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German Pages [292] Year 2015
Wiener Arbeiten zur Linguistik
Band 2
Herausgegeben von Daniel Büring, Alexandra N. Lenz und Nikolaus Ritt
Advisory Board: Peter Auer, Universität Freiburg, Deutschland Ina Bornkessel-Schlesewsky, UniSA Adelaide, Australien Olga Fischer, Universität Amsterdam, Niederlande Junko Ito, UC Santa Cruz, USA Hans Kamp, Universität Stuttgart, Deutschland Johanna Laakso, Universität Wien, Österreich Michele Loporcaro, Universität Zürich, Schweiz Melanie Malzahn, Universität Wien, Österreich Jim McCloskey, UC Santa Cruz, USA John Nerbonne, Universität Groningen, Niederlande Peter Trudgill, Universität Freiburg, Schweiz
Alexandra N. Lenz / Franz Patocka (Hg.)
Syntaktische Variation Areallinguistische Perspektiven
Mit zahlreichen Abbildungen
V&R unipress Vienna University Press
®
MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
www.fsc.org
FSC® C083411
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0401-8 ISBN 978-3-8470-0401-1 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0401-5 (V&R eLibrary) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien und der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD). © 2016, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Gerd Altmann, lines-636983, CC0 Public Domain, http://pixabay.com/en/lines-back ground-fireworks-star-636983, © Gerd Altmann Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Alexandra N. Lenz / Franz Patocka Zum Forschungsfeld »Syntaktische Variation« aus areallinguistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Ellen Brandner / Martin Salzmann / Gerhard Schaden Zur Syntax und Semantik des doppelten Perfekts aus alemannischer Sicht
13
Christian Ramelli Grammatikalisierung im verbalen Bereich am Beispiel der Rheinischen Verlaufsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Katrin Kuhmichel Zum Ausdruck von Progressivität in den Dialekten Hessens . . . . . . . .
67
Oliver Schallert / Johanna Schwalm … dass die Milch bald an zu kochen fängt: Zum Phänomen der sogenannten »Binnenspaltung« in deutschen Dialekten . . . . . . . . . .
89
Helmut Weiss Pronominalsyntax deutscher Dialekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Thomas Strobel Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Alexander Werth Kasusmarkierung bei Personennamen in deutschen Regionalsprachen . . 199
6
Inhalt
Ludwig Maximilian Breuer Methoden städtischer Regionalsprachenforschung: Wiener Variation des Relativsatzanschlusses im Online-Fragebogen . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Timo Ahlers Varietätendimensionierte syntaktische Salienz
. . . . . . . . . . . . . . . 249
Alexandra N. Lenz / Franz Patocka
Zum Forschungsfeld »Syntaktische Variation« aus areallinguistischer Perspektive
Der vorliegende Band, dessen Druck dankenswerterweise durch die großzügige Unterstützung der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) sowie des wissenschaftlichen Beirates der Vienna University Press ermöglicht wurde, widmet sich einer Systemebene, die sich innerhalb der Dialektologie und der Variationslinguistik erst in den letzten Jahrzehnten eines wachsenden Interesses erfreut. Insbesondere im Vergleich mit der in beiden Subdisziplinen nach wie vor sicher beliebtesten Ebene der Phonetik/Phonologie hatte und hat die syntaktische Variation das Nachsehen. Dass diese Beliebtheitshierarchie auch trotz eines im 21. Jahrhundert zu beobachtenden syntaktischen Booms noch immer besteht, davon zeugen auch aktuelle variationslinguistische Überblickswerke bzw. wegweisende Arbeiten wie etwa das dreibändige Werk von William Labov »Principles of Linguistic Change« (Labov 1994/2001/ 2010), das Handbuch »Space in Language and Linguistics. Geographical, Interactional, and Cognitive Perspectives« (Auer [u. a.] (Hg.) 2013) oder die »Einführung in die moderne Regionalsprachenforschung von Jürgen Erich Schmidt und Joachim Herrgen (Schmidt/Herrgen 2011), um nur einige Meilensteine der jüngsten variationslinguistischen Forschung zu nennen. Die traditionellen Schwerpunktsetzungen bringen es mit sich, dass der Untersuchungskomplex der syntaktischen Variation vielfältige Fragestellungen aufwirft, deren fundierte und damit auch empirisch abgesicherte Beantwortung nach wie vor weiterer Forschung bedarf. Dazu gehören etwa die folgenden Fragekomplexe: – Wie steht es um die areal-horizontale Variation syntaktischer Merkmale? Welche Regionen oder Areale zeichnen sich auf syntaktischer Ebene im Raum ab? In welchem Verhältnis stehen die auf syntaktischer Ebene gewonnenen geographischen Strukturen mit traditionellen Sprachraumgliederungen, die meist auf der lautlichen Ebene basieren? – Welchen linguistischen und aber auch extralinguistischen Steuerungsfaktoren unterliegt syntaktische Variation? Was sind ihre sozio-pragmatischen u. a. Funktionen?
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Alexandra N. Lenz / Franz Patocka
– Was macht eine syntaktische Variable im Sinne einer Menge von koexistierenden syntaktischen Alternativen aus und wie sind die syntaktischen Varianten einer Variable zu bestimmen und zu klassifizieren? Wie und wo ist eine syntaktische Variante vertikal-sozial auf der Dialekt-Standard-Achse einzuordnen, oder anders formuliert: Wo hört syntaktisch gesehen Non-Standard auf und fängt Standard an? – Wie ist das Verhältnis von synchroner Variation zur Variation auf anderen linguistischen Systemebenen wie der Lautebene, der Morphologie oder der Lexik? – Wie »funktioniert« syntaktischer Wandel im Verhältnis zu Wandelprozessen auf anderen Systemebenen? Lassen sich hier unterschiedliche Geschwindigkeitsgrade, Diffusionsprozesse oder andere Unterschiede bzw. Parallelen in der Art der Dynamik ausmachen? – In welchem Zusammenhang steht – vor dem Hintergrund einer »apparenttime-Hypothese« – synchrone syntaktische Variation einerseits zu diachronen Wandel-Prozessen in der Echtzeit andererseits (s. de Vogelaer/Seiler (Hg.) 2012)? Das gemeinsame Moment der in diesem Band vereinigten neun Aufsätze1 beruht jedoch nicht allein auf der syntaktischen Schwerpunktsetzung, sondern auch darauf, dass die fokussierte syntaktische Variation unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet wird, nämlich aus areallinguistischer Perspektive, die nach dem komplexen Zusammenhang von Sprache und Raum in seiner geographischen Dimension fragt. Um diesem Zusammenhang nachzugehen, werden empirische Zugänge gewählt, die auch maßgeblich auf Methoden und Daten aktueller Forschungsprojekte basieren. Zu diesen Projekten gehören vor allem das Projekt »Syntax hessischer Dialekte« (SyHD) (s. Fleischer/Kasper/Lenz 2012), das Projekt »Syntax des Alemannischen« (SynAlm) (s. http://cms.uni-konstanz. de/ling/syntax-des-alemannischen/) sowie auch die Pilostudie »Zur Dynamik bairischer Dialektsyntax« (SynBai) (s. Lenz/Ahlers/Werner 2015). Aus dieser empirischen Verankerung leitet sich auch der sprachgeographische Schwerpunkt der Diskussionen ab: Es ist vor allem der hochdeutsche Sprachraum und hier vor allem das Westmitteldeutsche und das Oberdeutsche, die im Zentrum der Studien stehen.
1 Es handelt sich um Aufsätze, die auf Vorträgen der Sektion »Syntax« im Rahmen des 4. Kongresses der »Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen« (IGDD) in Kiel, 13. – 15. September 2012, basieren. Die Vorträge der IGDD wurden auf Basis eines anonymen Begutachtungsverfahrens ausgewählt. Für diesen Band wurde eine weitere Auswahl getroffen, deren Ergebnisse wiederum einem anonymen Begutachtungsverfahren unterzogen wurden.
Zum Forschungsfeld »Syntaktische Variation« aus areallinguistischer Perspektive
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Die Reihenfolge der Beiträge orientiert sich erstens an den konkreten fokussierten syntaktischen Phänomenbereichen bzw. zweitens an den gewählten varietäten- und perzeptionslinguistischen Ansätzen, die den Analysen zugrunde liegen. Daraus ergeben sich die folgenden drei Subgruppen an Beiträgen: erstens eine Gruppe von vier Beiträgen, die sich der dialektalen Variation im Bereich der Verbalsyntax annähern, zweitens drei Beiträge, die Aspekte der Nominal- und Pronominalsyntax fokussieren, und drittens zwei Aufsätze, deren syntaktische Phänomenbereiche zur Beantwortung varietäten- bzw. perzeptionslinguistischer Fragestellungen herangezogen werden.
I.
Phänomene der Verbalsyntax
Ellen Brandner, Martin Salzmann und Gerhard Schaden gehen in ihrem Beitrag zum doppelten Perfekt anhand vorwiegend alemannischer Daten auf Zusammenhänge zwischen Syntax und Semantik ein und plädieren für eine »intervall-basierte Herangehensweise« an solche Konstruktionen. Eines der erklärten Ziele ist es, diese von Perfekt- bzw. Plusquamperfekt-Konstruktionen abzugrenzen. Die Hauptthese lautet, dass sich die Semantik des doppelten Perfekts schon aus der syntaktischen Struktur ablesen lässt. Im Fokus des Beitrags von Christian Ramelli steht die sogenannte »Rheinische Verlaufsform« mit am + Infinitiv des Vollverbs + sein, deren Produktivität und Gebrauch in der dem Westmitteldeutschen zugehörigen Region des Rheinfränkischen analysiert wird. Die vor allem auf aktuellen Fragebogendaten basierende Diskussion illustriert die Ergiebigkeit gegenwartssprachlicher Befunde zur arealsyntaktischen Variation einerseits und für das Nachzeichnen sprachhistorischer Grammatikalisierungspfade andererseits. Auch Katrin Kuhmichel geht der Frage nach, wie das Konzept der Progressivität in Dialekten des Deutschen versprachlicht werden kann. Ihr ebenfalls im Westmitteldeutschen gelegenes Untersuchungsareal, das Bundesland Hessen, schließt direkt an das Untersuchungsgebiet Ramellis an, sodass sich die beiden Studien (auch) areal optimal ergänzen. Auf Basis aktueller Daten aus dem SyHD-Projekt kann die Verfasserin innerhalb eines auf den gesamten deutschsprachigen Raum gesehen relativ kleinen Untersuchungsareals deutliche intraregionale Differenzen in Bezug auf progressive Versprachlichungsvarianten nachweisen. Dabei werden auch die Möglichkeiten verschiedener kreativ aufeinander abgestimmter Fragebogenaufgaben überzeugend herausgearbeitet.
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Alexandra N. Lenz / Franz Patocka
Dem Phänomen »gespaltener Partikelverben« (z. B. aufsagen in »Dann hätte sie es auf sollen sagen.«) in deutschen Dialekten widmen sich Oliver Schallert und Johanna Schwalm. Das im Vergleich zum Niederländischen im Deutschen bislang noch kaum beachtete Phänomen bietet nicht nur syntaxtheoretisch eine Fülle von spannenden Anknüpfungspunkten, sondern erweist sich auch gerade im fokussierten SyHD-Areal als ergiebiges, aber auch methodologisch anspruchsvolles Variationsphänomen.
II.
Phänomene der Nominal- und Pronominalsyntax
Der Beitrag von Helmut Weiss versteht sich erstens als ein Übersichtsbeitrag, in dem, unter Verwendung von Daten u. a. aus dem SyHD-Projekt, theoretisch wie empirisch interessante und noch nicht erschöpfend analysierte Aspekte aus dem Bereich der dialektalen Pronominalsyntax berührt werden. Dazu gehören Phänomene wie flektierte Konjunktionen (»AGR-in–COMP«) und Subjektauslassungen (»pro-drop«), wie sie etwa in oberdeutschen Dialekten verbreitet sind. Zweitens liefert der Beitrag – über seinen Überblickscharakter hinaus – neue Daten und neue Ergebnisse zur Abfolge von pronominalen Subjekten und Objekten. In seinem Beitrag zur »pronominalen Partitivität« verfolgt Thomas Strobel zum einen das sprachtypologische Ziel, die im Kontinentalwestgermanischen variierenden Systeme pronominaler Partitivät herauszuarbeiten und zu kontrastieren sowie Erklärungsansätze für die verschiedenen Distributions- und Variationsmuster zu liefern. Zum anderen werden auf Basis aktueller Daten aus dem SyHD-Projekt divergierende Pronominalisierungsebenen in einem konkreten Untersuchungsareal belegt. Mit der Kasusmarkierung bei Personennamen setzt sich Alexander Werth auseinander. Auch sein Hauptaugenmerk gilt den Dialekten in Hessen, daneben werden die Verhältnisse in benachbarten Regionen berücksichtigt. Der Verfasser vermag zu zeigen, dass die Setzung bzw. Nichtsetzung von kasusmarkierenden Artikeln nicht nur vom jeweiligen Raum abhängt, sondern komplexen syntaktischen Regeln und Variationsmustern folgt.
Zum Forschungsfeld »Syntaktische Variation« aus areallinguistischer Perspektive
III.
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Varietäten- und perzeptionslinguistische Zugänge
Der Tatsache, dass areale Syntax mehr ist als »nur« Dialektsyntax, trägt Ludwig M. Breuer in seinem Beitrag methodisch Rechnung, indem er die dialektsyntaktisch bewährten Fragebogenmethoden auch zur Evozierung vertikal gesehen »höherer«, nämlich standardsprachnaher/-licher Daten einsetzt. Als Phänomenbereich, an dem er die methodische Herausforderung illustriert, werden Relativsatzanschlüsse und deren Variation im Ballungsraum Wien gewählt. Der Beitrag, der aus einem aktuellen Dissertationsprojekt heraus entstanden ist, deutet die Ergiebigkeit arealsprachlicher Syntaxforschung an, die über den tiefsten Pol vertikaler Varietätenspektren (Dialekte) hinaus auch die syntaktische Variation regiolektaler und standardsprachlicher Varietäten in den Blick nimmt. Der in der syntaktischen Variationsforschung bislang ebenfalls unterrepräsentierte Aspekt der Wahrnehmung syntaktischer Variation steht im Fokus des Beitrags von Timo Ahlers. Auf Basis eines Online-Tests und eines OnlineExperiments geht er generellen Fragen der »Salienz« syntaktischer Varianten nach. Konkrete Beispielsphänomene, die mit Blick auf den ostoberdeutschen Raum fokussiert werden, sind die »Artikelverdoppelung«, »doppelte« Relativsatzeinleitungen und die V2-Stellung in mit dass eingeleiteten Nebensätzen.
Literatur Auer, Peter [u. a.] (Hg.) (2013): Space in Language and Linguistics. Geographical, Interactional, and Cognitive Perspectives. Berlin, New York: De Gruyter (linguae & litterae 24). De Vogelaer, Gunther/Guido Seiler (Hg.) (2012): The Dialect Laboratory. Dialects as a testing ground for theories of language change. Amsterdam [u. a.]: Benjamins. Fleischer, Jürg/Simon Kasper/Alexandra N. Lenz (2012): Die Erhebung syntaktischer Phänomene durch die indirekte Methode: Ergebnisse und Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt »Syntax hessischer Dialekte« (SyHD). In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 79/1, 1–42. Labov, William (1994/2001/2010): Principles of linguistic change. 3 Bde. Oxford: Blackwell. Lenz, Alexandra N./Timo Ahlers/Martina Werner (2015): Zur Dynamik bairischer Dialektsyntax – eine Pilotstudie. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik LXXXI/ 1, 1–33. Schmidt, Jürgen Erich/Joachim Herrgen (2011): Sprachdynamik. Eine Einführung in die moderne Regionalsprachenforschung. Berlin: Erich Schmidt.
Ellen Brandner / Martin Salzmann / Gerhard Schaden
Zur Syntax und Semantik des doppelten Perfekts aus alemannischer Sicht1
Abstract In diesem Artikel analysieren wir Funktion und Syntax des doppelten Perfekts (DPF) mit besonderer Berücksichtigung von alemannischen Daten. Wir argumentieren für eine intervall-basierte Herangehensweise an die Semantik der Konstruktion, wonach sie eine Zeitspanne bezeichnet, die ein Ereignis sowie einen Resultatszustand enthält, der bis zu einem Referenzzeitpunkt in der Vergangenheit anhält. Wir werden zeigen, dass sich damit die Hauptlesarten der Konstruktion wie auch ihre interpretatorischen Einschränkungen im Vergleich zu Perfekt und Plusquamperfekt gut erklären lassen. Die Interpretationen ergeben sich direkt aus der syntaktischen Struktur, bei der das Partizip von sein/haben als Kopula und das lexikalische Partizip als adjektivisch analysiert werden. Für den adjektivischen Status führen wir neue morphosyntaktische Evidenz (Wortstellungsrestriktionen, Flexion am Partizip) aus alemannischen Dialekten an.
1
Einführung
Unter dem doppelten Perfekt versteht man eine Konstruktion, bei der ein einfaches Perfekt durch ein weiteres Partizip des Auxiliars haben/sein erweitert und dabei eine Plusquamperfekt-ähnliche Bedeutung (≈ Vorvergangenheit) ausgedrückt wird. 1 Frühere Versionen dieser Arbeit wurden 2010 auf dem 4th European Dialect Syntax Meeting in San Sebastian sowie 2012 auf der IGDD in Kiel präsentiert. Wir danken den Zuhörern bei diesen Gelegenheiten für die anregenden Kommentare. Besonderer Dank gilt Iris Bräuning und Alexandra Rehn für Hinweise auf das dreifache Perfekt sowie Claudia Bucheli Berger und Raffaela Baechler für ihre Hilfe mit den Flexionsformen im Alemannischen. Hilfreiche Kommentare von zwei anonymen Gutachtern haben zu zahlreichen Verbesserungen geführt. Die Forschungsarbeiten wurden unterstützt durch das DFG-Projekt SynAlm BR 4089/2–1 (Brandner) sowie das SNF-Projekt PA00P1_136379/1 (Salzmann).
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Ellen Brandner / Martin Salzmann / Gerhard Schaden
(1) a. Ich habe das Buch gelesen gehabt. b. Er ist schon gestorben gewesen.
Die Konstruktion hat auf verschiedenen Ebenen zu Diskussionen geführt. In der synchronen germanistischen Literatur wurde häufig der Frage nachgegangen, inwieweit es sich dabei um ein Phänomen der Standardsprache handelt oder aber um eine Eigenart von bestimmten Registern oder Dialekten; teilweise, besonders in der populistischen Sprachkritik (Sick (2004: 180ff.)), wurde das DPF auch als ungrammatisch und als Zeichen schlechten Sprachgebrauchs gewertet, ein Schicksal, dass Verdopplungskonstruktionen wie z. B. auch Negative Concord, Possessor Doubling etc. ganz häufig ereilt. Wir gehen davon aus, dass es in der Sprache keine wirklich Redundanz gibt. Das bedeutet, dass Verdopplungskonstruktionen im Vergleich zur nicht-verdoppelten Konstruktion nicht einfach eine Form der Emphase sind, sondern dass die Verdopplung stets in mancherlei Hinsicht »sinnhaft« ist. Wie in den Beiträgen in Barbiers et al. (2008) eindrücklich dargestellt, liefern Verdopplungskonstruktionen häufig entscheidende Hinweise auf die sonst nicht sichtbare und damit nur indirekt erschließbare syntaktische Struktur. Für das doppelte Perfekt wurde in der Literatur einerseits schon gezeigt, dass eine Erklärung als Kompensation für das infolge des Präteritumsschwunds fehlende Plusquamperfekt nicht ausreichend ist, um alle Vorkommnisse/Interpretationsmöglichkeiten des DPFs zu erklären, s. Rödel (2007), BuchwaldWargenau (2012), und Hundt (2011: 12). Andererseits bleiben die Bedeutungscharakterisierungen häufig relativ vage, zumeist auf eine aspektuelle Komponente hindeutend. Wir werden zeigen, dass sich die semantischen Funktionen des DPFs durch die Postulierung einer stativen, genauer resultativen Komponente gut erfassen lassen. Außerdem wollen wir näher auf die syntaktische Struktur eingehen und zeigen, dass sich die Interpretationen des DPFs direkt aus der Annahme ergeben, dass es keine eigentliche Verdopplung in der Syntax gibt. Der Artikel ist folgendermaßen aufgebaut: In diesem einführenden Abschnitt wollen wir die Verbreitung des DPFs sowie dessen wesentliche semantische Funktionen darstellen. In Abschnitt zwei werden wir die Hauptlesarten des DPFs mit den gängigen semantischen Ingredienzien für die Interpretation des Perfekts explizit machen, die Unterschiede zum Plusquamperfekt herausarbeiten und ausgehend von der Bedeutung eine syntaktische Struktur vorschlagen, bei der das Partizip als adjektivisch anzusehen ist. In Abschnitt drei werden wir zeigen, dass sich in alemannischen Varietäten unabhängige morphosyntaktische Evidenz für die postulierte syntaktische Struktur findet.
Zur Syntax und Semantik des doppelten Perfekts aus alemannischer Sicht
1.1
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Verbreitung des doppelten Perfekts
Zunächst ist festzuhalten, dass das DPF keineswegs eine Eigenart des Deutschen ist. So finden sich doppelte Perfektformen gemäß Ammann (2007) häufig in romanischen und germanischen Sprachen (Katalanisch, Französisch, Okzitanisch, Italienisch, Rätoromanisch, niederländische Dialekte, Jiddisch), aber auch im Sorbischen, Serbokroatischen, Bretonischen, Ungarischen. Außerdem sind DPFe für das Koreanische und Baskische belegt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Phänomen in diesen Sprachen notwendigerweise genau dieselben semantischen Funktionen hat wie im Deutschen. Wie wir sehen werden, gibt es hier nur partielle Übereinstimmung. Eine Diskussion, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind, wird im Rahmen dieses Artikels nicht möglich sein. Was das Deutsche betrifft, so ist das DPF sehr verbreitet in Dialekten, besonders (aber nicht nur, vgl. Hundt (2011: 12)) in oberdeutschen Dialekten, in denen das DPF aufgrund des Fehlens eines Präteritums die einzige Möglichkeit zum Ausdruck von Vorvergangenheit ist, vgl. das folgende Beispiel aus dem Luzerndeutschen (Fischer (1960: 367f.)): (2) Won er s Zmettaag abegschlëtzt ghaa hëëd, escht er uuf ond als als das Mittagessen runtergeschlungen gehabt hat ist er auf und devòò. davon ›Nachdem er das Mittagessen hinuntergeschlungen hatte, ist er auf und davon.‹
Daneben findet sich das DPF häufig in der gesprochenen Standardsprache, ist aber, wie in Hundt (2011) dargelegt, keineswegs auf die Umgangssprache beschränkt, sondern findet sich auch in der geschriebenen Sprache und nicht nur in Internet-Chats. In Rödel (2011: 134–136) wird gezeigt, dass das DPF selbst in der Standardsprache manchmal unerlässlich ist, und zwar zum Ausdruck der Vorzeitigkeit beim Konjunktiv: (3) a. Sie sagte, er habe das Buch im Sommer 2005 gelesen. b. Sie sagte, er habe das Buch im Sommer 2005 gelesen gehabt.
Hier liegt ein klarer Unterschied im Wahrheitswert vor. Nur im b-Beispiel wird ausgedrückt, dass das Lesen des Buches im Sommer 2005 bereits abgeschlossen war. Ohne das doppelte Perfekt kann dies nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht werden. Das bedeutet, dass das DPF (zumindest in gewissen Verwendungsweisen) auch als Teil der Standardsprache zu betrachten ist. Schließlich ist das Phänomen auch in der Literatursprache gut belegt: (4) Ja, nun begreif ’ ich’s freilich, warum meine Kameraden das Wildtun müde geworden sind, nachdem sie haben geheiratet gehabt. (Otto Ludwig, Die Heiterethei oder ihr Widerspiel, 1857, aus Litvinov (1969: 18))
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Ellen Brandner / Martin Salzmann / Gerhard Schaden
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass es sich beim DPF keineswegs um ein ungrammatisches oder marginales Phänomen handelt, sondern um eine – außerhalb von oberdeutschen Dialekten – zwar nicht sonderlich häufige, aber durchaus lebendige Konstruktion. Wie wir im Folgenden noch sehen werden, sprechen auch die subtilen Nuancen, die durch das DPF zum Ausdruck gebracht werden, sehr dafür, es als eigenständige Konstruktion zu betrachten.
1.2
Die Lesarten des doppelten Perfekts
Beim DPF im Deutschen kann man zwei Hauptlesarten unterscheiden, die wir im Folgenden als Anterior- und Superperfekt-Lesart bezeichnen werden (die folgenden Charakterisierungen sind bewusst vereinfacht und werden in 2.2.3 präzisiert). Die Anterior-Lesart beschreibt ein Ereignis in der Vergangenheit als abgeschlossen/vorzeitig zu einem Referenzzeitpunkt in der Vergangenheit; es entspricht damit einer der wesentlichen Funktionen des Plusquamperfekts im Standarddeutschen (wie wir aber weiter unten noch sehen werden, deckt es zumindest in den hier im Fokus stehenden Varietäten gewisse Funktionen des standarddeutschen Plusquamperfekts nicht ab): (5) a. Wo s Anni der ëérscht Walzer gmacht ghaa hed, isch em schlächt als das A den ersten Walzer gemacht gehabt hat ist ihm schlecht wòorde. geworden ›Nachdem Anni den ersten Walzer getanzt hatte, wurde ihr schlecht.‹ (Zug, cf. Bossard (1962: 94)) b. Wu- si s Hái ufglaadá ghaa hán, hed ’s zmools üs allená Als sie das Heu aufgeladen gehabt haben, hat es auf einmal aus allen Wulgà gschidded. Wolken geschüttet ›Als sie das Heu aufgeladen hatten, schüttete es plötzlich aus allen Wolken.‹ (Kaiserstuhl, Noth (1993: 321))
In den alemannischen Dialekten werden temporale Konjunktionen wie nachdem oder während eher selten benutzt. Stattdessen wird die Partikel wo/wie eingesetzt (die auch in Relativsätzen als der typische Relativsatzeinleiter fungiert).2 Die Default-Interpretation ist Gleichzeitigkeit. Erst durch die Einsetzung eines DPFs kommt die Vorzeitigkeitslesart zustande. In der Superperfekt-Lesart (Schaden (2007)), auch reversed-result-Lesart (nach Squartini (1999: 65ff.)) oder two-way action (Thieroff (1992)) genannt, 2 In Brandner/Bräuning (2013) wird wo/wie als W-Form der Äquativpartikel so analysiert, d. h. als ein Element, das Eigenschaften (oder auch Referenten) gleichsetzt.
Zur Syntax und Semantik des doppelten Perfekts aus alemannischer Sicht
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wird ein Ereignis nicht im Hinblick auf ein anderes vergangenes Ereignis/einen Zustand situiert, sondern bezieht sich direkt auf den Äußerungszeitpunkt. Dabei wird zusätzlich ausgedrückt, dass der aus dem Ereignis resultierende Zustand nicht mehr anhält, wie in den folgenden Beispielen dargestellt:3 (6) a. Ich such’ ’ne bestimmte Seite, ich hab’ se eben noch gesehen gehabt. Litvinov and Radcenko (1998: 237) b. Des hob i jetz komplett fagäassa ghet! das hab ich jetzt völlig vergessen gehabt ›Das hatte ich jetzt komplett vergessen.‹ Vorarlberg-Alemannisch, cf. Schaden (2007)
Im a-Beispiel besteht der Zustand daraus, dass man etwas gesehen und daher zur Verfügung hat resp. kennt, im b-Beispiel besteht der Zustand im VergessenHaben. In beiden Fällen kommt durch das DPF klar zum Ausdruck, dass dieser Zustand nicht mehr anhält, d. h. man findet eine bestimmte Seite nicht mehr (a) resp. man kann sich wieder erinnern (b). Der Sprachvergleich zeigt, dass die beiden Lesarten unabhängig sind, d. h. es gibt auch Sprachen, in denen das DPF entweder nur die Anterior- oder die Superperfekt-Lesart aufweist; z. B. zeigen Koeneman et al. (2011), dass sich in niederländischen Dialekten nur die Superperfekt-Lesart findet. Darüber hinaus finden sich in anderen Sprachen zum Teil auch weitere Lesarten. So kann im Französischen und Okzitanischen durch das DPF eine abgeschlossene generische bzw. habituelle Vergangenheit zum Ausdruck gebracht werden, wie das folgende Beispiel aus dem Französischen zeigt (cf. z. B. Schaden (2007), Ammann (2007: 197ff.)). (7) J’ ai eu voté socialiste. Ich habe gehabt gewählt sozialistisch ›I habe mal die sozialistische Partei gewählt.‹
Dieses Beispiel bedeutet so viel wie »Ich war einmal Wähler der sozialistischen Partei.« Zu einem gewissen Grad scheinen Verwendungen mit Bezug auf eine unbestimmte und entfernte Vergangenheit auch im Deutschen möglich zu sein (wobei generische Lesarten allerdings ausgeschlossen sind). Sie werden meist als sog. absolute Verwendungen bezeichnet. Für das nächste Beispiel ist folgender Kontext hinzuzudenken: Man besucht eine Fahrradwerkstatt, nachdem man einige Stunden zuvor angerufen hatte, ob eine Reparatur vorgenommen werden könne. Als Begrüßung sagt der Mechaniker:
3 Der hier auf den ersten Blick womöglich überraschende Terminus Zustand/Resultat wird unten in 2.2.3.2 näher charakterisiert und begründet.
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Ellen Brandner / Martin Salzmann / Gerhard Schaden
(8) Si händ aagglüütte ghaa? sie haben angerufen gehabt ›Sie hatten angerufen?‹ (Zürichdeutsch, Hörbeleg)
Wie bei Superperfekt-Interpretationen wird in diesem Beispiel das durch das lexikalische Verb ausgedrückte Ereignis nicht im Hinblick auf ein anderes vergangenes situiert. Allerdings wird hier auch nicht zum Ausdruck gebracht, dass ein früherer Zustand nicht mehr anhält. Die Verwendung ist womöglich vergleichbar mit dem absoluten Plusquamperfekt der Standardsprache wie in Ich hatte einen Tisch reserviert (beim Betreten eines Restaurants). Zumindest in der Umgangssprache finden sich auch häufig als redundant/ inflationär bezeichnete Verwendungen (so wie es auch ähnliche scheinbar redundante Verwendungen des Plusquamperfekts gibt, vgl. war gewesen in (9)). Im folgenden Beispiel ergibt keine der obigen Interpretationen Sinn, es scheint vielmehr die Bedeutung eines einfachen Perfekts (mit präteritaler Bedeutung) vorzuliegen, cf. Ammann (2007: 194):4 (9) »Diese Zeit war meine Tochter bei meiner Mutter, am ersten Tag, wo der Unfall passierte, sie passte da auf, weil ich weggehen wollte, zum Arzt nächsten Tag, und sie war auch da gewesen. Und dann ist mein Ehemann zu mir zurückgekommen und hat zu mir gesagt gehabt, ob ich nicht zu ihm zurückkommen wollte.«
Im folgenden Abschnitt werden wir uns vor allem auf die beiden Hauptlesarten (Anterior- und Superperfekt-Lesart) konzentrieren und versuchen, diese temporalsemantisch zu charakterisieren und Implikationen für die syntaktische Struktur abzuleiten. Am Schluss werden wir auch Erklärungen für die anderen Lesarten skizzieren. Unsere Analyse erhebt nicht den Anspruch, für sämtliche deutsche Varietäten gültig zu sein, die über das DPF verfügen. Zuallererst soll es eine Analyse sein für die alemannischen Varietäten, wie sie in der traditionellen und wissenschaftlichen Literatur beschrieben sind (die im Wesentlichen mit den Intuitionen der Autoren, die allesamt Alemannischsprecher sind, konvergiert). Wir werden zu zeigen versuchen, dass sich für diese Varietäten, gerade vor dem Hintergrund der Wortstellungs- und Flexionsdaten aus höchstalemannischen Varietäten in Kapitel 3, eine Analyse formulieren lässt, bei der Syntax und Semantik in einem sehr transparenten Verhältnis zueinander stehen. Soweit wir beurteilen können, sollte die Analyse auch auf diverse weitere deutsche Varietäten (vertikal wie horizontal) übertragen werden können, da sich die salientesten Lesarten des DPFs (Anterior- und Superperfekt-Lesart) unseres Wissens in den meisten Varietäten finden. Unerklärt bleiben in unserem Ansatz allerdings Verwendungsweisen wie in (9) sowie Fälle, wo spezifische Adverbien sich auf die Ereigniszeit beziehen (wie das scheinbar für gewisse Sprecher möglich zu sein scheint, cf. die 4 In alemannischen Dialekten wäre gemäß der Intuition der Autoren hier kein DPF möglich.
Zur Syntax und Semantik des doppelten Perfekts aus alemannischer Sicht
19
Diskussion zu den Beispielen (20) und (25) in 2.2.3.4 unten). Unseres Erachtens verfügen Sprecher mit diesen Möglichkeiten über etwas andere Grammatiken, deren genaue Eigenschaften wir aber bislang nicht mit genügender Sicherheit bestimmen konnten und deshalb für zukünftige Arbeiten offen lassen.
2
Funktion und Struktur des doppelten Perfekts
Gemäß der traditionellen Auffassung (z. B. Behaghel (1924: 272)) ist das DPF im Wesentlichen ein Ersatz für das Plusquamperfekt in den oberdeutschen Dialekten, die aufgrund des Präteritumsschwunds nicht über das für die Bildung notwendige Präteritumsauxiliar verfügen. Wir werden im Folgenden zeigen, dass die traditionelle Annahme in zweierlei Hinsicht scheitert. Erstens ist in der Literatur bereits überzeugend dargelegt worden, dass das kausale diachrone Szenario in der Form nicht zu halten ist. Zweitens sind die Funktionen von DPF und Plusquamperfekt nicht deckungsgleich, so dass gar kein eigentlicher Ersatz stattgefunden haben kann, auch wenn es zugegebenermaßen große Überlappungen im Funktionsbereich gibt (was die traditionelle Annahme daher verständlich erscheinen lässt). Wir folgen damit einem Teil der neueren Literatur, wie z. B. Rödel (2007) oder Hundt (2011), die sich mehr für die interne Logik des Temporalsystems und die der Form innewohnende Bedeutung interessiert. Unser eigener Vorschlag ist intervallbasiert und übernimmt wichtige Erkenntnisse aus dem Perfektansatz von Rothstein (2008).
2.1
Zum diachronen Szenario
Dass ein diachrones Szenario, in welchem das DPF lediglich als eine Ersatzstrategie für den Verlust des Präteritums (und damit der präteritalen Formen der Auxiliare) analysiert wird, nicht durch die Fakten gestützt wird, wurde in jüngerer Zeit in mehreren Publikationen abgehandelt, cf. Rödel (2007), Buchwald-Wargenau (2010), Buchwald-Wargenau (2012), Hundt (2011). Wir wollen uns deshalb auf eine kurze Zusammenstellung der wichtigsten Aspekte beschränken. So gibt es erstens Belege für das DPF im Mittel- und Niederdeutschen aus dem 14. – 16. Jh., also aus einem Gebiet, in dem das Präteritumsauxiliar noch vorhanden war/ist, und aus einer Zeit, in dem der Präteritumsschwund im Oberdeutschen überhaupt erst einsetzte. Zweitens zeigt die Existenz des sog. Doppelplusquamperfekts in verschiedenen Registern die Unabhängigkeit der Verdopplung vom Präteritumsschwund (Squartini (1999: 61f.)):
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(10) a. Als Bressand seine Operntexte schrieb, hatte Herzog Anton Ulrich am Schlosse das 1688 vollendete Opernhaus gebaut und Musiker und Sänger berufen gehabt (T. Thone, Wolfenbüttel, die Musenstadt, 1960). b. In dem Augenblick fühlte er sich am linken Arm ergriffen und zugleich einen sehr heftigen Schmerz. Mignon hatte sich versteckt gehabt, hatte ihn angefasst und ihn in den Arm gebissen (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1796).
Drittens findet sich das DPF auch außerhalb des Germanischen in Sprachen, die noch über ein stabiles Präteritum verfügen, so z. B. im Okzitanischen gemäß Ammann (2007: 199, 203). Ein Kausalzusammenhang ist also ausgeschlossen, wobei natürlich klar ist, dass das DPF in den Varietäten frequenter ist, die aufgrund des Präteritumsschwunds keine formalen Mittel mehr haben, Vorzeitigkeit mithilfe einer einfachen analytischen Form auszudrücken.
2.2
Zu den semantischen Funktionen
2.2.1 Zur Einführung: Perfekt und Plusquamperfekt Bevor wir uns der Semantik des DPFs zuwenden können, wollen wir unsere temporalsemantischen Annahmen kurz anhand von Perfekt und Plusquamperfekt erläutern.5 Es ist eine bekannte Tatsache, dass das deutsche Perfekt – im Gegensatz zum present perfect im Englischen – zwei Interpretation zulässt, siehe z. B. Klein (1992): (11) a. Es lokalisiert ein Ereignis vor dem Sprechzeitpunkt, ohne einen daraus resultierenden Zustand zum Sprechzeitpunkt nahezulegen (= Präteritum, wie simple past im Englischen) b. Es bezieht sich auf das Ereignis und vor allem auch auf den daraus resultierenden Zustand.
In technischer Hinsicht kann man diese Lesarten mithilfe einer Perfect Time Span (PTS) erklären, die das Ereignis und den resultierenden Zustand umfasst. Die sogenannte »rechte Grenze« (right boundary, RB) markiert dabei das Ende der PTS. Ein present perfect im Englischen wird immer so interpretiert, dass die PTS bis zum Sprechzeitpunkt anhält (der beim present perfect auch zugleich Referenzzeitpunkt ist). Dies lässt sich schematisch mit Diagramm in (12) darstellen. Dies erklärt, weshalb das Englische present perfect nicht kompatibel ist mit spezifischen Zeitadverbien, die das Ereignis zu einen Zeitpunkt vor der Sprech-/Referenzzeit lokalisieren, cf. (13a). Da die PTS bis an S und R heranreicht und diese 5 Die folgende Darstellung basiert auf Rothstein (2008). Zur Interpretation des deutschen Perfekts, cf. vor allem Klein (1992), Pancheva/von Stechow (2004), zur Perfect Time Span cf. Iatridou et al. (2001).
Zur Syntax und Semantik des doppelten Perfekts aus alemannischer Sicht
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daher mit einschließt, führt eine Lokalisierung von E zu einem Zeitpunkt, der sich von S und R unterscheidet, zu einem Widerspruch, vgl. Rothstein (2008: 75f.).6 Wie (13b) zeigt, gibt es im Deutschen keine solche Restriktion: (13) a. Englisch: *Peter has arrived yesterday b. Deutsch: Maria ist gestern angekommen
Dieser Unterschied wird in Rothstein (2008) damit erklärt, dass die PTS im deutschen Perfekt dynamisch ist: D.h. sie kann entweder nur das Ereignis umfassen oder bis zu S, R reichen (oder bis zu einem Punkt zwischen E und R). Ersteres macht es möglich, dass das Perfekt (als Form) präteritale Funktion (= (11a)) übernehmen kann und deshalb spezifische Temporaladverbien akzeptabel sind, die E zu einem Zeitpunkt lokalisieren, der sich von S, R unterscheidet. Die dynamische PTS lässt sich wie folgt darstellen:
Interessanterweise gibt es eine dynamische PTS nicht nur im Deutschen. Das englische Plusquamperfekt weist ebenfalls eine dynamische PTS auf. Dies zeigt sich daran, dass sich Temporaladverbien dort ebenfalls auf einen von R und S verschiedenen Zeitpunkt beziehen können: (15) John had arrived yesterday. 6 Die Voraussetzung ist also, vereinfacht gesagt, dass ein spezifisches Zeitadverb mit der Bedeutung der PTS als ganzer kompatibel sein muss, d. h. die PTS kommt mit der semantischen Anforderung, dass E zu irgendeinem Punkt innerhalb von PTS sein kann; daher darf E nicht zu einem Zeitpunkt lokalisiert werden, der S/R explizit ausschließt.
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(15) ist ambig. Das Adverb kann sich sowohl auf die Ereigniszeit als auch auf die Referenzzeit beziehen, d. h. entweder erfolgte das Ankommen gestern oder es war gestern bereits abgeschlossen. Das deutsche Plusquamperfekt verhält sich genau gleich, wie das folgende Beispiel aus Thieroff (1992 : 194 ff.) zeigt : (16) a. Am 1. September 1939 hatte Hitler Polen überfallen. b. Am 2. September 1939 hatte Hitler Polen überfallen.
Adverb → Ereigniszeit Adverb → Referenzzeit
Die dynamische PTS des Plusquamperfekts lässt sich daher folgendermaßen darstellen (im Gegensatz zum Perfekt liegt die Referenzzeit hier vor der Sprechzeit):
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das deutsche Perfekt prinzipiell zwei Interpretationen zulässt : Eine, in der das Ereignis fokussiert ist, und als vorzeitig zu einem Referenzpunkt angesehen wird ; und eine, in der der Zustand, der aus dem Ereignis resultiert, fokussiert wird. Die RB der deutschen PTS kann also an unterschiedlichen Punkten im Zeitstrahl lokalisiert werden, während sie im Englischen present perfect immer an den Sprechzeitpunkt heranreicht. 2.2.2 Die Semantik des doppelten Perfekts Wir möchten im Folgenden zeigen, dass das DPF im Alemannischen nicht über die oben für das einfache Perfekt illustrierte Flexibilität verfügt. Wir beginnen zunächst mit der Superperfekt-Lesart und möchten dafür folgenden vorläufigen (und unten in 2.2.3.2 zu revidierenden) Vorschlag machen:
Die PTS umfasst gemäß dieser Analyse eine Zeitspanne, die länger ist als lediglich E, also nicht punktuell auf das Ereignis selbst fokussiert, sondern auch einen Resultatszustand umfasst. Das Besondere an der Superperfekt-Lesart ist aber,
Zur Syntax und Semantik des doppelten Perfekts aus alemannischer Sicht
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dass dieser Zustand zu (irgendeinem) Zeitpunkt vor S, und scheinbar auch vor R, endet. Allerdings ist hier kein klarer, vom Sprechzeitpunkt unterscheidbarer R eruierbar, im Gegensatz zu Anterior-Lesarten, bei denen R explizit vor S lokalisiert wird. Gemäß Rothstein (2008: 49) liegt beim einfachen Perfekt immer dann eine stative Komponente vor, wenn das Ereignisprädikat nicht bis zur RB gültig ist (das Ereignis sich also von der RB unterscheidet). Wir nehmen nun an, dass das DPF zum Ausdruck bringt, dass das Ereignisprädikat nicht bis zur RB andauert. Damit hat die PTS in diesem Fall auch eine stative Komponente, siehe weitere Überlegungen dazu in Abschnitt 2.3. Die Funktion des DPFs ist somit, anzuzeigen, dass ein Zustand in der Vergangenheit nur für eine bestimmte Zeitspanne Gültigkeit hatte. Dass die Superperfekt-Interpretation tatsächlich nicht nur an der Abgeschlossenheit des Ereignisses festgemacht werden kann, sondern durch die Struktur der PTS determiniert wird, kann man daran sehen, dass auch im einfachen Plusquamperfekt ›Superperfekt/reversed-result-‹Interpretationen auftreten können, weil es ja auch im Plusquamperfekt eine dynamische PTS gibt, so dass ein Nachzustand vorhanden sein kann (während Ähnliches im Präteritum nicht möglich ist): (19) a. Nachdem ich meine Brille verloren hatte, ging ich sofort zum Optiker. (Anterior) b. Ich hatte meine Brille verloren – habe sie aber wieder gefunden. (Superperfekt)
2.2.3 Vom Superperfekt zu den anderen Lesarten des doppelten Perfekts 2.2.3.1 Ein zentraler Unterschied zwischen DPF und Plusquamperfekt Kommen wir nun zur Anterior-Lesart. Sie ist eine der zentralen Lesarten des Plusquamperfekts, wenn nicht sogar die Hauptlesart, siehe dazu die Übersetzungen der Beispiele in (2) und (5). Ein zentraler Unterschied zwischen den beiden Konstruktionen besteht nun aber darin, dass das Plusquamperfekt im Gegensatz zum DPF auch eine Lesart zulässt, bei der sich spezifische Temporaladverbien auf die Ereigniszeit beziehen. Im DPF ist dies ausgeschlossen, wie Squartini (1999: 63f.) gezeigt hat (siehe dazu aber auch Abschnitt 2.2.3.4). Wir illustrieren den Kontrast mit eigenen Beispielen: (20) a. Peter ist am Dienstag nicht zur Arbeit erscheinen. Er hatte am Montag gekündigt. b. De Peter isch am Ziischtig it gi schaffe gange. der Peter ist am Dienstag nicht zu arbeiten gegangen Er het am Mäntig kündigt #gha. er hat am Montag gekündigt gehabt (Bodensee-Alemannisch)
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In (20a) mit dem Plusquamperfekt bezieht sich das Temporaladverbial am Montag auf die Ereigniszeit, in (20b) mit einem DPF ist dies nicht möglich. Der Satz ist zwar nicht ungrammatisch, aber er entspricht nicht genau dem standarddeutschen Beispiel (20a): In (20b) wird impliziert, dass die Kündigung schon vor dem Montag stattgefunden hat, d. h. am Montag galt schon der Zustand, dass gekündigt worden ist. Wollte ein Alemannischsprecher die Situation wie in (20a) ausdrücken, würde er/sie ein einfaches Perfekt benutzen – in diesem Beispiel ist durch die Verwendung der absoluten Temporaladverbien die relative Zeitabfolge ja transparent. Es geht wiederum also nicht um das Ereignis selbst und seine (temporale) Lokalisation, sondern der Nachzustand ist fokussiert (d. h. das Adverb bezieht sich auf die Referenzzeit, nicht die Ereigniszeit). Damit kommen wieder die PTS und die RB ins Spiel. Im Falle von (20a) fällt die RB mit (dem letzten Subintervall von) E zusammen, was sich wie folgt illustrieren lässt (da die PTS des Plusquamperfekts dynamisch ist, kann sie auch nur E umfassen):
Bei (20b) dagegen, der Anterior-Lesart des DPFs, reicht die PTS bis zu R1 (i. e. berührt R1):
Die Anterior-Lesart verhält sich somit ähnlich wie das englische present perfect: weil die PTS zumindest bis an R heranreicht, können spezifische Positionsadverbien das Ereignis nicht zu einem Zeitpunkt lokalisieren, der sich von R unterscheidet. Mit anderen Worten, im Gegensatz zum (Plusquam-)Perfekt ist die PTS bei der Anterior-Lesart nicht dynamisch, sie reicht notwendigerweise bis an R heran (im nächsten Abschnitt werden wir dafür argumentieren, dass man auch
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die Superperfekt-Lesart so analysieren kann). Dies hängt ganz offensichtlich mit dem zweiten Partizip gewesen/gehabt zusammen, da ja weder das einfache Perfekt noch das Plusquamperfekt im Deutschen eine solche Beschränkung aufweisen. Wir werden in 2.3 zu zeigen versuchen, dass die interpretatorischen Beschränkungen im DPF darauf zurückzuführen sind, dass gehabt/gewesen nicht Auxiliarformen sind, sondern Kopulae. Wir möchten die Anterior-Lesart als resultativ bezeichnen, obschon – zumindest intuitiv – ein Resultatszustand nicht immer so salient ist. Der Terminus Resultativität umfasst in der Literatur in der Regel zwei Typen von Resultatszuständen. Der erste Typ sind sog. target states, d. h. Resultatszustände, die in der lexikalischen Bedeutung eines Verbs angelegt sind (auch: Zielzustände). Beispiele hierfür sind Verben wie öffnen, aufpumpen, verstecken etc. Bei diesen Fällen ist das Konzept Resultativität direkt zugänglich. Man spricht aber auch dann von Resultativität, und zwar vom sog. resultant state, wenn zu einer PTS ein Nachzustand gehört, der kontextuell inferiert wird. So z. B. ist das Resultat von essen = satt sein; das von waschen ist sauber sein. In diesen Fällen ist das Konzept Resultatszustand natürlich weniger offensichtlich und unterliegt auch individuellen Unterschieden, d. h. Sprecher werden sich darin unterscheiden, in welchem Maße und was für Resultatszustände sie aus einem bestimmten Kontext inferieren.7 Gerade bei der Superperfekt-Lesart spielen kontextuell inferierte Zustände eine große Rolle, vgl. hierzu auch Squartini (1999: 65f.). Außerdem können bestimmte Tests, die in der Literatur üblicherweise verwendet werden, um Zustände zu diagnostizieren, auch auf Anterior-Fälle an7 Damit lässt sich auch erklären, warum das DPF bei nicht-telischen Verben relativ selten vorkommt und häufig dispräferiert wird, obwohl es ja nach der aspektuellen Hypothese ›Abgeschlossenheit‹ anzeigt, cf. Hundt (2011). In unserem Ansatz liegt im DPF statt dessen eine PTS mit Nachzustand vor und die reduzierte Akzeptabilität von (ib)/(c) kann damit erklärt werden, dass es gerade bei atelischen Verben schwierig ist, einen Resultatszustand zu konstruieren:
(i) a.
won i als ich in in.den b.?? ich han ich habe mer mir c.?? won i als ich mini meine
s Buech das Buch Garte Garten im Buech im Buch langwiilig langweilig gnueg drüber genug darüber Lösig Lösung
uusgläse ausgelesen ggange gegangen gläse gelesen gworde geworden naatänkt nachgedacht uufgschribe aufgeschrieben
ghaa han, bin gehabt habe bin
ghaa, gehabt und … und ghaa gehabt
i ich
aber dänn isch aber dann ist
han, han i habe habe ich
(Zürichdeutsch)
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gewendet werden. Am deutlichsten lässt sich dies mit dem wie lange-Test zeigen, der nur mit activities und states funktioniert, nicht aber mit achievements und accomplishments. Rothstein (2008: 41ff.) argumentiert für das deutsche Perfekt, dass es in der Verwendungsweise (11b) (nicht aber in der präteritalen in (11a)) eine stative Komponente aufweist. Als Evidenz dafür führt er an, dass das Perfekt – im Gegensatz zum Präteritum – mit achievements/accomplishments kompatibel ist (entdecken ist ein achievement-Verb): (23) a. ?* Wie lange entdeckte Hans die Formel (schon)? b. Wie lange hat Hans die Formel (schon) entdeckt?
Der wie-lange-Test ist nur kompatibel mit Eventualitäten, die eine gewisse Ausdehnung aufweisen (entdeckte in (23a) ist punktuell), die allerdings nicht unbegrenzt sein darf; so ist der Test nicht kompatibel mit individual-level states, vgl. *Wie lange ist er schon intelligent? Die Tatsache, dass nun (23b) grammatisch ist, legt nahe, dass das Perfekt in der Verwendung (11b) eine stative Komponente aufweist resp. hinzufügt, die im Verb alleine so nicht notwendigerweise angelegt ist (d. h. während das Ereignis bei einem achievement-Verb wie entdecken alleine keine Ausdehnung hat, wird eine solche durch den Resultatszustand im Perfekt hinzugefügt).8 Das Entscheidende ist nun, dass der Test auch mit dem doppelten Perfekt funktioniert: (24) Wie lang hät de Einstein d Formle (dootsmaal) scho bewise ghaa, wie lange hat der Einstein die Formel damals schon bewiesen gehabt wo …? als ›Wie lange hatte Einstein die Formel (damals) bereits bewiesen, als …?‹ (Zürichdeutsch)
Das Beispiel fragt nach der Zeitspanne, über die sich die PTS erstreckt seit dem Ereignis bis zu einem Referenzzeitpunkt (ausgedrückt durch dootsmaal), d. h. nach der Dauer des Zustandes des Bewiesen-Seins der Formel. Das bedeutet, dass die PTS auch bei der Anterior-Lesart neben dem Ereignis einen (resultativen) Zustand enthält. Mit anderen Worten, Anterior- und Superperfekt-Lesart sind wesentlich ähnlicher, als es die obigen Darstellungen suggerierten.9 2.2.3.2 Das Verhältnis von Anterior- und Superperfekt-Lesart Es wäre natürlich noch weit attraktiver, wenn man für die beiden Lesarten eine einheitliche Erklärung finden könnte. Unseres Erachtens könnte die folgendermaßen aussehen: Nehmen wir an, dass beide Lesarten zum Ausdruck bringen, 8 Der Effekt ist stärker, wenn das Ereignis wie in (23a) nicht agentiv ist, wenn also die temporale Ausdehnung der Eventualität nicht der Kontrolle des Satzsubjekts unterliegt. 9 Da das Plusquamperfekt auch Lesarten mit stativer Komponente aufweist (cf. die Übersetzung von (24)), ist es nicht erstaunlich, dass das DPF ein Substitut für viele Verwendungsweisen des Plusquamperfekts ist.
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dass ein E in einem Zustand resultiert, der bis zu einem R in der Vergangenheit anhält (also eine PTS wie in (22) aufweisen, aber nur mit einem R). Man könnte dann die zusätzliche Komponente, die bei der Superperfekt-Interpretation vorzuliegen scheint, nämlich die Tatsache, dass der aus dem Ereignis resultierende Zustand nicht mehr anhält, pragmatisch, d. h. mit der Griceschen Quantitätsmaxime erklären: Wenn ein Referenzpunkt in der Vergangenheit nicht gegeben ist und sich auch kontextuell nicht herstellen lässt, dann kommt als Referenzzeitpunkt nur der Sprechzeitpunkt infrage. Wenn man allerdings hätte ausdrücken wollen, dass ein aus dem Ereignis resultierender Zustand noch zum Sprechzeitpunkt anhält, dann hätte man stattdessen das einfache Perfekt wählen können. Dieses wäre kürzer und würde deshalb weniger Aufwand für den Sprecher beinhalten. Da aber die längere/markierte Form gewählt worden ist und man als Gesprächsteilnehmer davon ausgeht, dass der andere kooperativ ist und deshalb einen guten Grund hatte, nicht die kürzere Form zu verwenden, wird ein Umdeutungsprozess ausgelöst: Ausgehend von der Bedeutung des DPFs im Sinne von (22), dass ein Zustand bis zu einem Zeitpunkt vor S anhielt, wird gefolgert, dass dieser Zustand zum Sprechzeitpunkt nicht mehr anhält, denn das einfache Perfekt – das vom Sprecher vermieden worden ist – hätte impliziert, dass dieser Zustand zum Sprechzeitpunkt noch anhält. Dies würde bedeuten, dass Anterior- und Superperfekt-Lesart semantisch identisch sind und sich nur durch den pragmatischen Umdeutungsprozess bei der Superperfekt-Lesart unterscheiden. D.h. die korrekte Darstellung für beide Bedeutungen wäre wie in (22) (allerdings mit nur einem R). Eine ähnliche Position findet sich in Squartini (1999: 57). 2.2.3.3 Absolute Lesarten Ähnlich wie bei den Superperfekt-Interpretationen ist auch bei den absoluten Lesarten wie in (8) kein expliziter Referenzpunkt in der Vergangenheit erkennbar. Wir nehmen an, dass dies wiederum einen pragmatischen Interpretationsprozess auslöst. Im Gegensatz zu Superperfekt-Lesarten ist hier allerdings vom Kontext her eine Interpretation des Resultatszustands als nicht mehr anhaltend höchst unwahrscheinlich (cf. Beispiel (8)). Statt dessen wird inferiert, dass das Ereignis in einer unbestimmten/weit entfernten Vergangenheit stattgefunden haben muss. Das kann auf zwei Arten geschehen: Zum einen, wenn der Hörer den Sprechzeitpunkt als Referenzzeitpunkt ansetzt, wird wie bei der Superperfekt-Lesart ein Umdeutungsprozess ausgelöst: Hätte man ausdrücken wollen, dass etwas vor dem Sprechzeitpunkt erfolgt ist, womöglich mit Relevanz für den Sprechzeitpunkt, dann hätte der Sprecher stattdessen ein Perfekt verwendet. Die Verwendung des DPFs, das ja auf einer PTS wie in (22) basiert (aber nur mit einem R), lädt den Hörer zur Inferenz ein, dass das Ereignis als vom Sprechzeitpunkt weit/unbestimmt distanziert anzusehen ist. Andererseits wäre
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es aber auch möglich, dass der Hörer die Absenz eines expliziten Rs als Einladung versteht, einen solchen vor dem Sprechzeitpunkt zu inferieren. Da das Ereignis nun in der Vergangenheit liegt und zusätzlich vor einem nicht genannten R liegt, ist die Interpretation naheliegend, dass die zeitliche Distanz zwischen dem Ereignis und dem Sprechzeitpunkt lang/unbestimmt ist. Womöglich haben solche Formen auch die Funktion, Höflichkeit zum Ausdruck zu bringen, vgl. z. B. gewisse Verwendungen des Präteritums: Wie war ihr Name nochmal? 2.2.3.4 Episodische/deiktische Verwendung Es bleiben noch die scheinbar redundanten Verwendungsweisen wie oben in Beispiel (9). Hierzu ist zu bemerken, dass solche Verwendungen auch im Alemannischen beobachtet worden sind. So erwähnt Squartini (1999: 66f.), dass es im Zürichdeutschen eine Tendenz zu deiktischer/absoluter Verwendung des DPFs gebe (die aber von Sprachpflegern als inkorrekt betrachtet werde). Damit wird eine Verwendung bezeichnet, die Ähnlichkeiten aufweist mit sog. remotepast-Verwendungen des Plusquamperfekts in anderen Sprachen (z. B. Neugriechisch und Italienisch), wobei nicht mehr Anteriorität zu einem Referenzzeitpunkt in der Vergangenheit ausgedrückt wird (relativ-absolutes Tempus), sondern einfach Anteriorität bezüglich des Sprechzeitpunkts (absolutes Tempus). In dieser Verwendung scheint das DPF auch kompatibel mit spezifischen Zeitadverbien zu sein, wie der folgende Internetbeleg zeigt: (25) ich bin au die ganz Wuche chrank dehei gsi. Ha mega Halsweh, Huste, Schnupfe usw. Ich ha ihm Arzt am Mittwoch aglüte gha will ich mir au Sorge wägen Chline gemacht ha. Er het gseit mehr müessti mehreri Täg hochs Fieber ha, denn müesst mehr zum Arzt go. ›Ich bin auch die ganze Woche krank zu Hause gewesen. Habe starke Halsschmerzen, Husten, Schnupfen etc. Ich habe den Arzt am Mittwoch angerufen gehabt, weil ich mir auch Sorgen machte wegen des Kleinen. Er hat gesagt, man müsste mehrere Tage hohes Fieber haben, dann müsste man zum Arzt gehen.‹ http://www.babycenter.ch/thread/31319/januarlis-2013–-wir-sind-schwanger–?star tIndex=500, gefunden am 10. 9. 2012
Auch wenn solche Beispiele in traditionellen Darstellungen fehlen und die Autoren, die allesamt Alemannischsprecher sind, solche Beispiele als eher ungewöhnlich empfinden, lassen sie sich in Befragungen (wie im Syn-ALM-Projekt, cf. http://ling.uni-konstanz.de/pages/home/synalm/) elizitieren und auch mit Google-Recherchen finden. Womöglich damit zusammen hängt die Tatsache, dass es auch Sprecher gibt, die in Fällen wie (20b) (wo freilich ein klarer Referenzzeitpunkt in der Vergangenheit vorliegt) das Adverb auf die Ereigniszeit beziehen können. Wir konnten dies in unseren empirischen Arbeiten aber nicht mit genügender Sicherheit eruieren.
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Anstatt solche Beispiele einfach als Performanzfehler einzuordnen, ist es womöglich angemessener, sie aus einer Grammatikalisierungsperspektive zu betrachten: Gemäß Squartini (1999: 55) ist die Entwicklung des Plusquamperfekts von einem absolut-relativen Tempus zu einem unspezifischen Remote Past unmarkiert und z. B. für Sprachen wie Latein, Hindi-Urdu, Bengali und Amharisch belegt. Ein ähnlicher Entwicklungspfad für das DPF würde angesichts der sonstigen Ähnlichkeiten und den absoluten Verwendungen wie in (8) nicht erstaunen. Außerdem ist die remote-past-Funktion des DPFs ja z. B. im Okzitanischen/Französischen auch belegt, vgl. (7). Zu den im Laufe des Grammatikalisierungsprozesses offenbar noch nicht eindeutig festgelegten Möglichkeiten des doppelten Perfekts siehe auch Welke (2009). Unsere Analyse erfasst solche Fälle momentan nicht. Da wir die empirischen Verhältnisse nicht genügend klären konnten, müssen wir davon absehen, hier einen konkreten Vorschlag zu machen, wie die Analyse erweitert werden könnte. Es scheint aber klar, dass für Varietäten mit diesen Optionen nicht davon ausgegangen werden kann, dass stets eine stative Komponente vorhanden ist. 2.2.4 Doppeltes Plusquamperfekt und Tripling Wie oben in (10) gezeigt, ist Verdopplung auch mit dem Plusquamperfekt möglich; dabei findet sich dieselbe Ambiguität wie im einfachen Plusquamperfekt, d. h. die Form kann verwendet werden, um Abgeschlossenheit bezüglich eines Referenzzeitpunkts auszudrücken (10a) (weist damit also eine PTS ähnlich wie in (22) auf) oder aber einfach auch nur Anteriorität bezüglich eines vergangenen Ereignisses (10b). Daneben finden sich mit dem Doppelplusquamperfekt auch Superperfekt-Lesarten:10 (26) Ich hatte damals/im Urlaub meine Brille verloren gehabt. (i) – #Und sie nie wieder gefunden (ii) – habe sie zum Glück aber wieder gefunden
In einer Sprache, in der Anterior-Lesarten auch/nur über doppeltes Perfekt ausgedrückt werden, ist zu erwarten, dass das doppelte Plusquamperfekt durch ein dreifaches Perfekt realisiert wird. Genau solche Beispiele wurden gefunden: (27) ich hon’ s ganz vergesse ghabt ghet ich habe es ganz vergessen gehabt gehabt
10 Die Superperfekt-Lesart gilt für die Vergangenheit, d. h. es gab einen Zeitpunkt in der Vergangenheit, zu dem ein früherer Zustand wieder aufgehoben war (Zustand = verlorene Brille). Das sagt aber nichts über die Gegenwart aus, d. h. es ist möglich, dass der Sprecher die Brille mittlerweile wieder verloren hat. So könnte man im Beispiel folgendermaßen fortfahren: Blöderweise ist sie mir aber wenig später beim Fussballspielen runtergefallen, und ich bin draufgestanden, so dass ich sie wegschmeißen musste.
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(28) Oh mei – dia hot’s scho. Abr i ignorierse bis zom Mede (am Migda honne da Urlaub gwasi zwengara Todelinie au ondrbrocha ghabt ghett). Abr heid ned. Heid hanne Luse ond dua Brod bacha ond omanandleasa ond an Dengs beim Bildrgruschdla schdera. ›Nun ja, die (sc. Deadline) gibt’s schon. Aber ich ignoriere sie bis zum Montag. Am Mittwoch habe ich den Urlaub quasi wegen einer Deadline auch unterbrochen gehabt gehabt. Aber heute nicht. Heute habe ich Lust und backe Brot und lese ein wenig und störe den Dingsbums beim Bilderkramen.‹ http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=%22ghabt%20ghett%22&source=web& cd=2&cad=rja&ved=0CC0QFjAB&url=http%3A%2F%2Fdict.leo.org%2Fforum% 2FviewGeneraldiscussion.php%3FidThread%3D1021664%26lp%3Dende%26lang% 3Dde&ei=bcgsUKyiEs3Msgbmg4CIDg&usg=AFQjCNGXd_YdHXHcRabwnsxEx2P TjXT3iQ (29) uwehzwick! Dau schdeige ganz schnell mear aus Fettnapf raus ;-) Dau hanne ’s Dorisle falsch vrschdanda ghabt ghett mit deane Kirscha. ›Au weia, da steige ich schnell wieder aus dem Fettnapf raus. Da habe ich die Doris falsch verstanden gehabt gehabt mit diesen Kirschen.‹ http://dict.leo.org/forum/viewGeneraldiscussion.php?idThread=1200779&lp=ende &lang=de
Dies ist nur möglich in Dialekten, die zwei verschiedene Formen von gehabt zur Verfügung haben. Im Fall der schwäbischen Beispiele oben sieht es so aus, als ob die Form ghabt aus dem Standarddeutschen entlehnt ist (laut dem Südwestdeutschen Sprachatlas SSA gibt es nur die Form ghet).11 Auch im BodenseeAlemannischen sind Fälle wie in (27) möglich: Hier tritt eine Kombination aus gha (Bodensee-Alemannisch) und ghet (Schwäbisch) auf. Akzeptanz und Verbreitung dieser Konstruktion werden gegenwärtig im Projekt SynALM untersucht, auch die Interpretationsmöglichkeiten sind noch nicht völlig klar; in den obigen Beispielen scheint eine Superperfekt-Interpretation am salientesten. Generell scheint das Hinzufügen eines weiteren Auxiliars zu keinen zusätzlichen Lesarten zu führen. Ob dies dann tatsächlich ein Fall von semantisch leerer und damit redundanter Verdopplung ist, muss im Moment offen bleiben. Die Ergebnisse der obigen Diskussion lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Einsetzung eines zweiten Auxiliars (in Form eines Partizips) bei der Bildung einer Vergangenheitsform löst generell eine Fokussierung auf den Nachzustand eines Ereignisses aus, das vor einem Referenzpunkt in der Vergangenheit stattfand. Dies führt entweder zur Vorzeitigkeitslesart (AnteriorLesart) oder aber durch pragmatische Inferenzprozesse zu einer SuperperfektLesart (je nach Typ des Verbs bzw. enzyklopädischem Wissen, inwieweit ein Zustand umkehrbar ist). 11 Wie ein anonymer Gutachter richtigerweise angemerkt hat, ist bei solchen Belegen (v. a. aus Deutschland) nicht immer ganz klar, inwiefern tatsächlich Dialekt oder aber eine regionale Varietät zwischen Dialekt und Standard verschriftlicht wird. Die Form ghabt könnte daher einfach auch aus einer standardnäheren Sprechlage stammen und nicht notwendigerweise aus der Standardsprache.
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Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass ein DPF die temporale Strukturierung von Ereignissen und den daraus resultierenden Zuständen feiner spezifizieren kann, als dies mit Plusquamperfekt und Perfekt ausgedrückt werden könnte.
2.3
Syntax: eine Kopulastruktur
Die vorliegenden Abschnitte haben gezeigt, dass das DPF zwingend einen Nachzustand beinhaltet. Es handelt sich dabei aber nicht um eine rein stative Konstruktion. Dies lässt sich am besten zeigen, indem man das DPF mit einer an der Oberfläche identischen Konstruktion vergleicht, die tatsächlich rein stativ ist (und sich außerdem auch im einfachen Perfekt findet): (30) a. b. (31) a. b.
Ich habe die Haare gefärbt gehabt. Der Adler ist verschwunden gewesen. Ich habe die Haare gefärbt. Der Adler ist verschwunden.
Alle Beispiele sind ambig zwischen einer rein stativen und einer eventiven Interpretation: die a-Beispiele können bedeuten, dass das Subjekt sich die Haare gefärbt hat (eventiv) oder dass das Subjekt die Haare in gefärbtem Zustand trägt (stativ). Die b-Beispiele können zum Ausdruck bringen, dass ein Verschwinden des Adlers stattgefunden hat (eventiv) oder dass ein Zustand des Verschwundenseins eines Adlers vorliegt (stativ). In vielen Fällen ist die Oberflächenform ambig, kann jedoch durch Adverbien leicht desambiguiert werden: Mit schon wird eine eventive Lesart erzwungen, mit immer noch eine stative: (32) Ich ha s Feischter scho/immer no ggöffnet ghaa. ich habe das Fenster schon/immer noch geöffnet gehabt ›Ich hatte das Fenster schon geöffnet/immer noch in geöffnetem Zustand.‹ (Zürichdeutsch)
Die eventive Konstruktion (= Perfekt und DPF) unterscheidet sich von der rein stativen bei der Verwendung mit haben außerdem dadurch, dass das externe Argument des Partizips mit dem Oberflächensubjekt identisch sein muss, während dies bei der stativen nicht der Fall ist: Unter der stativen Lesart der aBeispiele kann das Färben vom Subjekt aber auch von einer anderen Person vorgenommen worden sein, cf. Businger (2011: 192f.), Businger (2013: 146). Zustände und Resultate werden häufig mittels adjektivischen Strukturen modelliert (cf. z. B. Maienborn 2007) und es gibt tatsächlich gute Gründe anzunehmen, dass die Konstruktion mit der stativen Interpretation rein adjektivisch ist. Sie erfüllt die typischen Adjektivtests, wie sie in Gese et al. (2009) und Businger (2011: 192–201), Businger (2013: 145–151) beschrieben werden (in der Umgangssprache wie in Dialekten): So kann das Partizip mit dem un-Präfix
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verbunden werden, es kann gesteigert werden und mit einem eindeutigen Adjektiv koordiniert werden: (33) a. Ich ha s Feischter hüüfig unggöffnet ghaa. ich habe das Fenster häufig ungeöffnet gehabt b. Ich ha de Baart immer pflägter ghaa als er. ich habe den Bart immer gepflegter gehabt als er c. Ich ha s Feischter putzt und offe ghaa. ich habe das Fenster geputzt und offen gehabt (Zürichdeutsch)
In allen drei Beispielen liegt die Struktur mit der stativen Interpretation vor. Für (33a/b) steht das wohl außer Zweifel, für (33c) lässt es sich leicht zeigen: Wenn man das Adverb sälber ›selber‹ einfügt, das eine eventive Lesart erzwingt, ist die Koordination nicht mehr möglich: (34) *Ich ha s Feischter sälber putzt und offe ghaa. ich habe das Fenster selber geputzt und geöffnet gehabt (Zürichdeutsch)
In der stativen Interpretation ist die Konstruktion daher als Kopulakonstruktion zu analysieren, d. h. das Partizip von sein/haben fungiert als Kopula (= Vollverb), während die finite Form von sein/haben als Auxiliar fungiert. Schematisch lässt sich dies wie folgt darstellen:12 (35) a. [vp ich1 [vp __1 [ap die Haare gefärbt] gehabt] habe] b. [vp Adler1 [vp [ap __1 verschwunden] gewesen] ist]
In der Konstruktion mit haben ist bloß das interne Argument von färben, das Thema/Patiens erhalten; es wird vom Adjektiv an die DP innerhalb der AP zugewiesen. Es ist keine VP vorhanden und damit auch keine eventive Komponente. Das Matrixsubjekt ist ein Argument der Kopula, das Auxiliar wird als Raisingverb analysiert. In der Konstruktion mit sein bleibt das einzige Argument von verschwinden erhalten und wird an das Oberflächensubjekt zugewiesen, das Partizip von sein wie auch das Auxiliar werden als Raisingverben analysiert. Die Frage, die sich nun aber stellt, ist, welche Struktur für das DPF anzusetzen ist, d. h. für die eventive Interpretation der Beispiele in (30). Da die Konstruktion wie in 2.2.3.2 gezeigt auch eine stative Komponente (den Resultatszustand) 12 Anstelle einer Adjektivphrase könnte man auch wie in Businger (2013) eine Small ClauseStruktur ansetzen mit DP als Subjekt und Partizip als adjektivischem Prädikat; mögliche Unterschiede sind für unsere Zwecke unerheblich. Aus Einfachheitsgründen wird für Kopula und Auxiliar jeweils eine VP angesetzt, man könnte aber auch zwischen AuxP und VP unterscheiden. Außerdem könnte die Kopula haben dekomponiert werden (wie e. g. in Freeze (1992) oder Businger (2013)), aber für unsere Zwecke genügt die Struktur in (35). Schließlich könnte das lexikalische Partizip als komplexer Kopf bestehend aus nicht-projizierendem verbalem Bestandteil + adjektivischem Kopf analysiert werden wie in Koeneman et al. (2011: 49f.).
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aufweist, ist man geneigt, auch hier eine adjektivische Struktur anzusetzen. Gleichzeitig muss der Unterschied zur rein stativen Interpretation zum Ausdruck kommen. Wir schlagen vor, diesen Unterschied dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass hier eine verbale Projektion in die adjektivische eingebettet ist. Das Adjektiv wird als mixed category analysiert, d. h. der Stamm projiziert eine VP, während die adjektivische Endung eine AP-projiziert. Wie genau die morphologische Form zustande kommt, ist für unsere Zwecke unerheblich, eine Möglichkeit ist Kopfbewegung des Stammes zum adjektivischen Kopf. Darüber findet sich dann wiederum das Partizip von sein/haben als Kopula und in der obersten Schale die finite Form von sein/haben als Auxiliar (die Struktur ist stark angelehnt an die in Koeneman et al. (2011: 55f.)): (36) a. [vp ich1 [vp __1 [ap PRO1 [vP Haare färb]-prt] gehabt] habe] b. [vp Adler1 [vp [ap [vP __1 verschwind]-prt] gewesen] ist]
Das DPF scheint somit eine Zwischenform einzunehmen zwischen der rein adjektivischen Struktur in (35) und einer rein verbalen wie bei Verwendungen des Perfekts/Plusquamperfekts wie in (13b)/(21), wo sich die PTS nur über das Ereignis erstreckt. In der Konstruktion mit haben enthält die AP ein externes Argument in Form eines leeren PRO, das vom Subjekt von haben kontrolliert wird. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass das Oberflächensubjekt auch immer das Agens des durch das lexikalische Partizip ausgedrückten Events ist. Weitere Evidenz für die Anwesenheit eines PRO-Subjekts innerhalb der AP ist die Kompatibilität mit Adverbien wie selber, die Intentionalität/Agentivität voraussetzen: (37) Ich ha s Fenschter sälber/absichtlich ggöffnet gha, demit … ich habe das Fenster selber/absichtlich geöffnet gehabt damit
Da eine VP vorhanden ist, können auch Adverbien auftreten, welche die VPmodifizieren, wie z.B: Frequenzadverbien: (38) Ich ha s Fenschter dreimal uffgmacht gha ich habe das Fenster dreimal aufgemacht gehabt (und immer wieder het s ebber zuegmacht). und immer wieder hat es jemand zugemacht (Bodensee-Alemannisch)
Mit den Strukturen in (36) lassen sich die interpretatorischen Einschränkungen des DPFs gegenüber dem (Plusquam-)Perfekt gut erklären: Unter der Annahme, dass es keine eigentliche Verdopplung gibt (für Argumente vgl. Koeneman et al. (2011: 35–37)), können gehabt/gewesen nicht als Auxiliar, sondern nur als Kopula (= Vollverb) klassifiziert werden. Dies hat zur Folge, dass deren Komplement nicht verbal sein kann; als Möglichkeit bleibt bloß eine nominale/adjektivische Struktur. Durch die adjektivische Struktur ergibt sich sogleich die Zustands-/Resultatskomponente, was bedeutet, dass die RB beim DPF nicht mit
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(dem letzten Subintervall von) E zusammenfallen kann, sondern eine ausgedehnte PTS vorliegt. Nun gilt gemäß Rothstein (2008: 119), dass bei allen Perfektvarianten mit stativer Komponente (d. h. alle außer der präteritalen Verwendung und dem universellen Perfekt) die PTS bis zu R heranreicht. Übertragen auf das DPF ergibt dies eine Semantik wie in (22) und damit auch die Inkompatibilität mit spezifischen Adverbien, die sich auf die Ereigniszeit beziehen.13 Der Vergleich der Strukturen basierend auf sein in (35b) und (36b) zeigt, dass die Unterschiede sehr gering sind, was dazu führt, dass die beiden Lesarten nur schwer zu trennen sind. Dies ist womöglich auch der Grund, weshalb in Hundt (2011) argumentiert wird, dass DPF-Konstruktionen basierend auf sein immer stative Kopulativkonstruktionen wie in (35b) seien. Unseres Erachtens gibt es aber doch Gründe, auch die Struktur in (36b) anzusetzen, weil einige Verwendungen des DPFs mit sein klar eventiven Charakter haben, so z. B. folgendes Beispiel: (39) Kontrollier mal ob bide Türe unde no alli Gummis druf sind, sind quasi hinter de Alulistli. Min Gummi isch bide Bifahrertüre usegheit gsi, hanen denn neu akläbt und jetzt hebet er wider. ›Kontrolliere mal, ob bei den Türen unten noch alle Gummis drauf sind, sie sind quasi hinter den Aluleisten. Mein Gummi ist bei der Beifahrertüre rausgefallen gewesen, habe ihn dann neu angeklebt und jetzt hält er wieder.‹ http://www.tuning-forum.ch/print.php?threadid=16339&page=1&sid=5e11f8866ae 4b25a4b708448e3604682
Die Strukturen in (36) wurden bislang vor allem semantisch motiviert, wobei die VP den eventiven Charakter des DPFs erklärt und die AP die Resultats-/Zustandskomponente zum Ausdruck bringt. Während die verbale Komponente wohl wenig kontrovers ist, mag die adjektivische Komponente aus syntaktischer Perspektive überraschen, da ja zumindest an der Oberfläche das DPF wie eine zusammengesetzte Zeitform aussieht – wo normalerweise ja VPs auftreten. Wir werden aber im folgenden Abschnitt neue unabhängige morphosyntaktische Evidenz dafür liefern, dass das DPF tatsächlich adjektivische Struktur enthält.
13 Beim Perfekt und beim Plusquamperfekt kann die PTS ja auch nur das Ereignis umfassen, so dass diese Beschränkung nicht gilt. Die Partizipien sind dann rein verbal. Sobald aber dort durch Adverbien und/oder Kontext eine stative Lesart erzwungen wird, erstreckt sich die PTS auch dort bis zu R. Als Konsequenz ist dann der Bezug auf die Ereigniszeit mittels Adverbien nicht mehr möglich, vgl. *Als ich nach Haus kam, hatte mein Mann zwei Stunden vorher gegessen. In den stativen Fällen ist das lexikalische Partizip dann auch als adjektivisch zu analysieren. Für das Perfekt wird im nächsten Abschnitt entsprechende Evidenz geliefert.
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Evidenz aus dem Alemannischen
In diesem Abschnitt werden wir zwei Typen von morphosyntaktischer Evidenz anführen für eine adjektivische Struktur im DPF, nämlich Abfolgerestriktionen im Verbcluster und Flexion des lexikalischen Partizips. Die relevanten Daten stammen allesamt aus höchstalemannischen Dialekten.
3.1
Clusterabfolgerestriktionen im DPF
Die folgende Diskussion basiert auf Koeneman et al. (2011), die das DPF im Niederländischen betrachten. Sie argumentieren, ausgehend von Barbiers/ Bennis (2010), für eine Analyse des Partizips als Adjektiv anhand von Abfolgerestriktionen im Verbcluster. Im Standardniederländischen kann das Partizip eines 3-Verb-Clusters bestehend aus Auxiliar, Modalverb und Partizip am Ende des Clusters stehen: (40) dat iemand Jan zijn fiets moet1 heben2 gestolen3 dass jemand Jan sein Fahrrad muss haben gestohlen ›dass jemand Jans Fahrrad gestohlen haben muss‹
(123)
Interessanterweise ist das aber im doppelten Perfekt nicht möglich, es sind nur die Abfolgen 321 und 312 akzeptabel: (41) dat Jan een fiets … dass Jan ein Fahrrad (i) * … heeft1 gehad2 gestolen3 hat gehabt gestohlen
(123)
(ii) … gestolen3 gehad2 heeft1 (iii) … gestolen3 heeft1 gehad2
(321) (312)
Diese Restriktion lässt sich verstehen, wenn das lexikalische Partizip adjektivisch ist: Als nicht-verbales Element ist es nicht Teil des Verbclusters und kann daher nicht nach den anderen verbalen Elementen stehen – es stünde dann als einziges Element im Nachfeld, was aber im Niederländischen (wie im Deutschen) bei Adjektiven nicht möglich ist (vgl. *dass er ist stolz). Gemäß Koeneman et al. (2011) wird das Partizip stativ interpretiert, was eine Resultatsinterpretation zur Folge hat; wie in unserem Ansatz wird gehabt/gewesen als Kopula interpretiert. Die im Niederländischen vorherrschende Superperfekt-Lesart ergibt sich gemäß der Autoren (S. 74) als Implikatur aus der Kombination lexikalisches haben + funktionales haben, d. h. aus der Tatsache, dass ein Zustand in der Vergangenheit anhielt, wird gefolgert, dass er zum Sprechzeitpunkt nicht mehr anhält, ähnlich wie der Ausdruck die Mauer ist weiß gewesen präferiert so interpretiert wird, dass die Mauer zum Sprechzeitpunkt nicht mehr weiß ist.
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Vergleichbare Evidenz im Deutschen lässt sich nur in Varietäten finden, die ansteigende Abfolgen im Verbcluster zulassen, d. h. Abfolgen, in denen das regierende Verb dem regierten vorangeht. Solche Abfolgen finden sich am systematischsten im Alemannischen. So z. B. lässt das Berndeutsche bei 2-VerbClustern bestehend aus Aux+Partizip eine 12-Abfolge zu, cf. Hodler (1969: 688): (42) won i es Ross ha1 gchouft2 als ich ein Pferd habe gekauft (Berndeutsch)
Interessanterweise lässt nun das doppelte Perfekt selbst in diesen Varietäten keine 123-Abfolge zu, es finden sich – im Berndeutschen – lediglich folgende Abfolgen: 321, 312, 132 (213 und 231 sind generell ausgeschlossen in diesem Dialekt und mit Ausnahme von einigen Konstruktionen generell im Alemannischen), cf. Hodler (1969: 684f.):14 (43)
a. Es het is nid rächt gfalle, dass ihri Tochter es hat uns nicht recht gefallen dass ihre Tochter am Tag vorhär verreiset3 isch1 gsi2. am Tag vorher verreist ist gewesen (312) Marti (1985: 170) b. Wenn me de ds Gschirr use gruumt3 gha2 het1, wenn man dann das Geschirr hinaus geräumt gehabt hat so hei d Chinder d Ufgabe gmacht. dann haben die Kinder die Aufgaben gemacht
(321)
c. Es isch es Läbe gsi, wi me’ s no nie het1 gseh3 gha2. es ist ein Leben gewesen wie man es noch nie hat gesehen gehabt (132) Hodler (1969: 494f.)
Man könnte dies natürlich parallel zu den niederländischen Daten interpretieren und die Abfolgerestriktionen auf den adjektivischen Status des lexikalischen Partizips zurückführen. Allerdings ist hier einzuwenden, dass 3-Verb-Cluster, bei denen V3 ein Partizip ist, in diesen Dialekten15 (und gemäß unseren Informationen in allen alemannischen Dialekten) generell keine 123-Abfolge zulassen. D.h. auch Cluster vom Typ Mod-Aux-Part (muss haben verkauft), Auxwerden-Part (ist worden verkauft), Mod-werden-Part (muss werden verkauft), Fut-sein/werden-Part (wird sein/werden verkauft) lassen keine 123-Abfolge zu. Ob diese Partizipien ebenfalls als Adjektive analysiert werden können, wird im nächsten Unterabschnitt genauer diskutiert. Vorläufig lässt sich also festhalten, 14 Bei 132-Abfolgen kann das Partizip durchaus auch als adjektivisch analysiert werden, weil in dieser Abfolge Verb Projection Raising möglich ist, d. h. nicht-verbales Material kann innerhalb des Verbclusters vorkommen. 15 Vgl. Kolmer (2011), wo für das moderne Berndeutsch eine generelle Präferenz für die 132Abfolge berichtet wird.
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dass die Wortstellungsdaten zwar kompatibel sind mit einer Adjektivanalyse, eine solche aber nicht unbedingt als zwingend erscheinen lassen.
3.2
Flektierte Partizipien im DPF
3.2.1 Flektierte Partizipien als Evidenz für Adjektivstatus In zahlreichen höchstalemannischen Varietäten (gesprochen im Berner Oberland, Wallis, Sensebezirk im Kanton Freiburg, Glarus, Uri, Schwyz, Luzern, Obund Nidwalden, Zug, Bündner Walserorte) werden auch prädikative Adjektive flektiert, vgl. das folgende Beispiel aus dem Dialekt von Visperterminen (Bucheli Berger (2005b: 150)):16 (44) a. Är ischt alt-e er ist alt-m.sg
b. Schi ischt mied-i. sie ist müde-f.sg
Interessanterweise findet sich Flexion auch bei Partizipien, und zwar auch beim doppelten Perfekt: Gemäß Hodler (1969: 346, 494) und Dauwalder (1992) ist das lexikalische Partizip im doppelten Perfekt in den Dialekten des Berner Oberlandes obligatorisch flektiert; es kongruiert mit dem zugrundeliegenden Thema/Patiens-Argument, also mit dem Objekt, im Falle von haben, und mit dem Subjekt im Falle von sein; bei nichtergativischen Verben und transitiven Verben ohne Objekt erscheint die neutrale Endung -s: (45) a. win er der Namen Gottes het1 usgsprochn-a3 ghabe2 wie er den Namen Gottes hat ausgesprochen-m.sg gehabt (132) b. wo wir Zmorge gchochet-s3 u gässe-s3 hei1 gchaa2 als wir Frühstück gekocht-ntr.sg und gegessen-ntr.sg haben gehabt (312) c. we der Att isch1 i ds Chötteli gschloffn-a3 gsii2 als der Onkel ist in das Kittelchen geschlüpft-msc.sg gewesen (1…32)
Man könnte jetzt natürlich folgern, dass sämtliche Partizipien (in diesen Varietäten) Adjektive sind. So generell stimmt dies aber nicht. So finden sich z. B. im Freiburgischen (aber wohl auch in den anderen Dialekten mit Flexion) 2V – Cluster vom Typ Aux-Part mit 12-Abfolge (wie in Bsp. (42)). In diesen Fällen kann das Partizip nie flektiert werden, Flexion ist nur bei der 21-Abfolge möglich (Raffaela Baechler, p.c; wobei dies nur bei rein resultativer Bedeutung möglich 16 Für eine ausführliche Diskussion zur Verbreitung und Herkunft der Adjektivflexion und damit zur Frage Archaismus vs. Romanismus, vgl. Fleischer (2007). Die möglichen Implikationen der Flexion im doppelten Perfekt für diese Diskussion wollen wir in zukünftigen Arbeiten untersuchen.
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ist, vgl. den nächsten Abschnitt). Flexion ist also eine Eigenschaft von bestimmten Partizipien.17 3.2.2 Flektierte Partizipien als Evidenz für Resultativität In der traditionellen Erklärung wird die Flexion der Perfektpartizipien als Zeichen für Resultativität gedeutet, vgl. Bucheli Berger (2005b). So lassen sich – im einfachen Perfekt – Minimalpaare wie das folgende konstruieren, bei denen Kongruenz nur bei einem resultativen Perfekt möglich ist, nicht aber wenn einfach ein Ereignis in der Vergangenheit ausgedrückt werden soll (eventives/ perfektives Perfekt, vgl. Fuchs (1993: 73)): (46) a. Ds rächt Bei het är üüsgschtreckt. das rechte Bein hat er ausgestreckt ›Er hat das rechte Bein ausgestreckt.‹
Ereignis
b. Ds rächt Bei het är üüsgschtreckt-s. Resultat das rechte Bein hat er ausgestreckt-ntr.sg ›Er hält das rechte Bein ausgestreckt.‹ (Dialekt von Steg [Wallis])
Ein ähnlicher Kontrast findet sich gemäß Raffaela Baechler (p.c.) im Freiburgischen auch bei Verbclustern vom Typ Mod-Aux-Part: Flexion erscheint dann, wenn eine resultative Komponente vorliegt, wie z. B. bei dem folgenden Beispiel: (47) dass de Student bis Endi Manet d Arbit muess gschrübn-i dass der Student bis Ende Monat die Arbeit muss geschrieben-fem.sg ha haben
Die Arbeit muss zu einem bestimmten Punkt (ein R, der hier in der Zukunft liegt) in fertigem Zustand vorliegen. Es findet sich aber keine Flexion, wenn mit demselben Clustertyp bloß ausgedrückt wird, dass ein Ereignis in der Vergangenheit stattgefunden hat: (48) dass de Student d Arbit säuber muess gschrübe ha dass der Student die Arbeit selber muss geschrieben haben
In der traditionellen Literatur finden sich viele Hinweise, die diese These bestätigen. Häufig wird darauf hingewiesen, dass die Flexion einen Resultatszustand ausdrückt und nicht bloße Abgeschlossenheit. Im Folgenden stellen wir einige der Daten kurz zusammen. So schreibt Stucki (1917: 288) zum Dialekt von Jaun im Kanton Freiburg: »Kongruenz des Ptc. Praet. mit dem Objekt ist Regel als Ausdruck des praesentischen bezw. praeteritalen Zustandes«. Er gibt folgendes Minimalpaar an: 17 D.h. während die 21-Abfolge sowohl die temporale (= Perfekt-) wie auch die resultative Lesart zulässt, ist bei der 12-Abfolge nur die temporale Interpretation möglich. Denselben Kontrast beobachtet Abraham (2005: 274; 292) für das Wienerische, das ebenfalls über beide Clusterabfolgen verfügt.
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(49) a. ər hæk kxüra:tə-s. er hat geheiratet-ntr ›Er ist verheiratet.‹
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b. ər hæt ts suntək kxüra:tə. er hat des Sonntag geheiratet ›Er hat am Sonntag geheiratet.‹
Clauss (1929: 186) schreibt zum Dialekt von Uri: »In den mit haben zusammengesetzten Verbalformen wird das Ptc. anscheinend nur dann flektiert, wenn der aus der Aktion hervorgegangene Zustand bezeichnet werden soll. Unflektiert ist das Ptc. hingegen, wenn der Abschluss der Handlung schlechthin ausgedrückt wird«. Es findet sich folgendes Beispiel: (50) mər hent ts pro:k kæssə-s Wir haben das Brot gegessen-ntr ›Wir haben das Brot gegessen.‹ (es ist keines mehr im Hause)
Henzen (1927: 204) schreibt zur Mundart im Sensebezirk im Kanton Freiburg: »Kongruenz des Part. Praet. mit dem Subjekt oder Objekt drückt präsentischen (bzw. präteritalen) Zustand aus«. Hotzenköcherle (1934: 407) schreibt über den Dialekt von Mutten (Kanton Graubünden): »Das mit haben zusammengesetzte Ptc. Praet. kennt die Kongruenz nur dann, wenn der Resultatszustand als solcher (nicht die abgeschlossene Handlung) bezeichnet werden soll. Doch ist die Kongruenz auch in diesen Fällen selten und durchaus nicht zwingend«. Szadrowsky (1936: 457) schreibt über die Walsermundarten: »In den mundarten zeigt solches part. prät. mit han die übereinstimmung nur dann, wenn das ergebnis, der zustand bezeichnet wird, nicht die abgeschlossene handlung« Interessanterweise finden sich auch Aussagen, die vager sind und die Flexion zum Teil auch einfach als Zeichen von Abgeschlossenheit deuten. So schreibt Dauwalder (1992: 50) über den Dialekt im Haslital (Berner Oberland), dass sich Flexion beim einfachen Perfekt nur dann findet, wenn ausgedrückt werden soll, dass »eine Handlung, eine Arbeit vollständig beendet worden ist«; etwas ambig ist auch die Charakterisierung bei Hodler (1969). So schreibt er (Hodler (1969: 345f.)) zum einfachen Perfekt in den Mundarten des Berner Oberlandes: »wie die Umschreibung mit sy kann auch die mit ha einfach präterital sein oder einen in der Gegenwart erreichten (Zustand) (echtes Perfekt) ausdrücken. Das letztere war jedenfalls das, was die Verbindung mit flektiertem Ptz. von derjenigen mit unflektiertem, die ja ebenso ursprünglich und als Nebenform wohl im ganzen Gebiet vorhanden war, unterschied.« (51) Darmid han i ggässe-s. Damit habe ich gegessen-ntr ›Damit habe ich gegessen.‹ (= davon bin ich satt geworden)
Zum DPF schreibt er, vgl. Hodler (1969: 346f.): »Der in der Vergangenheit erreichte Zustand wird nun jedenfalls durch das Plusquamperfekt [= DPF, die Autoren] ausgedrückt. Daher ist es kein Zufall, dass für die Umschreibung des Plusquamperfekts das flektierte Partizip obligatorisch ist im Oberländischen«.
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Während diese Aussagen klar Richtung Resultativität gehen, finden sich an anderer Stelle etwas anders nuancierte Beschreibungen, vgl. Hodler (1969: 493): »In Maa. des BO. zeigt die Flexion des Partizips nach sy und ha die perfektive Bedeutung der Umschreibung an.« sowie Hodler (1969: 494): »In den Maa. des O. wird der perfektische Sinn des zusammengesetzten Präteritums durch Flexion des Ptz. markiert und so auch die abgeschlossene Handlung des Pqpf. in ihrem Verhältnis zum Hauptsatz«. Bestimmt hat diese partielle Ambiguität nicht zuletzt damit zu tun, dass wie in 2.2.3.2 besprochen ein Resultatszustand nicht in allen Fällen salient ist; gerade in den Fällen, wo er nur kontextuell inferiert kann, ist es daher wenig erstaunlich, wenn bei der Beschreibung andere Charakterisierungen gewählt werden. Die Tatsache aber, dass sich im DPF immer Flexion findet, suggeriert, dass es eine allen Beispielen in solchen Dialekten zugrunde liegende Gemeinsamkeit gibt. Angesichts der resultativen Funktion der Flexion im einfachen Perfekt, vgl. (46), (49)–(51), ist dies offensichtlich die stative Komponente (im obigen, etwas weiteren Sinn, der inhärente wie auch kontextuell inferierte Zustände umfasst). Die Flexionsdaten passen damit gut zu unseren Annahmen über die semantische Funktion des DPFs, wonach es eine Zeitspanne bezeichnet, die ein Ereignis mit Nachzustand enthält und bis zu einem R in der Vergangenheit anhält. Und da Resultativität/Stativität gemeinhin mit adjektivischen Strukturen modelliert wird, passen die Flexionsdaten auch gut zur Adjektivanalyse des lexikalischen Partizips. Die Notwendigkeit einer adjektivischen Struktur wiederum und die entsprechenden interpretatorischen Restriktionen des DPFs ergeben sich daraus, dass durch die scheinbare Verdopplung das Partizip von haben/sein eine Kopula sein muss, die ja nur nicht-verbale Komplemente zu sich nehmen kann. Mit anderen Worten, bei unserer Analyse kann die Bedeutung in weiten Teilen direkt auf der Basis der syntaktischen Struktur berechnet werden. Bevor wir diesen Abschnitt beenden, möchten wir noch kurz auf einige Daten eingehen, die Probleme bereiten für eine Analyse, die einen direkten Zusammenhang zwischen Wortstellung, Flexion, Interpretation und Kategorie herstellt: Man kann für die höchstalemannischen Dialekte generell festhalten, dass nur nicht-finale Partizipien flektieren (nicht-final bezogen auf die Abfolge in V– letzt-Sätzen). Flexion und Wortstellungsrestriktion passen hier also perfekt zusammen und ergeben sich automatisch aus der Annahme, dass die Partizipien adjektivisch sind. Es lässt sich daraus aber nicht unbedingt folgern, dass nichtflektierte Partizipien sich generell verbal verhalten. So nämlich kann auch das Partizip in (48) nicht Cluster-final stehen, obschon es eventiv zu sein scheint (und damit als verbal zu analysieren wäre). Offensichtlich gibt es im Alemannischen eine generelle Restriktion gegen Cluster-finale Platzierung von Partizipien, die nicht zwischen verbalen und adjektivischen Partizipien unterscheidet. Umgekehrt lässt sich für das Niederländische beobachten, dass Cluster wie in (40) auch
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resultative Lesarten des Partizips zulassen, was daher zur Klassifikation als Adjektiv führen sollte, was wiederum aber nicht kompatibel wäre mit der Tatsache, dass Adjektive nicht im Nachfeld stehen können. Es ist daher nicht klar, ob man von der Interpretation automatisch auf die Kategorie schließen kann und ob stative/resultative Interpretationen (zumindest im Niederländischen) auch mittels rein verbalen Kategorien ausgedrückt werden können. Probleme ergeben sich auch beim Schluss von der Form, d. h. der Flexion, auf die Interpretation, und zwar bei Verbclustern mit Passiv: Zunächst lässt sich feststellen, dass die alemannischen Dialekte (und deutsche Dialekte wohl generell) im Passiv keine 12- oder 123-Abfolgen zulassen. Außerdem sind die Partizipien in höchstalemannischen Dialekten flektiert, und zwar sowohl im Vorgangs- wie im Zustandspassiv, cf. Wipf (1910: 145) für den Dialekt von Visperterminen (Beispiel a), Fuchs (1993) für den Dialekt von Steg (b) und Hodler (1969: 346) für das Berner Oberländische (d) [a–c = Vorgangspassive, d = Zustandspassiv):18 (52)
a. Wie chund daas gmacht-s? wie wird das gemacht-ntr.sg b. Der chunnt dernaa va denä Gsellu […] gidreet-ä und der wird danach von diesen Typen gedreht-m.sg und chesslut-ä. eingekreist-m.sg c. dass ds Buech muess gläs-es cho dass das Buch muss gelesen-ntr.sg werden (Raffaela Baechler, p.c.) d. Wen r ischd häichun, als er ist heimgekommen sii d Chind gsträält-i ung gwäschn-i gsiin. sind die Kinder gekämmt-pl und gewaschen-pl gewesen
Auf den ersten Blick scheinen hier also Wortstellung und Flexion sehr gut zusammenzupassen. Aber wenn man das Passivpartizip als Adjektiv analysiert, ergeben sich womöglich Probleme bei der Interpretation: Adjektive drücken stets eine stative Komponente aus; dies ist unproblematisch beim Zustandspassiv, führt aber zu Schwierigkeiten bei eventiven Passiven wie in (52a–c), wo eine stative Komponente nicht offensichtlich ist. Die Tatsache, dass die Konstruktion als Ganzes nicht stativ ist, muss allerdings nicht unbedingt bedeuten,
18 In diesen Varianten wird beim Vorgangspassiv statt werden in der Regel bekommen als Auxiliar verwendet, vgl. Bucheli Berger (2005). Das Beispiel (52c) ist womöglich ähnlich wie die Cluster in (47) und (48) ambig zwischen einer resultativen und eventiven Interpretation. Allerdings scheint Flexion unter beiden Interpretationen obligatorisch zu sein.
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dass das Partizip (oder die partizipiale XP) nicht doch stativ sein kann. Es könnte sein, dass je nach Auxiliar eine stative Form stativ bleibt oder dynamisch wird: (53) a. [hat [die Flasche getrunken].stativ].stativ b. [ist [getrunken].stativ].stativ c. [wird [getrunken].stativ].dynamisch
D.h. man könnte annehmen, dass HABEN und SEIN die Aktionsart des Partizips nicht beeinflussen, im Gegensatz zu WERDEN (oder KOMMEN, je nach Dialekt), das etwas zugrunde liegend Statives in ein dynamisches Ereignis verwandelt.19 Zusammenfassend kann man daher festhalten, dass es zwar für die Partizipien im doppelten Perfekt angesichts der Flexionsdaten gute Gründe gibt, anzunehmen, dass sie resultativ und adjektivisch sind. Es bleiben aber offene Fragen was das genaue Verhältnis zwischen Wortstellung, Flexion, Interpretation und Kategorie betrifft, und zwar sowohl sprachintern als auch sprachübergreifend.
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Zusammenfassung
Wir haben in diesem Artikel eine intervallbasierte Analyse des doppelten Perfekts vorgeschlagen, wonach es eine Zeitspanne bezeichnet, die ein Ereignis sowie einen Resultatszustand enthält, der bis zu einem Referenzzeitpunkt in der Vergangenheit anhält. Damit lassen sich die zwei Hauptlesarten der Konstruktion, die Anterior-Lesart und die Superperfekt-Lesart, direkt ableiten. Wir haben gezeigt, dass das doppelte Perfekt (gegenüber dem Perfekt und dem Plusquamperfekt) in seinen Interpretationsmöglichkeiten etwas eingeschränkter ist. Es wurde dafür argumentiert, dass diese Beschränkungen sich sehr direkt aus den Eigenheiten der Verdopplungsstruktur ergeben: Unter der Annahme, dass es keine eigentliche Verdopplung gibt, ist das Partizip von haben/sein als Kopula zu analysieren. Das wiederum hat zur Folge, dass das lexikalische Partizip nicht verbal sein kann. Wir haben dafür argumentiert, dass es ein adjektivisches Prädikat ist, das eine VP einbettet. Dies bringt sowohl die eventive wie auch die stative Komponente (den Resultatszustand) direkt zum Ausdruck. Angesichts der Tatsache, dass Perfektformen im Deutschen mit stativer Komponente immer 19 Eine mögliche Alternative besteht darin, die Partizipien eines Vorgangspassivs als verbal zu analysieren, wobei diese zusätzlich Kongruenzmerkmale tragen, wie es häufig für die romanischen Sprachen angenommen wird. Damit ist die Kongruenz an Partizipien mehrdeutig, was nicht sonderlich befriedigt. Außerdem bleiben die Wortstellungsrestriktionen der flektierten, aber unter dieser Analyse nicht adjektivischen Partizipien (d. h. die Unmöglichkeit der 12-Abfolge) damit leider unerklärt. Sie müssten dann wie die Daten in (48) mit allgemeineren Restriktionen für die Platzierung von Partizipien im deutschen Verbcluster erklärt werden. Die verbale Analyse der Passivpartizipien wäre dann mit der Tatsache kompatibel, dass das Niederländische beim Vorgangspassiv die 12-Abfolge zulässt.
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eine Zeitspanne aufweisen, die sich bis zum Referenzzeitpunkt erstreckt, ergeben sich die interpretatorischen Beschränkungen automatisch. Beim Perfekt und Plusquamperfekt liegt keine Verdopplung vor, so dass das lexikalische Partizip verbal und damit rein eventiv sein kann. Für die adjektivische Struktur, die ja zunächst allein aufgrund der Bedeutung und innersyntaktischen Gründen postuliert wurde, haben wir dann im zweiten Teil unabhängige morphosyntaktische Evidenz aus alemannischen Dialekten angeführt: So zeigt das lexikalische Partizip im doppelten Perfekt Einschränkungen bei der Wortstellung im Verbcluster wie auch nominale Flexion, was gut damit erklärt werden kann, dass das Partizip adjektivisch ist. Es ergibt sich somit eine Analyse, bei der sich die Bedeutung der Konstruktion kompositional aus der Syntax bestimmen lässt.
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Christian Ramelli
Grammatikalisierung im verbalen Bereich am Beispiel der Rheinischen Verlaufsform
1.
Einleitung
Nachdem sich im Deutschen mit dem Aufkommen des Passivs im 9. Jh. erstmals eine periphrastische Verbform etabliert, sind im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte und bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder neue zusammengesetzte Verbformen herausgebildet worden (vgl. z. B. Speyer 2010). Dabei ist zu beobachten, dass deren Durchsetzung ein Prozess ist, der längere Zeit in Anspruch nimmt und sich über mehrere Sprechergenerationen hinweg vollzieht.1 Ziel dieses Beitrags ist es, zu zeigen, wie sich die schrittweise Durchsetzung einer neuen Verbform im Rahmen der Grammatikalisierungstheorie beschreiben lässt und wie sich durch geeignete Indikatoren bestimmen lässt, in welchem Stadium der Grammatikalisierung sich eine Konstruktion befindet. Untersucht werden hierzu Konstruktionen wie in (1), die in der Literatur üblicherweise als Rheinische Verlaufsform oder als am-Progressiv bezeichnet werden. (1) a. Er war immer am Schaffen. (Saarbrücker Zeitung, 18. 08. 2012) b. […] ich war am Kuchenbacken, da ist mir die Schüssel mit dem Eiklar umgekippt. (www.schottland-forum.de) c. Was mich wirklich stutzig gemacht hat, das waren seine Nerven. Die waren nämlich mächtig am flattern, mein lieber Freund. (Falk, Winterkartoffelknödel 2010: 30).
Wie ich unten zeigen werde, ist diese im Standarddeutschen noch erheblichen Beschränkungen unterworfene Konstruktion in den deutschen Dialekten unterschiedlich gut etabliert. Durch die Untersuchung der RV im Rahmen der Grammatikalisierungstheorie soll aufgezeigt werden, wie sich diese verschiedenen Entwicklungsstadien in den Dialekträumen voneinander abgrenzen lassen. Dazu wird die Verlaufsform zunächst in ihren Grundzügen vorgestellt und die Entscheidung für eine Untersuchung der Konstruktion im rheinfränkischen 1 So sind beispielsweise erste Belege für das periphrastische Perfekt bereits im 8. Jh. zu finden, bis zur vollständigen Etablierung als Tempus vergehen dann aber mindestens weitere 4 Jh. (vgl. Fleischer/Schallert 2011).
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Dialekt motiviert. Anschließend werden Indikatoren zur Bestimmung des Grammatikalisierungsstandes vorgestellt. Inwiefern diese Indikatoren tatsächlich geeignet sind, unterschiedliche Stadien der Entwicklung zu identifizieren, wird anhand der statistischen Auswertung einer Sprecherbefragung gezeigt werden.
2.
Die Rheinische Verlaufsform
Bei der Rheinischen Verlaufsform handelt es sich um eine Konstruktion, die dazu verwendet wird, eine Handlung als im Verlauf befindlich darzustellen (siehe z. B. Ebert 1996), also dem Ausdruck von Progressivität dient und damit der Kategorie Aspekt zuzuordnen ist. Erste Belege für die Verlaufsform lassen sich bereits im 16. Jh. finden, beispielsweise im Tagebuch des Augsburger Kaufmanns Lucas Rem (vgl. Rödel 2004a) oder in der ersten regelmäßig erscheinenden deutschsprachigen Zeitung ›Annus Christi‹. Bezüglich der Zusammensetzung der RV geht noch der DUDEN in der Ausgabe von 2006 davon aus, dass sie aus »sein +substantiviertem Infinitiv mit am« (DUDEN 2006: 427) besteht, wobei sein innerhalb dieser Analyse als Kopulaverb zu betrachten ist. Mit dieser Analyse sind zwar die Belege in (1a-b) kompatibel, allerdings erscheint sie bereits für Beleg (1c) fraglich, da das Adjektiv mächtig hier zwar flattern modifiziert, allerdings aufgrund seiner unflektierten Verwendung eindeutig als nicht-attributiv verwendet zu charakterisieren ist und zudem nicht linksadjazent zu flattern, sondern links von am positioniert ist. Bei einer Analyse von flattern als nominaler Infinitiv wäre allerdings zu erwarten, dass das Adjektiv mit seinem Bezugsnomen kongruiert und unmittelbar adjazent zu ihm bzw. zu weiteren attributiv verwendeten Adjektiven auftritt, die sich auf den nominalen Infinitiv beziehen. Dass die oben genannte Analyse nicht auf alle Vorkommen der RV zutreffen kann, wird durch Belege wie (2) noch stärker deutlich. (2) Die Leute, die grad [DAT meiner Freundin] am gratulieren waren, drehten sich um. (www.erdbeerlounge.de) (3) a. […] ich war am Kuchenbacken, da ist mir die Schüssel mit dem Eiklar umgekippt. (www.schottland-forum.de) b. Hallo Manni, Malediven fällt dieses Jahr aus. Ich bin am Häuser bauen. (www. kretaforum.de)
Die NP meiner Freundin trägt den Kasus Dativ, der von einem nominalen Infinitiv nicht zugewiesen werden kann. In der Konstruktion in (2) muss es sich bei gratulieren also um einen verbalen Infinitiv handeln. Neben der in (2) dargestellten Möglichkeit zur Realisierung von Objekten in der RV existieren zumindest für Akk.Obje. zwei weitere Strategien zur Objektverarbeitung. Einerseits lässt sich ein Objektargument der verbalen Basis als Erstglied in einem N+N-
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Kompositum realisieren (3a), andererseits lassen sich zahlreiche Belege für Konstruktionen wie (3b) finden, in denen das Objektargument als eigenständiges syntaktisches Wort zwischen am und dem Infinitiv auftritt. Unter anderem ist hierbei die Kleinschreibung als Indiz dafür zu sehen, dass die Sprecher den Infinitiv in dieser Konstruktion bereits als verbal betrachten. Im Gegensatz zu Konstruktionen wie in (2) unterliegen in dieser Position realisierte Nomen allerdings einer Reihe von Beschränkungen bezüglich Erweiterbarkeit, Attribuierbarkeit und Referenz, auf die in Abschnitt 4 noch näher eingegangen wird. Angesichts der gezeigten Variation überrascht es zunächst nicht, dass in der durchaus zahlreichen Literatur zur RV keine Einigkeit bezüglich der Frage nach der Zusammensetzung der Konstruktion besteht. Neben dem Status von am gilt dies insbesondere für den Infinitiv in der Verlaufsform, den Reimann (1999) noch als nominalen Infinitiv betrachtet, während Rödel (2004b) ihn als zwischen verbalem und nominalem Infinitiv liegend klassifiziert. Bhatt/Schmidt (1993) betrachten den Infinitiv hingegen als eindeutig verbal, ebenso wie Barrie/Spreng (2009), deren Analyse sich allerdings auf Fälle wie (3b) beschränkt, die sie als Noun Incorporation analysieren. Die unterschiedlichen Analysen für die RV lassen sich m. E. zu einem großen Teil darauf zurückführen, dass sich die vorhandene Literatur auch in der Frage unterscheidet, ob die Verlaufsform in einem bestimmten Dialektraum betrachtet wird wie bei Andersson (1989) oder Bhatt/Schmidt (1993) oder im Wesentlichen die Verwendung im Standarddeutschen oder im Kolloquialstandard untersucht wird (Krause 2002, Rödel 2003, Van Pottelberge 2004). Die unterschiedlichen Analysen wären demnach dadurch erklärbar, dass die Verlaufsform sich in den untersuchten Dialekten in einem anderen Grammatikalisierungsstadium befindet als in der Standardsprache.2 Dass es innerhalb der Arbeiten zur RV, die sich mit der Verwendung im Standarddeutschen beschäftigen, ebenfalls Unterschiede in der Analyse der RV gibt, hängt meiner Ansicht nach mit den in den Arbeiten verwendeten Sprachdaten zusammen. Da hier teilweise auch Sprachdaten aus Chats, Internetseiten oder Gesprächen in die Analyse einfließen, erscheint es mir zumindest sehr wahrscheinlich, dass es sich bei einem Teil der betrachteten Sprachdaten um standardfernere Sprachregister oberhalb der Basisdialekte handelt. Wie Lameli (2006) zeigt, hat sich durch die zunehmende Präsenz des Standarddeutschen seit Beginn des 20. Jhs. insbesondere im mittel- und oberdeutschen Sprachraum eine multiglossische Sprachlandschaft entwickelt, bei der zwischen den Polen Standard und Basisdialekt mehrere Zwischenvarietäten angesiedelt sind, wobei »die eigentliche Varietäten- bzw. Sprechlagenstruktur dieses Spektrums in höchstem Maße unklar und umstritten [ist]« (Lameli 2006: 54). Lenz (2003) zeigt für das 2 Siehe Flick/Kuhmichel (2013) zu unterschiedlichen Grammatikalisierungsstufen der RV in Standardsprache und Dialekt.
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Westmitteldeutsche, wie sich die verschiedenen Register innerhalb dieses Varietätenspektrums auf phonologischer Ebene voneinander abgrenzen lassen. Für syntaktische Phänomene fehlen allerdings bisher Erkenntnisse darüber, in welchen Sprechlagen welche Konstruktionen auftauchen bzw. nicht mehr auftauchen. Da die Untersuchung der RV im Standarddeutschen also eine Reihe von Klassifikationsproblemen mit sich bringt und die Arbeiten mit dialektalem Fokus insbesondere den ripuarischen Raum in den Blick nehmen, ist die Untersuchung der RV in einem weiteren Dialektraum naheliegend.
3.
Untersuchungsraum
Wie bereits erwähnt wurde, handelt es sich bei der RV um eine Konstruktion, die sich bereits im 16. Jh. nachweisen lässt. Eine erste Einschätzung über den Verbreitungsgrad kann durch die von Georg Wenker Ende des 19. Jhs. durchgeführte Erhebung gewonnen werden.3 Die Analyse dieser Daten zeigt, dass die RV (für einwertige Verben) zum Erhebungszeitpunkt im kompletten westmitteldeutschen Dialektraum bekannt ist, wohingegen sie beispielsweise im oberdeutschen Raum kaum zu finden ist.4 Präzisere Aussagen über den aktiven Gebrauch der RV lassen sich anhand der Analyse der von Eberhard Zwirner zwischen 1955 und 1970 aufgezeichneten initiierten Erzählmonologe aus ca. 1.000 Ortschaften in den westlichen Bundesländern machen, die mittlerweile zu einem großen Teil transkribiert und über die Datenbank ›Gesprochenes Deutsch‹ des Instituts für Deutsche Sprache zugänglich sind.5 Bei der Durchsicht der Daten zeigen sich für das Westmitteldeutsche erhebliche Unterschiede zwischen den Dialektverbänden sowohl im Hinblick auf die Frequenz der RV als auch im Hinblick auf die Kombination der RV mit Verben unterschiedlicher Valenz. In Abb. 1 wird eine deutliche Dreiteilung erkennbar in den ripuarischen Sprachraum, in dem die RV äußerst frequent und mit ein- und mehrwertigen Verben in freier Rede verwendet wird, den moselfränkischen Sprachraum, in dem die RV deutlich seltener auftritt, allerdings ebenfalls in Kombination mit ein- und mehrwertigen Verben und in den rheinfränkischen und hessischen Dialektraum, in dem die Verlaufsform nur selten verwendet wird und im Wesentlichen auf einwertige Verben beschränkt zu sein scheint. Ein weiterer Unterschied in der Verwendung der RV zwischen Ripuarisch und Moselfränkisch zeigt sich in der Verarbeitung von Objekten. Wie ebenfalls in Abb. 1 zu sehen ist, treten Objekte im Ripuarischen 3 In Wenker-Satz 24 waren die Gewährspersonen aufgefordert, den Satz Als wir gestern abend heim/zurück kamen, da lagen die anderen schon im Bett und waren fest eingeschlafen/am schlafen in ihren Ortsdialekt zu übersetzen. 4 In der Mehrzahl der Fälle wurde die Verlaufsform dabei durch Perfektformen ersetzt. 5 Ich danke Alexander Werth für den Hinweis auf das Korpus.
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üblicherweise links von am auf, wodurch die RV durch sein und den am-Infinitiv eine verbale Klammer bildet, in deren Mittelfeld die Objekte auftauchen.6 Im Moselfränkischen hingegen werden Objektargumente beinahe ausnahmslos inkorporiert, d. h., die Sprecher verwenden entweder die Strategie, das ObjektArgument als Erstglied innerhalb eines N+N-Kompositums7 zu realisieren oder sie verwenden das in (3b) gezeigte Inkorporationsmuster, bei dem das Nomen als eigenständiges syntaktisches Wort erscheint.
Abbildung 1: Nachweise RV/Inkorporation von Objekten (Zwirner)
Die Abnahme der vorgefundenen Belege und die offensichtliche Zunahme der Beschränkungen im Gebrauch der RV vom Ripuarischen über das Moselfränkische zum Rheinfränkischen und Hessischen lässt sich durch unterschiedliche
6 Die Behauptung, dass es sich bei der im Ripuarischen bevorzugt verwendeten Konstruktion um eine stärker grammatikalisierte handelt, wird auch dadurch unterstützt, dass das Deutsche seit dem AHD eine starke Tendenz zur Herausbildung von Verbformen zeigt, die in der Lage sind, eine Satzklammer zu bilden, evtl. handelt es sich bei der Klammerbildung sogar um das »wichtige syntaxtypologische Merkmal des Deutschen« (Nübling/dammel/duke/Szczepaniak 2010: 91). 7 Nach Reimann (1999) und Rödel (2004b) ist die Möglichkeit, bereits in einem relativ frühen Stadium der Grammatikalisierung Objekt-Argumente durch bekannte Wortbildungsmuster, in diesem Fall N+N-Komposition, zu realisieren, ein bedeutender Faktor, um die steigende Produktivität der Verlaufsform zu erklären.
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Stadien der Grammatikalisierung erklären.8 Da sich dem Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) von Elspass/Möller (2003 ff.) zufolge das Gebiet, in dem Akk.Obje. in der RV links von am auftreten können, aktuell auch auf einen großen Teil des Rheinfränkischen ausgedehnt hat, erscheint eine Analyse in diesem Sprachraum besonders vielversprechend, da somit auch innerhalb des untersuchten Dialektverbandes Unterschiede zu erwarten sind.
4.
Grammatikalisierungsindikatoren
Wie auch bei der Entstehung anderer periphrastischer Verbformen ist zu Beginn der Grammatikalisierung der RV von der Reanalyse einer bestehenden syntaktischen Struktur auszugehen, d. h. es hat »eine strukturelle Umdeutung [stattgefunden], bei der ein- und derselben linearen Abfolge von Morphemen […] verschiedene zugrunde liegende Strukturen zugewiesen werden« (Demske 2001: 329). (4) Sie ist gerade die Uhr am reparieren. (5) a. Sie [TP isti [VP ti [PP am [NP Schlafen]]]]. b. Sie [TP isti [AspP am schlafenk [VP ti tk]]].
Bevor Sprecher Sätze wie in (4) produzieren können, müssen sie einem Satz wie (5a) eine zugrundeliegende Struktur wie in (5b) zugewiesen haben. Erst durch die verbale Reanalyse des Infinitivs ist es den Sprechern möglich, Sätze zu produzieren, in denen der Infinitiv an von ihm abhängige NPs einen Objektkasus zuweist. Während die reine Reanalyse in (5) zunächst nicht nachweisbar ist, stellt die Produktion von Sätzen wie (4) den overten Ausdruck einer strukturellen Umdeutung dar. Nachdem eine verbale Reanalyse stattgefunden hat, sollte sich die weitere Grammatikalisierung der RV durch einen zunehmenden Verlust der Autonomie der beteiligten sprachlichen Zeichen und durch eine stärkere Erfassung der Konstruktion durch Beschränkungen der Grammatik zeigen (vgl. Lehmann 2004: 155). Die im Verlauf von Grammatikalisierungsprozessen zu beobachtenden Veränderungen erfassen sprachliche Zeichen sowohl in syntagmatischer als auch in paradigmatischer Hinsicht, so dass Lehmann (2004) von den untenstehenden Grammatikalisierungsparametern ausgeht. Die in Tab. 1 genannten Parameter sind für die Bestimmung des Grammatikalisierungsgrades eines sprachlichen Zeichens nun insofern hilfreich, als man mit ihrer Hilfe für den zu untersuchenden Grammatikalisierungsprozess die entsprechenden Fak-
8 Von einer Ausbreitung der Grammatikalisierung vom Ripuarischen übers Moselfränkische in den rheinfränkischen Dialektraum geht auch jürgen e. schmidt (persönliche Mitteilung) aus.
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toren ermitteln kann, an deren unterschiedlicher Ausprägung man den Stand der Grammatikalisierung erkennen kann. Gewicht ↓ Kohäsion ↑ Variabilität ↓
paradigmatisch Integrität Paradigmatizität Wählbarkeit
syntagmatisch Struktureller Skopus Fügungsenge Stellungsfreiheit
Tabelle 1: Grammatikalisierungsparameter nach Lehmann (2004)
Dabei bestehen nach Lehmann (2002) Korrelationen zwischen den sechs Parametern, so dass beispielsweise eine Zunahme der Fügungsenge einhergeht mit einem Rückgang des strukturellen Skopus eines Zeichens. Ob diese von Lehmann für Grammatikalisierungsprozesse angenommenen Zusammenhänge auch bei der RV nachzuweisen sind, wird ebenfalls überprüft werden, wobei ich mich in diesem Beitrag auf eine Untersuchung der Parameter Paradigmatizität, Fügungsenge und Wählbarkeit beschränken werde.9 Als Paradigmatizität bezeichnet Lehmann den Grad, zu dem ein sprachliches Zeichen in ein bestimmtes Paradigma integriert ist (vgl. Lehmann 2002: 118). Wie oben erwähnt dient die Verlaufsform zum Ausdruck von Aspekt, einer Kategorie, die in vielen anderen Sprachen wie etwa dem Russischen oder dem Englischen Bestandteil des verbalen Paradigmas ist. Ein Anstieg der Paradigmatizität müsste sich bei der RV also dadurch nachweisen lassen, dass eine zunehmende Integration ins verbale Paradigma stattfindet. Dass sich die RV tatsächlich allmählich im Verbsystem durchsetzt, zeigen bereits die Arbeiten von Krause (2002) und Rödel (2004b). Es ist zu erwarten, dass die Etablierung zuerst in unmarkierten Bereichen stattfindet. So sollten Sprecher, die einen Satz wie (6a) bereits schlecht bewerten, Sätze wie (6b) und (6c) noch deutlich schlechter bewerten, da in diesen beiden Sätzen das innerhalb der Kategorie Genus verbi markierte Passiv verwendet wird. (6) a. Peter ist die Katze am streicheln. b. Die Katze ist (von Peter) am gestreichelt werden. c. Die Katze ist (von Peter) gestreichelt am werden.
Neben der allmählichen Durchsetzung der RV in den verbalen Flexionskategorien stellt auch die in den Zwirner-Daten zu beobachtende Ausweitung von einwertigen auf zweiwertige Verben eine Zunahme des Parameters Paradigmatizität dar.10 Dies gilt ebenso für die zu beobachtende Strategie, dass Objektar9 Auch die übrigen drei Parameter lassen sich Faktoren in der Grammatikalisierung der RV zuordnen. Aus Platzgründen kann darauf im Rahmen dieses Beitrags allerdings nicht näher eingegangen werden. 10 Eine schrittweise Ausweitung auf bestimmte Verbklassen lässt sich beispielsweise auch bei der Grammatikalisierung des Perfekts nachweisen, das zuerst nur mit telischen Verben möglich war und dessen Anwendungsbereich erst später auf atelische Verben ausgeweitet wurde.
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gumente zunächst bevorzugt inkorporiert werden und die Position links von am erst in einem späteren Stadium der Grammatikalisierung möglich ist. Die Realisierung von Objektargumenten als Erstglieder innerhalb eines Kompositums weitet den Anwendungsbereich der Verlaufsform zwar zunächst aus, bringt allerdings bezüglich der Verwendungsmöglichkeiten gegenüber periphrastischen Verbformen zahlreiche Einschränkungen mit sich. Dazu gehört, dass N-Erstglieder in Inkorporationsstrukturen weder hinsichtlich Definitheit noch hinsichtlich Anzahl markiert werden können, immer generische Lesart haben und entsprechend nicht als Antezedenzien für Pronomen dienen können. Damit lässt sich auch die Ungrammatikalität von (7) begründen. Die genannten Einschränkungen treffen allerdings nicht nur auf N+N-Komposita zu, sondern auch auf Verwendungen der RV wie in (8). (7) *Ich bin am Kartoffelischälen, diei später in die Suppe kommen. (8) a. Peter ist am Äpfel schälen. b.
Auch in (8) liegt Inkorporation (im weiteren Sinne) vor (vgl. Gallmann 1999), wobei hier das die Objektstelle besetzende Nomen als eigenständiges syntaktisches Wort realisiert und an das Verb kopfadjungiert wird. Das Ergebnis dieses Prozesses ist wiederum ein intransitives Verb (Äpfel schälen), das im Folgenden nach Asp bewegt wird.11 Obwohl die in (8b) dargestellte Struktur ein stärkeres 11 Die Annahme einer zwischen TP und VP angesiedelten AspP lässt sich unter anderem durch
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Maß an Grammatikalisierung zeigt, gelten die oben formulierten Beschränkungen für N-Erstglieder in Inkorporationsstrukturen auch hier. Somit ist die RV in einem frühen Entwicklungsstadium beschränkt auf die Verwendung mit intransitiven Verben und transitiven Verben mit generischem Objekt. Die Realisierung von nicht-akkusativischen Ergänzungen sowie die Realisierung von Ergänzungen mit definiter bzw. gequantelter Referenz ist hingegen erst möglich innerhalb der Struktur NP+am+V (9). (9) Peter war seine Briefmarken am zählen.
Als erster Indikator wäre demnach festzuhalten, dass die Grammatikalisierung der RV in Bezug auf die Realisierung von Objektargumenten der verbalen Basis die folgenden Entwicklungsschritte involviert: am N + N < am N + V < NP am V. Dabei zeigen bisherige Untersuchungen zur Verlaufsform, dass die Position links von am zuerst für pronominaliserte Objekte möglich ist (Ebert 2000, Krause 2002). Dieser Befund lässt sich darauf zurückführen, dass Mitglieder »geschlossener Wortklassen prinzipiell nicht für Wortbildungsprozesse zur Verfügung stehen« (Coulmas 1988: 320). Wenn Sprecher Pronomen innerhalb der RV verwenden wollen, steht ihnen dafür also die Position zwischen am und dem Infinitiv der Verlaufsform nicht zur Verfügung (10b), sondern lediglich die Position links von am. (10) a. Er war ihn am suchen. b. *Er war am ihn suchen. c. Er war den Hammer am suchen.
Die Verwendung von Pronomen in der RV stellt somit einen wichtigen Faktor für den Übergang zu einem stärker grammatikalisierten Stadium dar, in welchem dann von Sprechern auch Sätze wie (10c) produziert werden. Mit der beschriebenen Entwicklung ist die Grammatikalisierung der RV allerdings noch immer nicht abgeschlossen, da sich die Variante ›NP am V‹ ebenfalls wieder schrittweise bei Verben mit unterschiedlichem Kasus etabliert. Hierbei sollte sich die RV zunächst bei denjenigen zweiwertigen Verben durchsetzen, die gegenüber anderen Mitgliedern in diesem Paradigma unmarkiert sind. Dabei handelt es sich um Verben mit Akk.-Komplement, da diese nicht nur am frequentesten sind, sondern auch einen strukturellen Kasus regieren (vgl. Eisenberg 2006: 172). Danach ist eine Ausweitung der RV auf Verben, die ihrem Objekt den Kasus die im Rahmen des karthographischen Ansatzes gemachten Beobachtungen begründen (vgl. Rizzi 2004) und wird auch in formalen Grammatikalisierungsansätzen vertreten (vgl. Roberts/Roussou 2003, ROBERTS 2007, ROBERTS 2010). Auch Bhatt/Schmidt (1993) gehen von einer weitgehend identischen Struktur für die RV aus, wobei in dem in (8b) dargestellten Stadium am als funktionaler, in Asp basisgenerierter Kopf zu analysieren ist. Sprachdaten aus dem Ripuarischen deuten sehr stark darauf hin, dass am zu einem späten Grammatikalisierungsstadium als verbales Flexiv zu analysieren ist.
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Dativ zuweisen, zu erwarten. Zumindest in bestimmten Konstellationen betrachtet Wegener (1990) auch den Dativ als strukturellen Kasus, wohingegen zweiwertige Verben mit Präpositionalobjekt oder adverbialen Ergänzungen dem gegenüber als eindeutig markiert gelten müssen. Für die RV wird diese Anordnung auch durch die Ergebnisse von Kuteva (2001) bestätigt, die zeigt, dass Präpositionalobjekte eine besondere Herausforderung für die Verlaufsform darstellen. Zwischen den aufgeführten Indikatoren ergeben sich nun gewisse implikative Zusammenhänge. So wäre beispielsweise zu erwarten, dass Sprecher, die Objektargumente von transitiven Verben nicht in der Konstellation ›NP am V‹ realisieren können, dies auch gleichermaßen mit Dat.Objen. nicht können oder dass Sprecher, die pronominalisierte Dat.Obje. in der RV nicht akzeptabel finden, auch nicht-pronominalisierte Objekte innerhalb der Verlaufsform ablehnen. Demnach wäre die Entwicklungsschritte ›Pronominalisierte Objekte‹ < ›Nicht-pronominalisierte Objekte‹ und ›AKK-OBJ‹ < ›DAT-OBJ‹ < ›P-OBJ/ DirADV‹ weitere Indikatoren, um den Grammatikalisierungsgrad der RV zu bestimmen. Der Parameter Wählbarkeit bestimmt den Grad, in dem ein sprachliches Zeichen »gegenu¨ ber anderen Mitgliedern des Paradigmas frei wählbar, im Kontext gegen sie austauschbar und schließlich u¨ berhaupt weglassbar ist« (Lehmann 2012). Eine Abnahme der paradigmatischen Variabilität wird als Obligatorisierung bezeichnet (Lehmann 2002: 124) und sollte sich bei der Verlaufsform darin zeigen, dass ihre Verwendung zunehmend weniger von kommunikativen Interessen der Sprecher und stärker von Beschränkungen der Grammatik geregelt wird. Am Ende dieser Entwicklung ist zu erwarten, dass die RV in allen progressiven Kontexten verwendet werden muss, ein Entwicklungsstand den die Verlaufsform im Pennsylvaniadeutschen, einem Sprachinseldialekt in Nordamerika, bereits erreicht hat (Louden 2005: 257). Auch hier lassen sich in der Literatur wieder Hinweise darauf finden, welche Zwischenebenen während dieser Entwicklung durchschritten werden. So geht Ebert (2000) davon aus, dass die Verlaufsform zuerst in solchen Kontexten obligatorisch verwendet wird, auf die das Inzidenzschema zutrifft. (11) Ich war am lernen, als plötzlich die Tür aufgeflogen ist.
Ein solcher Kontext ist dadurch gekennzeichnet, dass zwei Handlungen vorliegen, von denen die erste bereits im Verlauf ist, wenn die zweite beginnt bzw. inzidiert. In einem fortgeschrittenen Stadium der Grammatikalisierung wäre also zu erwarten, dass Sprecher Sätze wie (11) solchen Sätzen vorziehen, die keine aspektuelle Differenzierung enthalten. Als weiterer Indikator zur Bestimmung des Grammatikalisierungsgrades der RV kann also die Abfolge ›Frei wählbar‹ < ›Obligatorik in explizit progressiven Kontexten‹ < ›Obligatorik in allen progressiven Kontexten‹ festgehalten werden.
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Der Parameter Fügungsenge bezeichnet den Fusionsgrad, mit dem ein Zeichen mit einem anderen Zeichen verbunden ist, mit dem es in einer syntagmatischen Beziehung steht. Zeichen verlieren mit zunehmender Grammatikalisierung ihre syntaktische Selbständigkeit in einem Prozess, den man als Koaleszenz bezeichnet und in dem ein ursprünglich akzentuierbares freies Morphem i. d. R. folgende Prozesse durchläuft: JUXTAPOSITION > KLITISIERUNG > AGGLUTINATION > FUSION (Lehmann 2002: 122). (12) a. Das Boot liegt am alten Hafen. b. *Das Boot ist am schnellen Sinken.
Die Beispiele in (12) zeigen den bereits vorhandenen Unterschied zwischen der Klise aus Präposition und bestimmtem Artikel im Dativ und am innerhalb der Verlaufsform. Für den weiteren Verlauf der Grammatikalisierung der RV ist zu erwarten, dass diese daran erkennbar wird, dass Konstruktionen, in denen morphologisches Material zwischen am und dem Infinitiv platziert wird, von den Sprechern zunehmend abgelehnt werden. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in der deutschen Sprachgeschichte bereits für die Entstehung des zu-Infinitivs nachweisen (siehe dazu demske-neumann 1994). Während sich im Neuhochdeutschen die große Fügungsenge unter anderem dadurch zeigt, dass bei Verben mit dem Flexiv zu auch Verbpartikeln nicht zwischen dem Verbstamm und dem Flexiv stehen dürfen und der Verbstamm nicht ohne das Flexiv koordiniert werden darf, gelten diese Beschränkungen im Mittelhochdeutschen, in dem der Grammatikalisierungsgrad von zu noch geringer war, nicht (13). (13) vnd ist schuldig den schaden wider ze-cheren vnd Ø-wenden, in welchen sa-chen vnd gesch:eftnuzz dat getan wird (Rechtssumme A29,19, zit. n. Demske-Neumann 1994)
Auch für die englische Infinitivpartikel to ist es möglich, dass der Verbstamm in koordinierten Strukturen ohne die Infinitivpartikel auftaucht (14a). Aufgrund von solchen Daten und aufgrund der Tatsache, dass Negationen und Adverbien, die zwischen Finitum und VP auftreten können, auch zwischen to und VP auftreten können (14b), wird für die Infinitivpartikel to üblicherweise angenommen, dass es sich um einen funktionalen Kopf handelt (Haider 1993: 234). (14) a. He tried to find and Ø destroy the book. b. He tries to fully close the door.
Eine Aussage über das Grammatikalisierungsstadium der RV sollte sich also auch daran orientieren, ob am mehr Parallelen zum englischen to zeigt oder ob sich stärkere Übereinstimmungen mit dem Stellungsverhalten des Verbalpräfix zu im Gegenwartsdeutschen nachweisen lassen und folglich bereits ein höheres Maß an Fügungsenge zu attestieren ist. Demnach gilt es bezüglich des Status von
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am mindestens von den drei folgenden Grammatikalisierungsstadien auszugehen: ›am = Präposition‹ < ›am = funktionaler Kopf‹ < ›am = Flexiv‹. Im Folgenden sollen die in diesem Kapitel aufgeführten Indikatoren daraufhin überprüft werden, ob sie tatsächlich dazu geeignet sind, aus ihren Ausprägungen auf den Grammatikalisierungsstand der RV zu schließen und ob sich die oben angesprochenen Korrelationen zwischen den Ausprägungen der jeweiligen Parameter empirisch nachweisen lassen.
5.
Auswertung Datenerhebung
Um Aussagen über den Grammatikalisierungsgrad der RV im rheinfränkischen Dialekt machen zu können, wurde eine Online-Befragung von Dialektsprechern durchgeführt, bei welcher die Teilnehmer12 im Dialekt vorgegebene Sätze auf einer vierstufigen optischen Ratingskala bezüglich ihrer Akzeptabilität beurteilen sollten. Zusätzlich hatten die Probanden die Möglichkeit, eine von den angegebenen Alternativen abweichende Realisierung des zu äußernden Sachverhaltes anzugeben. Um einen Einfluss der Orthografie auf die Beurteilung der Sätze durch die Probanden auszuschließen, wurde im Fragebogen abgesehen von Satzanfängen auf Großschreibung verzichtet.
Abbildung 2: Item 1 Fragebogen RV
In insgesamt 23 Items, in denen den Probanden drei bis sechs Sätzen zur Beurteilung vorgelegt wurden, wurden die Stellungseigenschaften der RV in Bezug auf pronominalisierte und nicht-pronominalisierte Objekte (siehe Abb. 2), Adverbiale, Partikelverben, Negation und Koordination, die Modifikation durch 12 Das Untersuchungsgebiet, aus dem die Teilnehmer stammen, umfasst sämtliche Landkreise der Bundesländer Saarland, Rheinland-Pfalz und Hessen, die sich nach Wiesinger (1983) im rheinfränkischen Dialektraum befinden (inkl. der dort angegebenen Übergangsgebiete). Ein Großteil der Teilnehmer wurde durch Aufrufe an die Gemeinden im Untersuchungsraum akquiriert, die gebeten wurden, ihre Bürger über Wochenblätter oder Internetpräsenz auf die Online-Befragung hinzuweisen.
Grammatikalisierung im verbalen Bereich am Beispiel der Rheinischen Verlaufsform
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Adjektive, ihre Kombinierbarkeit mit den verbalen Flexionskategorien und Verben unterschiedlicher Aktionsart sowie der Einfluss des Inzidenzschemas überprüft. Die Anzahl der erfassten Probanden beläuft sich auf 258 (134 weiblich, 124 männlich), die Gesamtzahl der in einer SPSS-Datenbank erfassten Belege auf 17913. Das mittlere Alter der Teilnehmer beträgt 40,5 Jahre. Um möglichst präzise Aussagen über die Ausprägung des Parameters Wählbarkeit machen zu können, wurden Verben unterschiedlicher Valenz und Aktionsart13 in Kontexten getestet, die stark progressiv markiert sind.
Mittelwert Median
Activity_(1), +INZ, STD_PRF 2,65 3,00
Activity_(1), +INZ, RV_PRT 3,19 4,00
Activity_(1), +INZ, beim_PRT 2,37 2,00
Tab. 2: lernen (1-wertig) im Inzidenzschema
Tab. 2 präsentiert die Auswertung für die einwertige Variante des Verbs lernen im Kontext des oben erwähnten Inzidenzschemas. Bei der einwertigen Variante des Verbs lernen handelt es sich um ein Activity-Verb, das den Probanden im Fragebogen in drei Varianten präsentiert wurde, nämlich im Perfekt, in der RV im Präteritum und in der Verlaufsformvariante mit beim, ebenfalls im Präteritum. Die Sprecher bewerten die Verlaufsformvariante mit deutlichem Abstand am besten, die aspektuell unterspezifizierte Variante wird signifikant schlechter beurteilt (p < 0,001).14 Am schlechtesten schneidet die Variante der Verlaufsform mit beim ab. Noch deutlichere Mittelwertsunterschiede zwischen Sätzen mit und ohne RV zeigen sich in den Auswertungen für das Accomplishment-Verb untergehen und das Achievement-Verb einschlafen. Auch für diese beiden Verben wurde ein Kontext vorgegeben, auf den das Inzidenzschema zutrifft. In einer weiteren Frage wurde das einwertige Verb duschen in einem Kontext getestet, auf den das Inzidenzschema nicht zutrifft. Auch in diesem Fall zeigen sich signifikante Unterschiede in der Beurteilung der beiden Varianten (p < 0,001) mit RV 13 Dass gerade in einem sehr frühen Stadium der Grammatikalisierung die Aktionsart des Verbs die Kombinierbarkeit mit der RV beeinflusst, wird bereits von Reimann (1999) behauptet und hat sich auch in nachfolgenden Arbeiten wie Flick (2011) bestätigt. Activity-Verben, die Tätigkeiten ohne inhärenten Endpunkt bezeichnen, sind als erstes mit der RV kompatibel, Accomplishment-Verben, die einen allmählichen Übergang von einem Vorzustand in einen Nachzustand ausdrücken, werden erst in einem späteren Stadium der Grammatikalisierung in der RV verwendet, Ähnliches gilt für Achievement-Verben. Wie Achievement-Verben, die unmittelbare Zustandswechsel ohne zeitliche Ausdehnung denotieren, überhaupt als im Verlauf befindlich dargestellt werden können, ist dabei eine Frage, auf die im Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden kann (zu progressiven Achievements siehe Rothstein 2004). 14 Da die Daten der Probanden in den vielen Fällen die Normalverteilungsannahme nicht erfüllen, wurde die Analyse mit einem nicht-parametrischen Testverfahren (Wilcoxon-Test) durchgeführt.
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Christian Ramelli
(2,91) und ohne RV (3,55), diesmal allerdings zugunsten der Variante ohne Verlaufsform. Somit kann bezüglich der Obligatorisierung der RV im rheinfränkischen Dialekt festgehalten werden, dass in explizit progressiven Kontexten die Verlaufsform bevorzugt verwendet wird und die Sprecher in den entsprechenden Kontexten aspektuell unterspezifizierte Konstruktionen deutlich schlechter bewerten. Dass die Progressivität des Kontextes bei der Bewertung eine Rolle spielt, zeigen die Grammatikalitätsurteile für das Verb duschen. Fehlt ein entsprechend starker progressiver Kontext, so wird die RV gegenüber Varianten ohne Verlaufsform disfavorisiert. Zudem lassen sich zwei weitere Schlussfolgerungen aus den diskutierten Daten ziehen, nämlich dass die RV im rheinfränkischen Dialekt bereits so stark grammatikalisiert ist, dass sie sich in allen mit progressivem Aspekt prinzipiell kompatiblen Aktionsarten bereits etabliert hat. Außerdem zeigen die Daten, dass die Verlaufsform im Untersuchungsgebiet bevorzugt mit am gebildet wird. Die Varianten mit beim werden deutlich schlechter beurteilt und liegen selbst in explizit progressiven Kontexten zumeist hinter den aspektuell unterspezifizierten Varianten. Keinen signifikanten Einfluss auf die Beurteilung der vorgegebenen Varianten hat in den diskutierten Fällen das Alter, allenfalls lässt sich hier eine leichte Tendenz erkennen, dass die Varianten mit RV von jüngeren Sprechern besser beurteilt werden. Ebenfalls nicht statistisch signifikant, aber dennoch zu erkennen ist eine Abnahme in den Bewertungen der Sätze mit RV von Westen nach Osten. Um Aussagen über den Parameter Paradigmatizität machen zu können, wurden neben einwertigen unter anderem auch zweiwertige Verben mit Akk. Obj., mit Dat.Obj., mit Ergänzungen in Form von Präpositionalphrasen und dreiwertige Verben getestet. Um Grammatikalitätsunterschiede bei unterschiedlichen Realisierungsformen von Ergänzungen feststellen zu können, wurden definite und indefinite Nominalphrasen, sententiale und pronominalisierte Objekte im Fragebogen überprüft. Die Verben in Tab. 3 wurden alle mit im Mittelfeld des Satzes realisierter Ergänzung präsentiert, also in der Konstruktion ›NP/PP am V‹ (15). (15) a. b. c. d.
Ich war unseren Koffer am suchen, […]. Ich war dem Nachbarn am helfen, […]. […], weil er in die neue Wohnung am umziehen war. Als ich auf den Bus am warten war, […] Activity_(2), RV_PRS ACC-OBJ (NP/DEF)
Activity_(2), RV_PRS, DAT-OBJ (NP/DEF)
Accomplishment_ (2), RV_PRT, DirADV
Mittelwert
2,46
2,28
1,69
Activity_ (2), RV_PRT, P-OBJ 1,63
Median
2,00
2,00
1,00
1,00
Tab. 3: suchen, helfen, umziehen, warten (2-wertig)
Grammatikalisierung im verbalen Bereich am Beispiel der Rheinischen Verlaufsform
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Wie aus Tab. 3 hervorgeht, bestätigt sich der oben bereits vorausgesagte Grammatikalitätsunterschied in Bezug auf die Markiertheit der Ergänzungen von zweiwertigen Verben (›AKK-OBJ‹ < ›DAT-OBJ‹ < ›P-OBJ/ DirADV‹). Die Gültigkeit dieser Grammatikalisierungsschritte lässt sich dadurch untermauern, dass lediglich zwischen den Paaren ›AKK-OBJ‹ – ›DAT-OBJ‹ (p < 0,05) und ›DATOBJ‹ – ›DirADV‹ (p < 0,001) signifikante Unterschiede in der Bewertung durch die Sprecher bestehen, wohingegen der Unterschied ›DirADV‹ – ›P-OBJ‹ nicht signifikant ist. Da wie oben gezeigt die Aktionsart keinen Einfluss auf die Bewertungen der Sprecher hat,15 müssen die unterschiedlichen Arten von Ergänzungen für die Unterschiede in den Grammatikalitätsurteilen ursächlich sein. Auch die prognostizierte Abfolge ›Pronominalisierte Objekte‹ < ›Nicht-pronominalisierte Objekte‹ wird durch die Auswertungen der Sprecherbefragungen bestätigt. So erreicht Satz (16a) mit dem Activity-Verb ärgern und pronominalisiertem Objekt einen Mittelwert von 3,43, wohingegen Satz (16b) mit nichtpronominalisiertem Objekt lediglich einen Mittelwert von 2,46 erreicht und somit signifikant schlechter bewertet wird (p < 0,001).16 (16) a. Bist du ihn schon wieder am ärgern? b. Ich bin unseren Koffer am suchen, […].
Wie oben ausgeführt wurde, sind pronominalisierte Objekte also bereits zu einem früheren Stadium links von am möglich. Allerdings erzwingen pronominalisierte Objekte die Konstruktion ›NP am V‹, da sie weder innerhalb der Konstruktion ›am N+N‹ noch innerhalb von ›am N+V‹ realisiert werden können. Bei Grammatikalisierungsprozessen ist nun häufiger zu beobachten, »dass Sprecher für eine bestimmte Zeit über verschiedene Analysen einer einzigen Konstruktion verfügen« (Demske 2001: 325). In generativ orientierten Grammatikalisierungstheorien lässt sich diese Beobachtung beispielsweise durch die Annahme zweier miteinander konkurrierender Grammatiken erklären (vgl. Kroch 1989), wobei im weiteren Verlauf dann die Frequenz einer alten Form gegenüber einer neuen Form abnimmt. Wenn Sprecher über die innovative Konstruktion in (17a) und über die innerhalb des Grammatikalisierungsprozesses der RV als zeitlich früher anzusehende Konstruktion in (17b) verfügen, so sollte die Frequenz von Konstruktionen wie (17b) zugunsten von innovativen Konstruktionen wie (17a) kontinuierlich abnehmen. Da das Objektargument in
15 Ebenso hat die Auswertung der Daten ergeben, dass die Verwendung der RV in Präsens oder Präteritum keinen Einfluss auf die Sprecherurteile hat und somit in beiden Tempora gleichermaßen akzeptabel ist. 16 Die Gültigkeit der Abfolge ›Pronominalisierte Objekte‹ < ›Nicht-pronominalisierte Objekte‹ wird durch den Vergleich der beiden dreiwertigen Achievement-Verben überreichen und sagen bestätigt.
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Christian Ramelli
(17) ohnehin indefinite Referenz aufweist, sind die beiden Varianten in (17) semantisch im Wesentlichen identisch. (17) a. Ich bin eine Wohnung am suchen. b. Ich bin am Wohnung suchen.
Aus der Auswertung der Sprecherbefragung ergibt sich, dass Sprecher die Variante mit inkorporiertem Objektargument (2,94) derjenigen mit der NP eine Wohnung im Mittelfeld des Satzes (2,19) deutlich vorziehen.
Abbildung 3: ›eine Wohnung am suchen‹
Wie aus Abb. 3 deutlich wird, sind dabei innerhalb des rheinfränkischen Dialektverbandes starke räumliche Unterschiede festzustellen. So bewerten insbesondere Sprecher im Saarland und generell Sprecher, deren Herkunft nahe dem rheinfränkisch-moselfränkischen Übergangsgebiet liegt, die innovative ›NP am V‹-Variante besser als Sprecher aus der Mitte und dem Osten dieses Dialektverbandes. Insgesamt lässt sich von Osten nach Westen des Untersuchungsraumes ein stetiger Anstieg in den Beurteilungen für (17a) und eine stetige Abnahme in den Bewertungen für (17b) feststellen. Ich schließe aus diesen Daten, dass im Westen des Rheinfränkischen die innovative Variante der Verlaufsform mit links von am platzierter NP die ältere Variante mit inkorporiertem Nomen bereits allmählich verdrängt. Dieser Befund deckt sich mit der bei der Bewertung einwertiger Verben im Inzidenzschema bereits angesprochenen Tendenz, dass die Testpersonen im Westen des Untersuchungsraums offen-
Grammatikalisierung im verbalen Bereich am Beispiel der Rheinischen Verlaufsform
63
sichtlich bereits über eine stärker grammatikalisierte Verlaufsform verfügen. Bezüglich der oben angesprochenen Grammatikalisierungsabfolge ›am = Präposition‹ < ›am = funktionaler Kopf‹ < ›am = Flexiv‹ zeigen die Bewertungen für die Sätze in (18), dass Konstruktionen, in denen am eindeutig als Klise aus Präposition und Artikel zu analysieren ist wie in (18a) ebenso abgelehnt werden wie Konstruktionen, in denen am als Flexiv analysiert werden muss (18d). Sätze, in denen am als funktionaler Kopf analysiert werden kann (18b) oder muss (18c), werden von den Teilnehmern hingegen deutlich besser bewertet, so dass sich auch hier die prognostizierten Grammatikalisierungsstufen empirisch nachweisen lassen. (18) a. b. c. d.
Er war am lauten Singen. Der Vater war am meckern und schimpfen. Er ist Möbel am aufladen. Er ist Möbel auf am laden.
Die Frage, ob zwischen Bewertungen, die unterschiedliche Parameter der in Tab. 1 dargestellten Übersicht betreffen, signifikante Korrelationen bestehen, soll anhand der Bewertungen für die beiden Sätze in (19) überprüft werden. (19) a. Ich war am lernen, als plötzlich die Tür aufgeflogen ist. b. Die Katze ist am gestreichelt werden.
2
4
2
3
2
10
24
2
3
'Die Katze ist am gestreichelt werden'
'Die Katze ist am gestreichelt werden'
Satz (19b) betrifft den Parameter Paradigmatizität und sollte nur von Sprechern, bei denen die Grammatikalisierung der RV bereits relativ weit fortgeschritten ist, gut bewertet werden, da die Kombinierbarkeit mit der Kategorie Passiv erst sehr spät möglich ist.
1
4
18
14
2
1
2
3
4
'Ich war am lernen, (+INZ)'
1
2
'Ich war am lernen, (+INZ)'
Abbildung 4: Korrelation Parameter RV
Satz (19a) betrifft hingegen den Parameter Wählbarkeit und sollte bereits in einem früheren Stadium der Grammatikalisierung von Sprechern gut bewertet werden, da hier ein explizit progressiver Kontext gegeben ist. Da die Korrelationen zwischen den Grammatikalisierungsparametern in der durchgeführten
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Christian Ramelli
Erhebung nicht linear sind, beschränke ich mich hier auf eine graphische Darstellung der Verhältnisse. Wie aus Abb. 4 links zu erkennen ist, geht mit einem niedrigen Wert für Satz (19a) auch fast immer ein niedriger Wert für Satz (19b) einher, wohingegen mit hohen Werten für Satz (19b) auch fast immer hohe Bewertungen für Satz (19a) einhergehen. Insofern lässt sich also aus einer hohen Bewertung für Satz (19b) auch auf eine gute Bewertung für Satz (19a) schließen.
6.
Fazit
Die Auswertung der Sprecherbefragung hat ergeben, dass die Durchsetzung der RV sich tatsächlich schrittweise vollzieht und dass die in Abschnitt 4 vorgestellten Indikatoren geeignet sind, den Grammatikalisierungsgrad der RV zu bestimmen, da die Grammatikalitätsurteile genau den prognostizierten Entwicklungsschritten folgen. Zudem bestehen zwischen den Entwicklungsschritten, die unterschiedlichen Grammatikalisierungsparametern zuzuordnen sind, Zusammenhänge, so dass aus der Ausprägung eines Grammatikalisierungsindikators auf die Ausprägung weiterer Parameter geschlossen werden kann. Bezüglich des Ausmaßes der Grammatikalisierung zeigt sich innerhalb des rheinfränkischen Dialektraumes unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade. Insgesamt nimmt die Bewertung für Konstruktionen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt der Grammatikalisierung möglich sind, wie beispielsweise die Kombination mit zweiwertigen Verben und nicht-inkorporierten Objekten, von Westen nach Osten sukzessive ab. Insbesondere im Nordwesten des rheinfränkischen Dialektraumes ist die RV bereits weitgehend ins verbale Paradigma integriert und unterliegt nur noch wenigen Beschränkungen, wohingegen die Kombinationsmöglichkeiten im Südosten noch deutlich geringer ausfallen.
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Christian Ramelli
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Katrin Kuhmichel
Zum Ausdruck von Progressivität in den Dialekten Hessens
1.
Einleitung
Im vorliegenden Artikel wird der Ausdruck von Progressivität in den Dialekten Hessens untersucht. Im Mittelpunkt steht eine als am-Progressiv oder »(rheinische) Verlaufsform« bezeichnete Konstruktion (am X-en sein), deren Funktion darin besteht, eine Handlung oder ein Geschehen aus der internen Perspektive, also im Verlauf befindlich, ohne zeitlichen Rahmen und als (noch) nicht abgeschlossen, darzustellen (vgl. Glück 2001: 81). Als weitere Progressivausdrücke des Deutschen werden in der Forschungsliteratur Konstruktionen mit beim (beim X-en sein), dabei zu (dabei sein, zu x-en), im (im X-en sein) und tun (x-en tun) diskutiert (vgl. Andersson 1989; Ebert 1996, 2000; Krause 1997, 2002; Fischer 2001; Kölligan 2004); Dahl (1985: 90) verweist zudem auf das Temporaladverb gerade (gerade x-en). Der progressive Charakter einiger dieser Ausdrucksweisen ist umstritten. In Abschnitt 2 werden die genannten Konstruktionen daher zunächst vorgestellt und hinsichtlich ihrer Funktionalität diskutiert; syntaktische und semantische Besonderheiten sowie Restriktionen werden erläutert. Da im Deutschen Progressivität im Gegensatz zum Englischen nicht obligatorisch ausgedrückt wird, kann eine einfache Verbform, z. B. Tom arbeitet statt Tom ist am Arbeiten, als alternative Ausdrucksweise genutzt werden (vgl. Szczepaniak 22011: 159–160). Für Hessen stellt sich nun die Frage, wie bzw. ob in den verschiedenen Dialekträumen Progressivität ausgedrückt wird. Die Grundlage des Artikels bilden erste Ergebnisse aus dem DFG-Projekt »Syntax hessischer Dialekte« (SyHD), das von Jürg Fleischer (Marburg), Alexandra N. Lenz (Wien) und Helmut Weiß (Frankfurt) geleitet wird. Das Projekt hat die erstmalige und systematische Erhebung, Dokumentation und Analyse syntaktischer Konstruktionen der im Bundesland Hessen gesprochenen Dialekte zum Ziel (vgl. Fleischer [u. a.] 2012: 3). Angestrebt ist die Erhebung basisdialektaler Strukturen:
68
Katrin Kuhmichel
Ziel des Projekts ist die Erforschung der Syntax hessischer Dialekte, das heißt der im Varietäten- beziehungsweise Sprechlagenspektrum niedrigsten in den Erhebungsorten noch vorhandenen Varietäten beziehungsweise Sprechlagen. (Fleischer [u. a.] 2012: 6)
SyHD zeichnet sich aus durch eine Kombination indirekter und direkter Erhebungsmethoden; im Artikel werden jedoch ausschließlich Ergebnisse der indirekten Befragungen, die mittels Fragebögen in vier zeitlich gestaffelten Erhebungsrunden an ca. 160 Orten in Hessen durchgeführt wurden, präsentiert (ausführliche Informationen zum Projekt siehe Fleischer [u. a.] 2012). Hessen bietet sich für die Erhebung (dialekt-)syntaktischer Phänomene aus mehreren Gründen an. Fleischer [u. a.] (2012: 4) verweisen auf die dialektale Vielfalt Hessens. Im Bundesland sind alle Dialekträume des Deutschen zumindest in Übergangsgebieten (nach Wiesinger 1983) vertreten; Rückschlüsse auf den gesamtdeutschen Raum sind ausgehend von den SyHD-Ergebnissen entsprechend möglich. Hinzu kommt, dass in zwölf an Hessen angrenzenden Orten (etwa im Ripuarischen, Thüringischen, Ostfränkischen und Schwäbischen) erhoben wird, was auch Aussagen darüber ermöglicht, inwiefern sich Raumstrukturen in den angrenzenden Dialekträumen wiederfinden lassen. Möglicherweise lassen sich auch Ausbreitungswege von Konstruktionen erkennen und nachvollziehen. Für den am-Progressiv gilt zudem, dass der dialektale Gebrauch nur wenig erforscht ist. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses standen bislang Untersuchungen zur deutschen Umgangs- und Standardsprache (vgl. Krause 1997, 2002; Reimann 1997; Rödel 2003, 2004a/b; van Pottelberge 2004; Flick 2011). Arbeiten zum Dialekt waren meist dem Ripuarischen oder »Ruhrdeutschen« gewidmet (vgl. Brons-Albert 1984, Andersson 1989, Bhatt/Schmidt 1993, Drossard 2004). Ramelli (2012) untersucht den Gebrauch des am-Progressivs im Rheinfränkischen; eine Dissertation zu diesem Thema ist im Entstehen. Erste SyHD-Ergebnisse zeigen, dass der Ausdruck von Progressivität in Hessen regional differenziert erfolgt. Es ist zu beobachten, dass unterschiedliche Faktoren, etwa der zugrunde liegende Kontext, der Verbtyp, die Einbindung des Objekts etc., Einfluss auf die regionale Verteilung nehmen. Je nachdem ergeben sich unterschiedliche syntaktische Raumbilder, von denen zwei in Abschnitt 3 diskutiert und miteinander verglichen werden. Im Mittelpunkt steht die Objektverarbeitung, die im am-Progressiv unterschiedlich erfolgen kann, etwa Susanne ist am Zeitung lesen oder Susanne ist die Zeitung am Lesen.
Zum Ausdruck von Progressivität in den Dialekten Hessens
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Abb. 1: Karten zur Verlaufsform aus dem »Atlas zur deutschen Alltagssprache« (AdA). Ich danke Stephan Elspaß und Robert Möller für die Kartenbilder. Die Karten sind online auch über folgenden Link einsehbar: http://www.atlas-alltagssprache.de/runde-2/f18a-b/.
70
Katrin Kuhmichel
2.
Progressivausdrücke des Deutschen
2.1
Der am-Progressiv
Der am-Progressiv, der lange als regionale und eher umgangssprachliche Erscheinung galt, ist heute sowohl überregional als auch varietätenübergreifend, selbst im (schriftlichen) Standarddeutschen, belegt (vgl. Krause 1997, 2002; Reimann 1997; van Pottelberge 2004). Regionale Differenzen im Gebrauch bestehen aber weiterhin; das veranschaulichen die Karten des »Atlas zur deutschen Alltagssprache« (AdA) von Elspass/Möller (2003ff.). Als besonders frequent und in hohem Maße grammatikalisiert gilt der amProgressiv in seinen Kern- und vermuteten Ursprungsgebieten (vgl. Andersson 1989: 99–102, van Pottelberge 2004: 210–212, Szczepaniak 22011: 164). In der Forschungsliteratur wird vielfach auf den rheinischen Ursprung und die damit verbundene Sonderstellung der Konstruktion in dieser Region hingewiesen. Ursprung, Entstehungszeitraum und Grammatikalisierungspfad des amProgressivs sind jedoch umstritten (zur Grammatikalisierung des am-Progressivs siehe van Pottelberge 2005, Szczepaniak 22011: 162–164, Ramelli 2012). Elspass (2005: 269) kommt im Rahmen seiner Auswertung von Auswandererbriefen des 19. Jahrhunderts zu dem Ergebnis, dass sich der am-Progressiv ausgehend vom rheinischen und niederdeutschen Raum weiterverbreitet hat. Die Karten aus dem AdA sowie die Arbeit von van Pottelberge (2004) legen zudem nahe, dass auch die Schweiz als weiteres Kern- und mögliches Ursprungsgebiet der Konstruktion berücksichtigt werden muss: Die starke Verbreitung und Grammatikalisierung in der Schweiz, die im Gegensatz zur Bundesrepublik auch die Schriftsprache erreicht hat, zieht die alte Auffassung, der amProgressiv sei ›rheinisch‹ oder rheinischer Herkunft, in Zweifel. (van Pottelberge 2004: 221)
Neben regionalen Präferenzen für den am-Progressiv gibt es auch bestimmte Kontexte, in denen er bevorzugt Anwendung findet. Als prototypischer Progressivkontext wird in der Literatur das Inzidenz-Schema (u. a. bei Ebert 1996: 43, Krause 1997: 63, Glück 2001: 81) angeführt: Eine Handlung tritt hier ein, während eine andere Handlung noch andauert, siehe (1). Daneben wird auf die Frage Was macht XY gerade? (u. a. Ebert 1996: 43) und den »aspetto continuo« (Bertinetto 1986: 163–181) hingewiesen, siehe (2) und (3). Hier wird eine Tätigkeit oder ein Geschehen über einen längeren Zeitraum hinweg im Verlauf dargestellt (vgl. Krause 1997: 63). Zudem findet sich bei Krause (1997: 51) ein Hinweis darauf, dass bestimmte Verben bevorzugt progressiviert werden; auch die Darstellung gewohnheitsmäßiger Handlungen im Progressiv ist möglich, siehe (4) und (5).
Zum Ausdruck von Progressivität in den Dialekten Hessens
71
(1) Inzidenz-Schema: Ich war gerade am Bügeln, als es plötzlich an der Tür geklingelt hat (2) Frage – Antwort: Was macht Johannes gerade? Johannes ist am Arbeiten (3) Aspetto continuo: Maria ist schon den ganzen Samstag am Waschen (4) Präferierte Verbtypen: Ich bin am Verhungern (5) Kombination mit Habitualität: Inge ist doch nur am Schimpfen
Als standardsprachlich akzeptabel wird der am-Progressiv aber nur in bestimmten Verbindungen, etwa mit »Tätigkeitsverben ohne Ergänzungen« (Duden 82009: 427), aufgefasst. Sätze wie Sie ist Koffer am Packen werden weiterhin als regional eingestuft (vgl. Szczepaniak 22011: 164). Im Standarddeutschen ist als Mittel der Objektverarbeitung im am-Progressiv lediglich die Objektinkorporierung zugelassen, etwa Sie ist am Koffer packen/Rasen mähen/ Zeitung lesen;1 auch die Einbindung präpositionaler Objekte ist nach Krause (1997: 71–73) ausgeschlossen. Neben syntaktischen bestehen für den am-Progressiv auch semantische Restriktionen, die etwa die Kombinierbarkeit mit bestimmten Verben betreffen. Der am-Progressiv ist beispielsweise nicht mit allen Verbtypen nach Vendler (1967) in gleichem Maße kompatibel (siehe dazu Comrie 1976: 32–51, Krause 1997: 61–68, Szczepaniak 22011: 162–163). Nach Krause (1997: 61–66) sind Activities (u. a. ›schwimmen‹, ›kochen‹, ›nachdenken‹, ›Kuchen backen‹) und Accomplishments (u. a. ›ertrinken‹, ›verhungern‹, ›ein Glas Wein trinken‹, ›eine Brücke bauen‹) recht gut mit dem am-Progressiv kombinierbar, als problematisch hingegen erweisen sich Achievements (u. a. ›gewinnen‹, ›aufstehen‹, ›das Haus verlassen‹, ›den Gipfel erreichen‹) und besonders States (u. a. ›lieben‹, ›hassen‹, ›glauben‹, ›wissen‹, ›besitzen‹). Ebert (1996: 44) schließt den Gebrauch von States im am-Progressiv aus. Krause (1997: 65–66) hingegen, der auch die Verben der Ruhe, also Verben wie schlafen, sitzen, stehen oder liegen, in Anlehnung an Schopf (1969), zu den States zählt, wertet diese als noch recht wahrscheinlich im am-Progressiv. Der statische Charakter der genannten Verben ist in der Forschungsliteratur jedoch umstritten (siehe dazu Croft 2012: 39, der auf weitere Darstellungen zu dieser Thematik verweist). Eine Diskussion um die Abgrenzung der Aktionsarten untereinander oder die Zuordnung von Verben zu 1 Unter Objektinkorporierung ist ein Wortbildungsverfahren zu verstehen, bei dem ein Nominalstamm in einen Verbstamm integriert wird und mit diesem ein komplexes neues Verb bildet: »The term >incorporation< is generally used to refer to a particular type of compounding in which a V[erb] and a N[oun] combine to form a new V[erb]. The N[oun] bears a specific semantic relationship to its host V[erb] – as patient, location, or instrument.« (Mithun 1984: 848)
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Katrin Kuhmichel
Aktionsarten erscheint hier unvermeidlich, kann im Rahmen des vorliegenden Artikels jedoch nicht geführt werden. Es soll an dieser Stelle lediglich festgehalten werden, dass die semantische Kompatibilität von Verben mit dem am-Progressiv von ihrer Aktionsart abhängig ist. Activities etwa haben weder einen natürlichen Endpunkt (sie sind entsprechend atelisch) noch beinhalten sie einen Zustandswechsel, was die Darstellung im Progressiv begünstigt. Die Verbalhandlung, die an sich bereits durativ ist, wird im Progressiv fokussiert (vgl. Flick/Kuhmichel 2013: 59). Accomplishments und Achievements hingegen drücken Zustandsveränderungen aus. Sie beinhalten einen natürlichen Endpunkt und sind entsprechend telisch. Während der Zustandswechsel bei den Accomplishments sukzessiv, also über eine längere Zeitspanne hinweg, erfolgt, setzt er bei den Achievements punktuell ein. Beide Verbklassen sind daher nicht in gleichem Maße mit der Semantik des Progressivs kompatibel wie die atelischen Activities. Achievements sind aufgrund ihres punktuellen Charakters aber grundsätzlich noch schlechter zu progressivieren als Accomplishments, wenngleich sich im Deutschen Belege für beide Verbklassen im am-Progressiv finden lassen (siehe Krause 2002: 183– 205). Die Darstellung im Progressiv erzielt bei beiden Verbklassen einen interessanten Effekt. Bei den Accomplishments wird die Übergangsphase in einen anderen Zustand, die ohnehin eine gewisse Zeitspanne umfasst, durch die Darstellung im Progressiv zusätzlich gedehnt (siehe dazu Szczepaniak 22011: 163). Bei den punktuellen Achievements hingegen wird die Zeitspanne, die dem durch das Verb bezeichneten Ereignis vorangeht, z. B. in einem Satz wie Hans ist am Gewinnen, gedehnt (siehe u. a. Leech 1987: 23, Rothstein 2004: 48–50). Das eigentlich punktuelle Ereignis gewinnen wird im Progressiv als Ereignis von einer gewissen zeitlichen Dauer dargestellt. Wenn man sagt, Hans ist am Gewinnen, dann hat Hans zum Sprechzeitpunkt noch nicht gewonnen, es kann aber als sehr wahrscheinlich angenommen werden bzw. es zeichnet sich ab, dass er (noch) gewinnen wird. States sind mit dem am-Progressiv nur schlecht kombinierbar, da sie keine Handlungen, sondern Zustände bezeichnen, die entsprechend nicht dynamisch, sondern statisch sind (siehe dazu Szczepaniak 22011: 163). Überdies bleibt zu klären, welche Verben tatsächlich als States zu werten sind. Der am-Progressiv erweist sich grundsätzlich als der am stärksten grammatikalisierte Progressivausdruck; nach Glück (2001: 84) verfügt er über die »größte strukturelle Domäne«. Das zeigt auch der Vergleich mit anderen Progressivausdrücken (siehe 2.2). Der am-Progressiv bietet die größtmögliche Flexibilität, was die Syntax, etwa die Einbindung von Objekten, und die Semantik, beispielsweise die Kombination mit verschiedenen Verbtypen, anbelangt (je nach Register und Region bestehen hier natürlich Unterschiede).
Zum Ausdruck von Progressivität in den Dialekten Hessens
2.2
73
Weitere (mögliche) Progressivausdrücke des Deutschen
In der Forschungsliteratur finden sich unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Konstruktionen im Deutschen unter die Kategorie Progressiv fallen. Szczepaniak (22011: 158) verweist auf Konstruktionen mit am, beim, dabei zu und im. Teils wird auch die tun-Periphrase als Progressivausdruck angeführt (u. a. bei Eroms 1984, Abraham/Fischer 1998, Langer 2000, Fischer 2001, Kölligan 2004). Das Temporaladverb gerade wird u. a. von Dahl (1985: 90) mit dem Ausdruck von Progressivität in Verbindung gebracht;2 auch Krause (1997: 74) erwähnt es in seinen Ausführungen zum Progressiv: Die Adverbialbestimmung gerade fungiert zwar oft als Indikator für Progressivität, ist jedoch nicht auf diese Funktion beschränkt. Sie ist mit allen drei Progressiv-Konstruktionen [am, beim, dabei zu; K.K.] genauso wie mit der unmarkierten Aspektform kombinierbar, allerdings nicht in allen durch Progressivität gekennzeichneten Kontexten, besonders dann nicht, wenn sie in Konkurrenz zu anderen Adverbialbestimmungen steht.3
Das Temporaladverb stellt ein Ereignis nicht im Verlauf, sondern vielmehr zu einem konkreten, zeitlich fixierten Moment dar. Ein Satz wie Marianne bäckt gerade bringt einerseits zum Ausdruck, dass das Backen als Handlung anzusehen ist, der eine andere Handlung vorausgegangen sein kann, und andererseits, dass das Backen als Handlung zeitlich begrenzt ist und jederzeit von einer anderen Handlung unterbrochen oder abgelöst werden kann (siehe dazu Flick/Kuhmichel 2013: 54–55). Die im-Konstruktion wird in Anlehnung an Glück (2001: 85) ebenfalls nicht als Progressivausdruck gewertet: Sie drückt nämlich nicht Handlung-im–Verlauf aus, sondern Handlung-im-Beginn oder Handlung-im-Abschluß. Deshalb ist die im-Konstruktion als Ausdruck der dynamischen Aktionsarten Ingressiv und Egressiv zu bestimmen, denn sie ist außenperspektiviert: Die Handlung tritt in ein anderes Stadium ein.
Hinzu kommen der eingeschränkte Anwendungsbereich der Konstruktion (vgl. Ebert 1996: 48) und die teils idiomatisierte Verwendung, etwa im Kommen sein (Szczepaniak 22011: 163). Im Rahmen der SyHD-Erhebungen wurde die imKonstruktion auch nicht abgefragt; hier wird sie ebenfalls nicht weiter besprochen. Der vielseitig einsetzbaren tun-Periphrase, die im Standarddeutschen ausschließlich als Mittel zur Topikalisierung zugelassen ist (vgl. Fischer 2001: 139– 2 Zum Temporaladverb gerade als potenzieller Progressivmarker siehe auch Ebert (1996: 48– 49), Maiwald (2002: 134), von Sutterheim [u. a.] (2009: 205). 3 Wenn im Progressiv eine über einen längeren Zeitraum andauernde Handlung beschrieben oder Habitualität ausgedrückt werden soll, etwa XY ist (*gerade) schon den ganzen Samstag am Waschen oder XY ist (*gerade) nur am Schimpfen, ist das Temporaladverb ausgeschlossen.
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140), wird zumindest in einigen Dialekten ein progressiver Charakter zugesprochen. Kölligan (2004: 431) verdeutlicht dies anhand von Belegen aus dem Ripuarischen, verweist aber auch auf Beispiele aus dem Berndeutschen, Zürichdeutschen, den Tiroler Mundarten und dem Bairischen. Maiwald (2004: 239) führt jedoch an, dass die tun-Periphrase Progressivität nicht ausschließlich über die Formseite ausdrückt, wie etwa der am-Progressiv, sondern eines zusätzlichen Kontexts bedarf. Sie lehnt die tun-Periphrase als alleiniges Ausdrucksmittel von Progressivität (hier für das Bairische) ab und verweist stattdessen auf ihre unterstützende Funktion: Bei der Analyse dieser Konstruktion ergab sich, dass entgegen der häufig vertretenen Annahme tun + Infinitiv nicht der Perspektivierung des Verbalgeschehens dient. Durch die Fügung wird weder eine zusätzliche progressive noch eine habituelle Bedeutung bezeichnet, die nicht bereits durch die Aspektualität des Verbs oder den Kontext gegeben ist. (Maiwald 2002: 141)
Auch Fischer (2001: 149) betont, dass die tun-Periphrase, die oft in Kombination mit entsprechenden Temporaladverbien auftritt, eher »als unterstützendes Mittel zum Ausdruck durativer Aktionsart bzw. als aspektuelles Ausdrucksmittel« dient. Ihr umstrittener Status als Progressivausdruck und ihre Polyfunktionalität machen eine Untersuchung der tun-Periphrase auch für Hessen interessant: Für die tun-Periphrase ist charakteristisch, dass sie über keine spezifische Funktion verfügt bzw. verschiedene Funktionen ausfüllen kann, dass aber in verschiedenen Varietäten jeweils verschiedene – und nicht unbedingt alle – Funktionen auftreten. Fischer (2001: 150–151) nennt unter anderem die Umschreibung der funktionalen Kategorien Tempus und Modus, den Ausdruck von Aktionsart oder Aspekt, die Nebensatzmarkierung und den Ersatz komplizierter Formen als mögliche Funktionen. (Fleischer/Schallert 2011: 143)
Während die tun-Periphrase nach Langer (2000: 265) grundsätzlich in allen Dialektregionen des Deutschen zu finden ist (wenn auch nicht in allen grammatischen Funktionen gleichermaßen), betont auch Elspass (2005: 259), dass es sich bei der Konstruktion nicht, wie oft behauptet, um eine »süddeutsche Spezialität« handelt. Es stellt sich nun die Frage nach der Verwendung in den Dialekten Hessens und den angrenzenden Dialekträumen (wobei es hier ausschließlich um die Verwendung als Hilfsverb mit nachgestelltem Vollverb geht).4 Auch der progressive Charakter der beim-Konstruktion ist nicht uneingeschränkt gegeben; sie kann in Verbindung mit bestimmten Verben sowohl 4 Bei Langer (2000: 269) werden die Dialekte Hessens im Rahmen einer Auflistung von Dialektregionen, in denen tun als Aspektmarker dient, nicht aufgeführt.
Zum Ausdruck von Progressivität in den Dialekten Hessens
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progressiv als auch lokal aufgefasst werden. Ein Satz wie Walter ist beim Arbeiten/Karten spielen/Schwimmen ist entsprechend ambig: Er kann so aufgefasst werden, dass sich die Handlung a) gerade im Verlauf befindet oder die Person sich b) gerade an dem Ort aufhält, an dem der Handlung nachgegangen wird (vgl. Engelberg 2004: 10, Szczepaniak 22011: 162). Die zweite Lesart beinhaltet jedoch nicht zwingend, dass die Handlung am Handlungsort gerade auch tatsächlich ausgeführt wird. Der am-Progressiv lässt im Vergleich dazu keine lokale Lesart zu; über die Konstruktion am X-en sein wird ausschließlich die Bedeutung ›im Verlauf befindlich‹ transportiert (vgl. Rödel 2003: 102). Die beim- und die dabei zu-Konstruktion unterliegen im Standarddeutschen überdies größeren Restriktionen als der am-Progressiv: (6) a. b. (7) a. b.
Tina ist am Plätzchenbacken Tina ist Plätzchen am Backen Jan ist am Schlafen Das Wasser ist am Kochen
Was die Einbindung von Objekten anbelangt, unterliegen sowohl die beim- als auch die dabei zu-Konstruktion Einschränkungen: Die Objektinkorporierung (6a) ist im Falle der dabei zu-Konstruktion ausgeschlossen (*Tina ist dabei, zu Plätzchen backen); die Einbindung eines nicht-inkorporierten, »echten« Objekts (6b) wiederum für die beim-Konstruktion (*Tina ist Plätzchen beim Backen). Verben geringer Dynamik (7a) können nach Ebert (1996: 46) nicht in Kombination mit der beim-Konstruktion (*Jan ist beim Schlafen) verwendet werden. Für die dabei zu-Konstruktion wiederum wird die Kombinierbarkeit mit Verben ohne Ergänzung, die dem Satz eine telische Lesart verleiht, grundsätzlich in Frage gestellt; es wird stattdessen auf eine Präferenz dieser Konstruktion für »telische Verben bzw. Verbalsyntagmen« hingewiesen (Krause 1997: 61–62). Ebert (1996: 63) betrachtet Sätze wie *Die Kinder sind dabei zu spielen als unvollständig; sie bezieht sich dabei auch auf Informantenbeurteilungen.5 Eine weitere Beschränkung der beim-Konstruktion, die auch für die dabei zu-Konstruktion angenommen wird, liegt in der Verwendung mit ausschließlich agentiven Subjekten (7b): Sätze wie *Das Wasser ist beim Kochen sind nach Krause (1997: 62) ausgeschlossen, ein Satz wie *Das Wasser ist dabei zu kochen wird zumindest als fragwürdig eingestuft. Im folgenden Abschnitt wird anhand zweier ausgewählter SyHD-Aufgaben erläutert, ob bzw. wie der Ausdruck von Progressivität in den Dialekten in und um Hessen erfolgt. Vorab werden die den Ergebnissen zugrunde liegenden Aufgaben aus den SyHD-Fragebögen dargestellt.
5 Ebert (1996: 42) bestimmt ihre Informantengruppe leider nicht näher: »I have not carried out a quantitative empirical investigation, but I have interviewed people from various regions of Germany on the more doubtful cases.«
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Katrin Kuhmichel
3.
Zum Ausdruck von Progressivität in den Dialekten Hessens
3.1
Die Erhebung von Progressivausdrücken bei SyHD
Zur Erhebung von Progressivausdrücken wurden bei SyHD bislang Bildbeschreibungen, Puzzle- und Ankreuz- bzw. Bewertungsaufgaben eingesetzt.6 Die Aufgaben sind jeweils durch eine vorangestellte, kurze Einstiegsgeschichte in einen »situationellen alltagsweltlichen Kontext« eingebettet, der zur Aufgabenstellung überleitet und nicht selten so gestaltet ist, dass das Auftreten bestimmter Konstruktionen evoziert wird (Fleischer [u. a.] 2012: 13). Die Gestaltung der Einstiegsgeschichte spielt insbesondere für die Erhebung von Progressivausdrücken eine Rolle. Eingangs wurde bereits darauf hingewiesen, dass im Deutschen der Ausdruck von Progressivität fakultativ erfolgt (siehe Abschnitt 1). In der Einstiegsgeschichte werden daher bewusst Progressivkontexte aus der Forschungsliteratur aufgegriffen. Neben dem Inzidenz-Schema und dem »aspetto continuo« etwa wird bei der Bildbeschreibung durch die Fragestellung Was macht XY auf dem Bild gerade? auf Antworten im Progressiv abgezielt. In diesem Artikel sollen die Ergebnisse einer Ankreuz- und einer Puzzleaufgabe diskutiert und miteinander verglichen werden. Im Mittelpunkt beider Aufgaben steht die Objektverarbeitung im Rahmen von Progressivkonstruktionen. Besonders der am-Progressiv ist hier interessant, da er zwei, wenn auch unterschiedlich stark grammatikalisierte Möglichkeiten der Objektverarbeitung bietet (siehe Abschnitt 2.2). Die Kombinierbarkeit mit einem nicht-inkorporierten, »echten« Objekt (hier: die Wiese) wurde im Rahmen einer Ankreuzaufgabe erfragt (siehe Abbildung 2). In der Einstiegsgeschichte zu dieser Aufgabe wird eine Situation aufgebaut, in der eine Person X, hier der Ehemann, einen Anruf der Telekom nicht entgegennehmen kann, da er gerade mit einer anderen Tätigkeit beschäftigt ist. Die Ehefrau, die mit der Anruferin spricht, begründet nun, weshalb ihr Mann gerade nicht ans Telefon kommen kann (hierfür sind verschiedene Antwortmöglichkeiten vorgegeben). Das Objekt wird in der Einstiegsgeschichte (hier: die große Wiese) näher spezifiziert und auch im Rahmen der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten, mit Ausnahme der beim-Konstruktion (hier: Er ist beim Wiese mähen), als definit aufgenommen.7 Als Antwortmöglichkeiten sind in Abbildung 2 ausschließlich die analytischen Varianten vorgegeben, die in der Forschungsliteratur mit dem Ausdruck von Progressivität in Verbindung gebracht werden. Auf die Vorgabe Er 6 Weitere Aufgabentypen, die bei SyHD zur Anwendung kommen, sind Bildsequenzbeschreibungen, Ergänzungs- und Übersetzungsaufgaben (zu den Aufgabentypen siehe Fleischer [u. a.] 2012: 1–27). 7 siehe Behrens [u. a.] (2013: 125–126): »The beim-construction does not combine (syntactically) with a direct object: Er ist *den Kuchen beim Backen lit. >he is *the cake at the bake indirektes Objekt > direktes Objekt erscheinen (vgl. 4a aus dem Bairischen). Ist eines der Verbalargumente eine nicht-pronominale Nominalphrase, rückt es unabhängig von seinem syntaktischen Status nach rechts (4b – d): (4) a. Gesdan hod’a’da’n scho zrugg geem Gestern hat-er-dir-ihn schon zurückgegeben b. Gesdan hod’da’n da Sepp scho zrugg geem Gestern hat-dir-ihn der Sepp schon zurückgegeben c. Gesdan hod’a’n am Sepp scho zrugg geem Gestern hat-er-ihn dem Sepp schon zurückgegeben d. Gesdan hod’a’da an Hammer scho zrugg geem Gestern hat-er-dir den Hammer schon zurückgegeben
1.2.
nom>dat>akk dat>akk>NOM nom>akk>DAT nom>dat>AKK
Pronominalsysteme
Zunächst kann man generell aufgrund referenzsemantischer Unterschiede zwei Klassen von Pronomen differenzieren: starke und schwache Pronomen. Starke Pronomen sind z. B. fokussierbar, koordinierbar und modifizierbar, schwache Pronomen dagegen nicht. Schwache Pronomen sind aber die unmarkierten Fälle und sie kommen in der Hauptsache in der Wackernagelposition vor (5a). Eine weitere Position für unbetonte Pronomen, insbesondere wenn sie Subjekte sind, ist das Vorfeld (5b), wo Pronomen (dann vornehmlich als Objekte) allerdings auch betont werden können (5c). Das Vorfeld kann also sowohl starke wie schwache Pronomen aufnehmen (starke Pronomen können aber auch im Mittelfeld links von Modalpartikeln stehen, cf. 5d). (5) a. b. c. d.
Gestern habe ich ihr doch schon davon erzählt Ich habe ihr doch schon gestern davon erzählt IHR habe ich doch schon gestern davon erzählt Gestern habe ich doch IHR schon davon erzählt
Syntaktisch hat man also ein Dreiersystem (WP, VF, anderswo), dem auch phrasenstrukturell drei Ausprägungen entsprechen, insofern als (i) Pronomen in der WP Kopfstatus haben, (ii) starke Pronomen (fokussierte) DPs (also maximale Projektionen) sind und (iii) Pronominalformen, die sowohl in der WP als
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Helmut Weiss
auch im VF vorkommen können, ambig sind, also Köpfe in der WP und DPs im VF sind.2 In den Dialekten gibt es nun einen interessanten und ganz systematischen Mismatch zwischen Syntax und Morphologie, insofern der syntaktischen Dreiteilung auf morphologischer Seite zumeist nur zwei Formen gegenüber stehen. Für die Funktion des starken Pronomens steht (wie zu erwarten) immer ein Vollpronomen zur Verfügung, hinsichtlich der Form des schwachen Pronomens gibt es allerdings Variation. Hauptsächlich kommen klitische oder reduzierte Pronomen in schwacher Verwendung vor. Manche Dialekte besitzen eine (fast durchgehende) klitische Reihe, wofür Bairisch (Weiss 1998) ein Beispiel ist. Die klitischen Formen, z. B. /ǝ/ ›ich‹, /dɐ/ ›dir‹ und /n/ ›ihn‹ in (6a), sind nur in der WP erlaubt, während im Vorfeld nur eine Form des Vollpronomens verwendet werden kann (betont oder unbetont) (6b, c): (6) a. Gesdan han’e’da’n scho zrugg geem Gestern habe-ich-dir-ihn schon zurückgegeben b. I han’da’n doch gesdan scho zrugg geem Ich habe-dir-ihn doch gestern schon zurückgegeben c. Dia han’e’n doch gesdan scho zrugg geem Dir habe-ich–ihn doch gestern schon zurückgegeben
Bairisch zeigt damit ein morphologisches Zweiersystem: Vollformen [+/-betonbar] und klitische Formen. An manchen Stellen zeigt das Paradigma zusätzliche Besonderheiten, wovon sicherlich am auffälligsten ist, dass manche Pronomen keinen phonologischen Gehalt aufweisen. Nullpronomen (bzw. pro in generativer Terminologie) sind eine Variante schwacher Pronomen und das Bairische weist welche in der 2.Pers.Sg. und Pl. sowie der 1.Pers.Pl. auf (Bayer 1984, Weiss 1998). Eine weitere Besonderheit versteckt sich hinter der Relation zwischen dem Pronomen eam und dem Klitikum n ›ihn‹: die Form eam steht für den Dativ (ihm), wofür es keine klitische Variante gibt, und den Akkusativ (ihn), deren klitische Form eben n ist; allerdings ist das Klitikum bzgl. des Merkmals [belebt] unterspezifiziert, wohingegen die Vollform eam nur auf belebte Entitäten referieren kann. Möchte man nicht-klitisch auf ein neutrales Individuum referieren, wird die entsprechende Form des d-Pronomens (also den) verwen-
2 Die Unterschiede zwischen den Pronominaltypen sind sehr vereinfacht skizziert. Für eine detailliertere Darstellung (gerade auch der Phrasenstrukturen) sei auf Weiss (2015) verwiesen, wo aufbauend auf Cardinaletti / Starke (1999), Fuss / Wratil (2013) und anderen das hier verwendete Pronominalsystem entwickelt wird. Ein Unterschied zu Cardinaletti & Starke (1999) besteht darin, dass klitische Pronomen nicht auf derselben Klassifikationsebene wie starke und schwache Pronomen stehen, sondern eine Variante schwacher Pronomen neben reduzierten und Nullpronomen darstellen.
Pronominalsyntax deutscher Dialekte
125
det.3 Eine letzte Besonderheit, die Bairisch aber mit zahlreichen Dialekten teilen dürfte, ist das Fehlen einer nicht-klitischen Form in der 3.Pers.Sg.neutr.: eine dem Standard entsprechende Form es fehlt (Weiss 1998), was auch für das Zentralhessische gilt (Reinsberg 2011). Andere Dialekte haben keine so ausgeprägten Klitikreihen, wofür Zentralhessisch ein Beispiel ist.4 In diesem Dialekt ist es häufig so, dass der Vollform nur eine reduzierte Form gegenübersteht, wie in der 3.Pers.Sg.fem: es gibt eine reduzierte Form /sə/, die in der WP (7a) und im VF (7b) vorkommen kann, wo natürlich auch die Vollform möglich ist. (7) a. Dai Kist hoddse de Inge gegäwwe Deine Kiste hat-sie der Inge gegeben b. Se singd unn daazd de gannse Doag Sie singt und tanzt den ganzen Tag c. SÄI singd unn daazd de gannse Doag Sie singt und tanzt den ganzen Tag
Reduzierte und klitische Pronomen unterscheiden sich also deutlich in ihrer Distribution: Letztere sind auf die WP beschränkt, Erstere können zusätzlich dazu auch im VF stehen. Zentralhessisch ist zugleich auch ein Beispiel für einen Mischdialekt, der unterschiedliche Formen schwacher Pronomen aufweist. So gibt es in der 1.Pers. Sg. nicht einmal eine richtige reduzierte Form des Subjektpronomens: In (8a – b) sind Originalbelege angegeben, die bei der SyHD-Erhebung von Informanten als eigene Alternativen notiert wurden. (8) a. Soll aich seann hoainn? Soll ich seiner holen? b. Soll each en honn? Soll ich ihn holen? c. Soll eich sin honn? Soll ich seiner holen? d. Soll äch en’s holln? Soll ich eines holen?
Die Formen des Pronomens in (8a – d) haben jeweils einen Diphthong (bzw. Umlaut), der sich dadurch erklärt, dass die zugrundeliegende mhd. Form einen Langvokal enthalten hat (Seebold 1984, Reinsberg 2011). Erstaunlich ist, dass sich selbst für die WP keine segmental reduzierte Form entwickelt hat. Meistens existieren aber auch im Zentralhessischen zwei unterschiedliche Formen, wobei außer reduzierten Pronomen (s. o.) auch Klitika vorhanden sind, 3 Wie überhaupt in den dialektalen Paradigmen sehr häufig d-Pronomen anzutreffen sind – eine m.W. bislang überhaupt noch nicht systematisch untersuchte Materie. 4 Die folgenden Daten für das Zentralhessische stammen zu einem kleineren Teil aus dem SyHD-Projekt sowie zu einem größeren Teil aus einer bei mir entstandenen Magisterarbeit (Reinsberg 2011).
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Helmut Weiss
die ausschließlich in der WP vorkommen, so in der 2.Pers.Sg. (9a – c) und in der 1. Pers.Pl. (10a – c): (9)
a. DU singsd unn daazd de gannse Doag Du singst und tanzt den ganzen Tag b. Du singsd unn daazd de gannse Doag Du singst und tanzt den ganzen Tag c. Dai Kist hosde de Inge gegäwwe Deine Kiste hast-du der Inge gegeben (10) a. MIR singe unn daaze de gannse Doag Wir singen und tanzen den ganzen Tag b. Mir/Mer singe unn daaze de gannse Doag Wir singen und tanzen den ganzen Tag c. Dai Kist hu m’r de Inge gegäwwe Deine Kiste haben-wir der Inge gegeben
Auch bei Objektpronomen existieren volle, reduzierte und klitische Formen.5 Eindeutig klitische Formen sind laut Reinsberg (2011, 64) n ›ihn‹, m ›ihm‹ und r ›ihr‹. Auf eine Besonderheit reduzierter Formen macht Reinsberg (2011, 69) aufmerksam, konnte sie doch »zeigen, dass reduzierte Objektpronomen im Mittelhessischen nicht in Erstposition erscheinen können, aber mit Hilfe der typisch hessischen Interjektion ei vor dem Verb in der linken Satzklammer im Vorfeld stehen können«, vgl. (11a, b) (Reinsberg 2011, 64): (11) a. Ei=em gefällds doch! Interj.-ihm gefällts doch b. Ei=en wollde se doch goar ned Interj.-ihn wollte sie doch gar nicht
Die Interjektion bildet zusammen mit dem Pronomen eine prosodische Einheit ([Ɂai:jəm] bzw. [Ɂai:jən], vgl. Reinsberg 2011, 64), so dass das Pronomen vermutlich sogar als Klitikum zu klassifizieren ist und nicht nur als schwaches Pronomen. Wie immer man dieses Phänomen syntaktisch erklärt, allein die Tatsache, dass schwache, d. h. unbetonte Objektpronomen im Vorfeld vorkommen können, ist eine Besonderheit.6 Zwar können im Standarddeutschen Objektpronomen auch unbetont im Vorfeld stehen (Lenerz 1993, Frey 2006), aber es besteht zumindest die Tendenz, sie dort durch d-Pronomen zu ersetzen (Weinrich 2003) und in Dialekten ist die Tendenz zur Substitution noch weit ausgeprägter. Für das Zentralhessische sind schwache Objektpronomen im Vorfeld ansonsten völlig ausgeschlossen (Reinsberg 2011, 49) – genauso wie im Bairischen (Weiss 1998). 5 Bei Objektpronomen fehlen aber generell in allen deutschen Dialekten Nullpronomen, während solche bei Subjektpronomen in einigen Dialekten vorkommen. 6 Eine mögliche Analyse wäre, dass die Interjektion innerhalb der C – Domäne eine Kopfposition oberhalb von FinP einnimmt, und das pronominale Objekt an diese Kopfposition klitisiert (und das Subjektpronomen an das finite Verb in Fin°).
Pronominalsyntax deutscher Dialekte
127
Was klitische Pronomen betrifft, gibt es eine zusätzliche Differenzierung zu beachten: in manchen Dialekten sind nämlich auch Präpositionen als Klitikhost möglich, in anderen dagegen nicht. Neben Alemannisch (Nübling 1992) gehört auch Zentralhessisch zu den Dialekten, in denen Pronominalklitika innerhalb einer PP erlaubt sind (Reinsberg 2011): (12) a. Kannsd doch med’m gieh Kannst doch mit–ihm gehen b. Ich hu uff ’n uffgebassd Ich habe auf-ihn aufgepasst
Im Bairischen sind die (12a, b) entsprechenden Sätze ungrammatisch (Weiss 1998). Eine mögliche Erklärung dafür ist die auf Zwicky (1977) zurückgehende Unterscheidung zwischen phonologischen und syntaktischen Klitika. Auf die Situation in deutschen Dialekten übertragen, kann man annehmen, dass syntaktische Klitika auf die WP beschränkt sind, während phonologische überall dort möglich sind, wo schwache Pronomen vorkommen können – also z. B. auch in PPs. Für das Auftreten phonologischer Klitika gilt nur eine Restriktion: es muss sich links davon ein potentieller Klitikhost befinden – womit auch die obigen Fälle aus dem Zentralhessischen, vgl. (11a, b) erfasst werden können.
2.
Besonderheiten im Zusammenhang mit der WP
In den deutschen Dialekten (wie generell in der Kontinentalwestgermania, cf. Weiss 2005, ersch.) sind mit der WP drei syntaktische Eigenschaften verbunden, die zusammen mit der Existenz klitischer Pronomen das bilden, was ich als Wackernagelkomplex bezeichne (Weiss, ersch.). 2.1. Double Agreement (DA) 2.2. Complementizer Agreement (CA) 2.3. Partielles pro-drop Der Wackernagelkomplex geht damit weit über den ursprünglichen Bereich der Wackernagelschen Generalisierung hinaus und ist übrigens auch eine mikrotypologische Besonderheit der Kontinentalwestgermania, wodurch sich diese Sprachen deutlich vom Nordgermanischen und vom Englischen unterscheiden.
2.1.
Double Agreement (DA)
Unter Double Agreement versteht man, dass Verben in Zweitposition, d. h. in C°/LSK, eine andere Flexionsmarkierung aufweisen als in der Endposition (Zwart 1993). C-spezifische Flexion wird durch zwei Faktoren gesteuert, entweder
128
Helmut Weiss
a) durch die Position des pronominalen Subjekts, oder b) durch die Position des finiten Verbs ad a) Die reguläre Flexion erscheint am Verb in V/End-Sätzen und in subjektinitialen V/2-Sätzen, in Hauptsätzen mit Subjekt-Verb-Inversion wird dagegen eine C-spezifische Flexion verwendet (Zwart 1993): (13) a. datte wij speult/*e Dass-1PL wir spielen b. Wy speult/*e c. Waar speule /*t wij? Wo spielen wir
Diese Art von DA ist in der Hauptsache in niederländischen und flämischen Dialekten anzutreffen (13a – c sind ostndl. Beispiele). Eines der eher seltenen Beispiele aus dem Bereich deutscher Dialekte ist das (ostpreußische) Samländische, wobei hier noch als Besonderheit die Beschränkung auf w-Fragesätze hinzukommt, d. h. nicht jede Subjekt-Verb-Inversion erfordert die C-spezifische Flexion am Verb (Weiss 2005): (14) a. wî/jû make wir/du machen b. wat mak we/je was machen wir/du
ad b) Die reguläre Flexion erscheint am Verb nur in V/End-Sätzen, in V/2-Sätzen dagegen, unabhängig von der Position des pronominalen Subjekts, immer eine C-spezifische Flexion: (15) a. dasma mia aaf Minga fahrn/*ma (Mittelbairisch) Dass-1PL wir nach M. fahren b. mia fahrma/*n aaf Minga wir fahren-wir 1PL nach M. c. fahrma/*n mia aaf Minga? Fahren-wir wir nach M. (16) a. wents neat tiets a¯ tepa¯ wa¯et (Sangerberg, Pfalz 1918, 18) Wenn-2PL nicht ihr auch dabei wäret b. weits iwet pruk khumt, seatses wı¯etshaus wie-2PL über-die Brücke kommt, seht-das Wirtshaus
Diese zweite Art von DA ist sehr typisch für ostoberdeutsche Dialekte (Weiss 2005).
Pronominalsyntax deutscher Dialekte
2.2.
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Complementizer Agreement (CA)
In deutschen Dialekten kann die Konjunktion zusätzlich zum Verb mit dem Subjekt kongruieren. In (17a, b) kongruiert die Konjunktion dass in der 3.Pers.Pl. mit dem Subjekt: (17) a. dán d’Láit häien (Nordbairisch, Egerland) dass-3PL die Leute hören b. dan Valère en Pol morgen goan (Westflämish) dass-3PL V. und P. morgen gehen
Die Beispiele zeigen, dass CA synchron unabhängig vom Vorhandensein pronominaler Subjektklitika ist (auch wenn diachron ein enger Zusammenhang besteht, cf. Weiss, ersch.). Typologisch gesehen ist CA ein ganz außergewöhnliches7 und sehr seltenes Phänomen, das nur in den kontinentalwestgermanischen Dialekten vorkommt (Weiss 2005, ersch.). Komplette CA-Paradigmen existieren z. B. im Westflämischen, etwa im Dialekt von Lapscheure (cf. 18). Wie auch sonst häufig (cf. Hoekstra & Smits 1998, 6), ist das Paradigma an der Oberfläche defektiv, weil nur 1SG, 3SG mask und 3PL sichtbare CA-Flexion haben, während in den anderen Fällen davon ausgegangen wird, dass die CA-Morpheme durch phonologische Prozesse wie Assimilation verschwunden sind (cf. de Vogelaer et al. 2002). Lapscheure (Westflämisch, Haegeman 1992, Zwart 1993) (18) a. dan-k morgen goan 1SG b. da∅-j morgen goat 2SG c. da∅-se/da-t-j morgen goat 3SG d. da∅-me morgen goan 1PL e. da∅-je morgen goat 2PL f. dan-ze morgen goan 3PL
Weniger bekannt ist, dass auch in dt. Dialekten solche (nahezu) vollständigen Paradigmen vorkommen, v. a. in ostmittel- und ostoberdeutschen Dialekten, wie dem nordbair. Dialekt des Sechsämterlandes, der nur in der 1 und 3SG keine overte CA-Flexion hat – genau wie Modalverben! Sechsämterisch (Rowley 1994) (19) a. wálst (du) 2SG b. wáln mer 1PL c. wálts diets 2PL d. wáln si 3PL
7 Corbett (2006, 49): »Remarkable enough there is good evidence that complementizers can agree. The best evidence to date comes from West Flemish, a dialect spoken in rural West Flanders«.
130 2.3.
Helmut Weiss
Partielles pro-drop
Wenn das pronominale Subjekt phonologisch nicht realisiert ist, spricht man von pro-drop. Eine typische Nullsubjektsprache ist das Italienische, in der in allen Personen und Numeri das pronominale Subjekt ›unausgesprochen‹ bleibt (vgl. dazu generell Biberauer et al. 2009). In vielen dt. Dialekten ist pro-drop zumindest in der 2SG, manchmal auch noch in der 2PL und 1PL erlaubt – das variiert von Dialekt zu Dialekt (Weiss 2005).8 (20) a. wennsd pro mogsd (Mittelbairisch, ebenso Nordbairisch und Ostfränkisch) wenn-2SG magst b. wennds pro megds wenn-2SG magst
In anderen Personen können pronominale Subjekte nicht gedropt werden. Im Ostfränkischen sind Nullsubjekte z. B. in der 1PL und 3PL unzulässig, obwohl der Komplementierer flektiert – was zeigt, dass beide Eigenschaften im Prinzip unabhängig voneinander sind. (21) a. waaln *(mer) graad besamn senn (Ostfränkisch) weil *(wir) gerade zusammen sein b. waaln *(se) graad besamn senn weil *(sie) gerade zusammen sein
Der kritische Faktor, der Nullsubjekte steuert, scheint die Pronominalität der CFlexion zu sein, d. h. ausschlaggebend ist, ob das Flexionselement ganz oder teilweise durch Reanalyse eines pronominalen Subjektklitikums entstanden ist (Weiss 2005). Im Mittelbairischen besteht eine eindeutige Korrelation zwischen beiden Merkmalen: (22) a. *morng bin pro wieda gsund *morgen bin pro wieder gesund b. morng bist pro wieda gsund morgen bist pro wieder gesund c. *morng is pro wieda gsund *morgen ist pro wieder gesund d. morng sama pro wieda gsund morgen sind-wir pro wieder gesund e. morng sads pro wieda gsund morgend seid-ihr pro wieder gesund f. *morng san pro wieda gsund *morgen sind pro wieder gesund
8 Dass –sd bzw. –ds jeweils nur ein Flexionselement sind und keineswegs aus Flexiv (oder gar Gleitlaut) plus klitischem Pronomen (d bzw. s) bestehen, sieht man daran, dass sie auch dann nicht fehlen dürfen, wenn die betonte Vollform verwendet wird, vgl. (i) Wennsd oba DU moansd … (ii) Wennds oba ES moands …
Pronominalsyntax deutscher Dialekte
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Mittelbairisch √ 2SG – 1PL – 2PL (CA ist pronominal) * 1SG – 3SG – 3PL (CA ist nicht-pronominal)
Die syntaktische Lizensierungsbedingung für Nullsubjekte schreibt vor, dass die pronominale Flexion sich in der LSK bzw. C°/Fin° befinden muss. Ob deren Vorhandensein dort durch die Präsenz des finiten Verbs oder durch Komplementiererflexion bewirkt wird, spielt dagegen für die Zulässigkeit von pro-drop keine Rolle (Weiss 1998, 2005, ersch.).9
3.
Besonderheiten der Subjekt-Objekt-Abfolge10
Deutsch ist eine SOV-Sprache, d. h. die unmarkierte Abfolge ist Subjekt (S) vor (indirektem > direktem) Objekt (O) (Lenerz 1977, Höhle 1982). Dies gilt für den Standard ebenso wie für die Dialekte und für nominale wie pronominale Argumente (23a, b). Während die Abfolge von indirekten und direkten Objekten einer größeren Variation unterliegt, gilt die Abfolge S > O als besonders stabil, selbst gegenüber Faktoren, die ansonsten eine Abweichung von der Normalabfolge erwirken, wie z. B. Pron > NP, Belebtheitshierarchie, usw. (vgl. 23c):11 (23) a. Gestern hat der Josef die Maria getroffen b. hudərnij sa:d lo:fe (Thüringisch) habt ihr ihn nicht sehen laufen c. dass Josef ihr geholfen hat
Erstaunlicherweise ist in Dialekten bei pronominalen Argumenten auch die umgekehrte Abfolge Objekt > Subjekt belegt. So erhielten wir in der dritten SyHDErhebungsrunde, bei der das Phänomen abgefragt wurde (s. u.), als Spontanbeleg aus dem Nordhessischen (24a). (24b) ist die standardisierte Version von Belegen, die im Rahmen des Bayrischen Sprachatlas in Mittelfranken erhoben wurden (s. u.). (24) a. Öh hon desche da wenigstens geholfe? (Nordhessisch) und haben dir-siedann wenigstens geholfen? b. das kann dir ich schon geben (BSA-SMF) 9 Diese syntaktische Anforderung für Nullsubjekte besteht seit frühahd. Zeit, während die morphologische ›Verschärfung› (im Frühahd. konnte auch nicht-pronominale Flexion pro lizensieren) später eingetreten ist und sich sicher erst im Fnhd. nachweisen lässt, sich vermutlich aber schon früher herausgebildet hat (vgl. dazu Axel & Weiss 2011, Volodina & Weiss, ersch.). 10 In Weiss (2015) wird das Phänomen und seine Erklärung wesentlich ausführlicher vorgestellt. 11 Neuere SyHD-Befunde belegen eindeutig, dass die Abfolge pronominaler Objekte starker Variation unterliegt, so dass quasi nur für jede konkrete Kombination angeben werden kann, welche Abfolge in welchem Areal gilt. Eine ausführliche Darstellung der SyHD-Befunde gibt Weiss (2013), vgl. auch Fleischer (2013).
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Solche invertierten Abfolgen tauchten bereits in den Wenker-Daten Ende des 19./Anfang des 20. Jhs. auf. Es ist der Wenkersatz 18 (= 25a), mit dem dort das Phänomen erfasst und für den unterschiedliche Versionen auch mit invertierter Abfolge wie in (25b – g) erhoben wurden: (25) a. Hättest du ihn gekannt! Dann wäre es anders gekommen, und es täte besser um ihn stehen. b. Hättest ihn du gekannt! c. Hättest den du gekannt! d. wenn ihn du … e. wenn den du … f. wennst ihn du … g. wennst den du …
Das Phänomen wurde jedoch im Rahmen des Deutschen Sprachatlas nicht kartiert, sodass es weitgehend unbekannt blieb. Erst im Marburger Projekt ›Morphosyntaktische Auswertung von Wenkersätzen‹ (Projektleiter: Jürg Fleischer)12 wurde eine entsprechende Karte (s. folgende Seite) dazu erstellt (und mir dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt), sodass das Phänomen ›wiederentdeckt‹ werden konnte. Wie man Karte 1 entnehmen kann, ist die invertierte Abfolge (inklusive aller Varianten) gegenüber der Normalabfolge S > O (knapp 1500 mal zuzüglich der entsprechenden Varianten) deutlich in der Minderzahl, aber mit annähernd 7 % statistisch dennoch nicht zu vernachlässigen. Die Wenker-Erhebung wurde zwar an extrem vielen Erhebungsorten durchgeführt, pro Ort gab es aber meistens nur einen Informanten, weswegen das Ergebnis nur eine eingeschränkte Aussagekraft hat.13 Fehler können bei der Übersetzung immer wieder vorkommen und bei nur einem Informanten pro Ort ist damit der Befund für den Ort insgesamt fehlerhaft. Trotzdem ist das Phänomen kein methodisches Artefakt, sondern real, wie sich bei späteren Dialekterhebungen gezeigt hat. Die Inversionsabfolge tauchte zunächst im Rahmen des Bayerischen Sprachatlas wieder auf, als dort in einigen Teilprojekten in anderen Zusammenhängen Sätze mit pronominalem Subjekt und Objekt abgefragt wurden. Es waren die Teilprojekte für Mittelfranken mit den Sätzen in (26a – c) sowie für Bairisch-Schwaben mit dem Satz (27): (26) a. Wenn ich (ein) Geld hätte, dann könnte ich mir was kaufen b. Das kann ich mir schon denken c. Das kann ich dir schon geben (27) Da tät ich mich fürchten
12 Zum Projekt vgl. Fleischer (2015). 13 Mit allen Nacherhebungen waren es beeindruckende 51.480 Fragebögen aus 49.363 Schulorten, vgl. http://www.diwa.info/Geschichte/Fragebogen.aspx.
Pronominalsyntax deutscher Dialekte
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Karte 1: Karte aus dem Projekt »Morphosyntaktische Auswertung von Wenkersätzen«, Wenkersatz 18
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Bei diesen Sätzen wurden äußerst stabile und homogene Areale für die invertierten Abfolgen gefunden, wie aus den folgenden Karten hervorgeht. Die Karten für die Sätze in (26a, b), die auf den folgenden Seiten wiedergegeben sind (aus BSA – SMF Bd. 7), zeigen jeweils im Südwesten ausgeprägte Inversionsgebiete, die nahezu identisch sind.14 In Bayerisch-Schwaben konnte bei Satz (27) ebenfalls ein Inversionsareal erhoben werden, auch wenn es nicht ganz so ausgeprägt und homogen wie das mittelfränkische ist (aus BSA – SBS Bd. 7). Die invertierten Abfolgen (auf der Karte mit einem schwarzen Quadrat symbolisiert) kommen überwiegend im Norden des Untersuchungsgebietes vor (und damit in etwa südlich unmittelbar anschließend an das mittelfränkische Inversionsgebiet). Im selben Gebiet finden sich aber gehäuft auch Belege ohne Subjektpronomen (da tät mich fürchten) sowie mit Normalabfolge, die ansonsten im Süden des Untersuchungsgebietes eindeutig dominieren. Daher ist die Inversionsabfolge auch in BayerischSchwaben areal-bildend. Da bei einer Pilotstudie zu SyHD ein Spontanbeleg mit Inversionsabfolge auftrat, haben wir in der dritten Erhebungsrunde zwei entsprechende Aufgaben eingebaut, um die Hypothese zu testen, dass die Inversionsabfolge auch in Hessen präsent ist. Zum einen wurde der Wenkersatz 18 in der leicht modifizierten Version von (28a) verwendet sowie der Satz (28b). (28) a. Tätst du ihn richtig kennen, hättest du eine bessere Meinung von ihm b. Und – haben sie dir geholfen?
Durch die Vorgabe entsprechender Kontexte sollte eine informationsstrukturell neutrale Lesart der Pronomen vorgegeben werden, d. h. keines der beiden Pronomen ist fokussiert. Das war insbesondere bei dem Wenkersatz nötig, da er in seiner ursprünglichen Version Kontrastfokus auf das Subjektpronomen zumindest nicht ausschloss. Im SyHD-Kontext ist das nun ausgeschlossen und beide Pronomen haben den selben informationsstrukturellen Status:
14 Dasselbe gilt für die hier nicht wiedergegebene Karte 128 (BSA – SMF Bd. 7), die Satz (26c) kartiert.
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Karte 2: Karte aus dem BSA (SMF Band 7: Karte 126)
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Karte 3: Karte aus dem BSA (SMF Band 7: Karte 127)
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Pronominalsyntax deutscher Dialekte
Karte 4: Karte aus dem BSA (SBS Band 9,2: Karte 393)
137
138
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Tabelle 1 gibt die quantitativen Ergebnisse für Satz (28a) wieder und Karte 5 illustriert die areale Distribution:
36
5
52
6
1
31
6
31 1
11 6
51 4
41 2
46 6
68 4
60 7
63
b) O > S (»ihn du«)
2
17 1
19 6
33 5
27
c) null subject (»Øihn«)
4
29
2
19
68
633
9,48
88,28
c 0 0 1 0 0 1 4 1 0 0 5 0 0 3 0 1 0 16 2,23 (»Ø ihn«) * Die Kürzel in Tabelle 1 und 2 bezeichnen die Regionen, für die jeweils eigene Dialektfassungen der Fragebögen erstellt wurden. NH = Nordhessisch, NHOH = Nordhessisch/Osthessisch, NHTH = Nordhessisch/Thüringisch, OFL = Ostfälisch, OH = Osthessisch, RF = RheinFränkisch, WFL = Westfälisch, ZH = Zentralhessisch, ZHMF = Zentralhessisch/Mosel-Fränkisch, ZHMFRF = Zentralhessisch/Mosel-Fränkisch/ Rhein-Fränkisch, ZHNH = Zentralhessisch/Nordhessisch, ZHOHOF = Zentralhessisch/Osthessisch/Ostfränkisch, ZHRH = Zentralhessisch/RheinFränkisch.
a (»du ihn«) b (»ihn du«)
E3–15: a) S > O (»du ihn«)
Tabelle 1*: Ergebnisse der SyHD-Frage 15 (Stand September 2014) Tätest du ihn; b) Tätest ihn du; c) Tätest ihn
Pronominalsyntax deutscher Dialekte
139
140
Helmut Weiss
Das Phänomen ist nicht sehr ausgeprägt raumbildend, wie Karte 5 deutlich macht. Es gibt aber insgesamt sieben Areale, in denen mindestens 10 % der Antworten auf die Inversionsabfolge entfallen, und diese Areale befinden sich im Norden (NHa, NHb, NHTH), Osten (OH) und in der Mitte (ZHNH, ZHMFRF, ZHOHOF) des Untersuchungsgebietes, so dass zumindest eine schwache Raumbildung erkennbar ist. Der quantitative Anteil der Inversionsbelege liegt insgesamt bei 9,48 %, in zwei Arealen aber deutlich darüber (ZHNH 15,63 %, NHTH 16,22 %). Ein ähnliches Resultat erbrachte auch die zweite Aufgabe, in der ein Subjektpronomen der 3PL vorkommt, wofür die Inversionsabfolge bislang noch nicht nachgewiesen wurde. Der verwendete Satz mit Inversion stellt einen Spontanbeleg dar, der in einer Pilotstudie zum SyHD-Projekt von einem Informanten als eigene Variante notiert wurde in einer Aufgabe, in der abgeprüft wurde, ob das Verb helfen mit einem kriegen-Passiv kompatibel ist. Die Aufgabenstellung war eine Ankreuzfrage (s. u.), Tabelle 2 gibt die quantitativen Ergebnisse wieder und Karte 6 illustriert die areale Distribution:
Pronominalsyntax deutscher Dialekte
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Karte 5: Ergebnisse der SyHD-Aufgabe E3_15
Quantitativ ist die Inversionsabfolge bei diesem Beispielsatz noch seltener, dafür ist allerdings die Arealbildung eindeutiger. Der prozentuale Anteil der Inversion beträgt nur 3,84 %, jedoch liegen mit ZHNH (12,5 %), NHa (10,77 %)
58
7
a (»sie dir«)
b (»dir sie«)
1
42
0
28
2
35 1
20 3
64 0
57 0
54 5
70
E3–2: a) S > O (»sie dir«)
3
64 2
71 0
17
b) O > S (»dir sie«)
Tabelle 2: Ergebnisse der SyHD-Frage 2 (Stand September 2014) sie dir; b) dir sie
0
19 1
42 4
28 0
34
0
23
29
726
3,84
96,16
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Pronominalsyntax deutscher Dialekte
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Karte 6: Ergebnisse der SyHD-Aufgabe E3_2
sowie WFL (6,67 %) immerhin drei Areale sehr deutlich über dem Durchschnitt. Alle drei Areale liegen im Norden des Untersuchungsgebietes, sodass sich ein ausgeprägteres Raumbild ergibt. Zwei der drei Areale gehören auch bei der an-
144
Helmut Weiss
deren Inversions-Aufgabe zu den überdurchnittlichen Arealen, was für die Validität der erzielten Ergebnisse spricht. Hinzu kommt, dass bei dieser Aufgabe in der Zeile für die eigene Variante viermal auch eine Inversionsabfolge angegeben wurde (vgl. 29a – c, wobei 29c von zwei Informanten notiert wurde), so dass man trotz der geringen Anzahl der Inversionsvariante Realität attestieren kann.15 (29) a. Öh hon desche da wenigstens geholfe? Und haben dir-3PL da wenigstens geholfen? b. O hon desche geholfe? Und haben dir-3PL geholfen c. Un – hu da sche gehulfe? Und – haben dir sie geholfen?
(NH_a_10–14) (OH_11–11) (ZHNH_6–16)
Damit konnte die Inversionsvariante erstmals auch für die 3PL nachgewiesen werden – nach der 1/2SG. Wie sieht nun eine mögliche Erklärung für diese Inversionsabfolgen aus? Naheliegend wäre zunächst einmal anzunehmen, dass bei Inversion nur das Objektpronomen klitisch, dagegen das Subjektpronomen eine Vollform ist. Die Inversion wäre dann dem Serialisierungsprinzip ›klitische vor Vollpronomen‹ geschuldet. Eine solche Erklärung kann zwar einen Teil der Daten erklären, jedoch nicht alle. Zwar sind für die invertierten Abfolgen im BSA-SMF Fälle belegt, bei denen das Subjektpronomen der 1SG als Vollform (/i˛χ/) (vgl. 30a) bzw. als langes /i:/ (vgl. 30b) erscheint, in der Regel besteht das Subjektpronomen aber selbst bei Inversion aus einem kurzen /i/ (vgl. 30c), so dass in der Mehrzahl der Fälle kein Unterschied zum klitischen Objektpronomen dɑr/dǝr hinsichtlich der Form besteht: (30) a. De˛skha˛ndɑr ˛iχge¯m (021 Stübach) Das kann-dir ich geben b. Dëskhu˛ndǝrı¯ˇsoge¯m (165 Dietfurt) ˙ schon geben Das kann-dir ich c. Deskhondɑri˛ˇsoge¯vɑ (078 Brundorf) ˙ kann-dir ˙ ˙ schon geben Das ich
Trotzdem dürfte der Klitikstatus bzw. sein Fehlen eine Rolle bei der Entstehung der Inversionskonstruktion spielen. Wie wir bei Wenkersatz 18 sowie auch bei den SyHD-Daten gesehen haben, konkurrieren eigentlich drei Varianten miteinander, weil manche Sprecher über die Option eines Nullsubjekts bzw. von prodrop verfügen: a) Subj > Obj b) Obj c) Obj > Subj 15 Die Wahrscheinlichkeit, dass bei der Angabe einer eigenen Variante die falsche angegeben wird, ist wesentlich geringer als beim Ankreuzen von Varianten.
Pronominalsyntax deutscher Dialekte
145
Gemäß dem in Weiss (2015) vorgeschlagenen Pronomenzyklus bilden Nullpronomen den Endpunkt einer Abschwächungsskala: pronominale Vollformen können im VF zunächst zu reduzierten Formen abgeschwächt werden, aus diesen können sich dann in der WP Klitika entwickeln, die schließlich ganz verschwinden (oder Teil der Flexion werden) können. Wenn die Nullformen dann wieder durch neue reduzierte Pronomen ersetzt werden, beginnt der Zyklus von neuem. In diesem Zusammenhang kann man die Entstehung der Inversionsabfolge mit folgender Arbeitshypothese erfassen: Die areale Verteilung der drei Möglichkeiten (a) – (c) spiegelt eine diachrone Entwicklung wider, die im Zusammenhang mit dem Pronomenzyklus steht: ein Subjektklitikum (Stufe I) verschwindet (Stufe II) und taucht später wieder auf, wenn sich zunächst ein neues reduziertes Pronomen und daraus ein klitisches entwickelt. Gemäß dem Serialisierungsprinzip ›Klitika vor Nichtklitika‹ stehen die reduzierten Pronomen zunächst rechts nach den klitischen Objektpronomen (Stufe III), entwickeln sich in dieser Position zu Klitika (Stufe IV), die nach einer Übergangszeit wieder links vor den Objektklitika positioniert werden (Stufe V). Viele deutsche Dialekte sind partielle Nullsubjektsprachen (Axel & Weiss 2011; Weiss 2005). In der 1SG sind Nullsubjekte vor allem aus dem Alemannischen und Schwäbischen bekannt, wo sie unter ganz spezifischen, wenn auch nicht ganz geklärten Bedingungen auftreten. Generell gilt: das Subjektklitikum /ǝ/ kann schwinden, wenn in der WP mindestens ein weiteres pronominales Klitikum vorhanden ist. Bzgl. weiterer Bedingungen kann man eine gewisse Mikrovariation beobachten: während im Westallgäu (Schwäbisch) lt. Gruber (1989, 231) die Präsenz eines weiteren Klitikums ausreicht, gelten im Zürichdeutschen spezifischere Bedingungen, insofern als entweder das zusätzliche Klitikum vokalisch anlauten oder zwei weitere Klitika vorhanden sein müssen (Seiler 2012), und im niederalem. Stahringen muss das folgende Klitikum ein Dativpronomen sein (Staedele 1927, 22). Die Befunde aus Bayerisch-Schwaben und einem daran nördlich angrenzenden Areal in Mittelfranken passen also recht gut zu den bisherigen Kenntnissen. Auch Belege mit Nullsubjekten wurden in beiden Untersuchungsgebieten erhoben. Für die 1SG lässt sich für die besagten Dialekte eine Subjekt-Drop-Regel wie in (31) formulieren. (32a – e) gibt die fünf Entwicklungsstufen wieder: auf der ersten Stufe hat man zwei klitische Pronomen in der kanonischen Subj-ObjAbfolge, das Subjektsklitikon (skl) verschwindet auf der zweiten Stufe und wird auf der dritten durch ein neu entstandenes schwaches Pronomen ersetzt, das zunächst, da nicht-klitisch, rechts vom Objektklitikon (okl) steht. Dort entwickelt es sich zu einem Klitikon (Stufe IV), das auf der fünften Stufe wieder links vor dem Objekt erscheint.
146
Helmut Weiss
(31) /ǝ/ → ∅ / __ okl (32) a. b. c. d. e.
/ǝ/ (=skl) Vfin-skl1>okl ∅ Vfin-okl redPron Vfin-okl>redPron skl Vfin-okl>skl2 skl Vfin-skl2>okl
(= Stufe I) (= Stufe II) (= Stufe III) (= Stufe IV) (= Stufe V)
Wie gesagt, ist der exakte Grund für Subjekt-Drop in der 1SG nicht bekannt. Das ist in der 2SG anders, da das klitische Pronomen (bzw. der anlautende Dental) bereits in ahd. Zeit als Teil der Verbflexion reanalysiert worden ist (-s > -st) (Weiss 2005). In vielen deutschen Dialekten ist die unmarkierte WackernagelForm des Pronomens daher das Nullpronomen (Weiss 2005).16 Die entsprechenden Entwicklungsstufen sind in (33a – e) angegeben: (33) a. b. c. d. e.
thu (=skl) Vfin-skl>okl ∅ Vfin-okl redPron Vfin-okl>redPron skl Vfin-okl>skl2 skl Vfin-skl2>okl
(= Stufe I) (= Stufe II) (= Stufe III) (= Stufe IV) (= Stufe V)
Problematisch ist unsere Hypothese für die 3PL, da bislang noch nicht beobachtet wurde, dass das Klitikum (meistens /sǝ/ oder /s/) ähnlich wie die 1.Pers.Sg. unter bestimmten phonologischen Bedingungen verschwindet oder aus anderen Gründen eine Nullform entwickelt hätte. Es gibt aber gute Gründe anzunehmen, dass der Pronomenzyklus nicht unbedingt eine Nullstufe umfassen muss, sondern dass der Ersatz durch eine neue reduzierte Form bereits auf der klitischen Stufe eintreten kann (ausführlicher dazu in Weiss 2015). Für die 3PL kann daher eine Ableitung wie in (34a – d) angenommen werden: (34) a. b. c. d.
/sǝ/ (=skl) redPron skl skl
Vfin-skl>okl Vfin-okl>redPron Vfin-okl>skl2 Vfin-skl2>okl
(= Stufe I) (= Stufe III) (= Stufe IV) (= Stufe V)
Der Unterschied zu den anderen Fällen ist, dass die zweite Stufe fehlt, da das neue reduzierte Pronomen das Klitikon und nicht eine Nullform ersetzt.
16 Wie in einem der Gutachten zurecht bemerkt wird, haben die Nullformen in der 1SG und 2SG vermutlich einen unterschiedlichen Status. Beim Nullsubjekt in der 2SG handelt es sich um pro, während bei der 1SG wohl eher eine postsyntaktische, phonologische Tilgung vorliegt. Da dieser Unterschied aber für den Pronomenzyklus irrelevant zu sein scheint, haben wir in den Regeln (31) – (33) mit ∅ eine neutrale Notation gewählt.
Pronominalsyntax deutscher Dialekte
4.
147
Zusammenfassung
Der vorliegende Artikel verfolgte in erster Linie zwei Ziele. Zum einen stellt er einen deskriptiven Überblicksartikel dar, in dem die grundlegenden Eigenschaften vorgestellt werden, die generell für die Pronominalsyntax deutscher Dialekte gelten. Hierbei geht es um die Wackernagelposition, die Pronominalparadigmen oder um Spezialphänomene wie flektierte Konjunktionen und Nullsubjekte. Zum andern präsentiert der Artikel Daten zu einem speziellen Phänomenbereich, nämlich zur Abfolge pronominaler Subjekte und Objekte, die bislang in der Forschung noch nicht diskutiert wurden. Für die in diversen Dialekten nachweisbaren Inversionsabfolgen (O > S) wird eine Erklärung im Rahmen des Pronomenzyklus (Weiss 2015) vorgeschlagen. In dem Artikel werden vielfach auch Befunde aus dem SyHD-Projekt präsentiert, anhand derer die Ergiebigkeit und ergo auch die Notwendigkeit dialektsyntaktischer Projekte demonstriert werden soll.
Literatur Axel, Katrin/Weiss, Helmut (2011): Pro-drop in the history of German: From Old High German to the modern dialects. In: Gallmann, Peter/Wratil, Melani (Hg.): Empty Pronouns. Berlin, New York: Mouton de Gruyter, 21–51. Bayer, Joseph (1984): COMP in Bavarian syntax. In: The Linguistic Review 3, 209–274. [BSA – SBS] König, Werner (Hg.): Bayerischer Sprachatlas. Sprachatlas von BayerischSchwaben. Band 9,2: Formengeographie II. Bearbeitet von Andrea Zeisberger. Kapitel Orts- und Richtungsadverbien bearbeitet von Edith Funk. Heidelberg. [BSA-SMF] Heyse, Thurid/Klepsch, Alfred/Mang, Alexander/Reichel, Sibylle/ Arzberger, Steffen (2007): Bayerischer Sprachatlas. Sprachatlas von Mittelfranken. Vol. 7: Morphologie und Syntax. Heidelberg. Biberauer, Theresa/Newton, Glenda, Sheenan, Michelle (2009): Parametric Variation: Null Subjects in Minimalist Theory. Cambridge: CUP. Cardinalletti, Anna/Starke, Michel (1999): The Typology of Structural Deficiency: On the three Grammatical Classes. In: Van Riemsdijk, Henk (Hg.): Clitics in the Languages of Europe. Berlin/New York: Mouton de Gruyter (Empirical Approaches to Language Typology/Eurotyp 20–5), 145–233. Corbett, Greville G. (2006): Agreement. Cambridge: CUP. De Vogelaer, Gunther/Neuckermans, Annemie/Vanden Wyngaerd, Guido (2002): Complementizer agreement in the Flemish dialects. In: Barbiers, Sjef/Cornips, Leonie/van der Kleij, Susanne (Hg.): Syntactic Microvariation. Amsterdam: Meertens Institute Electronic Publications in Linguistics, 97–115. http://www.meertens. nl/ books/synmic/. Fleischer, Jürg (2013): Hessische Pronominalsyntax: Ergebnisse einer Pilotstudie des Forschungsprojekts »Syntax hessischer Dialekte« (SyHD). In: Grucza, Franciszek (Hg.):
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Helmut Weiss
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Thomas Strobel
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten*
1.
Einleitung
Pronomina mit unter anderem partitiver bzw. quantitativer Funktion sind vor allem aus den romanischen Sprachen Französisch und Italienisch bekannt (fr. en, it. ne < lat. inde ›von da, von dort‹ > ›davon‹). Ihre syntaktischen Eigenschaften sind für diese Sprachen auch bereits gut untersucht (cf. u. a. Pollock 1986, Burzio 1986, Cinque 1991, Cardinaletti/Giusti 1992, Cresti 2003). Innerhalb der germanischen Sprachen wird das Niederländische oft als einzige Sprache mit einem solchen Pronomen angeführt (nl. er < anl./anfrk. iro, mnl. er/re)1 (so z. B. De Schutter 1992). Betrachtet man jedoch die Dialekte des Deutschen und das Luxemburgische (als moselfränkische Varietät), so finden sich in einem * Mein besonderer Dank gilt dem Auditorium für wertvolle Fragen und Anregungen, insbesondere Ellen Brandner, Christine Breckler, Jürg Fleischer und Göz Kaufmann, sowie zwei anonymen Gutachtern. Außerdem danke ich Helmut Weiss für seine kontinuierliche Unterstützung in zahlreichen inspirierenden Diskussionen und für Kommentare zu einer früheren Version dieses Papers. 1 Das niederländische Pronomen er geht nur in seiner partitiven/quantitativen Ausprägung (i) auf eine Genitivform zurück. Daneben wird es expletiv/existentiell/präsentativ (ii), lokativisch (iii) und präpositional (iv) verwendet. Diesen (homonymen) Verwendungsweisen liegt jedoch das Lokaladverb daar ›da, dort‹ zugrunde, wodurch es in lokativischer und präpositionaler Lesart noch immer ersetzbar ist. (i) partitiv/quantitativ: Hoeveel kinderen heeft u? – Ik heb er vier. Hebben jullie veel boeken? – Ja, wij hebben er veel. Jan heeft een fiets en ik heb er ook één. Heb je een auto? – Nee, ik heb er geen. (ii) expletiv/existentiell/präsentativ: Er huilt een baby. Er ligt een cadeau op je bureau. Er is/zijn … (iii) lokativisch: Woont hij in Den Haag? – Hij woont er al jaren. (iv) präpositional: Dat ongeluk is al zo lang geleden gebeurd, ik denk er nooit meer aan. Anders als seine deutschen Äquivalente ist nl. er Teil der Standardsprache. Lediglich im Schweizer Hochdeutschen (»grammatischer Helvetismus«) findet sich das genitivische Demonstrativpronomen deren in Kombination mit Zahlwörtern und bestimmten Adverbien wie genug, nicht aber zusammen mit einige, ein paar etc. (cf. Glaser 2011).
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Thomas Strobel
Streifen vom westlichen Mitteldeutschen bis zum nördlichen Ostfränkischen – historisch bis zum Schlesischen – sowie in Randlagen des äußersten Südens des deutschsprachigen Raums (Hoch-/Höchstalemannisch und Südbairisch) ebenfalls Pronomina, die wie nl. er in quantitativer Funktion auf alte Genitivformen zurückgehen und als fossilisierte Partitivanaphern fortleben (cf. Glaser, u. a. 1992, 1993 und schon Weise 1906 zum »Teilungsgenetiv«).2 Diese dialektalen Pronomina haben häufig eine gegenüber ihren schriftsprachlichen Äquivalenten (ihrer, deren, seiner, dessen) phonetisch stark reduzierte Form wie (d)(ə)r(ə), s(ə)n und əs (< ahd. iro/ira, mhd. ir(e); ahd. thëro/dëro; ahd. mhd. sîn, ës/is). Im heutigen Standarddeutschen wird die partitiv-anaphorische Bezugnahme hingegen durch das Indefinitpronomen welch- geleistet, das aus dem nieder-/ norddeutschen Raum (dort u. a. als welk(e)/wölk(e)/wecke) Eingang ins Hochdeutsche – und in zunehmendem Maße auch in die hochdeutschen Dialekte/ Regiolekte – gefunden hat. Weitere gegenüber den archaischen Pronominalgenitiven innovative Ausdrucksmittel partitiv-anaphorischer Referenz sind die vor allem für das Alemannische charakteristische Null-Anapher (bei Glaser, u. a. 1995, »syntaktische Nullstelle«), die sich im und aus dem Südwesten des deutschsprachigen Gebiets ausbreitet, und das seinerseits aus dem Südosten expandierende Indefinitpronomen ein-, das im Bairischen nicht nur auf singularische Individuativa, sondern auch auf Kontinuativa und sogar auf Pluralterme Anwendung findet (cf. v. a. Glaser 1996). Während in früheren Arbeiten hauptsächlich die sprachgeschichtliche Entwicklung und areale Distribution der Ausdrucksstrategien pronominaler Partitivität sowie die Verhältnisse in Übergangsgebieten mit Mischsystemen aus mehr als einer Strategie im Vordergrund standen (cf. Glaser 1992, 1993, 1995, 1996, 2008, 2011 sowie Strobel 2012, 2013 a, 2013 b), soll der Schwerpunkt in diesem Beitrag auf der syntaktischen Distribution liegen. Im Zentrum steht die Frage, welche syntaktische Ebene pronominalisiert wird. Betrachtet man die Kompatibilität indefinit-partitiver bzw. quantitativer Pronomina mit verschiedenen nominalen Modifikatoren (Numeralien/Quantoren, Adjektive, Relativsätze, Präpositionalphrasen etc.), so zeigt sich, dass es Evidenz für zwei unterschiedliche Pronominalisierungsebenen gibt (Pro-nP und Pro-DP). Um jedoch zu2 Der Einbezug dialektaler Daten zum Deutschen – und auch zum Niederländischen – erweitert nicht nur entscheidend die empirische Basis zur Untersuchung pronominaler Partitivität. Aufgrund der geringeren syntaktischen Unterschiede zwischen sehr eng miteinander verwandten Sprachen bzw. Dialekten (Mikrovariation) ist eine feinkörnigere Erforschung potenzieller (Mikro-)Parameter möglich und damit eine Antwort auf die Frage nach den minimalen Einheiten syntaktischer Variation (cf. Kayne 1996). Hinzu kommt, dass Dialekte verglichen mit Standardsprachen durch den fehlenden Standardisierungsprozess nicht nur variantenreicher sind, sondern als natürliche Sprachen erster Ordnung (N1-Sprachen) auch natürlichere und damit reliablere Daten liefern (cf. Weiss, u. a. 1998, 2004).
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
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nächst einen Vergleichsrahmen zu schaffen, wo im deutschen Sprachraum im Allgemeinen und im Untersuchungsgebiet Hessen im Besonderen überhaupt welche Partitivanaphern vorkommen, ist es notwendig, die Grundzüge der sprachgeografischen Verteilung der verschiedenen Ausdrucksmittel kurz darzustellen.
2.
Areale Distribution
Hinsichtlich des Formeninventars und Gebrauchs partitiver Pronomina können innerhalb des kontinentalwestgermanischen Dialektkontinuums unterschiedliche, zum Teil minimal voneinander abweichende (Mikro-)Systeme ausgemacht werden. Die Variationsbreite reicht im niederländischen Sprachgebiet vom Fehlen eines entsprechenden Pronomens im Nordosten der Niederlande über ein auf pluralische Größen und die Verwendung mit Mengenangaben oder einer qualitativen Spezifizierung in Form eines nachgestellten Attributs/Relativsatzes beschränktes Pronomen er (sprechsprachlich oft d‘r/t‘r) im nördlichen Standardniederländischen bis hin zur Verwendung von quantitativem er auch zusammen mit Adjektiven und auf Massennomina referierend im regionalen Sprachgebrauch Belgiens. In den letztgenannten Varietäten kommt somit ein und dasselbe Pronomen sowohl für Mengen zählbarer Objekte als auch für nicht zählbare Kontinuativa zum Einsatz. Im Gegensatz dazu haben wir es im Falle der luxemburgischen (moselfränkischen) partitiven Pronomina där/der und däers/es sowie der (v. a. zentral-, ost- und z. T. nord-)hessischen Pronomina (e)r(e) und sen jeweils mit zwei unterschiedlichen Formen für Pluralia und feminine Kontinuativa einerseits (där/der bzw. (e)r(e) für PL/F.SG) sowie maskuline und neutrale Massennomina andererseits zu tun (däers/es bzw. sen für M./N.SG). Abgesehen vom System der erstarrten Pronominalgenitive weisen aber auch andere syntaktische Verfahren partitiv-anaphorischer Referenz eine interessante Mikrovariation auf, so etwa das System der Null-Anapher (cf. Glaser 1995) oder das »System durchgehender Individualisierung« mittels ein- (cf. Glaser 1996). Es sind daher kleinräumige Analysen zur Erforschung der Einzelsysteme notwendig. Die areale Distribution des quantitativen er ist für das Niederländische relativ gut erschlossen (cf. etwa De Rooij 1991 und De Schutter 1992).3 Für die 3 Im Wesentlichen handelt es sich dabei um eine Staffellandschaft, wobei sich die Anzahl der Gebrauchsweisen allmählich von Süden nach Norden verringert und quantitatives er im Nordosten der Niederlande (Friesisch, Gronings/Groningisch, nördliches Drents/Drentisch) schließlich ganz fehlt. In der folgenden Auflistung der Grundtypen schließt das Auftreten nachgenannter Verwendungsweisen jeweils die vorangehenden mit ein (cf. De Rooij 1991):
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Thomas Strobel
deutschen Dialekte jedoch ist die Mikro-, das heißt innersprachliche Variation äquivalenter Formen – mit Ausnahme der bereits zitierten Aufsätze von Elvira Glaser – noch kaum bearbeitet. Eine kontrastive Betrachtung des anaphorischen Bezugs auf unbestimmte Teilmengen in den westgermanischen und – auf der Ebene der Mesovariation, also der Variation innerhalb einer Sprachfamilie – möglichst auch zentralromanischen Sprachen und Dialekten ist insofern lohnend, als bislang lediglich Einzelarbeiten zu den partitiven Pronomina in den jeweiligen Sprachen existieren, nicht aber eine Untersuchung, welche die Systeme miteinander vergleicht.4 Im vorliegenden Beitrag liegt der Fokus auf den Mundarten Hessens. Die Daten stammen aus dem laufenden DFG-Projekt Syntax hessischer Dialekte (SyHD, www.syhd.info, 2010–2016), das indirekte (großflächige Fragebogenerhebung) und direkte Explorationselemente (Interviews zur Validierung und Vertiefung spezifischer syntaktischer Kontexte) im Sinne einer multivariaten Erhebungsmethode kombiniert. Im Bundesland Hessen, hier als administrative Einheit verstanden, sind alle Dialektgroßverbände des Deutschen als Kern- bzw. Übergangsgebiete vertreten: niederdeutsche Mundarten im Norden (Westfälisch, Ostfälisch), in der Hauptmasse westmitteldeutsche Dialekte (Nord-, Ostund Zentralhessisch, Rheinfränkisch und Übergangsgebiete zum Moselfränkischen), aber auch ostmitteldeutsche im Osten (Übergang zum Thüringischen) sowie ein kleiner Teil oberdeutscher Dialekte im Südosten (Übergangsgebiete zum Ostfränkischen). Aufgrund seiner zentralen Lage und der damit verbundenen besonderen Dialektkontaktsituation stellt Hessen insbesondere im Hinblick auf den Aus(i)
+QUANT, –QUAL, +PL: (Tennisballen?) Er zijn er/ik heb er tien/één/een/een paar/ genoeg. (Standard) (ii) –QUANT, +QUAL (nachgest. Attr.), +PL: (Tennisballen?) Er zijn er/ik heb er die pas nieuw zijn/van uitstekende kwaliteit. (Standard) (iii) –QUANT, –QUAL, +PL:(Tennisballen?) Er zijn er/ik heb er (nog). (Standard, aber in den Niederlanden nördlich der »großen Flüsse« weniger gebräuchlich) (iv) €QUANT, +QUAL (vorangest. Attr.), +PL: (Tennisballen?) Er zijn er/ik heb er (een paar) andere/(tien) helemaal nieuwe. (regionaler Sprachgebrauch in Belgien) (v) €QUANT, €QUAL, –PL: (Thee?) Er is er/ik heb er (nog) (wat) (verse). (regionaler Sprachgebrauch in Belgien) [€ QUANT = mit/ohne Mengenangabe, € QUAL = mit/ohne qualitative Spezifizierung, € PL = pluralische Größe/Kontinuativum] 4 Eine Entsprechung zwischen dem nhd. Indefinitpronomen welch- oder den meist relikthaften Pronominalgenitiven der deutschen Dialekte ere, sen, es und etwa dem französischen Partitivpronomen en, wie sie in einigen (älteren) Ortsgrammatiken und -monographien angenommen wird (cf. u. a. Dellit 1913, Feller 1914, Hofmann 1926, Müller-Wehingen 1930, Weldner 1991), ist nur oberflächlich, wie bereits Glaser (1992) herausstellt: fr. en ist Teil eines Systems partitiver Strukturen, die im Deutschen keine Entsprechung (mehr) haben.
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
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druck pronominaler Partitivität ein äußerst interessantes Untersuchungsgebiet dar: Die pronominalen Restgenitive geraten nicht nur durch das standardsprachliche welch- und dessen Übernahme in die regionalen Umgangssprachen zunehmend unter Druck, sondern durch alle das Genitivareal umgebenden, expandierenden dialektalen/regiolektalen Ausdrucksmittel: nord-/niederdeutsches indefinit-partitives welch-/we(l)k-, südwestliches (alemann.) ∅-System, südöstliches (bair.) ein-System oder auch abweichende mitteldeutsche Mikrosysteme partitiver Genitivpronomina. Neben der Frage, welche syntaktischen Verfahren zum Ausdruck der partitiv-anaphorischen Referenz in den einzelnen (zentralen vs. peripheren) Dialektarealen Hessens zum Einsatz kommen, ist aus der Perspektive des Sprachwandels von besonderem Interesse, wie verbreitet die Pronominalgenitive noch sind, durch welche anderen Formen sie gegebenenfalls verdrängt wurden bzw. werden – inwieweit etwa nord-/niederdeutsches (und standardsprachliches) welch-/we(l)k- bereits in das an den niederdeutschen Sprachraum angrenzende Nordhessische und damit in den hochdeutschen Raum vorgedrungen ist –, und welche Übergangszonen mit gemischten Systemen bzw. Singular-Plural-Asymmetrien gegenwärtig bestehen.
2.1
Ausdrucksformen pronominaler Partitivität in den Varietäten des Deutschen
Die wichtigsten Strategien, die im Deutschen zur anaphorischen Bezugnahme auf einen Teil einer vorgegebenen Menge verwendet werden,5 bestehen in den folgenden vier Systemen mit den angegebenen Hauptverbreitungsgebieten (cf. auch Glaser 1993, 2008): – Phonetisch reduzierte, enklitische »versteinerte« pronominale Genitive in einem mitteldeutschen Streifen (Westmd.: Mittelfränk., Hess.; Ostmd.: Thür., historisch auch Schles.) inklusive des nördlichsten Zipfels des Oberdeutschen (nördl. Ostfränk.) und peripherer Gebiete des äußersten Südens (Hoch-/ Höchstalemann. und Südbair.):6 (ə)r(ə) (< ahd. iro/ira, mhd. ir(e)) sowie – mit 5 Partitivität bzw. Teil-Ganzes-Beziehungen finden sich in der Sprache in vielfältiger Form wieder (cf. dazu beispielsweise den »State of the art«-Artikel von De Hoop 2003). Hier soll es jedoch ausschließlich um den pronominalen Ausdruck des Konzepts der Partitivität gehen. 6 Die Tatsache, dass es sich beim Genitivareal – im Unterschied zum kompakten ∅- und einAreal – um kein zusammenhängendes Gebiet handelt, spricht für den Reliktcharakter der Genitivformen und die Fortführung mhd. Verhältnisse (cf. Glaser 1992, 2008). Abgesehen von einem mehr oder minder zusammenhängenden md. Areal finden sich Pronominalgenitive in den Schweizer Kantonen Bern und Fribourg, im Wallis, in Graubünden und in den norditalienischen Walserorten (cf. SDS III: Karte 235) sowie in weiteren oberitalienischen Sprachinseln und im südlichen Südtirol (cf. Glaser 1995).
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geringerer geografischer Verbreitung – s(ə)n (< ahd. mhd. sîn) und əs (< ahd. mhd. ës/is), mitunter auch Formen des Demonstrativ- statt Personalpronomens (< ahd. thëro/dëro) wie lux. (moselfränk.) där/der (PL und F.SG) bzw. däers/däs/dës/(d)es (M./N.SG) In einer Reihe (hochdeutscher) Dialekte – die verglichen mit der Standardsprache bekanntlich häufig einen älteren Sprachstand bewahren – finden sich zum pronominalen Ausdruck der unbestimmten Teilmenge noch Genitivformen, die nur in partitiver Funktion erhalten sind. Im Unterschied zum (Standard-)Niederländischen treten Pronominalgenitive in den deutschen Dialekten und im Luxemburgischen nicht nur mit Bezug auf pluralische Größen auf (1), sondern auch für Massennomina: Die Form für feminine Kontinuativa ist homophon mit der Pluralform, nämlich ere (2), während für Maskulina und Neutra die entsprechende Singularform sen verwendet wird (3a), in einigen Dialekten wie dem Moselfränkischen auch es (3b): (1) COUNT, PL: a. Hei sein ere! [Pilze] (SyHD E1_21) (Zentralhessisch) b. Ech hunn der/där (PL) genuch. (Schanen/Zimmer 2006) (Luxemburgisch/Moselfränkisch) (2) MASS, FEM.: Mer hu ach Melch. Willst du ere? (SyHD E2_22) (Zentralhessisch) (3) MASS, MASK./NEUT.: a. Soll eich sen holle? [Fleisch] (SyHD E1_6) (Zentralhessisch) b. Hɔs dau əs nah? [Zucker] (Reuter 1989) (Moselfränkisch)
Die Verwendung solcher partitiver Pronominalgenitive war im Mhd. jedoch nicht isoliert wie heute in den meisten Dialekten, wo sie nur noch als partikelartig erstarrte Relikte auftreten.7 Sie waren vielmehr eingebettet in ein auf dem Genitiv beruhendes System partitiver Strukturen (cf. Glaser 1992). Während also dem Mhd. – wie auch anderen altgermanischen bzw. den indogermanischen Sprachen überhaupt – der Ausdruck von Teil-Ganzes-Relationen mithilfe des Genitivs zur Verfügung stand (z. B. des brôtes nemen, des wînes trinken etc.), hat der Großteil 7 Inwieweit es sich bei den (relikthaften) pronominalen Genitiven in den deutschen Dialekten noch um ›Partitivität‹ handelt, hängt davon ab, ob diese auch an anderer Stelle im sprachlichen System zum Ausdruck kommt, etwa beim Bezug auf Teilmengen definiter Größen oder Mengen (cf. Glaser 1992). Im Luxemburgischen beispielsweise werden dafür alte Genitivformen verwendet (i), während im Alemannischen (hier im Wallis) – neben der Genitivkonstruktion – eine von-Periphrase auftritt (ii): (i) Hut der nach däers gudde Botter? ›Haben Sie noch von dieser guten Butter?‹ (Christophory 1974) (ii) Miær heind fan dænæm biæxri(n) ›Wir haben welche von diesen Büchern‹ (Henzen 1932, zit. nach Glaser 1992)
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
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der hochdeutschen Dialekte – als Basis der nhd. Schriftsprache – den Genitiv als adverbalen und adnominalen Kasus abgebaut. Dieser Kasusverlust wirkte sich auch auf den Ausdruck partitiver Verhältnisse aus. So findet sich der partitive Genitiv im Gegenwartsdeutschen nahezu nur noch zusammen mit dem semantischen Merkmal ›Teil‹ wie in ein Teil des Geldes, die Hälfte der Beute etc. In vielen Dialektsystemen haben allein die fossilisierten Pronominalformen überlebt, sodass genitivisch ausgedrückte Partitivität darin nur noch sehr marginal beim anaphorischen Bezug oder in Abhängigkeit von bestimmten Wörtern wie genug auftritt (cf. Weise 1906). Druck auf das Pronomen übte schließlich auch die Asymmetrie aus, die durch die Aufgabe des partitiven Genitivs am Nomen entstanden war. Als deren Folge war die ursprüngliche Parallelität zwischen Nominal- (ich hân des brôtes) und Pronominalbereich (ich hân sîn) nicht mehr erhalten (cf. Glaser 1992). – Indefinit-partitives Pronomen welch-/we(l)k- im Neuhochdeutschen bzw. Nieder-/Norddeutschen (dort in zahlreichen lautlichen Varianten als welk(e)/ wölk(e)/wecke etc.) Das Indefinitpronomen welch-/we(l)k- stammt ursprünglich aus dem norddeutschen Raum, ist mittlerweile aber weit über das Niederdeutsche hinaus verbreitet und in die deutsche Standardsprache eingegangen.8 Im Standarddeutschen findet es sich auch als Interrogativ- und Relativpronomen, während im Niederdeutschen (und Bairischen) die Funktion des Interrogativums durch analytisches wat för? (bzw. wos fia?) übernommen wird.9 Die Grammatikalisierung von Indefinit- aus Fragepronomina ist sprachübergreifend gut belegt. Als spezifische Form, mit der »indefinit pronominal« (Zifonun 2007) auf eine kontinuative NP (5) oder eine NP im Plural (6) referiert wird, stellt welch-/we(l)k-
8 Das Pronomen welch- wird in seiner indefiniten Funktion von den Grammatiken des Deutschen weitgehend vernachlässigt (mit Ausnahme von Zifonun 2007 und ggf. der DUDENGrammatik 2006). Bisweilen wird es als »umgangssprachlich« abgestempelt (cf. z. B. Erben 1980, Helbig/Buscha 2001). Bei der Frage nach einer eventuellen stilistischen Markiertheit bzw. medialen Gebrauchsrestriktionen lohnt sich daher eine Recherche auch in Korpora zum geschriebenen Deutsch, etwa über COSMAS II des IDS. Eine Kurzrecherche im Korpus TAGGED-M-öffentlich (19,74 Mio. laufende Wortformen) lieferte für welch- als Indefinitpronomen (Suchabfrage: welch* PRN–int PRN–rel) im Mannheimer Morgen (1991, 1994– 1996) lediglich fünf Belege, alle mit Bezug auf die Kontinuativa Geld (4 Mal: M94TG–M96TG) und Wasser (1 Mal: M91TG). 9 Aus diesem Grund kann we(l)k- im Niederdeutschen – sowohl adnominal (i) als auch syntaktisch selbständig (ii) – auch im Vorfeld erscheinen, weil sich daraus keine Ambiguität aufgrund einer interferierenden interrogativen Lesart ergibt (Beispiele aus Thies 2010): (i) Wölk(e) Kinner speelt Football. (ii) Wölk(e) möögt dat hitt.
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Thomas Strobel
jedoch eine typologische Besonderheit dar (cf. Glaser 1992, 1993). Im Gegensatz zum Bairischen steht es in komplementärer Distribution zum Indefinitpronomen ein-, das im Standard lediglich bei singularischen Individuativa Verwendung findet. Umgekehrt nimmt welch- stets auf eine unbestimmte Teilmenge Bezug, weshalb es nicht auf ein zählbares Einzelobjekt referieren kann (4):10 (4) Wer einen Apfel will, kann sich einen/*welchen nehmen. (Glaser 1992) (5) a. Wer Kaffee will, kann sich welchen/*einen kochen. (Glaser 1992) (Neuhochdeutsch) b. Sall ik wilket langen? [Flesk] (SyHD E1_6) (Westfälisch) (6) a. Ich habe keine Zigaretten mehr, hast du noch welche? (Neuhochdeutsch) b. De keen Sorgen hett, de maakt sik wölk(e). (Thies 2010) (Nordniedersächsisch)
– Null-Anapher (∅) im Südwesten des deutschsprachigen Raums mit dem Alemannischen als Kerngebiet11 In den südwestlichen Dialekten des deutschen Sprachgebiets wird der partitivanaphorische Bezug12 auf kontinuative (7) und pluralische Größen (8) durch ein Nullargument realisiert:13
10 Weniger klar ist, ob – ebenfalls nicht zählbare – Abstrakta zusammen mit der Klasse der Massennomina zu den durch ein singularisches indefinit-partitives Pronomen ersetzbaren Kontinuativa gerechnet werden sollten, wie etwa bei Glaser (1996). Bei abstrakten Nomina zeigen sich (sicher auch sprecherabhängige) Unterschiede in der Akzeptabilität ihrer Wiederaufnahme durch ein Pronomen wie welch- (bzw. ihrer indefinit-anaphorischen Wiederaufnahme generell): Während dies bei dem Abstraktum Vernunft in (i) gut möglich zu sein scheint, ist die Grammatikalität von Sätzen wie (ii) und (iii) fragwürdig (Angst). Die definite Wiederaufnahme mit einem Personalpronomen ist ungrammatisch. Eine Wiederholung des Substantivs ist oft die einzige Möglichkeit. (i) Vernunft annehmen kann niemand, der nicht schon welche hat. (M. v. EbnerEschenbach) (ii) Hast du Angst? – Ja, ich habe ?welche/*sie. Und du, hast du ?welche/*sie? (iii) Otto hat Angst und Peter wird auch noch ??welche bekommen/wird *sie auch noch bekommen. 11 Nach Glaser (1995) handelt es sich bei der syntaktischen Nullstelle um eine »alemannische Kennform im Bereich der Syntax«. Nullargumente zum Ausdruck partitiv-anaphorischer Bezugnahme finden sich außerdem – im Gegensatz zu den zentralromanischen Sprachen Französisch und Italienisch – in den iberoromanischen Sprachen Portugiesisch und Spanisch (pt. Compraste café/prendas? – Sim, comprei ∅ bzw. sp. Compraste café/regalos? – Sí, compré ∅ ›Hast du Kaffee/Geschenke gekauft? – Ja, ich habe [welchen/welche] gekauft‹) sowie im Russischen (Natasˇa kupila sacharu i ja tozˇe kupil ∅ ›Natascha hat Zucker gekauft und ich habe auch [welchen] gekauft‹, Glaser 1992). 12 Bei nicht-anaphorischer Bezugnahme auf Personen wie in der Konstruktion Es gibt ∅, die … ›Es gibt welche, die …‹ scheint es Unterschiede bei der Akzeptanz der Nullstelle zu geben: Während sie laut Glaser (p. c.) im Pfälzischen/Rheinfränkischen unproblematisch sei,
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
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(7) Hesch Gäld? – Ja, i ha ∅. (Hodler 1969) (Hoch-/Höchstalemannisch) (8) I heet gɛɛʀn khɛʀʃə, hɛdəʀ ∅? – Ja, doo sen ∅; nem dɛʀ ∅. (Roedder 1936, zit. nach Glaser 1995) (Rheinfränkisch–Ostfränkisch)
Der Großteil der deutschen Schweiz (nördlicher und östlicher Teil, mit Ausnahme des walserischen Graubündens) ist dem ∅-Gebiet zuzurechnen. Die – gegenüber den Pronominalgenitiven – innovative Strategie der Null-Anapher ist mittlerweile, wie man auch am Beispiel (8) aus Oberschefflenz im badischen Frankenland sieht, über das Alemannische hinaus verbreitet. Glaser (1995) zufolge greift das ∅-Areal am nördlichen Rand in das Fränkische und im Südosten weit in das Schwäbische hinein (zum genauen Verlauf der Grenzlinie zum nördlich angrenzenden Genitiv-Areal und sich östlich anschließenden ein-Areal siehe Glaser 1995). – Generalisiertes Indefinitpronomen ein- im Südosten des deutschen Sprachraums mit dem Bairischen als Entstehungsgebiet Das ein-System bairischen Ursprungs, das sich im Südosten des deutschsprachigen Raums über das bairische Dialektgebiet hinaus ausbreitet, zeichnet sich dadurch aus, dass die indefinite Wiederaufnahme durchgehend mit ein- erfolgt, ohne Berücksichtigung von Numerus und Zählbarkeit. Das heißt, es wird dabei nicht zwischen zählbaren und nicht zählbaren Größen differenziert. Der Unterschied zur standardsprachlichen Verwendung des Indefinitpronomens einliegt also darin, dass dieses Pronomen im Bairischen generalisiert wurde und nicht nur auf singularische Individuativa Anwendung findet, sondern auf Kontinuativa (9) und – in Dialekten mit einer morphologischen Pluralform – sogar auf pluralische Bezugsgrößen (10) ausgeweitet wurde. Daraus ergibt sich ein weitgehend homogenes System. Die häufigsten Formen im Plural lauten je nach Subdialekt oa, oi und ui, zum Teil auch nasaliert. (9)
Wer mɔg a sɔiz? – I mächt õans! (Glaser 1996) (Westmittelbairisch)
(10) Hɑppts ʃõ õi khafft? [Kartoffeln] (Glaser 1993) (Westmittelbairisch) werde sie im Schweizerdeutschen in dieser speziellen Konstruktion abgelehnt. Stattdessen werde hier auf sättige ›solche‹ oder derrige (adjektivisch weitergebildetes derre) ausgewichen. 13 Für Massennomina ist dies auch im Standardniederländischen (i) die gängige indefinitpartitive Referenzstrategie. Im regionalen Sprachgebrauch Belgiens und – mit deutlicher Einschränkung – der drei südlichen Provinzen der Niederlande (ii) tritt hier jedoch auch quantitatives er auf (cf. ANS 8⋅6⋅5⋅3): (i) [Wilt u nog koffie?] – Nee, ik heb nog. ›Wollen Sie noch Kaffee? – Nein, ich habe noch [welchen].‹ (ii) [Wilt u nog koffie?] – Nee, ik heb er nog. ›Wollen Sie noch Kaffee? – Nein, ich habe noch welchen.‹
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Thomas Strobel
Wie bereits aus Beispiel (9) deutlich wird, korreliert mit dem Gebrauch des Indefinitpronomens ein- bei Bezugnahme auf Massennomina wie Geld, Saft, Salz, Suppe, Wasser etc. die für das Bairische charakteristische und ebenfalls typologisch auffällige – nicht-emphatische – Verwendung des Indefinitartikels ein- auch bei Kontinuativa, wo standardsprachlich der Nullartikel steht (bair. a gɛid, a safft, a sɔiz, a suppm, a βɑssa etc.). Morphologisch weist attributives einmit seinen reduzierten Formen jedoch eine vom selbständig-anaphorischen einunterschiedliche Formenreihe auf (cf. Glaser 1996). Der Bezug auf ein unbestimmtes Quantum einer unzählbaren Größe mit dem unbestimmten Artikel stellt eine Generalisierung der Setzung des seit dem Spätahd. aufkommenden Indefinitartikels dar und ist sprachgeschichtlich eine Neuerung (cf. Glaser 2008). Seine Verwendung bei Stoffnomina reicht sprachgeografisch im Westen und Norden deutlich über das Bairische hinaus. Insbesondere fällt auf, dass dieses Areal größer ist als das Dialektgebiet mit ein- als Indefinitpronomen (siehe dazu unten die Glaser 2008 entnommenen Karten 1 und 6, auf denen die beiden Areale miteinander verglichen werden können).14 Partitiv-anaphorisches einsetzt also den unbestimmten Artikel bei Kontinuativa voraus, wobei der Artikelgebrauch zwar notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Indefinitpronomen ein- ist (cf. Glaser 1993). Die skizzierte räumliche Verteilung der vier Hauptstrategien partitiv-anaphorischer Bezugnahme – Pronominalgenitive, indefinit-partitives welch-/we(l)k-, NullAnapher (∅) und das generalisierte Indefinitpronomen ein- – ist im Folgenden zusammenfassend noch mal kartographisch umgesetzt. Karte 1 stammt aus Elvira Glasers Beitrag zur Syntaxgeographie bzw. zu syntaktischen Raumbildern im Rahmen des 2. Kongresses der IGDD 2006 in Wien (Glaser 2008) und zeigt die Verbreitung der einzelnen Systeme für den Plural. Daraus ist sehr gut ersichtlich, dass es sich beim pronominalen Ausdruck des indefinit-partitiven Bezugs um eine »raumbildende Variable im syntaktischen Bereich« (Glaser 1995) handelt. Daneben gibt es im Deutschen ebenso wie in anderen Sprachen eine Reihe von Indefinitpronomina wie (et)was, ein bisschen, ein wenig (SG) bzw. ein paar, einige etc. (PL), die anstatt einer Partitivanapher verwendet werden können, um auf eine geringe (Teil-)Menge zu referieren.15 Solche Indefinitpronomina sind 14 Eine Erhebung zum Gebrauch des Indefinitartikels bei Kontinuativa in mittleren Sprechlagen liegt mit dem Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA) vor (Dritte Runde, Frage 8d). Die Verteilung von (ein) Geld ist unter http://www.atlas-alltagssprache.de/runde-3/f08d/ einsehbar. Der Indefinitartikel bei Sammelbezeichnungen wird dort »im Südosten Deutschlands (nach Westen bis ins Schwäbische), in Südtirol und in Österreich« verortet. 15 Die Verwendung von Indefinitpronomina der geringen Menge stellt laut Glaser (2008) häufig eine »Ausweichstrategie« dar, um etwa basisdialektale relikthafte Genitivformen oder eine ∅-Anapher zu vermeiden. Dies zeigt sich z. B. in der Karte 594 ((ich) habe welche
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
161
Karte 1: Areale Distribution der Ausdrucksmittel partitiv-anaphorischer Referenz im PL (Glaser 2008)
aber nicht mit den Partitivpronomina äquivalent, unter anderem weil sie hinsichtlich der Quantität nicht völlig unbestimmt sind, sondern eine mehr oder weniger genau umgrenzte geringe Menge bezeichnen (cf. Glaser 1993). Innerhalb der semantisch wie syntaktisch sehr heterogenen Klasse der Indefinita ist mindestens zu unterscheiden zwischen Unbestimmtheit der Qualität (Art/Beschaffenheit) und Unbestimmtheit der Quantität (Menge). Indefinit-partitive Pronomina nehmen eine qualitativ identifizierte Größe in der Form eines Pluraloder Massenterms in quantitativ unbestimmter Weise anaphorisch wieder auf,
[Krauthäuptchen]) des Mittelrheinischen Sprachatlasses (MRhSA), wo vor allem im südöstlichen, pfälzischen Gebiet verbreitet (ich) habe davon/habe ein paar statt der syntaktischen Nullstelle genannt wurden.
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Thomas Strobel
wobei lediglich ein Bezug auf die Gesamtmenge ausgeschlossen ist (cf. Glaser 1992, 1993). Außerdem tritt in partitiven Kontexten häufig das Pronominaladverb davon auf, das auch mit indefinit-partitiven Pronomina kombiniert sein kann.16 Ältere Ortsgrammatiken und -monographien zu verschiedenen deutschen Dialekten (cf. etwa Dellit 1913 für das Hennebergische) sprechen hier von einem »pleonastischen« Gebrauch, da sowohl das Pronominaladverb als auch zum Beispiel die Genitivpronomina als partitiv aufzufassen sind: (11) a. Nimm de sen dervon. (HNWb III) (Hennebergisch) b. Verkooft ihr ere davoo? (Weise 1906) (Hennebergisch)
Letztlich liegt aber ein Definitheitsunterschied vor: Man drückt damit aus, dass es sich um die Auswahl einer indefiniten Teilmenge (indefinit-partitive Pronomina sen/ere, welch-, ein-; Korrelation mit dem Nullartikel: ∅ Bier/∅ Eier) aus einer begrenzten definiten Gesamtmenge (Pronominaladverb davon; Korrelation mit dem Definitartikel: das Bier/die Eíer) handelt. »Pleonastisch« wirkt zunächst auch der Gebrauch eines partitiven Genitivpronomens zusammen mit einem weiteren Genitivpronomen (12)17 oder auch zusammen mit innovativen Formen wie indefinit-partitivem welch- (13): (12) a. Dàu wàən ərə irə drái. (Schiepek 1908) (Egerländisch) b. Es säin er örner zahn. (Weise 1906) (Oberostfränkisch) c. Ds wåən ər yənər fı¯ər. (Dellit 1913) (Hennebergisch) 16 Das Pronominaladverb kann hier je nach Dialektgebiet in seinen verschiedenen Varianten vorkommen, das heißt neben der standardkonformen einfachen Form (davon) insbesondere auch in kurzer (dadavon) und Distanzverdoppelung (da … davon), da im Kerngebiet der Pronominalgenitive vor allem diese Formen verbreitet sind, sowie im nordwestlichen hessischen Genitiv-Areal prinzipiell auch als Spaltungskonstruktion (da … von) (cf. Fleischer 2002a): (i) a. Willst dou ere dodevo noch hu? [Ostereier] (SyHD Pt_II_2008) (Zentralhessisch) b. Wellst ere nooch dodevoo? [Ostereier] (SyHD Pt_II_2008) (Osthessisch) 17 Im Falle eines Subjekts in der 1./2. Pers. Plur. kann solch ein zur fossilisierten Genitivpartikel ər(ə) – ursprünglich ein Personalpronomen der 3. Pers. – hinzutretendes, »verstärkendes« Genitivpronomen je nach Dialekt sowohl in der 1./2. Pers. (hier 1. Pers.: onser), wie in (i), als auch in der 3. Pers. (ihre, i:rə), wie in (ii) und (iii), vorkommen. Nur im ersten Fall liegt Kongruenz mit dem Subjekt bezüglich der Kategorie Person vor. Im zweiten Fall ist auch das zusätzliche Genitivpronomen trotz des weit weniger reduzierten lautlich-morphologischen Gehalts schon zur Partikel erstarrt: (i) Me säin er onser süwwen. (Weise 1906) (Oberostfränkisch) (ii) Miir sin er ihre draie. (Weise 1906) (Ostthüringisch) Bisweilen wird mit so einer »doppelten Genitivbildung« auch eine Bedeutungskomponente ›ungefähr‹ in Verbindung gebracht (cf. Spangenberg 1998), wozu verbreitet auch Stücker und/oder Schwa am Zahlwort eingesetzt wird (wir sind Stücker zehn(e)): (iii) Mir sinər i:rə dswandsç. ›Wir sind ungefähr zwanzig.‹ (Spangenberg 1998) (Ostthüringisch)
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
163
(13) a. Ber huon er na welc´hə. (Schönborn 1912) (Schlesisch) ˙ b. Du˙ sei ner welche. [Pilze] (SyHD E1_21) (Zentralhessisch-Nordhessisch)
Bei doppeltem Genitivpronomen könnte das synchrone Stadium einer diachronen Abfolge von Abschwächung und Verstärkung vorliegen. Dieser Hypothese zufolge wäre eine phonetisch stark reduzierte enklitische Genitivpartikel (ər(ə)) zur deutlicheren Kennzeichnung der partitiv-anaphorischen Referenz durch ein weiteres Genitivpronomen in der Vollform bzw. mit weniger stark reduziertem Lautgehalt (irə, örner, yənər) verstärkt worden. Eine nähere Untersuchung solcher Doppelungen auch anhand von neuem Material ist jedoch schwierig: Zwar finden sich Belege dafür in der überwiegend älteren dialektologischen Literatur zum Egerländischen (Schiepek 1908), Ostfränkischen (Weise 1906, Dellit 1913), Thüringischen (Weise 1906, Weldner 1991, Spangenberg 1998) und auch Zürichdeutschen (Weber 1987). Im hessischen Untersuchungsgebiet scheinen sie aber nicht (mehr) vorzukommen (in keiner der drei als Bewertungsaufgaben konzipierten Pretest-Fragen SyHD Pt_E4_B_21, C_26 und D_26 wurde ein zweites Genitivpronomen akzeptiert). Der hingegen nicht nur in der Literatur wie hier zum Schlesischen (Schönborn 1912), sondern auch im SyHD-Material belegte Fall archaisches Genitivpronomen + innovative Strategie welch- (bei (13b) handelt es sich um einen Spontanbeleg, der von der Gewährsperson als eigene Alternative notiert wurde) könnte eine Zwischenstufe darstellen, bei der die im Schwinden begriffene klitische Genitivpartikel durch die sich ausbreitende neue Strategie des indefinit-partitiven welch- verstärkt wurde. Die skizzierten Entwicklungen erinnern an den Jespersen-Zyklus bei der Satznegation in der Geschichte des Deutschen. Sie entsprächen darin einer Entwicklungsstufe der Negation, auf der die proklitische – aus ni abgeschwächte – Negationspartikel ne/en im Spätahd./Frühmhd. durch die Partikel niht (< ahd. niowiht ›nichts‹/›in nichts‹) emphatisch verstärkt wird, welche im Laufe des Mhd. schließlich als alleiniger Negationsausdruck zurückbleibt (cf. Jäger 2008). Der nächste Schritt im Falle der Verstärkung der Genitivpartikel durch welch- bestünde demnach darin, dass das Genitivpronomen zunächst fakultativ wird (im angeführten zentralhessisch-nordhessischen Dialekt ist es noch recht vital und trat auch bei anderen Fragen/Informanten am Ort in den Formen narre, ner(e), na und re auf)18 und schließlich verschwindet, sodass nur mehr welch- zurückbleibt – beschleunigt freilich durch Standardeinfluss.19 18 Ein solches intervokalisches – zum Teil jedoch generalisiertes – epenthetisches -n- findet sich in zahlreichen Dialekten entlang der nordwestlichen Grenzlinie Hessens südlich der Benrather Linie bis zum zentralhessisch-moselfränkischen Übergangsgebiet (also im westl. Nordhess., nordhess.-zentralhess. Übergangsgebiet, nordwestl. Zentralhess. und nördl. zentralhess.-moselfränk. Übergangsgebiet). Davon unabhängig ist n-Epenthese zur Hiatvermeidung (vgl. auch -n- in afrikanisch) zum Beispiel für das Alemannische belegt (cf. Ortmann 1998, zit. nach Bayer/Brandner 2008).
164 2.2
Thomas Strobel
Ausdrucksformen pronominaler Partitivität in den Dialekten Hessens
Im Rahmen des DFG-Projekts Syntax hessischer Dialekte (SyHD) wurde die sprachgeografische Verteilung der Ausdrucksformen pronominaler Partitivität für die im Bundesland Hessen gesprochenen Mundarten erhoben. Die Dialekte Hessens – die keineswegs nur hessische Dialekte umfassen – erweisen sich hierbei als besonders interessant, da das Untersuchungsgebiet zentral inmitten der unterschiedlichen Systeme partitiv-anaphorischer Referenz liegt. Es sollten daher neben den archaischen Genitivpartikeln je nach Dialektregion mehr oder weniger ausgeprägt die expandierenden innovativen Strategien welch-/we(l)k-, die Nullstelle und ggf. ein- vorkommen sowie – inter- wie intraindividuell – insbesondere auch Mischsysteme aus mehr als einer Strategie in den breiten Übergangsgebieten zwischen den einzelnen Systemen. Tatsächlich wurden diese Erwartungen durch die Erhebungen bestätigt. Bei der großflächigen indirekten Erhebung in Form von vier Fragebögen mit insgesamt 111 Fragen, die an 160 Ortspunkte in Hessen und 12 Vergleichspunkte außerhalb bzw. rund um Hessen verschickt wurden, kamen unter anderem die folgenden vier Fragen zu Partitivpronomina in Form von Ankreuz-/MultipleChoice-Aufgaben (Kategorie Bewertungsaufgaben) zum Einsatz. Diese sind hier anhand von vier unterschiedlichen Dialektalisierungen/Regionalisierungen der insgesamt 17 + 12 angefertigten inner- und außerhessischen Einlautungen exemplifiziert (zur SyHD-Methode allgemein cf. Fleischer/Kasper/Lenz 2012). Die Ergebnisse der vier Fragen sind in den Karten 2–5 kartiert. Die Punktsymbolkarten, die pro Ort jeweils nur die frequenteste(n) Strategie(n) darstellen,20 zeigen für das Untersuchungsgebiet innerhalb und rund um das Bundesland Hessen die Raumstrukturen der mitteldeutschen Pronominalgenitive (ere, sen/es), des standard- bzw. nieder-/norddeutschen Indefinitpronomens welch-/we(l)k-, der südwestlichen (alemann.) Null-Anapher (∅) und des südöstlichen (bair.) Indefinitpronomens ein- sowie – im M./N.SG – des von den
19 Zyklische Veränderungen sind charakteristisch für Sprachwandel, cf. etwa auch den von Fuss/Wratil (2013) postulierten Nullsubjektzyklus sowie allgemein Van Gelderen (2011). 20 Die frequenteste Strategie an einem Ortspunkt ist diejenige, die von den meisten Gewährspersonen gewählt wurde. Bei Gleichstand, wenn an einem Ort also mehr als ein Ausdrucksmittel die höchste Anzahl an Nennungen erhielt, sind all diese Strategien abgebildet. Die Symbolgröße ist ikonisch zur absoluten Vorkommenshäufigkeit: Je öfter die betreffende Ausdrucksform an einem Ortspunkt genannt wurde, desto größer ist das entsprechende Punktsymbol auf der Karte und desto gesicherter ist das Ergebnis für diesen Ort. Die überblendete Dialekteinteilungskarte im Hintergrund entstammt Wiesinger (1983) und dient der besseren Orientierung in Bezug auf die für Hessen traditionell angenommenen dialektalen Kern- und Übergangsgebiete (letztere schraffiert). Sie basiert nicht auf syntaktischen, sondern hauptsächlich auf lautlichen und zum Teil auf morphologischen Kriterien.
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
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SyHD-Frage E4_19: PL [Radieschen] in einer nordhessischen Dialektalisierung
Gewährspersonen spontan angeführten Indefinitpronomens (et)was. Man kann aus den Karten unter anderem Folgendes ablesen: – Das ältere Genitiv-System findet sich vor allem noch in einem mittleren Streifen mit dem Zentral- und Osthessischen als zusammenhängendem Hauptverbreitungsgebiet, mit Einschränkung auch in den daran angrenzenden Übergangsgebieten zum Nordhessischen, Mosel- und/oder Rheinfränkischen sowie insbesondere zum Ostfränkischen. Im Übergang zum und im Moselfränkischen selbst tritt im M./N.SG das Genitivpronomen es statt sen auf. Die Pronominalgenitive weisen abhängig von der Kategorie Numerus (und zum Teil auch Genus) einen deutlich unterschiedlichen Grad an Vitalität auf: Sie sind im PL noch wesentlich weiter verbreitet als im SG mit Bezug auf Kontinuativa.21 Demnach scheint der Abbau der Genitivpronomina bzw. die 21 Dass die Verbreitung der Pronominalgenitive im (F.)SG reduzierter ist als im PL, zeigt sich auch in den schweizerdeutschen Dialekten bei einem Vergleich zwischen dem relevanten Material im Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS III, Karte 235: [Kirschen]) und dem Syntaktischen Atlas der Deutschen Schweiz (SADS, Frage I.18: [Milch]) (Glaser p. c.). Trotz
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Thomas Strobel
22. Sie sind bei Ihrer Nachbarin zum Kaffeetrinken eingeladen. Als der Kaffee fertig ist, bietet sie Ihnen Zucker dazu an. Dann fragt sie noch: → Bitte kreuzen Sie die Sätze an, die Sie in ihrem Platt/Dialekt sagen können (auch Mehrfachnennungen sind möglich). a)
Mer hun aach Milch. Willst dou ere?
b)
Mer hun aach Milch. Willst dou welche?
c)
Mer hun aach e Milch. Willst dou aane?
d)
Mer hun aach Milch. Willst dou?
→ Würden Sie den Satz normalerweise in einer Form sagen, die gar nicht aufgeführt ist? Wenn „ja“: Bitte notieren Sie hier den Satz so, wie Sie ihn normalerweise sagen würden: e) ……………………………………………………………………………………………….. → Welcher Satz ist für Sie der natürlichste? a)
, b)
, c)
, d)
oder e)
SyHD-Frage E2_22: F.SG [Milch] in einer zentralhessischen Dialektalisierung
SyHD-Frage E4_30: M.SG [Zucker] in der osthessischen Dialektalisierung
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
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7. Karl schaut in seine Brieftasche und stellt fest, dass er kein Geld mehr hat. Er wendet sich an seine Frau Else und fragt, ob sie noch Geld habe. Else antwortet: → Bitte kreuzen Sie die Sätze an, die Sie in Ihrem Platt/Dialekt sagen können (auch Mehrfachnennungen sind möglich). a)
Isch häb aach koa Geld mehr, awwer do leid sen uff’m Disch.
b)
Isch häb aach koa Geld mehr, awwer do leid welsches uff’m Disch.
c)
Isch häb aach koa Geld mehr, awwer do leid oans uff’m Disch.
d)
Isch häb aach koa Geld mehr, awwer do leid uff’m Disch.
→ Würden Sie den Satz normalerweise in einer Form sagen, die gar nicht aufgeführt ist? Wenn „ja“: Bitte notieren Sie hier den Satz so, wie Sie ihn normalerweise sagen würden: e) ……………………………………………………………………………………………….. ………………………………………………………………………………………………….. → Welcher Satz ist für Sie der natürlichste? a)
, b)
, c)
, d)
oder e)
SyHD-Frage E2_7: N.SG [Geld] in einer rheinfränkischen Dialektalisierung
Expansion innovativer Referenzstrategien zuerst im SG und erst dann im PL vonstattenzugehen (cf. Strobel 2012, 2013 a, 2013 b). Dass die neuen Systeme indefinit-partitiver Bezugnahme zuerst in den SG einzudringen scheinen, um dort zunächst mit den aus dem Mhd. tradierten, fossilisierten Pronominalgenitiven zu koexistieren und sie schließlich zu ersetzen, zeigen auch Daten zur Typenvariation in Übergangsgebieten zwischen den einzelnen Systemen. Dort treten synchron häufig Mischsysteme mit für SG und PL asymmetrischem Gebrauch auf, was sich diachron als fortschreitende Substitution archaischer durch innovative Formen interpretieren lässt (cf. Strobel 2013 b). – Das indefinit-partitive Pronomen welch-/we(l)k- tritt wie erwartet verstärkt in den nördlichen Dialekten Hessens auf, genauer gesagt in den niederdeutschen Varietäten Westfälisch und Ostfälisch sowie – über die Benrather Linie hinweg (cf. Strobel 2012, 2013 a) – im Nordhessischen und den angrenzenden Übergangsgebieten hin zum Thüringischen, Osthessischen und zum Teil der Zeit zwischen den Erhebungen, in der der Abbau der Genitivformen vorangeschritten sein könnte, und der Tatsache, dass es sich zum einen um Spontanmaterial bei einer Übersetzungsfrage (SDS) und zum anderen um eine Ankreuzfrage (SADS) handelte, scheint dieses Ergebnis den in SyHD erzielten Befund einer unterschiedlichen, numerusabhängigen Vitalität zu bestätigen.
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Karte 2: Areale Distribution der Ausdrucksmittel pronominaler Partitivität in den Dialekten in und um Hessen: PL [Radieschen] (SyHD-Frage E4_19)
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
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Karte 3: Areale Distribution der Ausdrucksmittel pronominaler Partitivität in den Dialekten in und um Hessen: F.SG [Milch] (SyHD-Frage E2_22)
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Karte 4: Areale Distribution der Ausdrucksmittel pronominaler Partitivität in den Dialekten in und um Hessen: M.SG [Zucker] (SyHD-Frage E4_30)
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
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Karte 5: Areale Distribution der Ausdrucksmittel pronominaler Partitivität in den Dialekten in und um Hessen: N.SG [Geld] (SyHD-Frage E2_7)
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Zentralhessischen. Wohl aufgrund von Standardeinfluss kommt es darüber hinaus vereinzelt im gesamten Untersuchungsgebiet vor, wenn auch nicht immer als häufigste Strategie (wie hier ausschließlich dargestellt). – Das innovative System der Null-Anapher (∅) im Süden Hessens ist – insbesondere im SG – ganz deutlich nicht (mehr) auf das Rheinfränkische beschränkt, sondern dehnt sich stark ins südliche Zentralhessische und die Übergangsgebiete zum Moselfränkischen hinein aus. – Das vor allem für das Bairische charakteristische Indefinitpronomen einwurde allenfalls am Rande Hessens im südöstlichen Übergangsgebiet zum Ostfränkischen und östlichsten Teil des Rheinfränkischen erwartet. Obgleich hier pro Ort jeweils nur die dominierende Strategie dargestellt ist, kann man dennoch sagen, dass dieses Pronomen in den Dialekten Hessens für Massennomina und im PL (noch) nahezu abwesend ist und die wenigen Nennungen zudem keine klare areale Verteilung zeigen. Dieser Befund steht in Einklang mit den Ergebnissen zum Verbreitungsgebiet des Indefinitartikels ein- bei Kontinuativa, womit eine wichtige Korrelation besteht: Wie Glaser (2008) zeigte, geht das Verwendungsgebiet des Indefinitartikels ein- bei Kontinuativa (cf. Karte 6) über das Dialektgebiet mit generalisiertem indefinit-anaphorischen ein- hinaus (cf. Karte 1 für anaphorisches ein- im Plural), das verallgemeinerte Indefinitpronomen setzt also den Indefinitartikel bei Massennomina voraus. Dies bestätigt sich im Erhebungsgebiet von SyHD, denn dort scheint diese notwendige – wenn auch nicht hinreichende – Bedingung in der Tat nicht gegeben zu sein (siehe Karte 7).22 – Im niederdeutschen, besonders im ostfälischen Dialektgebiet Hessens stellt wat im N.SG sogar die Hauptstrategie dar, nicht we(l)k-. Dies gilt umso mehr, als diese Variante im Ankreuzteil der Aufgabe nicht vorgegeben war, sondern als eigene Alternative angeführt wurde. Weiter südlich, ab dem südlichen Zentralhessischen, tritt was und ebbes ›etwas‹ auf.
3.
Syntaktische Distribution
Nach der Darstellung der arealen Distribution der vier Hauptstrategien partitivanaphorischer Referenz für den deutschen Sprachraum im Allgemeinen und Hessen im Speziellen – md. und randdialektales Genitiv-System (d)(ə)r(ə), s(ə)n, 22 Im vorliegenden Tortendiagramm (Karte 7) sind die Segmente, die den Gebrauch des Indefinitartikels ein- bei Kontinuativa zeigen, äußerst selten und klein, was außerdem – gerade im West- und Ostfälischen – noch im Bereich einer möglichen Fehlerquote liegt. Der Befund deckt sich mit und präzisiert das durch den gestrichelten Teil der Isoglosse in Glaser (2008) und im Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA III, 8d: Hast du (ein) Geld dabei?, cf. Fn. 14 oben) skizzierte Verbreitungsgebiet.
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
173
Karte 6: Verbreitungsgebiet des Indefinitartikels bei Kontinuativa im gesamten deutschsprachigen Raum (Glaser 2008)
əs, nhd. und nd. welch-/we(l)k-, südwestliches (alemann.) ∅-System und südöstliches (bair.) ein-System – soll nun deren syntaktische Distribution bzw. (Mikro-)Variation diskutiert werden, insbesondere auch kontrastiv zum niederländischen quantitativen Pronomen er. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche syntaktische Ebene pronominalisiert wird (für Vorschläge zum nl. er cf. u. a. Barbiers 2009 und Kranendonk 2010). Aufschluss über die Pronominalisierungsebene geben Grammatikalitätsunterschiede bei der Kookkurrenz der Pronomina mit verschiedenen nominalen Modifikatoren wie Numeralien und (schwachen) Quantoren sowie – strukturell höheren – Relativsätzen und Adjunkt-PPs bzw. – strukturell tieferen – Adjektiven und Komplement-PPs. Zum besseren Verständnis der Architektur der nominalen Domäne kann außerdem die Verteilung von »flektierten« Zahlwörtern (Schwa) beitragen, besonders die Funktion dieses in einigen – areal clusternden –
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Karte 7: Vorkommen des Indefinitartikels bei Kontinuativa in den Dialekten in und um Hessen (SyHD-Frage E3_19: Will noch jemand (ein) Salz?)
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
175
Dialekten an Numeralien auftretenden Schwa und dessen Verhältnis zu partitiven Genitivpartikeln. Im Folgenden werden die genannten Kontexte näher untersucht.
3.1
Kookkurrenz mit Numeralien und (schwachen) Quantoren
Betrachtet man das Vorkommen partitiver bzw. quantitativer Pronomina zusammen mit Zahlwörtern und (schwachen) Quantoren, so kann man feststellen, dass quantitatives er im Niederländischen bei Mengenangaben – mit Ausnahme einer nordöstlichen Region, für die in diesem Zusammenhang oftmals friesisches Substrat angenommen wurde – obligatorisch stehen muss (14). Die SyHD-Ergebnisse zeigen hingegen, dass die partitiven Genitivpronomina ere und sen im relevanten mittelhessischen Streifen (siehe Abschnitt 2.2) signifikant seltener zusammen mit einem Zahlwort wie drei, vier, fünf etc. oder einem (schwachen) Quantor wie ein paar, einige (PL) bzw. ein bisschen, ein wenig (MASS) vorkommen als ohne Mengenangabe. Die Pronomina ere und sen treten hier bestenfalls optional auf (15). Standarddeutsches welch- und bairisches ein- sind zusammen mit einem Mengenausdruck ungrammatisch (16–17): (14) a. Ik heb *(er) twee gekocht. [boeken] (Standardniederländisch) ›Ich habe zwei gekauft.‹ [Bücher] b. We hebben *(er) nog een paar. [koekjes] (Standardniederländisch) ›Wir haben noch ein paar.‹ [Kekse] (15) a. Em Keller stiehn (ere) noch drei. [Weinflaschen] (SyHD E1_15) (Zentralhessisch) b. Mer honn (ere) noch en paar em Kealler. [Kardoffeln] (SyHD Pt_E4_A_1) (Osthessisch) (16) a. Ich habe (*welche) zwei gegessen. [Brötchen] (Neuhochdeutsch) b. Gestern habe ich (*welche) ein paar gemacht. [Fotos] (Neuhochdeutsch) (17) a. Dɔ khe:man (*õa) zwõa. [Buam] (Bairisch) b. Gestern hɔwe (*õa) a bõa gseng. [Fegl] (Bairisch)
Die beiden folgenden Karten belegen für die vor allem zentralhessisch(-moselfränkischen) und osthessisch(-ostfränkischen) Dialekte mit archaischen Pronominalgenitiven, dass die partitiven Genitivpartikeln in Verbindung mit Numeralien bzw. Quantoren häufig fehlen, im Gegensatz zum Niederländischen also nicht obligatorisch, sondern lediglich fakultativ sind. Die Verteilung der Pronomina ohne Mengenangabe war zum Vergleich in den Karten 2 (PL-Form ere) und 4 (M.SG-Form sen) abgebildet, jedoch nur, wenn sie die jeweils dominierende Strategie darstellten. Karte 8 zeigt die Optionalität der deutschen pronominalen Genitive bei Mengenausdrücken für pluralisches ere (bezogen auf
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Karte 8: Kookkurrenz partitiver Genitivpronomina (COUNT, PL) mit Numeralien/Quantoren (SyHD-Frage E3_16: Geschwister? Ich habe (ere) fünf.)
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
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Karte 9: Kookkurrenz partitiver Genitivpronomina (MASS, MASK.) mit Numeralien/Quantoren (SyHD-Frage E3_8: Ich habe (sen) noch ein bisschen. [Kaffee])
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Thomas Strobel
Geschwister), gefolgt vom Zahlwort fünf. An Ortspunkten, wo ere zusammen mit fünf auftritt, wurde – bis auf zwei Ausnahmen – durchgehend auch die dem Standard entsprechende Variante mit bloßem Zahlwort (ohne ere) angegeben, allermeist sogar mehrheitlich.23 Karte 9 hingegen veranschaulicht den Bezug auf ein Kontinuativum (Kaffee) durch das Pronomen für M./N.SG sen, hier zusammen mit dem Quantor ein bisschen. Gegenüber der Verwendung von sen ohne Zusatz einer Mengenangabe ist das Vorkommen der Genitivpartikel hier (räumlich wie zahlenmäßig) stark reduziert. Einen Sonderfall stellen das Zahlwort bzw. Indefinitpronomen ein- und der negative Quantor kein- dar (18): Während auch hier im Niederländischen ein quantitatives er obligatorisch ist und es etwa im Rheinischen Wörterbuch (RhWB) auch für das im südniederfränkischen Dialektgebiet gelegene Selfkant belegt ist, heißt es schon bei Weise (1906) für das ostthüringische Altenburg, dass in diesem Kontext kein partitives Pronomen stehen könne: (18) a. [Hoeveel boeken heb jij?] – Ik heb *(er) één/geen. (Standardniederländisch) ›Wie viele Bücher hast du? – Ich habe eines/keines.‹ b. [Häste vöəl Kenger?] – Neə, ech hanər mar en. (RhWb III) (Südniederfränkisch) c. [Hast du Äpfel?] – Ich håå (*er) enn/kenn. (Weise 1906) (Ostthüringisch)
Auch die SyHD-Ergebnisse – hier aus Pretests – zeigen, dass in den einschlägigen mittelhessischen Dialekten zusammen mit ein- und kein- kein ere auftritt: Das belegen einerseits die aus zwei verschiedenen Pretest-Fragen resultierenden 0 Nennungen von ere mit ein- als Zahlwort (19a) bzw. Indefinitpronomen (19b) sowie andererseits die lediglich 2 Nennungen mit ere gegenüber den 36 Nennungen ohne ere im Falle von kein- (20):24
23 Intraindividuell betrachtet haben zwar lediglich 34 der insgesamt 120 Gewährspersonen (= 28,3 %), die sich für ere fünf entschieden haben, gleichzeitig auch bloßes fünf (ohne ere) gewählt. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass von den Informanten konsequent immer alle möglichen Varianten angekreuzt werden, insbesondere dann nicht, wenn die einzige Antwort als eigene Alternative frei formuliert wurde. Negative Evidenz, also ein gesicherter Aufschluss darüber, welche der Alternativen für die Gewährspersonen wirklich ungrammatisch sind, ist aus den Antworten daher nicht bzw. nur sehr bedingt ablesbar (auch weil im SyHD-Fragedesign – im Gegensatz zum SADS – die explizite Ablehnung einer Variante mittels einer Ankreuzmöglichkeit »nein« entfiel). Auf eine eventuelle Nachfrage hin, ob auch alleiniges fünf (ohne ere) gehe, könnte diese Anzahl höher ausfallen. 24 Zur Absicherung dieser Ergebnisse wurden Fragen hierzu in die derzeit laufende direkte Erhebung per Interview aufgenommen: In audiovisuellen Experimenten werden den Testpersonen Bilder vorgelegt, zu denen sie dann zunächst Stimulussätze in ihren Dialekt/in ihr Platt übertragen und eine Lücke füllen müssen (Übersetzungs- und Satzergänzungsaufgaben):
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
179
(19) a. Die Nachbarn haben zwei Autos, wir haben (*ere) nur ein(e)s. (SyHD Pt_E3_C_1, hier in der einzulautenden Protoversion) ere ein(e)s ein(e)s
Σ 0 38
WFL 0 6
NHTH 0 2
NH 0 10
OH 0 3
ZH 0 5
ZHOHOF 0 4
ZHMFRF 0 4
RF 0 4
ZHMFRF 0 4
RF 0 4
ZHMFRF 0 5
RF 0 5
b. Willst du einen Apfel? Du kriegst (*ere) natürlich einen. (SyHD Pt_E3_C_27, hier in der einzulautenden Protoversion) ere einen einen
Σ 0 36
WFL 0 5
NHTH 0 2
NH 0 9
OH 0 3
ZH 0 5
ZHOHOF 0 4
(20) Ich habe (*ere) leider auch keine mehr. [Eier] (SyHD Pt_E4_A_16, hier in der einzulautenden Protoversion) ere keine keine
Σ 2 36
WFL 0 2
NHTH 0 5
NH 0 3
OH 1 7
ZH 0 4
ZHOHOF 1 5
Ein Unterschied zu den höheren Zahlwörtern drei, vier, fünf etc. besteht darin, dass ein- und kein- nach Genus und Kasus bzw. Numerus, Genus und Kasus flektieren. Grundsätzlich könnte damit ein Zusammenhang bestehen, wenn man davon ausgeht, dass Partitivanaphern eine N(P)-Ellipse lizensieren (cf. etwa Bennis 1986 und Kester 1996), indem sie eine Identifizierung von φ-Merkmalen (Person, Numerus bzw. Count/Mass sowie Genus) und zum Teil Kasusmerkmalen (im Falle von welch- und ein-) ermöglichen. Ein Testfall wären hier Dialekte, in denen archaische Pronominalgenitive vorkommen und das Zahlwort zwei noch eine Genusdifferenzierung aufweist, wozu es in SyHD sowohl in den Fragebögen als auch im Interview Testfragen gibt. Für diese Dialekte wäre dann zu erwarten, dass auch zusammen mit dem Zahlwort zwei kein Genitivpronomen auftritt, weil das nach Genus flektierte Numerale – sofern es auch bei nominaler Ellipse flektiert – die φ-Merkmale identifiziert.
(i) Haben wir noch Plätzchen? – Nein, wir haben …………… mehr. [zu einem Foto mit einem leeren Plätzchenteller, auf dem nur noch Krümel übrig sind] (ii) Wie viele Gummibärchen hat Helmut? – Helmut hat …………… . [zu einem Foto mit einem einzigen Gummibärchen] Anschließend erfolgt eine explizite Rückfrage zur Variante mit Pronominalgenitiv (ere und sen).
180 3.2
Thomas Strobel
Kookkurrenz mit Relativ- vs. Komplementsätzen und Präpositionalphrasen
Ein mit Blick auf die Bestimmung der Pronominalisierungsebene wichtiger Unterschied zeigt sich bei der Modifikation vs. Komplementation durch (Relativ-/Komplement-)Sätze und (Adjunkt-/Komplement-)PPs (cf. auch Blom 1975/ 76, Barbiers 2009, Kranendonk 2010). Während alle Partitivanaphern sowohl in den deutschen Dialekten als auch im Niederländischen mit einem (DP-adjungierten)25 Relativsatz auftreten können (21), ist eine Pronominalisierung bei nominalen Komplementsätzen nicht möglich (22a, c–d). Einzig für das GenitivAreal innerhalb der hessischen Dialekte wird dies zurzeit noch mithilfe des Testsatzes (22b) ermittelt, um auch eine definitive Aussage für md. ere treffen zu können. (21) a. Hij had veel goede leerlingen, maar hij had er ook (drie) die absoluut niet konden rekenen. (ANS 8⋅6⋅5⋅2⋅i) (Standardniederländisch) ›Er hatte viele gute Schüler, aber er hatte auch welche/(drei), die überhaupt nicht rechnen konnten.‹ b. Es gebd ere, dej giehn goar net en die Kirch. (SyHD E2_1) (Zentralhessisch) (22) a. Ik heb er nog nooit een gezien (*dat de aarde plat was). [bewijs] (Blom 1975/76) (Standardniederländisch) ›Ich habe noch nie einen gesehen, dass die Erde flach sei.‹ [Beweis] b. Es gibt ……………, dass hier mal Römer gelebt haben. [Beweise] (SyHD) c. Es gibt welche, (*dass hier einst Römer lebten). [Beweise] (Neuhochdeutsch) d. Es gibt õa, (*dass dɔ amɑl d’Römer glebd hɑm). [Beweis] (Bairisch)
Ebenso muss man bei Präpositionalphrasen unterscheiden zwischen AdjunktPPs einerseits und Komplement-PPs andererseits. Handelt es sich bei einer PP um ein – strukturell höheres – Adjunkt (an die DP adjungiert), so ist Pronominalisierung möglich (23). Liegt hingegen ein – strukturell tieferes – PP-Komplement vor (innerhalb der NP), führt Pronominalisierung im Fall von nl. quantitativen er zu Ungrammatikalität (24a). Auch hier laufen für die md. Genitivpartikel ere momentan noch Nacherhebungen im Rahmen der SyHD-Interviews (24b).26 Anders verhält es sich aber auf alle Fälle bei den Indefinitpro25 Ich folge hier Sternefelds (2006) Ausführungen zur syntaktischen Anbindung von Relativsätzen. Ihm zufolge sind Relativsätze an die DP (oder an D‘) adjungiert, was auf Ross (1967) zurückgeht. Als Argument gegen eine von Semantikern oft präferierte NP-Adjunktion führt Sternefeld sog. Hydras an, Konstruktionen, bei denen der Relativsatz auf zwei Köpfe bezogen werden muss. Ferner sieht er – trotz unterschiedlicher semantischer Interpretation – keinen zwingenden syntaktischen Grund dafür, restriktive und nicht-restriktive/appositive Relativsätze nach ihrer syntaktischen Position zu unterscheiden. 26 Nach einigen Informantenbefragungen bzw. Durchführung von gut einem Viertel der direkten Erhebung deutet jedoch bereits einiges darauf hin, dass ere im hessischen GenitivAreal sowohl zusammen mit nominalen Komplementsätzen als auch mit Komplement-PPs
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
181
nomina nhd./nd. welch-/we(l)k- und bair. ein-: Wie (24c–d) exemplifizieren, können diese Pronomina auch zusammen mit Komplement-PPs auftreten, jedoch ebenso wenig wie nl. er mit nominalen Komplementsätzen (22c–d). (23) a. Ik heb er twee uit Frankrijk. [stoelen] (Kranendonk 2010) (Standardniederländisch) ›Ich habe zwei aus Frankreich.‹ [Stühle] b. Letzten Winter hu eich ere von sehr gouter Qualität gekaaft. [Stiefel] (SyHD Pt_E4_C_21) (Zentralhessisch) (24) a. Jij hebt er twee (*aan mij) geschonden. [beloftes] (Kranendonk 2010) (Standardniederländisch) ›Du hast zwei (*an mich) gebrochen.‹ [Versprechen] b. Ich habe keine Fragen mehr an dich. Hast du …………… an mich? (SyHD Interviews_04_Präsentation_28) c. Ihr könnt mir gerne Fragen stellen, wenn ihr welche an mich habt. (Neuhochdeutsch) d. Ihr kennts ma gern Frɔng stölln, wennts õa an mi hɑppts. (Bairisch)
3.3
Kookkurrenz mit Adjektiven
Ob partitive/quantitative Pronomina mit einem Adjektiv kookkurrieren können oder nicht, variiert sowohl innerhalb der niederländischen Varietäten als auch innerhalb der deutschen Dialekte: Während im nördlichen Standardniederländischen ein quantitatives er – egal ob mit oder ohne zusätzliches Zahlwort (vier) – zusammen mit einem Adjektiv (groene ›grüne‹) ausgeschlossen ist (25a), kann es im südlichen, insbesondere belgischen regionalen Sprachgebrauch durchaus (optional) auftreten (25b).27 Karte 10, die auf einem Testsatz des Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten (SAND) basiert und von mir mit DynaSAND erstellt wurde (http://www.meertens.knaw.nl/sand/), zeigt die areale Verbreitung von er + (Zahlwort +) Adjektiv für das niederländische Sprachgebiet. Als Hauptvorkommensgebiet (Plus- vs. Minuszeichen für An- bzw. Abwesenheit von durchaus möglich zu sein scheint. Zu (22b) gaben einige nordhessische Gewährspersonen Es gerrer, dass hei mu Römer geläbt hun [Beweise] als Antwort (Schwalm p. c.). Beim Testsatz (24b) zu ere an mich [Fragen] kam ere in den SyHD-Interviews nicht nur auf Nachfrage, sondern vielfach auch als erste, spontane Antwort. 27 Kester (1996) zufolge lizensiert im Niederländischen Adjektivflexion eine N(P)-Ellipse, weshalb – im Unterschied etwa zum Englischen – bei einem gestrandeten Adjektiv keine ProForm bzw. kein Dummy-Element wie engl. one nötig ist. Da hingegen Numeralia als Remnant nicht flektieren, können sie eine N(P)-Ellipse nicht lizensieren, sodass quantitatives er erscheinen muss. Gegen eine solche Analyse sprechen jedoch die Daten aus dem belgischen Niederländischen, wo er trotz »Adjektivflexion« erscheint. Corver/Van Koppen/Kranendonk (2009) argumentieren deshalb dafür, dass es sich beim Schwa an Adjektiven im Niederländischen nicht um Flexion handelt, sondern um eine Pro-NP bzw. ein schwaches Pronomen, das dem engl. one ähnelt.
182
Thomas Strobel
quantitativem er) bestätigt sich der Dialektraum südlich der »großen Flüsse«, insbesondere die belgischen Varietäten.28 Während man in Bezug auf die deutschen Dialekte für das Ostthüringische bei Weise (1906) einen Hinweis darauf findet, dass zusammen mit einem Adjektiv kein partitives Pronomen stehen kann (26a), scheint das im Berndeutschen laut Hodler (1969) durchaus möglich zu sein (26b).29 (25) [Er hat fünf rote Äpfel] (Kranendonk 2010) a. … en ik heb (*er) vier groene. (nördliches Standardniederländisch) b. … en ik hè (der) vier groene. (Ostflämisch) ›… und ich habe vier grüne.‹ (26) a. [Hast du Äpfel?] – Jåå, ich håå (*er) guude. (Weise 1906) (Ostthüringisch) b. Wi gseh d’Öpfel us? – Es hat ere schöni, aber es syn ere fuli drunder. (Hodler 1969) (Berndeutsch)
Wie sieht es nun aber innerhalb des mittelhessischen Dialektstreifens mit Pronominalgenitiven hinsichtlich einer möglichen Kookkurrenz von ere und (Numeralien +) Adjektiven aus? Im Rahmen zweier SyHD-Fragen – einmal mit (27a) und einmal ohne zusätzliches Zahlwort (27b) – zeigte sich, dass zusammen mit Adjektiven ganz überwiegend kein partitives Genitivpronomen akzeptiert wurde (siehe Karte 11 zum Testsatz (27b)). Die wenigen, verstreuten Nennungen, meist durch nur eine Gewährsperson pro Ort, fallen unter eine übliche Fehlerquote beim Ankreuzen, insbesondere in Dialektregionen, in denen sonst keine archaischen Genitivpartikeln belegt sind wie im Westfälischen, Ostfälischen und Schwäbischen.30 28 Auch Kranendonk (2010) findet bei der Auswertung von Daten aus dem Projekt Diversity in Dutch DP Design (DiDDD) in 17 von 53 Dialekten eine Kookkurrenz von quantitativem er + Zahlwort + Adjektiv. Diese Dialekte liegen ebenfalls nicht ausschließlich im Süden des niederländischen Sprachgebiets, sondern sind – wie in Karte 10 – auch auf die nördlichen Provinzen der Niederlande verstreut. Kranendonk unterscheidet grob ein nördliches und ein südliches Muster. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass er im Norden nicht nur zusammen mit Zahlwort + Adjektiv lediglich optional ist, sondern im Gegensatz zum südlichen Muster selbst in Verbindung mit einem bloßen Zahlwort. Er führt dies auf morphologische Gründe zurück: Die syntaktische Derivation ist dieselbe, aber das Pronomen ist in diesen Fällen morphologisch nicht overt. 29 Romanischer Kontakteinfluss ist hier nicht auszuschließen, denn wahrscheinlich handelt es sich bei den Dialekten, in denen Partitivanaphern mit Adjektiven kookkurrieren können, nicht zufällig um diejenigen Varietäten des Niederländischen (Belgien) und Deutschen (Schweiz), die mit dem Französischen und/oder Italienischen (fr. en, it. ne) in engem Kontakt stehen. 30 Im Rahmen der direkten Exploration wird dies zwecks Validierung der Daten und Vertiefung der Kenntnis über die Distribution aktuell nochmals in folgendem Experiment aufgegriffen: (i) Ludwig hat drei grüne Äpfel und Alexandra hat …………………………. [zu Bildern von einem Mann mit drei grünen Äpfeln einerseits und einer Frau mit drei roten Äpfeln andererseits] Sich daran anschließende Nachfragen zielen auch auf den Gebrauch ohne Zahlwort ab.
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
183
(27) a. Ich habe keine grünen Äpfel mehr, aber hier sind (*ere) vier rote. (SyHD Pt_E3_C_11) b. Dort drüben gibt es schöne große Erdbeeren. Hier sind (*ere) bloß kleine. (SyHD E3_21)
Das Indefinitpronomen ein- im Bairischen kann kein Adjektiv bei sich haben.31 Ebenso wenig kann standard- und nieder-/norddeutsches welch-/we(l)k- zusammen mit Adjektiven auftreten.32
3.4
Kookkurrenz mit »flektierten« Zahlwörtern (Schwa)
Kranendonk (2010) ist in seiner Dissertation auf niederländische Dialekte gestoßen, die bei N(P)-Ellipse eine Schwa-Endung an Numeralia zeigen. Solche »flektierten« Zahlwörter scheinen hingegen in den deutschen Dialekten des SyHD-Untersuchungsgebiets eine areale komplementäre Distribution mit den partitiven Genitivpronomina aufzuweisen. Während Numeralia in attributiver Stellung ohne nominale Ellipse weder im Niederländischen noch im Deutschen (Dialekte und Standardsprachen) ein Schwa haben (28) und beide Standardsprachen auch unter Ellipse kein Schwa am Zahlwort aufweisen (im Niederländischen mit obligatorischem quantitativen er, cf. Abschnitt 3.1) (29), fand Kranendonk (2010) in 16 der 53 im Projekt Div31 Damit nicht zu verwechseln sind Vorkommen des (pluralischen) Indefinitartikels ein- + Adjektiv wie in den folgenden von Glaser (1996) für einige bairische Dialekte angeführten Beispielen. Hier liegt keine pronominale Verwendung von ein- vor. Die Formen des Artikels fallen lediglich im Plural mit den Formen des Pronomens zusammen. (i) do hand oi dɑfaulte dabae gwen (Eging am See) (ii) dɔ han scho oi grosse a dabai! [Kartoffeln] (Burgkirchen/Alz) Eine solche Pluralform des Indefinitartikels (cf. auch span. unos/unas und mit Einschränkungen schwed. ena) ist zwar im Rückzug begriffen, aber – auch ohne Adjektiv und nominale Ellipse – bis heute noch (als Nebenform) in einem Areal nordöstlich und westlich von Passau inklusive der nordwestlichen Ecke Oberösterreichs und vor allem südlich der Donau vorhanden (cf. Glaser 1996 bzw. u. a. die Sprachatlanten von Niederbayern und Oberösterreich). 32 Aus den mir freundlicherweise aus dem Projekt Sprachvariation in Norddeutschland (SiN) zur Verfügung gestellten Daten zu nieder-/norddeutschem we(l)k- – für die Bereitstellung der Materialien möchte ich Ingrid Schröder und Carolin Jürgens (Hamburg) ganz herzlich danken – ist mir ein einziger Beleg von we(l)k- mit einem Adjektiv bekannt: (i) […] die Lehrer die wir damals hatten das waren alle alles welche ältere aus dem ja aus dem Osten. Hier könnte es sich aber – wie im Bairischen (cf. Fn. 31) – ebenfalls um welch-/we(l)k- als Indefinitartikel statt -pronomen handeln, wie von Harnisch (2006) für das Niederdeutsche (dor kaamt welke Lüd) und für Äußerungen von Kindern im Spracherwerb (auch bei Kindern, die nicht in einer niederdeutschen Umgebung aufwachsen: der Clown hat welche Schuhe an) als Füllung einer System-Lücke (»Horror vacui«) beim Indefinitartikel im Plural beschrieben.
184
Thomas Strobel
Karte 10: Kookkurrenz partitiver/quantitativer Pronomina mit (Zahlwort +) Adjektiv (SAND 516, online erstellt mit DynaSAND: Robert heeft één groene appel weggegeven, en nu heeft hij (er) nog twee rode. ›Robert hat einen grünen Apfel verschenkt, und jetzt hat er noch zwei rote.‹)
ersity in Dutch DP Design (DiDDD) untersuchten Dialekte »flektierte« Zahlwörter. In diesen 16 nordöstlich (grob im Gebiet des Nedersaksischen) und südwestlich (in der Provinz Zeeland und in Flandern) gelegenen niederländischen Dialekten (siehe Karte 12) ist Schwa sogar obligatorisch vorhanden (30a), es sei denn, es folgt ein Adjektiv auf das Zahlwort (30b). Fälle von Schwa am Zahlwort bei Ellipse in Verbindung mit einem partitiven Genitivpronomen sind bei Weise (1906) auch für das Ostthüringische belegt (31): (28) a. Ik heb vier(*e) boeken gekocht. (Niederländisch: Standard & Dialekte) ›Ich habe vier Bücher gekauft.‹ b. Ich habe fünf(*e) Geschwister. (Deutsch: Standard & Dialekte) (29) a. Ik heb er vier(*e) gekocht. [boeken] (Standardniederländisch) b. Ich habe fünf(*e). [Geschwister] (Neuhochdeutsch) (30) [Er hat fünf Bücher] (Kranendonk 2010) (Seeländisch) a. … en ik hedder vier-*(e). ›… und ich habe vier.‹
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
185
Karte 11: Kookkurrenz partitiver/quantitativer Pronomina mit Adjektiven (SyHD-Frage E3_21: Dort drüben gibt es schöne große Erdbeeren. Hier sind (ere) bloß kleine.)
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Thomas Strobel
b. … en ik hè vier(*e) groene. ›… und ich habe vier grüne.‹ (31) a. Ich håå er draie. (Weise 1906) (Ostthüringisch) b. Miir hunn er zahne gekooft. (Weise 1906) (Ostthüringisch)
Zur Erweiterung der Datenbasis in den deutschen Dialekten und näheren Erforschung der zu erwartenden syntaktischen Mikrovariation wurde in SyHD auch eine Frage zum Pronominalgenitiv ere und/oder Schwa am Zahlwort aufgenommen, bei der die unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten von ere und Schwa in Form einer Ankreuzaufgabe (Multiple-Choice) angeboten wurden: (32) Geschwister? Ich habe (ere) fünf(-e). (SyHD E3_16)
Dabei ergab sich für die in Hessen gesprochenen Dialekte bezüglich der Arealstruktur von ere einerseits und Schwa andererseits eine äußerst interessante komplementäre Distribution oder »anti-correlation« im Sinne Postmas (2011) (siehe Karte 13): Der standardkonforme Gebrauch des bloßen Zahlworts ohne Schwa und ohne ere ist – bis auf die nördlichen Dialekte – nahezu überall parallel möglich. Darüber hinaus zeigt sich jedoch eine deutliche areale Trennung zwischen der Genitivpartikel ere (ohne Schwa am Zahlwort) in einem mittelhessischen Streifen mit dem Zentral- und Osthessischen sowie angrenzenden Übergangszonen auf der einen Seite und Schwa am Zahlwort (ohne ere) im Norden (niederdeutsche Varietäten West- und Ostfälisch sowie nördliches Nordhessisch plus Übergang zum Thüringischen) und im Süden Hessens (Rheinfränkisch) auf der anderen Seite. Im Gegensatz zu den 16 niederländischen Dialekten33 ist der Kookkurrenzfall äußerst selten, ere und Schwa am Zahlwort treten zusammen also nur marginal und auf das gesamte Erhebungsgebiet verstreut auf. Nennungen vereinzelter Gewährspersonen an solchen Ortspunkten könnten unter eine normale Fehlerquote beim Ankreuzen fallen, zum einen etwa in nördlichen Dialektgebieten wie dem West- und Ostfälischen, wo in davon unabhängigen Fragen kein ere verzeichnet wurde, und zum anderen in den Dialekten Mittelhessens, wo sonst kein Schwa auftrat. Die (wenigen) Kookkurrenz-Nennungen an den »Rändern« der Areale, in den Übergangsgebieten, zeigen einen prinzipiellen Unterschied: Hier tritt durchgängig nur der Fall von Schwa mit fakultativem ere auf (ere fünf-e neben fünf-e), was auf einen Spell-out-Unterschied bei gleicher Struktur zurückgeführt werden kann (overtes vs. kovertes ere). Der unwahrscheinlichere Fall einer Grammatik mit fakultativer »Flexion« am Zahl33 Kranendonk (2010) berichtet jedoch auch von zwei niederländischen Dialekten (Bellingwolde und Onstwedde, beide Gronings/Groningisch), in denen Schwa am Zahlwort ohne quantitatives er auftritt. Er führt aus diesen Dialekten aber weitere, ähnliche Fälle an, in denen die Gewährspersonen er zusammen mit Schwa am Zahlwort verwenden, sodass dort das quantitative Pronomen fakultativ und in den vermeintlichen Ausnahmefällen kovert vorhanden zu sein scheint.
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
187
wort (ere fünf-e neben ere fünf) kommt hingegen nicht vor (cf. auch Strobel 2013 a).
Karte 12: Niederländische Dialekte mit Kookkurrenz von quantitativem er und Schwa am Zahlwort (Kranendonk 2010)
Die beobachtbare Konkurrenzsituation zwischen ere und Schwa in den hessischen Dialekten, die aus dieser komplementären arealen Verteilung hervorgeht, deutet darauf hin, dass beide eine ähnliche Funktion haben, nämlich ein leeres Nomen zu lizensieren. Für eine solche Behandlung spricht auch, dass sich die beiden Elemente etwa in Bezug auf Adjektive gleich verhalten, da – wie bereits dargestellt – weder ere noch Schwa zusammen mit einem Adjektiv auftreten kann. Es liegt letztlich also ein Fall von lexikalischer Variation vor (cf. auch Weiss im Druck): Im Lexikon befindet sich ere oder Schwa bzw. in einigen wenigen hessischen und 16 niederländischen Dialekten beide Formen. Der Unterschied besteht darin, dass das eine Element, nämlich die Vollform ere, außerhalb der DP realisiert wird, während das andere, nämlich die schwache Form Schwa, in Form eines Klitikons, das sich an das Zahlwort anlehnt und aussieht
188
Thomas Strobel
Karte 13: Komplementäre areale Distribution von partitivem Genitivpronomen und Schwa am Zahlwort (SyHD-Frage E3_16: Geschwister? Ich habe (ere) fünf(-e).)
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
189
wie ein Flexionselement,34 DP-intern realisiert wird. Es existieren also zwei unterschiedliche morphologische Ausprägungen – ähnlich dem bairischen Akkusativpronomen M.SG, welches es als Vollform eam (ursprünglich ein Dativpronomen) und als Klitikon ’n gibt – für eine Realisierung außerhalb der DP und eine DP-interne Realisierung. Falls beide Elemente gleichzeitig im Lexikon vorhanden sind, werden entweder alle beide ausgesprochen oder aber nur ere bzw. nur Schwa, vergleichbar mit der unterschiedlichen Definitheitsmarkierung in den skandinavischen Sprachen: Während im Schwedischen sowohl die suffixale als auch die selbständige Variante des definiten Artikels ausgesprochen werden muss (»doppelte Bestimmtheit«), tritt im Dänischen je nach Kontext nur die suffixale oder nur die selbständige Variante auf.
3.5
Kompatibilität indefinit-partitiver/quantitativer Pronomina mit nominalen Modifikatoren (Zusammenführung)
Wie lässt sich nun das unterschiedliche Verhalten der verschiedenen indefinitpartitiven bzw. quantitativen Pronomina mit Bezug auf die diskutierten nominalen Modifikatoren erklären? Wenn wir das Gesamtbild der Kompatibilität der einzelnen Partitivanaphern mit nominalen Modifikatoren betrachten (siehe tabellarische Übersicht), so wird deutlich, dass mit den strukturell höheren Relativsätzen und Adjunkt-PPs alle Pronomina kompatibel sind, es jedoch wichtige Unterschiede gibt bei Numeralien/Quantoren sowie bei den strukturell tieferen Modifikatoren Komplement-PPs und – je nach Varietät des Niederländischen – Adjektive. Daraus ergibt sich Evidenz für zwei unterschiedliche Pronominalisierungsebenen: – nl. er und hess. ere pronominalisieren eine Kategorie, die Adjektive und Komplement-PPs umfasst, nämlich nP, da sie nicht zusammen mit diesen Modifikatoren auftreten können (zu nl. er als Pro-nP cf. Kranendonk 2010) – nhd. welch- und bair. ein- pronominalisieren eine Ebene, die zudem Numeralien und (schwache) Quantoren enthält, nämlich die gesamte DP, da diese Pronomina darüber hinaus auch mit Mengenangaben inkompatibel sind nominale Modifikatoren Numeralien/Quantoren
nl. er ü
hess. ere (ü)1
nhd. welch*
bair. ein*
Relativsätze
ü
ü
ü
ü
34 Ein Argument dafür, dass Schwa am Numerale nur so aussieht wie Flexion, stellt ein wichtiger Kontrast zur Adjektivflexion dar: Während sich diese unabhängig vom Auftreten einer nominalen Ellipse stets gleich verhält, tritt Schwa am Zahlwort in den entsprechenden Dialekten nur bei Ellipse auf.
190
Thomas Strobel
(Fortsetzung) nominale Modifikatoren Adjunkt-PPs Adjektive
nl. er ü (*)2
hess. ere ü *
Komplement-PPs
*
?3
nhd. welchü * ü
bair. einü * ü
1
nur optional (cf. 3.1) im nördlichen Standardniederländischen ungrammatisch, in südlichen, insbesondere belgischen Dialekten/Regiolekten jedoch grammatisch (cf. 3.3) 3 wird derzeit in SyHD getestet (cf. 3.2)
2
In die folgende Struktur sind die Positionen der nominalen Modifikatoren eingetragen sowie die beiden unterschiedlichen Pronominalisierungsebenen für nl. er/hess. ere und Schwa (-e) einerseits (= nP) bzw. nhd./nd. welch-/we(l)k- und bair. ein- andererseits (= DP). In diesem Zusammenhang von untergeordnetem Interesse ist die Frage, wo die Landeposition der partitiven/quantitativen Pronomina nl. er und hess. ere ist. Ich folge hier daher Van Hout/Veenstra/ Berends (2011), die mit FP eine neutrale funktionale Projektion als Landeposition von nl. er bezeichnen.
CP
IP
FP VP V
DP DP D
welch- / einNumP
Num
nP n
Relativsätze / PPAdjunkt
er(e) / -e NP
AP
N' N
PPKomplement
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
191
Darin ist Schwa funktional äquivalent zu ere (siehe Abschnitt 3.4), da beide dieselben Merkmale (Person, Numerus, Genus) ausdrücken, wenn auch mit unterschiedlicher Realisierung. Schwa am Zahlwort stellt ebenfalls eine ProForm für nP dar, also keine Flexionsendung, sondern ein (pro)nominales Element. Dies wird auch durch Kranendonk (2008) und Corver/Van Koppen/ Kranendonk (2009) gestützt, die zwei Argumente für eine solche Analyse anführen: Schwa erscheint nur bei Ellipse und steht somit in komplementärer Distribution zum Nomen. Ferner tritt die Endung an Zahlwörtern nur dann auf – ebenso wie quantitatives ere –, wenn kein Adjektiv folgt. Dies wäre nicht zu erwarten, wenn Schwa analog zur Adjektivflexion ein Flexionselement wäre, jedoch sehr wohl, wenn es sich dabei um ein (pro)nominales Element, eine ProForm für nP handelt, da Nomina im Niederländischen und Deutschen nie zwischen Numeralien und Adjektiven stehen.35 Während Schwa schließlich in der DP verbleibt und an das Zahlwort klitisiert, verlässt ere die DP, mit einer funktionalen Projektion FP zwischen IP und VP als Landeposition. Bei der vorgestellten Analyse gibt es jedoch noch einige Problemfälle und offene Fragen: – Wie ist die Ungrammatikalität von md. (hess. und ostthür.) (ə)r(ə) zusammen mit dem Zahlwort/Indefinitpronomen ein- und negativen Quantor kein- zu erklären?36 Das Verhalten des Pronominalgenitivs steht hier in deutlichem Kontrast zum Verhalten bei den höheren Zahlwörtern drei, vier, fünf etc. und bei schwachen Quantoren wie einige, ein paar. Spielt hier die Flexion von (k)ein- eine Rolle, die das leere Kopfnomen identifiziert und damit die nominale Ellipse lizensiert, ähnlich wie lange Zeit für die Adjektivflexion angenommen (cf. Bennis/Hoekstra 1989, Kester 1996, aber Corver/Van Koppen/Kranendonk 2009)? Einen Testfall könnte in diesem Zusammenhang das in einigen Dialekten noch nach Genus flektierende Numerale zwei darstellen (siehe Abschnitt 3.1). – Wie kann man die (optionale) Kookkurrenz von nl. er und hoch-/höchstalemann. ere mit Adjektiven in den niederländischen Varietäten südlich der 35 Genauer gesagt handelt es sich bei der Schwa-Endung an Zahlwörtern in elliptischen Kontexten laut Corver/Van Koppen/Kranendonk (2009) um eine (enklitische) pronominale Kopie, die nach DP-interner Bewegung des nl. quantitativen Pronomens er zurückgelassen wird. Sie vergleichen dies mit dialektalen Verdoppelungsformen des Pronominaladverbs (cf. Fleischer 2002b) wie dodrone, etwa in [dodrone] denkt er nicht, wo zwei Ausprägungen des d-Pronomens vorliegen: eine Vollform (do), die in den Spezifikator der PP bewegt wird, und eine schwache Form (dr), die eine Kopie darstellt und morphologisch mit P verschmilzt. Für eine alternative Analyse cf. Weiss im Druck. 36 Auch wenn es sich bei ein- und kein- wohl um D°- und nicht um Num°-Elemente handelt, so wäre bei der hier vorgestellten Analyse dennoch zu erwarten, dass sie mit md. (ə)r(ə) kompatibel sind – analog zu nl. er –, da sie in jedem Fall außerhalb der pronominalisierten Kategorie nP liegen.
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»großen Flüsse«, insbesondere im regionalen Sprachgebrauch Belgiens, bzw. im Berndeutschen erklären (siehe Abschnitt 3.3)? Kranendonk (2010) stellt dafür eine Analyse vor, wonach quantitatives er auch hier dieselbe Ebene pronominalisiert und das Adjektiv an derselben Position basisgeneriert ist, Letzteres jedoch in den entsprechenden niederländischen Varietäten vor der er-Pronominalisierung aus der nP in den Spezifikator einer DP-internen Fokus-Projektion herausbewegt wird. Aufschluss könnte hier auch der Einbezug der mesovariationellen Ebene durch einen Vergleich mit der für fr. en und it. ne angenommenen Derivation bieten. Beide zentralromanischen Partitivpronomina müssen in analogen Kontexten mit (postnominalen) Adjektiven sogar obligatorisch stehen. – Woran liegt es, dass bei den Indefinitpronomina welch-/we(l)k- und ein- – eventuell sogar bei der hess. Genitivpartikel ere, im Unterschied zu nl. er – Komplement-PPs auftreten können (siehe Abschnitt 3.2)? Erfolgt hier vor der Pronominalisierung eine Extraktion/Topikalisierung der PP und, falls ja, aus welchem Grund? Wird die PP aus der Komplementposition wegbewegt, weil es sich dabei um eine (von N regierte) Kasusposition handelt und eine PP keinen Kasus zugewiesen bekommen kann? Weshalb geschieht dies dann aber nicht in allen Fällen, oder ist dabei lediglich die Landeposition unterschiedlich (innerhalb vs. außerhalb der pronominalisierten Ebene)?
4.
Zusammenfassung
Im vorliegenden Beitrag ging es neben der arealen vor allem um die syntaktische Distribution von Ausdrucksmitteln pronominaler Partitivität. Die Exploration und Darstellung kategorialer Unterschiede (Numerus- und Genusabhängigkeit des Abbaus archaischer bzw. der Ausbreitung innovativer Ausdrucksformen) und syntaktischer Distributionsbeschränkungen (Kookkurrenz mit Numeralien/ Quantoren, Adjektiven, Schwa am Zahlwort) erfolgte geolinguistisch fundiert, das heißt, morphologische Formen und syntaktische Mikrovariation wurden im Raum abgebildet, mit dem Ziel, ein kleinräumiges und differenziertes Bild von Vorkommenshäufigkeiten, eventuellen Mischsystemen (inter- wie intraindividuell) und Grammatikalitätsurteilen zu erhalten. Nicht zuletzt konnten damit interessante Korrelationen (z. B. beim Verbreitungsgebiet des Indefinitartikels vs. -pronomens ein- im Südosten des deutschsprachigen Raums) und AntiKorrelationen (im Falle der komplementären arealen Verteilung von partitivem ere und Schwa an Zahlwörtern in den Dialekten Hessens) ermittelt werden (zum Nutzen der kartografischen Darstellung syntaktischer Variablen und Varianten als Input auch für theoretische Fragestellungen cf. allgemein Edisyn: Manual, Chapter 1: Introduction, Empirical interests).
Die syntaktische Variable ›pronominale Partitivität‹ in den deutschen Dialekten
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Wir haben vier syntaktische Hauptstrategien zum Ausdruck partitiv-anaphorischer Referenz kennengelernt (Abschnitt 2): neben archaischen Pronominalgenitiven wie (d)(ə)r(ə), s(ə)n und əs auch innovative Ausdrucksmittel in Form der Null-Anapher (∅), des generalisierten, auf Kontinuativa und Pluralia ausgedehnten Indefinitpronomens ein- sowie des indefinit-partitiven Pronomens welch-/we(l)k-. Fossilisierte partitive Genitivpartikeln finden sich heute noch in einem mitteldeutschen Streifen vom Westmitteldeutschen bis zum Ostfränkischen sowie in peripheren Gebieten des äußersten Südens (Hoch-/ Höchstalemannisch und Südbairisch). Im SyHD-Untersuchungsgebiet traten sie vor allem im Zentral- und Osthessischen auf, mit Einschränkung auch im südlichen Nordhessischen, sowie in allen angrenzenden Übergangsgebieten, insbesondere zum Ostfränkischen hin. Es zeigte sich ein unter anderem von der Kategorie Numerus abhängiger unterschiedlicher Grad an Vitalität der Pronominalgenitive. Die Null-Anapher (∅) ist aus dem Südwesten des deutschen Sprachraums, mit dem Alemannischen als Kerngebiet, bekannt. In den Dialekten Hessens findet sie sich daher erwartungsgemäß im Süden des Bundeslandes. Überraschend ist jedoch, dass sie im SG bereits wesentlich weiter verbreitet ist als im PL – was seine Entsprechung in der asymmetrischen Abbaugeschwindigkeit des Genitiv-Systems im SG und PL hat – und nicht nur im Rheinfränkischen vertreten ist, sondern deutlich ins südliche Zentral- und Osthessische plus Übergangsgebiete expandiert. Das ein-System ist bairischen Ursprungs und mittlerweile ein Charakteristikum der südöstlichen Varietäten des deutschsprachigen Gebiets. Innerhalb des Erhebungsgebiets von SyHD war es allenfalls in einer südöstlichen Übergangszone zum Ostfränkischen zu erwarten, ist jedoch in den Dialekten Hessens (noch) nahezu abwesend, zumal sich für dessen sporadischen Gebrauch kein klares Raumbild ergab. Das standardsprachliche, ursprünglich aus dem Nieder-/Norddeutschen stammende Indefinitpronomen welch- bzw. welk(e)/wölk(e)/wecke etc. ist in den nördlichen Dialekten Hessens erwartungsgemäß die dominierende Ausdrucksform partitiv-anaphorischer Bezugnahme. Es tritt aber nicht nur in den niederdeutschen Varietäten Westund Ostfälisch sowie im (nördlichen) Nordhessischen zuzüglich Übergangsgebieten auf, sondern darüber hinaus – durch Standardeinfluss – über das gesamte SyHD-Gebiet verstreut. Bei der Diskussion der syntaktischen Distribution der Partitivanaphern (Abschnitt 3) zeigte sich anhand von Vorkommensrestriktionen mit verschiedenen nominalen Modifikatoren, dass es Evidenz für zwei unterschiedliche Pronominalisierungsebenen gibt: Während nl. er und hess. ere eine Kategorie pronominalisieren, die Adjektive und Komplement-PPs beinhaltet, nämlich nP, pronominalisieren nhd. welch- und bair. ein- eine Ebene, die zudem Numeralien und (schwache) Quantoren umfasst, nämlich DP. Daraus ergeben sich jedoch eine Reihe von Fragen, zu deren Beantwortung weitere Forschung nötig ist:
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Warum verhält sich md. (ə)r(ə) beim Zahlwort/Indefinitpronomen ein- und negativen Quantor kein- anders als bei höheren Zahlwörtern und schwachen Quantoren – und vor allem auch diametral entgegengesetzt zu nl. er? Worauf ist es zurückzuführen, dass das partitive/quantitative Pronomen er(e) in einigen Varietäten Belgiens und der Deutschschweiz doch (optional) mit Adjektiven kookkurrieren kann? Wie kann man erklären, dass bei den Indefinitpronomina welch- und ein- sowie – im Kontrast zu nl. er – vermutlich sogar bei hess. ere nicht nur Adjunkt-PPs, sondern auch Komplement-PPs auftreten können? Ansatzpunkte zur Beantwortung dieser Fragen wurden im Abschnitt 3.5 skizziert, müssen aber noch einer gründlichen Untersuchung unterzogen werden.
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Kasusmarkierung bei Personennamen in deutschen Regionalsprachen
1.
Einleitung
Im Beitrag wird das syntaktische Verhalten von Personennamen in den Regionalsprachen des Deutschen untersucht.1 Im Zentrum des Interesses steht die Frage, welchen Beitrag die Kasusmarkierung am Definitartikel (im Folgenden kurz »Artikel«) liefert, um die semantischen Rollen des Handlungsverursachers »Proto-Agens« (P-Agens) und des Handlungserleidenden »Proto-Patiens« (PPatiens) bei Personennamen zu kodieren und zu identifizieren.2 Sprachübergreifend gelten die (morphologische) Kasusmarkierung und die Serialisierung (und ihre Beziehungen zueinander) als besonders geeignete Kandidaten zur Form-auf-Inhalt-Abbildung für semantische Rollen (z. B. Primus 1993). In einem Spannungsfeld zwischen Kasusmorphologie und Positionsfestigkeit befindet sich das Deutsche, das zumindest in der Schriftsprache und im gesprochenen Standard semantische Rollenkodierung sowohl über Kasus (Nom. vs. Dat. und Akk. am Substantiv, Adjektiv und Pronomen) als auch über Wortstellung (präferierte P-Agens-vor-P-Patiens-Abfolge) ausdrückt. Vereinzelt anzutreffende Befunde aus der Forschung weisen jedoch darauf hin, dass für Namen-NPs besonders im Nieder- und Oberdeutschen klare Präferenzen zugunsten der einen oder anderen Alternative bestehen. So deuten erste flächendeckende Erhebungen von Bellmann (1990: 274) und Eichhoff (2000: 76) für standardnahe regionale Sprechlagen darauf hin, dass Sprecher südlicherer Sprachräume Personennamen (hier: Rufnamen) häufig mit Artikel (d. h. potentiell mit 1 Die Studie wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Projektes »Syntax hessischer Dialekte«. Für Hinweise danke ich Jürg Fleischer, Simon Kasper, Damaris Nübling, Josephine Rocholl, Jürgen Erich Schmidt und Renata Szczepaniak. Unterstützung bei der Datenaufbereitung habe ich von Katrin Kuhmichel und Stephanie Leser bekommen. 2 Die semantischen Protorollen werden in der Literatur verschieden bezeichnet und teils unterschiedlich begriffen. Vgl. dazu den Überblick in Levin / Rappaport Hovav (2005: 51–77). Die hier verwendeten Termini P-Agens und P-Patiens sind übernommen von Dowty (1991).
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Kasusmarkierung) verwenden, während der Artikel vor Personennamen im norddeutschen Raum deutlich seltener und nur in bestimmten pragmatischen und syntaktischen Kontexten verwendet wird, was eine stärkere Beschränkung der Wortfolge als formales Mittel zur semantischen Rollenkodierung nahelegt. Hierzu passen auch die Befunde von Shrier (1965), wonach Kasus im Niederdeutschen generell stärker abgebaut ist als im Mittel- und Oberdeutschen. Diese Erträge sollen im Beitrag durch eine detaillierte morpho-syntaktische Analyse erhärtet werden. Hierzu werden Daten aus einer Kompetenzerhebung mittels Fragebogen vorgestellt und interpretiert, die im Rahmen des Projektes »Syntax hessischer Dialekte« (SyHD) im gesamten Bundesland Hessen sowie punktuell in angrenzenden Bundesländern durchgeführt wurde. Es zeigt sich, dass der Artikelgebrauch bei Personennamen im Untersuchungsgebiet überwiegt. Darüber hinaus weisen die Daten Gefälle hinsichtlich der Kriterien »Arealität« und »syntaktische Position« auf, indem die artikellose Variante im Norden des Untersuchungsgebietes signifikant häufiger auftritt als im Süden und in der Position des ersten Arguments seltener als in der nachfolgenden Position. Letztgenannter Befund kann dahingehend gedeutet werden, dass Kasusmarkierung eine wesentliche (wenn auch sicher nicht die einzige) Motivation für die Artikelsetzung am Personennamen ist.
2.
Zur Syntax von Personennamen
Unter semantischen Gesichtspunkten scheint das Verhältnis des Artikels zu Personennamen denkbar einfach zu sein: Personennamen sind maximal definit, die Kookkurrenz zum (definiten) Artikel ist deshalb redundant. Vereinzelte Befunde aus der Forschung weisen jedoch darauf hin, dass das Deutsche – und insbesondere die deutschen Regionalsprachen – diesbezüglich einem komplexeren Verhältnis als vermutet unterliegt. Im Schriftdeutschen wie auch im gesprochenen Standard werden Personennamen – mit wenigen syntaktisch und pragmatisch bedingten Ausnahmen (vgl. Gallmann 1997, Duden 2009: 299–302) – obligatorisch ohne Artikel verwendet. Die folgenden Ausführungen legen deshalb nahe, hinsichtlich der semantischen Rollenkodierung für die Personennamen gegenüber den Appellativen ein eigenes grammatisches Regelsystem anzusetzen: Das Deutsche kennt grundlegend fünf verschiedene Mittel um semantische Rollen zu kodieren:3 1. Kasusmarkierung am Pronomen, am Adjektiv sowie am Substantiv, 2. Kongruenz zwischen Verb und Argument (bes. Subjekt), 3. Verwendung von Präpositionen, 4. Serialisierungs3 Ko- und Kontext tragen selbstverständlich ebenfalls zur Rollenidentifikation bei, können für die im Folgenden angestellten Überlegungen aber unberücksichtigt bleiben.
Kasusmarkierung bei Personennamen in deutschen Regionalsprachen
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präferenzen sowie 5. Plausibilität, insbes. Belebtheit.4 Die folgenden Beispiele zeigen, dass diese Kodierungsstrategien bei der Verwendung von Personennamen nur eingeschränkt genutzt werden können. (1) (2) (3) (4) (5)
Den Hund sieht die Katze. Die Amseln sieht die Elster. Die Amsel sieht auf die Elster. Die Amsel sieht die Elster. Die Kiste sieht die Elster.
Tauscht man in den Beispielen (1) bis (5) die Argumente durch artikellose Personennamen aus (z. B. in (1) den Hund und die Katze durch Peter und Hans), können sich im Vergleich zu den Appellativen in den Beispielen (1), (4) und (5) die präferierten Lesarten drehen und zwar aus folgenden Gründen: Zumindest für die Schriftsprache und den gesprochenen Standard muss bis auf weiteres von einem artikellosen Gebrauch von Personennamen als unmarkierter Konstruktion ausgegangen werden (vgl. die Diskussion in Sturm 2005: 2–5). Gleichzeitig kennen beide Sprachsysteme keine Namenflexion (mehr), weshalb eine Kasusmarkierung in der Namen-NP nur möglich ist, wenn der Artikel syntaktisch motiviert ist, also die NP z. B. ein attributiv verwendetes Adjektiv beinhaltet (vgl. dazu Gallmann 1997, Nübling u. a. 2012: 80).5 (1) und (4) wären in dieser Hinsicht formal unspezifiziert, da weder Peter noch Hans hier kasusmarkiert sind. Beispiel (5) illustriert das semantische Kriterium der Belebtheit. Die Lesart, in (5) Elster als Agens und Kiste als Patiens anzusehen, ergibt sich dabei alleine aus dem höheren Belebtheitswert, der Elster im Vergleich zu Kiste zuzuschreiben ist. Entscheidend für die Argumentation ist nun, dass Belebtheit als Faktor für die semantische Rollenidentifikation bei der Verwendung von Personennamen ebenfalls ausscheidet, da Personen immer gleich belebt sind und so identische Werte auf der Belebtheitsskala (bzw. auf allen inkludierten referentiellen Skalen, vgl. Croft 1990: 111–117) einnehmen. Selbst solche Beispiele wie in (6), in denen die Verbsemantik stereotyp ein feminines Agens evozieren sollte, lassen auch bei entsprechender Wortstellung nur sehr schwer eine Patiens-vor-Agens-Lesart zu. (6) Peter bemuttert Maria.
Die in Beispiel (2) für die semantische Rollenkodierung verantwortliche Numeruskongruenz kann schließlich ebenfalls nur bedingt zur Rollenidentifikation 4 Die Befunde von Grünloh u. a. (2011) zur Rollenidentifikation im Spracherwerb deuten darauf hin, dass Prosodie als mögliche Kodierungsstrategie ebenfalls zu berücksichtigen ist. Zumindest für eine P-Patiens-vor-P-Agens-Abfolge wie in folgendem Beispiel (5) gilt die Markierung des P-Patiens durch eine nicht-kanonische Verwendung von Prosodie (Fokussierung) als unstrittig (z. B. Lenerz 1977). 5 Über die entsprechenden historischen Distributionen, insbes. die der Namenflexion, informieren z. B. Steche (1927: 140–152) und Nübling (2012). Genitivflexion wird hier wie im Folgenden aus den Überlegungen ausgeklammert.
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bei Personennamen eingesetzt werden, da der Gebrauch von Personennamen (zumindest von Rufnamen) im Plural im Deutschen nur in ganz bestimmten, pragmatisch und semantisch lizensierten Kontexten möglich ist und deshalb nur von einer marginalen Frequenz im Auftreten von Personennamen im Plural auszugehen ist (vgl. Coseriu 1975). Als Kandidaten zur Rollenkodierung bzw. -identifikation bei Personennamen übrig bleiben die Kasusmarkierung am Pronomen, der präpositionale Kasus und die Wortstellung. Die Verwendung präpositionaler Kasus sowie die Wortstellung sollen in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht weiter behandelt werden, sie mussten aus methodischen Gründen für die Datenerhebung aber konstant gehalten bzw. im Fall des präpositionalen Kasus ausgeblendet werden. Kasusmarkierung am Pronomen kann hier auf die Markierung am Artikel beschränkt werden, da Demonstrativa als Begleiter von Personennamen im Deutschen pragmatisch sanktioniert sind (vgl. Bellmann 1990) und Interrogativpronomina als Ausdruck des Satzmodus »Frage« mitunter obligatorisch gebraucht werden müssen. Kasusmarkierung am Artikel als Ausdruck von semantischer Rollenkodierung wird in der gesprochenen Sprache besonders durch reduzierte und klitisierte Formen eingeschränkt. Diese Prozesse sind in den deutschen Regionalsprachen mitunter besonders weit vorangeschritten (vgl. Shrier 1965, Studler 2011), wie Beispiel (7) zum Nom.-Akk.-Synkretismus im Alemannischen illustriert. (7) dr Anton sieht dr Ingo.6
Treten solche Synkretismen wie in (7) auf, ist davon auszugehen, dass die semantische Rollenkodierung alleine über die Wortstellung erfolgt, da den Sprachteilnehmern keine Alternativen hinsichtlich formaler und inhaltlicher Kodierungsstrategien zur Verfügung stehen, um die semantischen Rollen zu identifizieren. Hinsichtlich der hier angestellten Überlegungen bedeutet dies, dass die Artikelsetzung alleine nur bedingt Rückschlüsse auf Strategien der semantischen Rollenkodierung zulässt, da die Kasusmarkierung (bei femininen Nomen bis in den Standard) selbst bei Artikelsetzung defizitär sein kann. Für die im Folgenden dargestellte Untersuchung bedeutet dies, dass besonders Sätze getestet wurden, in denen – durch die Verwendung von männlichen Personennamen – Nominativ und Akkusativ am Artikel für die Sprachteilnehmer formal unterscheidbar waren. Artikel als Kasusmarker zur Kompensation des Flexionsabbaus am Namen wird schon in den Grammatiken vom 18. bis frühen 20. Jahrhundert registriert 6 Das Beispiel wurde nach den Daten in Nübling (1992: 201, 205) zum Berndeutschen konstruiert.
Kasusmarkierung bei Personennamen in deutschen Regionalsprachen
203
(vgl. Adelung 1782: 512, Bauer 1828: 276, Paul 1919: 182). Bereits in der 1. Auflage der Dudengrammatik von 1937 gilt die Namenflexion bei Dativen und Akkusativen als veraltet. Lediglich im Genitiv sind die Endungen {-ens, -es, -s} noch gebräuchlich. Mögliche Motive eines Abbaus dieser früher stark ausgebauten Namenflexion sind bislang weitgehend unbekannt. Steche (1927: 143) geht davon aus, dass die Namenflexion abgebaut wurde, um die Grundform des Namens zu schützen. Ursächlich für dieses Bedürfnis sind seiner Meinung nach die seit dem Mittelalter einsetzenden Individualisierungstendenzen in der Namensgebung, die bei gleichzeitiger Verwendung von Flexionsformen die Referenzeigenschaften des Namens beschränken (vgl. zu dieser These auch Nübling/ Schmuck 2010). Paul (1917: 157) zufolge beginnen die schwachen Flexionsformen der Dative und Akkusative am Namen seit dem 18. Jahrhundert als vulgär zu gelten. Gleichzeitig kommt nach Paul (1919: 166, 182) der Artikelgebrauch auf, und zwar interessanterweise besonders dort, wo Namenflexion bereits abgebaut ist (vgl. dazu auch Adelung 1781: 94, Bauer 1828: 260). Abgesehen von der unklaren historischen Motivation für den Flexionsabbau kann so ein systemrelevanter funktionaler Zusammenhang zwischen Artikelsetzung und Namenflexion nicht bestritten werden. Hierfür spricht auch, dass die Literatur keinerlei Belege dafür liefert, wonach Personennamen gleichzeitig mit Artikel und mit Flexionsform verwendet werden oder wurden (vgl. dazu auch Hoekstra 2010: 759, 764). Dieser Befund legt nahe, zumindest für die Sprachstufen des Deutschen, in denen sowohl die Kasusmarkierung am Artikel als auch am Namen zur Verfügung standen, davon auszugehen, dass Redundanz durch die gleichzeitige Verwendung zweier Anzeiger von Definitheit (Artikel und Personenname) eher in Kauf genommen wurde als die doppelte Kasusmarkierung am Artikel und am Namen. Dieses Prinzip der Monoflexion bei Namen-NPs lässt sich noch heute bei der Flexion der Genitive beobachten, die entweder am Namen oder am Artikel, nicht aber an beiden nominalen Ausdrücken zugleich markiert werden (vgl. Nübling u. a. 2012: 68–71). Unklar bleibt, welchen syntaktischen und pragmatischen Bedingungen die Verwendung von Personennamen heute unterliegt. Hierbei rückt v. a. der Artikelgebrauch ins Zentrum des Interesses, da zu vermuten ist, dass die Opposition Artikelsetzung versus -nichtsetzung die syntaktischen und pragmatischen Eigenschaften der Personennamenverwendung im Deutschen steuert. Alle Befunde, die es zu dem Thema bislang gibt, deuten darauf hin, dass die Artikelsetzung bei Personennamen in der gesprochenen Sprache kein Sonderfall (mehr) ist, sondern dass diese gegenüber der artikellosen Variante sogar überwiegen kann (vgl. bereits Riesel 1959: 45). Inwiefern Regularitäten dahinter stehen, also die Artikelsetzung oder -nichtsetzung domänen- und varietätenspezifisch opponiert, soll im Folgenden Thema sein.
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3.
Alexander Werth
Kompetenzerhebung zur Artikelsetzung bei Personennamen
Im Rahmen des DFG-Projektes »Syntax hessischer Dialekte« (SyHD) wurde in den Jahren 2011 und 2012 eine indirekte Fragebogenerhebung zur Artikelverwendung bei Rufnamen durchgeführt.7 Befragt wurden Informanten an insgesamt 160 Orten im Bundesland Hessen sowie an 12 Orten in angrenzenden Bundesländern. Die Informanten sind typischerweise zwischen 70 und 80 Jahre alt, sie weisen in der Selbsteinschätzung eine sehr gute Dialektkompetenz auf und setzen diese Kompetenz in ihrem Sprachalltag auch um (vgl. Fleischer u. a. 2012: 7–8). Der einschlägigen Dialekteinteilung von Wiesinger (1983: Karte 47.4) zufolge deckt das Erhebungsgebiet (partiell) folgende Dialekträume ab: Zentralhessisch, Nordhessisch, Osthessisch, Rheinfränkisch, Westfälisch, Ostfälisch, Thüringisch sowie entsprechende Übergangsgebiete zwischen den Dialekträumen, wie auch punktuell Schwäbisch, Ostfränkisch, Ripuarisch und Moselfränkisch. Hinsichtlich des hier behandelten Phänomens wurden den Informanten dabei ausschließlich Bewertungsfragen gestellt, in denen sie ankreuzen sollten, ob keine, eine oder auch mehrere der vorgegebenen Varianten der eigenen, am Ort gesprochenen Variante(n) entsprechen. Zudem wurde den Informanten die Möglichkeit gegeben, eine (zusätzliche) eigene Variante zu nennen sowie die natürlichste der genannten Varianten (inkl. der eigenen) zu bestimmen. Um die entsprechende Ortsvarietät erheben zu können, wurden alle vorgegebenen Antwortmöglichkeiten dialektnah verschriftlicht.8 Ziel der Erhebung war es damit, die tiefste am Ort gesprochene Varietät zu untersuchen. Potentielle Kontexteffekte auf das Antwortverhalten der Informanten wurden vermieden bzw. phänomenspezifisch gesteuert, indem alle Fragen in spezifische Kontexte (alltagsweltliche Situationen) eingebettet waren, die der eigentlichen Frage voranstehen. Abbildung 1 zeigt diesen Fragetyp (ohne dialektnahe Verschriftung) beispielhaft für alle drei im Folgenden besprochenen Erhebungsfragen. Zur Auswahl standen hier vier Varianten, die alle Kombinationen der Artikelsetzung bzw. -nichtsetzung am Namen vorgaben. Konvergierende Evidenz für die Validität einer solchen Abfragemethode ergibt sich aus dem Gesamt der bislang erzielten Resultate in SyHD sowie aus den Befunden, die aus den Projekten »Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz« (SADS) und »Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten« (SAND) gewonnen werden konnten, die als
7 Zur Anlage und Durchführung sowie zu den forschungsrelevanten Hintergründen des Projektes s. Fleischer u. a. (2012) sowie die Internetseite http://www.syhd.info/. 8 Vgl. zu diesem Problem der indirekten Methode Fleischer u. a. (2012) und die dort genannte Literatur.
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Vorbilder für das SyHD-Projekt dienten.9 Bei den regionalen Verschriftlichungen der Antwortmöglichkeiten wurde dabei besonders darauf geachtet, dass die Kasusformen am Artikel bzw. – wenn gegeben – am Personalpronomen auch in der reduzierten oder klitisierten Form immer unterscheidbar waren bzw. in Satz (8) der Artikel am männlichen Personennamen als overter Nominativmarker für die Sprachteilnehmer formal unterscheidbar von den entsprechenden Objektkasus war. In den Verschriftlichungen wurden Synkretismen zwischen Nominativ und Akkusativ dabei lediglich im Rheinfränkischen und Osthessischen sowie in den entsprechenden Übergangsgebieten zu den Nachbarräumen vorgegeben.
Abb. 1: SyHD-Bewertungsfrage zur Artikelverwendung bei Rufnamen in transitiven Sätzen
Diese Formzusammenfälle wurden von den Gewährspersonen teilweise durch die Angabe eigener Varianten korrigiert, d. h. formal unterschieden. Entscheidend für die im Folgenden angestellten Überlegungen ist, dass die im Norden des Sprachgebiets gelegenen Erhebungsorte – sofern der Artikel überhaupt gesetzt wurde – keine solchen Synkretismen aufwiesen, also Nominativ und Akkusativ immer formal unterscheidbar waren. Nur so können überhaupt Rückschlüsse gezogen werden, wonach die Wahl an Varianten mit Artikel von Seiten der Informanten auch tatsächlich aus Gründen der Kasusmarkierung erfolgte.10 9 Siehe die auf http://www.syhd.info/, http://www.meertens.knaw.nl/sand/zoeken/ sowie http://www.ds.uzh.ch/dialektsyntax/ aufgeführte Literatur. 10 Der Sachverhalt ist diffiziler, als er hier ausgebreitet werden kann. Grundsätzlich denkbar sind auch Kodierungsstrategien, in denen bestimmte Dialekte mit Kasussynkretismen am
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Neben dieser Erhebungsfrage wurden noch zwei weitere gestellt, die die Artikelverwendung bei Rufnamen im Nominativ (entspricht hier P-Agens) bzw. Akkusativ (entspricht hier P-Patiens) testen sollten. Die gewählten Kontexte waren: (9) Sie beschweren sich über den Sohn der Nachbarin und sagen … (10) Beim Bäcker werden Sie auf einen Bekannten angesprochen, der schon lange nicht mehr im Laden war. Sie antworten daraufhin … Alle abgefragten Varianten sind in den Beispielen (8) bis (10) illustriert, wobei die eingeklammerten Elemente für die entsprechenden variablen Bestandteile stehen. (8) Aber (der) Franz hat (die) Maria doch lieb. (9) (Der) Klaus schießt immer den Ball gegen die Garage. (10) Ich habe (den) Klaus(en) gestern erst gesehen.
Anders als bei den Sätzen in (9) und (10) wurde in (8) ein Testsatz konstruiert, in dem beide Argumente durch Personennamen ausgedrückt sind. Damit sollte getestet werden, inwiefern die Anzahl der durch Personennamen ausgedrückten Argumente in einem Satz die Artikelsetzung (und damit die potentielle Kasusmarkierung) beeinflusst. Zwischen (9) und (10) variiert die semantische Protorolle, die durch einen Personennamen ausgefüllt wird. Während in (9) Klaus das P-Agens des Satzes ist, auf das das P-Patiens Ball folgt, hat Klaus in (10) die Rolle des P-Patiens inne, dem das Personalpronomen ich vorangeht, was hier – wie fürs Deutsche typisch – die Rolle des agentiven Subjekts einnimmt. Da die Befunde von Bellmann (1990: 278, 280) zudem einen häufigeren Gebrauch des Artikels bei Rufnamen im Vergleich zu anderen Namen-Typen nahelegen, wurde diese Bedingung in den Testsätzen konstant gehalten, indem an Personennamen ausschließlich Rufnamen verwendet wurden. Zu den Ergebnissen: Die Auswertungen zu den Erhebungen der drei aufgeführten Fragen sind auf den Karten 1 bis 3 (im Anhang) kartiert. Die Anzahl der Kreise entspricht der Anzahl der 172 abgefragten Orte, die Größe der Kreise steht für die Anzahl der befragten Informanten (mind. eine, max. sieben pro Ort). Differenzen in der Anzahl der Belege sind insbesondere auf Mehrfachnennungen von Varianten,11 auf nicht sachgemäße Antworten sowie auf geringe Abweichungen in der Anzahl der befragten Informanten zurückzuführen. Die Zahlen, die in der Legende jeweils in Klammern hinter den Varianten stehen, entspreArtikel funktionale Oppositionen in der Form ausgebildet haben, dass die artikellose Variante stärker oder schwächer die Wortstellung als Kodierungsmittel für semantische Rollen nutzt bzw. auf eine Desambiguierung über Kontextbezüge angewiesen ist als die Variante, in denen reduzierte Artikelformen verwendet werden. Die Erforschung solcher möglicher Oppositionsbildungen bleibt weiteren Studien vorbehalten. 11 Bei Mehrfachnennungen wurde zunächst die Variante gewertet, die vom Informanten als am natürlichsten beurteilt wurde. Erst wenn diese Information nicht zur Verfügung stand, wurde mehr als eine Variante für einen Informanten gezählt.
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chen den absoluten Belegen, die für die entsprechende Variante erzielt wurden. Tabelle 1 weist die relativen Häufigkeiten (in Prozent) der von den Informanten gewählten Varianten für die drei Testsätze aus. Variante der/die der/ø
Satz 8 (der Franz/ die Maria) 75 % 14 %
ø/die ø/ø N
5% 6% 692
Variante der ø
N
Satz 9 (der Klaus) 82 % 18 %
Variante den Ø
Satz 10 (den Klaus) 77 % 17 %
705
-en den/-en N
1% 5% 732
Tab. 1: Relative Häufigkeiten der abgefragten Varianten in Prozent (gerundet)
Es zeigt sich, dass die Variante »Personenname mit Artikel« im Erhebungsgebiet mit durchschnittlich 79 Prozent gegenüber den anderen Varianten deutlich überwiegt. Hinzu kommen für Satz (8) 19 Prozent Belege, in denen zumindest einer der beiden Personennamen durch einen Artikel begleitet wird. Betrachtet man alle drei Karten zusammen, fällt besonders auf, dass keiner der 172 abgefragten Orte ausschließlich den Personennamen ohne Artikel verwendet. Selbst für die Orte, die bereits im Niederdeutschen liegen, sind zumindest auf einer der drei Karten immer auch Nennungen der Varianten mit Artikel belegt. Umgekehrt gibt es in allen Teilen Hessens (mit einer deutlichen Zunahme in Richtung Süden) Orte, in denen ausschließlich die Variante mit Artikel verzeichnet ist. Die geringste Frequenz und Verbreitung der artikellosen Variante ist für Satz (8) belegt. Lediglich in sechs Prozent aller Abfragen wurde die Variante gewählt, in denen beide Personennamen ohne Artikel realisiert werden, wobei wiederum kein Ort auf der Karte verzeichnet ist, in der diese Variante ausschließlich gebraucht wurde. Dies lässt sich dahingehend deuten, dass zumindest einer der beiden Personennamen eines Artikels bzw. Kasusmarkers bedarf, um die entsprechende semantische Rolle zu kodieren. Etwas überraschend ist für Satz (8) hingegen zunächst der Befund, wonach bei den Varianten mit einer Artikelsetzung zirka dreimal häufiger der Artikel im Nominativ als im Akkusativ präferiert wurde. Aufgrund der einschlägigen Literatur zur Kasusmarkierung im Deutschen wäre zu erwarten gewesen, dass eher der Personenname im Akkusativ als im Nominativ von einem Artikel als Kasusmarker begleitet worden wäre, da der Akkusativ z. B. nach Mayerthaler (1980) generell als der markiertere der beiden Kasus gilt (vgl. dazu auch Primus 1987 und Dürscheid 1999) und die Daten von Bellmann (1990: 274) zumindest darauf hindeuten, dass der Artikel häufiger in der Position des P-Patiens als P-Agens gesetzt wird. Die vorliegenden Daten lassen sich dahingehend interpretieren, dass besonders den Sprachteilnehmern im nördlichen Teil des Erhebungsgebiets die Kasusmarkierung an der ersten Argumentposition ausreicht, um beide semantischen Rollen eindeutig zu
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identifizieren. Eine solche Einfachkodierung semantischer Rollen in transitiven Konstruktionen ist plausibel nachvollziehbar auch vor dem Hintergrund zahlreicher Befunde aus der Sprachverarbeitung, in denen gezeigt werden konnte, dass Sprachteilnehmer präferiert eine frühe overte Kasusmarkierung zur Identifikation semantischer Rollen nutzen (z. B. Schlesewsky 1997, Bader/Bayer 2006). Hinzu kommt, dass die Kasusmarkierung an der zweiten Argumentposition hier gar nicht erfolgen kann, da die Nom.-Akk.-Distinktion am Artikel bei femininen (und neutralen) Nomen im Deutschen vollständig abgebaut ist. Der Befund, wonach der Artikel präferiert an der Argumentposition gesetzt wird, die durch den Artikel überhaupt eine semantische Rollenunterscheidung zulässt, spricht so dafür, die Artikelverwendung bei Personennamen hier auf Gründe der Kasusdifferenzierung und damit der semantischen Rollenunterscheidung zurückzuführen. Unwahrscheinlich ist dagegen die Interpretation, wonach die geringere Verwendung des Artikels bei Maria auf den femininen Namen zurückzuführen ist. Präferierte artikellose Varianten aus Gründen der Höflichkeit bzw. des Respekts bei weiblichen Personennamen würde areale Differenzen in der Verteilung wie die vorliegenden unwahrscheinlich machen, zumal z. B. die Karte von Eichhoff (2000: 76) das hier festgestellte Süd-Nord-Gefälle in der Artikelsetzung auch für weibliche Rufnamen belegt und auch die Befunde von Bellmann (1990: 21) zum Korrekturverhalten bei der Verwendung von der bzw. die als Ausdruck pronominaler Referenz deuten darauf hin, dass der Artikelgebrauch bei Personennamen unabhängig vom Geschlecht gleich stark (bzw. im Erhebungsgebiet gleich gering) sanktioniert wird. Karte 2 und 3 weisen dagegen nach, dass die Kasusmarkierung am Namen prinzipiell unabhängig von der semantischen Protorolle erfolgt. Das P-Agens Klaus in (9) wird durchschnittlich ebenso häufig mit Artikel verwendet wie das PPatiens Klaus in (10). Wichtig scheint den Sprachteilnehmern dabei zu sein, dass die semantische Rolle überhaupt kasusmarkiert wird. In welchem Kasus (Nom. od. Akk.) bzw. in welcher semantischen Rolle (P-Agens od. P-Patiens) der Personenname steht, ist dagegen hier nur von sekundärer Relevanz. Gegenüber den Befunden von Bellmann (1990: 274, 276), wonach der Artikel besonders dann gesetzt wird, wenn der besprochene Referent in einem negativen Kontext steht, überrascht dieser Vergleich insofern, als durch den denunzierenden Kontext bei (9) zu erwarten gewesen wäre, dass der Artikel dort häufiger Verwendung findet als in (10). An dieser Stelle sind Folgestudien anzustreben, die – über die Kompetenzerhebung mittels Fragebogen hinausgehend – möglichen pragmatischen Bedingungen der Artikelsetzung beim Personennamen nachgehen. Über das angesprochene Süd-Nord-Gefälle der Artikelsetzung hinaus lassen sich auf den Karten nur schwer syntaktische Areale voneinander abgrenzen. Den deutlichsten Befund liefert noch Karte 1, wo die Artikellosigkeit bei beiden Namen – mit ganz wenigen Ausnahmen im Zentralhessischen – nur für Infor-
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manten belegt ist, die an den nördlichen Grenzen des Bundeslandes, d. h. im Niederdeutschen, in Teilen des Nordhessischen sowie in den Übergangsgebieten zum Ostmitteldeutschen beheimatet sind. Die beiden anderen Karten weisen diesbezüglich wiederum lediglich graduelle Effekte auf, wobei besonders für das Areal ganz im Süden des Erhebungsgebiets Artikellosigkeit äußerst selten und dann auch eher für das P-Patiens als für das P-Agens belegt ist. Solche graduellen Effekte in der arealen Ausprägung und dabei insbesondere ein Süd-Nord-Gefälle in der Verteilung scheinen nicht untypisch für syntaktische Phänomene im Untersuchungsgebiet zu sein, sie sind nach der Karte in Fleischer u. a. (2012: 41) z. B. auch für das kriegen-Passiv belegt. Die Erhebungen zu den zwölf außerhessischen Orten spiegeln dieses Gefälle exemplarisch wider. So sind selbst für die im Rheinfränkischen bzw. Ost- und Westfälischen gelegenen Erhebungsorte immer auch Varianten belegt, die der jeweils dominanten Variante widersprechen. Umgekehrt darf dieser Befund nicht dahingehend gedeutet werden, dass die häufigere Verwendung artikelloser Varianten im Norden auf einen generell größeren standardsprachlichen Einfluss oder eine geringere Dialektkompetenz zurückzuführen wäre. Hierfür spricht z. B. eine SyHD-Karte zum Personalpronomen 3. Pers. Sing. Fem. in der Referenz auf weibliche Personen, das im südlichen Teil des Erhebungsgebiets standardkonform feminin realisiert wird, im nördlichen Teil dagegen weit verbreitet als Neutrum. Die gefundenen graduellen statt diskreten Effekte in der arealen Ausprägung des Phänomens passen ebenfalls in das Bild, das Seiler (2005) für finale Infinitivanschlüsse im Oberdeutschen skizziert und mit dem Konzept der »schiefen Ebene« fasst. Graduelle Effekte zwischen Arealen sind demnach typisch für syntaktische Phänomene und lassen sich auf den Dimensionen der Ortsdichte, der Häufigkeit von Varianten pro Ort, der Präferenz und der syntaktischen Kontexte darstellen.12 Karte 3 weist schließlich nach, dass die Flexion am Personennamen im Erhebungsgebiet auch in der Kompetenz der Informanten vollständig abgebaut ist.13 Lediglich in knapp sechs Prozent aller Belege wurde eine Variante mit Namenflexion gewählt. Dabei ist insbesondere die Variante mit Artikel und mit Namenflexion als Erhebungsfehler einzuschätzen, da diese Variante in der einschlägigen Literatur (s. Kap. 2) überhaupt nicht belegt ist und die wenigen Belege in Karte 3 zudem ohne erkennbares areales Muster zwischen den Ortspunkten variieren.
12 Leser (2012: 88, 97) zufolge weisen bestimmte Pronominaladverbien im Untersuchungsgebiet dagegen eine areale Verteilung auf, die weder strikt kontinuierlich noch diskret ist. 13 Namenflexion beim Dativ in Hessen ist z. B. noch bei Alles (1907: 13) fürs Schlitzerland und Schoof (1914: 12) für die Schwalm verzeichnet.
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4.
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Diskussion
Zusammenfassend stützen die vorliegenden Ergebnisse die Befunde von Bellmann (1990) und Eichhoff (2000), wonach der Artikel bei Rufnamen im Westmitteldeutschen überwiegend verwendet wird. Anders als in den beiden genannten Studien, die besonders auf standardnähere Sprechlagen abzielten, konnte diese Dominanz hier erstmals für regionale Sprechlagen nachgewiesen werden, die im Dialekt bzw. nahe am Dialekt zu verorten sind. Die Daten sind damit vergleichbar mit denen in Bucheli Berger (2006) und Glaser (2008), die aufgrund der SADS-Erhebung die areale Verteilung des Artikels bei Rufnamen im schweizerdeutschen Raum darstellen und ebenfalls eine dominante Variante mit Artikel (dort aber mit einem leichten Nord-Süd-Gefälle mit mehr artikellosen Belegen im Süden) bei geringer Variation zwischen den Informanten am Ort feststellen konnten. Zentraler Befund dieser Erhebung ist, dass die Sprecher den Artikel bei Rufnamen nicht diskret setzen oder nicht setzen, sondern dass sie im Artikelgebrauch variieren. So lassen sich sowohl hinsichtlich der arealen Verteilung als auch der spezifischen syntaktischen Konstruktionen lediglich graduelle Tendenzen dahingehend nachweisen, dass 1. Sprecher in den südlicheren Arealen des Erhebungsgebiets häufiger den Artikel verwenden als in den nördlicheren und 2. in transitiven Konstruktionen, in denen beide Argumente durch Personennamen ausgedrückt werden, der Artikel häufiger Verwendung findet als in Konstruktionen mit nur einem Personennamen. Folgender Gesprächsausschnitt aus dem Korpus »Regionalsprache.de« (REDE) zeigt dabei exemplarisch für einen nordhessischen Sprecher aus Homberg/Efze, dass die festgestellte Variation im Gebrauch des Artikels bei Rufnamen (RN) auch in der gesprochenen Sprache nachweisbar ist.14 Die RN kommt ja aus Fritzlar. […] RN hat ne riesen Familie, wenn die das Baby hat. […] Also RN will das schon versuchen mit dem Stillen, absolut. (Quelle: REDE-Korpus; Sprecher: HR3)
Unter dem Vorbehalt, dass die Befunde durch weitere Performanzdaten gestützt werden müssen, sprechen die vorliegenden Ergebnisse dafür, für die Artikelsetzung bei Personennamen varietätenspezifisch ausgeprägte grammatische Regelsysteme anzusetzen. Möglich sind demnach konkurrierende bzw. sich überlagernde pragmatische und syntaktische Bedingungen, die die Artikelsetzung bzw. -nichtsetzung fördern oder verhindern. Die vorliegenden Daten geben darüber bedingt Aufschluss. So weist der Gebrauch von Personennamen in denunzierendem Kontext (Satz 9) hier kein grundverschiedenes Auftreten von 14 Zu REDE siehe die auf http://www.regionalsprache.de/ aufgeführte Literatur.
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neutralen Kontexten auf. Auch die Artikelsetzung bei Personennamen im Nominativ und Akkusativ zeigt kein voneinander abweichendes Verteilungsmuster. Andererseits neigen besonders Sprachteilnehmer im Norden des Erhebungsgebiets dazu, auf den Artikel bei Personennamen zu verzichten, wenn die semantische Rollenkodierung bereits eindeutig ist. Hier wäre eine Bedingung anzusetzen, die die Doppelmarkierung von Definitheit in der NP stark beschränkt. Ohne die genauen Distributionsbedingungen des Artikels bei Personennamen zu kennen, fällt eine grundlegendere Interpretation der Verhältnisse schwer. Aufgrund der vorliegenden Daten ist zu vermuten, dass in den Dialekten des Bundeslandes Hessen hinsichtlich des Phänomens zwei konvergierende Sprachverhältnisse vorliegen: Im Süden des Areals ist der alte artikellose Zustand bereits weitgehend abgebaut.15 Die wenigen artikellosen Belege im Material können auf idiolektale Variation, standardsprachlichen Einfluss oder methodenbedingte Artefakte zurückgeführt werden.16 Der stattgefundene Sprachwandel entspricht dabei dem, den Bucheli Berger (2006: 93) aufgrund eines Vergleichs der Erhebungen des »Sprachatlas der deutschen Schweiz« (SDS) aus den 1950iger Jahren mit denen der rezenten SADS-Daten z. B. für das Berner Oberland feststellen konnte: Die artikellose Variante wurde durch die Variante mit Artikel ersetzt. Im Norden des hier betrachteten Erhebungsgebiets ist der Sprachwandel dagegen weniger weit fortgeschritten. Die Artikelsetzung variiert je nach Kontext stärker als im Süden und erfolgt besonders dann, wenn der Artikel einen funktionalen Mehrwert hat, also z. B. wie hier zur Identifikation semantischer Rollen genutzt wird. Grundsätzlich besteht für die Sprecher dieser Systeme (noch) die Tendenz, den Artikel am Personennamen nicht zu setzen, doch scheinen hier – wie für Grammatikalisierung in progress typisch (z. B. Szczepaniak 2011) – Systeme vorzuliegen, die bereits eine gewisse Variation zulassen. Es bleibt weiteren Studien vorbehalten, zu klären, welche Stadien der Grammatikalisierung sich für die Artikelsetzung dabei unterscheiden lassen und welche funktionalen Domänen in den einzelnen Sprachsystemen dabei bereits besetzt wurden. Möglicherweise sind auch feinere semantische Rollenunterscheidungen (bes. auch zu Unterscheidungen von Dat. und Akk.) vorzunehmen, als es in dieser Untersuchung möglich war. Weiterhin gilt es, den Einfluss der Wortstellung auf den Artikelgebrauch in den Blick zu nehmen. Sollte es sich 15 Da sich der Artikel im Althochdeutschen erst aus dem Demonstrativum entwickelt hat, ist die Nichtsetzung des Artikels am Namen der ältere Sprachzustand (z. B. Oubouzar 1992). Keinen Artikel bei Personennamen in Hessen belegt noch Alles (1907: 6) fürs mittelhessische Schlitzerland. 16 Methodenbedingte Artefakte – wie sie z. B. für die hier erhobene Variante »mit Artikel/mit Namenflexion« angenommen wurden (siehe Kap. 3) – können bspw. auf von Informanten falsch verstandenen Aufgaben oder irrtümlich angekreuzten Varianten beruhen. Vgl. zu den Grenzen der indirekten Erhebungsmethode in SyHD Fleischer u. a. (2012, 30–32).
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herausstellen, dass die Sprachsysteme, die die Artikelsetzung am Namen vermeiden, tatsächlich eine andere Serialisierung von Argumenten präferieren als die, die das nicht tun, wäre ein weiterer Schritt zur Beschreibung des grammatischen Regelsystems von Namen wie auch zu Serialisierungseigenschaften deutscher Regionalsprachen vollzogen.
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Karte 1: Ergebnisse zur Artikelverwendung bei Rufnamen (Testsatz 8)
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Karte 2: Ergebnisse zur Artikelverwendung bei Rufnamen (Testsatz 9)
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Karte 3: Ergebnisse zur Artikelverwendung bei Rufnamen (Testsatz 10)
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Ludwig Maximilian Breuer
Methoden städtischer Regionalsprachenforschung: Wiener Variation des Relativsatzanschlusses im Online-Fragebogen
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Einleitung
Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Problemfeld der (oberflächen-) syntaktischen Variation des Relativsatzanschlusses im Wienerischen, wobei sowohl standardferne als auch standardnahe Sprechlagen berücksichtigt werden, die in Form eines Online-Fragebogen elizitiert und erhoben worden sind. Der Fokus liegt dabei auf der Darstellung der verwendeten Methode und der Auswertung der Ergebnisse. ›Wienerisch‹ bezeichnet im vorliegenden Artikel alle gesprochenen und geschriebenen deutschsprachigen Varietäten, die im Ballungsraum Wien prototypisch verwendet werden; die Konzentration des Artikels liegt allerdings auf der gesprochenen Sprache in Wien. Die Variation in Wien sowie der Untersuchungsraum selbst werden unter 2 besprochen. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die Variable des (restriktiven und appositiven, aber nicht (teil-)freien) Relativsatzanschlusses – vereinfacht dargestellt – durch zwei Varianten bei Relativsätzen, deren semantische Leerstelle ein Subjekt, direktes oder indirektes Objekt darstellt, (wobei nur Relativsatzanschlüsse in Subjektsposition betrachtet werden1) realisiert werden kann: 1. Eine ›standardnahe‹ Variante, in der, wie dies auch normiert ist, die Einleiterposition prototypisch durch ein einziges Element und zwar ein Relativpronomen besetzt wird. 2. Eine ›bairische‹ bzw. ›dialektnahe‹ Variante, in der die Einleiterposition prototypisch durch zwei Elemente und zwar ein Relativpronomen und eine ›Relativpartikel‹2 besetzt wird.
1 Warum genau diese Position betrachtet wird, wird in Kapitel 3.1 erläutert. 2 Der Status des in bairischen Dialekten hierfür verwendeten wo bzw. – und insbesondere in Österreich – was als ›Relativpartikel‹ ist m. E. noch nicht hinreichend beschrieben (s. 3). Statt ›Relativpartikel‹ kann auch von einem »Relativsatz-Komplementierer« (Weiß 2013: 780) gesprochen werden.
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Ludwig Maximilian Breuer
Eine genauere Beschreibung dieser Variable wird unter 3 geboten, wobei auch andere Formen des Relativsatzanschlusses, resp. der Funktion der entsprechenden Relativsätze, diskutiert werden. Im Anschluss an die Beschreibung der Variable werden unter 4 Ergebnisse eines Online-Fragebogens zur syntaktischen Variation in Wien präsentiert und analysiert; die Analysen werden unter 5 resümiert, worin auch weitere Forschungsfragen zur Anknüpfung geboten werden. Die in diesem Artikel aufgeworfenen Fragen und Ansätze stehen im größeren Zusammenhang eines derzeit an der Universität Wien von mir durchgeführten (Dissertations-)Projekts (s. Breuer 2015), das vorwiegend auf Theorien der modernen Sprachdynamikforschung (vgl. Schmidt / Herrgen 2011), der Stadtsprachenforschung (vgl. Löffler 2010), aber auch der Pragmatik sowie Ansätzen aus der Soziosemiotik nach Glauninger (s. 2012) beruht. Somit stehen Fragen der Variation eher im Vordergrund als syntaktische Probleme – welche hier viel mehr als Mittel zum Zweck dienen sollen, die Variation in Wien zu beschreiben. Dabei werden verschiedene Methoden verwendet, die sinnvoll zur Erhebung syntaktischer Variation erscheinen. (Vgl. Kallenborn 2011.)
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Variation in Wien
Der urbane Ballungsraum Wien stand und steht als zweitgrößte Agglomeration des deutschsprachigen Raumes selbstverständlich häufig im Fokus linguistischer Untersuchungen, wobei dennoch eine »umfassende Stadtsprachenuntersuchung, die alle nebeneinander existierenden Varietäten und Fremdsprachen berücksichtigt« (Tatzreiter 2002: 128) fehlt.3 Dieses Unterfangen stellt eine große und vielleicht kaum zu meisternde Herausforderung dar, da sich Wien aufgrund »einer Reihe von – zum Teil weit in die Geschichte zurückreichenden – Faktoren […] als ein besonders schillernder sprachlicher Lebensraum« (Breuer / Glauninger 2012: 2) erweist. Insbesondere erstrebenswert erscheint eine Betrachtung des stadtsprachlichen »Neben- und Miteinander der Varietäten« (Tatzreiter 2002: 128), weshalb dies in der vorliegenden Untersuchung – aber selbstverständlich auch im Projekt, in die diese eingebettet ist – im Vordergrund stehen soll. Als Systemebene, die näher betrachtet wird, wurde aus mehreren Gründen die Syntax gewählt. Zunächst einmal stellt die Dialektsyntax ein For3 Leider können auch in diesem Unterfangen fremdsprachliche Varietäten nicht berücksichtigt werden, da hierfür nicht nur die Basis der Variation des Deutschen nicht genügend beschrieben ist, sondern eben auch jene anderer Sprachen. Hinzu kommt die große Anzahl: Allein an den Wiener Volksschulen können über hundert verschiedene Familiensprachen festgestellt werden. (Vgl. Hufnagl / Brizic´ 2011: 5.)
Methoden städtischer Regionalsprachenforschung
221
schungsdesiderat dar, das inzwischen zwar kein »Stiefkind der germanistischen Mundartforschung« (Patocka 1997: 22) mehr ist – wie diverse (Groß-)Projekte zur Dialektsyntax belegen (z. B. »Syntaktischer Atlas der deutschen Schweiz« (SADS)4, »Syntax Hessischer Dialekte« (SyHD)5 sowie »Syntax des Alemannischen« (SynAlm)6) –, die regionalsprachliche Syntax, d. h. auch die syntaktische Variation, dagegen immer noch.7 Insbesondere für Wien liegen kaum linguistische Analysen der (Dialekt- bzw. Regionalsprachen-)Syntax vor.8 Somit erweist sich die Syntax des Wienerischen nicht nur als spannendes, sondern vor allem auch als notwendiges Untersuchungsfeld.9 Entscheidend für die vorliegende Untersuchung bzw. die durchgeführte Online-Erhebung sind vor allem folgende Bedingungen des Untersuchungsraums. Zunächst muss festgehalten werden, dass Wien im ost-mittelbairischen Dialektraum liegt. Somit kann von einem ›Wiener Dialekt‹ gesprochen werden, dessen Syntax folglich der bairischen zuzurechnen ist. ›Wiener Dialekt‹ wird in der vorliegenden Untersuchung als Variationspol aufgefasst, an dessen gegenüberliegenden Seite die (deutsche) ›Standardsprache‹ steht. Alle Varietäten oder Sprechlagen, die zwischen diesen beiden Polen liegen und in Wien üblicherweise Verwendung finden bzw. prototypisch mit Wien in Verbindung gebracht werden, werden hier als ›Wienerisch‹ bezeichnet. Hierbei werden »Varietäten« verstanden »als partiell systemisch differente Ausschnitte des komplexen Gesamtsystems Einzelsprache« (Schmidt / Herrgen 2011: 51). Varietäten werden also bestimmt durch ihre Systematizität. Sprechlagen dagegen werden aufgefasst als »Verdichtungsbereiche variativer Sprachverwendung« (Schmidt / Herrgen 2011: 52). Es handelt sich also bei Sprechlagen um stilistische, in bestimmten sozialen Kontexten konventionalisierte Sprachverwendungsweisen innerhalb ein und derselben Varietät. (Vgl. Lenz 2003: 250–251.) SprachteilnehmerInnen sind also in der Lage, innerhalb einer Varietät zwischen verschiedenen Sprechlagen zu shiften (= Wechsel zwischen Sprechlagen), ohne dass dabei ein systemischer Unterschied festzustellen ist; dagegen haben nicht alle SprachteilnehmerInnen die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Varietäten zu switchen (= Wechsel zwischen Varietäten), da in ihrem sprachlichen Repertoire möglicherweise nur eine Varietät zur Verfügung steht. SprecherInnen können somit mono4 5 6 7
SADS: http://www.ds.uzh.ch/dialektsyntax/index.html. SyHD: http://www.syhd.info/. SynAlm: http://ling.uni-konstanz.de/pages/home/synalm/index.html. Als Ausnahme dazu sei das Projekt von Tim Kallenborn genannt, in welchem die regionalsprachliche Syntax des Moselfränkischen untersucht wird. (Z. B. Kallenborn 2011.) 8 Einzeluntersuchungen bieten z. B. Glauninger 2008, 2011 sowie Patocka 1997 mit zwei Gewährspersonen aus Wien. 9 Genaueres zum Forschungsstand s. Breuer (2015).
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Ludwig Maximilian Breuer
oder bivarietär sein, was stark davon abhängig ist, in welchem Dialektraum sie sprachlich sozialisiert worden sind. Hierbei darf allerdings nicht vergessen werden, dass mehr Faktoren als nur die (areale) Herkunft bei der Ausprägung verschiedener Varietäten während des Spracherwerbs eine Rolle spielen. Dies sind unter anderem das Alter oder auch die soziale Herkunft, aber auch individuelle Bedingungen. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass Menschen, die in einem Dialektraum aufwachsen, in dem der Dialekt selbst eine große alltagssprachliche Rolle spielt, tendenziell eher bivarietär sind/werden, als jene, die in einem anderen Dialektraum aufwachsen, in welchem der Dialekt nur noch marginal Anwendung findet, wobei angenommen wird, dass die Oralisierungsnorm der (deutschen) Standardsprache (vgl. Schmidt / Herrgen 2011: 66) der entsprechenden Region stets als eine Varietät erworben wird.10 Die Frage, die sich nun stellt, ist, welche Variationsstruktur bzw. -situation in Wien vorherrscht. Unklar ist, ob im oben beschriebenen Sinne zwei Varietäten (›intendierter Dialekt‹ vs. ›intendierter Standard‹) mit einer systemisch differenzierbaren Grenze vorliegen, oder eine Varietät deren Sprechlagenkontinuum sich entsprechenden Polen annähert, d. h. deren Sprechlagen ›standardnah‹ oder ›dialektnah‹ (bzw. ›standardfern‹) konventionalisiert sind. Auch die Bedingungen, welche Varietätenswitching bzw. Sprechlagenshifting hervorrufen (z. B. regionale, soziale oder situativ-kommunikative Faktoren), sind nicht hinreichend untersucht. Eine genauere Beschreibung der Forschungslage liefert Breuer (2015), im Folgenden soll für die Untersuchung davon ausgegangen werden, dass zwei Varietäten in der (zumindest passiven) Kompetenz der WienerInnen vorliegen. Die Varietäten sowie deren Sprechlagen werden mit situativ-kommunikativen Faktoren assoziiert, womit das Switching bzw. Shifting durch diese Faktoren hervorgerufen werden kann bzw. vice versa diese eine Veränderung der Situation hervorrufen können. Im Gegensatz zu anderen Untersuchungen, die varietätenspezifische Varianten in Wien (bzw. Österreich) eher sozialen Gruppen (bzw. »Schichten«) zuordnen (wie z. B. Moosmüller 1987, 1991), soll hier die situationsspezifische Variation untersucht werden. Der Konventionalisierungsgrad von (auch syntaktischen) Varianten zu bestimmten Sprechlagen muss dabei so hoch sein, dass er in einer relativ artifiziellen Erhebung – wie das beim OnlineFragebogen der Fall ist – Variation entsprechend auslösen kann, was im vorliegenden Artikel anhand der Variable des Relativsatzanschlusses gezeigt werden soll.
10 Empirische Evidenz dafür zeigt sich auch bei van Eynde / Hellan / Beermann (s. 2002: 246–250), wobei, wie zu erwarten, kein Sprachvariationstyp innerhalb eines rein dialektalen Substandards auftritt.
Methoden städtischer Regionalsprachenforschung
3
Variable des Relativsatzanschlusses in Subjektsposition
3.1
Grundlagen
223
In diesem Abschnitt wird die Variable des Relativsatzanschlusses für die anschließende Analyse näher beschrieben. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die oben genannten Varianten der einfachen bzw. doppelten Besetzung der Subjektsposition gelegt, aber auch darauf, welche Elemente (Relativpronomen vs. Relativpartikel) überhaupt in dieser Position stehen können. Für diese Erhebung wurde zunächst nur die in der (traditionellen) Literatur häufig (z. B. Weiß 1998) betrachtete Subjektsposition ausgewählt, um einerseits die Methode zu überprüfen und andererseits diesen »Default-Fall«11 des Relativsatzanschlusses auf die Variationsergiebigkeit hin zu testen. Eine Einbindung anderer Positionen hätte außerdem – zusammen mit den situativen Veränderungen im Kontext – zu viele Erhebungsvariablen geschaffen, was wenig sinnvoll erscheint, wenn man erste Grundlagen erheben möchte. Der Fokus liegt also auf der syntaktischen Funktion des Subjekts eines Relativsatzanschlusses. Diese Funktion wird nicht vom Matrix-, sondern vom Relativsatz vorgegeben. Außerdem werden ausschließlich postnominale Relativsatzanschlüsse betrachtet.12 Die Ergebnisse (s. 4.2) werden zeigen, dass trotz der Artifizialität des OnlineFragebogens situationsspezifische Variation zu erkennen ist. Weitere syntaktische Positionen werden in folgenden Untersuchungen (anhand von OnlineFragebögen und der Auswertung gesprochensprachlicher Korpora) erhoben und/oder analysiert. Unabhängig von der Varietät werden Relativsyntagmen zur Einbindung sachverhaltsbezogener bzw. propositionaler Informationen, welche ein nominales Charakteristikum näher beschreiben bzw. eingrenzen können, gebildet. (Vgl. Zifonun 2001: 9.) Prototypische Relativsyntagmen, welche im vorliegenden Beitrag betrachtet werden, müssen nach Zifonun (2001: 17) folgende Bedingungen erfüllen: 1. Relativsyntagmen sind subordinierte Strukturen, die eine finite oder nichtfinite Verbform als Kopf enthalten und die einen Gegenstand (beliebiger Art) im Rahmen eines Sachverhaltsentwurfs charakterisieren. 2. Relativsyntagmen sind über eine semantische Leerstelle mit einer anderen Konstruktion verknüpft. 11 In einer für das Dissertationsprojekt durchgeführten Korpusanalyse ist dies mit über 50 Prozent der Belege die am häufigsten realisierte Position. 12 Nicht nur weil ausnahmslos solche im Fragebogen abgefragt worden sind, sondern auch weil für das Standarddeutsche folgendes postuliert wird: »Das Deutsche verfügt ausschließlich über postnominale RS mit einleitendem Subordinator.« (Zifonun 2001: 72.)
224
Ludwig Maximilian Breuer
3. Die Konstruktion, mit der die subordinierte Struktur semantisch verknüpft ist, drückt ein nominales Charakteristikum aus. Somit werden sowohl freie Relativsätze (erfüllen nur Bedingung 1) als auch weiterführende Relativsätze (erfüllen Bedingung 1 und 2) aus der vorliegenden Untersuchung ausgeschlossen. Zur Subordination in Relativsyntagmen werden in den meisten deutschen Varietäten13 zwei Strategien verwendet: 1. Die Subordination wird durch einen Marker in der Einleitungsposition (= Relativsatzanschluss) indiziert. 2. Die Subordination wird außerdem durch die V – Letzt-Stellung im Relativsatz angezeigt. Nur in sehr wenigen Varietäten wird eine der beiden Strategien nicht angewendet.14 Bei der Auslassung der 2. Strategie ist allerdings strittig, ob überhaupt von einem Relativsatz gesprochen werden kann.15 Für standardnahe gesprochene Sprachen wird das zumindest häufig ausgeschlossen. (Vgl. Zifonun 2001: 79–83.) Für den Relativsatzanschluss stehen verschiedenen deutschen Varietäten unterschiedliche Elemente zur Verfügung, im Folgenden soll dabei nur auf das (gesprochene) Standarddeutsche und das Bairische eingegangen werden.
3.2
Standarddeutsch
Für das Standarddeutsche stehen als primäre Elemente (in der Subjektsposition) die D-Relativpronomen der, die, das zur Verfügung. Diese übernehmen dabei eine doppelte Funktion: Neben ihrer subordinierenden Funktion stellen sie gleichzeitig das Argument des Verbs im Relativsatz dar.16 Darüber hinaus stimmen sie aber auch in Person und Genus mit ihrem Referenznomen überein, und stellen somit die Referenz zum Matrixsatz sehr explizit her. Sie sind also flektierte und genusdifferenzierte Marker. (Vgl. Fleischer 2004: 64.) In die 13 Zu Relativsätzen in deutschen Varietäten allgemein s. Weiß (2013: 780–782). 14 Eine Ausnahme zu beiden Strategien, d. h. das Besetzen des Relativsatzanschlusses durch kein overtes Element bei gleichzeitiger Stellung des finiten Verbs nach dem Subjekt, nennt Fleischer (vgl. 2004: 78–79) mit dem Nordniederdeutsch-Schleswigschen. 15 Stichhaltige syntaktische Argumente dagegen liefert: Gärtner (2001). 16 »A relative pronoun has a dual function, since it is at the same time an argument of its verb and a subordinating element. Many languages have different means to express these two functions, pronouns for the argument function and separate relative particles which have only a subordinating function. » (Pittner 1995: 217.) S. dazu auch 3.3.
Methoden städtischer Regionalsprachenforschung
225
gleiche Kategorie würden die Relativpronomen welcher, welche, welches fallen, deren Anwendung im gesprochenen Standarddeutsch allerdings sehr marginal ist und vernachlässigt werden kann. (Vgl. Fleischer 2004: 80.)17 In spezieller Anwendung kann überdies was (und zwar genusdifferenziert18) als Relativpronomen im Standarddeutschen für Bezüge zu bestimmten Neutrum-Nomina eine alternative Form zu das darstellen. Die Duden-Grammatik (vgl. DUDEN 2009: 1032) gibt dabei einige Regeln zur Entscheidungshilfe, wann welche Form eingesetzt wird, an; z. B. wird demnach was verwendet, wenn das Bezugswort etwas ist (wie in Bsp. (1)) oder auch, wenn es sich auf einen substantivierten Superlativ bezieht (Bsp. (2)): (1) Sie hat ihm etwas geschenkt, was er wirklich brauchen kann. (Duden 2009: 1031) (2) Das ist das Schönste, was ich je erlebt habe. (Duden 2009: 1032)
Ob diese Unterscheidung von das und was allerdings in gesprochenen Standardvarietäten des Deutschen überhaupt zum Tragen kommt, ist fraglich und sollte näher untersucht werden.19 Unabhängig davon, ob die genannte Distribution von das und was im gesprochenen Standarddeutschen überhaupt relevant ist, wird für (gesprochene) Standardvarietäten des Deutschen folgendes angenommen: »Das Deutsche kennt standardsprachlich keine Relativpartikel […]. Standardsprachlich wird also in allen nicht-adverbialen Funktionen ein Relativpronomen gebraucht […].« (Zifonun 2001: 73.) Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass was in gesprochenen Standardvarietäten des Deutschen nur mit das variiert. Natürlich bleibt dabei offen, wie die Verteilung von das und was in diesen Varietäten dann tatsächlich ist, wobei für die vorliegende Untersuchung nur entscheidend ist, dass diese Variante für das Standarddeutsche (als einfach gefüllter Relativsatzanschluss) besteht 17 Neben dieser Kategorie werden dem Standarddeutschen überdies in der Subjektsposition noch die Pronominaladverbien (woran, wovon, etc.) bei unbelebten Referenten (vgl. Fleischer 2010: 152) sowie die Relativadverbien für Bezüge auf ›Ort‹ (wo), ›Art und Weise‹ (wie) und ›Grund‹ (warum) attestiert. Dabei gilt für wo auch die Ausdehnung auf zeitliche Bezüge als grammatisch. (Vgl. Zifonun 2001: 78.) Abgesehen von wo, da dieses für den doppelten Relativsatzanschluss relevant ist, werden diese aber in diesem Beitrag vernachlässigt. 18 Fleischer (s. 2004: 64) weist darauf hin, dass es auch als nicht-genusdifferenziertes Relativpronomen in manchen Varietäten des Deutschen auftritt, in diesem Beitrag soll aber gerade die Übereinstimmung des Relativpronomens mit Person und Genus zum Bezugswort als Bedingung für die Definition eines echten Relativpronomens herangezogen werden. Elemente, die diese Übereinstimmung nicht erfüllen, werden dagegen als Relativpartikel betrachtet, außer es handelt sich um Relativadverbien, die durch ihren räumliche, zeitlichen o. a. Bezug eine spezielle Funktion übernehmen. 19 Für dialektale Varietäten kann der Einsatz von was in verschiedene Subtypen eingeteilt werden, wie Fleischer (vgl. 2004: 72–70) zeigt. Bei den verschiedenen Subtypen kommt es darauf an, ob was noch als Relativpronomen gewertet werden kann, oder eben als Relativpartikel.
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Ludwig Maximilian Breuer
– im Gegensatz dazu die Verbindung mit einem weiteren Marker (d. h. als doppelt gefüllter Relativsatzanschluss) sowie der Einsatz des was als Relativpartikel ausgeschlossen werden kann.
3.3
Bairisch
Für den Relativsatzanschluss in Subjektsposition werden in der Syntax bairischer Varietäten weitere Elemente angenommen. Für das Mittelbairische nimmt Weiß (1998: 73, Fn. 54) Folgendes an: Im Bairischen existiert mit der Partikel wo ein Marker für Relativsätze, so daß der betonte Artikel nur eine anaphorische Funktion übernehmen muß. Relativpronomen im Sinne des Hochdeutschen gibt es dagegen im Bairischen nicht.20
Dies würde bedeuten, dass im (zumindest Mittel-)Bairischen doppelt gefüllte Relativsatzanschlüsse existieren, in denen die anaphorische Funktion, d. h. der Bezug zum Referenznomen, durch das ›Relativpronomen‹ übernommen, dagegen die Subordination durch eine Relativpartikel (z. B. wo) ausgedrückt werden würde, wie in: (3) an Sepp, dea wo grod hoam kema is, hed boid da Schlog troffa (Weiß 1998: 72) (4) de Buaa, dea wo gesdan s’Hai nimma hoam brood hod, … (Weiß 1998: 72)
Somit wird die unter 3.2 genannte Doppelfunktion des Pronomens in bairischen Dialekten nicht angenommen, da »Relativpronomen nun nicht mehr Relativsätze einleiten, weil diese Funktion von einer speziellen Konjunktion [hier: ›Relativpartikel‹, Anm. LMB] übernommen wird.« (Weiß 2004: 31.) Außerdem werden dem Bairischen auch einfach gefüllte Relativsatzanschlüsse und somit oberflächensyntaktisch21 gewöhnliche Relativpronomen attestiert: (5)
den Mo, den wo’e/den’e troffa hob (Weiß 1998: 96)
Prinzipiell kann davon ausgegangen werden, dass zumindest der, die, das als Relativpronomen in bairischen Varietäten vorliegen, und diese – je nach Region –22 mit 20 Weiß (2013) spricht inzwischen (vgl. Fn. 2) – wie andere generative Arbeiten – generell von Komplementierern. 21 In der Tiefenstruktur kann davon ausgegangen werden, dass die Relativpartikel noch covert vorhanden ist; zumindest eben für SprecherInnen, die den doppelt gefüllten Relativsatzanschluss realisieren können. 22 Die Unterscheidung der Relativpartikeln wo und was ist m. E. in der Forschung etwas vernachlässigt worden, da diese als gleichberechtigte regionale Varianten nebeneinander gestellt werden – dabei ist unklar, ob deren Status und Einsatz tatsächlich gleichwertig sind. Immerhin ist zu unterscheiden, dass die Varianten unterschiedliche Homonyme mit unterschiedlicher Verwendung im Standarddeutschen aufweisen. (Vgl. Fn. 17.)
Methoden städtischer Regionalsprachenforschung
227
einer Relativpartikel wo23 oder was24 kombiniert werden können.25 Für das Wienerische wird in diesem Beitrag davon ausgegangen, dass was die bevorzugte Relativpartikel ist, was sich einerseits aus einer Korpus-Analyse (auf die nicht weiter eingegangen werden kann) von spontansprachlichen Daten innerhalb des Dissertationsprojektes ergibt, aber auch andererseits aus der Analyse des Fragebogens (s. u.).26 Beispiele für was als Relativpartikel wären: (6) de Leid, de was vui Geid hobm (Pittner 1995: 212) (7) de Leid, was vui Geid hobm (angepasst nach Pittner 1995: 212)
Jedenfalls können folgende Formen des Relativsatzanschlusses in der Oberflächenstruktur für das Bairische festgehalten werden (angepasst nach Pittner 1995: 214): 1. Doppelt gefüllter Relativsatzanschluss, d. h. doppelte Markierung durch Relativpronomen (anaphorische Markierung zum Matrixsatz, Argument des Verbs) sowie Relativpartikel (Markierung der Subordination) 2. Einfach gefüllter Relativsatzanschluss mit Relativpartikel, d. h. ausschließlich Markierung der Subordination 3. Einfach gefüllter Relativsatzanschluss mit Relativpronomen, d. h. einfache Markierung durch Relativpronomen (anaphorische Markierung) Wann welche Form des Relativsatzanschlusses in den bairischen Varietäten auftritt, ist unklar und wird unterschiedlich beschrieben. Sicherlich gibt es hierbei auch regionale Unterschiede. Da ausschließlich die Subjektsposition betrachtet wird, muss nicht näher auf die Accessibility-Hierarchy (oder Zugänglichkeitshierarchie) nach Keenan / Comrie (1977) eingegangen werden, wobei dennoch darauf hingewiesen werden muss, dass die Wahl der Form von der Position abhängig sein könnte. In diesem Sinne ist es gut vorstellbar, dass die ausschließliche Markierung der Subordination durch eine Relativpartikel besonders häufig bei höheren Relationen auf der Hierarchie (wie die Subjektsposition) auftritt.27 23 wo ist die für das von Weiß v. a. untersuchte Mittelbairische des Bayerischen Waldes (s. Bsp. oben bzw. Weiß 1998: 73, Fn. 54) primäre Relativpartikel. 24 Für das Nordbairische belegt das z. B. Fleischer (2004: 65 und 72). 25 Dies wird häufig bestätigt, z. B.: »The main difference with regard to relative clauses is that Bavarian has relative particles that may be added to a relative pronoun. These particles are wo or, in some areas, was.« (Pittner 1995: 211–212.) 26 Zumindest für den alltagssprachlichen Gebrauch weist eine Karte des Atlas zur deutschen Alltagssprache darauf hin, dass wo als Relativpartikel im bairischen Österreich eine kleinere Relevanz zu haben scheint, als im Bairischen der Bundesrepublik: AdA (2011: relat. »wo«, »die«, »die wo«. http://www.atlas-alltagssprache.de/runde-7/f12c/) 27 »For relative clause formation it is a fairly natural and common pattern in a given linguistic system to display a [–case] strategy for the higher relations of the Accessibility Hierarchy and a [+case] strategy for the lower relations, which follows from the idea that the higher relations
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Für den Wegfall des Relativpronomens eines eigentlich doppelt gefüllten Relativsatzanschlusses, d. h. für die Realisierung der 2. Form, werden folgende Bedingungen angenommen (hier nach: Hinrichs / Nakazawa 2002: 183, übersetzt von LMB): Ein Relativpronomen kann im Bairischen entfallen, wenn folgende Bedingungen gleichzeitig zutreffen: 1. der Relativsatz nicht in Extraposition steht (d. h. adjazent zum Bezugsnomen ist) 2. es entweder a. denselben Kasus wie das Bezugsnomen aufweist, s. (8), (9), oder b. es in einer morphologisch mit seiner nominativen Form identischen Form steht, s. (10). Beispiele hierzu sind in (8) bis (10) einzusehen: (8) der Mõ (der) wo uns g’hoifa hod (Bayer 1984: 215) (9) Sie gem‹s dem Mo (dem) wo mir g’hoifa hom (Bayer 1984: 221) (10) i schenk’s dem Kind (des) wo mid da Katz spuid (Bayer 1984: 216)
Dies erklärt allerdings noch nicht, wann generell mit einer einfachen bzw. doppelten Form gerechnet werden kann, sondern bestärkt die Annahme, dass der doppelte gefüllte Relativsatzanschluss für die bairischen Dialekte den Default-Fall darstellt, was nicht ohne weiteres angenommen werden kann.28 Zudem muss bedacht werden, dass es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen der Art des Relativsatzes, also ob es sich um einen restriktiven oder appositiven Relativsatz handelt, und der Form (doppelt oder einfach gefüllt) des Relativsatzanschlusses gibt.29 Bei restriktiven Relativsätzen bedeutet »eine inhaltliche (intensionale) Verknüpfung der beiden Charakteristika gleichzeitig eine extensionale Einschränkung: […].« (Zifonun 2001: 9.) Das heißt, dass durch den restriktiven Relaof the Accessibility Hierarchy are more accessible to relativization, i. e., less morphological encoding is needed for the higher relations. » (Fleischer 2006: 214) 28 Umgekehrt könnte angelegt werden, dass die einfache Form mit Relativpartikel die DefaultForm ist, da diese die Subordination hinreichend markiert und relativ sprachökonomisch ist, wohingegen bei Formen, in denen der anaphorische Bezug bzw. der Kasus des Markers verdeutlicht werden muss (wie z. B. oben bei der Zugänglichkeitshierarchie angedeutet), das Relativpronomen hinzugefügt werden muss. 29 Dabei ist zu beachten, dass sich Restriktionen aufgrund des Relativsatztyps v. a. dann ergeben, sobald keine betonten, sondern unbetonte (=reduzierte/klitische) D-Pronomen verwendet werden. Wiltschko (vgl. 2013: 160–161) bspw. postuliert, dass restriktive Relativsätze nie mit einem reduzierten D-Pronomen eingeleitet werden können. In der vorliegenden Arbeit werden allerdings nur betonte D-Pronomen untersucht, da diese dem Standarddeutschen direkt gegenübergestellt werden können.
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tivsatz die Menge der Referenten des Bezugsworts eingeschränkt wird. (S. Bsp. (4).) Dahingegen werden bei appositiven Relativsätzen weitere Informationen zum Referenzobjekt des Bezugsworts hinzugefügt, die keine weitere Einschränkungen des Referenzobjekts bewirken (s. Bsp. (3)), somit »läuft die intensionale Verknüpfung ins Leere, weil schon der nominale Ausdruck allein das oder die gemeinten Referenzobjekte (hinreichend präzise) identifiziert. […] Ein typischer Fall ist hier der Relativsatz zum Eigennamen […].« (Zifonun 2001: 9.) Erste Analysen des bereits erwähnten spontansprachlichen Korpus weisen jedoch, wie die Beispiele selbst, darauf hin, dass dies keinen Einfluss auf die Wahl der Form des Relativsatzanschlusses hat.
3.4
Adnominale Partizipialkonstruktionen
Die eingangs in diesem Kapitel erwähnte allgemeine Funktion des Relativsatzes, sachverhaltsbezogene bzw. propositionale Informationen zu einem nominalen Charakteristikum hinzuzufügen, kann in den betrachteten Varietäten aber auch durch eine andere grammatische Form geleistet werden. Adnominale Partizipialkonstruktionen (s. Bsp. (11)) bzw. auch adnominale Adjektivphrasen (s. Bsp. (12)) stehen als weitere Strategie (in vielen europäischen Sprachen als sekundäre Strategie vgl. Zifonun 2001: 21) zur Verfügung, wie in den konstruierten Beispielen: (11) Ein Kind, das immer lacht vs. Ein immer lachendes Kind (12) Er trägt einen Hut, der gelb ist. vs. Er trägt einen gelben Hut.
Die konkurrierenden Formen unterschieden sich dabei in ihrem »Grad der Ausbaufähigkeit« (Zifonun 2001: 22–24), wobei Relativsätze häufig – insbesondere in der gesprochenen Sprache – komplexere Zusatzinformationen liefern können, z. B. mehr Informationen, aber auch anderes Tempus im Vergleich zum Matrixsatz etc. Außerdem besteht diese Konkurrenz zu Partizipien in Präsens nur für Relativsätze, deren Relativsatzanschluss in Subjektsposition30 steht (vgl. Zifonun 2001: 23), d. h. in genau den Fällen, die im Fragebogen abgefragt worden sind. Dabei kann Folgendes angenommen werden: Die Wahl zwischen den Alternativen (wo es um subjektzentrierte Konstruktionen geht) wird im Deutschen primär über das Medium und die Textsorte gesteuert: Adnominale P[artizipial]K[onstruktionen], die durch Komplemente und Supplemente ausgebaut sind, werden in gesprochener Sprache und in informellen Texten gemieden. Sie sind ein 30 Die Objektsposition wird im vorliegenden Artikel nicht betrachtet; angemerkt sei, dass Relativsätzen, deren Einleiter in Objektsposition stehen, Partizipialkonstruktionen im Perfekt konkurrieren können – zum Bairischen vgl. Weiß 1998: 232–235.
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Mittel der geschriebenen Sprache (primär Fachtexte, nicht-fiktionale Prosa). (Zifonun 2001: 24.)
Für gesprochensprachliche Varietäten ist somit eine Bevorzugung des Relativsatzes anzunehmen, zumindest in jenen Fällen, in denen die adnominale Partizipialkonstruktion durch weitere Komp-/Supplemente ausgebaut werden müsste.
3.5
Varianten für die Untersuchung
Im vorliegenden Beitrag steht die Frage im Vordergrund, welche Varianten der syntaktischen Variable des Relativsatzanschlusses (in Subjektsposition) in welchen sprachlichen Situationen im Untersuchungsraum Wien Anwendung finden. Dafür wird der mit einem Relativpronomen einfach gefüllte Relativsatzanschluss als prototypisch ›standardnah‹ betrachtet, d. h. folgende Marker zunächst als solche bewertet: – ›standardnaher Relativsatzanschluss‹: Relativpronomen der; die; das; was Dahingegen wird der doppelt gefüllte Relativsatzanschluss mit Relativpronomen und Relativpartikel als prototypisch ›dialektnah‹ (oder ›standardfern‹) angesehen; für das Wienerische wird die Relativpartikel was angesetzt. Diese kann auch einzeln auftreten, was wiederum tendenziell prototypisch ›dialektnah‹ gewertet wird: – ›dialektnaher Relativsatzanschluss‹: Relativpronomen + -partikel der was; die was; das was / Relativpartikel was Diese Variantenverteilung soll schlussendlich im Fragebogen durch eine starke situative Einbettung der Fragestellungen überprüft werden. D.h. es soll festgestellt werden, ob die Varianten tatsächlich mit den Kategorien ›standardnah‹ bzw. ›dialektnah‹ in Verbindung gebracht werden und das anhand von situativen Varianten, die als ebenso ›standardnah‹ bzw. ›dialektnah‹ postuliert werden. Da aber die Variation auf der gesamten Vertikale, d. h. im gesamten Spektrum zwischen den Polen ›standardnah‹ und ›dialektnah‹, untersucht wird, kann selbstverständlich nur mit tendenziellen Ergebnissen gerechnet werden. Hinzu kommt, dass die hier als ›standardnaher Relativsatzanschluss‹ betrachtete Variante durchaus auch dialektal Anwendung finden kann und somit insgesamt stärker vertreten sein muss. Diese Variante ist somit eher als Default-Variante zu betrachten, Abweichungen davon, die relativ eindeutig ›dialektnah‹ sind, sind besonders spannend, was in der anschließenden Analyse aufgezeigt werden soll.
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4
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Beschreibung und Auswertung des Onlinefragebogens
Die oben beschriebene syntaktische Variable des Relativsatzanschlusses (in Subjektsposition) wurde (unter anderen syntaktischen Phänomenen) mittels eines Online-Fragebogens für das Wienerische (s. 2) im Zuge des erwähnten Dissertationsprojektes erhoben. Die Methode wird im Folgenden näher beschrieben, ebenso wie die für das betrachtete Phänomen relevanten Fragen, woraufhin die Darstellung der Ergebnisse folgt.
4.1
Methodenbeschreibung und Setting
Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine indirekte Erhebung mittels Online-Fragebogen. Die Eignung indirekter Methoden zur Erhebung syntaktischer Phänomene wurde inzwischen hinreichend validiert. (S.o.) Die Zusammenstellung des Fragebogens orientiert sich dabei weitgehend an den Methoden von SADS (s. dazu Bucheli / Glaser 2002, Seiler 2010) und in weiterer Folge den weiterentwickelten Fragestellungen von SyHD (s. dazu Fleischer / Kasper / Lenz 2012), wie ich bereits in Breuer (2015) näher beschrieben habe. Die wichtigsten Punkte sind dabei: 1. Die Aufgaben/Fragen sind in einer für Gewährspersonen gut verarbeitbaren Form (auch Länge etc.) angelegt. 2. Der Fragebogen ist abwechslungsreich gestaltet und bietet verschiedene Fragetypen, wie a. Bewertungsfragen (s. Abbildung 1) b. Übersetzungsfragen (s. Abbildung 2) c. Bildbeschreibungsfragen (s. Abbildung 3 und 4) 3. Das Problem der Künstlichkeit schriftlicher Aufgaben zur Erhebung gesprochensprachlicher Phänomene wird durch dialektale »Einlautung« des sprachlichen Inputs vermindert. 4. Die Fragen sind stets in einen situativen Kontext eingebettet. Der hier vorgestellte Online-Fragebogen bietet überdies einige Modifikationen. So wird nicht nur eine ›dialektnahe‹ Varietät, sondern auch eine ›standardnahe‹ Varietät abgefragt; dies soll gewährleistet werden durch die bereits erwähnte situative Einbettung der Fragen, wobei Situationen vorweg als ›dialektnah‹ bzw. ›standardnah‹ postuliert werden. Da der sprachliche Input zudem angepasst wird, je nach dem, welcher Pol von der Frage anvisiert wird, ergibt sich somit eine doppelte Einbettung der Aufgaben in die entsprechenden Kontexte, wobei jene in verschiedenen kommunikativ-situativen Variablen variieren, um somit auch die Variablen selbst zu überprüfen. Es wird also nicht nach ›Dialekt‹ bzw.
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›Hochdeutsch‹ (in der alltagssprachlichen Bedeutung) gefragt, sondern danach, was die Gewährspersonen »in dieser Situation sagen würden«. Dabei kann natürlich in weiteren Untersuchungen die Assoziation der Kontexte mit bestimmten Sprechformen näher untersucht werden, was nun aber vernachlässigt werden soll. Durch das Medium ergibt sich eine weitere Möglichkeit, das oben genannte Problem des graphischen Inputs bei konventionell mündlichen Varietäten zu umgehen: der sprachliche Input einiger Aufgaben wurde mithilfe von AudioDateien tatsächlich auditiv angeboten (s. Abbildung 1), wobei die Antworten der Gewährspersonen wiederum schriftlich erfolgten.
Abbildung 1: Bewertungsfrage mit auditivem Input: Meine Frau, die was einen leichten Schlaf hat …
Prinzipiell besteht der vorliegende Fragebogen aus drei Teilen: 1. soziodemographische Fragen (Wohnorte, Sprachen der Eltern etc.), 2. Fragen zur Spracheinstellung (Selbsteinschätzung der Dialekt- /Standardkompetenz etc.), 3. linguistische Fragen. Zu Letzteren werden drei Fragetypen im vorliegenden Artikel behandelt: Bewertungs-, Übersetzungs- und Bildbeschreibungsfragen.
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Bei den Bewertungsfragen werden vorgegebene Antwortmöglichkeiten von den Gewährspersonen als »möglich« bewertet, außerdem können sie eigene alternative Antworten angeben, wenn ihnen keine der Antwortmöglichkeiten adäquat erscheint. Danach wird von den Gewährspersonen erfragt, welche Form sie in der entsprechenden Situation präferieren (d. h. als »am natürlichsten« empfinden). (S. Abbildung 1.) Bei Übersetzungsfragen wird ein entgegensetzt zur situationsangemessenen Sprechlage dialektaler bzw. standardsprachlicher Input präsentiert, der dann in eine situationsadäquate Form (also v. a. standardsprachlich bzw. dialektal) »übersetzt« werden soll. (S. Abbildung 2.) Diese beiden Fragetypen geben zwar syntaktische Formen vor, doch unterscheiden sie sich dennoch in ihrer Art der Antworten: Bei den Bewertungsfragen wird die Akzeptanz bestimmter syntaktischer Varianten abgefragt; die Antworten rücken damit in die Nähe von Spracheinstellungsdaten31. Besonders für saliente bzw. stigmatisierte Phänomene können hierbei Ergebnisse erwartet werden, die nicht der Sprachproduktion der Gewährsperson entsprechen, aber dennoch eine Aussage über die Relevanz des Phänomens im Untersuchungsgebiet zulassen. Bei Übersetzungsfragen dagegen werden die Gewährspersonen zur Sprachproduktion bewegt, die Ergebnisse können deutlicher als Sprachdaten gewertet werden, auch wenn die syntaktische Struktur der Vorgabe jene der Übersetzung beeinflussen kann.
Abbildung 2: Übersetzungsfrage: Den Franz, der letzte Woche einen Hut trug …
Der Fragetyp der Bildbeschreibungsfrage versucht, dieses Problem zu minimieren. Durch die Beschreibung des auf dem Bild (bzw. Bildern) Abgebildeten produzieren Gewährspersonen ihre Sätze ohne (syntaktische) Vorgaben. (S. Abbildung 3.)
31 Die syntaktischen Varianten werden aufgrund z. B. ihrer »Situationsangemessenheit« von den GWP relativ bewusst bewertet. Dadurch wird Sprachwissen abgefragt und nicht Sprachproduktion gefordert; der Übergang von Sprachdaten und Spracheinstellungsdaten ist gerade bei einer indirekten Befragung fließend. Zur Diskussion von Spracheinstellungsdaten in der Variationslinguistik s. Lenz (2003: 263–265).
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Abbildung 3: Bildbeschreibungsfrage ohne Vorgabe: Ein Kind, das was lacht …
Dies führt zum Problem, dass evtl. das gewünschte syntaktische Phänomen zu selten realisiert wird, weshalb dieser Aufgabentyp durch vorgegebene Teilsätze ergänzt werden kann (s. Abbildung 4). Im vorliegenden Beitrag werden jene Fragen ausgewertet, die speziell auf die syntaktische Variable des Relativsatzanschlusses abzielen. Bei den entsprechenden Antworten können natürlich auch sekundäre Phänomene (wie Tempusverwendung) auftreten, die hier nicht näher betrachtet werden. Der Fragebogen wurde über das »Schneeballprinzip« online verbreitet, woraus sich folgendes Gewährspersonensetting ergab, wobei nur jene Gewährspersonen ausgewertet worden sind, welche in Wien primärsprachlich deutsch sozialisiert worden sind:
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Abbildung 4: Bildbeschreibung mit Vorgabe: Ein Kind, das was betet …
Tabelle 1: GWP-Setting Altersgruppen/ Geschlecht m w gesamt
16–19 20–29 30–59 ≥60 gesamt 0 6 6
10 31 41
3 10 13
3 0 3
16 47 63
Man erkennt an Tabelle 1, dass die Gruppe der Gewährspersonen sehr homogen ist,32 die meisten Gewährspersonen sind 20–29 Jahre alt und weiblich; darüber hinaus haben fast alle InformantInnen eine Matura oder einen Hochschulabschluss (43 bzw. 28) und nur zwei einen Pflichtschulabschluss. Das heißt aber auch, dass die Ergebnisse nicht auf der Grundlage jener Kriterien ausgewertet werden, sondern die Gewährspersonen als eine relativ homogene Gruppe von »in Wien aufgewachsenen und lebenden« Personen aufgefasst werden. Bei dieser »Stichprobe« können zunächst nur Tendenzen bezüglich der syntaktischen Variation in Wien festgestellt werden.
32 Dies ist für Online-Befragungen, die mithilfe des »Schneeballprinzips« verteilt worden sind, auch zu erwarten; für das Dissertationsprojekt selbst ist insgesamt ein heterogeneres Setting vorgesehen. (Vgl. Breuer 2015)
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Auswertung Relativsatzanschluss
Die folgende Tabelle (Tabelle 2) zeigt eine Übersicht über die ausgewerteten Fragen zum Relativsatzanschluss, wobei der intendierte Output den gegebenen Input widerspiegelt, außer bei Übersetzungsfragen, in denen der Input naturgemäß den Gegenpol darstellt; zudem wird das Bezugsnomen und daraus ergebend die Art des Relativsatzanschlusses dargestellt. Tabelle 2: Fragenübersicht Frage F2 F4 F6 F8 F9 F12
Fragetyp Bildbeschreibung Bewertung Übersetzung Bildbeschreibung Bewertung Bildbeschreibung
intendierter Output dialektal standard dialektal standard standard dialektal
Input schriftlich auditiv schriftlich schriftlich auditiv schriftlich
Bezugsnomen Ein Kind Meine Frau Der Franz Ein Kind Der Stefan Ein Kind
Art restriktiv appositiv appositiv restriktiv appositiv restriktiv
Wie aus der Tabelle ersichtlich, sind die Fragen bezüglich des ›standardnahen‹ bzw. ›dialektnahen‹ Verhältnisses ausgeglichen; wie in 3.5 erwähnt, ist damit zu rechnen, dass die als ›standardnah‹ angegebene Variante des einfachen Relativsatzanschlusses mit Relativpronomen auch in der dialektalen Form möglich ist. Überdies wurden die restriktiven Relativsätze ausschließlich mit dem Bezugsnomen Kind (Neutrum, Singular) abgefragt, um Vergleichbarkeit zu wahren und diese in Opposition zu den Eigennamen Franz und Stefan (Maskulin, Singular) sowie dem Bezugsnomen Frau (Feminin, Singular) zu stellen. Hierbei ist insbesondere auf die Verwendung von was (als einzelnes Element) zu achten, welches bei Kind (obwohl belebt) noch als Relativpronomen gewertet werden kann, bei den anderen Bezugsnomen allerdings eindeutig eine Relativpartikel darstellen muss. Verwendet eine GWP in allen Kontexten was, ist es als Relativpartikel zu werten. Die Fragestellung mit einem Neutrum bietet zwar keinen Aufschluss über den Status von was (Relativpronomen oder Relativpartikel), wenn dieses alleine steht (einfache Füllung), durchaus aber über die Verteilung von einfachen bzw. doppelten Formen. Bei F4 sei außerdem angemerkt, dass sich der appositive Relativsatz durch das Possessivpronomen meine ergibt, zumindest unter der Annahme, dass in Wien monogame Ehen die konventionelle Variante darstellen. Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den einzelnen Fragen betrachtet. Vorweg sei gesagt, dass zu allen Fragen, die am meisten präferierte Antwort entweder ein einfach gefüllter Relativsatzanschluss mit einem D-Pronomen darstellt, oder bei den beiden Bildbeschreibungsfragen ohne
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Vorgabe eine konkurrierende Partizipialkonstruktion.33 Die Form des doppelt gefüllten Relativsatzanschluss tritt insbesondere mit der Relativpartikel was auf, die Relativpartikel wo wird nur marginal bei Bewertungsfragen, d. h. als vorgegebene Form, präferiert, was die These unter 3.3 begründet, dass die Relativpartikel was für den Wiener Sprachraum relevanter bzw. die präferierte Form ist. F2, F8 und F12: restriktive Relativsätze mit dem Bezugswort Ein Kind Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den Fragen mit den restriktiven Relativsätzen näher betrachtet. Wie bereits erwähnt, wurde dabei stets das Bezugswort Ein Kind verwendet, alle drei Fragen sind Bildbeschreibungsfragen, wobei F12 einen Teilsatz Ma siecht a Kind, vorgibt. Wie nicht anders zu erwarten, ergeben insbesondere die Ergebnisse zu F2 durch die fehlende Vorgabe (s. Abbildung 5) viele irrelevante Antworten. Wobei F2 einen Kontext34 vorgibt, in dem tendenziell sowohl ›dialektnahe‹ als auch ›standardnahe‹ Antworten möglich erscheinen, durch den ›dialektnahen‹ Input35 werden allerdings eher dialektale Antworten erwartet. Wie in der Abbildung (s. Abbildung 5) ersichtlich, ist hier die am häufigsten realisierte Antwort eine Partizipialkonstruktion (PK), welche ganz offensichtlich in Konkurrenz zum Relativsatz unter der Bedingung der Subjektszentrierung und der (temporalen) Gleichzeitigkeit (s. 3.4) zu betrachten ist. Dies kann an der höheren Informationsdichte dieser Konstruktion liegen, außerdem sind keine Komplemente oder Supplemente zur Beschreibung notwendig (Ein lachendes Kind). Bei den realisierten Relativsätzen überwiegt der einfache Relativsatzanschluss mit das. Auch was kann hier als Relativpronomen aufgefasst werden und wird genauso häufig realisiert wie die doppelt gefüllte Variante das was. Bei der sozusagen entgegensetzen Frage F8, welche einen ›standardnahen‹ Kontext36 und einen ebenso ›standardnahen‹ Input37 vorgibt, zeigt sich ein deutlicheres Bild:
33 Diese wird u.A. durch die syntaktische Vorgabe im Kontext der Frage verstärkt, was in folgenden Untersuchungen natürlich zu vermeiden ist. Gleichzeitig sind, wie unter 3.4 erwähnt, Partizipialkonstruktionen stilistisch tendenziell dem Schriftsprachlichen, welches die Vorstellungen des ›intendierten Wienerischen Standarddeutschen‹ sicherlich beeinflusst, zuzurechnen. Natürlich darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass hier tatsächlich geschriebene Sprache vorliegt, was das Ergebnis zusätzlich zu Gunsten der PK gewichten könnte. 34 »Martin und Peter, beide gebürtige Wiener, arbeiten seit Jahren gemeinsam in einem Büro nahe dem Margaretenplatz. Ihr Chef, Herr Joca, kommt zu ihnen in das Büro, als Peter gerade ein Foto von einem lachenden Kind herzeigt. Herr Joca fragt gut gelaunt und freundlich:« 35 Wos siecht ma denn auf dem Büd? 36 »Frau Keller, gebürtige Wienerin, arbeitet seit Jahren in einem Touristeninformationsbüro am Stephansplatz. In der Mittagspause findet sie auf der Theke ein Bild, das jemand vergessen haben muss. Sie zeigt es ihrem Arbeitskollegen, Herrn Riener, der aus Deutschland kommt.
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Abbildung 5: F2 – Relative Häufigkeiten (%) der Antworten bezogen auf Antwortzahl
Wie in der Grafik (s. Abbildung 6) zu erkennen, werden, obwohl auch in dieser Frage keine Vorgabe gemacht worden ist, relativ wenige irrelevante Antworten produziert; dies ist insbesondere erstaunlich, wenn man die Ergebnisse zu F12 betrachtet (s. Abbildung 7), wo trotz einer Vorgabe mehr irrelevante Antworten erscheinen. Wie dem auch sei, konkurrieren in F8 nur die PK mit dem einfach gefüllten Relativsatzanschluss mit dem Relativpronomen das. Erstaunlich dabei ist, dass was auch standardsprachlich möglich wäre, aber insbesondere im Vergleich mit F2 scheinbar nicht unbedingt einer standardnahen Variante zugeschrieben wird. Wiederum konkurriert die Partizipialkonstruktion mit dem Relativsatzanschluss. Mit F12 liegt eine Frage vor, die auf einen ›dialektnahen‹ Output abzielt.38 Wiederum ergibt sich eine stärkere Variation in den verwendeten Formen. Herr Riener hat seine Brille vergessen, weshalb sie ihm sagen muss, dass ein weinendes Kind darauf zu sehen ist, er fragt:« 37 Was ist auf dem Bild zu sehen? 38 Kontext: »Lisa sitzt zu Hause in Meidling an ihrem PC und ruft ihre beste Freundin, Sabine,
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Abbildung 6: F8 – Relative Häufigkeiten (%) der Antworten bezogen auf Antwortzahl
Die Vorgabe der Satzstruktur ergibt jedenfalls eine Verringerung der PK und dadurch eine starke Abweichung zu F2 und F8. Die PK wird nur noch von hartgesottenen Fans dieser Konstruktion unter Ignoranz des voranstehenden Matrixsatzes verwendet. Wiederum taucht das Relativpronomen was auf sowie der doppelt gefüllte Relativsatzanschluss mit das was. Beide werden durch die prinzipielle Bevorzugung des Relativsatzes im Gegensatz zu F2 häufiger realisiert. In der Zusammenschau zeigt sich zunächst also deutlich, dass in den ›dialektnahen‹ Fragen mehr Variation anzutreffen ist, als in der ›standardnahen‹ Frage; in allen Fragen wird bei Relativsatzanschlüssen die einfache Markierung durch das bevorzugt, bei F8, d. h. im ›standardnahen‹ stellt dies sogar die einzige mögliche Variante dar. Dies weist darauf hin, dass die unter 3.5 beschriebene These, dass der einfach gefüllte Relativsatzanschluss die Default-Variante ist, in dialektalen Kontexten allerdings auch die Möglichkeit des doppelten Füllens
am Handy an. Lisa erzählt Sabine, dass ihr von ihrem Vater per E-Mail ein Bild zugeschickt worden ist. Sabine sagt, dass sie gerade in der Bim sitzt und fragt, was auf dem Bild zu sehen ist. Lisa antwortet:« Input: Ma siecht a Kind,….
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Abbildung 7: F12 – Relative Häufigkeiten (%) der Antworten bezogen auf Antwortzahl
besteht, tendenziell bestätigt werden kann. Zunächst müssen aber die restlichen Ergebnisse betrachtet werden. F4, F6 und F9: appositive Relativsätze Im Gegensatz zu den bisherigen Fragen werden nun unterschiedliche Fragetypen betrachtet. F4 (s. Abbildung 8) und F9 (s. Abbildung 9) stellen dabei direkt vergleichbare Bewertungsfragen dar – beide liefern einen auditiven Input. Bei F4 ist der Kontext tendenziell ›standardnah‹ zu werten,39 wobei der Input40 von einem kompetenten Sprecher sowohl des Wiener Dialekts als auch der Wiener Standardsprache eingesprochen worden ist.41 39 »Herr Wefel und seine neue Arbeitskollegin, Frau Meier, kommen beide aus Wien. Er erzählt ihr beim Mittagessen in der Bürokantine, dass er heute Morgen beinahe verschlafen hätte, weil er seinen Wecker nicht gehört hat. Glücklicherweise hat ihn seine Frau geweckt. Er sagt zu Frau Meier:« 40 In etwa Meine Frau die (was/wo) einen leichten Schlaf hat, hat mich geweckt. 41 Vielen Dank an Peter Ernst!
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Abbildung 8: F4 – Relative Häufigkeiten (%) der präferierten Antworten bezogen auf Antwortzahl
Durch die Vorgabe der Antwortmöglichkeiten ergibt sich ein anderes Bild (s. Abbildung 8): Zwar ist immer noch der einfach gefüllte Relativsatzanschluss die bevorzugte Variante, doch wird nun auch im standardnahen Kontext der doppelt gefüllte Relativsatzanschluss die was von einigen Gewährspersonen präferiert. Betrachtet man im Vergleich die Ergebnisse für F9 (s. Abbildung 9), sind diese beinahe identisch. Der Kontext42 für F9 ist tendenziell (gegeben durch ›soziale Ferne‹ und ›Institutionalität‹) ›standardnah‹ zu werten, der Input43 von einer kompetenten Sprecherin aus Wien eingesprochen.44 Die Ergebnisse von F4 und F9 decken sich sehr gut, was einerseits an den beiden ›standardnahen‹ Kontexten liegen könnte, aber auch daran, dass hier durch die Vorgabe der Formen die Ergebnisse beeinflusst worden sind; wie42 »Frau Mindel ist Leas Lehrerin an einer Schule im 23. Wiener Gemeindebezirk. Sie hat erfahren, dass Lea von einem Klassenkameraden geärgert worden ist. Sie weiß aber nicht, wer es war. Nach einer Schulstunde bittet sie Lea, mit ihr zu sprechen. Frau Mindel fragt Lea, wer sie denn geärgert hat. Lea antwortet:« 43 In etwa Der Stefan, dea (wos/wo) mi net mog. 44 Vielen Dank an Martina Sydney!
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Abbildung 9: F9 – Relative Häufigkeiten (%) der präferierten Antworten bezogen auf Antwortzahl
derum sei daraufhin gewiesen, dass es sich bei diesen Ergebnissen eher um Spracheinstellungsdaten handelt. In F6 dagegen wird durch die Übersetzungsfrage Sprachproduktion gefordert. Hierbei wird ein ›dialektnaher‹ Kontext45 vorgegeben, der Input46 ist dagegen ›standardnah‹ und soll in die entsprechende situativ adäquate Form übersetzt werden. Besonders interessant an dieser Grafik (s. Abbildung 10) ist das Ergebnis für was, zwar ist wieder der einfache Relativsatzanschluss mit D-Pronomen bevorzugt,47 doch zeigt sich deutlich die Variante was, die hier als Relativpartikel
45 »Judith und Christina sind gute Freundinnen. Judith erzählt von ihrem gestrigen Abend, an dem sie mit Franz in einem Kino an der Mariahilfer Straße war. Christina kennt Franz nur von einem Fest von letzter Woche. Allerdings waren auf der Feier zwei Männer namens Franz. Also fragt Christina, welcher es denn nun genau war. Judith antwortet im Dialekt:« 46 Den Franz, der letzte Woche einen Hut trug, traf ich gestern im Kino. 47 Auch die Variante der der steht für den einfachen Relativsatzanschluss, da hier elliptische
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Abbildung 10: F6 – Relative Häufigkeiten (%) der Antworten bezogen auf Antwortzahl
gewertet werden muss, da keine Übereinstimmung in Genus mit dem Bezugswort Franz vorliegt. Beachtenswert ist das Abrücken von der am häufigsten produzierten Variante des einfachen Relativsatzanschlusses mit der, da aktiv die vorgegebene Form »abgelehnt« wurde. Als stärkste Konkurrenzvariante zeigt sich somit was gefolgt vom doppelten Relativsatzanschluss: beide Varianten scheinen relevant für ›dialektnahe‹ Kontexte.
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Resümee
Im Vorangehenden konnte gezeigt werden, dass sich die Methode der OnlineErhebung auch zur Erhebung syntaktischer Variation, im Speziellen zur Erhebung der Variation der Variable des Relativsatzanschlusses eignet. Obwohl es sich bei dieser Art der Befragung um eine relativ artifizielle Erhebungssituation handelt, konnte situationsabhängige Variantenwahl attestiert werden. Formen wie Den Franz, [das ist] der der letzte Woche einen Hut aufgehabt habt, hab’ ich gestern im Kino getroffen realisiert wurden.
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Blickt man zusammenfassend auf die Ergebnisse der Fragebogenerhebung, erweist sich zunächst als häufigste Variante für die syntaktische Variable des Relativsatzanschlusses in Subjektsposition die einfache Füllung mit einem DPronomen. In allen Fragen wurde diese bei Relativsätzen bevorzugt. Daneben erscheinen in Konkurrenz zur Einbindung sachverhaltsbezogener bzw. propositionaler Informationen (s. 3.1 und 3.5) zum Relativsatz auch Realisierungen durch adnominale Partizipialkonstruktionen, welche unter der Bedingung, dass der Informationsgehalt nicht zu sehr verdichtet wird, als eine Variante, die ›standardnahen‹ Varietäten zugeschrieben werden kann (wie bei F8). Auch wenn der einfache Relativsatzanschluss ansonsten in allen Kontexten die präferierte Variante ist, steigt die Anzahl der Varianten mit zunehmender ›Dialektnähe‹ der Kontexte (bzw. natürlich auch dann, wenn diese Formen vorgegeben sind wie bei F9 und F4). Am häufigsten wird der doppelt gefüllte Relativsatzanschluss präferiert, wenn er eine vorgegebene Form darstellt. Dabei ist die entscheidende Relativpartikel was. Dagegen wird wo von fast allen Gewährspersonen nicht attestiert. Realisiert wird der doppelt gefüllte Relativsatzanschluss am häufigsten bei F12, d. h. einer Bildbeschreibungsaufgabe im dialektalen Kontext mit einem vorgegebenen Teilsatz. In ›dialektnahen‹ Kontexten wird außerdem die Variante der Relativpartikel was dem Relativpronomen das entgegengestellt, womit eine Situation vorliegt in der (nach Fleischer 2004: 70–74) Varianz zwischen das und was als Relativpartikel vorliegt. Die in 3.3 beschriebenen Möglichkeiten des Relativsatzanschlusses innerhalb des ›intendierten Dialekts‹ lassen sich also auch im Fragebogen bestätigen; dabei ist natürlich noch nicht geklärt, ob es sich dabei um schlichtweg ›umgangssprachlichere‹ Formen handelt, als es bei den intendiert ›standardnahen‹ Kontexten der Fall ist, oder ob es sich um eine tatsächlich zu unterscheidende Varietät handelt – wie dem auch sei, scheint die Basis hierfür jedenfalls die bairische Syntax zu liefern. Im Gegensatz dazu steht die ›standardnahe‹ Variante des einfach gefüllten Relativsatzanschlusses mit D-Pronomen; nach der Untersuchung kann eine Bevorzugung jener in standardnahen Kontexten bestätigt werden, wobei durch ihre prinzipielle Dominanz in allen Kontexten auch davon ausgegangen werden kann, dass sie die Default-Variante für den Relativsatzanschluss (in beiden Varietäten) darstellt. Eine besondere Verteilung der Varianten auf restriktive bzw. appositive Relativsätze kann innerhalb dieser Ergebnisse nicht festgestellt werden – was sich mit der Feststellung von Weiß (2013: 780) deckt: »beide unterscheiden sich auch im Dialekt nicht.« Hierzu werden allerdings noch weitere Untersuchungen angestrebt. In weiterer Folge werden diese Ergebnisse innerhalb des erwähnten Dissertationsprojektes weiter untersucht – zunächst mithilfe eines Vergleichs mit
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einem Korpus aus spontansprachlichen Daten; dabei sollen insbesondere unter Rücksichtnahme der Accessibility-Hierarchy auch andere Positionen als die Subjektsposition und die Verteilung der Varianten auf dieser untersucht werden. In zumindest einer weiteren Fragebogenrunde sollen die Fragen verfeinert und auf ein größeres Gewährspersonensetting erweitert werden, wobei auch auf die intrapersonelle Variation durch Überprüfung der Korrelation verschiedener Antworten eingegangen werden soll. Zudem sollen die Methoden dahingehend verbessert werden, dass adnominale Partizipialkonstruktionen seltener auftreten bzw. diese als ›standardnahe‹ Variante in der Fragebogenzusammenstellung berücksichtigt werden. Jedenfalls konnte mit der Untersuchung gezeigt werden, dass die syntaktische Variation der modernen Regionalsprache in Wien ein spannendes und bei weitem nicht ausgeschöpftes Thema ist, das künftig interessante Ergebnisse verspricht.
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