515-10984-0 159. Christian Schwarz Phonologischer Dialektwandel in den alemannischen Basisdialekten Südwestdeutschlands im 20. Jahrhundert Eine empirische Untersuchung zum Vokalismus 2015. 584 S. mit 213 s/w- und 14 Farbabb., 90 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10295-7

160. Simon Pröll Raumvariation zwischen Muster und Zufall Geostatistische Analysen am Beispiel des Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben 2015. 215 S. mit 78 s/w- und 22 Farbabb., 13 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11055-6 161. Ursula Stangel Form und Funktion der Reflexiva in österreichischen Varietäten des Bairischen 2015. 212 S. mit 27 Abb. und 28 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11002-0 162. Oscar Eckhardt Alemannisch im Churer Rheintal Von der lokalen Variante zum Regionaldialekt 2016. 424 S. mit zahlreichen s/w- und Farbabb., kt. ISBN 978-3-515-11264-2 163. Filippo Nereo The Dynamics of Language Obsolescence in a Divided Speech Community The Case of the German Wischau / Vyškov Enclave (Czech Republic) 2016. 145 S. mit 2 Abb. und 2 Graf., kt. ISBN 978-3-515-10102-8 164. Marlies Koch Geschichte der gesprochenen Sprache von Bayerisch-Schwaben Phonologische Untersuchungen mittels diatopisch orientierter Rekonstruktion 2016. 521 S. mit 63 s/w-Abb. und 137 Farbkarten, kt. ISBN 978-3-515-11401-1 165. Augustin Speyer / Philipp Rauth (Hg.) Syntax aus Saarbrücker Sicht 1 Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax 2016. 219 S. mit 15 Abb. und 50 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11445-5

166. Lars Bülow Sprachdynamik im Lichte der Evolutionstheorie – Für ein integratives Sprachwandelmodell 2017. 343 S. mit 13 Abb. und 6 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11531-5 167. Alexandra N. Lenz / Ludwig Maximilian Breuer / Tim Kallenborn / Peter Ernst / Manfred Michael Glauninger / Franz Patocka (Hg.) Bayerisch-österreichische Varietäten zu Beginn des 21. Jahrhunderts – Dynamik, Struktur, Funktion 12. Bayerisch-Österreichische Dialektologentagung 2017. 504 S. mit 86 Abb., 57 Tab., 9 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-11222-2 168. Brigitte Ganswindt Landschaftliches Hochdeutsch Rekonstruktion der oralen Prestigevarietät im ausgehenden 19. Jahrhundert 2017. 302 S. mit 3 s/w- und 3 Farbabb., 49 Tab., 24 s/w- und 22 Farbktn., kt. ISBN 978-3-515-11679-4 169. Andreas Lötscher Areale Diversität und Sprachwandel im Dialektwortschatz Untersuchungen anhand des Sprachatlas der deutschen Schweiz 2017. 378 S. mit 61 Abb. und 51 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-11687-9 170. Augustin Speyer / Philipp Rauth (Hg.) Syntax aus Saarbrücker Sicht 2 Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax 2018. 235 S. mit 17 Abb., 44 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11996-2 171. Helen Christen / Peter Gilles / Christoph Purschke (Hg.) Räume, Grenzen, Übergänge Akten des 5. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) 2017. 408 S. mit 56 s/w- und 41 Farbabb., 32 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11995-5 172. Gabriela Perrig Kasussynkretismus im Alemannischen Zum Zusammenfall von Nominativ und Akkusativ in der Schweiz und in den angrenzenden Dialektregionen 2018. 309 S. mit 6 s/w-Abb und 34 Farbkarten, 44 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12184-2

173. Susanne Oberholzer Zwischen Standarddeutsch und Dialekt Untersuchung zu Sprachgebrauch und Spracheinstellungen von Pfarrpersonen in der Deutschschweiz 2018. 484 S. mit 77 Abb. und 54 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12214-6 174. Mihaela Şandor Doppelte Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten 2018. 343 S. mit 7 Abb. und 36 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12226-9 175. Nicole Palliwoda Das Konzept „Mauer in den Köpfen“ Der Einfluss der Priming-Methode auf die Sprechprobenverortung und -bewertung 2019. 288 S. mit 65 Abb., 59 Tab. und 13 Diagr., kt. ISBN 978-3-515-12078-4 176. Tim Kallenborn Regionalsprachliche Syntax. Horizontal-vertikale Variation im Moselfränkischen 2019. 448 S. mit 119 s/w- und 3 Farbabb., 30 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12157-6 177. Manuela Lanwermeyer Sprachwandel und Kognition Elektrophysiologische Untersuchungen zu Synchronisierungen im Varietätenkontakt 2019. 264 S. mit 40 s/w- und 14 Farbabb., 19 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12019-7 178. Lars Vorberger Regionalsprache in Hessen Eine Untersuchung zu Sprachvariation und Sprachwandel im mittleren und südlichen Hessen 2019. 404 S. mit 97 Abb., 32 Tab., 5 s/wund 2 Farbkarten ISBN 978-3-515-12363-1 179. Carolin Kiesewalter Zur subjektiven Dialektalität regiolektaler Aussprachemerkmale des Deutschen 2019. 405 S. mit 35 Abb. und 20 Tab., kt. ISBN 978-3-515-12437-9

Der Saarbrücker Runde Tisch für Dialektsyntax (SaRDiS) findet einmal im Jahr an der Universität des Saar­ landes statt. Als Forum für theoretisch informierte Studien zur Syntax deutsch­ sprachiger und verwandter Varietäten wird er mittlerweile auch rege von Wissenschaftlern außerhalb Deutschlands genutzt und geschätzt. Dieser Band umfasst die Forschungsbilanz des dritten SaRDiS und erste Ergebnisse des vierten. Die Autorinnen und Autoren berühren die Syntax­Morphologie­ Schnittstelle (Kasusmarkierung im Ober­ deutschen, zu­Infinitiv, Einheitsplural im Mittelniederdeutschen). Weitere untersuchte Phänomene sind die intrapersonelle Variation in schweizer­

ISBN 978-3-515-12709-7

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deutschen Dialekten, die Verwendung unterschiedlicher Artikelformen im Südhessischen, varietätenübergreifende wie ­spezifische Verbalkonstruktionen (kommen und Bewegungsverb, der schwäbische „Propositiv“). Theoretische Rahmen bilden neben generativ­ minimalistischen geprägten Ansätzen (Doubly Filled COMP und polare Fragen im Hochdeutschen, Fragepartikel im Thüringischen) diesmal auch die Konstruktionsgrammatik (Entstehung literater Konstruktionen im Mittel­ niederdeutschen). Den Abschluss bilden wieder zwei Beiträge der Rubrik „Schaufenster Saarland“.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag