Symbolon: Folge 4 Freiheit und Ordnung [Reprint 2021 ed.]
 9783112586464, 9783112586457

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WILHELM STÄHLIN • FREIHEIT UND ORDNUNG Symbolon 4. Folge

WILHELM STÄHLIN

FREIHEIT UND ORDNUNG Symbolon 4. Folge

Herausgegeben im Namen des Rates der Evangelischen Michaelsbruderschaft von Reinhard Mumm und Hildegart geb. Stählin

EVANGELISCHES VERLAGSWERK FRANKFURT-STUTTGART JOHANNES STAUDA VERLAG KASSEL

Lektorat: Walter Schmidt

Alle Rechte bei Evangelischen Verlagswerk, Frankfurt—Stuttgart Erschienen 1980 in Gemeinschaft mit dem Johannes Stauda Verlag, Kassel Herstellung: J. F. Steinkopf Druck+Buch GmbH, Stuttgart Bindearbeiten: Großbuchbinderei Ernst Riethmüller & Co., Stuttgart ISBN 3-7715-0198-9 (Ev. Verlagswerk) ISBN 3-7982-0153-6 (Stauda)

INHALT Geleitwort von Adolf Köberle Einleitung von Reinhard Mumm I. SELBSTZEUGNISSE AUS DEM LEBEN Rückblick nach 50 Jahren: Was bleibt? Michaelsbruderschaft — Rückkehr und Rechenschaft II. ZUM VERSTÄNDNIS DER HEILIGEN SCHRIFT Drei Stücke aus dem Gottesjahr 1936 1. Die Einheit der Bibel 2. Die Gleichnisrede 3. Die alte und die neue Schöpfung Das Kreuz Christi (Drei Vorträge in der Karwoche 1922) 1. Die Welt, in der Christus gekreuzigt wird 2. Christus, der sich kreuzigen läßt 3. Gott, der Christus ans Kreuz gibt Das Kreuzeszeichen (Vortrag 1974) 1. Joh. 4,13-16 — Eine biblische Besinnung Der Heilige Geist tut das Unerwartete

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III. KIRCHE IN DER ZEIT Absage an die Götter (Zwei Vorträge 1947) 1. Die geistige Krisis der Gegenwart 2. Nihilismus - Gefahr und Verheißung Fragen der Anthroposophie an die Evangelische Kirche Die Frage nach der Einheit der Kirche

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IV. HILFEN ZUM GLAUBEN UND LEBEN Unser Verhältnis zur Zeit Der Tag 1. TagundNacht 2. Vom dreifachen Morgen 3. Mittag 4. Vom Tischgebet Das Maß unserer Zeit 1. Die Woche 2. Ruhetag 3. Vom Gebet

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Gottesdienst und Kirchenjahr 1. Unsere Wochensprüche 2. Kirchenschmuck 3. Das Heilige Mahl Lehre und Erziehung 1. Erziehung aus dem Glauben 2. Jugend und Alter 3. Das Märchen vom Storch Der Glaube an den Schöpfer 1. Natur 2. Das Wunder (Ein Briefwechsel) Der Glaube an den Erlöser 1. Ich bin 2. Der kommende Herr Der Glaube - Die Kirche und das Ziel der Zeit 1. Das Geheimnis der Kirche 2. Das Ende Geistliches Leben 1. Geistliche Übung 2. Gebete und Betrachtungen 4. Bruderschaft Hilfe im Alltag 1. Was keine Zeit kostet 2. Die anderen Menschen 3. Du sollst nicht schielen 4. „Wir gedenken vor D i r . . . " Drei Worte zum Sonntag im Deutschen Fernsehen

227 227 232 240 247 247 252 258 262 262 270 279 279 287 291 291 294 297 297 305 311 314 318 322 325 328 331

V. ZUM ÖFFENTLICHEN LEBEN Freiheit und Ordnung Macht und Ohnmacht der Ratio im europäischen Erbe Aufstieg und Niedergang der Welt

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Wilhelm Stählins Leben in Daten Handschriftenprobe Wilhelm Stählins Nachweis der Quellen

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GELEITWORT Wilhelm Stählin hat ein Lebenswerk hinterlassen, das nicht in Vergessenheit geraten darf. Er ist ein durchaus origineller Denker gewesen. Er verdient in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts neben Karl Barth und Karl Heim, neben Paul Tillich und Romano Guardini einen eigenen ehrenvollen Platz. Es war ihm gegeben, großartige Einsichten und weit ausgreifende Zusammenhänge in klarer, edler und zuchtvoller Sprache darzustellen. Der vorliegende Band, der einen Überblick über das gesamte Schaffen bietet, wird seinen vielen Freunden und Schülern eine willkommene Gabe sein. Aber auch wer einen ersten Zugang zu dieser Lebensarbeit sucht, wird hier einen Einstieg finden, der zu weiterer Kenntnisnahme Freude und Mut erwecken kann. Für Wilhelm Stählin ist die unerläßliche Voraussetzung für den Zugang zur Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments die entschlossene Abkehr von der Alleinherrschaft des rationalen Denkens. Seit dem Zeitalter der Aufklärung haben die abstrakten Begriffe die Rolle übernommen, die einst Götter im mythischen Bewußtsein der Menschheit gespielt haben. Wie dem König Midas alles, was er berührte, zu Gold wurde, so hat sich für uns alle geistige Arbeit in rein begriffliches Denken verwandelt. Auch die Theologie hat sich diesem Umformungsprozeß bedenkenlos unterworfen und hat dadurch das Leben des Glaubens ausgehöhlt. Dem Übergewicht des wissenschaftlichen Bewußtseins wird uns von Wilhelm Stählin eine Wahrheitsschau entgegengestellt, die die bildkräftige, mit Anschauung gesättigte Sprache der biblischen Zeugen neu zu Ehren bringt. Bei dem Bischof und Professor kommt beides zu seinem Recht: die Herrlichkeit der Schöpfung und ihre Abgründigkeit, die Größe und das Elend des Menschen. Er hatte einen Blick für die Mächte der Finsternis. Der dämonische Realismus war für ihn die Voraussetzung, um ganz ermessen zu können die Größe der Gabe Gottes in dem Mysterium der Menschwerdung und in dem Sieg der Auferstehung. Das Kreuz Jesu ist das harte Nein wider allen weltlichen Optimismus. Alles irdische Leben ist an das Kreuz genagelt. Wir sollen es uns nicht selber schnitzen, jederzeit aber bereit sein, uns kreuzigen zu lassen, wenn Leid und Last des Lebens ungewollt und ungesucht über uns kommen. 7

Stählin hat gewußt: die Aneignung des Glaubens bedarf der geistlichen Übung. Er hat viel Zeit und Kraft seines Lebens darauf verwendet, suchenden und fragenden Menschen dazu hilfreich an die Hand zu gehen. Raum und Zeit können geheiligt werden. Stätten der Anbetung, der Tag, die Woche, das Jahr dürfen durchscheinend werden für die verborgene Klarheit Gottes. Wie das im einzelnen geschehen mag, dafür bringt der vorliegende Band eine Fülle von praktischen Hinführungen. Den religiösen Individualismus, das privatisierende fromme Einspännertum und die damit verbundene Unkirchlichkeit hat Stählin „die Erbkrankheit des Protestantismus" genannt. Er war sich klar darüber, daß Luther dafür nicht verantwortlich gemacht werden kann. Wohl aber sah er deutlich, wie mit der fortschreitenden Pflege der Persönlichkeitsstruktur der Sinn für die Gemeinschaft im Glauben mehr und mehr verlorengehen mußte. Zur Überwindung dieses Notstandes kam es, als ein verheißungsvoller Anfang, mit der Gründung der Michaelsbruderschaft, an deren Entstehung und Aufbau er maßgeblich beteiligt war. Zeitlebens litt Stählin unter der Pluralität der Kirchen. Es war sein Herzanliegen, sich für die Einheit der Kirche Jesu Christi einzusetzen. Dazu stellte er die Forderung auf: „Keine Konfession darf sich heute der Einsicht entziehen, wie begrenzt und ergänzungsbedürftig die eigene Position ist. Jede Konfession hat bereit zu sein zur Buße, die mit Notwendigkeit aus solcher Einsicht folgt." Vier Bände Symbolon finden damit ihren Abschluß. Die Fülle an biblischer, systematischer und seelsorgerlich-praktischer Einsicht und Erfahrung, die damit gesammelt vorliegt, ist noch längst nicht ausgeschöpft. Akademische Lehrer, Pfarrbrüder im Amt, Theologiestudenten und darüber hinaus alle, die nach einer gesunden und kräftigen Speise des Lebens verlangen, können davon reich beschenkt werden. Adolf Köberle

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EINFÜHRUNG Vor fünf Jahren ist Wilhelm Stählin im Alter von 92 Jahren gestorben. Er hinterließ ein reiches geistiges Erbe. Seine Persönlichkeit, seine unvergleichbare Gabe der Predigt und der Rede, die Weite seines Blickfeldes und die Tiefe seiner Erkenntnis, die klare und verständliche Art, in der er solche Erkenntnis weitergab, und die Meisterschaft seiner Sprache werden die nicht vergessen, die ihn gekannt haben. Gemeindeglieder in Nürnberg und Pfarrer, die an der Universität Münster seine Schüler waren, Michaelsbrüder und Glieder des Berneuchener Dienstes, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg und seine Freunde in Oberbayern, Hörer seiner Fernsehansprachen und wer sonst ihm begegnet ist, haben von der Ausstrahlung seiner Persönlichkeit einen bleibenden Eindruck gewonnen. Von dem, was seine fleißige Feder schrieb, ist vieles gedruckt worden, aber oft nur in Flugschriften, die kaum noch greifbar sind. Anderes ruht verstreut in Archiven oder in privater Hand. Manches blieb ungedruckt und wartet darauf, gesichtet und gesammelt zu werden, um vielleicht doch noch im Druck zu erscheinen. Am Ende seines langen Lebens hat Wilhelm Stählin die Ausgabe einiger Sammelbände erlebt, die unter dem für ihn charakteristischen Namen „Symbolon" im Evangelischen Verlagswerk Stuttgart herauskamen. Der dritte Band enthält eine Bibliographie aller seiner Werke. Drei Bände seiner Predigten sind, dem Kirchenjahr folgend, im gleichen Verlag erschienen; der letzte, nach seinem Tod veröffentlicht, ist bereits vergriffen. Was noch zu erhalten ist, wird am Schluß dieses Buches angezeigt. Seine Autobiographie, unter dem Titel „via vitae" vom Johannes Stauda-Verlag in Kassel herausgebracht, enthält eine Fülle von Äußerungen zur Zeit- und Kirchengeschichte. Zu seinen Lebzeiten hat Wilhelm Stählin viele dankbare Hörer und Freunde gefunden; aber er hat auch erfahren, daß er überhört wurde und sein Wirken ein deutlich begrenztes Echo fand Gerade Theologen seiner eigenen, der evangelisch-lutherischen Kirche, haben ihn oft nicht angenommen, sondern sein Wort und Wirken übergangen. Dabei ist das, was er angeregt und gestaltet hat, von bleibender Bedeutung und Aktualität. Weil der Verleger davon überzeugt ist, hat er angeregt, diesen Band ausgewählter Schriften herauszugeben.. Das Buch ist so angelegt, daß der Leser einen Eindruck vom gesamten Lebenswerk Stählins empfängt,

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von seiner Nürnberger Zeit an, in der er während der zwanziger Jahre als Gemeindepfarrer und Jugendführer wirkte, durch die Jahre seines akademischen Lehramtes an der Universität Münster bis hin zu seiner Amtszeit als Bischof von Oldenburg nach dem letzten Krieg. Den Abschluß bilden Worte zum Sonntag im Fernsehen und Vorträge mit grundlegenden Einsichten in das Wesen des Menschen und die Lage der Welt, die Stählin in hohem Alter ausgesprochen hat; sie greifen Fragen auf, die gerade jetzt viel erörtert werden. Nach einem dieser Vorträge ist der Titel dieses Bandes gewählt: „Freiheit und Ordnung." Beide Begriffe sind nicht nur für den Autor charakteristisch, sondern sie bezeichnen ein unvermeidliches Spannungsverhältnis in der Wirklichkeit des Lebens. Der Untertitel „Symbolon 4. Folge" besagt, daß dieser Band sich anschließt an die drei vorangegangenen mit gesammelten Reden und Aufsätzen. Dieser 4. Band unterscheidet sich freilich von denen, die zu Lebzeiten Stählins erschienen sind. Denn er enthält nicht nur einige Reden und Aufsätze, die die vorhandene Sammlung ergänzen, sondern er möchte einen umfassenden Eindruck von dem verschaffen, was Wilhelm Stählin gedacht und getan hat. Gerade Leser, die den Jugendführer und Theologen, den Mitstifter der Michaelsbruderschaft und Seelsorger nicht gekannt haben, mögen aus dieser Sammlung etwas erfahren von dem Geist und den Gaben, die ihm gegeben waren. Wir denken dabei an junge Menschen, die weder einen persönlichen Eindruck von ihm empfingen, noch die Möglichkeit haben, seine Schriften aufzuspüren. Sie finden hier Zeugnisse aus verschiedenen Abschnitten seines Lebens und können daraus entnehmen, was sich lohnt, neu aufzugreifen und weiter zu geben. Aber auch die Älteren, Teilnehmer an geistlichen Wochen, die er so vielfältig gehalten hat, werden neben dem, was sie kennen und in ihrem Bücherschrank besitzen, Unbekanntes finden, was sie gern aufnehmen und das vertraute Bild ergänzt. Auf zwei Selbstzeugnisse, den Rückblicken auf die Jugendbewegung vom Anfang unseres Jahrhunderts und auf die ersten drei Jahrzehnte der Michaelsbruderschaft, folgen einige Hinweise zum Verständnis der Bibel. Stählin war sein ganzes Leben hindurch ein begnadeter Ausleger der Heiligen Schrift. Ihn bewegten nicht in erster Linie wissenschaftliche Einzelheiten der Exegese, wohl aber nutzte er sorgfältig und eindringend die Exegese, um immer neu überraschende Grundlinien der Erkenntnis von den Schriften der Bibel her freizulegen und anzuwenden auf den Menschen in seinen Problemen. Ein dritter Abschnitt enthält Aussagen zu der Zeit, in der wir leben. Da wird die geistige Krise der Gegenwart aufgedeckt. In spezieller Weise hat sich Stählin mit der Anthroposophie befaßt und sich auseinander10

gesetzt mit den Lehren der Christengemeinschaft, die sein Nürnberger Freund Friedrich Rittelmeyer begründete. Die „Frage nach der Einheit der Kirche" deutet hin auf die ausgeprägte ökumenische Richtung und Haltung, die Bischof Stählin im Gespräch vor allem mit der katholischen Kirche eingenommen hat. Unter der Überschrift „Hilfen zum Glauben und Leben" sind kurze praktische Hinweise zusammengefaßt, die er viele Jahre hindurch in den Bänden „Das Gottesjahr" weitergab. Es handelt sich um Kostbarkeiten, von denen leider nur eine kleine Auswahl hier geboten werden kann. Mit hineingenommen ist der Schlußabsatz seines 1940 erschienenen Buches „Bruderschaft". Welchen Wert gerade dieses längst vergriffene Buch besitzt, mag ersehen werden aus der Tatsache, daß es eben jetzt in die französische Sprache übersetzt wurde, um in Paris neu zu erscheinen. Das Gedankengut der Michaelsbruderschaft ist im Begriff, in die ökumenische Christenheit einzugehen, durch die Missionsbruderschaft in Südafrika auch in den englischen Sprachraum. Der Leser der achtziger Jahre wird unschwer bemerken, daß Wilhelm Stählin seine Aufsätze, die hier als „Hilfen zum Glauben und Leben" zusammengefaßt sind, vor rund fünfzig Jahren geschrieben hat. In ihrer Sprachgestalt spiegeln sie zum Teil die Empfindungswelt einer romantischen Jugendbewegung wieder, in der Ältere eigene Gefühle wiedererkennen mögen, die aber Jüngere in dieser Form als nicht mehr ihrer Art entsprechend ansehen können. Dennoch gehören auch diese Texte in einen Band, der einen Eindruck des gesamten Wirkens von Stählin vermitteln möchte. Wie jedem Autor, so ist auch ihm zuzugestehen, daß er in einem langen Leben sich gewandelt hat. Wer aufmerksam liest, wird in einer Sprachform, die einer vergangenen Zeit angehört, das Gültige und Bleibende erkennen und annehmen; er mag kritisch anmerken, daß manches fehlt, was heute deutlicher gesehen wird im Blick auf die menschliche Arbeitswelt. Aber er wird auch Dinge erfahren, die von geschichtlichem Interesse sind, etwa über das Entstehen der Wochensprüche, ihre Sinngebung und die Wandlungen, die sie durchgemacht haben, ganz zu schweigen von den höchst aktuellen Ausführungen über die „geistliche Übung". Wilhelm Stählin war mit Leib und Seele Theologe, jedoch nicht eigentlich im Sinn eines Fachgelehrten, sondern als ein Denker, der von seiner Erkenntnis der christlichen Offenbarung her die Wirklichkeit der Welt zu erfassen trachtete. Darum haben ihn die Fragen der Weltanschauung und des politischen Handelns stets bewegt. Gerade in seinem Alter bedrängte ihn das verbreitete Streben nach dem Fortschritt der Menschheit. Als Theologe suchte er Antwort zu geben auf die Frage: Aufstieg oder Niedergang der Welt? 11

Sowohl der Verleger wie die Herausgeber sahen sich vor die schwer lösbare Aufgabe gestellt, aus der Fülle des vorliegenden Stoffes auswählen zu müssen. Es wäre gut möglich, ja erwünscht, diesen Band umfangreicher zu gestalten und ihm weitere folgen zu lassen. Aber aus zwingender Notwendigkeit mußte nicht nur ausgewählt, sondern auch empfindlich gekürzt werden. So ergaben sich schmerzliche Eingriffe in die Texte. Wieviel wäre noch aus den frühen Schriften Stählins zu erheben, die ein charakteristisches Licht werfen auf die geistige und kirchliche Entwicklung vor und nach dem Ersten Weltkrieg! Manche seiner Predigten, deren Text vorliegt, blieb ungedruckt, wiewohl sie auch in gelesener Gestalt ungewöhnlich lebendig wirken. Aus der Reihe „Absage an die Götter" mußten die beiden Vorträge „Der Christ in der Politik" und „Lehre und Leben" gestrichen werden. Der weit gespannte Briefwechsel Stählins ist noch nicht ausgewertet, ebensowenig andere handschriftliche Zeugnisse seines Nachlasses. Ob sich dazu eine Möglichkeit bietet, etwa im Blick auf die 100. Wiederkehr seines Geburtstages im Herbst 1983, läßt sich heute nicht sagen. Jedenfalls wartet noch vieles auf eine spätere Veröffentlichung. Dieser Band erscheint in dem Jahr, in dem das Luthertum der Welt und die ökumenische Christenheit der öffentlichen Bekanntgabe des Augsburgischen Bekenntnisses vor 450 Jahren gedenkt. Wilhelm Stählin wußte sich diesem Bekenntnis, das den Namen der Stadt trägt, in der er aufwuchs, sein Leben hindurch verpflichtet. Im Jahr darauf, zu Michaelis 1981, gedenkt die Evangelische Michaelsbruderschaft, in deren Auftrag dieser Band herausgegeben wird, ihres Weges durch ein halbes Jahrhundert. An beide Gedenktage, die innerlich mit dem Gedankengut des Professors und Bischofs Wilhelm Stählin verbunden sind, sei darum erinnert. Möge dieses Buch Leser finden, die daraus einen persönlichen Gewinn empfangen, und dazu beitragen, daß die Erscheinung Jesu Christi in dieser Welt Gestalt gewinne für seine Kirche und die Völker der Erde. Grafing bei München Epiphanias 1980

Reinhard Mumm und Hildegart geb. Stählin

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I. SELBSTZEUGNISSE AUS DEM LEBEN

RÜCKBLICK NACH 50 JAHREN: WAS BLEIBT? (1963) Was ist der Sinn dieser festlichen Stunde?* Unbeeinflußt durch die positive Vorwegnahme dessen, was vorauseilende Berichterstattung von dieser Stunde erwartet hat, und ebenso unbeirrt von der Angst vor Gespenstern, die nach der Meinung einiger besorgter Freunde in diesen Tagen spuken könnten, sollten wir ganz sachlich fragen, was der Sinn dieser Stunde nicht sein kann und was ihr auf der anderen Seite Recht und Sinn geben könnte. Daß seit jenem Meißner-Fest 1913 nun 50 Jahre vergangen sind, könnte uns dazu verführen, ein Jubiläum zu feiern; daß wir das gerade nicht wollen, ist in der Vorbereitung dieses Meißner-Tages oft genug gesagt worden. Dankenswerte Veröffentlichungen haben die Erinnerung wachgerufen an jenen Aufbruch vor 50 Jahren, und wir sind für diese historische Dokumentation dankbar, weil so viele der heute lebenden Menschen nicht mehr wissen und sich kaum mehr vorstellen können, wie es damals eigentlich gewesen ist. Aber ein solcher Rückblick muß doch zugleich feststellen, daß die Bewegung jener Jugend, die vor 50 Jahren zum Meißner gezogen ist, und die von ihr geschaffenen Lebensformen vergangen sind, und sie müßte zum mindesten auch fragen, ob es nicht ein sehr kleiner Teil der heutigen Jugend ist, in dem die Lebensimpulse von damals heute noch wirksam sind und sein können. Solche nüchternen Feststellungen zu wiederholen, ist gewiß nicht der Sinn dieser Stunde. So wenig wie das Leben des einzelenen Menschen gewährt die Geschichte Dauer oder Wiederholung. Darum habe ich bewußt meine eigenen Schriften, mit denen ich seinerzeit eine gewisse Wirkung auf die Jugendbewegung geübt habe, nicht etwa zur Vorbereitung meiner heutigen Rede noch einmal gelesen. Ich möchte nicht in die Gefahr geraten, als einer jener Propheten aufzutreten, die mit Pathos wiederholen, was ihnen vor 40 oder mehr Jahren zu sagen aufgetragen war. Ebensowenig freilich könnte eine Rechenschaft darüber als sinnvoll gelten, was „erreicht" worden ist und was nicht. Denn die Jugendbewegung wollte überhaupt nichts „erreichen"; ihr Leben war ihnen Selbstzweck genug (was sich freilich manche Leute damals ebensowenig vorstellen konnten wie heute). Der Wert einer Lebenserscheinung, eines gelebten Lebens, läßt sich nicht messen an erreichten oder auch nur erreichbaren Zwecken. Auch die Frage, was denn geblieben ist oder bleibt, könnte in * Rede auf dem Akademischen Festakt am 12. Oktober 1963 in der Aula der Universität Göttingen zur 50-Jahr-Feier des Meißner-Tages der deutschen Jugendverbände.

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dem Sinn mißverstanden werden, daß wir etwa wie bei einer unserer Städte registrieren wollten, was die schreckliche Zerstörung überdauert hat, und was also nach der brutalen Zerschlagung der Jugendbünde im Dritten Reich übrig geblieben ist an ihren Idealen und Lebensformen. Darum sollen in dieser Stunde weder Lobeshymnen laut werden auf die alte Jugendbewegung, noch auch unfruchtbare Kritik an ihren Fehlern oder Mängeln. Ein Vergleich vollends der Jugend vom Hohen Meißner mit dem inneren Zustand des Großteils der heutigen Jugend wäre erst recht unfruchtbar. Zwar ist gewiß heute die Kritik der Jugend an der älteren Generation ebenso groß und heftig wie damals, aber sie geht, wenn ich recht sehe, in die entgegengesetzte Richtung. Damals wandte sich die Jugend ab von einer bürgerlichen Selbstsicherheit in ihren erstarrten Lebensformen; heute empfinden sehr viele junge Menschen umgekehrt die große Unsicherheit der Älteren, und die Kritik drückt sich nicht aus in dem Ansatz zu einem eigenen jugendgemäßen Lebensstil, sondern eher in einer eiligen Vorwegnahme der Formen des Erwachsenseins. Schon darum scheint mir der Versuch sinnlos, das Erbe der Jugendbewegung für die heutige Jugend zu bewahren oder neu zu beleben, und etwa ein revolutionäres Feuer zu entzünden, wo kein brennbares Material ist. Um mit diesen Vorbemerkungen über das, was dieser Stunde angemessen sein mag, nun zum Ende zu kommen: Trotz der Würde dieses akademischen Raumes will ich keinen Vortrag halten, sondern eine Rede, das heißt ein mit innerster Anteilnahme vorgetragenes Bekenntnis eines Mannes, der verhältnismäßig spät, als er selbst längst nicht mehr jung war, in Verbindung mit der Jugendbewegung geraten ist, und der sich bewußt ist und sich nicht schämt, das zu bekennen, daß er dieser Begegnung Entscheidendes für sein persönliches Leben und auch für seinen Beruf zu danken hat. Ich könnte auch sagen: das Bekenntnis eines Mannes, der immer wieder Menschen begegnet ist, mit denen er sich vom ersten Augenblick an in überraschender Weise verbunden fühlen konnte, weil sie gleich ihm selbst vom inneren Lebensstil der Jugendbewegung geprägt waren. Woran haben sich diese Menschen der Jugendbewegung erkannt? Was ist es, was sie aneinander entdecken und als ein Wesensverwandtes mit Freude begrüßen? Dieses ist die Frage, auf die ich mir und Ihnen, die Sie diese Stunde mitfeiern, eine Antwort geben möchte. Dieses so tief Verbindende kann aber gewiß nicht in irgendwelchen Formulierungen oder Programmen gefunden werden. Auch die vielzitierte Meißner-Formel war ein sehr bemerkenswerter Versuch, jenes Gemeinsame und Verbindende auszudrücken, aber niemals ist das lebendige Leben durch fixierte Formeln zur Einheit gebunden worden — auch die 15

Meißner-Formel darf in dieser Hinsicht nicht überschätzt werden. Ebensowenig freilich können sich Menschen, die durch die Jugendbewegung hindurchgegangen und von ihr geprägt worden sind, nun an einem bestimmten äußeren Lebensstil erkennen. Jene Lebensformen waren liebenswert und erfreulich, so lang sie der echte Ausdruck jugendlichen Lebens waren. Aber wenn manche „ewigen Wandervögel" solche Formen konserviert haben, so wirkt das nur allzuleicht als eine Erscheinungsform verlängerter Pubertät, anders ausgedrückt, als ein Mangel an Reife, an Selbstbescheidung und verantwortlichem Dienst, ohne die es keine echte Reife geben kann. Nein, was die Menschen der Jugendbewegung miteinander verbindet und woran sie einander erkennen, ist eine bestimmte Art des Seins, eine innere Form, die sie auch als längst gereifte Männer und Frauen weder abstreifen können noch abstreifen wollen. Das menschliche Sein selbst bewährt seine verbindliche und verbindende Macht gegen alle lautstarken Ideologien, auch und gerade wenn diese von ehemaligen Jugendführern vorgetragen werden. An dieser inneren Form erkennen einander Menschen, die in sehr verschiedenen Bereichen verantwortlicher Stellung, als Gelehrte, als Beamte, als Wirtschaftsführer, als Erzieher, als Politiker einander begegnen. Diese menschliche Grundhaltung versuche ich unter drei Gesichtspunkten zu beschreiben oder wenigstens soweit anzudeuten, daß vor Ihnen ein Bild dieses inneren Seins ersteht, und wenn diese meine andeutenden Versuche bei einer Anzahl von Ihnen ein lebendiges Echo zu wecken vermögen, so schiene mir das dem Sinn dieser Stunde am besten Genüge zu tun. I Ich nenne an erster Stelle ein elementares Gefühl für die Einheit und Ganzheit des lebendigen Menschen. Einer der Ausgangspunkte der Jugendbewegung war der jugendliche Protest gegen die Alleinherrschaft und Alleinwertung des Intellekts in der Schule, gegen die Intellektualisierung der ganzen Bildung und gegen pathetisch vorgetragene Ideale ohne Deckung in der menschlichen Wirklichkeit. Die entschiedene Überzeugung, daß das Gedächtnis der Befreiungskriege nicht in solchem politischen Pathos begangen werden durfte, war der unmittelbare Anlaß der Meißner-Fahrt im Oktober 1913. Niemand konnte in einer Wandervogelgruppe dadurch imponieren, daß er gescheit war, viel wußte oder besondere berufliche Leistungen aufzuweisen hatte. Beredsamkeit und musische Begabung konnten wohl zunächst faszinieren, aber bald wurde ein jeder, ohne Rücksicht auf Alter, 16

Stand und Rang gewogen in seinem menschlichen Sein. Was für ein „Kerl" in ihm steckte, war schlechthin wichtiger als alles andere. Daß in der damaligen Schule der Körper sozusagen nur als das notwendige Beförderungsmittel gewertet war, durch das Verstand und Gedächtnis in die Schule transportiert wurden, widersprach dem neu erwachten Körpergefühl der jungen Generation. Der Leib des Menschen in seiner wesenhaften Bedeutung für den ganzen Menschen wurde sozusagen neu entdeckt. Die Leibhaftigkeit der menschlichen Existenz wurde neu gewertet gegenüber einer pseudo-christlichen Entwertung alles leiblichen Lebens. „Vom Sinn des Leibes" und „Von der Vernunft des Leibes" waren bezeichnende Buchtitel jener Jahre, und wir waren bei manchen Menschen versucht zu sagen, daß ihr Leib das Vernünftigste an ihnen sei. Man darf aber nicht verkennen, daß die Einheit und Ganzheit des Menschen heute eher von einer anderen, ja gerade entgegengesetzten Seite her bedroht ist, und daß darum Menschen, die auf jene Einheit des leibseelischen Wesens entscheidenden Wert legen, heute in einer ganz anderen Front stehen als die Menschen des damaligen Aufbruchs. Heute ist eher eine Entwertung und Mißachtung des Geistes zu Gunsten der allein gewerteten körperlichen Gestalt oder Leistung zu fürchten. Die Frage, „Wie siehst du aus?", scheint wichtiger zu sein als die Frage „Wer bist du?". Ein attraktives Filmgesicht oder ein Sportheld, der irgendeinen Rekord gewonnen hatte, kann für viele Tausende zum Idol werden, ohne daß sie überhaupt fragen, von welchen Kräften dieser Mensch innerlich bewegt und geformt ist und was er also in der unzerspaltenen Einheit seines leib-seelischen Wesens wert ist. — Die gleiche Sorge kann sich an einer bestimmten Art von Musik entzünden. Nicht alle Leute freilich halten das für wirkliche Musik - eine Musik, bei der der Rhythmus jede Melodie verschlungen hat. Solche a-melodischen Rhythmen sind der Ausdruck einer bloßen Vitalität ohne seelische Tiefe, jedenfalls ohne das Bedürfnis und die Fähigkeit, tiefere Gemütswerte (falls sie etwa doch vorhanden sein sollten) zu äußern. Wenn heute viele - aber keineswegs alle — jungen Leute von einer solchen optischen Fassade oder einer solchen akustischen Kulisse fasziniert werden, so kommt darin die tiefe Verschiedenheit der Generationen von damals und von heute zur Geltung. Und wer heute auf jene schöne Einheit und Ganzheit des Menschen bedacht ist, muß in einer anderen Richtung gegen die uns immer bedrohende Zerspaltung des Menschen ankämpfen. Zur Einheit und Ganzheit des Menschen gehört aber auch die Einbeziehung der unterbewußten Seelentiefen. Wenn nur das gelten soll, was im Bewußtsein lebendig ist, so wird der Mensch von seinen eigenen Unter17

gründen abgeschnürt, die doch ständig in ihm wirksam sind, und es erhebt sich die große Gefahr, daß auch jene verborgenen Tiefen in das Rampenlicht des Bewußtseins gezerrt und zerredet werden, die mit ihrer Bedeutung für das heile Menschenwesen in der Verborgenheit bleiben sollen. Auch die endlosen Diskussionen über das Wesen des Menschen und die Geheimnisse, aus denen sich unsere Existenz nährt, sind eine Form jener Zerspaltenheit, von der die heile Ganzheit des Menschen bedroht ist. Zu dieser menschlichen Ganzheit gehört aber ebenso notwendig auch dieses, daß der Mensch nicht für sich allein lebt, sondern in einer Vielfalt konkreter Beziehungen, daß er also in diesem wörtlichen Sinn relativ, das heißt auf Relationen angewiesen ist. Die Freiheit zu eigenständiger Ganzheit bedarf des Korrelats in der Bindung an andere Menschen und der Bindung an konkrete Gemeinschaften, und sie bedarf einer Instanz, die mit dem eigenen Ich nicht identisch ist. „Eigene Verantwortung" ist ja nicht nur Verantwortung vor dem eigenen Ich. Dieses würde nur allzuleicht zu einer nichtssagenden Phrase entarten, weil es zum Begriff der Verantwortung gehört, daß wir eine Antwort schuldig sind auf einen fordernden Anruf, der von außen — oder besser von oben her — an uns ergeht. Wahrhaftigkeit als Treue gegen das Gesetz des eigenen Seins - im Gegensatz zu jeder Überfremdung durch Autoritäten oder Mächte, denen wir hörig werden — hat als Zwillingsschwester die Verantwortung in einer Bindung, die jede individuelle Freiheit begrenzt. „Ohne diese Verantwortung ist der Anspruch auf Freiheit eine Vermessenheit" (Paul Natorp). In jenem ersten großen Bildungsroman unseres Volkes, der ParsifalDichtung des Wolfram von Eschenbach, muß der Held, nachdem er am Hof des Königs Artus sich in der ritterlichen Tugend der Kühnheit geübt und im Abenteuer bewährt hat, im Schloß des Ritters Gurnemanz die schönere und schwerere Tugend der mäße gewinnen, die seinem Abenteuerdrang und seinem eigenen Willen eine Grenze setzt. Er muß lernen, daß er nicht nur vor sich selbst und seinen ritterlichen Idealen, sondern vor einer anderen, ihm zunächst noch unbekannten Instanz Verantwortung trägt. Aber jene Einheit und Ganzheit des Menschen ist heute noch von einer ganz anderen Seite her bedroht und gefährdet. Es ist nicht das gleiche, wenn man das Wort Ganzheit durch das Fremdwort Totalität ersetzt. Die „Totalität" ist die Karikatur der Ganzheit. Jedes totalitäre Denken hindert gerade die Ganzheit des Menschen, indem sie ihn nach einem bestimmten ideologischen Schema modeln will und dadurch bestimmte Seiten seines Menschseins vergewaltigt und unterdrückt. Ein schizophrenes 18

Nebeneinander und Widereinander bestimmter Verhaltungsweisen ist zwar wohl nicht der Zweck, aber die unausbleibliche Wirkung jedes Totalitarismus, er sei politischer oder religiöser Art. Hinter der Fassade ideologischer Einheit kann die wirkliche Einheit und Ganzheit des Menschentums nicht bestehen und gedeihen. Es muß aber noch ein Letztes zu diesem auf Ganzheit und Einheit ausgerichteten Menschenbild gesagt werden. Diese innere Einheit ist nicht eine freundliche Gabe der Natur, aber auch nicht die Frucht idealistischen Strebens nach Harmonie. Sie ist immer bedroht von den Gegensätzen und Widersprüchen, die in unserem eigenen Sein wurzeln, und der Riß der Spaltung geht — auch unabhängig von äußerer Bedrohung durch uns selber hindurch. Das zu leugnen oder zu übersehen, wäre eine Schwärmerei, die der gefährdeten Wirklichkeit unseres Menschseins nicht gerecht werden kann. Auch im Hinblick auf die Einheit und Ganzheit des Menschen gilt das harte Wort von Leopold Ziegler, daß, wer seine Unschuld beteuert, damit seine Verlogenheit beweist. Das „Heil" — wenn wir dieses so schrecklich entleerte und mißbrauchte Wort in seinem tiefen Sinn als die unzerspaltene Ganzheit verstehen dürfen — ist weder Naturgabe noch sittliches Ideal, sondern es ist eine Gabe, die wir nur empfangen können. Sie als eine Erfüllung des Humanuni anzusehen und zu ersehnen, bleibt nicht minder eine tiefe Notwendigkeit für alle Menschen, die einmal von diesem Verlangen ergriffen sind, und eben dieses gilt von allen, die durch die Jugendbewegung geprägt sind. II Das zweite unter den Kennzeichen, die ich beschreiben oder andeuten möchte, ist ein intensives und persönlich verbindliches Verhältnis zur Natur. Romano Guardini hat in seiner Schrift über das Ende der Neuzeit den „nachneuzeitlichen Menschen" unter anderem beschrieben als einen solchen, der kein persönliches Verhältnis zur Natur habe. Wenn Guardini darin recht hat, so stehen die Menschen der Jugendbewegung, und zwar unabhängig von ihrem Alter, in einem deutlichen und bewußten Gegensatz zu diesem Typus des nachneuzeitlichen Menschen. Der Wandervogel war eine Flucht aus der Stadt in die Natur. Damit ist gewiß nicht sein ganzes Wesen beschrieben, aber doch ein wesentlicher Zug hervorgehoben. Und zwar suchte jene Jugend keineswegs eine mit besonderen Reizen ausgestattete „romantische" Landschaft, sondern eher eine „Urlandschaft", die am wenigsten durch Zivilisationsschäden denaturiert war. Es war, wie es jemand ausgedrückt hat, ein Hinhorchen 19

auf die „Waldkraft", oder um mit Hugo Kükelhaus zu sprechen, ein Lauschen auf jene stillsten und feinsten Kräfte, die den Haushalt der Natur im Gange halten. Man muß diese Rückwendung zur Natur auf dem weitesten Hintergrund verstehen. Ich denke etwa an die Art, wie Gerhard Nebel in seinen Büchern das Geheimnis der Landschaft — und zwar gerade nicht der sehenswürdigen Landschaft - erschließt, oder wie Laurens van der Post die innige Verbundenheit afrikanischer Menschen mit den verschwiegensten Kräften der Natur bis hin zu den Sternen beschreibt und das zugleich als einen „Vorstoß ins Innere" verstehen lehrt. Diese Naturverbundenheit wurde von den Menschen der Jugendbewegung zugleich als eine Verpflichtung zur einfachen und naturgemäßen Lebensweise empfunden und geübt. Gegen die Abhängigkeit von übersteigerten Lebensgewohnheiten und Lebensbedürfnissen wurde eine natürliche Zivilisationsaskese geübt — aus der ahnenden Erkenntnis, welche Gefahr die Ansprüche eines bestimmten Lebensstandards für das echte und unverdorbene Menschsein bedeuten. Das Verlangen nach ungeschminkter Echtheit bestimmte auch die Formen des menschlichen Umgangs, nicht selten auch auf Kosten guter Konventionen, zu denen man kein rechtes Verhältnis mehr finden konnte. Man wollte lieber formlos und selbst etwas brutal erscheinen, als sich dem Zwang gesellschaftlicher Konventionen beugen, die mit der eigenen Wahrhaftigkeit nicht vereinbar erschienen. Wie sehr die Jugendbewegung mit diesem Verlangen nach echten naturgemäßen Formen in Zusammenhang stand mit allgemeinen Kulturbestrebungen jener Jahre, wie sie etwa von Ferdinand Avenarius vertreten waren, ist so bekannt, daß ich darüber nicht viel zu sagen brauche. Freilich ist ebensooft die Naturnähe der Jugendbewegung und verwandter Kreise als eine gefährliche Romantik am Rande der wirklichen Welt getadelt worden. Damit ist nicht in erster Linie der Fanatismus gemeint, mit dem lebensreformerische Prinzipien in Ernährung, Kleidung und Umgangsformen verfochten worden sind — wer wollte leugnen, daß es solchen Fanatismus gegeben hat, aber nicht nur im Kreise der Jugendbewegung! —, sondern ein Mangel an verständiger Nüchternheit, an elementarem Gefühl für die wirkliche Struktur der Welt. Aber vielleicht ist eine solche Romantik einer bestimmten Altersstufe angemessen und als Durchgangsstadium in der Entwicklung zur Reife kaum zu entbehren. Man sollte solche romantischen Neigungen nicht hämisch kritisieren, sondern lieber doch anerkennen, daß sie ein heilsames Gegengewicht darstellen gegen jede rationale Verzwecklichung des Lebens, gegen eine 20

Gefühlsannut, die sich selbst von den tieferen Quellen der Lebendigkeit abschnürt, ja, man möchte wohl wünschen, daß sich bei jüngeren und älteren Menschen etwas mehr Romantik statt bloßen Erwerbsstrebens und statt der hemmungslosen Begeisterung für technischen Fortschritt finden möchte. Wenn in dem engen Kontakt mit der Natur und in dem Streben nach „Natürlichkeit" aller Lebensformen die Gefahr einer Romantik gesehen wird, so hat diese Warnung einen tieferen Grund. Jeder Versuch nämlich, aus der Verbindung mit der Natur einen Maßstab für menschliches Verhalten und Kräfte eigener Erneuerung zu gewinnen, ist insofern tragisch, als der Mensch eben auf keine Weise ein Stück Natur sein oder werden kann. Alle Sehnsucht, sich mit der Natur als einer Quelle der Gesundheit oder der Genesung zu vereinigen, muß in einem schmerzhaften Zwiespalt enden. Die Natur bleibt uns im letzten Grunde fremd, wie ein Stück verlorener Heimat, aus der wir verbannt sind, und es gibt keinen Schleichpfad, der uns an dem Cherub mit dem flammenden Schwert vorbei in das verlorene Paradies naturhafter Unschuld zurückführen könnte. Diese Erkenntnis ist für jeden, der sich ihr öffnet, mit der bitteren Erfahrung eigener Schuldverstrickung verknüpft, und dieser Zusammenhang, der nicht übersehen werden darf, rückt die oft sehnsuchtsvolle Liebe zur Natur in die Nähe einer gefährlichen Illusion. Aber mit dieser nüchternen Einsicht und Selbstbescheidung ist das andere keineswegs entwertet oder verleugnet, daß in jener Liebe zur Natur zugleich die Unterscheidung des Gewachsenen und Gewordenen von allem Gemachten wurzelt. Die Fähigkeit, ja selbst die Bereitschaft zu dieser Unterscheidung des Schöpfungsmäßigen von aller technischen Leistung ist unter uns weitgehend abhanden gekommen, und dieser Verlust bedeutet eine wahrhaft tödliche Bedrohung des Humanum. Es ist kein Zufall, daß Romano Guardini in der genannten Schrift den nachneuzeitlichen Menschen, der kein Verhältnis zur Natur hat, zugleich als einen solchen beschreibt, der keinen Wert mehr darauf legt, ein wirklicher Mensch zu sein. In der Tat: wer in dem Rausch technischer Möglichkeiten die Ehrfurcht vor dem Geschaffenen und Gewachsenen als solchem verloren hat, ist in der äußersten Gefahr, der Unmenschlichkeit zu verfallen. Es ist darum eben nicht nur eine illusionäre Romantik gewesen, wenn wir in den Jahren der Jugendbewegung das Eintauchen in die Wurzelkräfte der Landschaft für schlechterdings wichtiger und wertvoller gehalten haben, als alle intellektuellen Ideen. Wenn die Jugend um das Sonnwendfeuer lagerte oder tanzte, so empfand sie unmittelbar die Faszination des elementaren, und wenn dabei vielleicht etwas pathetisch Stefan Georges Feuerlied deklamiert wurde: 21

Wer je die Flamme umschritt, bleibe der Flamme Trabant. Wie er auch wandert und kreist: wo noch ihr Schein ihn erreicht, irrt er zu weit nie vom Ziel —, so war damit ja nicht nur vom Sonnwendfeuer geredet, sondern an dem unheimlichen Element des Feuers war jener Jugend die Fragwürdigkeit der ganzen Zivilisationswelt und einer vom Menschen domestizierten und mißbrauchten Natur aufgegangen. Eben dieses spürt man einem Menschen an, ob er noch Tuchfühlung hat mit diesen elementaren Kräften, oder ob er in einem technischen Rausch von ihnen abgeschnürt ist und weder ihre Heilkraft noch ihre dämonische Zwiespältigkeit kennt. Die Art, wie jemand spricht, ist ein fast untrügliches Kennzeichen dafür, ob er der Natur verbunden oder von ihr gänzlich losgelöst ist. Die Sprache ist ja, nach einem tiefen Wort von Max Picard, ein Vorgegebenes, das der Mensch wohl in persönlicher Weise gebrauchen soll, aber nicht in tyrannischer Willkür mißbrauchen und zerstören darf. Vielleicht ist eine neue musikalische Kultur eine der sichtbarsten und dauerndsten Früchte der Jugendbewegung. Aus der Naturverbundenheit erwuchs ein jener Zeit fast verlorengegangener Geschmack am gewachsenen Volkslied und einer echten, ungekünstelten und hingebenden Form des Singens. Es ist nicht meines Amtes, dem vorzugreifen, was die Musiker in diesen Tagen über diesen neuen Stil musikalischer Kultur und ihre Verwurzelung in der Jugendbewegung sagen werden. Aber ich habe oft bedauert, daß nicht im gleichen Maß von der Bedeutung dieser an der Natur gewonnenen und geübten Echtheit für die Kunst des Sprechens und Redens Zeugnis abgelegt worden ist. Und doch ist die Sprache, genauer gesagt das Sprechen, eine unbestechliche Probe darauf, wie weit der einzelne dem Schöpfungsmäßigen und Natürlichen verpflichtet ist, oder wie weit er sich an dem allgemeinen Niedergang der Sprache und ihrer Entleerung und Verfälschung zu einem bloß technischen Mittel der Kommunikation mitschuldig macht. Sprechen und Singen sind zwei wesentliche Lebensgebiete, in denen sich die uns anvertraute Verantwortung für die Pflege des Schöpfungsmäßigen ausdrücken und darstellen will. Denn in der Verantwortung für die geschaffene Welt vollendet sich die Liebe zur Natur, und diese Verantwortung ist zugleich der beste Schutz gegen jede romantische Illusion über das, was die Schöpfung für den Menschen und der Mensch für die Schöpfung bedeutet.

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III Als drittes Merkmal, an dem die Menschen, die durch die Jugendbewegung hindurchgegangen und an ihr geprägt sind, sich gegenseitig erkennen, nenne ich die unbefangene Offenheit für den anderen in dem Verhältnis von Mensch Zft Mensch. Gewiß ist auch in den Reihen der Jugendbewegten diese schöne Menschlichkeit bisweilen von Ideologien überwuchert worden. Wenn man das Erbe der Jugendbewegung hier und heute auf irgendwelche Programme oder Formen festlegen wollte, dann könnte das wirklich ein Gespensterzug werden, wie besorgte Freunde schon im voraus geunkt haben. — Aber nein, bei aller Verschiedenheit der Bünde und ihrer Programme und Zielsetzungen war da und ist bis heute eine in der Tiefe begründete Verwandtschaft im gemeinsamen Gegensatz gegen alle Scheuklappenmenschen, die in politischen oder religiösen Dogmen so gefangen sind, daß sie keinem Andersdenkenden oder Andersredenden mehr in menschlicher Unbefangenheit begegnen können. Hier wurzelt auch die Absage an jede Art von Autorität, die den Menschen nicht zur Freiheit entbinden, sondern ihn festlegen und anbinden will. Auf den Götzenaltären der für unfehlbar gehaltenen Ideen sind mehr Menschenopfer gebracht worden als jemals in blutigen Kulten der Vorzeit. Nur scheinbar steht die zuchtvolle Einordnung in einen engen und tragenden Kreis im Gegensatz zu jener unbefangenen Offenheit. Die Lebensform des Bundes gehört mit innerer Folgerichtigkeit zu jenem Eigenleben der Jugend. Aber so sehr die Beheimatung in einem Jugendbund auf einer gewissen Lebensstufe neben der Bindung in der Familie und vielfach an ihrer Stelle ihr Recht hat, so wenig ist doch die tragende Kraft der Familie für den Bund einfach aufgehoben. Ja, ich glaube, daß eine gewisse Abkehr von der Familie sehr oft in ihrer Bedeutung für das Gemeinschaftsleben der Jugend verhängnisvoll überschätzt worden ist. Immer bewährt sich die Offenheit für den anderen zunächst in dem überschaubaren Lebenskreis als der einzigen Stätte wirklicher Verantwortung; denn hier begegnen sich die Menschen verschiedenen Geschlechts, verschiedenen Alters, zum Teil auch verschiedener innerer Haltung. Und wer hier, als Glied seiner Familie, als Kamerad im Raum des Bundes, sich nicht bewährt, wird sich auch für die verantwortungsvollen Aufgaben in weiteren Kreisen als untüchtig erweisen. Nie werde ich vergessen, wie auf einem jener Jugendtage in Hofgeismar die Hamburger Lehrerin Alma de l'Aigle mir zuflüsterte: „Kannst du dir einen dieser jungen Männer als Vater vorstellen?" Das war freilich, vielleicht kaum beabsichtigt, eine vernichtende Kritik an der echten Gemeinschaftsfähig23

keit dieser Leute. Denn Offenheit und Verantwortung ist keineswegs ein Gegensatz, sondern nur in der dienstwilligen Verantwortung kann die Offenheit davor bewahrt werden, ins Maßlose und Grenzenlose zu zerfließen. Es ist wahrhaftig leichter, die Millionen zu umschlingen, als für einen konkreten Menschen, der uns begegnet, wirklich offen und für ihn da zu sein! Echte und fruchtbare Offenheit gibt es nur von einem festen Standort aus. Man muß wissen, wohin man gehört, um dann unbefangen genug dem anderen begegnen zu können, sonst verschwimmt alles in der charakterlosen Allgemeinheit eines leeren und unbegrenzten Raumes. Nur wer dieses beides lebendig miteinander zu verbinden weiß: eigene Festigkeit (ohne spröde Härte) und Offenheit für den anderen, auch und gerade, wo er anders ist, ist dann fähig für fruchtbare Gespräche zwischen den Generationen, zwischen den Parteien, zwischen Konfessionen und Religionen, zwischen Völkern und Rassen. In dem schönen Aufsatz, den Professor Theodor Wilhelm als Einführung in den Band der Dokumentation der Jugendbewegung geschrieben hat, wird mit Recht davon gesprochen, daß vielleicht die schwerste unter allen Aufgaben solcher Offenheit die Offenheit für die Vergangenheit ist. In der heutigen Philosophie besteht die Neigung, die Lebendigkeit des Menschen nur in seiner Offenheit für die noch unbekannte Zukunft zu sehen. Es scheint mir aber ebenso wichtig, daß wir offen sind und offen bleiben für das Erbe, das aus persönlicher oder gemeinschaftlicher Vergangenheit auf uns zukommt. Dazu gehört viel Erkenntnis, auch Demut gegenüber allen geschichtslosen Utopien, und vor allem die Bereitschaft, auch die Schuld der Vergangenheit anzunehmen, statt sie abzuschütteln, als ginge sie uns nichts an. Wer die Vergangenheit verleugnet, ist geschieht sunkräftig! Freilich, auch diese schöne Offenheit für den anderen hat ihre feste und unüberschreitbare Grenze. Sie muß notwendigerweise versagen, wo sie einem grundsätzlichen Mangel an solcher Offenheit begegnet. Ist es überhaupt möglich, einem unbelehrbaren Scheuklappenmenschen, der nichts Eigenes denken und sagen kann, sondern nur der Funktionär festgefahrener Ideologien ist, mit Offenheit zu begegnen? Die grundsätzliche Intoleranz — gleichviel welcher Art - hat das Recht verwirkt, selbst toleriert zu werden. Es bedarf wohl eines großen Maßes an Liebeskraft, um jene zähen Krusten aufzuweichen und den ideologischen Panzer, mit dem sich jemand gegen die Zumutung eigenen Denkens und erst recht gegen die Zumutung lebendiger Begegnung abschirmt, zu durchstoßen. Wir haben wohl in der Zeit der Jugendbewegung dieses so sehr mißverstandene und mißbrauchte Wort Liebe nicht oft im Munde geführt, jedenfalls nicht für 24

diese Art von Offenheit. Man muß wohl durch viele schmerzliche Erfahrungen hindurchgegangen sein, um das zu erkennen, daß wir einander nichts so sehr schuldig sind, als diese Kraft der Liebe, und daß wir in einem sehr tiefen Sinn aneinander schuldig werden, wenn wir statt dessen in unserem menschlichen Miteinander den Surrogaten und Karikaturen der Liebe Raum geben, die unter uns so sehr im Schwange sind Hat das alles, was ich hier zu sagen versucht habe, etwas zu tun mit den konkreten Formen der Verantwortung, unter denen wir heute stehen? In der unübersehbaren Literatur über die Jugendbewegung spielen die politischen Ideen und Ansätze eine erhebliche Rolle, freilich auch die Klage über die politische Unfruchtbarkeit dieser Ideen. Es ist sehr billig, das ganze Vokabular von „Ritter und Reich", von „Volk und Mannschaft" als verstiegene Romantik abzutun. Aber ich glaube, daß in jenen manchmal etwas prätentiös vorgetragenen Ideen das Gefühl für eine gesamtmenschliche Verpflichtung, die Ahnung von einer übergeordneten Gemeinschaft des Verschiedenen am Werk war. Die Tatsache, daß all diese Begriffe vom Dritten Reich verbogen, verfälscht und mißbraucht worden sind, sollte uns am wenigsten abhalten, dem tieferen Sinn jener politischen Leitbilder nachzuspüren. Freilich ist nicht allein die Tyrannis nach 1933 dafür verantwortlich zu machen, wenn von der Jugendbewegung keine sichtbaren Wirkungen im Bereich des Politischen ausgegangen sind. Es mangelte zu sehr an denkerischer Bewältigung der Wirklichkeit, und es ist wohl tief in dem Wesen der Jugendbewegung begründet, daß sie gleich den Freiheitskämpfern vor 150 Jahren zu jenen Aufbrüchen der deutschen Geschichte zu zählen ist, denen die Auswirkungen in einer bleibenden Gestalt versagt blieb. Aber es wäre wohl überhaupt falsch, von einem politischen Programm der Jugendbewegung zu reden. Woran liegt es, daß trotzdem Menschen aus den verschiedensten Kreisen und Gruppen einander als zutiefst verwandt erkennen, wenn sie aneinander dieses Humanuni der Jugendbewegung verspüren? Erlauben Sie mir einen Vergleich: Ich glaube nicht, daß man von einer christlichen Politik sprechen darf, um so mehr freilich davon, welche konkrete Verantwortung Christen im öffentlichen Leben haben. Genau entsprechend scheint es mir auch hinsichtlich der Jugendbewegung zu liegen: es gibt keine Politik der Jugendbewegung, wohl aber wird sich das Erbe der Jugendbewegung immer wieder an einer bestimmten Art des politischen Denkens und Handelns erweisen. Die unentbehrliche säkulare Sachlichkeit kann sich verbinden mit jener bestimmten Art des Menschseins und wird erst in dieser Verbindung — sie ist selten genug! — wirklich fruchtbar. 25

Niemand kann sich verbergen, daß wir in unserer politischen Situation unter einem tiefen und weitverbreiteten Unbehagen leiden. Dieses Unbehagen richtet sich weniger gegen falsche Gesetze, als gegen ein menschliches Versagen. Wo sind die Menschen, die im Getriebe technischer und bürokratischer Apparate sich ein lebendiges Verhältnis zur gewachsenen Natur und ein tiefes Verlangen nach menschlicher Ganzheit, Einheit und Echtheit bewahrt haben? Wo sind die Menschen, die einander nicht mit pflichtmäßigem Mißtrauen, sondern in menschlicher Offenheit begegnen, und auch in dem anders Denkenden und anders Redenden den lebendigen Menschen suchen? Wo sind die Menschen, in deren Denken, Handeln und Sein der Mensch als solcher, das Menschliche im Menschen, den ihm gebührenden Wert und Rang behält? Hier, wenn irgendwo, scheint mir das Bleibende der Jugendbewegung zu liegen, oder nicht eigentlich der Jugendbewegung, sondern ihrer Sehnsucht nach echtem Menschentum. Der Meißner-Tag, der noch einmal das Gedächtnis der Jugendbewegung unter uns beschwört, kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr jeder einzelne Mensch und wie sehr die Menschheit als Ganzes heute in der Tiefe bedroht und gefährdet ist. Gefährdet nicht so sehr durch drohende äußere Katastrophen, sondern vielmehr durch eine Zersetzung und Selbstzerstörung des Humanum. Und wenn wir hier alle den bedenklichsten Infektionen ausgesetzt sind, von denen wir in irgendeinem Maß schon angesteckt sind, so kann Heilung und Heil der gefährdeten Menschheit gewiß nicht durch noch so ehrwürdige Programme und Formeln kommen. Der Schaden kann, wie immer und überall, nur durch ansteckende Gesundheit geheilt werden.

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MICHAELSBRUDERSCHAFT RÜCKSCHAU UND RECHENSCHAFT* (1961) Das Datum unserer Stiftung unmittelbar nach dem „Tag St. Michaels und aller Engel" war nicht zufällig, und so war auch umgekehrt unser Name nicht nur durch das Datum unserer Stiftung bestimmt. Vielmehr waren wir von Anfang an erfüllt von der Ahnung (es war mehr eine Ahnung als eine klare Erkenntnis) von dem dämonischen Charakter der Not um uns und in uns selbst und von dem Bewußtsein, daß die wahren Entscheidungen der Kirche in dem geistlichen Kampf ihrer Glieder fallen. — Ein kleiner Kreis, Ludwig Heitmann, Karl Bernhard Ritter, Wilhelm Thomas und ich, hatte den Auftrag empfangen, an Stelle eines von Thomas vorgelegten Entwurfs eine „Urkunde" für unsere Bruderschaft zu verfassen. In einer unvergeßlichen Nachtarbeit wurde das Werk beendet, und als wir am anderen Morgen das Ergebnis dieser unserer Arbeit den Brüdern vorlegten, fanden sie keinen Anlaß, etwas Wesentliches zu bessern. Eine „Urkunde" soll ja Kunde geben von der Grundlage einer Geschichte; darum war es von Anfang an fraglich und ist bis heute fraglich, ob dieser Charakter einer Urkunde nicht jede nachträgliche Änderung verbietet. Weil wir die Diskussion unseres Versuches in der theologischen und kirchlichen Öffentlichkeit scheuten, vollzog sich alles zunächst in großer Heimlichkeit. Selbst unseren eigenen Frauen gegenüber blieb zunächst der „Berneuchener Arbeitsring" der Tarn-Name für unsere Bruderschaft. Uns selbst, die wir jene Tage erlebt und mitgestaltet haben, gelingt es kaum mehr, uns ganz zu vergegenwärtigen, von welchem Hochgefühl eines nicht nur für uns selbst entscheidenden Ereignisses wir erfüllt waren, und welche großen Hoffnungen für unsere Kirche sich für uns mit der Stiftung unserer Bruderschaft verbanden. 1. Die innere Ordnung der Bruderschaft Es entspricht diesem Ansatz unserer Bruderschaft, wenn wir in selbstkritischer Rückschau zunächst von der inneren Ordnung der Bruderschaft sprechen und erst hernach von ihren nach außen gerichteten Aufgaben. Damit ist keine Rangordnung aufgerichtet. Wir sind uns durchaus dessen bewußt, daß die innere Ordnung der Bruderschaft von ihren Aufgaben her bestimmt ist, daß andererseits freilich alles Wirken nach außen an der Gesundheit und Festigkeit unserer inneren Ordnung hängt. * Rede beim Michaelsfest in Marburg 1961 (gekürzt).

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Bruderschaft Wir wollten das Wort Bruderschaft ganz ernst nehmen und zwar in dem doppelten Sinn, daß einerseits die Kirche selbst Bruderschaft ist als Gemeinschaft geistlicher Zeugung, und daß es andererseits innerhalb der Kirche, in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihr, „Bruderschaften" geben kann, geben soll, deren Glieder in einer besonderen Weise miteinander verbunden und zu einer festen Ordnung gehalten, geschult und zu gemeinsamen Diensten bereit sind. Wir hatten oft Anlaß, uns gegen ein Mißverständnis, um nicht zu sagen einen Mißbrauch des Wortes Bruderschaft zu wehren. Es gab eine Zeit, wo wir es für nötig hielten daran zu erinnern, daß der Besitz und Gebrauch eines Vervielfältigungsapparates noch nicht das Recht für den Namen Bruderschaft gibt, und wir wehren uns dagegen, daß politische Kampftruppen, die ihre Meinung der ganzen Kirche aufzwingen wollen, als die kirchlichen Bruderschaften das Wort führen. In steigendem Maße ist es uns deutlich geworden, daß es keine Bruderschaft geben kann ohne geistliche Väter. „Solche geistliche Vaterschaft kann nur darin bestehen, daß einer stellvertretend für die anderen gegen die Macht der Finsternis steht". Darin hat das Schlagwort „Hierarchie" sein relatives Recht. Dieses Schlagwort deutet die kreuzförmige Ordnung im Raum des Heiligen an, die sich immer in einer Überordnung und einer Nebenordnung zugleich verwirklichen muß. Nur auf Grund dieser Polarität gibt es echte tragende und bergende Gemeinschaft. Wir haben es erfahren, wie auch ganz Außenstehende, ohne das mindeste von unserer Bruderschaft zu wissen, die tragende und bergende Kraft einer Gemeinschaft spürten an der Art, wie wir einander und wie wir ihnen begegneten. Aber wir können dabei die kritische Frage nicht unterdrücken, wie weit wir selbst dieser Forderung gerecht geworden sind, wie weit wir die Gesinnung der Achtung und Liebe, die wir einander gelobt haben, in Gehorsam, Hingabe und Hilfsbereitschaft bewährt haben. An schmerzlichen Enttäuschungen hat es uns nicht gefehlt. Die Ämter Für das innere Gefüge und die Ordnung der Bruderschaft sind die Amter entscheidend wichtig, die es in unserer Bruderschaft gab und gibt. Nach der Urkunde lag die Leitung der Bruderschaft bei einem „Rat" aus fünf Mitgliedern, der aus seiner Mitte den Leiter bestellte. Doch hat sich sehr bald die Stellung des Leiters, oder, wie wir später sagten, des „Älte28

sten" besonders herausgehoben, und wir haben, wie wir es manchmal ausgesprochen haben, in unserem begrenzten Kreis die innerlich notwendige Entwicklung zu einem monarchischen Episkopat stellvertretend wiederholt. Die immer wieder — bis in die letzten Jahre hinein — auftauchenden Vorschläge, diese ganz persönliche Leitung durch den Ältesten im Sinn einer Ausgliederung dieses Amtes auf ein Gremium zu verteilen, sind im Grunde immer als das beurteilt und abgelehnt worden, was sie waren und sind, als ein Rückfall in eine dem Wesen einer geistlichen Gemeinschaft widerstreitende demokratisch-presbyterale Verfassung. Die Schwierigkeiten, unter denen wir ja auch heute leiden, den Bruder zu finden, der äußerlich und innerlich in der Lage ist, dieses Amt der Leitung zu übernehmen, darf uns nicht dazu verführen, richtige Erkenntnisse zu verleugnen und nach gut protestantischer Gewohnheit aus Notlösungen neue Grundsätze abzuleiten. In der Ordnung, die wir für die Einführung des Ältesten geschaffen haben, kommt deutlich zum Ausdruck, wie sehr wir dieses Amt als das Amt einer geistlichen Führung, als das Amt einer echten „episkopi" aufgefaßt hatten, das seinem Wesen nach nur in persönlicher Verantwortung verwirklicht und nicht von einem, wenn auch noch so eng verbundenen, Gremium wahrgenommen werden kann. Es ist daraus aber zugleich deutlich, daß dieses Amt des Ältesten Anforderungen stellt, die mit einem vollen Amt in der Kirche auf die Dauer kaum vereinbar sind. Es soll nicht vergessen werden, daß bei dem Wechsel im Amt des Ältesten (1938, 1942, 1946 und nun wieder 1961) wenigstens in drei Fällen ernste gesundheitliche Störungen oder Gefährdungen durch die doppelte Belastung dem Ältesten die weitere Ausübung seines Amtes verboten haben. Die Frage, ob es möglich und wünschenswert sei, einen Bruder für die hauptamtliche Verwaltung dieses Amtes freizustellen, ist immer wieder, meines Wissens zum ersten Mal 1937 ernstlich erwogen worden. Aber es sind wohl nicht nur äußere, finanzielle Schwierigkeiten, die einer solchen Lösung im Wege standen. Es entsprach diesem geistlichen Verständnis des Ältestenamtes, daß wir darauf bedacht waren, den Ältesten der Bruderschaft durch einen offiziellen Mann der Kirche in sein Amt einführen zu lassen. So wurde zuerst Bruder Ritter in Isenhagen (1935), dann Bruder Spieker in Hildesheim (1937) und darauf ich in Hannover (1942) durch Landesbischof und Abt Marahrens in dieses Amt eingeführt. Es war klar und wurde auch deutlich ausgesprochen, daß diese Amtseinführung keine kirchenrechtliche Bedeutung haben konnte. Dennoch war es uns wichtig, daß der Älteste sein episkopales Amt aus der Hand eines Mannes empfing, der zum min29

desten als Abt von Loccum sein Amt in ununterbrochener Amtsfolge bis in das frühe Mittelalter zurückverfolgen konnte. Die später von unserem Bruder Dombois vertretene Erkenntnis, daß jedes Amt der Kirche von Anfang an nicht isoliert, sondern in konkreten Relationen bestanden hat, war nicht das Ergebnis rein historischer Forschung, sondern es entsprach unserem eigenen Lebensgesetz, wonach der Älteste immer an den Rat, und in späteren Jahren, als die Bruderschaft zahlenmäßig wuchs und sich das Schwergewicht ihres Lebens in die einzelnen Konvente verlagerte, in steigendem Maß an das Kapitel gewiesen war. Mit großem Dank haben wir immer wieder die, auch durch starke Gegensätze nie ernstlich bedrohte, starke brüderliche Gemeinschaft dieses engeren Kreises erfahren, und durch mehrere Jahre hatten wir in dem westfälischen Wasserschloß Oberbehme durch die Gastfreundschaft unserer Freunde von Laer für die Tagungen des Kapitels eine Herberge, wie wir sie uns schöner nicht hätten denken können. Fast noch bedeutsamer als das Amt des Ältesten war und ist das von der Bruderschaft neu geschaffene Amt des „Helfers", in dem jedem einzelnen Bruder die Bruderschaft konkret begegnet. Gedacht war dieses Amt von Anfang an als die entscheidende Konkretion der Bruderschaft, und zwar so, daß der Helfer keineswegs nur der „Anwalt" des einzelnen Bruders gegenüber den anderen Brüdern, sondern mindestens im gleichen Maß der vollmächtige Vertreter der Bruderschaft, ihrer Ordnung und Autorität gegenüber dem einzelnen Bruder sein soll. „Es kann eine Zeit kommen", so heißt es in der Anrede zum Michaelsfest 1944, „wo sich das bruderschaftliche Leben auf den engsten Raum des Helferverhältnisses verdichten muß; dann vollzieht ihr die Bruderschaft, indem ihr euer Helferamt verwirklicht und euch den Dienst gefallen laßt, den euer Helfer euch tun will." Von Anfang an sollte dieses Helferamt nicht auf die Träger des geistlichen Amtes beschränkt sein. Insbesondere hat es sich manchmal besonders bewährt, wenn ein Theologe einen Nicht-Theologen als seinen Helfer hatte, weil dann nicht die Gefahr besteht, daß die Seelsorge in eine theologische Diskussion abgleitet. Dagegen erwies sich der anfängliche Versuch eines gegenseitigen Helferverhältnisses als undurchführbar, und ebenso konnte das Helferverhältnis da nicht recht gedeihen, wo die Brüder von früher her in einer allzu nahen Vertraulichkeit miteinander verbunden waren. In beiden Fällen konnte und kann es schwerlich zu jenem Abstand und dem Verhältnis einer sachlichen Autorität kommen, ohne die es echte seelsorgerliche Hilfe nicht geben kann.

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Die Gemeinschaft der Brüder Bruderschaft bedarf der leibhaften Verwirklichung. Darum muß die Bruderschaft verkümmern, wenn die Brüder nicht den Willen und die Möglichkeit haben, in nicht allzu großen zeitlichen Abständen zusammenzukommen. Nur in den ersten 6 Jahren war es uns möglich, die Bruderschaft als ganze alljährlich zusammenzurufen, und jene Michaelsfeste der ersten Jahre (1931, 1932, 1933 in Marburg, 1934 in Ratzeburg, 1935 in Isenhagen, 1936 in Wittenberg) haben die Bruderschaft entscheidend geprägt. Seither kann sich die Bruderschaft als ganze nur in größeren zeitlichen Abständen versammeln, so wie heute hier in Marburg. Umso größere Bedeutung freilich haben die Michaelsfeste, zu denen sich die einzelnen Konvente einzeln oder in Gruppen versammeln. Die Treue, mit der in den Zwischenzeiten im Lauf des Jahres die Konvente sich leibhaft zusammenfinden, ist in den einzelnen Konventen sehr verschieden. In manchen Konventen verbieten schon die großen Entfernungen eine wirklich regelmäßige Begegnung der Brüder. Die Frage kann freilich nicht unterdrückt werden, ob denn diese Treffen immer so gehaltvoll sind, daß sie für die einzelnen Brüder eine wirkliche Anziehungskraft haben und daß der erhebliche Aufwand an Zeit, Kraft und Geld wirklich gerechtfertigt ist. Der Stil der Bruderschaft Vielleicht war es zunächst ein Erbe der Jugendbewegung, das aber sehr bald in dem Ernstnehmen der Mahnungen im Neuen Testament auch eine theologische Begründung fand, wenn wir von Anfang an unser Leben, sowohl in der Gemeinschaft wie im persönlichen Bereich, in einer bestimmten gesamtmenschlichen Haltung, man muß schon sagen, in einem bestimmten Stil zu gestalten suchten. Ein solcher Stil ist schwer zu beschreiben. Wahrscheinlich sehen Außenstehende seine Merkmale deutlicher als wir selber — zumal ja ein Lebensstil nicht bewußt gemacht und gepflegt werden kann. Es wäre undankbar und ungerecht gegen uns selbst, wenn wir unterschätzen wollten, daß wir jedenfalls bei unseren Festen eine gute Form gefunden und gewahrt haben, die wir selbst als eine Wohltat empfinden gegenüber der Formlosigkeit des landläufigen Protestantismus. „Eine beglückende innere Sicherheit und Zucht des Stils", das war der Eindruck schon von einem unserer frühen Michaelsfeste. Aber es handelt sich ja weniger um das Bild, das wir selbst und unsere Gäste auf unseren großen Tagungen sehen, sondern, wie es in unserer 31

Regel heißt, um eine „Lebensführung, wie sie Kämpfenden ziemt". Ohne „Askese" kann es keine kämpfende Schar, keine festgefügte Gemeinschaft geben. Eine solche asketische Lebensführung zeigt sich weniger in der Beobachtung bestimmter einzelner Forderungen als in einer Gesamthaltung, in der sich Ordnung und Zucht in allen leiblichen Dingen, Zucht der Rede, Rücksicht und Hilfsbereitschaft bewähren. Zwar haben wir fast in jedem Jahr bestimmte Fastenanweisungen als Auslegung der Sätze empfangen, die in unserer Regel von der Selbstzucht der Brüder sprechen. Doch zeigt eine Durchsicht dieser Anweisungen, daß es dabei weniger um bestimmte Fastenordnungen als um allgemeine Anweisungen zu einer in diesen Wochen besonders ernstgenommenen Zucht in allen Dingen gegangen ist. Meditation und Seelsorge Leibliche Übung, Atmung, Ernährung, Zucht im Gebrauch von Genußmitteln, Beschäftigung mit der Natur, handwerkliche Tätigkeit, Begegnung mit der Geschichte, mit Dichtung und Kunst schien uns in unseren besten Zeiten wichtiger als alle Übungen im einzelnen. Wenn auch ein systematischer Aufbau solcher Übungen, wie ihn einzelne Brüder versucht haben, leicht zu willkürlichen Konstruktionen führt, so hätte doch gerade in diesen entscheidenden Dingen gewiß mehr geschehen können, statt alles dem Zufall und persönlichen Liebhabereien zu überlassen. — Dazu kommen jene täglichen Übungen im engeren Sinn, zu denen uns die Regel verpflichtet, zu denen wir in unserem Schrifttum so überreiche Hilfen haben: nicht „Bibelarbeit", sondern Bibellese; Umgang mit dem Liedgut der Kirche; Auswendiglernen von Liedern, Psalmen und anderen Stücken der Heiligen Schrift; die wichtige Anregung, eine Sammlung von Väterlesungen anzulegen, als Analogie zu dem, was der römische Priester mit den Lesungen der Matutin empfängt, ist über den Plan bis heute nicht hinausgekommen. Dazu fügt sich dann die Meditation im engeren Sinn (nicht in jenem mißbräuchlichen Gebrauch dieses Wortes, wie er in unserer homiletischen Literatur verbreitet ist). Ich bin nicht sicher, ob allen Brüdern noch bewußt und gegenwärtig ist, was wir eigentlich mit dieser meditativen Übung gemeint und was wir uns von ihr versprochen haben. Einige Brüder haben sich um diese grundsätzliche Frage besonders verdient gemacht (so u. a. A. D. Müller: Kampf gegen Verflachung und Intellektualismus: „die Gewinnung eines durch besondere Ruhe und Klarheit ausgezeichneten Seelenzustandes; dann auch Erlangung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die auf anderem Weg nicht zu gewinnen sind.") Also Ein32

tauchen in die so schrecklich verschüttete Schicht, in der wir kindlich und in Bildern denken, also nicht so sehr eine besondere Schulung in Meditation, sondern durch Meditation eine Wandlung unseres ganzen Denkens; Betreten eines Raumes, der dem Protestantismus infolge seiner einseitig intellektualistischen Theologie weithin unzugänglich geworden ist. Wir können nicht hoch genug rühmen, welche Bedeutungen dieses meditative Denken für ein vertieftes Verständnis der Heiligen Schrift, für den Vollzug der Liturgie, für den Umgang mit Zeichen und Bildern hat. Diese allgemeine meditative Schulung verband sich für uns mit der überraschenden Entdeckung, daß die abendländische Kirche in den sieben ordines der römischen Kirche nicht nur eine Hierarchie des ausgegliederten Amtes, sondern zugleich eine sehr sinnvolle Stufenordnung geistlicher Grundfunktionen und Verhaltensweisen besitzt, in denen sich das Priestertum aller Gläubigen verwirklicht. Seit uns Erwin Rousselle Weihnachten 1932 auf diesen Zusammenhang hingewiesen hatte, waren wir unter Ritters Führung eifrig bemüht, diesen „geistlichen Pfad" mit bestimmten Übungen auszubauen. Mit großem Ernst haben wir seinerzeit auf Grund jener Erkenntnisse und Erfahrungen eine völlig neue Konzeption für die Ausbildung und Zurüstung der künftigen Pfarrer gefunden und mit sehr detaillierten Vorstellungen niedergelegt, wie die herkömmlichen theologischen Disziplinen einem solchen geistlichen Erziehungsweg sinnvoll eingegliedert werden könnten. Aber diese ganzen Arbeiten sind in unseren Schreibtischen und Aktenschränken vergraben, und wir haben nichts davon verwirklichen können. Das erscheint uns, die wir jene Vorschläge durchdacht und niedergelegt haben, manchmal als ein sehr lähmender Zustand angesichts der verhängnisvollen Auswirkungen eines rein theoretischwissenschaftlich betriebenen Theologiestudiums auf die junge Pfarrergeneration. Die Beichte In diesem Zusammenhang muß schließlich ein Wort über den Versuch, die Einzelbeichte wieder zu beleben, gesagt werden. Der Versuch war bei uns nicht aus allgemeinen theologischen oder kirchlichen Erwägungen geboren, sondern aus dem Verlangen nach konkreter und wirksamer Hilfe in sehr realen menschlichen Nöten. Wir haben eine sehr einfache Ordnung der Einzelbeichte gestaltet, die sich uns — und auch vielen anderen - jahrelang im Gebrauch bewährt hat. Wir sind darüber von den einen gescholten worden, von den anderen aber gerade in diesem Bemühen anerkannt, zum Teil auch überschätzt worden. Es ist kein Zufall, 33

daß auf den Kirchentagen jedesmal gerade einige Glieder unserer Bruderschaft um diesen Dienst der seelsorgerlichen Hilfe und der Einzelbeichte gebeten worden sind. Wir halten es für ein unverzeihliches und verhängnisvolles Versäumnis unserer Kirche, daß sie dem Pfarrer, auch schon dem jüngsten Vikar das Amt der Seelsorge auferlegt und anvertraut, ohne darauf zu dringen, daß er selbst diesen Dienst der Beichte an sich geschehen läßt; und wir selbst haben darum die Ordnung, daß kein Bruder Beichte hören soll, der nicht selbst von der Möglichkeit zu beichten, Gebrauch gemacht hat. Schlechterdings entscheidend ist die Frage, ob die Brüder selber wirklich den Mut finden zu einer gründlichen Beichte, und ob sie dann einen Bruder finden, zu dessen Ernst, Barmherzigkeit und Verschwiegenheit sie unbedingtes Vertrauen haben können, und das ist ja wahrhaftig etwas anderes als menschliche und freundschaftliche Nähe und Verbundenheit. 2. Die Aufgaben der Bruderschaft Die engsten Kreise Wundert und beklagt euch nicht, wenn ich unter den Kreisen, denen gegenüber wir Aufgaben zu erfüllen haben, an erster Stelle unsere Frauen nenne. Ich weiß wohl, daß dieses nicht eigentlich eine Aufgabe nach außen hin genannt werden kann: immerhin, die Bruderschaft ist eindeutig ein Zusammenschluß von Männern, und nicht von Ehepaaren, und wir hatten guten Grund, die Stiftung unserer Bruderschaft zunächst auch vor unseren eigenen Frauen verborgen zu halten, um unseren Aufbruch nicht von vornherein gleich wieder in die Atmosphäre eines bürgerlichfamiliären Protestantismus absinken zu lassen. Gegen diese Schweigepflicht haben manche Brüder starke Bedenken geäußert, weil sie meinten, ihren Frauen gegenüber keinerlei Geheimnis haben zu dürfen. Demgegenüber wurde von seiten des Rates damals und später klar ausgesprochen, daß die Bruderschaft eine Kampfgemeinschaft von Männern ist und bleiben muß. Eben dieses hatte und hat Konsequenzen nach zwei Seiten: Ein kühles Nebeneinander von Bruderschaft und Ehe ist nicht möglich. Jeder Bruder sollte seiner Ehefrau von der Existenz der Bruderschaft Kenntnis und an ihrem Leben Anteil geben, „soweit es ihm für seine Ehe unerläßlich erscheint". Daneben ist es immer mehr als eine wichtige Aufgabe erkannt worden, die Frauen von Zeit zu Zeit teilnehmen zu lassen an den Zusammenkünften und Gottesdiensten der Bruderschaft, da 34

und dort auch am Michaelsfest, wobei aber die eigentlich bruderschaftlichen Feiern und Konvente selbstverständlich ausgenommen bleiben müssen. — Auch eine eigene Anrede des Ältesten an die Frauen der Brüder enthält einmal der Rundbrief, und die wiederholte Veranstaltung von geistlichen Wochen für Brüderehepaare zeigt am deutlichsten den Willen, Bruderschaft und Bruderehe in eine lebendige Verbindung zueinander zu bringen. Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, daß die Frauen der Brüder in einem sehr verschiedenen Maß auch nur den Wunsch und die innere Bereitschaft haben, an der bruderschaftlichen Bindung ihrer Männer inneren Anteil zu nehmen. Neben den Frauen, die ihren Mann zu dieser Bindung ermutigt haben und ihn trotz eigener Opfer ständig darin bestärken und tragen, stehen andere, die davon nichts wissen wollen und vielmehr der Meinung sind, es sei an der Zeit, diesen romantischen Aufbruch als gescheitert zu beenden. So schwer das dann für den einzelnen Bruder sein mag, so wenig darf ein Bruder deswegen, weil seine Frau kein inneres Verhältnis zur Bruderschaft gewinnen kann, in der Bruderschaft gering geachtet, sondern müßte gerade darin mit besonderer Liebe getragen werden. Es muß völlige Freiheit darin herrschen, wie weit die einzelnen Brüderfrauen an der Gedankenwelt, der Ordnung und dem Leben der Bruderschaft Anteil nehmen, und es muß umgekehrt auch der Gefahr ins Auge gesehen werden, daß einzelne Brüder sich von ihren Frauen in einer solchen Weise abhängig machen, daß darunter ihre innere und äußere Treue zur Bruderschaft und die Erfüllung ihrer bruderschaftlichen Verpflichtungen leidet. In beiderlei Hinsicht spiegelt sich im Dasein einer Bruderschaft verheirateter Männer das ganze spannungsreiche Problem der durch die Reformation freigegebenen Ehe des Pfarrers, und was die Augsburgische Confession darüber in ihrem Artikel XXIII „De conjugio sacerdotum" gesagt hat, ist kein echter Beitrag zu dieser Frage. Eine wirkliche theologische Durchdringung dieser Frage ist unsere Kirche ihrem Pfarrerstand bis zu diesem Tage schuldig geblieben, und so können wir uns nicht wundern, wenn auch in unserer Bruderschaft diese Aufgabe nicht restlos gelöst sein kann. Der nächstweitere Kreis, dem gegenüber wir Aufgabe und Verantwortung haben — mit dem Kreis der Brüderfrauen sich vielfach überschneidend — ist der Berneuchener Kreis, oder wie wir ihn dann später genannt haben, der Berneuchener Dienst. Wir geben uns nicht immer deutliche Rechenschaft darüber, in welchem Ausmaß kirchlicher Heimatlosigkeit viele Protestanten leben, und wir sind denen, die durch uns und mit uns einen Ruf gehört haben, schuldig, 35

daß wir sie nichtallein lassen. Diese Verpflichtung ist leider nicht überall und immer im nötigen Maß empfunden und erfüllt worden. Die Verhältnisse liegen in dieser Hinsicht in den einzelnen Konventen sehr verschieden. Während an einigen Orten der Berneuchener Dienst ein ausgeprägtes Eigenleben führt, bilden an anderen Orten die Glieder des Berneuchener Dienstes den Kern der Pfarrgemeinde und ihres normalen Lebens. Eine Anzahl von Mitgliedern des Berneuchener Dienstes haben sich auf jene sechs Sätze einer geistlichen Lebensordnung verpflichtet, die wir seit 1938 anbieten und gebrauchen. Es sind jetzt ein paar hundert Menschen, die von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. Sie bedeutet von Haus aus eine ganz persönliche seelsorgerliche Bindung, ohne Zugehörigkeit zu einem besonderen Kreis. Aber eine Anzahl dieser „Verpflichteten" haben den Wunsch, in einer regelmäßigen Fürbitte miteinander verbunden zu sein. Die entscheidende Form, in der der Berneuchener Dienst aktiv, sehr aktiv geworden ist, ist die starke Mitverantwortung für das Berneuchener Haus in Kloster Kirchberg. Das Verlangen nach einem eigenen Heim geht auf die Anfangsjahre unserer Bruderschaft zurück. Es war überaus mühsam, daß wir sowohl für die Tagungen der Bruderschaft wie für die Freizeiten des Berneuchener Dienstes immer wieder einen anderen Ort finden und vieles improvisieren mußten und überall nur mehr oder weniger gern gesehene Gäste waren. Es ist erstaunlich, daß trotz dieser erheblichen Schwierigkeiten, unsere Tagungen und Freizeiten sehr bald einen guten Stil gewonnen haben. Verwandte Bruderschaften Ehe wir zu den sozusagen öffentlichen Aufgaben der Bruderschaft übergehen, bedarf es eines Wortes über die uns nahestehenden anderen, aber eben doch verwandten Kreise. Hier steht natürlich die Jungbruderschaft St. Michael an erster Stelle. Die am 26. Februar 1933 von mir im Auftrag des Rates unserer Bruderschaft begründete Jungbruderschaft hatte zunächst sehr unter den innerkirchlichen Kämpfen und thelogischen Gegensätzen jener Jahre zu leiden, und sie ist erst unter der Führung unseres Bruders Wilhelm Schmidt etwa das geworden, was uns damals vor der Seele stand und was ich nicht zu verwirklichen vermochte. Jedenfalls ist die Jungbruderschaft etwas durchaus Eigenständiges geworden, mit eigenem Stil und mit einer glücklichen Mischung von Theologen, Handwerkern und Künstlern. Viele unserer Brüder sind durch die Jungbruderschaft zu uns gekommen. 36

Sehr anders ist unsere Beziehung zu dem Frauenkreis, der sich unter dem Namen Ordo Paris zusammengeschlossen hat. Der Gedanke einer solchen Schwesternschaft ist schon sehr früh bei uns aufgetaucht, aber neben dem energischen Verlangen nach geistlicher Hilfe, vor allem für berufstätige Frauen, und begeisterter Zustimmung waren von Anfang an die Stimmen nicht zu überhören, die zu großer Vorsicht mahnten, weil ein ordensmäßiger Zusammenschluß von Frauen die Schwierigkeiten unseres eigenen Weges vervielfachen mußte. Inzwischen ist nun der Ordo Paris begründet worden und geht in der Stille seinen Weg. In der wechselseitigen Fürbitte findet diese Verbundenheit am deutlichsten Ausdruck. Das letztere gilt nun in besonderem Maß auch von den uns innerlich verbundenen Bruderschaften, die wir zum Teil auf seltsamen Wegen kennengelernt haben und deren Vertreter wir ja zum großen Teil in diesen festlichen Tagen in unserer Mitte begrüßen dürfen. Dienst an der Kirche Aber nun ist es Zeit, von unserem Verhältnis zur Kirche zu sprechen. Es ist eigentlich wohl nicht richtig, wenn ich von dem „Verhältnis" unserer Bruderschaft zur Kirche rede, so als ob diese Kirche etwas außerhalb unser selbst wäre, zu dem wir in eine Beziehung treten müßten. Aber freilich, die Not, aus der wir kommen und in der wir uns immer von neuem finden, ist die Not der Kirche, und so kann der Dienst an der Kirche, zu dem wir uns gerufen wissen und zu dem wir uns verpflichtet haben, nur ein sehr kritischer sein. Der konfessionelle Ort der Bruderschaft Es war meines Wissens auf dem Kapitel 1938, daß zum ersten Mal der Satz ausgesprochen wurde, daß wir aus dem Protestantismus ausgewandert sind, weil wir in einer geschichtlichen und kirchengeschichtlichen Situation sind, in der dieser Protestantismus an ein Ende geraten ist. Aber was bedeutet dieses Schlagwort vom Ende des Protestantismus und von unserer Auswanderung aus dem Protestantismus? Wir sind oft gefragt worden und unsere eigenen Brüder haben uns gefragt, welches denn eigentlich der konfessionelle Ort der Bruderschaft sei? Ist nicht alles Entscheidende über diese Frage schon gesagt in dem Satz unserer Urkunde: „Wir glauben daran, daß den deutschen Kirchen der Reformation ein Beruf verliehen ist an der ganzen Christenheit." Dieser Satz enthält ebenso ein Bekenntnis zu dem Erbe der Reformation — wie sollte und dürfte es anders sein? — wie ein entschiedenes Bekenntnis zu ihrer ökume37

/tischen Bedeutung und Verantwortung. Das, was in der Reformation gewiß nicht gemeint, aber durch die starke Mitwirkung politischer Faktoren tatsächlich geschehen ist, ist uns immer fragwürdiger geworden. Wir haben schon vor zwanzig Jahren die Sorge ausgesprochen, daß in einer einseitigen Bindung an die im 16. Jahrhundert gefallenen Entscheidungen die Fülle der Heiligen Schrift einer bestimmten verengten Tradition geopfert wird, und wir fragen uns ernstlich, ob nicht die römische Kirche manche Dinge überwintert hat, die heute für die ganze Kirche wieder wichtig werden. Damit ist hinlänglich klar, daß und warum die geschichtliche Konfession in ihrer Sondergestalt zwar selbstverständlich der Ort ist, an dem wir stehen, der Ausgangspunkt aller kirchlichen Arbeit, aber keinesfalls das Ziel sein kann, dem wir uns letzlich verpflichtet fühlen. Wir wehren uns leidenschaftlich dagegen, daß das Dasein protestantischer Sonderkirchen, die aus dem Scheitern der Reformation entstanden sind, als eine undiskutierte und Gott wohlgefällige Dauergestalt der christlichen Kirche anerkannt, verteidigt und verfestigt wird. „Jede Kirche" — so heißt es in einem unserer ersten Rundbriefe - „ die die ökumenische Bewegung ablehnt, stellt sich außerhalb der Kirche Christi". Damit ist es sehr wohl vereinbar, daß wir uns dem Erbe Luthers innerhalb der verschiedenen Ausprägungen des Protestantismus besonders dankbar verbunden und verpflichtet fühlen. Unsere ökumenische Haltung wird unter anderem konkret in unseren ernsten Bemühungen um Gespräche mit römisch-katholischen Theologen. 1934 fand in dem Priesterseminar Hermsdorf bei Berlin das erste solcher Gespräche statt, an dem Ritter und ich teilgenommen haben. Und seither haben, wie Euch bekannt ist, alljährlich unsere beiderseitigen ökumenischen Arbeitskreise getagt, an denen einige Glieder unserer Bruderschaft beteiligt sind. Ich kann nicht alle die anderen Gelegenheiten und Formen solcher Gespräche aufzählen bis zu den fruchtbaren Arbeitstagen in dem Haus der Begegnung in Kloster Niederaltaich. Wichtiger freilich als alle solchen theologischen Gespräche und Klärungen ist die Tatsache, daß wir uns im Gebet verbinden. Frühzeitig haben wir die Teilnahme an der Gebetswoche für die christliche Einheit empfohlen, und wir freuen uns, daß unser Gebet vom Donnerstagmittag („Laß Deine ganze Christenheit vereinigt werden") auch von römischkatholischen Kreisen aufgenommen ist und gebraucht wird. Wir halten es für den Gipfel der Verkehrtheit und für eine schlimme Verhärtung der Polemik, wenn von bestimmten Männern die Gottesdienstordnungen der lutherischen Kirche deswegen angegriffen und verdächtigt werden, weil darin auch manches gemeinchristliche Gebetsgut enthalten ist, das auch 38

von der römisch-katholischen Kirche gebraucht wird, statt daß wir Gott dafür danken, daß wir mit den gleichen Worten beten können. Die Bruderschaft im Kirchenkampf Nur von diesen grundsätzlichen Stellungnahmen her ist die Rolle zu begreifen, die unsere Bruderschaft in den Jahren des Kirchenkampfes gespielt und welche sie nicht gespielt hat. Natürlich ist es nicht möglich, im Rahmen dieser Rede die verworrene Geschichte jener turbulenten Jahre zu erzählen. Aber in einer Rückschau und Rechenschaft über den Weg dieser letzten 30 Jahre kann diese aufregende Episode nicht einfach mit Stillschweigen übergangen werden, weil sie in besonderer Weise diesen unseren Weg kennzeichnet. Man darf nicht vergessen: Wir waren 1923, zehn Jahre vor den Ereignissen des Jahres 1933, mit dem leidenschaftlichen Verlangen nach einer radikalen Erneuerung der Kirche zusammengekommen. So konnten wir nicht der Meinung sein, in der Kirche sei bis zu dem Machtanspruch des Nationalsozialismus und bis zu dem Einbruch der Deutschen Christen alles in bester Ordnung gewesen. Der Sturm, der damals über unser Volk hinwegging, erweckte zunächst einmal kühne Hoffnungen, zwar keinerlei Hoffnung auf den Nationalsozialismus. Von ihm haben wir, die wir damals die Bruderschaft leiteten, in keinem Zeitpunkt etwas anderes als Verderben erwartet, wohl aber die Hoffnung, daß innerhalb der Kirche selbst neue Kräfte einer entschiedenen Erneuerung aufbrechen und sich zusammenfinden würden. Wir haben in bester Absicht den berufenen Organen der Kirchenleitung unsere Hilfe angeboten, aber die Selbstsicherheit, mit der wir abgefertigt wurden, die Blindheit für den Ernst der geschichtlichen Lage konnte uns nur aufs tiefste erschüttern. Die jungen Kräfte, die allenthalben sichtbar wurden, wurden als unbequeme Störungen kirchlicher Verwaltungspraxis zurückgepfiffen. Durch einige Monate konnte es so scheinen, keineswegs nur für unsere Blicke, daß sich in spürbarer Distanz von den alten Kirchenleitungen eine breite Front aller aufbauwilligen Kräfte bilden würde, und diese Hoffnung war damals nicht so unerhört und so utopisch, wie das heute in der Rückschau erscheinen mag. Der Sieg der radikalen Gruppen unter den deutschen Christen machte alle solche Hoffnungen zunichte. Freilich konnten wir bei allen nahen menschlichen Beziehungen uns auch nicht einfach mit der jungreformatorischen Gruppe „Kirche und Evangelium" oder „Bekennende Kirche", wie sie sich dann bald nannte, identifizieren. Auch hier schien uns allzuviel Selbstsicherheit, Neigung zu schroffen und lieblosen Urteilen, mangelnde Einsicht in die tieferen Schäden der Kirche einer wirklichen Erneuerung im Wege zu stehen. 39

Es kamen die verhängnisvollen Kirchenwahlen vom Juni 1933, es kam die schmähliche Räubersynode vom September 1933. Trotz aller Enttäuschungen versuchten wir, der Kirchenleitung unsere Bereitschaft zu verantwortlicher kirchlicher Arbeit zu beweisen, stießen aber zunächst auf völliges Unverständnis. Völlig anders war dann die Reaktion von D. Marahrens, als er 1934 der Vorsitzende der vorläufigen Kirchenleitung geworden war. Auf dem Michaelsfest 1934 in Ratzeburg standen sich innerhalb unserer Bruderschaft die Glieder der Bekennenden Kirche und ein kleiner Kreis von Brüdern, die nach ihren provinziellen Erfahrungen Hoffnungen auf die deutschen Christen setzten, in zum Teil heftigen Diskussionen gegenüber. Aber während die Bekennende Kirche im allgemeinen geneigt war, jeden, der sich nicht den Bruderräten unterstellte, als deutschen Christen anzusprechen und entsprechend zu behandeln, standen hier — es war damals wohl die einzige Stelle in Deutschland — Glieder der B K und der DC in einer festen brüderlichen Gemeinschaft zusammen. Niemand wird es für falsch halten, wenn wir dieses als eine starke Bewährungsprobe, sowohl des Vertrauens zur Leitung, wie der brüderlichen Achtung und Liebe untereinander, in tiefer Dankbarkeit empfanden. Daß unsere Brüder unter den DC bald genug bitter enttäuscht wurden und die Konsequenzen zogen, soll nicht verschwiegen werden. Eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der sich verfestigenden Bekennenden Kirche, worüber manche Brüder traurig waren, mußte aus dem ganzen Ansatz unserer Bruderschaft heraus verstanden werden. Trotzdem standen viele Brüder treu und mit großem persönlichen Mut in dem Kirchenkampf. Auch unser Leiter saß damals zweimal wegen seiner Tätigkeit in der Bekennenden Kirche im Gefängnis. Aber es erschien uns doch deutlich, daß an dem inneren Zustand der Kirche auf diese Weise nichts Wesentliches geändert wurde. In der Rückschau müssen wir es als eine freundliche Fügung ansehen, daß es uns als Bruderschaft verwehrt wurde, in die aktive kirchliche und kirchenpolitische Arbeit einzutreten. Dadurch sind wir in die Tiefe geführt worden, in die Besinnung auf die eigentliche Aufgabe der Kirche. Auch als die Einsetzung der Kirchenausschüsse einen schweren Konflikt innerhalb der Bekennenden Kirche hervorrief, standen Brüder auf beiden Seiten, doch änderte diese Meinungsverschiedenheit und die von vielen Brüdern empfundene Fragwürdigkeit dieses ganzen Versuchs nichts daran, daß wir wohl alle dankbar waren, als der Reichskirchenausschuß am 2. Januar 1936 — „Im Einvernehmen mit den Evangelischen Landeskirchen" — uns die kirchliche Anerkennung erteilte. „Die Bruderschaft kann" - so heißt es in jenem Schreiben - „die kultischen Formen ihrer

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Feiern und Veranstaltungen selbständig ordnen." Gleichzeitig beauftragte der Reichskirchenausschuß Herrn Landesbischof und Abt D. Marahrens mit der Visitation über die Bruderschaft. — Wir haben die Bedeutung dieser Anerkennung niemals überschätzt. Immerhin bedeutet sie einen gewissen Schutz gegen staatliche und wohl auch kirchliche Verdächtigungen und Angriffe, und sie bezeugt gleichzeitig unseren eigenen Willen, in kirchlicher Einordnung und unter einem uns von der Kirche bestellten Visitator unseren Dienst zu tun. Alles, was wir der Kirche schuldig sind und was wir, vielleicht, wenn Gott Gnade gibt, für die Kirche bedeuten können, hängt daran, daß wir selbst mit einem Leben der Heiligung, der Zucht und der Liebe radikal ernst machen und in dieser Tiefe jenseits aller Gelehrsamkeit und aller praktischen Routine jene Formkraft gewinnen, aus der lebendige Gestalt wachsen kann, statt uns mit einem Prunkmantel ehrwürdiger Tradition zu maskieren. In der goldglänzenden Rüstung Sauls konnte der Knabe David sich nicht so bewegen, daß er dem Riesen Goliath hätte begegnen und widerstehen können. „Die Heimkehr zum Altar", von der wir gelegentlich gesprochen haben, ist keine Sache liturgischer Reformen, sondern eine Sache der inneren Umkehr und Wandlung, die nicht ohne große Bescheidenheit und ohne die Bereitschaft zum demütigen Opfer geschehen kann. 3. Abschließende Bemerkungen In dem allen, in dem wir versagt haben, waren wir ja dem Geist der Zeit verfallen und tragen die Krankheit unserer Kirche an unserem Leibe. Erschrecken wir nicht allzusehr, daß wir immer wieder in solcher Müdigkeit und Resignation stecken. Es ist die innere Lage der Evangelischen Kirche selbst, die wir stellvertretend, vielleicht etwas bewußter als manche andere, durchleiden. Es ist uns eine ernste Frage, ob die evangelische Kirche überhaupt noch aufnahmefähig und aufnahmebereit ist für die Wandlungen, von denen heute die ganze Welt ergriffen ist und die in manchen Menschen ganz am Rande oder außerhalb der Kirche lebendiger und bußfertiger erkannt, bejaht und mitvollzogen werden. Der Aufstand gegen Gott vollendet sich in unseren Tagen nicht nur in einem militanten Atheismus, sondern vor allem in einer religiösen und kirchlichen Scheinwelt, in der die Anwesenheit Gottes nicht einmal mehr vermißt wird. Ein Ende mit Schrecken ist in unsere Sichtweite gerückt. In dieser apokalyptischen Situation, da alle mit religiösen Sprüchen bemalten Hüllen vor den Abgründen des Bösen und des Verderbens fallen, und wir alle am 41

Rande dieses Abgrunds stehen, ziemt uns die äußerste Bescheidenheit, die demütige Buße, die Zucht der Worte und des Tuns. Laßt mich schließen mit einigen Zitaten, die mir in dem Rundbrief der Bruderschaft begegnet sind. In seiner Rede zum Michaelsfest 1957 zitierte Bruder Hage ein Wort des Notker von St. Gallen: „Traube war ich, gekeltert wurde ich; Wein bin ich." Gott allein weiß, ob wir so gründlich gekeltert sind, daß wir Wein werden. Ein zweiter Satz aus einem Brief: „Bedenkt, daß selbst große Fehler kaum so gefährlich und so zerstörerisch wirken können wie Erkenntnisse, die man in sich trägt, ohne sie in den Formen des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens zu verwirklichen; kaum so gefährlich, wie die Resignation, die sich damit begnügt zu sagen: ,Man müßte eigentlich . . . ' und dann doch durch die eigene ,inertia' sich auf dem bequemen Weg einer ungeformten guten Meinung festhalten läßt." Und schließlich ein Wort Tertullians, das Ludwig Heitmann in unseren Kreis hineingeworfen hat: „Corpus sumus de conscientia religionis et disciplinae unitate et spei foedere." Das heißt etwa: „Wir sind eine Körperschaft auf Grund gemeinsamer Erkenntnis dessen, was Glauben ist, auf Grund der Einigkeit in der Ordnung und Zucht, und weil wir in der Hoffnung verbunden sind." Zu dem Letzten, Kühnsten und Entscheidenden bemerkte damals Bruder Spieken „Die Brücken hinter uns sind abgebrochen, es gibt kein zurück; wenn es eine Hoffnung gibt, dann liegt sie nur vor uns, das heißt in dem, was Gott vorhat." Was aber Gott vorhat, wissen wir nicht. Wir können nur wach sein für Sein Gebot, bereit Ihm zu dienen, und aus dieser Bereitschaft allein, nicht aus irgendeiner optimistischen Täuschung über den Ernst unserer Lage, erwächst lebendige Hoffnung. Und noch eines: Als wir einige Jahre vor der Gründung unserer Bruderschaft in Pätzig im Hause unseres Bruders von Wedemeyer versammelt waren, überfiel uns die Angst und Sorge, ob wir überhaupt einen Weg ins Freie für unsere Kirche finden könnten. Bruder Thomas fand damals für einen Gottesdienst als Leitwort das Wort aus der Apostelgeschichte: „Aber in der Nacht tat der Engel des Herrn die Türen des Gefängnisses auf und führte sie (die Apostel) hinaus." Dieses Wort steht seither schön gestickt an der Wand hinter der Kanzel der hiesigen Universität skirche. Dort fällt unser Blick darauf, und wenn wir nicht mehr hier weilen, werden unsere Gedanken sich darauf richten. „Aber in der Nacht tat der Engel des Herrn die Türen des Gefängnisses a u f . . . "

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II. ZUM VERSTÄNDNIS DER HEILIGEN SCHRIFT

DREI STÜCKE AUS DEM GOTTESJAHR 1936

1. D I E E I N H E I T D E R B I B E L Wir haben die Einheit der Bibel neu gesehen. Wir haben sie wahrlich nicht entdeckt. Die Geschlossenheit und innere Übereinstimmung der ganzen Heiligen Schrift ist ein wichtiges Lehrstück der alten Dogmatik. Aber jene Geschlechter hatten sozusagen eine naive Vorstellung von der Einheit der Heiligen Schrift. Wir aber können nicht mehr zurück hinter jenes Bild einer reichen historischen und persönlichen Mannigfaltigkeit. Das Wunschbild von einer spannungslosen Gleichförmigkeit der Heiligen Schrift ist uns ein für allemal zerstört. Wir reden nicht von Einerlei, sondern von Einheit der Heiligen Schrift und meinen damit sehr bewußt die Einheit eines reich gegliederten Organismus, die innere Geschlossenheit eines überaus spannungsreichen Ganzen. Ja, wir meinen, daß es heute viel wichtiger sei, auf diese Einheit der Heiligen Schrift hinzuweisen, als die reich angewachsene Sammlung von Entwicklungsstadien, individuellen Prägungen, Typen oder „Stimmen" noch durch einige weitere angebliche oder wirkliche Entdeckungen zu vermehren. Wir haben heute den Ansturm gegen das Alte Testament zu bestehen, und ebenso haben wir immer wieder dem Urteil standzuhalten, Paulus der Theologe habe das reine Evangelium des Christus verfälscht und vergifte bis heute die christliche Kirche mit den Ausstrahlungen seiner jüdischen Seele. Aber machen wir uns doch klar, daß dieser doppelte Angriff auf die Einheit der Heiligen Schrift ein notwendiges Endstadium jener vorhin beschriebenen Entwicklung ist, und daß die, die diesen Angriff führen, die echte Spätblüte dessen sind, was sie selbst als liberal-individualistische Zersetzung beschimpfen. Wenn das Auge nichts anderes sieht als jenen Abstand der Jahrtausende, jene Verschiedenheit persönlicher Schicksale, Erkenntnisse und Gedanken, dann kann es nicht ausbleiben, daß der eine dies, der andere jenes aus dieser Fülle herausgreift, lobt oder verwirft, und man fragt sich nur manchmal erstaunt, wie es möglich ist, daß der oder jener gerade das verwirft, das seiner eigenen geistigen Art am verwandtesten ist und dagegen das andere ausspielt, das ihn am entschiedensten verurteilt. Die Kirche kann jenem zwiefachen Angriff, der die Heilige Schrift als das Buch der Christenheit zu zerreißen droht, nicht anders

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begegnen, als indem sie ganz neu lernt und lehrt, die wahre Einheit der Bibel zu sehen. Jene Einheit, die durch jene Verschiedenheiten und Spannungen nicht aufgehoben, sondern nur um so größer, tiefer und reicher wird. Es handelt sich um ein Vierfaches, wenn wir von der Einheit der Bibel reden. Zum ersten: Durch alle Bücher der Heiligen Schrift ziehen sich bestimmte Grundanschauungen hindurch, die wie die Verstrebungen einer technischen Konstruktion die entferntesten Punkte miteinander verbinden und einander festhalten. Eine ganz bestimmte Schau des Menschen, ein bestimmtes Bild von dem Sinn seiner Existenz, von seiner Not und von seiner Bestimmung. Ein eigentümliches Zeitgefühl, eine bestimmte Art, die „Zeit" in dem Spannungsbogen von Ewigkeit zu Ewigkeit zu erleben. Eine bestimmte und sehr ausgeprägte Auffassung von dem Sinn der Geschichte, von der Verschiedenheit der Völker, von Sinn und Grenze der großen die Welt beherrschenden Reiche. Ein verborgenes und doch offenbares Wissen um die das Weltganze tragenden Ordnungen bis hin zu dem Geheimnis der Zahl. Man kann, wenn man sich in gewissenhaftem Schriftstudium in dieses biblische Bild der Welt und des Menschen vertieft, die erstaunliche Entdeckung machen, daß vieles davon unserem ursprünglichen deutschen Empfinden näher benachbart ist und unmittelbarer einleuchtet, als das unsere populäre Weltanschauung bis in die jüngste Vergangenheit hinein beherrschende Weltbild der klassischen Antike. Es ist freilich nicht ohne Schuld der Kirche geschehen, daß auch innerhalb der Christenheit diese Grundformen biblischen Denkens verdunkelt und verborgen sind. Und viele Christen teilen in der Tat jene Unwissenheit, aus der heraus zumeist der Angriff auf das Buch der Bücher geführt wird. - Eine Reihe von Aufsätzen dieses Bandes macht den Versuch, solche Grundanschauungen der Bibel sichtbar zu machen und durch die ganze Heilige Schrift hindurch aufzuweisen. Zum zweiten: Die Bibel ist weder ein Lehrbuch noch eine Sammlung moralischer Beispiele. Sie ist ein Bilderbuch, ein Buch der Bilder, an denen ein ganz bestimmtes Geheimnis, das unserem Verstand unzugänglich ist, angeschaut und anerkannt werden will: die Wirklichkeit des lebendigen Gottes, des Schöpfers und Herren dieser Welt, der in dieser Welt und an den Menschen handelt. Sobald man dieses eigentliche Anliegen der Heiligen Schrift verdunkelt, macht man aus ihr etwas ganz Unmögliches und Unwirkliches. Man stolpert über das „naive Weltbild" des alten Orient oder über die Betrügereien des kleinen Jakob oder über historische Widersprüche und was dergleichen mehr ist. Überall will statt dessen dieses Buch eine Tiefe aufreißen, in der sich jenseits menschlicher 45

Tugend oder Bosheit, jenseits menschlicher Klugheit oder Blindheit die eigentliche Wirklichkeit offenbart: die Wirklichkeit des göttlichen „Ich bin". — Ein ganz hervorstechendes Merkmal dieses Buches ist ein nüchterner Wirklichkeitssinn. Es ist, worauf ja oft hingewiesen ist, vielmehr im Indikativ als im Imperativ geschrieben. Die immer wiederkehrende Aufforderung zu sehen und zu hören, ist sehr ernst gemeint. Sie redet davon, daß ein Geheimnis offenbar geworden ist, und warnt mit aller Eindringlichkeit davor, sich diesem offenbar gewordenen Geheimnis zu verschließen. Es findet sich in diesem Band ein Beitrag über die Bücher der Weisheit. Diese Bücher aber, nach ihrer Form und in vielen ihrer Einzelheiten sehr anders als die großen Hauptschriften des Alten und Neuen Testamentes, sind doch in ihrem tiefsten Anliegen kein Fremdkörper in dem Ganzen der Bibel. An vielen Stellen der Psalmen, aber auch in den Evangelien und den Paulusbriefen hat der Gegensatz von Weisheit und Torheit beinahe den gleichen Sinn, den gleichen Ernst und das gleiche Gewicht wie der Gegensatz zwischen dem Frommen und Gottesfürchtigen und dem Gottlosen. „Die Toren sprechen in ihrem Herzen: es ist kein Gott", und umgekehrt: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang." Weisheit ist nichts anderes, als daß der Mensch seine wahre Lage vor Gott erkennt, daß er den Ruf Gottes vernimmt, und sich nicht gleich Adam vor diesem Ruf versteckt. Wer taub ist für diese Stimme, blind ist für dieses Licht, der ist der Tor, der seinen Blick und sein Herz verliert an die vergehende Gestalt dieser Welt, der dem Götzendienst seiner eigenen Ehre verfallen ist. Die Bibel zeugt von Christus. Christus aber ist der, der dem Blinden das Gesicht gibt und dem Tauben das Ohr öffnet. So redet die ganze Bibel von dem Einen, was uns und allen Menschen heute und allezeit zu wissen und erkennen und anzuerkennen vor allem nottut. Zum dritten: Das große Verdienst Luthers um das Verständnis der Heiligen Schrift liegt nicht nur darin, daß er unserem Volk die deutsche Gestalt dieses Buches geschenkt, sondern vor allem darin, daß er uns gelehrt hat, die Bibel von ihrer lebendigen Mitte aus zu verstehen: was Christus treibt, ist Heilige Schrift. Es ist sehr nötig, immer wieder auf diese lutherische Schau von der Einheit der Bibel hinzuweisen. Die Mitte der Bibel ist Christus. Das heißt nicht nur, daß jene Bücher, in denen uns besonders und ausdrücklich von der Erscheinung Christi auf Erden berichtet wird, das wichtigste in diesem Buch seien, so daß man sich allenfalls auch damit begnügen und das andere beiseitelassen könnte, sondern es heißt, daß alles wie die Punkte eines Kreises oder einer Kugelfläche auf diesen Mittelpunkt bezogen und von ihm gehalten ist. Es führen alle Linien auf ihn hin, und sie strahlen alle von ihm aus, so wie 46

auf den Weihnachtsbildern alter Meister alle Gestalten das geheimnisvolle Licht widerspiegeln, das von dem Kind in der Krippe ausgeht. Erst der auferstandene Christus kann seinen Jüngern die Schrift öffnen. In ihm wird der Weltplan Gottes offenbar, der in seinem Herzen war, ehe der Welt Grund gelegt war. „Weissagung und Erfüllung" ist nicht e i n Thema, sondern der Inhalt der Heiligen Schrift. Aber nur von der Erfüllung her wird die echte Weissagung in ihrem abgründigen Unterschied von leeren Wunschträumen der Menschheit unterschieden; nur wo das Wesen erschienen ist, kann man vom Gleichnis reden. Nun aber steht alles in der Vorläufigkeit oder in der Nachfolge. Aber auch die Vorläufer und die Nachfolger, die Propheten und Apostel sind umschlossen von Urgeschichte und Endgeschichte, und für den Glauben der Bibel steht Christus, der erste und der letzte, am Anfang und am Ende aller Dinge: „Ich bin das A und das O." Der Ratschluß Gottes zum Heil seiner armen und verlorenen Menschen, zur Wiederbringung aller Dinge, der Gegensatz der alten und der neuen Schöpfung ist der eigentliche und wahre Inhalt der Heiligen Schrift; daß alles streng und unerbittlich darauf bezogen ist, darin besteht die Einheit der Bibel. Zum vierten: Diese Einheit wird immer neu bekannt und bezeugt in dem Gebrauch, den die Kirche von der Heiligen Schrift macht. Denn die Bibel ist das Buch der Kirche und nur im Raum der Kirche wird diese ihre Einheit leibhaftig erfahren. Es ist kein historisches Urteil, wenn wir von dieser Ganzheit und Geschlossenheit der Bibel reden, sondern es ist selbst ein lebendiges Geschehen, das dem liturgischen Handeln der Kirche zutiefst verwandt ist. Darum muß in diesem Band auch von der „Bibel der Liturgie" die Rede sein. Es ist kein Zufall, daß die Einheit der Bibel in jene Vielzahl individueller Gestalten und Gottesvorstellungen auseinanderbrach, eben in jener Zeit, in der der Sinn für das echte kultische Handeln geschwunden war. Niemand sage, es sei Willkür, Umdeutung und Allegorese, wenn die Kirche in dem Reichtum ihrer liturgischen Ordnungen souveränen Gebrauch von der ganzen Heiligen Schrift gemacht hat und mit scheinbar fernliegenden Worten die Feier des Christusmysteriums begleitet. Vielmehr spricht sich darin die überschwengliche Freude aus, daß alles um seinetwillen und auf ihn hin geschehen und gesagt ist, die anbetende Ehrfurcht, die die Spuren des einen göttlichen Handelns überall entdeckt und mit Freuden begrüßt. Das Kind des Vaters findet überall sein Zuhause, weil es überall von der Liebe des Vaters umfangen ist. Man muß darin geübt sein, mit der Kirche zu beten, um ganz und in der letzten Tiefe zu ermessen, was unser Wort von der Einheit der Heiligen Schrift bedeutet. Der Geist des Herrn, der in der Kirche die Stätte seines Wirkens hat, macht nicht nur 47

uns Menschen lebendig, sondern er macht auch das Vergangene gegenwärtig, er rückt das Ferne nahe, und er bezeugt damit den göttlichen Ratschluß, daß alle Dinge ihr Haupt bekommen sollen in Christus (Eph. 1, 10). Dieses ist die Einheit der Bibel.

2. D I E G L E I C H N I S R E D E In einer dreifachen Bewegung entfaltet sich das Gleichnisdenken. Wenn schon das einzelne Gleichnis vielleicht nur eine dieser Bewegungen deutlich ausspricht, so gehören sie doch im Grunde zusammen, fordern und ergänzen einander, und erst in ihrer Zusammenschau erfüllt sich das biblische Denken. 1. Die biblische Rede von Gott ist mit sinnlicher Anschauung gesättigte Gleichnisrede. Gott ist Licht; Gott ist Sonne; er ist die Burg; er ist der Herr, der König. Man versteht aber solche Redeweise falsch, wenn man meint, hier solle ein vorher feststehender Gottesbegriff durch veranschaulichende Rede erläutert werden. Vielmehr liegt solcher bildhaften Rede zugrunde eine wirkliche Erfahrung, daß nämlich Gott angeschaut werden kann und angeschaut werden will in solcher irdischen Erscheinung als in seinem Bilde. Der Herr geht seinem Volk voran als Feuerbrand und als Wolkensäule, er offenbart sich im Sturmwind und in dem Urgeheimnis des Lichtes. Er hat auf den König den Abglanz seiner Herrlichkeit gelegt; in der Gewalt der Liebe zwischen Mann und Weib ahnt der Prophet das Geheimnnis der göttlichen Liebe. Die Erkenntnis der göttlichen Geheimnisse erschließt sich dem gläubigen Auge in dem Anschauen einer irdischen Wirklichkeit. Die Bilder Gottes sind der Widerschein einer echten Erfahrung. Darin liegt eine eigentümliche Art und Kraft des religiösen Denkens. Man verschließt sich das Verständnis dieses Vorgangs, wenn man hier nur von der blühenden Phantasie des Morgenlandes redet. Solche Bilderreihe ist uns nicht deswegen fremd, weil wir einer anderen Rasse und einer anderen Weltzone zugehören, sondern deswegen, weil wir die ursprüngliche Kraft bildhaften Denkens verloren und an uns und anderen einseitig die Fähigkeit begrifflichen Denkens entwickelt haben. Das Kind und der schlichte, unverbildete Mensch aber denkt nicht in Begriffen, sondern in Bildern. Sein Wissen strömt aus der Kraft und Lebendigkeit innerer Anschauung. Mühsam entdecken wir wieder, daß es in uns allen eine zumeist verschüttete Tiefenschicht gibt, wo wir in Bildern denken — die Psychologen reden von einem Bild-Bewußtsein - in der alle unsere wirk48

liehen Erkenntnisse wurzeln. Man verbaut sich darum das Verständnis der biblischen Bilderrede vollkommen, wenn man nach Art der sogenannten biblischen Theologie eilends daran geht, die biblische Rede ihrer sinnlichen Fülle zu entkleiden und sie in einen abstrakten Gedanken zu verwandeln. Mag dies zu bestimmtem Zweck im Rahmen der dogmatischen Arbeit notwendig sein, so müssen wir uns doch bewußt bleiben, daß wir uns dabei von der Bibel selbst und der Art des biblischen Denkens entfernen. Die biblische Bilderrede ist nicht nachträgliche Einkleidung tiefsinniger Gedanken, sondern sie ist ein wirkliches Anschauen der göttlichen Welt in dem „Gleichnis" sinnlicher Erscheinung. Auch die großen Visionen der Propheten, die apokalyptische Schau der Endzeit in den Reden Jesu und in dem Buch der Offenbarung entlehnen ihre Elemente aus der irdischen Welt, wie sie durch das Tor der Sinne in uns eingeht. Diese ganze Betrachtung steht also in schärfstem Gegensatz zu einem abstrakten Idealismus, der die geistige und die sinnliche Welt nicht weit genug auseinanderreißen kann und wähnt, dem göttlichen Geheimnis näher zu kommen, wenn er statt in sinnlichen Bildern in philosophischer oder theologischer Begrifflichkeit redet. Daß die Heilige Schrift ganz anders denkt und redet, hängt zutiefst zusammen mit ihrem Glauben an die Schöpfung der Welt aus Gottes allmächtigem Wort und ihrem Glauben an die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Weil die Kreaturen geschaffen sind durch das Machtwort Gottes, darum dürfen und sollen wir sie — nach einem tiefsinnigen Wort Luthers - anschauen als an uns gerichtete Worte Gottes. Weil sie Seine Geschöpfe sind, darum sollen und dürfen wir uns in ihrem Anschauen anbetend versenken in das Geheimnis des Schöpfers, und weil das Wort Fleisch geworden ist, darum gilt es, sich nicht mehr Gedanken zu machen über Gott, sondern Ihn anzuschauen in dem Bild, in dem Er selbst sich uns darstellt: „Wer Mich siehet, der siehet den Vater." Diese Gleichnisrede hat, nach dem durchgängigen Zeugnis der Heiligen Schrift, die doppelte Funktion, zu offenbaren und zu verhüllen; indem sie zugleich verhüllt, wahrt sie das Geheimnis. Jede begriffliche Rede von Gott gerät, indem sie das Wesen Gottes in unseren Gedanken und Worten begreifen will, immer in Gafahr, die Ehrfurcht vor dem Geheimnis zu verleugnen. „Licht ist Dein Kleid, das Du anhast" (Ps. 104, 2). Auch in der Stunde überwältigender Offenbarung füllt nur der Saum Seines Gewandes den Tempel. Wie weit ist die ehrfürchtige Keuschheit solcher Bilderrede entfernt von jener metaphysischen Neugier, die von den Geheimnissen der himmlischen Welt redet wie von geistigen Gegenständen!

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Und gerade die Fülle verschiedenartiger Bilder wahrt die Majestät des unzugänglichen Gottes, welchen kein Mensch gesehen hat noch sehen kann. Gott ist Licht, Kraft, Quelle, Same, Vater und Mutter. Christus ist Hirte und Tür, Brot und Weinstock und Weg. Und keines dieser Bilder erschöpft die Fülle, die in ihm wohnt und wirkt. Ein jedes ist nur ein Bild, das uns in seinem Anschauen einen Blick tun läßt auf sein allumfassendes Geheimnis. 2. Die biblische Gleichnisrede eröffnet zugleich einen ganz neuen Blick auf die irdische Wirklichkeit selbst. Nur darum kann Gott in ihr angeschaut werden, weil er selbst sie geschaffen und den Glanz Seines Namens auf sie gelegt hat. Für den Glauben, der im irdischen Gleichnis die göttliche Welt anschaut, wirkt Gott wie ein Spiegel, der die Strahlen eines neuen Lichtes, den Glanz einer neuen Würde auf diese irdische Welt zurückwirft. Es ist die eigentliche und einzige Würde der Kreaturen, daß sie in diesem Sinn Gleichnis sein dürfen. Franz von Assisi hat diesen Sinn der biblischen Gleichnisrede recht erfaßt und gedeutet, wenn seine Liebe zu den geschwisterlichen Kreaturen aufsteigt zu dem höchsten Lobpreis: „Ein Gleichnis Deiner sind sie, o Herr." Die Kreaturen sind nicht vollkommen in sich selbst, man kann sich verlieren in ihrem Anschauen (Weish. Sal. 13, 7) und hat sie dann, gerade dann, mißverstanden; denn sie weisen ja in ihrer Unvollkommenheit und Zwiespältigkeit über sich selbst hinaus, die Geschöpfe auf den Schöpfer, in dem sie ihren Ursprung haben, das Vorläufige auf das Endgültige, in dem, was in ihnen angelegt und gemeint ist, in Fülle und Herrlichkeit erscheint. Christus ist der wahre Weinstock, das wahre Brot, das wahre Licht: weil alle Dinge durch Christus und auf Christus hin geschaffen sind, darum ist in ihm erfüllt und vollendet, was in dem Leben der Pflanze, in dem geheimnisvollen Vorgang der Ernährung, in dem unbegreiflichen Geschehen des Lichtes gemeint und angelegt, aber noch in das Zwielicht von Tod und Leben getaucht ist. Wer diese Seite der biblischen Gleichnisrede einmal auf sich wirken läßt, der begreift zugleich, warum in der Bibel von dem, was wir Natur nennen, nicht die Rede ist und nicht die Rede sein kann; nämlich von einer in sich beruhenden, ebenso von Gott wie dem Menschen losgelösten Wirklichkeit einer profanen, rein diesseitigen irdischen Welt. Es ist aber kein Zufall, es hat vielmehr eine ganz tiefe Bedeutung, daß in der Bibel diese Seite der Gleichnisrede in der Richtung auf die Natur zwar angedeutet, aber nicht ausdrücklich dargestellt und entfaltet wird, sondern daß das geschieht an jenen Gleichnissen, die aus dem 50

menschlichen Gemeinschaftsleben und den menschlichen Beziehungen geschöpft sind. Hier freilich wird ganz deutlich, welche unermeßliche Bedeutung es hat, wenn ein Stück der irdischen Wirklichkeit zum Gleichnis geworden ist. Gott ist der Herr; seine Majestät und sein unbedingter Anspruch auf uns Menschen wird angeschaut in dem Bilde eines irdischen Herrschaftsverhältnisses. Die Rechenschaft, die wir ihm schulden, stellt Jesus dar in immer neuen Abwandlungen des Gleichnisses von dem Herrn und seinen Knechten. Auch die Bilderrede vom Hirten, im Alten Testament auf den König angewendet, schließt ebensosehr das Moment der Herrschaft wie das der Fürsorge in sich. Aber was bedeutet das nun? Es bedeutet, daß alles irdische Herrschaftsverhältnis bis hin zu dem Dienst, den die Sklaven ihren irdischen Herren schulden, ein Abbild und eine Darstellung des Gottesverhältnisses sein soll. Alle irdische Autorität empfängt hier ihre letzte Gültigkeit und Würde: „Ihr Knechte, seid gehorsam euren leiblichen Herren . . . als Christo." — „Alles, was ihr tut, das tut von Herzen als dem Herrn und nicht den Menschen." Das Bild von bräutlicher und ehelicher Liebe, unter dem vielleicht zuerst Hosea das Geheimnis der göttlichen Liebe erfahren und beschrieben hat, wird im Neuen Testament auf das Verhältnis zwischen Christus und Seiner Gemeinde angewendet. Die Stunde, da Er erschienen ist, ist die Stunde der Hochzeit, die Zeit der Erfüllung und der Freude. Seine Gemeinde ist die Braut Christi, die auf Ihn, den himmlischen Bräutigam wartet, und die Er selber schmückt und bereitet für das himmlische Hochzeitsmahl. Aber auch dieses Gleichnis strahlt nun in eigentümlicher Weise zurück auf das Verständnis der Ehe. „Ihr Männer, liebet eure Weiber, gleichwie Christus geliebt hat die Gemeinde." In der Ehe soll abgebildet und dargestellt werden das große „Geheimnis" von Christo und der Gemeinde (Eph. 5, 32). Das gleiche gilt von Vater und Mutter in ihrem Verhältnis zu den Kindern. Das ist ihre Würde und die allein vollgültige Begründung ihrer Autorität, daß sie, weil sie selbst unter Gott sind (1. Mose 50,19), den Ernst und die Güte Gottes vertreten sollen an ihren Kindern, damit sie ihnen gehorchen sollen „als dem Herrn". Ja, jede schlichte menschliche Begegnung und Beziehung wird dann recht verstanden und erfüllt, wenn darin das Verhältnis zu Christus gleichnishaft bekannt und dargestellt wird: „Was ihr getan habt einem unter Meinen geringsten Brüdern, das habt ihr Mir getan." Das, was man mit einem sehr fragwürdigen Ausdruck die Ethik des Neuen Testamentes nennt, ist nichts anderes als „das gelebte 51

Gleichnis". Hier sind Gottesdienst und Nächstendienst, Liturgie und Diakonie unauflöslich ineinander verflochten, ja, im tiefsten Grunde eins. Luther hat diesen tiefsten christlichen Sinn des Gesetzes einfältig und tiefsinnig zugleich gedeutet in den Auslegungen der Zehn Gebote. „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir . . . " Dieses „als dem Herrn", das in den Mahnungen des Apostels immer wiederkehrt, ist die nicht wegzudenkende Kehrseite und Auswirkung der biblischen Gleichnisrede. 3. Aber der letzte Sinn der Gleichnisrede enthüllt sich erst in einer dritten sehr eigentümlichen Beziehung zwischen Bild und Sache. — Beim Studium der biblischen Gleichnisse empfindet man leicht mit einem Mal Befremden, wie oft das Bild verlassen und durch den unmittelbaren Ausdruck der Sache gesprengt wird. Ein Herr hält Rechenschaft über seine Knechte, aber es ist nicht das Verlies seiner Burg, sondern die „äußerste Finsternis", wohin er die Unredlichen verwirft. Die Spreu wird verbrannt mit ewigem Feuer. Das Licht, das dem Wanderer auf dem Wege leuchtet, verwandelt sich mit einem Mal in das inwendige Licht. Man könnte die Beispiele unendlich vermehren, insonderheit die prophetische Rede läßt oft Bild und Sache ineinander verfließen. Das aber ist nicht nur eine stilistische Eigentümlichkeit. Auch die Binsenwahrheit, daß jeder Vergleich hinke, besagt hier wenig, sondern in dieser seltsamen Sprengung der Bilderrede verrät sich das tiefe, erschreckende und tröstliche Geheimnis, daß in der Tat und in der Wirklichkeit alles, was nur Gleichnis ist, durch die hereinbrechende Sache „gesprengt", vollendet und aufgehoben wird. So ist das Verhältnis des Alten und des Neuen Bundes. Abraham und Melchisedek, Elia und David sind jeder in seiner Weise Vorbilder auf Christus. Aber von ihnen allen gilt, was der Herr von Johannes dem Täufer, dem letzten und größten aller Vorläufer, gesagt hat, daß der Kleinste im Himmelreich größer ist als er. — So ist es auch mit der ganzen Welt der Kreaturen, sofern sie Gleichnis des göttlichen Geheimnisses sind. Schon dies ist von entscheidender Bedeutung, daß es nie die Kreaturen als solche sind in ihrem Dasein und Sosein, woran das Geheimnis der göttlichen Welt angeschaut werden soll, sondern es sind die Kreaturen in ihrem Dienst, der zugleich ihr Todesschicksal ist: die Frucht, in der dies einzelne Pflanzenwesen sein Ende erreicht, das gebrochene Brot, die gekelterte Traube, der vergossene Wein. Aber es ist nicht nur das Vergehen in dem natürlichen Kreislauf, sondern es ist das Ende der Natur selbst, worauf das Gleichnis unseren Blick richtet. Das Licht der Sonne ist wahrlich Gleichnis, in dem die unerschöpfliche Liebe des Vaters erscheint. Aber in dem himmlischen Jerusalem wird keine Sonne mehr scheinen, weil Er, 52

dessen Gleichnis sie ist, selbst mit Seiner Herrlichkeit die neue Welt erfüllen wird. Same und Brot hat der Herr selbst gewürdigt, Gleichnis zu sein für die Frucht Seines Opfers. Aber die große Rede im 6. Kapitel des Johannesevangeliums bewegt sich darum, daß die Speise des leiblichen Brotes den Menschen nicht sättigen kann, und daß er darum eines anderen Brotes bedarf, das vom Himmel kommt. Auch das so sehr wesentliche Bild von dem fruchttragenden Baum ist in der Schau einer neuen Erde aufgelöst und verwandelt in das Bild eines Märchenbaumes (Qffb. 22, 2), in dem alle Ordnungen und Grenzen irdischen Blühens und Reifens aufgehoben sind. Auch hier ist es freilich wieder am wichtigsten, diesen eigentümlichen Vorgang der Sprengung an jenen Gleichnissen zu beobachten, die aus dem menschlichen Gemeinschaftsleben genommen sind. Unbedenklich veranschaulicht der Herr das Geheimnis der göttlichen Vergeltung an dem seinen Zeitgenossen so vertrauten Bild des Lohnes, den der Arbeiter von seinem Dienstherrn empfängt, aber in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matth. 20) ist das Bild vom Lohn unmißverständlich gesprengt: der göttliche Lohn ist kein „Lohn", denn er hat sein Maß nicht in menschlicher Leistung, sondern allein in der unbegreiflichen Gnade Gottes. — Wir sprachen von dem, was im 5. Kapitel des Epheserbriefes über die Ehe als das Abbild des Christusmysteriums gesagt ist. Aber auch dieses gelebte Gleichnis wird gesprengt. Es ist hier auf Erden immer wieder der Gefahr dämonischer Sinnzerstörung preisgegeben, und nur von der Erfüllung her empfängt es den Glanz echter Würde. In der Auferstehung werden sie nicht freien noch sich freien lassen (Matth. 22, 30); darum allein, darum auch wirklich, kann und muß es auf Erden Menschen geben, die um der Sache willen darauf verzichten, dieses Gleichnis lebendig zu verwirklichen (Matth. 19,12). Die neue Schöpfung erscheint in der Bilderreihe der gesamten Bibel als das Reich, in dem Gott König ist von Ewigkeit zu Ewigkeit und Sein Wille allein mächtig. Von dieser Hoffnung her fällt ein Glanz erborgter Herrlichkeit auf alle Reiche dieser Welt. Auch was Paulus in Rom. 13 von der Obrigkeit sagt, ist nur im Zusammenhang dieser Gleichnisrede wirklich zu verstehen. Aber zugleich wird hier der unüberbrückbare Abstand zwischen jeder irdischen Herrschaft und dem ewigen Königtum Gottes und die Grenze aller irdischen Reiche sichtbar. Sehr nüchtern und unbefangen enthüllt Jesus das notwendige Gesetz jeder irdischen Herrschaft (Matth. 20,25), aber nur um deutlich zu machen, daß es in dem Reich Gottes anders zugeht. Die Reiche der Welt zu beherrschen nach Art eines irdischen Königs, ist die letzte und schwerste aller teuflischen Versuchungen. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt." 53

Aber nicht nur dies. Die gewaltigen Herrscher der Welt samt ihren Reichen sind nur Werkzeuge in Gottes Hand, und die Hand des Höchsten verwirft sie gänzlich, wenn sie mehr sein wollen als Wegbereiter Seiner Herrschaft. Das ist das Geschichtsbild des Alten Testamentes. Das ist ebenso das Geschichtsbild des Neuen Testamentes. Es entlarvt den dämonischen Charakter, dem jede irdische Größe und Macht verfällt, und der Seher der Offenbarung sieht den Fall der großen Babel und hört das Siegeslied der himmlischen Heerscharen: „Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht Seines Christus." Alles, was Gleichnis ist, ist vorläufig. Vorläufig in dem doppelten Sinn, daß es vorausläuft und vorausdeutet auf das Kommende, und daß es vollendet, aufgehoben und abgetan sein wird an dem Tag der Erfüllung. Wenn das Gleichnisdenken, aller weltfernen Jenseitigkeit zuwider, dieses irdische Leben ganz ernst nimmt und dazu aufruft, in irdischer Wirklichkeit das Geheimnis der jenseitigen Welt anzuschauen und im irdischen Bereich zu gestalten, so wehrt dasselbe Gleichnisdenken auch alle Vergötzung menschlicher Größe ab, es bewahrt das Weltverständnis vor der Dämonisierung ebenso wie vor der Säkularisierung. Es „entzaubert" diese Welt und will sie ganz und gar von ihrem Ursprung und von ihrem Ende her verstehen. Die Auferstehung Jesu Christi hat auch hier eine so zentrale Bedeutung, daß man sagen möchte, nur von hier aus gebe es echtes Gleichnisdenken und echte Gleichnisrede. Hier nämlich hat das angehoben, was wir die Aufhebung und Vollendung des Gleichnisses nannten: Der Sieg des Lebens über den Tod, der Anbruch einer neuen Welt in diese Erdenwelt, die Verwandlung des Vergänglichen und Sterblichen in das Unvergängliche. Sobald die Auferstehung Christi nicht mehr ernst genommen wird als der wirkliche Anbruch der neuen Schöpfung, tritt der innerweltliche „Realismus" die Herrschaft an über alles Denken, und das Gleichnis wird entleert zur bloßen Allegorie: „nur ein Symbol!" Aber weil an jenem einen Punkte der Kreislauf der irdischen Welt durchbrochen ist, haben wir den Mut und die Freudigkeit, in der immer doppelsinnigen und zwiespältigen Wirklichkeit unseres Lebens, in der dem Tod verfallenen Welt der Kreaturen, in der von dem Widersacher zerstörten Ordnung menschlicher Gemeinschaft anzuschauen das Gleichnis Gottes, das Geheimnis des kommenden Reiches. Und so bestätigt sich uns von neuem, daß die Gleichnisrede der echte und notwendige Ausdruck ist für das, was der Inhalt der ganzen Heiligen Schrift ist, für die Botschaft von der ersten und der zweiten Schöpfung, von Urzeit und Endzeit, von Christus als der Mitte aller Zeiten. 54

3. DIE ALTE UND DIE NEUE SCHÖPFUNG Der Gegensatz der alten und der neuen Schöpfung umgreift den inneren Zusammenhang der ganzen Heiligen Schrift. Sie beginnt auf ihrem ersten Blatt mit der Erschaffung der Welt, und sie endet mit der Schau des himmlischen Jerusalem, in der dem Seher die neue Schöpfung in ihrer Herrlichkeit und Vollendung erscheint: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde." — „Und ich, Johannes, sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde verging." Die ganze Spannung zwischen der ersten und der zweiten Schöpfung ist enthalten in dem Gefüge des christlichen Glaubens, wie ihn die Kirche bekennt: „Ich glaube an einen allmächtigen Gott und Vater, Schöpfer Himmels und der Erden, alles das sichtbar und unsichtbar ist . . . und an den Herrn, den Heiligen Geist, der da lebendig macht, und warte auf ein Leben der zukünftigen Welt." Die „alte Schöpfung": das ist die Welt, in der wir leben, in der Sonne und Mond scheinen, in der die Erde uns trägt und uns nährt, wo Gebirge sich türmen, Steine ihr geheimes Gesetz offenbaren in der Form des Kristalls, wo Blumen blühen und Brot und Früchte reifen zur Nahrung, wo Tiere leben in unübersehbarer Gestaltenfülle, und mitten zwischen dem allen Gottes liebstes Geschöpf, der Mensch. Das ist die alte Schöpfung, in der Geschlechter auf Geschlechter folgen, miteinander verbunden in unverbrüchlichen Gesetzen der Vererbung und doch eines das andere befehdend in dem Wandel der Zeiten, wo Völker ihren Raum und die Stunde ihrer Geschichte haben, wo Staaten sich erheben und ihre Sendung erfüllen in Kampf und Herrschaft. Die Welt der Natur und der Geschichte. Die Bibel redet mit Ehrfurcht von den Geheimnissen dieser geschaffenen Welt. Sie hat Teil an dem inbrünstigen Lobpreis der Geschöpfe, und sie redet mit ungeheurem Ernst von der Geschichte, die sich auf dieser Erde abspielt. Freilich: sie hält diese geschaffene Welt in keiner ihrer Erscheinungen für vollkommen. Sie ist weder ursprünglich noch endgültig. Die Bibel bestreitet, daß die großen Werke dieser Schöpfung herrlich seien wie am ersten Tag. Sie weiß von dem tiefen Widerspruch, der diese ganze Schöpfung durchzieht, von dem grauenhaften Gesetz der Selbstzerstörung, dem sie unterworfen ist. Sie ist grimmig feind aller Romantik, die den Weheschrei der gequälten Kreatur geflissentlich überhört. Sie enthüllt unerbittlich das grausame Gesetz, das sich in der Geschichte der Menschheit auswirkt, daß ein 55

Mensch zum Mörder wird an seinem Bruder. Sie beruhigt sich nicht bei dieser .tragischen Gestalt" aller Wirklichkeit, als ob dies unentwirrbare Gemenge von Leben und Tod, von Herrlichkeit und Elend, von Lebensfreude und Vernichtung von Anbeginn und ein für alle Mal das Wesen dieser Welt wäre. Sie deutet diesen unheimlichen Riß, der durch das ganze Gefüge hindurchzieht, als einen Fluch, der von Anbeginn auf dieser ganzen Welt lastet, um des Menschen willen, der die ihm verliehene Freiheit dazu mißbraucht, der göttlichen Ordnung zu entlaufen. Weil der Mensch sein will wie Gott, darum herrscht die Sünde und der Tod in dieser geschaffenen Welt, darum sind alle Dinge aus ihrer göttlichen Ordnung gerückt, und Gesetz und Gewalt müssen diese von innen heraus zerstörte Welt notdürftig in Ordnung halten. Die Bibel gibt jenem abgründigen Grauen recht, wie es auch in der „heidnischen" Welt, so besonders in der germanischen Vorzeit, die Menschen angesichts des ungelösten und unlösbaren Rätsels der Welt erfüllt hat. Sie weiß, daß nur Blindheit und Torheit die letzte abgründige Angst überdecken, und daß der unstillbare Schmerz der Vergänglichkeit, die Angst des Todes und die Qual der Schuld das letzte Wort haben in dieser Welt. Sie mutet dem Menschen zu, seine rätselhafte und leidvolle Existenz in dieser unheimlichen Welt nicht nur als Verhängnis und Schicksal auf sich zu nehmen, sondern von dem Zorn des heiligen Gottes und von einer untilgbaren Urschuld des Menschengeschlechts zu reden: „Das macht Dein Zorn, daß wir so vergehen . . . denn unsere Missetat stellest Du vor Dich." Keine Schönheit der Welt tröstet über den Tod, und keine menschliche Größe kann sich aus dieser Schuldverhaftung lösen. Diese Welt ist ohne Hoffnung. Sie wäre ohne Hoffnung und bliebe ohne Hoffnung, wenn nicht Gottes Liebe eine neue Schöpfung, eine neue Erde, eine neue Menschheit erdacht und ins Dasein gerufen hätte. Von dem Ratschluß Gottes zur Erlösung der Welt handelt die ganze Heilige Schrift. Auch heidnische Gottesahnung weiß etwas von den Schauern der Vernichtung und von dem Weltenbrand, in dem alles, was ist, verzehrt wird. Aber selten nur taucht durch die Wolkenschleier hoffnungsloser Angst, noch ungestaltet und kaum greifbar, das Hoffnungsbild einer erlösten Menschheit, einer verwandelten Welt vor dem Blick des Sehers auf. Hier aber, in der Heiligen Schrift, vernimmt das Ohr derer, die gelernt haben, dem Ruf Gottes stille zu halten, immer deutlicher das Wort der Verheißung: „Ich will meinen Geist in euch geben, daß ihr wieder leben sollt. Ich rede es und tue es auch, spricht der Herr" (Hes. 37). Immer deutlicher schaut das Auge, das bereitet ist, durch den Trug der vergänglichen Dinge in das Geheimnis Gottes zu tauchen, das 56

Bild eines neuen Reiches, in dem Gerechtigkeit und Friede herrschen, das heißt, in dem alle Dinge heimgekehrt sind in ihre göttliche Ordnung, und die Menschheit geheilt ist von ihrer tödlichen Krankheit: die schauerlichen Gefilde des Todes rauschen vom Hauch der Auferstehung (Hes. 37). Der Herr wird wohnen bei seinem Volk; wie ein Liebender will er sich mit einer erlösten Menschheit verloben in Gnade und Barmherzigkeit (Hos. 2). Das Gesetz der Zerstörung und des Mordes wird abgetan sein, und auch die Natur wird teilhaben an dem Wunder einer erlösten Harmonie (Jes. 11). Was die prophetische Weissagung schaut als das künftige, auf uns zukommende Geheimnis der göttlichen Liebe, das ist, als die Zeit erfüllet war, eingetreten in die Geschichte. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns." Das Wort des Vaters, das uns zugewendete Angesicht der göttlichen Erbarmung ist erschienen in der Gestalt eines Menschen, in der vollen Wirklichkeit von Fleisch und Blut, eingegangen in die Schicksalsgemeinschaft der leidenden und verfluchten Menschheit. In dem Mysterium des Kreuzes feiert der Fürst dieser Welt seinen ärgsten Triumph, aber in der Auferstehung Christi ist die Gestalt des Todes verwandelt in die Gestalt der Herrlichkeit und der Sieg Gottes über die Mächte der Zerstörung entschieden. Das Grab dieser Welt ist gesprengt. Es kann den nicht binden, der in vollkommenem Gehorsam der Verführung dieser Welt, der Verführung menschlicher Macht und Ehre widerstand. Darum ist der Morgen der Auferstehung der Sonnenaufgang einer neuen Schöpfung. Christus ist der andere Adam, Beginn und Haupt einer neuen Menschheit, die aus dem Fluch der Eitelkeit und Selbstherrlichkeit erlöst dem Herrn dient mit Freuden. In unaussprechlichem und nicht endendem Jubel, für den alle Worte und alle Klänge zu armselig sind, besingt die christliche Kirche das Geheimnis der Erlösung, den Sieg der göttlichen Liebe, den Anbruch eines neuen Weltentages. Der Herr ist auferstanden; er ist wahrhaftig auferstanden. Aber noch ist, was schon geschehen, nur im Anbruch und im Verborgenen geschehen. Noch geht die Welt weiter ihren verfluchten Gang, noch sind alle Geschöpfe an das erbarmungslose Rad geflochten, noch werden Menschen aneinander schuldig und vollstrecken, wider Willen oder mit Willen, aneinander das göttliche Zorngericht. Aber was im Verborgenen angehoben hat, wird offenbar werden, offenbar Gericht und Scheidung, offenbar der Sieg des Christus und die Herrlichkeit seiner Gemeinde. Der verblendete Mensch muß den, den er verworfen und getötet hat, als den Fürsten des Lebens erkennen (Apg. 3), und das verkannte und verachtete Häuflein derer, die der Herr herausgerufen und aufgeweckt hat aus dem Schlaf dieser Welt, wird offenbar gemacht 57

als das, was es in Wahrheit ist: das heilige Volk Gottes, ein Volk von Königen und Priestern (1. Petr. 2), als der Anfang einer neuen und erlösten Menschheit. *

Die alte und die neue Schöpfung: das ist das eine, alles umspannende Thema der Heiligen Schrift. Man kann aber gerade diesen ihren wesentlichen Inhalt nicht recht verstehen, wenn man nicht sorgsam darauf achtet, wie eng, ja unauflöslich die alte und die neue Schöpfung miteinander verbunden und verflochten sind. Durch die Jahrtausende hin geht der Versuch, nur die erste Schöpfung zu sehen und nur in ihr zu leben. Es ist immer das Kennzeichen der späten und müden Kulturen, daß diese Welt einfach als ein Daseiendes ergriffen, von ihrem göttlichen Ursprung losgelöst und also gar nicht wirklich als Schöpfung verstanden wird. Das ist der Weg der Profanität, die Säkularisierung oder Verweltlichung der Welt, die reine Diesseitigkeit, die auch dann nicht aufhört, innerweltliche Diesseitigkeit zu sein, wenn sie sich mit einer erborgten religiösen Sprache schmückt und an religiösen Gefühlen berauscht. Dies rein „säkulare" Weltverständnis muß Auge und Ohr verschließen vor den Abgründen unlösbarer Rätsel und unstillbarer Nöte, die sich in dieser Welt bedrohlich auftun. Sie weiß nichts oder will nichts wissen von der letzten Gefährdung menschlicher Existenz. Sie verharmlost das Leiden, indem sie „die Zone der Empfindsamkeit aus dem Leben herausschneidet" (Ernst Jünger), und sie übertäubt jede aufkeimende Regung jener Scham und Schuld, in der der Mensch sich selbst zum Ekel und Greuel wird, durch die unermüdliche Beteuerung der angeborenen Gutheit des Menschen. Es bleibt dem säkularen Weltverständnis nichts anderes übrig, als den Menschen selbst in eine harmlos mißverstandene Natur einzuordnen und also das unheimliche Rätsel der menschlichen Existenz in der Sintflut von Geschwätz und Wahn zu ersäufen. Der Bolschewismus in jeder Form ist die letzte konsequente Ausprägung dieses profanen, bewußt und ausschließlich diesseitigen Weltverständnisses. Ihr geheimes, ihr selbst unbewußtes Ziel, ihre schon reifende und sich offenbarende Frucht ist die Zerstörung des Menschen, der ewige Tod. Dem gegenüber ist es der Weg des alten und neuen Heidentums, daß diese Welt um ihres göttlichen Ursprungs und um der in ihr waltenden göttlichen Kräfte willen selbst mit göttlicher Würde umkleidet und verehrt wird. Die geheimen Lebensgesetze, die sich in der Bildung des Kristalls, in dem Wuchs der Pflanze, in den tragenden und nährenden Kräften des Bodens, in der Prägung der Rassen, in der Geschichte 58

und Gesittung der Völker auswirken und darstellen, werden — in scharfem Gegensatz zu der bloßen Profanität — als göttliche Schöpfungsgeheimnisse verehrt. Der Mensch ist wieder bereit, sich vor solchen ursprünglichen Satzungen zu beugen, ihnen ehrfürchtig und gehorsam zu dienen. Selbst das Wort Sünde kommt wieder zu Ehren als der stärkste Ausdruck für jenen Irrweg der menschlichen ratio, die solcher dem Leben eingestifteten Ordnung zuwiderhandelt. Diese Ehrfurcht vor den Kräften der geschaffenen Welt und der ernste Wille, ihren Ordnungen Gehorsam zu leisten, ist der Versuch, den die Menschheit auf ihrem Wege immer wieder machen muß, diese Schöpfungswelt als etwas Letztes und Endgültiges anzusehen, aus ihren Kräften heraus und für ihre Gestaltung zu leben. Es wird offenbar, daß der weitaus größte Teil der abendländischen Menschheit sich seit Jahrhunderten hinter einer mit christlichen Zeichen geschmückten Fassade in dem Haus dieser Welt eingerichtet hat. Die Fassade stürzt heute ein. Es ist eine befreiende Klärung, daß solche ehrfürchtige Religion der Schöpfungskräfte sich heute selbst als Heidentum bezeichnet, und es ist eine lächerliche Selbsttäuschung, wenn man diesen Namen bloß deswegen verleugnet, weil der heutige Mensch nicht mehr die Kraft hat, gleich dem alten naiven Heidentum die von ihm verehrten göttlichen Mächte in personhaften Götterbildern anzuschauen. Nicht die Art der Vorstellungen ist der entscheidende Unterschied dieses neuen Heidentums gegenüber dem naiven vorchristlichen Heidentum, sondern eben dies, daß es ein nachchristliches Heidentum ist. Dieses neue Heidentum muß notwendig das Bild des vorchristlichen Heidentums, auch das der eigenen Ahnen verfälschen, indem es die Spuren des abgründigen Grauens verwischt, die über allem Heidentum lastende Weltangst verleugnet und die in kühnen Ahnungen aufbrechende Sehnsucht nach Erlösung verschweigt und austilgt. Die Erscheinung des Christentums aber kann von diesem Heidentum nur mit dem inbrünstigen Haß verfolgt werden als die große Störung, die es wagt, diese ganze Schöpfungswelt in ihrem innersten Verderben zu entlarven und ihr Herz, ihre Liebe und ihre Hoffnung zu richten auf eine neue Welt, die unter uns erschienen und doch noch nicht sichtbar ist. Oder aber es wird der verzweifelte umgekehrte Versuch gemacht, an den heute so viele gutmütige Menschen ihre eitle Mühe gewendet haben, das Christentum selber als ein System sehr nützlicher Kräfte jener ersten Schöpfung dienstbar zu machen und also wirklich die Lade Gottes in den Tempel Dagons zu stellen. Schon aber werden die Menschen wach und sehen mit Entsetzen, wie die Dämonen das heißt die göttlichen Kräfte im Aufruhr gegen Gott — am Werke sind. Der Teufel, der Lügner von Anfang, weiß, daß seine Stunde gekommen 59

ist, wenn die Menschen glauben, den Spuk des Teufelswahns aus der herrlichen göttlichen Welt verbannt zu haben. Er berückt die Menschen, wie es die Heilige Schrift in ungezählten Bildern darstellt, mit der Schönheit der Kreaturen und mit dem Glanz von Herrlichkeit, der über den Reichen dieser Welt aufleuchtet (Matth. 4). Es ist aber die Wahrheit, daß er der Fürst dieser Welt ist, daß das Gift der Lüge und der Bosheit in allen Adern dieser Welt kreist, und daß darum der Leib dieser Welt nicht aus seinen eigenen Säften genesen kann. Indem die zerstörte Wirtschaftsordnung der Welt aus den bloßen Kräften der ratio geheilt werden soll, stürzt sie immer tiefer in Ratlosigkeit und Chaos. Man arbeitet leidenschaftlich an der Befriedung der Welt und bereitet zu diesem Zweck Tanks und giftige Gase. Indem der Turm menschlicher Größe in himmelstürmenden Konstruktionen und Organisationen gebaut werden soll, ist erst recht eine Hand wider die andere, und einer wird zum heimlichen oder offenbaren Mörder des andern. Wer die erste Schöpfung haben und in ihr leben will, ohne um die zweite Schöpfung zu wissen und an sie zu glauben, trägt dazu bei, die Herrschaft des Teufels in dieser Welt aufzurichten und zu befestigen, und er wird nach Gottes unverbrüchlichem Willen zum Werkzeug des göttlichen Gerichts, das diese Welt, die sich Christus verschließt und von Christus abwendet, preisgibt an die Herrschaft der Dämonen. Was aber geschieht, wenn man die zweite Schöpfung haben will, ohne die erste Schöpfung, diese Welt, in der wir noch leben, ganz ernst zu nehmen. Dies ist die umgekehrte Gefahr. Dann ziehen sich die Menschen müde und verzweifelt voll Verdruß und Ekel zurück aus allen natürlichen menschlichen Bindungen und meiden den Ort und Zusammenhang, in den wir gestellt sind, als eine gefährliche Verstrickung. Es lautet sehr fromm, wenn sie dann von Gott als dem ganz anderen reden, und wenn sie bestreiten, daß es nach dem Fall überhaupt noch schöpfungsmäßige Ordnung gäbe. Alles, was zu der ersten Schöpfung gehört, ist nach dieser Meinung so völlig entwertet und verderbt, daß es nichts zu tun hat mit dem Heil des Menschen. Hier beginnt der Weg der Mystik, die glaubt, daß nur in der ganz leer gewordenen, allem Trug der Sinne verschlossenen Seele Gott sein Zelt aufschlage. Hier beginnt aber auch der Weg der eschatologischen Schwärmerei, die gern alle irdische und leibhafte Wirklichkeit dem verdienten Verderben überläßt, wenn sie nur hoffen darf auf ein zukünftiges Jenseits, in dem das ganz Andere Gestalt gewinnt. Hier wurzelt auch schließlich jenes Scheinchristentum, das nur nach dem Heil der Seele fragt und — womöglich mit Berufung auf Luthers Scheidung der beiden Gewalten — das 60

Christsein auf eine „geistliche" Sphäre beschränkt und die ganze Welt der Dinge und des Leibes, der wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung mit Freude den profanen Gewalten, in Wahrheit den Dämonen überläßt. Diese ganze Frömmigkeit, wie christlich sie sich auch gebärden mag, widerstreitet aber völlig dem Realismus, mit dem die Bibel von der neuen Schöpfung redet. Anders ausgedrückt: sie vergißt und verleugnet, daß die alte Schöpfung der Ort ist, an dem die neue Schöpfung erschienen ist. Eben dies ist das zentrale Thema der Heiligen Schrift, daß die Elemente der irdischen Welt durch die Kraft des Heiligen Geistes eingefügt werden in den heiligen Tempel einer neuen Welt. Das Wort ward Fleisch. Christus hat nicht nur zum Schein die Hülle menschlicher Existenz getragen, sondern er ist wirklich eingegangen in den Raum der ersten Schöpfung. Alle Innigkeit der Marienverehrung kreist um das Wunder der wirklichen und leibhaften Menschwerdung und schaut in dem gesegneten Schoß der Jungfrau die ganze erste Schöpfung an, als die Stätte der neuen Geburt. Wenn Luther in seinem Tedeum Christus auch darum preist, weil er „der Jungfrau Leib nicht verschmäht hat", so geht es hier nicht um ein einzelnes „Dogma", das man auch aus dem Gefüge des Ganzen herauslösen könnte, sondern es geht um den wirklichen Beginn der neuen Schöpfung in dem Raum dieser Welt. Die alte Kirche und mit ihr das Augsburgische Bekenntnis hat mit größter Energie den „Doketismus" abgewehrt, das heißt die Meinung, daß Christus nur zum Schein, aber nicht in Wirklichkeit Mensch geworden sei. Denn dieser Doketismus zerreißt am entscheidenden Punkt das geheimnisvolle Band, das die erste Schöpfung mit der zweiten Schöpfung, die alte Welt mit der neuen Welt verknüpft. Jeder Idealismus, der um der reinen Geistigkeit willen das Mysterium der Menschwerdung Gottes verleugnet, ist ein Rückfall in das Judentum, das zwar eine messianische Hoffnung, aber keinen gegenwärtigen Christus kennt. Die biblische Botschaft sieht mit radikalem Ernst das Ereignis des geschichtlichen Christus als die lebendige Mitte, auf die hin Gott die Menschheit führt und bereitet, und die sich nun auswirkt durch alle Jahrhunderte bis zu der endgültigen Vollendung der zweiten Schöpfung am Ende der Tage. Dieser Realismus ist eine der Klammern, durch die der alte und der neue Bund zusammengehalten sind. Abraham, der in der alttestamentlichen Geschichte der erste Träger der Verheißung ist, wandert aus, aber er wandert in ein irdisches Land, das Gottes Ratschluß zur Stätte einer ganz bestimmten Geschichte bereitet hat. Und hier ereignet sich dann eine sehr wirkliche, 61

sehr menschliche, sündige und blutige Geschichte, in die wie der lebendige Same in das dunkle Erdreich eingesenkt ist die Ahnung und Weissagung künftiger Offenbarung. Darum sind das Wichtigste am Alten Testament nicht jene vielgerühmten messianischen Weissagungen, sondern jene lebendigen Gestalten, in denen das Geheimnis Christi, seines Leidens und seiner Herrlichkeit in leibhafter Wirklichkeit vorgebildet ist: Abraham und Melchisedek, Mose und Josua, David und Salomo, Elia und Jeremia, und „die lieben Propheten all" bis hin zu ihrem letzten, Johannes dem Täufer. — Aber ebenso strahlt nun die leibhafte Wirklichkeit des in der Geschichte erschienenen Christus, die Kraft seines Leidens und die Kraft seiner Auferstehung als eine lebendige Wirklichkeit in die Welt hinein. Christus hat Leiber gesund gemacht, und die Elemente der Welt müssen ihm dienen. Er hat, wie der Kolosserbrief (2, 15) sagt, die Herrschaftsmächte der alten Schöpfung als Schaustück in den Triumphzug seines Sieges eingefügt. In seiner Gemeinde werden die Kräfte der neuen Schöpfung als gegenwärtige Macht erfahren, zerstörerisch an denen, die den eitlen Versuch machen, diese Kräfte in den Dienst des ungewandelten alten Menschenwesens zu stellen (Apg. 5), rettend und helfend an denen, die das Wunder der Wandlung an sich geschehen lassen. Darum gibt es eine echte Vollmacht zu heilen für die Kirche Jesu Christi. Darum den Ruf zur Heiligung des Leibes. Darum eine wirkliche leibhafte Kirche Gottes auf Erden, und ein Sakrament als die leibhafte Gegenwart und Wirklichkeit der neuen Schöpfung mitten in der alten Schöpfung. Darum die biblische Hoffnung, nicht auf die Unsterblichkeit der Seele oder ein Reich reiner seliger Geister, sondern auf eine neue verklärte Leiblichkeit, auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Christus ist die Wirklichkeit der neuen Schöpfung, die anhebt in dem Raum dieser Welt; das Kreuz ist der Schnittpunkt der alten und der neuen Schöpfung. Das Geheimnis der neuen Schöpfung ist die Wandlung der alten Schöpfung, die Wandlung alles natürlichen Seins. Kein Element der Welt, wie sie ist, ist schon eine vollkommene und endgültige Offenbarung Gottes. Es ist alles „vorläufig"; kein Element der alten Schöpfung ist so herrlich, so unberührt von dem Fluch der Schuld und des Todes, daß es unverwandelt eingehen könnte in das Reich der endgültigen Erfüllung. Darum erscheint der göttliche Geist, die lebendig gestaltende Macht der neuen Schöpfung in dem Bild des Feuers, das, was es ergreift, nicht unverwandelt läßt, sondern verzehrt und verbrennt, oder vielmehr wandelt und läutert. Gott ist wie das Feuer des Goldschmieds (Mal. 3,2). Diese

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Erkenntnis hat eine ungeheure Tragweite auf allen Gebieten des menschlichen Lebens. Wandlung ist das eigentliche und einzige Mysterium der Welt. Freilich nicht jene ohnmächtige und unfruchtbare Wandlung, die alles nur an das hoffnungslose Rad wechselnder Gestalten bindet, jene Wandlung, die ihr Urbild in dem natürlichen Kreislauf von Tag und Nacht, Blühen und Welken, Werden und Vergehen findet, sondern jene Wandlung, die ihr Urbild hat in der Auferstehung Christi. Jene Wandlung, in der der menschliche Trotz gebrochen, die Sünde vergeben, das eitle Ich befreit wird zur Liebe und darum der Tod entmächtigt und die Kreatur heimgeholt wird in den freien Dienst des ewigen Vaters. Das Lied unserer Kirche hat in seiner Weise sehr viel deutlicher und tiefgründiger von diesem Geheimnis der neuen Schöpfung geredet als die um ganz andere Fragen kreisende offizielle Lehrbildung des Protestantismus. Hier nehmen Sonne und Sterne teil an der Freude der Engel und Menschen über die Geburt des Erlösers. Hier ist in unzähligen Morgenliedern der Aufgang des Tages zum echten Gleichnis für den Aufgang des ewigen Tages, zum Morgenglanz der Ewigkeit geworden. Hier schaut und besingt die christgläubige Seele in dem Wunder des Frühlings das irdische Abbild der überschwenglichen Hoffnung: Herzlich tut mich erfreuen die liebe Sommerzeit, wenn Gott wird schön verneuen alles zur Ewigkeit. Kaum irgendwo ist diese christliche Schau der Dinge kindlicher und tiefsinniger ausgedrückt als in dem Osterlied der Böhmischen Brüder. Nun ihr Christen, laßt uns dorthin getrost das Herz rüsten, weil nun vergeht Kalt und Frost, auch Weh und Leid und folgt ein lieblich Sommerzeit, die jenes Leben bedeut. Es ist aber die Schicksalsfrage unseres christlichen Denkens und Handelns, ob wir das nur für eine poetische Redeweise oder für einen echten Ausdruck unseres Glaubens an eine neue Schöpfung halten. In dem Geheimnis des Sakraments ist die neue Schöpfung gegenwärtig, in dem Wasserbad der Taufe, in Essen und Trinken von Brot und Wein. Es ist nicht Schwämerei, sondern eine letzte 63

Nüchternheit, wenn wir sagen, daß man nur von diesem innersten Mysterium her die Natur und die Menschenwelt, Wirtschaft und Technik, Boden und Blut, Volk und Geschichte wirklich begreifen kann, ohne den Todesmächten der alten Schöpfung und dem grausamen Fürsten dieser Welt zu verfallen. Das Gefängnis dieses Todes zu zerbrechen und über den abgründigen Finsternissen das Licht der Hoffnung zu entzünden, ist das Werk des Christus. Die alte Schöpfung zu sehen in dem Licht der neuen Schöpfung als die Stätte der Offenbarung und der Wandlung, ist der Inhalt der Heiligen Schrift.

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DAS KREUZ CHRISTI Drei Vorträge in der Karwoche 1922

1. DIE WELT, IN DER CHRISTUS GEKREUZIGT WIRD Alle unsere Kirchen und alle unsere Altäre sind mit dem Kreuz geschmückt. Wer in eine unserer alten Kirchen tritt, dem wird der Blick gebannt und gebunden an das Bild des Gekreuzigten. Aber es ist die Gefahr, daß uns dieses Kreuz wie ein selbstverständliches und unentbehrliches Schmuckstück der Kirche erscheint, und daß wir dann das Bild selbst gar nicht mehr sehen, und nicht mehr wissen, was da eigentlich geschehen ist. Manche der alten Kreuze sind für einen ganz besonderen Eindruck bestimmt. Wenn man sich ganz dicht unter das Kreuz stellt und nach oben schaut, schrickt man förmlich zurück vor dem Eindruck dieses namenlosen Schmerzes und Grauens, den da irgendein Mensch, der sich selbst in dieses Todesleiden Christi versenkt hat, in Holz oder Stein gestaltet hat. Aber man muß dicht unter das Kreuz treten, damit man in dem Angesicht des Gekreuzigten lesen kann. — Es ist mit unseren Liedern nicht anders. Wir grüßen „das Haupt voll Blut und Wunden", und singen „Sei mir tausendmal gegrüßet", und sagen „Ach wie ist mir doch so wohl, wenn ich knien und liegen soll an dem Kreuze, da du stirbest." Aber es ist wieder die Gefahr vorhanden, daß diese Lieder das Harte und Furchtbare mit einer weichen, allzu weichen Melodie verbrämt haben, und daß wir den Schrei des Karfreitags durch die Passionsmusik hindurch nicht mehr hören. Es ist nicht anders mit dem, was unsere Kirche uns seit unserer Kindheit gelehrt hat über das Kreuz Christi. Manchmal könnte einem scheinen, als ob sehr vieles von den Lehren über das Kreuz Christi die Absicht oder jedenfalls die Wirkung hätte, das Unbegreifliche, Grauenhafte und Unerträgliche wegzuerklären, und das alles in so tiefsinnige und erbauliche Gedanken hineinzutauchen, daß gar nichts Beunruhigendes, Schreckhaftes, Erschütterndes mehr darin bleibt. Aber das Neue Testament hat das Kreuz Christi gar nicht nur für etwas Beruhigendes, sondern für etwas sehr Beunruhigendes gehalten. Es gibt eine Art von dem Kreuz Christi zu reden - vor dieser Art wollen wir uns hüten —, bei der die Sache selber, von der die Worte stammeln, vergessen und verraten wird. Wenn wir in den alten Domen ganz dicht unter eines von diesen ernsten Kreuzen treten, dann sehen 65

wir in ein Angesicht voll Leidens. Das wirkliche Leiden hat nichts von dem Nimbus des Heroischen und Pathetischen um sich, mit dem wir das Leiden so gerne umkleiden. Wo ein Mensch leidet, innerlich oder äußerlich wirklich leidet, da mögen vielleicht die Zuschauer, je ferner sie sind, desto eher, etwas sehen und sagen von dem verklärenden Schimmer eines tragischen Heldentums, aber in dem leidenden Menschen selber ist eben nur dieses unpathetische, untragische, nüchterne, aufreibende, entsetzliche Leiden. Und Christus hat „gelitten unter Pontio Pilato". Christi Leiden am Kreuz war ein wirkliches Leiden. In dem Kreuz des Herrn Christus feiert der Tod einen unheimlichen Triumph. Der Tod streckt seine Hände aus nach dem Herrn Jesus; der Tod, dem kein lebender Mensch entrinnen mag. Alles das, was wir sagen, denken und singen möchten über die Größe des Menschen und über die Herrlichkeit des Lebens, wird immer wieder ausgestrichen durch das Kreuz des Todes. Denn alles Leben ist von vorneherein an das Kreuz des Sterbens genagelt. Wir haben kürzlich einmal hier im Gotteshaus diesen gequälten Aufschrei gehört, den um das Jahr 1400 der Johannes von Saaz ausgestoßen hat, als ihm seine liebe junge Gattin vom Tod hinweggerissen ward: „Tod, du grimmiger Tilger aller Leute, schrecklicher Mörder aller Menschen, Tod, dir sei geflucht! Ohne Aufhören will ich schreien: Dir, Tod, dir sei geflucht!" Dieser Schrei des Schmerzes und der Wut und des sichaufbäumenden Trotzes geht durch die Welt. Aber der Schrei nützt ja nichts, der Tod ist da, er geht seinen Weg, er holt sich seine Leute, er ist der König der Schrecken. Auch der Herr Jesus hat vor dem Tode gezittert und ist im Tode ermattet, auch sein Herz ist vom Tode verdunkelt worden; und auch er ist gestorben. Aber vielleicht ist der Tod gar nicht das Furchtbarste. Der Tod kommt als Freund und als Wohltäter, da wo ein Mensch bis zum Unerträglichen hat leiden müssen. Daß ein armer Menschenleib so leiden muß, so gequält und „zu Tode" gemartert werden kann, daß er schließlich nach dem Tode ruft als der Befreiung, das ist doch eigentlich das Furchbarste. Wir reden so gerne von dem geistigen Wesen des Menschen und denken sehr hoch davon, daß unsere Seele ein Gotteskind ist, das immer wieder auf den Flügeln der Ahnung und der Sehnsucht und der Hoffnung heimfliegt in das ewige Reich, aus dem sie nicht vertrieben werden kann. Aber dieser selbe Mensch ist mit seinem Leib gebunden an dies Erdenleben, und als geistleibliches Wesen unterliegt er der Anfechtbarkeit, der Verwundbarkeit, der Hinfälligkeit alles irdischen Seins. Er kann verwundet werden, er kann gequält und gemartert werden, er kann vom Schmerz übermannt und zerbrochen werden. Das ist furchtbar. Furchtbarer aber ist es, daß auch das seelische Leben und das geistige Wesen des Menschen so 66

tief in die Abhängigkeit von diesem körperlichen Geschehen verstrickt ist; daß bei so vielen Krankheiten, bei so vielem Elend, leibliche Schwachheit und leibliche Schmerzen auch über das Innere des Menschen eine so furchtbare Gewalt haben dürfen. Wenn man an einem Krankenbett steht, wo ein Mensch in schwerem Siechtum sich abquält und Tage und Wochen hindurch eigentlich nie eine Stunde Ruhe hat, sondern immer von Schmerzen gepeinigt ist, wo auch die Hilfe, die der Arzt bringt, dem Kranken neue Schmerzen doch nicht sparen kann, sondern immer von neuem bis zum Übermaß weh tun muß, und wenn man dann sieht, wie darunter auch allmählich die Seele mürbe wird, wie auch die inneren Kräfte erlahmen und versagen, dann erschrickt man darüber, was für eine Macht der Schwachheit des Leibes gegeben ist auch über das Gotteskind, die Seele. Das ist das Niederdrückendste, daß dann unter dem Druck unerträglicher leiblicher Schmerzen die Gedanken sich verwirren und der Wille erlahmt, und die Stimmen aus dem tiefsten Seelengrund schweigen. Da kommt es dann wie eine große innerste Verlassenheit über den Menschen, weil seine Seele nicht mehr den Leib mit seinen Lasten und Schmerzen tragen kann. Aus solchen körperlichen Qualen heraus fand Jesus für die Not seiner Seele keinen anderen Ausdruck als die Psalmworte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Es gibt viele, denen alle körperlichen Schmerzen gering erscheinen gegenüber der furchtbaren Möglichkeit, daß Menschen durch körperliche Krankheit wirr und wüste werden können in ihrem Geist, und daß nun der Geist eines Menschen umdüstert und wie in weite Fernen entführt zu sein scheint, wenn irgendein wesentliches und wichtiges Organ des Nervensystems getroffen und verletzt ist. Wie viele mag es geben, die an diesem Leiden ganz persönlich mitleiden und mittragen, und die, wenn sie am Karfreitag die Geschichte von Golgatha hören, aus ihrem persönlichen Leben heraus vielleicht gerade dies eine hören als das namenlos Schreckliche, daß die Schmerzen, die Nöte des Leibes auch das hellste Seelenlicht einmal umdüstern und verdunkeln können und daß auch ein Herr Jesus in der Stunde, da sein Leib im Tode ermattet ist, sich von Gott verlassen gefühlt hat. Ecce homo! Sehet der Mensch! Aber dieses Leiden tragen nicht wir Menschen allein. Es ist eine Welt voll Leiden, es ist ein Leiden der Welt. Die außermenschliche Natur nimmt teil an dem Weltleiden des Schmerzes, der Vergänglichkeit und des Sterbens. Jedes Verwelken schneidet uns ins Herz. Jede Blüte, die der Frost getötet hat, ist, so klein das einzelne sein mag, uns eine harte Mahnung, wie sehr auch die Kreatur dieser sinnlosen Zerstörung von Leben unterworfen ist. Wenn frommer und tiefsinniger Volksglaube die Pas67

sionsblume, in deren Blütenkelch die Marterwerkzeuge Christi abgebildet zu sein scheinen, besonders lieb und heilig hält, so ist diese Passionsblume ein Sinnbild der ganzen Welt, in der überall das Leben gemartert wird und zerstört wird, in der überall wider alles Blühen und wider allen Frühling und alle Freude das harte grausame Kreuz steht, an das alles Leben genagelt ist. Trunken wird unsere Seele oft von der überströmenden Herrlichkeit der Erde. Wie leuchten uns die Sterne und wie jubelt unsere Seele, wenn der Frühling alle seine Wunder um uns breitetl Aber auf einmal mitten in aller Freude befällt uns eine tiefe Angst: das Kreuz ist auch da. Und das Kreuz ist ein harter grausamer Strich durch alle ungebrochene Lebensfreude, das harte Nein wider allen fröhlichen Weltoptimismus und alles unbesorgte Lied von der Herrlichkeit der Welt und des Lebens. Wie oft haben wir aus tiefbeglücktem Herzen die Verse gesprochen: „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldenen Überfluß der Welt!" Aber dieselben Augen, die trunken geworden sind von dem goldenen Überfluß der Welt, müssen dann das Kreuz sehen und müssen sehen die roten Tropfen Blutes und müssen sehen all das grausame Leiden und all das erbarmungslose Vergehen und all den Tod. Und für die, die leiden, und die das Leiden sehen und die Stimme dieses Leidens hören, wird immer wieder die Sonne, das freundliche Licht dieser Welt, ihren Schein verlieren. — Verschiedene Zeiten waren in sehr verschiedenem Grade aufgeschlossen für die Töne des Leidens in der Welt. Es hat Zeiten gegeben, und viele unter uns haben eine solche Zeit noch ganz bewußt erlebt, in denen der Mensch sich verhältnismäßig sehr wohl gefühlt hat auf der Erde. Ein großes Maß äußerer Sicherung war aufgerichtet, die so viel als möglich den Menschen erspart hat, das Kreuz als Herrschaftszeichen in ihrem eigenen Leben zu sehen. Die Zeit hat sich gewandelt, und wir leben heute in einer Zeit, wo wieder das Kreuz als das große Schicksalszeichen unseres Lebens aufgerichtet ist, wo wieder viel mehr Menschen sehen müssen, daß das Kreuz, an dem der Herr Christus genagelt und gemartert war, eben zu unser aller Leben und zu dieser Welt notwendig gehört, und daß der diese Welt gar nicht als Ganzes kennt, der nicht auch das Kreuz kennt und mitdenkt. Es ist unter uns — den jungen Menschen ganz besonders — eine ganz selbstverständliche innere Notwendigkeit, daß wir „weltoffen" sein wollen. Wir wollen nicht blind durch die Welt gehen, wir wollen offen sein für alles, was diese Welt in sich birgt, für alle Schönheit und Herrlichkeit, für alle Freude und für alles Leben; aber der ist gar nicht weltoffen, der nicht auch das Kreuz sieht. In einer alten Legende wird erzählt, daß die zum Tode verurteilten Christen den Kaiser, der sich an ihren Qualen ergötzte, grüßten: „Morituri te salutamus" — wir Sterbenden grüßen dich. Morituri 68

moriturum te salutamus — wir, die wir sterben, grüßen dich - , den sterbenden Heiland am Kreuz. Dieses Weltleiden empfängt erst seinen Stachel von der furchtbaren Ungerechtigkeit, die darin beschlossen liegt. Diese Ungerechtigkeit des Weltlaufs haben die Menschen niemals ertragen. Die ganze Geschichte der Philosophie und der Weltanschauung ist eigentlich ein ungeheures und nie aufhörendes Sichaufbäumen gegen die Tatsache des sinnlosen Leidens in der Welt. „Es muß doch eine Gerechtigkeit geben in der Welt, und wenn es keine Gerechtigkeit gibt, dann hat es keinen Sinn, daß Menschen auf Erden leben." Weil wir alle in uns das tiefe Verlangen nach Gerechtigkeit tragen, darum meint man immer wieder, es muß doch gerecht zugehen in der Welt, es muß doch den Guten gut gehen. Mag es den Schlechten auch schlecht ergehen, mag in dem Gericht, das sich an dem Schlechten vollzieht, alle Grausamkeit und alles Leiden und alle Qual beschlossen sein; aber dem Guten muß es doch gut gehen, der Gute muß doch irgendwie getragen, irgendwie gehegt, irgendwie geborgen sein. Man kann diesen Gedanken auch rückwärts denken und hat ihn sicher oft rückwärts gedacht: Wem es schlecht geht, dem merkt man eben an, daß er nicht Gottes Wohlgefallen hat, weil es Gott ihm sonst gewiß nicht so ergehen ließe; und wem es gut geht, auf dem ruht sichtlich Gottes Wohlgefallen. Gott hat sich zu ihm bekannt, indem er ihn wohl beschützt, gehegt, bewahrt hat. Dieser Gedanke war ganz besonders daheim in der altjüdischen Religion, deren Urkunde das Alte Testament ist. An mehr als einer Stelle ist heute noch zu spüren, wie den Menschen gleichsam der Boden unter den Füßen wankt, wenn sie einmal an dieser Gerechtigkeit irre werden. Wenn es nicht so ist, daß es den Guten gut, den Bösen böse geht, kann man dann noch von einer Gerechtigkeit des Weltlaufs, von einer sittlichen Weltordnung reden, ist das dann überhaupt noch ein heiliger und gerechter Gott, der nicht sichtbar lohnt und straft? Aber es ist nicht nur der jüdische Mensch, sondern ganz allgemein der natürliche Mensch, der so rechnet. In dem Kampf, den heute der Antisemitismus auch im Namen des Christentums gegen die jüdische Lohnfrömmigkeit kämpft, wird immer wieder vergessen, daß das gar nicht die jüdische Religion, sondern die Religion des natürlichen Menschen ist: Gott kann doch nicht . . . Gott darf doch nicht . . . Es darf nicht anders sein, es muß diese Gerechtigkeit geben, die es dem Guten gut, dem Bösen bös gehen läßt. Dann geht es notwendig den Menschen immer wieder so, wie es damals den Jüngern Jesu ergangen ist: Gegen alle ihre Gottesvorstellungen und ihren Gottesglauben hat Gott sein Urteil gesprochen wider ihren Herrn und Meister. Das war für einen Paulus so unfaßbar, daß der wie ein Verbrecher ans Kreuz genagelte Christus der Auserko69

rene der Menschheit sein soll, der Gesalbte, der Heiland, der Bote, der Sohn Gottes. Wenn wir uns einmal von unseren christlichen Gedanken über den Tod Jesu frei machen und uns hineindenken in diese Jünger Jesu - , wenn damals Menschen überhaupt an dem Dasein Gottes zu zweifeln vermocht hätten, dann hätten die Jünger sagen müssen: es gibt keinen Gott. Denn ihr Gott war ans Kreuz genagelt und auf dem großen Trümmerhaufen ihrer zerbrochenen Hoffnungen lag auch ihr zerschlagener Gott. Immer wieder durchstreicht die harte Wirklichkeit mit dem Kreuzeszeichen alle schöne und befriedigende Theorie über die Gerechtigkeit des Weltlaufs und sagt: Nein, eure Gerechtigkeit, die gibt es nicht, und euer Gott, der diese Gerechtigkeit hütet, der lebt nicht. Unzählige Erfahrung hämmert uns das ein: der schlechteste Mensch kann ungekränkt und angesehen leben und wird wohl zuletzt mit Ehren begraben. Und dort tragen andere wahrhaft Gottes Herrlichkeit in ihrer Seele, aber niemand sieht und niemand ehrt sie und niemand steht zu ihnen, sondern sie sind ausgestoßen, es geht ihnen krumm und schlecht, und ein Leiden nach dem andern häuft sich auf sie; und die Gerechtigkeit, nach der sie ausschauen, hat sie vergessen und verlassen. Dann beklagen sich die Menschen und fragen: Wo bleibt nun die göttliche Gerechtigkeit? Wo bleibt der Gott, dem wir vertraut haben? Der Karfreitag gibt die Antwort auf alle diese Menschheitsfragen: Diesen Gott gibt es wirklich nicht, der es immer dem Guten gut und dem Bösen bös gehen läßt. Das ist ein Götze, den sich die Menschen zu ihrem Trost ausgedacht haben. Darum kann es nicht ausbleiben, daß der Glaube an diesen Gott und seine Gerechtigkeit irgendwann einmal zerbricht. Wer das nicht weiß, der hat noch nie gesehen, wie das Kreuz des Herrn Jesus wirklich in der Mitte der Welt steht. An diesem Kreuz zerbricht alles falsche Gottvertrauen. An der harten Wirklichkeit dieses Kreuzes zerbricht jeder Gott, der nicht der wirkliche Gott, sondern ein Götze ist. In meiner Jugend ist als Konfirmationsgeschenk sehr gerne ein Buch des Dänen Skovgaard-Petersen, das über „Des Glaubens Bedeutung im Kampf ums Dasein" berichtet, verwendet worden. In diesem Buch ist ausgeführt, daß nach dem Wort der Bibel die Gottseligkeit, die Verheißung auch dieses Lebens habe, und daß die Menschen, die „gläubig" sind, auch im Kampfe des Lebens besser dran sind als die anderen, daß diese Menschen auch in ihrem Geschäftsleben besser vorankommen, daß sie schließlich doch die einflußreicheren, gewichtigeren Menschen in der Welt sind. Darin ist gewiß viel Richtiges. Aber es scheint mir doch eine ungeheure Gefahr darin zu liegen, wenn wir unseren Konfirmanden das so sagen wollten, daß der Christenglaube auch die beste Waffe im äußeren Kampf ums Dasein ist. Denn das ist nicht wahr. Jesus hat das genaue

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Gegenteil seinen Jüngern gesagt. Er hat gar keinen Hehl daraus gemacht, daß es ihnen nicht anders gehen würde als ihm, und daß sie durch ihre Jüngerschaft durchaus kein Anrecht auf ein schönes und bequemes Leben haben, sondern vielmehr in das Schicksal ihres Meisters, gehaßt und verfolgt zu werden, hineingezogen würden. Sie werden verachtet sein, man wird mit Fingern auf sie deuten, man wird sich von ihnen scheiden. Es kann gar nicht anders sein, weil es auf dieser Erde immer gerade verkehrt zugehen wird und niemals — wie Plato gewünscht und viele nach ihm geträumt haben — die besten die Ehre und die Macht haben werden. Und das war gerade der tiefe Schmerz Jesu, daß seine Jünger ihn um nichts anderes zu bitten wissen, als um einen Ehrenplatz in seinem Reich. Darum sagen wir unseren Konfirmanden lieber das Umgekehrte: Wenn du ein Jünger Jesu sein willst, dann mußt du dich von vornherein darauf einstellen, daß du gar keinen Anspruch auf äußeres Glück und kein Recht hast zu klagen, wenn dich das Schicksal hart anfaßt. Ihr sollt das Kreuz des ungerechten Leidens sehen und ihr müßt euch entschließen, dieses Kreuz auch auf eure Schultern zu nehmen. Wir wollen unserer Jugend wahrhaftig nicht nur die berühmten drei Worte des Glaubens sagen, daß sie sich daran begeistern, sondern wir wollen ihnen verraten, daß der gleiche Schiller auch „drei Worte des Wahnes" gedichtet hat: Verscherzt ist dem Menschen des Lebens Frucht, So lang er die Schatten zu haschen sucht. So lang er glaubt an die goldene Zeit, Wo das Rechte, das Gute, wird siegen; Das Rechte, das Gute, führt ewig Streit, Nie wird der Feind ihm erliegen. So lang er glaubt, daß das buhlende Glück Sich dem Edlen vereinigen werde, Dem Schlechten folgt es mit Liebesblick, Nicht dem Guten gehöret die Erde. Wer das Kreuz im Mittelpunkt der Weltgeschichte sieht, der und nur der ist vor den Worten des Wahns geschützt, weil er die Welt kennt. Der Karfreitag erzählt die Geschichte von der grauenhaften Ungerechtigkeit auf der Welt. Ein Jünger Jesu kennt ein für alle Mal diese Welt; er weiß, daß in dieser Welt Christus gekreuzigt worden ist. Wenn wir im Felde einen Soldaten draußen irgendwo begraben haben, hatten wir oft gar nicht die Möglichkeit und die Zeit, ein Kreuz aus Holz zu schnitzen. Da hat manchmal einer der Kameraden in das geschlossene Grab ein Seitengewehr hineingesteckt, so daß gerade der Griff wie ein Kreuz aus dem 71

Boden herausragte. Und dann sind wir davor gestanden und haben, ohne viel Worte zu sagen, gewußt, was uns allen das Herz bewegte: der gemeinsame Jammer um so viel zerstörtes Leben und die gemeinsame Frage: warum muß das sein? Und das gemeinsame Geständnis: Wir begreifen das nicht und werden das nie begreifen. Damals, als Jesus am Kreuze hing, hat das auch kein Mensch begriffen, warum Gott ihn verlassen hat. All unser schweigendes Wissen und unser Schrecken über die Welt, wie sie ist, faßt sich in dem Kreuz als dem stärksten Symbol zusammen: Die Rechnung unseres Lebens stimmt nicht, die Rechnung geht nie auf, und jede Rechnung, die wir aufstellen möchten, wird ausgestrichen durch das Kreuz. Aber wir gehen einen großen Schritt weiter, wenn wir uns klar machen, daß diese Ungerechtigkeit nicht von außen her durch ein unberechenbares Schicksal in die Welt kommt, sondern daß die Menschen selber die Träger dieser Ungerechtigkeit sind, und daß diese Ungerechtigkeit in dem Menschen selber da und verkörpert ist. Es ist ja nicht ein sinnloser Blitzstrahl, der den Herrn Jesus irgendwo einmal erschlagen hat, es ist nicht wie in der von ihm selbst erwähnten Geschichte ein einfallender Turm, der ihn von einer Stunde zur anderen aus dem Leben gerissen hätte, sondern es sind Menschen, die ihn gekreuzigt haben. Die Welt, in der wir leben, kennen wir nicht, so lange wir nicht auch der Tatsache ins Auge schauen, daß eben Menschen den Herrn Jesus gekreuzigt haben. Was waren das für Menschen? Mich hat immer gewundert, daß in unseren Passionsliedern kaum einmal die wahrhaft erschütternde Tatsache einen Ausdruck gefunden hat, daß das damals nicht besonders schlechte oder verworfene Menschen, sondern die berufenen Führer und die breite Masse des Volkes gewesen sind, die Jesus gekreuzigt haben. Wie wollten wir aufatmen, wenn man uns zeigen könnte, daß Jesus das Opfer einer Bande von Verbrechern geworden ist! Aber so war es ja gar nicht. Die Masse, die damals die Verurteilung des Herrn Jesus durchgesetzt und die ihm ein johlendes und witzelndes Geleite zur Richtstätte gegeben hat, war die wohl schlechter als die Masse in Nürnberg oder Berlin oder sonst irgendwo? Die Masse bleibt immer die Masse und ist immer ohne Sinn und ohne Treue. Die Masse schreit immer „Barrabas". Wer das in der Matthäuspassion jemals gehört hat, wie auf die Frage: Wen wollt ihr, daß ich euch losgebe?, die Masse aufschreit: „Barrabas!", dem geht das wahrhaft durchs Herz; und er weiß, die Masse, die von klarem Denken, von nüchterner Einsicht, von wirklicher Führung verlassene Masse will immer ihren Barrabas haben. Sie will immer Christus am Kreuz hängen sehen. Diese „Masse" von damals, das waren ganz brave Bürger von Jerusalem, die mitgeschrieen haben, weil die anderen geschrieen haben,

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und die mitgehaßt haben, weil die anderen gehaßt haben. Die Masse bleibt immer Masse, und der schöne Spruch, an dem so viele sich berauschen „Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes" ist jedenfalls dann ein barer Unsinn, wenn man die Masse für das Volk hält. Die Stimme der Masse ist niemals die Stimme Gottes. Niemals kann aus dem Beifall der Masse geschlossen werden auf den Wert einer Idee. Niemals ist ein Ruf darum richtig, weil die Masse miteinstimmt. Und die Masse ist es doch immer, die Masse, die sich an dem eigenen Geschrei frommer Worte berauscht, die Jesus gekreuzigt hat und wieder und wieder kreuzigt. Was liegt da für ein verhängnisvoller Fehler, was für eine tiefe Schuld, wenn auch christliche Führer immer wieder hineinsinken in die Anbetung der Mehrheit und buhlen um den Beifall der Masse. Aber sind nicht allemal die Führer verantwortlich für das, was die Masse tut? Natürlich, und die Führer meinten ihrer Pflicht zu genügen und den Willen Gottes zu erfüllen, wenn sie Jesus töteten. Die Anwälte der Religion, die Oberen der Kirche, die Diener des Staates treten zusammen und dürfen einmal zeigen, was sie eigentlich vermögen, aber sie bringen nichts anderes zustande, als daß Christus wie ein Verbrecher aus den Reihen der Lebendigen beseitigt wird. Aber die erschütterndsten unter den Gestalten der Passionsgeschichte sind nicht die Feinde Jesu, sondern seine Jünger. Sie haben den Herrn Jesus nicht verstanden, so lange er mit ihnen redete, sie sind, als er in Gefahr kam, davongelaufen. Sie haben ihn verraten und verleugnet und, was das Furchtbarste ist, sie haben in der einzigen Stunde, wo Jesus etwas von ihnen begehrte, geschlafen. Wie kläglich verstummt jedes Lied von der Treue unter Menschen vor der einen ganz schlichten Tatsache, daß die einzigen Menschen, die Jesus gewürdigt hat, sie um etwas zu bitten, und die ihm irgendwie hätten helfen dürfen, die Stunde verschlafen haben. Hier muß nun ein Wort über Judas gesagt werden. Dieser Judas war kein so wilder und düsterer Gesell, wie ihn etwa gerade in diesen Tagen eine geschmacklose Kinoreklame uns zeigen will; sonst wäre er kein Jünger Jesu geworden. Auch er mag von einem hohen Gedanken beschwingt, von einem reinen Wollen beseelt in die Jüngerschar geführt worden sein, und es mag wohl richtig sein, wie man es heute gemeinhin ansieht, daß dieser Judas vor Begeisterung brennend in seiner Begeisterung nicht warten konnte auf den Tag, an dem die Herrlichkeit seines Meisters sich aller Welt zeigen sollte. Nun will er ihn drängen, nun will er die große Stunde erzwingen; und sein Kuß wird zum Verrat. Dieser Judas ist die Tragödie des Idealismus. Das ist der tragische Idealismus, an dem so viel junges Leben zerbricht, daß er sich ein Ideal zurechtgemacht hat und nun „seinem Ideal treu" bleibt. Er merkt, daß das harte Leben ihn aus seiner 73

Traumwelt herausfordert, daß Gottes Wille eine andere Bahn weist, aber er hat sich in sein Ideal verliebt, er betet es an, er macht es zu seinem Götzen und Gott wird gekreuzigt. Wer von uns hat den Mut zu sagen: Mit dieser Welt haben wir nichts zu tun. Das habt ihr gemacht, ihr Menschen von damals. Wir hätten anders gehandelt, weil wir ganz andere Menschen sind! Da gilt uns allen, was dem König Chlodwig im Taufunterricht gesagt worden ist, als er bei der Erzählung der Leidensgeschichte zornig ans Schwert fuhr „Spare deinen Zorn, du hast den Herrn Jesus mehr als einmal mitgekreuzigt." Wer von uns dürfte sagen, daß keine Spur von Eigensinn und Starrsinn in ihm sei, der dem eigenen Götzen Opfer bringt, mag auch der Altar des lebendigen Gottes ohne Opferrauch sein? Wer von uns dürfte sagen, daß er ohne alle Furcht sei, daß er sich niemals von Menschenmeinung und Menschengunst abhängig gemacht habe? Wer von uns dürfte sagen, daß er nie der eigenen Ehre gedient und nie verblendet die eigene Meinung für Gottesgedanken gehalten habe? Wer von uns dürfte sagen, daß der Herr, wenn er ihn rief, ihn zu keiner Stunde schlafend gefunden habe? Wer ist unter all den Menschen, die als Feinde oder Freunde Jesu auf seinem Leidensweg begegnet sind, über den wir uns erhaben fühlten? Aber weil wir so sind, wie wir sind, so stehen wir mitten drinnen in dieser Welt, die Christus gekreuzigt hat. Das ist der Sinn des Passionsliedes: Nun, was du Herr erduldet, ist alles meine Last, ich hab' es selbst verschuldet, was du getragen hast. Wir wissen, was das heißt, wenn die Mystiker aller Zeiten das sagen, daß wir das Gotteskind in uns selber tragen. Aber dieses Gotteskind in uns ist immer wieder von uns erwürgt und ans Kreuz geschlagen worden. Was in uns leben möchte als Gottes Keim, was keimen und wachsen möchte aus der göttlichen Saat, haben wir immer wieder an das Kreuz unseres Eigensinns, an das Kreuz unserer Unvernunft, unserer Sinnlichkeit, unserer Selbstsucht genagelt. Immer wieder ist der Christus in uns gekreuzigt worden von uns selbst. Der Weg des Menschen führt immer wieder ans Kreuz. Nicht nur, daß er sich selber an das Kreuz des großen Weltleidens genagelt findet, sondern daß er selbst immer wieder kreuzigt, daß er selbst immer wieder unter den Häschern und Kriegsknechten ist, die das Gotteskind verurteilen und geißeln und höhnen und töten. Es ist wirklich eine Macht der Finsternis in der Welt, und von der Macht dieser Finsternis tragen wir alle etwas in uns. Keiner von uns ist unberührt von der teuflischen Gewalt, von der Johannes sagt: „Die Menschen 74

liebten die Finsternis mehr als das Licht." Das ist das eigentliche Gericht des jüngsten Tages, das Weltgericht, das allezeit ergeht: Das Licht ist da, auch bei uns, aber in dem Menschen drinnen ist etwas, das heimlich die Finsternis mehr liebt als das Licht, und das immer wieder alles auf den Kopf stellt und immer wieder Barrabas ruft und immer wieder Christus kreuzigt. Dabei sind wir Menschen selbst Werkzeuge. Es ist in dieser Welt eine unheimliche dämonische Macht, die nicht will, daß diese Schöpfung so sei, wie Gott sie gedacht. Sie muß immer wieder das Leben verderben in den Tod. Sie muß immer wieder das Heil vergiften und töten und wandeln in Unheil und Schuld. Freilich wir dünken uns heute viel zu gescheit, als daß wir noch ernst nehmen möchten das, was frühere Geschlechter vom Teufel gesagt haben. Aber weil wir die Zeugen sein müssen, wie unzählige einzelne und wie immer wieder die Massen „Barrabas" schreien, merken wir doch wohl etwas von der ernsthaften Macht des Teufels in der Welt. Die Erkenntnis von der unheimlichen und zerstörenden Macht, die wir Teufel nennen, geht durch die ganze Welt hindurch. Jene früheren Geschlechter unseres Volkes, aus denen die Welt der germanischen Mythologie geboren ist, haben davon mehr gewußt als wir heutigen Menschen. Wenn sie ihren Kindern erzählt haben, wie böse und heimtückische Riesen immerzu die Wurzeln der Weltesche Yggdrasil benagen, wie die furchtbare Schlange (das Sinnbild alles Weltleides) von Thor bedroht doch seinen würgenden Händen entgleitet, wie der blinde Hödur als Lokis Werkzeug Baidur, den Liebling der Götter, töten muß, — wahrlich, da haben sie mehr von „der anderen Seite" der Welt gewußt als alle die fröhlichen Optimisten, die sich ein Weltbild ohne Jammer und Tod, ohne Finsternis und furchtbares Ringen, aber auch ohne Adel und ohne Größe zurechtgezimmert haben. Diese Menschen haben dann wohl auch aufgehorcht, als ihnen die Geschichte von Christus und seinem Kreuz erzählt wurde. Wahrhaftig, wenn in der Welt ein Mörder von Anfang an im Spiele ist, dann und nur dann kann man das fassen, daß in dieser Welt Christus gekreuzigt worden ist. Denn in dieser Welt sind immer die Menschen da, die Christus ans Kreuz schlagen. Und in allen Menschen ist etwas von der Welt, die Christus ans Kreuz schlägt. In jedem frommen Glauben schlummert zugleich ein Versuch, die Welt zu begreifen. Das sind nicht willkürliche Versuche, sondern Erkenntnisse von der Wahrheit und der Wirklichkeit der Welt. Wir wollen etwas sehen von dem Sinn der Welt, und w i r wollen den Sinn der Welt sehen vom Kreuz Jesu aus. Wenn wir vom Kreuz aus versuchen, den Sinn der Welt zu schauen, dann sehen wir zunächst einmal nur den Unsinn der 75

Welt, den Weltenunsinn schreienden Unrechtes und eines tobenden Kampfes der Finsternis gegen das Licht. Diese Erkenntnis macht uns ganz stumm und verbietet uns, so leichthin von dem Sinn der Welt zu reden. Sie macht uns ganz kleinlaut und läßt uns nur das eine sehen: Die Welt, in der wir leben, zu der wir gehören, und von der wir selbst ein Teil sind, ist so, daß Christus in ihr gekreuzigt wird. 2. CHRISTUS, DER SICH KREUZIGEN LÄSST Die Welt, in der wir leben und deren Teil wir sind, ist so, daß Christus in ihr gekreuzigt wird. Und Christus, die Erscheinung Gottes auf Erden, läßt sich in dieser Welt kreuzigen. Christus und das Kreuz gehören so unbedingt und unauflöslich zusammen, daß wir uns eines ohne das andere gar nicht denken und vorstellen können. Es gibt kein Christentum ohne die Predigt von dem Kreuz. Was Paulus geschrieben hat, daß er gar nichts anderes wisse und gar nichts anderes wissen wolle als Christus, der sich kreuzigen läßt, das ist von der weittragendsten und kennzeichnendsten Bedeutung für das Gesamtverständnis des Christentums. Das „Geheimnis des Kreuzes" ist durch alle die Jahrhunderte hindurch der Mittelpunkt ebenso der christlichen Verkündigung wie der christlichen Lehre und der christlichen Kunst gewesen. Aber nun liegt für uns alles daran, daß wir nicht nur in der Welt das Kreuz sehen, an das Christus geschlagen wird, sondern daß wir Christus sehen, der sich in dieser Welt kreuzigen läßt. Luther hat wiederholt gemahnt, wir sollten nicht unsere Sünde, sondern Christus ansehen. Das heißt in unsere Gedanken übersetzt: wir sollen nun einmal gar nicht nur die Welt sehen, in der Christus gekreuzigt wird, und das Kreuz, an das Christus genagelt wird, sondern wir sollen Christus sehen, der sich an dies Kreuz nageln läßt. Christi Leben und Christi Sterben gehören ganz unauflöslich zusammen und man kann das eine nicht ohne das andere denken. So selbstverständlich das klingt, so oft und gründlich wird doch gegen diese Erkenntnis immer wieder gefehlt. Unsere übliche christliche Lehre ist vielleicht gar nicht unschuldig daran, daß so viele Menschen den Tod Christi ganz isoliert als ein Stück ganz für sich sehen —, und dahinter liegt irgendwie in einen Nebel der Unbekanntheit getaucht sein Leben. Es gibt viele Glieder auch unserer christlichen Kirche, die in Verlegenheit geraten würden, wenn sie irgendeine Geschichte aus dem Leben Jesu erzählen, und in noch viel größere Verlegenheit, wenn sie irgendein Wort anführen sollten, das Christus gesagt hat. Nur daß Jesus am Kreuz gestorben ist, wissen sie alle. Aber kann man von dem Kreuzestod Jesu richtig reden, wenn man ihn nicht ganz und gar im Zusammenhang seines Lebens be76

trachtet? Es ist vielleicht auch unser altkirchliches Glaubensbekenntnis nicht unschuldig daran, daß der Tod Jesu so isoliert, ohne Zusammenhang mit der Gesamtheit seiner irdischen Erscheinung betrachtet wird. Jesus hat zu dem Geheimnis seines Todes einen vollgültigen Kommentar geschrieben, sein Leben, und es gibt nur eine berechtigte Auslegung des Kreuzes, nämlich das Leben Jesu. Noch in einer der Reden der Apostelgeschichte wird dies Leben Christi ganz kurz gekennzeichnet in dem einen Satz: „welcher ist umhergezogen" - die äußere Form - , „und hat wohlgetan" — der innere Sinn seines Lebens. Aber dann setzt diese Betrachtung ein, die den Tod ganz für sich allein nimmt und alle möglichen theologischen Konstruktionen an die Stelle der Erklärung setzt, die Jesus selbst mit seinem ganzen Leben gegeben hat. Wir ahnen das Schwergewicht des Wortes, mit dem Jesus gestorben ist: „Es ist vollbracht." Aber wir dürfen doch einmal fragen, ob hier etwa nur, wie manche Menschen sich das vorstellen, das Werk des Todes vollbracht ist, als ob Jesus nur dazu auf die Welt gekommen wäre, um sein Blut am Kreuze zu vergießen. Ist nicht vielmehr hier vollbracht der Sinn seines Lebens, die Ganzheit dessen, wozu er auf Erden war und wozu er sich von Gott gesandt und berufen wußte? Am Anfang der Geschichte von dem Leiden Jesu steht im Johannesevangelium das Wort: „Wie er hatte geliebt die Seinen, so liebte er sie bis ans Ende." Das heißt nichts anderes, als daß dieser Tod der notwendige und getreue Abschluß dieses Lebens gewesen ist. So wie sein Leben war, so starb er. Der gleiche Kampf, der gleiche Gehorsam, die gleiche Liebe. Es ist eine der tiefsten Erkenntnisse der altindischen Weisheit, daß ein unauflöslicher, wenn auch nicht immer zu begreifender Zusammenhang besteht zischen dem Wesen eines Menschen und seinem Schicksal: „Dir widerfährt nur, was du selber bist." Das heißt auf das Leben Jesu angewendet, daß sein Tod nicht ein irgendwie von außen kommendes zufälliges Schicksal ist, sondern zusammengehört mit dem Ganzen und dem wesentlichen Sinn seines Lebens, der sich auswirkt auch in seinem Tod. Krippe und Kreuz, Weihnachten und Karfreitag bilden eine innere Einheit, und alles, was Jesus gesagt und getan und gelitten hat, ist von dieser großen Einheit umschlossen. Denn das gleiche gilt unbedingt auch umgekehrt. Man kann nicht das Leben Jesu betrachten losgelöst von seinem Tod. Man kann keine Verherrlichung des Menschen Jesus treiben und dabei vorübergehen an der Tatsache, daß dieser Jesus am Kreuz gestorben ist und daß er sich hat kreuzigen lassen. Es gibt Formen der Jesusverehrung unter uns, die irgendwie versuchen, an dem Kreuz vorüberzugehen. Man kann Jesus sehen als den großen Idealisten, als den großen gläubigen Menschen, der 77

in der Welt des Geistes daheim gewesen ist und aus dieser Welt des Geistes heraus zu den Menschen geredet hat, in dem großen Glauben an die Wirklichkeit der geistigen Welt, an die Ernsthaftigkeit und Gültigkeit des Ideals. Man kann Jesus in diesem Sinn als Idealisten verehren und dabei ganz und gar vergessen, daß dieser Idealismus ihn ans Kreuz gebracht hat und daß dieser Idealist sich hat kreuzigen lassen. Man rühmt Jesus als den Prediger der höchsten und reinsten Moral. Man kann gewiß gar nicht hoch genug denken von der „moralischen" Höhe dieses Jesus und man möchte nur wünschen, daß viel viel mehr Menschen in ihrem „moralischen" Verhalten auf die Stimme dieses Predigers hörten. Aber darf man verschweigen, daß die eindringlichste Predigt Jesu eben nicht irgendein Gebot gewesen ist, das er gegeben hat, oder eine Regel, die er aufgestellt hat, oder ein Lebensgesetz, das er entdeckt und geoffenbart hat, sondern die Tatsache, daß er sich hat kreuzigen lassen? Für viele Tausende erscheint Jesus als der immer bereite Wohltäter, als der Retter aus allen möglichen Nöten, als der, der ein starkes „soziales" Empfinden in sich gehabt und aus diesem sozialen Gewissen heraus sich auf die Seite der Armen und Unterdrückten gestellt hat. Ich will jetzt nicht davon reden, wieviel Richtiges und wieviel Mißverständnis in dieser Auffassung liegt. Es war Jesus ja gar nicht darum zu tun, nun äußerlich alle Not zu beseitigen. An wie vielen Kranken ist er vorbeigegangen, wie viele Blinde hat er nicht geheilt, wie viele Aussätzige hat er in ihrem Elend gelassen! Eben daß er nicht alles Elend und alle Krankheit abzuschaffen versprach, machte schon seine erste Predigt in Nazareth zu einer Enttäuschung für seine Landsleute. Er war tief überzeugt, daß viel wichtiger als irgendeine einzelne Tat der Hilfe dies eine war, daß er sich hat kreuzigen lassen. Das war das Samenkorn, aus dem das Brot wächst, das wahrhaft nähren und speisen wird. Und noch ein Letztes und Innerstes. Von diesem Jesus aus ist in die Welt als ein unverlierbarer Besitz eingegangen dieses Wagnis, den verborgenen Gott Vater zu nennen, und das Wagnis, an einen Wert jeder Menschenseele zu glauben. Man hat auch gesagt, daß das der eigentliche Inhalt des Evangeliums ist, der Glaube an den VaterGott und an den unendlichen Wert jeder einzelnen Menschenseele. Aber ist es nicht sentimental, diese zwei Gedanken herauszugreifen und zu vergessen, daß die Seele, die das ausgesprochen hat, selbst betrübt gewesen ist bis zum Tode, und daß der, der den Vater verkündigt und zum Vater beten gelehrt hat, sich von diesem seinen Gott verlassen gefühlt hat? Das alles, was man an diesem Jesus sehen und rühmen mag, sind notwendige Stücke einer umfassenden Wahrheit. Aber zu dieser umfassenden Wahrheit gehört notwendig das Kreuz. Man kennt diesen Jesus wahrlich nicht, wenn man ihn den Idealisten, den Moralprediger, den Nothelfer, oder 78

den Propheten, oder gar den Sozialisten nennt, wenn man nicht das in den Mittelpunkt stellt, daß dieser Jesus sich hat kreuzigen lassen. Christus ist so, daß er sich kreuzigen läßt. Was heißt denn das? Ist das nicht ein ganz mißverständlicher Ausdruck, wenn wir sagen, daß Christus sich hat kreuzigen lassen? Das klingt doch so, als ob Jesus das eigentlich selber gewollt, daß er diesen Tod irgendwie selbst gesucht, daß er sich selbst irgendwie zu diesem Tode gedrängt, diesen Tod als ein von ihm zu leistendes Werk angesehen hätte. Ich weiß, wie viele das wirklich so auffassen und so ansehen; aber ich bin überzeugt, daß man sich damit das Verständnis des Christus, der sich kreuzigen läßt, am entscheidenden Punkt vollkommen versperrt und verbaut. Es ist eine ganz mißverständliche und irrige Redeweise, wenn man sagt, daß Christus auf die Erde gekommen sei, um sich für uns kreuzigen zu lassen. Diese Redeweise würde vielleicht passen für einen, der das Leben selbst gar nicht achtet, und weil er es nicht liebt, es von sich schleudert wie eine Last, die er nicht tragen will, oder wie ein wertloses Kleid, das er auszieht. Sie würde passen für einen Menschen, der über das Leben dächte wie die spätgriechische Philosophie, die dieses leibliche Leben angesehen hat als den Kerker der Seele, aus dem sich der Geist befreien muß zu seinem eigenen Leben und seinem eigenen Reich. Von dieser Mißachtung und Verachtung des leiblichen und irdischen Lebens ist bei Jesus keine Spur zu finden, und ebensowenig von der Meinung, die dann später in der Zeit der kirchlichen Gnosis aufkam, daß diese Welt und dieses irdische Leben von einem bösen Gott stamme, daß der Schöpfer der Welt, der Herr dieses Lebens gar nicht derselbe Gott sei wie der, der uns erlöst. Das sind Gedanken, die Jesus gänzlich ferne liegen. Er war nicht ein Verächter des Lebens; er hat das Leben geliebt. Darum, eben darum war für ihn das Kreuz ein wirkliches Kreuz, und sein Tod ein wirkliches Sterben. Das Kreuz, an das alles irdische Leben genagelt ist, ist immer ein hartes Nein wider den natürlichen Lebenswillen, ist immer ein qualvolles Ausstreichen der naturgewachsenen Entwicklung. Wenn ein junger Mensch, der bis dahin sich ungebrochen entwickelt und seines äußeren und inneren Wachstums sich sorglos gefreut hat, zum erstenmal den Bruch in seinem Leben spürt, der ihn zwingt, der Kämpfer zu werden wider sein eigenes Ich, das ist eine schwere und harte Stunde und läßt den jungen Menschen fast verzweifeln daran, ob er überhaupt frei werden und sich entfalten darf, da doch dies harte Kreuz sich wider alles naturgewachsene selbstsichere Leben gestellt hat. Und wenn der Mann, der sicher seinen Weg gegangen ist und seinem Werk gedient hat, und „was er macht, das gerät wohl", wenn ihm das erbarmungslose Schicksal sein Werk zer79

schlägt und wirft ihn selber auf den Boden, muß ihm da nicht der Gedanke zur Versuchung werden, ob es überhaupt einen Sinn hat zu kämpfen und zu schaffen, da ja das harte Kreuz ihm all seinen heißen Willen und sein ehrliches Ringen „durchkreuzt" hat? Etwas von dem mag auch Christus empfunden haben. Auch in ihm war der Drang zu leben und zu wirken. Auch in ihm war das Bangen vor der Nacht, da niemand wirken kann und die doch unentrinnbar kommt. Und es kam die Stunde, wo sein Leben „durchkreuzt" war. Ein Mensch, der auf Erden nur lebte, um zu sterben, wäre kein wahrhaftiger Mensch. Ein Mensch, der dieses Leben böse heißt und nur den Tod begrüßt, ist kein wirklicher Mensch mit seinem Lebenshunger und seinem Willen wider den Tod. Jesus ist nicht fühllos auf seinem Leidensweg. Er weiß, daß er sich taufen lassen muß mit einer Taufe zum Tode und ihn bangt vor dieser Taufe. Und dann wird seine Seele betrübt bis in den Tod, und er bittet seinen Vater, daß er ihm, wenn möglich, diesen Kelch erspare. So ringt er, nicht nur mit dem Tod, aber doch auch mit dem Tod. Es hat Märtyrer gegeben, die auf dem Todesweg erfüllt waren von einem Märtyrerrausch, der sie hinausgehoben hat über allen natürlichen Lebenswillen und der ihnen die körperlichen Qualen fast zur Wonne und den Tod zu einer trunkenen Seligkeit gemacht hat. Von diesem Rausch war in Jesus keine Spur, so wenig, daß er den betäubenden Trank, den eine barmherzige Hand ihm reichen wollte, nicht nahm, weil er mit wacher Klarheit in den Tod hineingehen wollte. Irgendwann in seinem Leben muß ihm das klar geworden sein, daß am Ende seines Weges nur das bittere Ende eines gewaltsamen Todes und eines furchtbaren und schimpflichen Unterganges stehen könnte. Ein Künstler hat das einmal dargestellt, wie über einen nächtlichen Pfad, auf dem Jesus wandert, quer herüber ein dunkler Weg, gleich einem schwarzen Strich zieht, aber geradeaus fällt, vom Mond auf den Boden geworfen, der Schatten seines eigenen Leibes über diesen Weg und bildet nun auf dem Wege das Todeszeichen des Kreuzes. Und Jesus schrickt zurück, wie zum erstenmal dieses Zeichen als Schicksalszeichen seinen Weg überschattet. Dabei hatte Jesus, äußerlich gesprochen, durchaus die Möglichkeit, sich diesem Weg zu entziehen. Er hätte nur zu Hause bleiben, seine Tätigkeit des Predigens aufgeben, er hätte nur Frieden machen müssen mit dem ererbten Gesetz und den traditionellen Führern seines Volks, und er hätte seinen Frieden gehabt, sein Leidensweg wäre ihm erspart geblieben, und er hätte in kleinem Kreise doch manchen Menschen das Heil zeigen und helfen können. Noch zuletzt hätte Jesus diese Möglichkeit durchaus gehabt. Die Häscher, die im Garten Gethsemane nach ihm fahnden, kennen ihn nicht, und er, immer besorgt, andern abzunehmen, 80

was ihnen abzunehmen war, liefert sich selbst aus, damit seine Jünger nicht ohne ihren Willen in sein Schicksal hineingerissen werden. Wer mit ihm gehen will, ist ihm willkommen, aber keiner soll ohne seinen Willen durch ein Mißverständnis oder durch die Feigheit des Meisters auf seinen Todesweg mitgerissen werden. So geht Jesus seinen Weg, obwohl er ihn vermeiden könnte. Aber ist das nicht töricht ausgedrückt? „Kann" der Mensch wider das, was in ihm ein inneres Muß ist, kann ein Mensch einen Weg gehen, den er aus seiner inneren Natur, aus der tiefsten Gebundenheit seines Wesens heraus nicht gehen kann? Hätte Jesus den Kreuzesweg vermeiden können, ohne sich selbst untreu zu werden, ohne zu verleugnen, was er seinen Jüngern gesagt, ohne sich von dem Gott, als dessen Werkzeug und Organ er sich gewußt hat, zu entfernen? Ist denn für den Menschen etwas deswegen möglich, weil keine äußere Gewalt ihn daran hindert? Möglich ist dem Menschen nur das, wozu in seinem Wesen Raum ist. Dazu war in der Natur Christi kein Raum, die Ruhe zu lieben statt des Schmerzes, die friedliche Einsamkeit statt des Kampfes mit Feinden und Freunden, und das Leben statt des Kreuzes. Es bliebe auch an der Oberfläche, wenn wir nur sagen wollten, daß Jesus sich in ein unentrinnbares Schicksal ergeben und hineingefunden hat. Jesus hat vielmehr auf diesem Wege die innere Notwendigkeit seines Schicksals gesehen: es m u ß also gehen. Das, was er selbst den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus gesagt hat: „Mußte nicht Christus solches leiden?", das ist längst vorher in seiner eigenen Seele als ein Muß nicht nur des äußeren Geschickes und nicht nur seiner eigenen inneren Stimme, sondern als ein Muß des inneren Sinns seines Lebens, als ein „Muß" des göttlichen Willens ihm klar geworden. Es gibt innere Gesetze, denen man gehorchen muß, Lebensnotrwendigkeiten, die erfüllt werden müssen. So weiß Jesus, der die Gottesliebe in sich trägt und der die Sünden der Menschen so sieht, wie Gott sie sieht, der so sehr auf das Heil der Menschen brennt und so sehr darauf wartet, daß das Feuer einer gottverwandelten Neuschöpfung über diese Welt dahinbraust, daß eben ein solcher Mensch sterben muß und gar nicht anders kann als sich kreuzigen lassen. Im Evangelium wird uns eine Geschichte erzählt, die sich besonders weit von unseren sinnlichen Erfahrungen entfernt, das ist die Geschichte von der Verklärung auf dem Berge. Es heißt, daß Jesus sich dabei besprochen habe mit Moses und Elias. Was haben diese beiden Feuernaturen seines Volkes ihm wohl gesagt? Sie können ihm nichts anderes gesagt haben, als was ihr ganzes Leben sagt: daß sie Kreuzträger gewesen sind, und daß sie, wenn auch nicht in dieser äußerlichen Weise, doch an ein Kreuz genagelt waren, das ihr Volk ihnen gezimmert hat, und daß sie ihr Kreuz getragen haben und sich haben 81

kreuzigen lassen. Und vielleicht (wir wissen das nicht und können es nur nach einer kurzen Andeutung in der Abendmahlsgeschichte vermuten), hat auch Jeremias bei Jesus eine große entscheidende Rolle gespielt, Jeremias, der wie kein anderer durch die Seile der Liebe an das Kreuz der Sünde seines Volkes sich hat binden lassen. Dieser Erkenntnis, von der die ganze Geschichte seines Volkes redet, bleibt Jesus treu, indem er sich kreuzigen läßt. Die Freiwilligkeit dieses Weges hat allerdings ihre Grenzen und ihr Ende. Denn so, wie man auf einem Kreuzweg mit unentrinnbarer Sicherheit von einer Kreuzwegstation zu der anderen gelangt, so ist in der Tat für Jesus, nachdem er einmal diesen Weg beschritten hatte, eines nach dem andern gefolgt mit einer grausamen und unentrinnbaren Folgerichtigkeit. Der es einmal in Jerusalem wagte, so zu reden, wird nun gefangen genommen und gebunden wie ein Verbrecher, verhöhnt wie ein gemeiner Schurke, gegeißelt wie irgendein Aufrührer und gekreuzigt, wie irgendeiner, den man nur ausstoßen kann aus dem Kreise der Menschen. Nachdem Jesus einmal zu diesem Weg Ja gesagt hat, kann er sich der Fortsetzung dieses Weges nicht entziehen. In meiner Kindheit habe ich einmal aus einer Passionspredigt einen besonders starken Eindruck empfangen: Jesus habe in sich die Kraft gehabt, so hieß es da, in jedem Augenblick sich diesen Leiden zu entziehen. Aber eben das sei die wunderbare Kraft seiner Liebe, daß er am Kreuze wohl gewußt habe: ich kann jetzt in diesem Augenblick vom Kreuze steigen und sagen, daß die Wunden meines Leibes sich schließen sollen, daß er das aber eben nicht getan habe, um das Werk seiner Liebe im Tode zu vollenden. Heute meine ich, daß das eine kindliche Vorstellung von der Kraft und der Gottheit Jesu ist, und daß sie eigentlich das ausstreicht, daß Jesus wahrhaftiger Mensch war. Denn wäre das ein wahrhaftiger Mensch, der so wie irgendein Zauberer im Märchen sich den körperlichen Qualen und ihren Folgen entziehen könnte? Die Freiwilligkeit des Leidens Jesu ist viel innerlicher, viel größer und viel heiliger. Was ist denn schwerer, irgend etwas ganz freiwillig zu tun, das man auch lassen kann, oder in äußerem Zwang innerlich frei zu bleiben und ein Schicksal, das von außen her seine eiserne Hand um uns legt, innerlich zu bejahen und mit „freiem Willen" darin zu stehen? So sagt der Mensch, der freiwillig leidet: „Ja, Vater, ja von Herzensgrund, leg* auf, ich will dir's tragen." Freiwillig zu bleiben in einem unentrinnbaren Schicksal, das ist die eigentliche Gotteskraft des freien Willens. Christus hat sich kreuzigen lassen; er ist nicht nur „gekreuzigt worden", sondern er hat sich kreuzigen lassen, er hat bis zum letzten Augenblick sagen können: „Niemand nimmt mein Leben von mir, sondern ich gebe es frei von mir selber." Darin bleibt er 82

der inneren Notwendigkeit, die Gott in ihn gelegt hat, gehorsam. Das ist doch kein Gehorsam, wenn man sich in sein Schicksal ergibt, weil man nicht anders kann, sondern das ist Gehorsam, wenn man dieses Schicksal innerlich bejaht: Ja, Vater, ja. Das hat Christus getan. Auch in der äußersten Qual der Gottverlassenheit liegt in dem Wort: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" noch ein letzter hingebender Gehorsam. Er bleibt „mein Gott", auch wenn er mich verläßt. In den Bekenntnissen Augustins stehen die erschütternden Worte: „Mein Gott, wenn du mich verdammen willst, so will ich dich unter den Verdammten preisen." Das ist freiwilliger Gehorsam. Das aber ist die einzig mögliche Art, überhaupt als freier Mensch sein Schicksal zu tragen. Es gibt natürlich sehr viel andere Wege, wie man versuchen kann, sein Schicksal zu meistern: Man kann das auferlegte Schicksal abzuschütteln suchen, sich dagegen wehren, sich aufbäumen, trotzen, oder in innerem Schweigen verstummen, resigniert und müde werden. Aber das alles ist ja schließlich kein Tragen, sondern ein müdes und kraftloses Schleppen. Tragen kann nur der das Kreuz seines Lebens, der sich kreuzigen läßt. Das ist das Heldentum des Christus, der sich kreuzigen läßt. Es gibt im Grunde nur die eine Art, den Weltjammer zu ertragen, daß man sich an dies Kreuz schlagen läßt, an diesem Kreuze bleibt und demütig weiß, daß wir Menschen unentrinnbar an dieses Kreuz genagelt sind. Das ist freilich eine harte Rede, aber wir haben wohl auch viel zu weich von Christus geredet. Wir können diese weichen Lieder von dem süßen Jesulein gar nicht mehr ertragen, weil wir wissen, daß dieser Jesus mit hartem und herrischem Willen uns zumutet: Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich und verleugne sich selbst. Kein Mensch verlangt von uns, daß wir uns selber das Kreuz suchen sollen. Die Menschen, die das Kreuz suchen und sich zum Leiden drängen, sind irgendwie im inneren Ungehorsam. Es gibt auch genug solche, die ihre Fehler und Dummheiten gemacht haben, und wenn sie unter den Folgen leiden, mit frommer Duldermiene sagen, sie müßten eben das Kreuz tragen, das ihnen der Herr auferlegt habe. Nein, wir sollen uns nicht selbst unser Kreuz schnitzen, sondern dankbar sein, wenn wir verschont bleiben. Aber wenn das Kreuz da ist, was sollen wir dann tun? Was können wir dann tun? Gibt es überhaupt einen anderen Weg, der uns die Freiheit wahrt und uns zu Siegern macht, als den Weg des Christus, der sich hat kreuzigen lassen? Der Weg des Christus ist schwer. Sich kreuzigen lassen, widerstreitet allem natürlichen Lebenswillen und allem Drang nach Selbsterhaltung. Aber es gibt keinen anderen Weg: amor fati, ja sagen zu seinem Schicksal, auch zu seinem Kreuz als zu dem Willen Gottes, diese Freiwilligkeit allein macht alles 83

Leiden und Opfern überhaupt wertvoll und fruchtbar. Ja, hier empfängt überhaupt das Wort „Opfer" erst seinen rechten Sinn. Das ist kein „Opfer", wenn jemand sein Leben wegwirft, das ihm schal und verhaßt ist. Das ist kein Opfer, wenn jemand sich von der harten Hand des grausamen Schicksals entreißen läßt, was ihm lieb gewesen ist. Es war nicht immer ein Opfer, wenn ein Mann im Kriege gefallen ist, es waren nicht immer wahrhafte „Opfer", wenn Mütter ihre Söhne, und Bräute ihren Liebsten im Felde verloren haben. Opfer, wirkliche Opfer, haben nur die gebracht, die sich an das Kreuz ihres zerstörten Lebens haben schlagen lassen und mit blutendem Herzen und mit schwacher und zitternder Kraft das Opfer ihrer Liebe gebracht haben. Die alte Christenheit hat versucht, den Tod Jesu zu begreifen in dem Rahmen, den Judentum und Heidentum boten, vom Opfer aus. Aber dieses Opfer gilt nur, weil hier Priester und Opfer eines und dasselbe geworden sind: der Priester, der sich selber opfert. Alles Leiden im Trotz bleibt gänzlich unfruchtbar. Das ist das Geheimnis Christi, daß er sich hat kreuzigen lassen. Aber es ist ein noch viel größeres Heldentum in Jesus. Was wird denn aus Christus, der sich kreuzigen läßt? Es ist eine allgemeine Rede, die unter uns sehr verbreitet ist, daß im Grunde die Menschen durch das Unglück schlechter werden, und daß jeder Mensch durch das Unrecht, das ihm widerfährt, selbst hineingezogen wird in die Art derer, die ihm wehe tun. Dieser Herr Christus aber wird nicht hineingezogen, er bleibt sich selber treu, er bleibt der ganz andere, der ganz und gar diesen Menschen gegenüber steht. Man muß sich einmal vorstellen, wie Christus zu seinen Mördern hätte sagen können: Ihr könnt mich hassen, aber ihr werdet mich niemals zwingen, euch zu hassen. Ihr könnt mich verhöhnen, aber ihr werdet mich nicht verleiten, über euch ein böses Wort zu sagen. Ihr könnt alle Bosheiten der Welt an mir auslassen, aber ich werde nie anders sein als ich sein muß. Ihr könnt mich »/»bringen, aber ihr werdet mich nie ¿erumbringen auf eure Seite. Ich bleibe euch gegenüber der ganz andere. Ich werde nie aufhören der Sohn meines Vaters zu sein. So steht der Jesus, der in seinem Leiden wahrhaftiger Mensch ist, ganz und gar auf der anderen Seite den Menschen gegenüber, bei Gott, den kein Mensch beleidigen kann, dem kein Mensch fluchen kann, den kein Mensch größer oder kleiner machen kann, dem kein Mensch etwas von seiner Ehre rauben kann. So ist Christus am Kreuz. Darum steht das Kreuz Christi über all unserem menschlichen Trümmerfeld und über all unserer Schuld als das unantastbare Heiligtum, weil Christus selbst unantastbar, unverwundbar und unüberwindbar ist. Er bleibt auf der Seite Gottes, bleibt gegen allen Ansturm der Menschen und gegen allen Ansturm der dämonischen Gewalten, deren Werkzeug sie sind. Wie groß 84

diese Mächte sind, ahnen wir kaum. Erst auf dem Wege des Kampfes wider das Böse entdeckt man, welch eine Macht das Böse ist. Es wird zu seiner vollen Lebendigkeit herausgefordert, so wie ein Tier, das im Kampf gereizt wird; und je härter ein Mensch mit der Sünde ringt, desto größer erscheint ihm die Macht der Sünde. Wenn einer so gerungen hat wie Jesus, — und welche menschlichen Gedanken könnten diesen Kampf ausdenken und begreifen! — wie furchtbar müssen ihm diese höllischen Gewalten erschienen sein! Können diese Mächte auch ihn in ihre Gewalt bringen, können sie ihn an irgendeinem Punkt loslösen von seinem Gott, können sie ihn an irgendeinem Punkt zu ihresgleichen machen und schließlich den Sieg behalten? Das ist der Sieg des Herrn Christus, daß er unantastbar geblieben ist und daß er „alle feurigen Pfeile des Bösewichts hat auslöschen können". Er bleibt unantastbar vor allem in dem einen, was das Innerste und Letzte ist, in seiner Liebe zu den Menschen. Wie hat dieser Christus die Menschen angesehen? Man redet so viel davon, daß er sie mit den Augen der Liebe angesehen habe, freundlich, gutmütig und vertrauensvoll. Aber das ist ja ein sentimentales Gerede. Wen die Menschen gekreuzigt haben, der denkt nicht mehr optimistisch von der Natur des Menschen; der sieht, was in dem Menschen ist und kennt die menschliche Art. Er leidet viel zu sehr unter ihrer Sünde, als daß er sie irgendwie kleiner nehmen könnte, als sie ist. Was heißt das, daß Christus unter dieser Sünde leidet? Das heißt nicht nur, daß die Sünden der Menschen ihm weh getan haben, daß sie die Nägel sind, mit denen er an das Kreuz genagelt ist, sondern diese Sünde ist ihm der große Weltenjammer und die Weltennot, die er getragen hat, ehe diese Sünde ihm etwas zu Leide getan hat. Er trägt in sich den ungeheuren Zwiespalt zwischen Gott, mit dem er sich eins weiß, und den Menschen, die er sich doch nicht schämt Brüder zu nennen. Diesen Zwiespalt trägt er als eine ungeheure Last. Dieser Zwiespalt ist das eigentliche Kreuz, an das Christus sich hat nageln lassen. Die Sünde, mit der er ringt, ist nicht irgendeine Bosheit, sondern es ist die Gottesferne der Menschen, die sie innerlich des Lebens beraubt. Wie tot müssen Christus die Menschen erschienen sein! Mancher unserer Soldaten hat aus dem Felde erzählt, wie er, vor dem Tode Schutz suchend, stundenlang auf einer Leiche gelegen ist und an diese Leiche gebunden war. Und so ist Christus an die leblosen Körper der Menschheit gekreuzigt, an diese Menschen, die tot sind und meinen, sie leben. Warum kann er sie nicht lassen? Warum kann er den Kreuzesweg nicht meiden? Weil eine unbegreifliche und unzerstörbare Liebe ihn an eben diese Menschen bindet. Die Liebe schmiedet ihn an das Kreuz. 85

Wie kann Jesus diesen Menschen helfen? Er will ihnen doch helfen. Was soll er sagen? Was soll er tun? Was er sagt, das dringt nicht ins Innerste hinein. Was er tut, erregt die Aufmerksamkeit der Menschen und bietet ihnen ein Schauspiel; aber ihr Herz bleibt unbewegt und die Welt bleibt, wie sie ist. Er weiß, es gibt nur eines, womit man wahrhaft helfen kann, — wenn man sich an diese Sünde der Welt kreuzigen läßt, wenn man die Last der Menschheit auf die Seele nimmt und dieses Kreuz trägt. Damit allein kann man helfen. Das ist der innerste Sinn von dem, was Luther in der Auslegung des zweiten Glaubensartikels gesagt hat, daß dieser Christus uns „erworben und gewonnen hat von allen Sünden, vom Tod und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen teuren Blut". Mit dem Herzblut, das er vergießt längst vor seinem Tod, indem er sich an das Kreuz der Menschheit nageln läßt und sich von dem Speer der Menschensünde sein Herz durchbohren läßt. Das ist der furchtbare Zwiespalt, in dem jeder Christ immer steht, und den er umso stärker fühlt, je näher er Christus ist. Ein Christ ist immer gebunden an Gott und gekreuzigt an die Welt. Er vergießt sein Herzblut darum, daß er diesen Zwiespalt fühlt. So können wir nicht los von dieser Welt der Sünde und können und dürfen nicht los von dem Gott, der uns diese Welt zum Kreuz macht. Jawohl, man kann sich von dieser Welt lösen, innerlich kalt werden, man kann urteilen und verurteilen, man bleibt d o c h an dieses Kreuz genagelt und gleicht dann doch nur dem verbitterten Schacher, der neben Jesus gekreuzigt wird. Da hilft wiederum nur das eine, daß wir uns kreuzigen lassen, daß wir uns an dieses Kreuz geben und die Schuld, die nicht nur unsere eigene Schuld ist, sondern die Schuld der ganzen Menschheit, mit auf unser Herz und Gewissen nehmen. Von diesem Kreuz dürfen wir nicht loskommen. Das ist das allerärgste, wenn wir „nicht mehr Sünder sein wollen", wenn wir heilig sein und uns nicht mehr kreuzigen lassen wollen an die Sünde der Menschheit, mit der wir nun einmal zusammengehören. Jede Mutter, die sich ihres verirrten Kindes erbarmt, ist an dessen Not gekreuzigt. Und jeder Freund, der einem verirrten Freund helfen will, ist an dessen innere Not gekreuzigt. Helfen können immer nur die Menschen, die sich kreuzigen lassen an die Not ihrer Brüder, an ihre Sünde und an ihre Schuld. Nur wer mit freiem Willen an diesem Kreuz von Sünde und Schuld hängt, nur der schämt sich nicht mehr, den Sünder Bruder zu heißen. Dieses Kreuz macht einen Strich durch die landläufige Meinung, daß alles in der Welt nur von der Selbstsucht regiert wird. Dieser Christus rechnet nicht, sondern gibt sich an das Kreuz und vertraut Gott, der aus der blutigen Saat eine Ernte herauswachsen läßt. Hätte Jesus das vorher „gewußt" oder klug berechnet, was sein Tod für die Welt bedeuten 86

würde, so wäre er kein wahres Opfer gewesen. Wer sich kreuzigen läßt, der hat sich selbst „hin-gegeben", und weiß nun nicht, was für ihn oder andere daraus an Heil und Kraft entspringen wird. Darum ist das Kreuz, an das Christus sich kreuzigen ließ, ein harter Strich durch alles Glücksstreben und durch die Meinung, daß im Grunde alles von der Nützlichkeit und von der Lebensgier bestimmt und geordnet wird. In dieser Welt der Selbstsucht darf nicht vergessen werden, daß Christus sich kreuzigen läßt. Die innere Geschichte der Menschheit ist in diesem Kreuz Christi zusammengefaßt an einem Punkt. In tausend Dingen sind wir Menschen grundverschieden, aber darin sind wir alle eins: wir leben in der Welt, in der Christus gekreuzigt ist. Wir sind alle an dieses gemeinsame Weltleiden und diese gemeinsame Weltschuld geschmiedet. Was sollen wir tun? Vergessen? Klagen? Uns aufbäumen? Es gibt keine andere Antwort als die Tat Christi. Wider dies Schicksal gibt es keine andere innere Freiheit als den Gottesgehorsam, der sich ans Kreuz gibt; und wider die Schuld gibt es nichts anderes als die Welt der Liebe, mit der ein Mensch sich kreuzigen läßt. Das begreift freilich nur der, der diesen Weg zu gehen versucht. Das Kreuz wird nur auf dem Wege der Nachfolge verstanden. Das ist der Sinn des Lebens. Denn Christus, der sich kreuzigen läßt, das ist nicht eine alte heilige Geschichte, sondern es ist die Offenbarung von dem Sinn unseres Lebens und von der Bestimmung des Menschen. Gott hat uns keine andere Waffe in die Hand gegeben als die Nachfolge Christi. Wir alle gehören von Natur zu der Welt, in der Christus gekreuzigt worden ist. Es ist unsere Bestimmung, zu Christus zu gehören, der sich in dieser Welt kreuzigen läßt. Zu Luthers Zeit zogen Tausende von Gläubigen nach Wittenberg oder nach Magdeburg, um dort die wundertätigen Reliquien zu sehen und zu verehren. Da hat Luther einmal einem Ordensbruder geschrieben von den Splittern vom Kreuz Christi, die da und dort als Reliqien gezeigt werden: „Das Kreuz Christi ist über die ganze Welt verteilt, jeder bekommt sein Stücklein. Wirf du das deinige nicht weg, sondern hebe es auf, wie eine heilige Reliquie, nicht in güldenem oder silbernem Schrein, sondern in einem güldenen, das ist sanften gütigen und liebreichen Herzen." Das ist unsere Reliquie, unser Anteil an dem großen Weltkreuz, unser Anteil an dem großen Weltleiden und an der großen Weltschuld, unser Anteil an der großen Weltliebe des Herrn Christus. Unser Heiligtum, wie das Heiligtum der Welt, ist der Christus, der sich kreuzigen läßt.

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3. G O T T , D E R C H R I S T U S ANS K R E U Z G I B T „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut." So erzählt die alte Schöpfungsgeschichte. Aber die Welt ist so, daß Christus in ihr gekreuzigt wird, und in ihr muß der Christus da sein, der sich kreuzigen läßt. Und was sagt Gott dazu? Gott schweigt. Gott schweigt zu der Welt, die Christus kreuzigt, und Gott schweigt auch zu dem Christus, der sich kreuzigen läßt. Sollen wir da nicht auch schweigen? Es gibt in der Tat eine ganz leichtfertige Art, sich nun Gottes Gedanken über das Kreuz Christi auszumalen. Es gibt Menschen, nicht nur Theologen, die ein Bedürfnis und ein Recht dazu verspüren, nun Gottes Gedanken klar zu legen, warum das so gewesen ist und warum Gott das nicht anders hat machen können, als hätten sie in Gottes Ratsstube gesessen und wüßten, nach welchen Gedanken Gott seine Welt regiert. Die Theologie des Kreuzes ist in der Tat sehr oft der Versuchung erlegen, aus dem Grundgeheimnis der Welt eine rational verständliche Lehre zu machen und das Unerhörteste, das es auf der Welt gibt, in eine zweckmäßige Veranstaltung umzudeuten. Da ist es in der Tat besser zu schweigen. Und wenn Menschen es überhaupt für richtiger hielten, nun über das, was Gott wohl zu dem Kreuz Christi sagt, zu schweigen, so würde ich nicht mit ihnen rechten. Und dennoch, wir können das nicht. Wenn wir einmal angefangen haben, das Kreuz als den Mittelpunkt der Welt und als den Angelpunkt der unsichtbaren, geheimen und eigentlichen Welt- und Menschheitsgeschichte anzusehen, dann können wir nicht anders als glauben, daß von diesem Kreuz aus sich auch ein neuer Blick auf Gott auftut. So treten wir noch einmal, wie wir das zuerst getan haben, dicht unter das Kreuz des sterbenden Christus hin mit dem Verlangen, daß wir hindurchschauen dürfen auf das ewige Geheimnis, das dahinter wohnt, das wir nie erreichen und nie ganz begreifen, aber von dem wir doch etwas ahnen und erringen und das wir von ferne ergreifen möchten. Der Blick auf das Kreuz soll uns davor bewahren, daß wir uns falsche Gedanken über Gott machen. Wir müssen und wollen uns unerbittlich frei machen von solchen Gedanken über Gott, und wenn sie uns noch so fromm erschienen, die nicht bestehen können in dieser Welt, in der Christus gekreuzigt wird, und die nicht bestehen können vor diesem Christus, der sich kreuzigen läßt. Wir müssen bereit sein, einen Gott preiszugeben, den das Kreuz Christi als einen Götzen erweist. Wir schauen noch einmal in die brechenden Augen des sterbenden Christus, um in seinem Angesicht 88

die Züge des wirklichen Gottes zu erkennen. Wir möchten unter dem Kreuz Christi stehend einen Blick tun in das Herz Gottes selber. Aber Gott schweigt. Wenn irgendwo, so wird es hier offenbar, daß Gott immer der verborgene Gott ist. „ E r wohnt in einem Licht, da niemand zukommen kann", oder vielleicht ist es ein Dunkel, in das kein Mensch eindringen kann. Niemand hat Gott je gesehen, niemand hat je Gottes geheimste Gedanken gelesen; denn Gott ist der schweigende Gott. Es ist ganz und gar begreiflich, daß nicht nur Christus am Kreuz, sondern immer wieder von Zeit zu Zeit Menschen, die ohne Gott nicht leben können, mit einem qualvollen Aufschrei ihren Gott gefragt haben: Gott schweige doch nicht also! Warum antwortest du mir nicht? Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das ist in der Tat der Gott, der Christus am Kreuz sterben läßt, und der es zuläßt, daß der Tod seinen dunklen Mantel um Gottes liebstes Kind schlägt. Und Gott zerreißt nun nicht diesen Mantel, um sein Kind aus den Schrecken des Todes und an sein Herz zu ziehen, sondern Gott schweigt. Man hat oft versucht, dieses Schweigen Gottes zu begreifen. Die ganze „Theologie des Kreuzes" wiederholt durch Jahrhunderte hindurch den Versuch, das Schweigen Gottes über das Kreuz Christi zu erklären. Es ist ein Gedanke, der seit dem Buch des Anselm von Canterbury immer wiederkehrt: Gottes Gerechtigkeit fordert eine Strafe, und die Sünde der Menschheit ist so groß, daß nur eine unendliche und übermenschliche Strafe der beleidigten Gerechtigkeit Gottes Genüge tun kann. Seine Gerechtigkeit verlangt, daß die ungeheure Strafe für die ungeheure Weltschuld vollzogen und getragen wird bis zum letzten. Darum muß der Sohn Gottes am Kreuz sterben, und Gott muß dazu schweigen. Das ist nun freilich ein Gedanke, der an Gotteslästerung grenzt. Der Gott, den diese Lehre meint, ist ein wütender Tyrann, der Blut sehen muß, ehe er sich erbarmen kann. Was wäre das für ein Gott, dem erst irgendwelche Bedingungen erfüllt sein müßten, ehe er gnädig sein darf. Und was ist das für eine grauenhafte Anmaßung von Menschen, die meinen zu wissen, was für Gott möglich oder unmöglich ist, und was für Gott erst geschehen sein muß, ehe er vergeben kann! Eines freilich ist wahr: Das ist die Gerechtigkeit Gottes, (die nicht irgendeine theologische Konstruktion erfunden hat, sondern die wir Tag für Tag in unserem Leben am Werk sehen), daß er der Sünde die Macht gibt, sich auszuwirken in der Welt. Das ist die Gerechtigkeit Gottes, daß er allem menschlichen Tun seine Folgen gibt, und aus der Saat der Sünde die Ernte der Sünde reifen läßt. Das ist die Gerechtigkeit Gottes, daß er den Strom rinnen läßt und die Felsen stürzen läßt und aus menschlichem Wahn und menschlicher Schuld alles Elend und allen Jammer herauswachsen läßt. Darum läßt 89

Gott Krieg werden und darum läßt er Notzeiten über ein Volk kommen, weil sich hier die Schuld ganzer Geschlechter mit grausamer Gerechtigkeit auswirkt. Die Sünde soll bis an ihr bitteres Ende ihre Wirkung tun, darum muß sie auch den Sohn Gottes ans Kreuz schlagen. Das ist die Gerechtigkeit Gottes, daß die Sünde ihre Wirkung tut. Eine „stellvertretende Strafe" gibt es nicht; das ist ein ganz unsittlicher Gedanke. Aber freilich gibt Gott die Menschen dahin in die Folgen der Sünde hinein, und er läßt die Menschheit, seine Kinder in ihrer Gesamtheit, leiden unter ihrer Schuld. Und zwar sind es immer die Gotteskinder, die er hingibt. Gerade an denen, die Gott am nächsten stehen, wirkt sich immer die Sünde, der äußerste Gegensatz, die Gottferne, in der Welt am tiefsten und furchtbarsten aus. Und Gott mutet seinen Kindern das zu, daß sie sich an das Kreuz der menschlichen Sünde schlagen lassen. Luther hat in seiner Auslegung des Römer-Briefes vom Jahre 1516 das Wort geschrieben: „Was aus Gott ist, muß in der Welt gekreuzigt werden, und solange es nicht zum Kreuz geführt wird, darf man nicht annehmen, daß es aus Gott ist." Das ist geradezu ein Lebensgesetz des Gottesreiches, daß, je näher ein Mensch Gott ist, er desto tiefer leidet unter der Sünde, unter seiner Sünde und unter der Weltsünde. Daher kommt es, daß gerade die größten Gottesmänner am meisten zu sagen gewußt haben von dem verborgenen Gott, der ihnen weh tut und ihnen schweigt. Ich will hier nur zwei Worte anführen, die denen, die das überhaupt fassen können, etwas von der abgründigen Tiefe dieses inneren Schicksals sagen. Das eine steht im Buche des Propheten Jeremia: „Sei nur du mir nicht schrecklich, der du meine Zuversicht bist." Und Kierkegaard hat einmal geschrieben: „Von Gott geliebt werden heißt leiden." Das ist der wirkliche Gott, der sich im Kreuz offenbart, der gerade seine Kinder ans Kreuz gibt, der gerade die, die ihm am liebsten sind, der tiefsten Leiden würdigt. Darum muß vor dem Kreuz die behagliche und gemütliche Art, von Gott zu reden aufhören, als wäre er ein lieber und vertrauter Nachbar, dem man in seine Stuben gucken kann und den man begreift, wie man sich selber begreift. Darum muß vor dem Kreuz auch aufhören die Allerweltsrede von dem „lieben Gott", der so lieb ist, daß man gar nicht mehr sich vor ihm zu fürchten braucht und ein solches Wort schon gar nicht mehr begreift: es sei schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen. Luther erzählt von Simonides, daß er auf die Frage, was Gott sei, sich drei Tage Bedenkzeit ausgebeten und dann um einige Wochen Verlängerung gebeten und zuletzt gesagt habe: Je länger er darüber nachdenke, desto weniger begreife er Gott. So geht es jedem, der unter dem Kreuz nach Gott fragt. 90

Dennoch ist das nicht das einzige. Wenn wir in das Angesicht des sterbenden Jesus sehen, dann ahnen wir doch etwas von der Weisheit, die in diesem Kreu2 und in dem Schweigen Gottes ist. Freilich, wenn wir uns anmaßen, Spuren der Gedanken Gottes hier aufzufinden und auszusprechen, so bleiben alle unsere Worte ein Stammeln. Wir geraten alsbald in die furchtbare Gefahr jedes Dogmas, zu meinen, daß wir mit unseren Worten und Gedanken nun die Sache selber hätten und besäßen. Wir haben gar nichts von dieser Weisheit Gottes, wenn wir Worte dafür haben. Wir haben gar nichts von der göttlichen Weisheit des Kreuzes, wenn wir eine tiefsinnige Lehre darüber haben. Und wir entfernen uns ganz und gar von dem Kreuz, wenn wir nun gar aus dieser göttlichen Weisheit Riemen schneiden und daraus Stricke drehen, mit denen Seelen gefangen werden sollen. So viele unter uns bewegt die Frage, was ein Christenmensch glauben muß über das Kreuz Christi. Man mnß gar nichts glauben, und wer meint, daß er irgend etwas glauben rrmß, der weiß überhaupt nicht, was glauben heißt. Sondern so ist es vielmehr, daß wir bis ins innerste Herz hinein erschüttert sind und frohlocken zugleich, wenn uns etwas von dieser göttlichen Weisheit aufgegangen ist, und wir warten mit Geduld, bis sich uns weitere Tiefen öffnen und weitere Klarheiten entschleiern. Die Herrlichkeit Gottes enthüllt sich den Menschen auf dem Wege des Gehorsams. In der Christuskirche in Steinbühl ist ein geschnitztes Altarbild, das die Krönung Christi darstellt, den gekrönten Jesus umgeben von Engeln, die die Marterwerkzeuge vom Karfreitag, Hammer und Nägel, Kreuz und Dornenkrone tragen. Damm, weil dieser Christus gehorsam war bis zum Tode, darum hat ihn Gott erhöht, und den allein kann Gott überhaupt erhöhen, der gehorsam gewesen ist und den Weg des Leidens gegangen ist. Es gibt viel Kronen auf der Welt, aber keine Krone kann bestehen vor der verborgenen Würde der Dornenkrone. Jeder, der wahrhaft gekrönt ist unter uns Menschen, ist mit einer Dornenkrone gekrönt. Jeder wahrhaft königliche Mensch, jeder wahrhaft priesterliche Mensch, jede wahrhaft mütterliche Mutter ist mit einer Dornenkrone gekrönt. In manches menschliche Angesicht hat das Leiden seine Spur eingegraben. Aber das sind die edelsten, die heiligsten und ehrwürdigsten Angesichter auf Erden, in die — nicht nur das Leid — sondern das freiwillige Leiden, der im Leiden bewährte Gehorsam, seine Spuren eingegraben hat. Darum schlägt Gott seinen Kindern Wunden, weil in diesen Wunden, wenn sie sie als Gottes Kinder empfangen, ein Quell aufbricht, aus dem Gottes Herrlichkeit strömt. Jedes Kreuz auf Erden ist die Pforte zu einer höheren Stufe des Lebens. Es gibt keinen anderen Aufstieg zu höheren Stufen des Lebens, als den Weg des Kreu91

zes. Via crucis via lucis: der Weg des Kreuzes ist der Weg zum Licht. Das heißt nicht nur, daß der Weg des Kreuzes zum Licht führt, sondern daß es überhaupt keinen sicheren Weg zum Licht gibt als den Weg des Christus, der sich kreuzigen läßt. Der Kreuzestod Jesu ist nicht nur die Stunde, da ihn sein Vater verklärt, sondern es ist zugleich die Stunde der Befreiung für seine Jünger. Was anders sollte ihnen denn den Dienst tun, daß sie von allem falschen Wahn und Hoffnung befreit werden, wenn nicht das harte Kreuz ihnen diese Hoffnungen zertrümmerte? Jetzt erst ist ihnen das Auge geöffnet für das, was von Gott her gesehen Leben ist. Die Maßstäbe sind verändert, eine neue Welt tut sich ihnen auf. Wer unter dem Kreuz gestanden ist, mißt die Welt an einem anderen Maßstab; ihm gilt nur noch, was groß ist vor dem Kreuz. Tausend Dinge, die wir vor das Kreuz bringen, schrumpfen zusammen zu einem lächerlichen Nichts. Andere Dinge scheinen gar nichts zu sein und nichts zu bedeuten, aber wenn man sie unter das Kreuz stellt, dann fangen sie an zu leuchten von dem Widerschein einer großen und heimlichen Herrlichkeit. Was das Kreuz Christi für die Betrachtung der ganzen Welt bedeutet, das muß uns persönlich das Kreuz, das in unserem eigenen Leben aufgerichtet ist, leisten. Es ist ein Stück von Gottes Geheimnis, daß er immer das Kreuz in unserem Leben aufrichten muß, um unsere falschen Hoffnungen zu zerbrechen und unseren Irrglauben zu beseitigen, damit wir frei werden für den Blick auf das, was vor Gott gilt und von Gott her lebendig ist. Erst die göttliche Torheit des Kreuzes befreit zu wirklicher Weisheit. Darum gründet sich unsere Hoffnung für die Zukunft eben darauf, daß in unserer Zeit das Kreuz aufgerichtet ist. Viele Menschen sind erschüttert bis ins Mark ihrer Seele: was ist das für eine Welt, in der wir leben, und was ist das für ein Gott, der über uns regiert und waltet? Den Dienst, daß unser Geschlecht neuen Geschmack für die heimliche Weisheit Gottes bekommt, tut uns nur das Kreuz. Das Kreuz Christi hat den Jüngern noch einen anderen Dienst getan. Solange Jesus äußerlich neben ihnen lebte, waren sie gebunden an die äußere Autorität des Meisters, der in leibhaftiger Gestalt neben ihnen lebte. Nun sagt er ihnen: Es ist euch gut, daß ich hingehe, sonst kann mein Anwalt nicht bei euch sein, der in euch ist. Ihr könnt mich nicht selbst in euch tragen, solange ihr auf das seht, was außerhalb ist. Ihr müßt erst unter dem Kreuze stehen, um ganz frei zu werden. Wie bitter weh kann das Kreuz der Trennung und der Einsamkeit tun! Wer aber gehorsam ist und sich kreuzigen läßt, weil der Vater es will, den reift das Leid dieser Einsamkeit zu höherer Kraft und zu wahrer Freiheit. 92

Die alte Christenheit hat zwei Denkformen gehabt, in denen sie das Kreuz Christi zu begreifen gesucht hat. Das eine war der Gedanke des Opfers. Das Opfer war der damaligen Zeit ebenso vertraut, wie es uns eine ferne und fremde Sache ist; aber wir wissen genug, um die Gedanken des Neuen Testaments zu verstehen. Auf ungezählten Altären sind Opfer dargebracht worden, aber nichts ist dadurch anders geworden in der Welt; nie hat ein solches Opfer eine lebendige Kraft gehabt. Es ist heute nicht anders: Ungeheuerste Anstrengungen und Verluste bleiben ohne Wirkung. Alle die ungezählten Opfer — wir nennen es „Opfer" —, die der Krieg von unserem Volk verlangt hat, wie viel davon mag gelten vor Gott? Leiden, das mit Murren ertragen wird, Opfer, die keine Opfer sind, sondern nur ein unwilliges Sichbeugen unter den Zwang des Schicksals, sind immer unfruchtbar. Aber eine ungeheure Kraft geht aus von dem Opfer, in dem ein Priester sich selbst darbringt. Opfer und Priester müssen eines sein: das ist der unvergängliche Grundgedanke des Hebräerbriefs. Christus ist Priester und Opfer zugleich. Darum ist Priestertum und Opferwesen in Christus aufgehoben, weil beides in ihm erfüllt ist. Darin liegt die Kraft des Blutes Christi. Im Blut ist eine unheimliche Macht, und die ungeheuerste Macht ist in dem Blut, dem „Herzblut", das ein Mensch gibt aus der Fülle seines Herzens heraus. Darum wird in diesem Kreuz das Heil und das Leben errungen. Jede Sache wägt in der Welt genau so viel, als Opfer, wirkliche und wahre Opfer, dafür gebracht werden. Eine Sache ist so viel wert, als Herzblut dafür gegeben wird. Die alte griechische Sage erzählt von dem Ungetüm der lernäischen Schlange, der, wenn man ihr einen Kopf abschlug, zwei neue Köpfe alsbald gewachsen sind. Das gilt umgekehrt von allem Guten in der Welt: wo der Geist des Opfers, der Geist des Kreuzes, lebt, da mag Haß und Feindschaft und Grimm dagegen anrennen, das alles kann nur neue Kräfte entbinden. Darum ist das Blut der Märtyrer der Same des Christentums gewesen. Und darum ist auf der anderen Seite unser Christentum, unser Kirchentum, so lahm, weil so wenig an Opfer dafür gebracht wird. Nicht von prunkvollen Kirchenbauten und glänzenden Zahlen, nicht von schöner Musik oder von geistreichen Reden lebt eine „Kirche", die sich nach Christus nennt, sondern von dem Kreuz, das in ihrer Mitte aufgerichtet ist, und von der gehorsamen Treue, mit der dieses Kreuz getragen wird. Wenn wir unseren Schulkindern erzählen, wie die Christen in der römischen Kaiserzeit verfolgt worden sind, dann hören sie wohl mit großem Staunen, daß jetzt vor kaum zwei Jahren unter unseren deutschen Volks- und Glaubensgenossen in Riga und den übrigen baltischen Provinzen christliche Gemeinden und ihre Führer verfolgt worden sind, und wie dort Märtyrerblut geflossen ist. Und wieder 93

hat sich das ewige Gottesgesetz bewährt, daß aus dem Kreuz neues Leben entsprießt: die zu Tode getroffene evangelische Gemeinde des Baltischen Landes ist wie ein Stamm, der erstorben schien und doch sich neu begrünt, und die gemeinsame Erinnerung an die durchlebten Schreckenswochen ist ein unvergleichlich festes Band der Gemeinschaft und eine unversiegliche Quelle innerer Belebung und Erneuerung. Ein bulgarischer Volksaberglauben behauptet, daß kein Bau seinen Bewohnern Glück bringe, in dem nicht etwas Lebendiges eingemauert ist. Christus ist das lebendige Opfer, das in die Menschheit hineingemauert ist; und es ist ein Stück von dem geheimen Walten Gottes, daß die Welt von diesem Opfer lebt. Der andere Gedanke, mit dem das alte Christentum das Kreuz Christi zu begreifen sucht, ist der Gedanke der Stellvertretung. Man tut wahrlich Gott geringe Ehre, wenn man das in dem Bild einer Gerichtsverhandlung als eine juristische Stellvertretung ansieht. Aber doch offenbart sich in dieser kindlichen und äußerlichen Auffassungsweise ein ganz tiefer Sinn. Wir leben in der Tat alle von stellvertretenden Leiden. Es steht einer an der Stelle des andern und es vertritt einer immer wieder die Stelle des andern. „Darum, daß seine Seele gearbeitet hat, soll Christus die Starken zum Raube haben." Darum, daß seine Seele gearbeitet hat! Was ist das? Arbeit der Seele? Die eigentliche Arbeit der Seele ist das Ringen mit dem Kreuz. Dann „arbeitet" eine Seele, wenn sie sich kreuzigen läßt. Manche Menschen der schaffenden Arbeit halten den für einen Müßiggänger, dessen Seele diese Gottesarbeit tut, und ahnen nicht, wie sehr diese Arbeit notwendig und fruchtbar ist. Aus diesem Arbeiten der Seele entspringen die Gotteskräfte in der Welt. Die „heiligen fünf Wunden rot" sind das Sinnbild eines tiefen Lebensgesetzes, daß aus stellvertretendem Ringen der Seele und Leiden die schaffenden Kräfte in der Welt entspringen. Wo in der Welt sind solche Kräfte des Kampfes, des Liebens und des Siegens entbunden worden, als an dem Kreuz Christi? Darum, daß seine Seele gearbeitet hat, wird die Liebe dahin getragen, wo noch keine Liebe ist, und die Freiheit dahin, wo nichts als Furcht gewesen ist, und die Reinheit dahin, wo die Sünde die Menschen in Banden geschlagen hat. Das ist ein Grundgedanke des Apostels Paulus gewesen, daß wir hineingezogen sind in die Schicksalsgemeinschaft Christi, und daß darum, weil seine Seele gearbeitet hat, nun auch unsere Seele arbeiten kann, daß darum, daß er den Tod gestorben ist, nun auch in uns etwas gestorben ist, so daß Platz und Raum ist für neues Leben. „In Christi Wunden schlaf ich ein." Müßte es nicht viel mehr heißen: „In Christi Wunden wach' ich auf', bin ich aufgeweckt worden zum Leben, zum Kampf, zur Liebe, zur Freiheit der Gotteskindschaft, darum, 94

daß seine Seele gearbeitet hat, ist meine Seele erwacht zur Arbeit und zum Leben? Darum haben die Alten das große Kreuz hier in der Kirche als einen lebendigen Baum dargestellt, aus dem die Rosen entsprießen, weil aus diesem Arbeiten der Seele, die sich kreuzigen läßt, immer Blüten und Früchte hervorsprießen. Das ist der Weg Gottes und bleibt der Weg Gottes, obwohl es menschliche Sünde ist, die Christus ans Kreuz geschlagen hat. Denn so regiert eben Gott seine Welt, daß er die menschliche Sünde als Werkzeug in seine Rechnung, in seine Arbeit einstellt. Gott benützt einen Kaiphas, einen Judas, jede Verkehrtheit und jeden Verbrecher in der Welt und treibt doch mit ihnen sein Werk. Wir sind alle Mitarbeiter Gottes, auch dann, wenn wir gegen Gott arbeiten. Freilich das Opfer ist immer das Werkzeug Gottes. Gott regiert und fördert die Welt durch die Menschen, die sich selbst zum Opfer geben. Kein Mensch darf sich vermessen, daß er das tun wollte, was Gottes Tat ist. Es darf kein Mensch sich vermessen, so klug zu sein, daß er einen Menschen opfert, damit Großes daraus entspringt. Das ist die Sünde des Kaiphas gewesen, daß er an Gottes Stelle die Welt regieren wollte. Wie oft ist das die Sünde der Menschen, wie oft auch die Sünde der Kirche gewesen! Nur Gott kann aus dem Opfer Frucht hervorgehen lassen. Nur Gott kann das Kreuz zu einem lebendigen Baum machen, aus dem Blüte und Frucht hervorsprießen. Darum ist es auch Wahn und Vermessenheit, wenn ein Mensch selbst ein Opfer bringt, um dadurch etwas zu erreichen. Wer könnte sich vermessen, so klug zu rechnen? Die Frucht des Opfers ist nicht der Ertrag menschlicher Klugheit, und das Kreuz ist keine schlaue Berechnung. Ich kann nicht sterben wollen, damit ich auferstehe. Wir Menschen können nur sterben. Gleichwie Christus ist auferweckt von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, also kann das neue Leben nur durch Gottes Kraft aus unserem inneren Sterben entsprießen. Wie Jesus nicht in den Tod gegangen ist aus kluger Berechnung, sondern weil es der Wille seines Vaters war, so können auch wir immer nur das Kreuz tragen, das uns auferlegt ist, und dürfen vertrauen, daß Gott auch unser Opfer ansehen und segnen will, so daß daraus Heil erwächst für uns und andere. Aber wir sollen nicht Kreuz und Opfer zu einer Sache der Klugheit und der Berechnung entwürdigen. Wir sollen uns nicht einbilden, auf dem Weg des Kreuzes könnten wir etwa das machen, das uns sonst nicht gelingt. Denn das Kreuz ist der Weg Gottes, und wenn ein Opfer gesegnet ist, dann war es ganz und gar das Werk Gottes und nicht unsere Tat. Aber noch in einem viel tieferen Sinn ist das Kreuz der Weg Gottes und die Erlösung durch das Kreuz das Werk Gottes. Gott war in Christo, sagt Paulus. Darum war auch der Tod Jesu nicht eine sittliche Leistung 95

des Herrn Jesus, etwas, was er getan hätte, sondern er war das Werk Gottes. Gott war in Christo. Ich wollte, wir könnten alle einmal einen Augenblick ganz stille sein und darüber nachdenken, was das heißt, daß in Christus wirklich und wahrhaft Gott war. Damit ist nicht irgendeine Lehre von den zwei Naturen Christi gemeint. Das, wovon Paulus in diesem Wort redet, liegt jenseits aller Theologie und aller Christologie. Aber daß da eben nicht irgendein Abglanz oder Spiegelbild Gottes, nicht irgendein untergeordnetes göttliches Wesen erschienen ist, sondern daß in Christus wahrhaft Gott selbst, Gottes Geist, Gottes Wille und Gottes Kraft, Gottes Ernst und Gottes Liebe da ist auf der Welt, das ist der Grund, warum wir diesen Jesus den Christus nennen und an Christus glauben. Gott war in Christus; denn Gott ist nicht jenseits über den Wolken, „über den Sternen", Gott ist nicht ein Zuschauer der Geschichte, die sich auf Erden abspielt. Was wäre das für ein „Gott", der sich irgendeine Veranstaltung ausgedacht hätte, die sich nun, ferne von ihm, auf Erden abspielte! So wie er kein Zuschauer war, als die Welt und die Erde wurden, so wenig war er ein Zuschauer, als Jesus Christus am Kreuze starb, sondern Gott war „in" Christo. Dieser Christus ist nicht der Knecht Gottes, der das ihm aufgetragene Werk tut, sondern der Sohn Gottes, in dem der Vater wirkt, wirkt und leidet. Das ist die tiefste Erkenntnis, zu der auch die außerchristliche Religion vorgedrungen ist, daß Gott selbst in der Menschheit und mit der Menschheit leidet. In dem Hof einer wundervollen Kunstsammlung in Kopenhagen steht ein gewaltiges Kunstwerk von dem größten nordischen Bildhauer Stefan Sinding, „Mutter Erde": eine große weibliche Gestalt sitzend und an ihre Kniee schmiegen sich zwei Kinder, aber der Blick der Mutter ist starr in weite Fernen gerichtet, als ob sie kaum wüßte, daß die Kinder sich angstvoll zu ihr geflüchtet haben. So ist die Mutter Erde, Mutter und doch nicht Mutter, die, wenn wir uns an sie schmiegen, doch unbewegt über uns hinwegsieht und nichts weiß von der Angst, die das Kind an die Brust der Mutter treibt. Aber Gott ist bei uns da, Gott ist in Christo und leidet mit. So wenig wie Christus sich von dem Kreuz reißt, so wenig ist Gott ferne von dem Leiden seines Sohnes; denn Gott leidet in ihm. Theologen mögen sich darum bemühen, in der Christenheit die richtige Unterscheidung zwischen Gott, dem Vater, und dem Herrn Christus klar und bekannt zu machen. Niemals wird die schlichte und volkstümliche Redeweise aufhören, das Kruzifix den „Herrgott am Kreuz" zu nennen. Und das ist auch im tiefsten Grunde richtig, daß am Kreuz Gott selbst leidet. Das Haupt voll Blut und Wunden, das Herz voll Weh, das ist die irdische Erscheinung von dem Herzen Gottes. In diesem Herzen ist das Leiden an der Menschheit, das Leiden mit der Menschheit, das Leiden für die 96

Menschheit. - Ist das möglich, daß man mit jemand leidet, durch den man leidet? Ist das nicht ein Widerspruch? Wo ist das auf Erden da? Das ist nur vereinigt in dem Leiden der ganz großen Liebe. Die ganz große Liebe vermag für den Menschen zu leiden, unter dem sie leiden muß. Darum ist dieses Leiden Gottes an der Menschheit und mit der Menschheit das Leiden der ganz großen Weltliebe. „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab." — „Und der seines eingebornen Sohnes nicht verschont hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?" Seit wir davon etwas ahnen, daß in Christus Gott erschienen ist, der an der Menschheit leidet und mit der Menschheit leidet, seither erst hat dieser Triumphgesang seinen Sinn: „Was kann uns scheiden von der Liebe Gottes?" Hier erschließt sich uns erst zuletzt der letzte „kosmische", weltumspannende Sinn des Kreuzes. Es ist kein Zufall, daß die Figur des Kreuzes überall in dem Aufbau der ganzen Welt wiederkehrt, (wenn auch zweifellos das Kreuz anders ausgesehen hat, an das Christus gekreuzigt wurde). Da sind zwei Linien, die sich hart schneiden und die nun eine Form ergeben, die etwas Hartes und Unschönes an sich hat. Diese zwei Linien, die sich immer und immer wieder schneiden, das sind Gott und die Welt, das Heilige und die Sünde, das Leben und der Tod. Wo die beiden einander begegnen, da bilden sie immer wieder das Kreuz. Eines geht durch das andere und wider das andere; sie durchschneiden und „kreuzen" sich, und an diesem Kreu2 hängt die Menschheit. Aber an dieses Kreuz gibt sich auch Gott; und an diesem Kreuz leidet auch Gott. Gott ist unser Bruder geworden, nicht an Weihnachten, sondern an Karfreitag. Gott, der nicht nur an uns leidet, sondern mit uns leidet, ist unser Bruder geworden. Weil wir an dem Kreuz des Herrn Jesus sehen dürfen, daß Gott nicht nur unter uns leidet, sondern mit uns leidet und für uns, sind wir der Liebe Gottes gewiß. Darum ist in dem Kreuz Christi dieses Kreuz aufgehoben und dieser Zwiespalt überwunden. „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber." Da sind zwei Mächte in der Welt, die stehen widereinander. Ich will sie einmal mit der Bildersprache der Offenbarung nennen: die Schale des Zorns und die Schale der Liebe. Welche von den beiden Schalen wiegt schwerer, die Schale, in der aller Jammer und alle Schuld der Welt ist, oder die Schale, in der die Liebe Gottes ist? Und es sinkt die Waagschale der Liebe, weil in ihr alles Weltleid miteingeschlossen ist. Denn Gott hat ja in Christo mit der Menschheit gelitten. — Es ist eine ebenso demütigende als befreiende Erfahrung, daß wir dann und wann geliebt werden um eines andern willen, geliebt werden um einer Sache willen, die wir selbst gar nicht haben und gar nicht besitzen, nur darum, weil wir Teil 97

haben an dem, das größer und heiliger ist als wir selbst, weil wir hineingehören in einen Kreis, der liebenswert und liebenswürdig ist. So werden wir, wie die Sprache unserer Kirche sagt, um Christi willen geliebt; das heißt, stärker als aller Unwert und Qual und Not und Schmach unter uns ist diese Weltkraft der Liebe, die Weltkraft des Leidens und der Liebe Gottes. Und so viel wir daran glauben, das heißt diese Wirklichkeit schauen und ernst nehmen, so viel sind wir wert bei Gott. Von der Tiefe des Leidens und der Kraft der Liebe Gottes, die in dem Kreuz Christi erschienen ist: davon leben wir. Das sind die letzten Dinge, an die wir uns hier mit unseren Worten herantasten; und kein Mensch kann es ertragen, Tag für Tag diesen letzten Dingen ins Auge zu sehen. Sie sind auch für uns das Allerheiligste; und wir erlauben uns selbst nur in Stunden, die uns Gott schenkt, den Vorhang zu heben und in dies Allerheiligste zu schauen. Denn was sehen wir in diesem Allerheiligsten? Da ist der große Jammer der Welt und die große Schuld der Menschheit, die Christus kreuzigt. Da ist der große Ernst und die ernste Liebe des Christus, der sich an das Kreuz dieser Welt kreuzigen läßt. Da ist die Majestät des schweigenden Gottes, der nur damit redet, daß er Christus ans Kreuz gibt. Aber wir müssen in dieses Allerheiligste schauen, denn irgendwann hängen wir alle selbst an diesem Kreuz. Und dann, wenn wir an dem Kreuz des Leidens hängen, wenn wir an dem Kreuz unserer Sünde hängen, und wenn wir an das Kreuz des Sterbens genagelt werden, dann versinkt, so wie die Sonne am Karfreitag ihren Schein verloren hat, für uns die Erde mit allem, was uns darinnen lieb ist. Es versinkt auch unser eigener Wert und unsere eigene Kraft. Was bleibt dann eigentlich, wenn wir selbst an diesem Kreuz hängen? Alte Meister haben gerne die heilige Dreifaltigkeit in einem tiefsinnigen Bild dargestellt. Neben dem Geist, der gleich einem Vogel herunterschwebt auf die Erde, Gott Vater, der mit einem gramdurchfurchten Antlitz herniederschaut auf die dunkle Erde voll Blut und Tränen und Schuld; und in seinen ausgebreiteten Armen hält er das Kreuz, an dem sein Sohn, und in seinem Sohne er selber, leidet und liebt. Gott, der verborgene Gott, dessen Gedanken wir nicht begreifen und dessen Wege wir nicht nachschreiten, Gott, der am Karfreitag schweigt, der zeigt der armen Welt das Kreuz, in dem sein Leiden und seine Liebe offenbar wird. „Das kann mein Geist mit Schrecken und Entzücken am Kreuze erblicken." Dazu ein anderes Bild: Wie wir am vorigen Sonntag mit unseren Konfirmanden am Abend noch einmal in der Kirche waren, hat sich allmählich die Dämmerung herabgesenkt über den weiten Raum. Aber nach dem trüben Tag fiel der letzte Strahl der Sonne durch die Rose über dem Por98

tal herein. Alles in der Kirche war im Dämmer, und nur eines war noch hell von der letzten glutroten Sonne beschienen: das Kreuz über dem Triumphbogen mit den Blüten, die daraus sprießen - der Herrgott am Kreuz. DAS KREUZESZEICHEN (Vortrag 1974) Die „LIGA EUROPA" und die ihr verwandten Kreise, die der Zukunft im Sinn eines christlich geeinten Europa dienen wollen, haben als ihr Symbol das Kreuzeszeichen inmitten eines Kranzes von Sternen. Was ich in dieser Stunde über das Kreuzeszeichen sagen möchte, entspringt nicht dem Wunsch, dieses Zeichen der Liga zu deuten, sondern es stammt aus einer viel allgemeineren und grundsätzlicheren Besinnung auf den Sinn dieses Kreuzeszeichens. Aber mit dieser Besinnung können wir zugleich uns und andern Rechenschaft darüber geben, warum wir uns im Hinblick auf die Zukunft Europas bewußt unter dieses Zeichen stellen. Das Kreuzeszeichen scheint allgemein verständlich und eindeutig zu sein, nämlich als das Zeichen Christi und des Glaubens an Christus. Die ursprüngliche Verkündigung des christlichen Glaubens war nach dem Selbstzeugnis des Apostels Paulus das „Wort vom Kreuz", und wenn Christus gepredigt wurde, wurde er gepredigt als der Gekreuzigte. Wer das Kreuz in irgendeiner Form an sich trägt, scheint sich damit zu dem Glauben an Christus und sein Kreuz zu bekennen. Eine so zurückhaltende Aussage ist freilich deshalb notwendig, weil dieses Kreuz auch ganz gedankenlos, jedenfalls ohne bewußte Beziehung auf den Glauben an Christus, getragen oder als Gebärde vollzogen werden kann. Aber es ist doch eindeutig so, daß eben daran, ob auf der Spitze eines Kirchturmes oder über der Kuppel das Kreuz oder der Halbmond zu sehen ist, der Unterschied der christlichen Kirche zu der muslimischen Moschee sich anzeigt. Umgekehrt war und ist der Versuch, das Kreuzeszeichen aus öffentlichen Räumen zu entfernen, eindeutig als Demonstration gegen den christlichen Glauben, mindestens gegen den Anspruch, daß dieser Glaube eine verpflichtende Bedeutung für das öffentliche Leben habe, zu verstehen. Das gilt heute ebenso, wie es zu Zeiten des Nationalsozialismus gegolten hat. Aber dieses Kreuzeszeichen ist doch nicht ganz so eindeutig, wie es zunächst scheint. Wir gebrauchen das Kreuzeszeichen auch als Zeichen des Todes. Wo dieses Zeichen hinter einem Namen steht, ist damit angedeu99

tet, daß der Träger dieses Namens nicht mehr am Leben ist; zugleich aber ist dieses Kreuzeszeichen das Zeichen des Glaubens und der Hoffnung über den Tod hinaus. In meiner Jugend führte mich mein Schulweg täglich an einem katholischen Friedhof vorbei, und durch die offenen Tore hindurch konnte ich unterscheiden, ob auf den einzelnen Gräbern eine abgebrochene Säule oder eine zu Boden gesenkte und damit erloschene Fackel dargestellt war, als Symbol der hoffnungslosen Trauer, oder ein Kreuz als das Zeichen einer auch durch den Tod nicht zerstörbaren Hoffnung. Diese Ambivalenz, d. h. die Zweideutigkeit ist in der Doppelsinnigkeit des Kreuzes Christi selbst begründet, des Kreuzes, das ebensosehr das Zeichen des äußersten Leidens und des qualvollen Sterbens ist, wie zugleich das Zeichen der Erlösung, die nach dem christlichen Glauben durch diesen Kreuzestod Christi geschehen ist. Aber dieser selbstverständlichen Beziehung des Kreuzeszeichens auf den Tod Christi stehen zwei Tatbestände entgegen, die uns über jene unmittelbare Beziehung hinaus nach dem Sinne dieses Zeichens fragen lassen. Das eine ist die Tatsache, daß uns das Kreuzeszeichen von den ältesten Zeiten des Christentums an in sehr verschiedenen Formen überliefert ist und daß die meisten dieser Formen offenbar nicht den Versuch machen, das Kreuz, an dem Christus gestorben ist, abzubilden und darzustellen. Wir haben eine ungefähre Vorstellung, wie jene Kreuze ausgesehen haben, an denen die Römer Sklaven und politische Verbrecher zu Tode brachten. Sowohl das griechische wie das lateinische Wort für Kreuz bezeichnet zunächst einfach einen senkrechten Pfahl, an den die zu Tode Verurteilten gebunden wurden. Nicht immer war ein Querbalken hinzugefügt, an dem der Verurteilte mit seinen Armen gebunden und auch wohl genagelt wurde. Also T oder J~. Aber die meisten Formen des Kreuzeszeichens, sowohl das spezifisch lateinische Kreuz ~J~ , dessen Querbalken kürzer sind als die Längsbalken, wie das griechische oder byzantinische Kreuz mit zwei Querbalken oder das Baumkreuz weichen von jener historisch begründeten Form des Hinrichtungskreuzes deutlich ab, und erst recht gilt das von allen jenen Zierformen, bei denen die Kreuzesbalken in Blüten auslaufen oder mit Medaillons mit eigenen Darstellungen geziert sind . Dazu kommt, daß es neben dem Kreuz andere Zeichen Christi gibt, vor allem das Buchstabensymbol A und O, als dem ersten und dem letzten Buchstaben des griechischen Alphabets, gemäß jenem Wort in der Offenbarung Johannis, wo Christus sagt, er sei das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte. Oder die Darstellung Christi als Fisch. Dabei muß die Frage ungeklärt bleiben, ob dieses Christuszeichen darin begründet ist, daß das griechische Wort für Fisch ichthys, die An100

fangsbuchstaben des Namens Jesu Christi als Gottes Sohn, Heiland, enthalten (Jesus Christos theou hyios soter), oder ob dieses Fischsymbol ursprünglich einen astrologischen Sinn hatte und den im Zeitalter der Fische erschienenen Gott bedeutete. Die andere Tatsache, die der einfachen Beziehung des Kreuzeszeichens auf den Kreuzestod Christi entgegensteht, ist die, daß dieses Kreuzeszeichen eindeutig älter ist als die christliche Kirche und der Glaube an Christus. Die griechischen Väter der alten Kirche haben den Versuch gemacht, schon im Alten Testament Hinweise auf das Kreuzeszeichen zu entdecken. Sie konnten sich darauf berufen, daß der letzte Buchstabe des hebräischen Alphabets die Form eines Kreuzes annehmen konnte und wohl auch einfach als ein stehendes oder liegendes Kreuz -}- oder yi. geschrieben wurde. Aber diese Versuche, das Kreuzeszeichen im Alten Testament zu entdecken, waren doch kaum mehr als eine geistreiche Spielerei. Viel ernsthafter und im gewissen Sinn aufregender ist die Tatsache, daß das Kreuzeszeichen, und zwar das Kreuz mit den vier gleichen Armen, die sogenannte crux quadrata, eindeutig aus vorchristlicher Zeit stammt. Diese crux quadrata hat mit dem Hinrichtungskreuz überhaupt keine Ähnlichkeit, und eben dieses Zeichen ist als ein Heilszeichen oder als ein das Unheil abwendendes Zeichen, ein „apotropäisches" Zeichen aus weit zurückliegenden Jahrhunderten überliefert. Wir finden es auf kretischen Altären aus dem 3. vorchristlichen Jahrtausend, und das gleiche Zeichen ist uns mindestens aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend auf unzähligen Siegeln und Amuletten als Heils- oder Schutzzeichen überliefert. Franz Dölger hat im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen über die Geschichte des Kreuzeszeichens die Fotografie einer Stele des assyrischen Königs Samsi Adat, der 824-810 v. Christus regiert hat, veröffentlicht. Dieser assyrische König trägt dieses Kreuzeszeichen in der Form der crux quadrata an einer Schnur um den Hals. Als wir 1931 unsere evangelische Michaelsbruderschaft begründeten und als Zeichen der Zugehörigkeit zu dieser Bruderschaft eben dieses gleichschenkelige Kreuzeszeichen wählten, ahnte niemand von uns, welche große und ehrwürdige Vorgeschichte dieses Zeichen hatte. Die gelehrten Untersuchungen von Franz Dölger haben aus der Nachbarschaft anderer, offenbar astrologischer Zeichen eindeutig erwiesen, daß dieses Zeichen ein uraltes Sonnensymbol gewesen ist. Damit hängt zweifellos das „Scheibenkreuz" zusammen, wie es in der Kirche „Maria zur Höhe" in Soest erhalten ist, wo das Kreuz auf einer kreisrunden Scheibe befestigt ist. Der Soester Archivar Dr. Deus hat dieses Scheibenkreuz, wie es sich vor allem auf der Insel Gotland häufig findet, eingehend untersucht; und es ist wohl nicht daran zu zweifeln, daß 101

diese Scheibe die Sonne darstellen soll, also das Kreuz im Zusammenhang mit der Sonne sieht. Eine merkwürdige Parallele dazu findet sich in der romanischen Kirche von Schöngrabern bei Wien aus dem Anfang des 13. nachchristlichen Jahrhunderts, wo jene crux quadrata auf einer kreisförmigen Scheibe mit deutlichen Strahlen in den vier Zwickeln dargestellt wird:

E s ist zunächst sehr erstaunlich, daß dieses vorchristliche Sonnensymbol mit so großer Selbstverständlichkeit christlich rezipiert und als christliches Zeichen angenommen worden ist. Dölger hat in seinen Untersuchungen über den Sol salutis (Sonne des Heils) dieser erstaunlichen Tatsache besondere Aufmerksamkeit zugewendet, und er neigte zunächst zu der Meinung, die Christen hätten bei diesem Zeichen, eben um des Kreuzes willen, nur an Christus, aber keineswegs an die Sonne gedacht. Aber er selbst hat in späteren Teilen seiner Untersuchungen diese Vermutung eindeutig widerlegt. E s ist nicht zu bezweifeln, daß Christus in jenen Jahrhunderten wirklich im Bild der Sonne gesehen und verehrt worden ist. Dölger selbst erwähnt eine merkwürdige Legende, die im 3. oder 4. nachchristlichen Jahrhundert in Persien erzählt worden ist. Danach hätten jene Magier, von denen das Matthäus-Evangelium im 2. Kapitel erzählt (und die die Legende unausrottbar in die Heiligen drei Könige verwandelt hat), auf ihren Reisen einen Maler bei sich gehabt. Dieser Maler habe in Bethlehem von dem neugeborenen Kinde und seiner Mutter ein Bild angefertigt und dieses Bild sei dann in Persien im Tempel der Gottheit aufgestellt worden mit der Inschrift: „In dem großen Heiligtum errichtet das persische Reich dieses Bild als Weihegabe dem Jesus Helios, dem großen Gott und König Jesus." Wenn auch diese Legende wohl ohne jede historische Begründung ist, so entspricht doch diese überraschende Verbindung Jesu mit dem Sonnengott Helios der allgemeinen Regel, die sich von frühen Zeiten des Christentums an durchgesetzt hat, sich bei dem liturgischen Gebet nach dem Osten, als dem Ort der aufgehenden Sonne zu wenden. E s kann sein, daß damit zunächst rein geographisch die Richtung nach Jerusalem als dem Ort der Kreuzigung gemeint war, so wie schon von Daniel erzählt wird, daß er auf seinem „Söller" ein offenes Fenster in Richtung auf Jerusalem gehabt habe. Aber die Ablösung des Christentums von seinem räumlichen Ursprung, drückt sich doch auch aus in der Lösung von dieser geographi102

sehen Beziehung und in deren Ersetzung durch die Richtung nach dem Osten schlechthin. Das zeigt sich etwa darin, daß neben die Anrede „Kyrie" auch die Anrede treten konnte „o Helte", sogar in der Form „o oriens". Dabei ist die Wendung nach der aufgehenden Sonne zugleich das unmißverständliche Bekenntnis zu Christus als dem Kommenden, dem die christliche Gemeinde entgegengeht. Die Richtung nach dem Osten hat also, in der heutigen theologischen Sprache ausgedrückt, einen eindeutig eschatologischen Sinn. Christus wird als der Aufgang des ewigen Tages verehrt. Im Grunde ist diese erstaunliche Verbindung nicht verwunderlicher als die ebenso erstaunliche Tatsache, daß die christliche Kirche mit großer Selbstverständlichkeit den Tag der Auferstehung mit dem vorchristlichen Namen eines „dies soiis", die des Sonnentages bezeichnet. Ein Hymnus für den Sonntagmorgen, der uns in der mozarabischen Liturgie (der Liturgie der spanischen Westgoten) erhalten ist, drückt diesen Zusammenhang mit deutlichen Worten aus: „Erschienen ist der Tag der Sonne, der Tag des wahren Lichts, der Tag, da Christus das Leben, erstand von den Toten." Unzählige unserer Kirchenlieder haben Christus als die wahre Sonne verherrlicht, und sie stehen damit im entschiedenen Gegensatz zu einer Theologie, die zwischen Natur und Gnade, zwischen Schöpfung und Erlösung einen tiefen und unüberbrückbaren Graben aufreißt. Aber sie stimmt überein mit den Aussagen des Neuen Testaments, die Christus als die eigentliche Intention der Schöpfung verherrlichen, und den Bekenntnissen, die von ihm rühmen, daß alle Dinge durch ihn und auf ihn hin geschaffen sind. Dazu stimmt auch die bis heute bejahte (wenn auch nicht allgemein anerkannte) Sitte, daß die Kirchen nach Osten hin gebaut, „orientiert", sein sollen, wobei dann der Kirchenraum selbst einem Schiff gleicht, das sich nach Osten, dem kommenden Christus entgegen, bewegt. Ja, dieser Glaube drückt sich in einer kindlichen Weise auch darin aus, daß auf den alten Friedhöfen die Toten so bestattet wurden, daß ihr Kopf im Westen des Grabes, die Füße aber im Osten zu liegen kamen, damit sie am Tage der Auferstehung sofort dem von Osten kommenden Christus entgegengehen könnten. Wie fern alle diese Gedanken der unter uns herrschenden Theologie liegen, wurde mir erschreckend deutlich, als mir in einem der ersten Jahre als akademischer Lehrer (1926 oder 1927) einer meiner Studenten, unter dem Einfluß der damals allein anerkannten dialektischen Theologie, sagte: „Ein Mensch, der ein persönliches Verhältnis zur Sonne hat, kann unmöglich Christ sein." Die Rezeption des alten Sonnenzeichens durch die christliche Kirche ist die eindeutige Widerlegung dieser naturfremden Theologie. 103

Aber es ist notwendig, daß wir uns an dieser Stelle noch einmal auf die einfachste Form des Kreuzes selbst besinnen. Denn es gehört zu den Merkmalen des echten Symbols, daß es nicht nur wie etwa ein Verkehrszeichen etwas „bedeutet", das man eben als diese Bedeutung kennen muß, sondern daß es in seiner Form selbst etwas von dem ausdrückt, was damit bezeichnet wird. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nun wesentlich, daß in der einfachsten Form des Kreuzeszeichens, eben der crux quadrata, zwei verschiedene und entgegengesetzte Richtungen einander begegnen, daß sie sich in dieser Form „kreuzen". Wenn dieses Kreuz nicht im Raum aufgerichtet ist, sondern auf einer Fläche liegt, so wird diese kreuzförmige Begegnung einer Senkrechten mit einer Waagrechten zum „Koordinaten-Kreuz", das in der mathematischen Zeichensprache die Fläche gliedert und ordnet, ein Oben und ein Unten, ein Rechts und ein Links unterscheiden läßt. Diese Kreuzform wird als die Windrose zu dem Ordnungsprinzip der „Welt", das Osten und Westen, Norden und Süden scheidet und also das elementare Mittel der Raumordnung darstellt. Damit ist der Widerspruch, der Gegensatz als ein Grundelement der Welt-Struktur anerkannt. Dieses Ordnungsprinzip kann dann auch auf den Körper des Menschen selbst angewendet werden, der ein Oben und Unten, ein Rechts und ein Links in sich trägt. So wird das Kreuz zugleich als Baugerüst des Menschen selbst verstanden. Es kann aber nicht ausbleiben, daß dann die beiden entgegengesetzten Richtungen, die sich „kreuzen", auch gedeutet werden auf das Männliche und das Weibliche, oder auf die Begegnung des Irdisch-Menschlichen, das in der Waagerechten ausgedrückt wird, mit dem von oben her einbrechenden Göttlichen, das in der Senkrechten dargestellt wird. So ist das Kreuz in der Symbolsprache der ägyptischen Mythologie verstanden worden, indem die Waagrechte auf Isis, die Senkrechte auf Osiris, und der an ihrem Berührungspunkt angeführte Kreis auf das Kind Horus gedeutet wurde . Auf koptischen Grabsteinen der ersten Jahrhunderte, die ich im Britischen Museum in London selbst gesehen habe, ist dies sogenannte Henkelkreuz als Zeichen der Auferstehung verwendet, also christlich gedeutet worden. Es ist wohl notwendig, auch das Ordnungsgefüge der Kirche selbst in dieser Kreuzesgestalt abgebildet zu finden und also die „Hierarchie", das heißt die Ordnung im Raum des Heiligen, kreuzförmig zu verstehen. Entgegen der verbreiteten Neigung, die Hierarchie nur als Herrschaftsstruktur, als ein System von Autorität und Gehorsam zu sehen, sollten wir vielmehr die Hierarchie im Sinn des Kreuzeszeichens, als ein unauf-

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lösliches Miteinander von Überordnung und Nebeneinander-Ordnung, also von Herrschaft und Bruderschaft verstehen. Mit solchen Gedanken scheinen wir uns freilich weit von dem Kreuzeszeichen als dem eigentlichen Christuszeichen zu entfernen. Doch schließt sich gerade hier der Kreis der Betrachtung. Wir erinnern uns daran, daß unter den Formen des Kreuzeszeichens auch das Baum-Kreuz (vielleicht in Erinnerung an den mythischen Paradiesbaum) zu finden ist. In der germanischen Mythologie wird das Weltganze in dem Bilde eines Baumes angeschaut, und in diesem Bild von dem Baum, in dessen Krone die guten Götter hausen, und an dessen Wurzeln die feindseligen Mächte des Verderbens nagen, bis schließlich dieser Weltenbaum zu Fall kommt, scheint eine Urerkenntnis ausgesprochen zu sein, daß dieses Weltganze gefährdet und zugleich der Ort eines nie endenden Leidens ist. Vor vielen Jahren habe ich in Bremen eine erschütternde Plastik gesehen: Odin, der Oberste der lichten Götter, an diesen Weltenbaum Yggdrasil ausgestreckt und gefesselt. In einer solchen Idee, die aus dem germanischen Mythenkreis stammt, ist eine unheimliche Ahnung angedeutet: Die Welt ist nicht nur ein durch die schöne Ordnung des Koordinatenkreuzes zusammengehaltener Kosmos, sondern sie ist zugleich ein Marterholz, an das wir, Götter und Menschen, zu unsäglichem Leiden geschmiedet sind Wenn unsere Väter in ihren Liedern und Gebeten die Erde als ein Jammertal und als ein Tal der Tränen bezeichnet haben, so ist das nicht ein weltschmerzlicher Pessimismus, über den wir uns vielleicht entrüsten oder wenigstens lächeln dürfen, sondern es entspricht einem Urwissen um den Leidenscharakter des Weltganzen, und wir fragen ernstlich, ob solche mythischen Vorstellungen nicht tiefer in die Wirklichkeit der Welt hineingesehen haben, als alle optimistischen Meinungen der Aufklärung von der Schönheit und Herrlichkeit der Welt. Das Kreuz Christi ist nicht das Zeichen eines heroischen oder eines tragischen Todes, sondern das Zeichen äußerster menschlicher Qual, der physischen Schmerzen und eines schimpflichen Todes, in dem der Sterbende von Menschen verworfen und von Gott verlassen ist. Die christliche Theologie hat von ihren Anfängen an darüber gerätselt, was der Schrei der Gottverlassenheit, mit dem Jesus nach den ältesten Berichten gestorben ist, für das Verständnis Gottes selbst und der Welt bedeutet. Die ungebrochene Herrschaft der griechischen Philosophie, in der die alte Kirche befangen war, und der wir bis heute verhaftet sind, hat die Kirche gehindert, ernstlich zu sagen, daß Gott selbst in Christus und mit Christus gelitten hat. Denn zu den Göttern der griechischen Welt gehört wesenhaft die apatheia. Aber diese Unfähigkeit zu leiden ist die Kehrseite der Unfähigkeit zu lieben. Wir vergessen nicht, daß nach Plato die Göt105

ter nicht lieben können, weil sie in ihrer Vollkommenheit nichts entbehren und sich darum auch nach nichts liebend ausstrecken können. Das ist der Grund, warum in der Bibel das spezifische griechische Wort für Liebe —, „Eros", auf Gott nie angewendet wird. Ganz anders der Gott des Alten Testaments. Er ist nicht das unbewegte höchste Wesen, das nicht leiden, aber auch nicht lieben kann, sondern Er ist die alles bewegende Kraft, er ist der, der selbst unter seinen Geschöpfen und mit ihnen leidet. Er liebt die Menschen, Er leidet unter ihnen und will sich über sie freuen. Wenn man diesen abgründigen Unterschied des griechischen und des biblischen Denkens ernstlich bedenkt, dann versteht man erst., warum die christliche Frömmigkeit das Kreuz und den verzweifelten Schrei des Sterbenden zugleich als eine wesentliche Aussage über Gott selbst verstanden hat. Wenn auch die Theologie nicht immer alle Konsequenzen daraus gezogen hat, so hat doch das fromme Volk immer von dem Bild des Gekreuzigten als dem „Herrgott am Kreuz" geredet. Als Johann Rist während des dreißigjährigen Krieges die Strophe des Friedrich von Spee „O Traurigkeit, o Herzeleid" in einigen Strophen weiterdichtete, hat er gewagt zu sagen: „O große Not, Gott selbst liegt tot." Als dieses Lied in das Evangelische Kirchengesangbuch (Nr. 73) aufgenommen wurde, hat man es aus theologischen Gründen für nötig gehalten, diesen Text zu ändern: „O große Not! Gott's Sohn liegt tot." Aber es ist sehr bezeichnend, daß Jürgen Moltmann nicht nur Luthers kühne Formulierung von dem „gekreuzigten Gott" als den Titel seines neuen Buches übernommen, sondern sich dabei auch ausdrücklich auf jene ursprüngliche Fassung des Passionsliedes von Johann Rist bezogen hat. Damit entfernen wir uns am entschiedensten von dem Gottesbegriff und dem religiösen Denken der Aufklärung, das in unserem Kirchenvolk noch so ungebrochen herrscht. Denn der Gott, der selbst liebt und leidet, ist etwas radikal. Anders als jenes höchste Wesen, das unwandelbar und unbewegt über dieser Welt thront, und dem gegenüber wir bestenfalls das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit empfinden können. Aber es ist der wirkliche Gott, der sich liebend mit uns verbinden will und uns hineinziehen will in das leidende Lieben, in das liebende Leiden, in dem allein das unermeßliche Leiden dieser Welt ertragen werden kann. Hier erst stoßen wir auf die letzte Sinntiefe des Kreuzeszeichens, auf die Erkenntnis nämlich, daß das grauenvolle Leiden nicht das Verhängnis ist, dem wir sinnlos und wehrlos preisgegeben sind, sondern daß es eine Haltung gibt, die sich eben diesem Grauen der Welt bewußt und liebend hingibt. Christus hat nicht nur dieses Leiden und die Schuld der Welt auf sich genommen, sondern es heißt von ihm ausdrücklich, daß er die Sei106

nen und die Welt „bis ans Ende" geliebt hat. Darum ist das Kreuzeszeichen nicht nur das Zeichen des Todes, sondern zugleich das Zeichen der Liebe, in der allein dieses Grauen in Segen verwandelt werden kann. Nur darum kann das Zeichen des Kreuzes zum großen Zeichen der rettenden und erlösenden Liebe werden. Aus dem kultischen signare cruce ist das deutsche Wort „Segen" abgeleitet, weil es eben Gott selber ist, der sich an die Leidensgestalt dieser Welt hingibt; und nur darum kann Christus angeschaut werden in dem Bild des Opfertieres, dem die ganze Not und Schuld der Welt aufgeladen wird, damit es sie „hinwegtrage", dahin, wo sie nicht mehr gefunden wird. Es gibt ein Weihnachtslied des schlesischen Pfarrers und Dichters Kurt Ihlenfeld, das mit den Zeilen schließt: Die Zeichen deiner Herkunft, deiner Sendung, sind Kreuz und Krippe, und der Grund von beiden, wir wissen es, die herrliche Verschwendung des Herzens an die Welt und ihre Leiden. „Herrliche Verschwendung." Kann Verschwendung herrlich sein? Verschwendung im Dienst des eigenen Lebensgenusses ist niedrig und verächtlich. Aber kann es nicht auch eine Verschwendung ganz anderer Art geben? Conrad Ferdinand Meyer hat in einem Gedicht über die Salbung in Bethanien Judas, denselben, der den Herrn hernach verraten hat, bloßgestellt als den, der die große Gebärde der liebenden Frau als Verschwendung tadelte. Judas war damit der biblische Ahnherr aller derer geworden, die heute jeden aufwendigen Schmuck des Gotteshauses als Verschwendung geißeln, weil man mit dem gleichen Geld etwas „sozial" Nützlicheres hätte leisten können. Und Conrad Ferdinand Meyer läßt den Herrn zu Judas sagen - mit diesem Wort schließt sein Gedicht - : „Judas, wer liebt, verschwendet allezeit." Dieses ist die herrliche Verschwendung des liebenden Herzens. Erst damit ist der innerste und letzte Sinn des Kreuzeszeichens enthüllt. Das Koordinatenkreuz ist die Ordnungsgestalt der Welt, und das Kreuz im Kreis ist das Bild der Sonne, deren Licht und Wärme verschwenderisch ausgestreut sind über Böse und Gute. Das Kreuz ist und bleibt das harte Zeichen für die Leidensgestalt dieser Welt, und darum der unüberhörbare Protest gegen jeden optimistischen Wahn. Aber vor allem anderen und über alles andere hinaus ist das Kreuz das Zeichen der Liebe, das Zeichen der herrlichen Verschwendung des Herzens an die Welt und ihre Leiden:

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1. JOH. 4, 13-16 Eine biblische Besinnung auf der lutherischen Bischofskonferenz Dieser Bibelarbeit muß ich eine persönliche Bemerkung vorausschicken: Da ich in einem Ort ohne Bibliothek lebe, bin ich nicht in der Lage, meine Bibelarbeit so gelehrt zu unterbauen, wie es die anderen Herren getan haben, und ich kann das nicht einmal für einen Mangel halten. Erwarten Sie also nicht eine gelehrte Auseinandersetzung mit einer reichen Literatur; auch wenn ich dazu in der Lage wäre, könnte ich darin nicht meine Aufgabe sehen. In der Sache muß ich eine dreifache Vorbemerkung machen, ehe ich mich den mir vorgeschriebenen Versen zuwende. Es ist ziemlich genau 25 Jahre her, daß ich in Stuttgart eine Bibelarbeit von dem damaligen Prälaten und späteren Bischof Haug hörte. Es hat mir damals einen starken Eindruck gemacht, daß Haug sagte, es gebe bei den biblischen Schriftstellern zwei sehr verschiedene Arten des Denkens und des Stils: neben dem uns vertrauten Stil, den wir „Gedankengang" nennen, einen Stil des umkreisenden Denkens, und dieses sei vor allem der Stil der johanneischen Schriften. Diese haben keinen eigentlichen Gedankengang, und man wird also diesen Schriften nicht gerecht, wenn man darin einen Gedankengang sucht. Ihre Gedankenbewegung ist eher einer Spirale als einem auf ein Ziel gerichteten „Gang" vergleichbar. Dieser umkreisende oder meditative Stil scheut nicht Wiederholungen, auch nicht Unterbrechungen und Zwischenbemerkungen. Dieses umkreisende, meditative Denken widerstreitet den Gewohnheiten und Bedürfnissen unseres wissenschaftlichen Denkens und umgekehrt. Darum habe ich Bedenken gegen die Neigung, der Bultmann, sowohl in seinem neuen Kommentar zu den Johannesbriefen wie in seinem großen Kommentar zum Johannesevangeliums nachgibt, Stücke, die offenbar den Gedankengang unterbrechen, als spätere Einfügung auszuschalten und eine Urform oder Quellenschrift zu konstruieren, die dann unserem Verlangen nach einem geschlossenen Gedankengang einigermaßen entspricht. Diese Methode legt an jene Schriften einen Maßstab an, der ihrer Struktur nicht gemäß ist, und dabei wird leicht die Aufgabe versäumt oder grundsätzlich abgelehnt, diese Schriften gerade in der Form, in der sie uns vorliegen, zu betrachten und zu würdigen. Wenn man versucht, diesem umkreisenden, meditativen Denken gerecht zu werden, sind die Kommentare von Bultmann zu diesen johanneischen Schriften wenig befriedigend. 108

Eine zweite Vorbemerkung: Dieser Brief teilt mit dem Evangelium, das unter dem gleichen Namen des Johannes geht, eine antidoketische Tendenz zugunsten eines biblischen Realismus. Bultmann erkennt zwar an, daß diese Tendenz diesem Brief und dem Evangelium nach Johannes gemeinsam ist, aber er lehnt die Identität des Verfassers ab, weil die Front hier und dort in verschiedener Richtung gehe: Das Johannesevangelium wende sich gegen Mißverständnisse bei den Nichtchristen, verkörpert in dem Unverstand der Juden, der Brief aber gegen gnostizierende Irrlehre innerhalb der Gemeinde. Diese Unterscheidung scheint mir deswegen nicht überzeugend zu sein, weil auch im Johannesevangelium in dessen zweitem Teil die Mißverständnisse nicht mehr von den Juden, sondern von den Jüngern, also innerhalb der christlichen Gemeinde vertreten werden. Doch können wir diese Frage auf sich beruhen lassen. Jedenfalls ist dieser Brief stark abhängig vom Johannesevangelium; eine Fülle von Zitaten oder inhaltlichen Anspielungen machen diesen Zusammenhang deutlich. Die antidoktische Tendenz wird schon in den ersten Versen deutlich: Wir verkündigen euch das, was wir gesehen und mit unseren Händen betastet haben. Es ist ein historisches Geschehen, das, wie Bultmann es ausdrückt, von dem eschatologischen Ereignis nicht abgelöst werden kann (wobei ich aus dem Ausdruck ,',eschatologisches Ereignis" nichts anderes als die Endgültigkeit dieses Geschehens herauszuhören vermag). Wir, das heißt die Träger der Tradition, sind mit den Empfängern dieser Tradition zusammengeschlossen in der Abwehr einer von der Leugnung des geschichtlichen Realismus her drohenden Aufspaltung der Gemeinde. Der Ausdruck „was wir mit den Händen betastet haben" (Vers 1) kann sich nur auf den geschichtlichen Jesus beziehen. - Wenn man ein Thema des ganzen Briefes angeben sollte, so könnte es nur der logos tes zoes sein, das Wort des Lebens, das heißt das Wort, aus dem Leben erwächst. Drittens folgt aus dem umkreisenden Stil, daß es kaum möglich ist, irgendeinen kleinen Abschnitt aus dem Zusammenhang zu lösen, weil jedes Stück aufs engste verflochten ist mit dem, was vorhergeht und was nachfolgt. Gerade an einem solchen Abschnitt aus den johanneischen Schriften kann man sich die Wortbedeutung unseres Fremdwortes „Perikope" klarmachen: das ist ein Stück, das „ringsherum abgehauen", und zwar mehr oder weniger willkürlich abgehauen ist. (Bei den Abschiedsreden Jesu in den Kapiteln 13-17 des Evangeliums ist das ganz ähnlich.) Darum sind wir bei jedem Abschnitt genötigt, auch das Vorhergehende und das Nachfolgende und im Grunde immer die ganze Schrift im Auge zu behalten. So scheint es mir auch nicht möglich, die mir aufgegebenen Verse Kap. 4,13-16 zu isolieren, weil sie im Wortlaut und in ihren Ge109

danken nur aus dem ganzen 4. Kapitel heraus zu verstehen sind. Ich bitte also von vornherein um die Erlaubnis, über den Rahmen dieser „rundherum abgehackten" Verse überzugreifen und das ganze Kapitel zur Erklärung heranzuziehen. Aber nun zunächst diese Verse. Man muß aber schon, um Vers 13 auch nur zu übersetzen, Vers 12 hinzunehmen: Wenn wir einander lieben, dann bleibt Gott in uns und Seine Liebe kommt in uns zur Vollendung. Daß wir in Ihm bleiben und Er in uns, erkennen wir daran, daß Er uns aus Seinem Geist gegeben hat. Und wir haben geschaut und bezeugen, daß der Vater den Sohn gesandt hat als den Retter der Welt. Wer nun bekennt, daß Jesus der Sohn Gottes ist, in dem bleibt Gott und er in Gott. Und wir haben erkannt und sind zum Glauben gekommen an die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm. Bis in den Wortlaut hinein kann man diese Verse nicht auslegen, ohne auf den Anfang des Kapitels einzugehen, und ich möchte darum wenigstens die ersten beiden Verse heranziehen: Glaubet nicht jedem Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind; denn viele falsche Propheten sind in die Welt gekommen. Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der bekennt, daß Jesus Christus ins Fleisch gekommen ist, ist aus Gott, und jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, ist nicht aus Gott. Das ist der Geist des Antichrist, von dem ihr gehört habt, daß er kommt, und der jetzt in der Welt ist. Unvermittelt setzt dieses Kapitel mit dem Auftrag ein, die Geister zu prüfen. Man soll nicht, so werden die Leser ermahnt, jedem Geist trauen; es soll unterschieden werden zwischen dem Geist der Wahrheit und dem Geist des Irrtums (Vers 6). Damit ist nicht eine theoretische Wahrheit und ein theoretischer Irrtum gemeint, sondern das Vertrauenswürdige und das Irreführende. Der amerikanische katholische Philosoph Dietrich von Hildebrand hat ein Buch geschrieben unter dem Titel „Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes", und unter diesem Bild greift er die „Progressisten" innerhalb der katholischen Kirche an, die seit dem II. Vatikanischen Konzil in die Stadt Gottes eingedrungen seien und da Unheil anrichten. Zu dem Inhalt dieses trojanischen Pferdes, zu den Irrtümern der Progressisten gehört, sagt Hildebrand, auch die Unterscheidung zwischen einem griechischen und einem biblischen Wahrheitsbegriff. Ich glaube, daß Hildebrand hier irrt, und daß diese Unterscheidung zwischen einem griechischen und einem biblischen Wahrheitsbegriff wesentlich zum Verständnis des biblischen Denkens gehört. Im griechischen Denken ist 110

Wahrheit das Einleuchtende, das Unverborgene, das evident gemacht werden kann; im biblischen Denken ist Wahrheit das Vertrauenswürdige, das, worauf man sich verlassen kann. Aber keineswegs ist das, was evident ist, immer auch vertrauenswürdig. — Es gibt einen Geist des Wahns, und mit der radikalen Entschiedenheit biblischer Gegensätze wird dieser falsche Geist, dem man nicht trauen darf, als der Geist des Antichristos, des Gegenchristus, bezeichnet. Dabei ist dieser Ausdruck ebenso doppelsinnig wie die Präposition anti, die nicht nur den Gegensatz, sondern auch einen Ersatz bezeichnen kann, der dem, was hier vorgetäuscht wird, zum Verwechseln ähnlich sieht. Es ist also nicht nur der Widerchrist, sondern ein Scheinchristus, vor dem hier gewarnt wird. Diese Unterscheidung zwischen dem Geist der Wahrheit, die vertrauenswürdig ist, und dem Geist des Wider- und Scheinchristus, dem man nicht trauen darf, ist eine Lebensfrage für die christliche Gemeinde. - Mit keiner Silbe scheint es mir aber im Text begründet zu sein, wenn Bultmann von diesem Unterschied sagt, es handle sich um einen Gegensatz im Selbstverständnis des Menschen. Aber wir müssen einen Augenblick stehenbleiben bei dieser aufregenden Gegensätzlichkeit innerhalb der geistigen Welt. Es gibt eine Anzahl von Begriffen, die in sich zweideutig und zwiespältig, „ambivalent", sind, im lateinischen Terminus vox media genannt. Sie bezeichnen einen bestimmten Bereich der Wirklichkeit, der von anderen Bereichen deutlich zu unterscheiden ist, und in dem es entgegengesetzte Tendenzen und Möglichkeiten gibt. Es ist nun ein unheimliches Gesetz, daß diese zweideutigen Begriffe in der weiteren Entwicklung fast ausnahmslos in malam partem, in der schlechteren Bedeutung gebraucht werden. Das gilt zum Beispiel von dem Wort „Magie", das ursprünglich eine Natursichtigkeit und Naturmächtigkeit bezeichnet, die nicht durch Beobachtung oder durch die unsere Sinneswahrnehmungen erweiternden Instrumente bedingt ist. Indem das Mittelalter von weißer und schwarzer Magie gesprochen und nur die schwarze Magie verdammt hat, erkannte die mittelalterliche Theologie an, daß Magie an sich etwas Ambivalentes, etwas Zwiespältiges ist. Aber bis in unsere theologische Sprache hinein hat das Wort Magie eine rein negative Bedeutung bekommen, so sehr, daß man sich nicht gern daran erinnert, daß die sogenannten Heiligen Drei Könige (die weder drei noch Heilige noch Könige gewesen sind) im griechischen Text als Magier bezeichnet werden. — Ein zweites Beispiel ist das Wort „Mythos", das eine ursprüngliche Art des Denkens bezeichnet, das nicht an ein bestimmtes Weltbild gebunden ist. Ein geistreiches Wort besagt, daß der Mythos erzählt, was nie geschehen ist und immer geschieht. Als in der griechischen Philosophie dieses mythische Denken aufgelöst wurde 111

(wie jede Aufklärung den Mythos auflöst), bekam das Wort Mythos den abwertenden Sinn einer unwahren Geschichte, und wo im Neuen Testament das Wort Mythos gebraucht wird (in den Pastoralbriefen), wird es durchaus in diesem abwertenden Sinn gebraucht, der gar nichts mehr davon weiß, was ein Mythos eigentlich ist. Dadurch aber dürfen wir uns nicht abhalten lassen, unsererseits zu wissen, was ein Mythos ist. (Dieses darf ich gerade hier am Bodensee sagen, weil der große Philosoph Leopold Ziegler, der zuletzt in Uberlingen gelebt hat, für viele von uns ein für allemal deutlich gemacht hat, was ein Mythos ist.) Soweit ich sehe, gibt es nur ein einziges Beispiel dafür, daß eine vox media im späteren Sprachgebrauch nur in bonam partem, nur nach der guten Seite gedeutet wird, so daß man gar nicht mehr weiß, daß es sich um ein ambivalentes Wort handelt; das ist das Wort „Geist". Dieses Wort wird unter der Wirkung bestimmter philosophischer Voraussetzungen fast nur im positiven Sinn gebraucht, und bis heute sehen manche Leute die „Vergeistigung" als das eigentliche Ziel des Menschen an. Vielleicht kennen manche von Ihnen jene Anekdote, daß Martin Rade in seiner „Christlichen Welt" einmal das Wort von Oetinger zitierte, wonach „Leiblichkeit das Ende der Wege Gottes" sei. Rade mußte verreisen und überließ die Korrektur einem Kandidaten der Theologie. Der aber „entdeckte" den Druckfehler „Leiblichkeit" und korrigierte ihn in „Lieblichkeit", weil er nicht auf den Einfall kam, daß ein vernünftiger Mensch Leiblichkeit (statt Vergeistigung) als das Ende der Wege Gottes bezeichnen könnte. — Diese eindeutige Wertung des Geistes im positiven Sinn widerspricht dem biblischen Sprachgebrauch, der eben auch von bösen Geistern redet, die daimonia genannt werden. Das Wort daimon ist ja auch ein solch ambivalentes Wort. Wir wissen, wie sehr Goethe im positiven Sinn von seinem Dämon geredet hat, und wie sehr auf der anderen Seite der „Dämon" eben diesen negativen Klang hat. Nur von da aus ist es zu verstehen, daß im Epheserbrief von den bösen Geistern gesagt wird, daß sie im Himmel (nicht wie Luther übersetzt hat, unter dem Himmel sind. Wenn nicht der Himmel selbst eine solche vox media wäre, dann könnte sich nicht im Himmel der Streit erheben, von dem Offb. 12 erzählt. Luzifer, der reine Geist, ist gerade nicht „der Leibhaftige", wie ihn der Volksmud nennt, weil er es sich nicht leisten kann, sich zu inkarnieren, weil er da erkannt und seine Zwielichtigkeit durchschaut werden könnte. Weil ein Geist der Geist des Antichrist und also nicht vertrauenswürdig, sondern verderblich sein kann, darum ist es unsere Aufgabe, die Geister zu prüfen und zu unterscheiden. Aber was ist der Maßstab dieser Unterscheidung? Der Maßstab ist eine homologia, ein bestimmtes Bekenntnis. 112

Ich vermute wohl mit Recht, daß um des Gebrauchs dieses Ausdrucks willen dieser Text in die Reihe der Bibelarbeiten dieser Tage aufgenommen worden ist. Was heißt homología? Es ist in diesen Tagen gesagt worden, homología sei eine Äußerung, die Menschen gemeinsam (homo) mit anderen machen; aber der Sinn dieses Wortes reicht noch tiefer: Es ist die Gesamtheit einer Lebensäußerung, die mit einem bestimmten Sachverhalt oder mit einer Person zusammenstimmt und erst sekundär dann auch die Menschen, die durch die gemeinsame Beziehung auf diesen Sachverhalt zusammengehören, untereinander verbindet. Genauso verhält es sich ja bei koinonia und dem entsprechenden lateinischen communlo: beide Wörter bezeichnen primär das gemeinsame Anteilhaben an einem Sachverhalt und erst sekundär die Verbindung der Menschen untereinander. Das lateinische Wort cotrßteri ist die ziemlich genaue Übersetzung von homologein. Es ist aber seit langem mein Anliegen, daß wir auch die deutschen Vokabeln genau auf ihren Sprachsinn hin betrachten, damit wir uns nicht dem Vorwurf aussetzen, daß wir schließlich besser griechisch als deutsch verstehen. Das deutsche Wort „bekennen" ist dadurch gekennzeichnet, daß hier das „kennen" durch die Vorsilbe „be" näher bezeichnet ist. Diese Vorsilbe „be" bedeutet immer eine Intensivierung dessen, was das Verbum selbst meint. Es ist ein Unterschied, ob ich einen Weg gehe oder ihn begehe, ob ich nach etwas greife oder es begreife. (Als ich das neulich in einer Predigt gesagt hatte, wurde ich darauf aufmerksam gemacht, daß ich ein noch drastischeres Bild hätte anführen können: Es sei nämlich ein Unterschied, ob eine Frau strickt, oder ob sie einen Mann bestrickt.) Im Ernst könnte ich aber auch sagen: Der genaue sprachliche Gegensatz zur homología ist die Diskussion. Dieses Wort kann ich nicht lieben. Homología und discussio, das heißt zu deutsch Zerschneidung, verhalten sich genauso gegensätzlich wie symbolon und diabolos. Die Diskussion ist die gefährliche Karikatur des Gesprächs, wobei es durchaus möglich ist, daß etwas, was als eine Diskussion veranstaltet ist, zu einem Gespräch wird, und umgekehrt, daß ein Gespräch zur Diskussion entartet. Über die Beratungen in diesem unserem Kreis und in dem kleinen Ausschuß, der unsere Erklärung zu formulieren hat, könnte ich kein höheres Lob aussprechen als dies, daß sie in keinem Augenblick eine Diskussion, sondern immer ein Gespräch gewesen sind. Den Gedanken also, daß als Lebensform der Kirche heute an die Stelle der homología, des Bekenntnisses, die Diskussion treten könnte, kann ich nur für eine Bankrotterklärung der Kirche halten. Das Wort homología hat aber immer eine doppelte Bewegungsrichtung, wie sie zur Grundstruktur des biblischen Denkens überhaupt gehört. Homología geschieht in der Richtung auf Gott als Lobpreis und in der 113

Richtung auf Menschen als Zeugnis. In beiden Richtungen hat die homología einen persönlichen Adressaten. Bei dem Petrusbekenntnis (Matth. 16) ist gerade dies entscheidend wichtig, daß er im Unterschied von den anderen Leuten nicht über Jesus redet, sondern ihn anredet: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes." Darum ist, um dieses noch einmal auszusprechen, eigentlich die Anrufung, die Doxologie, der Lobpreis die primäre und entscheidende Form der homología. Die Rede über . . . kann nur im abgeleiteten und uneigentlichen Sinn ein Bekenntnis genannt werden. Was aber ist der Sinn dieser homología, jener Sachverhalt, mit dem übereinstimmend der Mensch sich äußern soll? Das wird sehr bezeichnenderweise in diesem ganzen 4. Kapitel in einer großen Variationsbreite ausgesprochen. Die einfachste Form ist die, daß Jesus der Christus ist, denn dies Wort „Christus" ist ja kein Eigenname, sondern es bezeichnet diesen Jesus als den Messias, als den Gesalbten Gottes, als den verheißenen König der Endzeit. Dann wird auch gesagt, daß Jesus der Sohn Gottes ist. Nirgends freilich wird (außerhalb der lukanischen Geburtsgeschichte) dieser Würdename mit einer wunderbaren Geburt begründet, sondern er bezieht sich eindeutig auf das unvergleichliche Verhältnis des Sohnes zum Vater. Um die Bildhaftigkeit oder, wenn Sie wollen, den mythischen Charakter dieses Ausdrucks zu betonen, werden da, wo dieser Ausdruck „der Sohn" im Gegensatz zu den Propheten gebraucht wird (Hebr. 1), sofort zwei ganz andere Bilder synonym dafür gebraucht, nämlich: die Ausstrahlung der Lichtherrlichkeit (apaugasma tes äoxesj und: das Prägebild des unsichtbaren Wesens (charakter tes hypostaseos), und damit gleichbedeutend wird im Kolosserbrief (1, 15) Jesus Christus die „Ikone" Gottes genannt. Aber an der entscheidenden Stelle, gleich am Anfang, wo eine bestimmte homología als der Maßstab der Geisterunterscheidung genannt wird, wird nur von dem Bekenntnis geredet, daß Jesus Christus gekommen ist „en sarki". Das kann entweder übersetzt werden, daß Jesus „ins Fleisch gekommen", oder daß er „in Fleisches-Gestalt" erschienen ist. Der antidoketische Sinn dieses Ausdrucks ist in jedem Fall deutlich, und zwar scheint mir hier eindeutig ein Zitat aus dem 1. Kapitel des Johannesevangeliums (Vers 9) vorzuliegen, wo es heißt, daß das wahrhaftige Licht, das jeden Menschen erleuchtet, im Begriff war, in diese Welt zu kommen. Denn trotz der Autorität von Bultmann halte ich es für völlig ausgeschlossen, daß Luthers Übersetzung zu Recht besteht, wonach „dieses Licht jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt". Die Banalität, daß jeder Mensch „auf die Welt kommt", kann nicht mit dem sehr geladenen Ausdruck erchesthai eis ton kosmon bezeichnet werden. Erchomenon ist nicht Akkusativ Maskulin, sondern Nominativ Neutrum. 114

„Das wahrhaftige Licht, das jeden Menschen erleuchtet, war im Begriff, in die Welt zu kommen." Dieses wird nun als der entscheidende Inhalt des Bekenntnisses bezeichnet, an dem der vertrauenswürdige Geist von dem Geist des Wahnes zu unterscheiden ist. Der gleiche Gedanke kehrt dann in noch geladenerer Form in Vers 10 wieder, „daß der Vater den Sohn gesandt hat als Versöhnung für unsere Sünden". Daran scheint mir das folgende grundsätzlich wichtig zu sein: Der Maßstab für die Unterscheidung der Wahrheit von dem Wahn ist die Erkenntnis, daß der Mensch in Berührung kommt mit etwas, das nicht mit ihm identisch ist, sondern das von außen oder von oben her auf ihn zukommt. Der Atheismus ist ja vor allem deswegen zu verwerfen, weil der Mensch seines Gegenübers beraubt wird. Indem der Christ bekennt, daß Jesus Christus ins Fleisch gekommen ist, bekennt er sich zu diesem Gegenüber, das nicht ein Bestandteil dieser Welt ist, und das darum auch nicht wie die Dinge dieser Welt erforscht werden kann. Wir werden im weiteren Verlauf merken, warum das entscheidende Bekenntnis gerade so und nicht anders formuliert ist, und wieso diese Redeweise mit dem Grundgedanken dieses ganzen Kapitels notwendig zusammengehört. In Vers 14, also innerhalb unserer Verse, wird ausdrücklich gesagt: Wir haben geschaut und sind nun Zeugen dessen geworden, daß der Vater den Sohn gesandt hat als den Retter der Welt. Dieser Ausdruck, „wir haben geschaut", steht in einer eigentümlichen Spannung zu dem, was in Vers 12 gesagt ist, daß niemand Gott je gesehen hat. Es ist für das ganze johanneische Denken entscheidend wichtig, daß „wir" etwas geschaut haben, was man nicht sehen kann. Wir haben etwas gehört, was nicht in artikulierten Worten auszudrücken ist. Wir haben etwas betastet, was nicht als eine greifbare sinnliche Wirklichkeit in dieser Welt da ist. Niemand hat Gott je gesehen, aber wir haben die Erscheinung des Unsichtbaren geschaut. Das griechische Wort tbeasthai und synonym damit theorein bezeichnet ein schauendes Erkennen, ein Erkennen, das — auch dies müssen wir dabei lernen! — nicht zunächst im Hören, sondern im Schauen seinen Grund hat. Es ist ein durchblickendes, durchschauendes Denken. Es gehört zu den Seltsamkeiten der Sprachgeschichte, daß wir vielfach Fremdwörter gebrauchen, die das genaue Gegenteil dessen bezeichnen, was das Wort ursprünglich meint. Wenn die Fähigkeit des theorein, des durchschauenden Denkens verkümmert, dann hält sich der Mensch an Theorien; genauso wie das Pathos oft ein Zeichen dafür ist, daß der Redner kein echtes pathos, keine wirkliche innere Leidenschaft, hat. (Die Leidenschaft des Herzens wird ersetzt durch Stimmaufwand.) Daß wir etwas geschaut und glaubend erkannt haben, ist die Voraussetzung jedes Bekenntnisses, sonst bleibt es bei einem gefühlsbetonten 115

Überschwang ohne wirkliche Erkenntnis. Wir werden es auf die Dauer weder ertragen noch verantworten können, daß wir mit betonter liturgischer Feierlichkeit „unseren gemeinsamen christlichen Glauben" bekennen in einer Form, von der wir selber wissen, daß viele, die dies Bekenntnis mitsprechen, nicht verstehen können, was damit gemeint ist. Kein Bekenntnis ohne Verstehen und Erkannthaben! Diese Verse können nun freilich in einer gefährlichen Weise mißverstanden werden; so als ob eine bestimmte theologische Aussage zum Maßstab der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahn gemacht werden sollte. Aus diesem Mißverständnis erwächst die Alleinbetonung der „reinen Lehre" und damit eine Entleerung des Glaubens zu einer lehrhaften Aussage. E s ist aber bezeichnend, daß dieser Ausdruck „reine Lehre", der so viel Unheil angerichtet hat, in der ganzen Heiligen Schrift überhaupt nicht vorkommt. Im Verlauf dieses 4. Kapitels des 1. Johannesbriefes wird aber deutlich, was diese Aussage, daß Jesus ins Fleisch gekommen ist, eigentlich bedeutet: nämlich, daß in dieser Erscheinung Jesus Christus die agape Gottes erschienen ist, und daß diese in Jesus Christus erschienene Liebe Gottes als das eigentliche Wesen Gottes offenbar geworden ist. In dem katholischen Kommentar zum 1. Johannesbrief von Schnackenburg, auf den Bultmann verschiedentlich hinweist, heißt es: Die Liebe ist die „ A r t " Gottes, und eben in diesem Sinn heißt es in Luthers Weihnachtslied ( E K G 15, 5) von Christus, daß er „Gott von Art" ist. Die Art Gottes ist eben nicht eine philosophisch zu beschreibende metaphysische Seinsweise, sondern Liebe. Der ganze Abschnitt gipfelt in dem einfachen Satz: „Gott ist agape." Diese „ A r t " Gottes ist in Jesus Christus „erschienen", das heißt nicht: es ist etwas enthüllt worden, was immer schon da war, sondern es ist in die Geschichte eingetreten und ist uns als geschichtliche und leibhafte Wirklichkeit begegnet. Dieser Satz, daß Gott Liebe ist, kann natürlich nicht umgekehrt werden („Liebe ist Gott"), genausowenig, wie der Satz „Gott ist Geist" mit dem Satz vertauscht werden kann, Geist sei Gott. Auch daß der Tod der Sünde Sold ist (Rom. 6, 23), ist keine Definition des Todes, sondern eine Beschreibung dessen, was bei der Sünde herauskommt. „Daran ist erschienen die Liebe Gottes unter uns", das kann heißen, sie ist in unserer Mitte erschienen. Aber bei dem etwas schwankenden Gebrauch der Präpositionen kann dieses „en hemin" auch bedeuten: die Liebe Gottes zu uns. Hier bedarf es nun eines Wortes über diese Vokabel, daß Gott „Liebe" ist. Wir sind in einer etwas schwierigen Lage dadurch, daß wir im Deutschen dieses eine Wort „Liebe" für ganz verschiedene Verhaltensweisen 116

gebrauchen, während die griechische Sprache drei mehr oder weniger deutlich voneinander unterschiedene Vokabeln hat: eros, philia und agape. Eros ist die begehrende Liebe, die sich entzündet an dem Liebenswerten, von dem eine Bereicherung, Ergänzung oder Vervollkommnung des eigenen Seins erhofft werden darf. Für Plato ist dieser Eros eine der wesentlichen Triebkräfte der Welt. Dieser Begriff des Eros kann zwar angewendet werden auf die Liebe der Geschlechter, es gibt aber auch einen pädagogischen Eros, und keine nähere menschliche Beziehung kann ganz ohne Eros sein. Die Götter aber haben keinen Eros, sie können nicht lieben, sagt Plato, weil sie keinen Mangel haben, weil sie nichts vermissen, worauf sich ihr Begehren richten könnte. Dieser für das griechische Denken bezeichnende Begriff des Eros, der begehrenden und sehnsüchtigen Liebe, kommt im Neuen Testament überhaupt nicht vor; die Vokabel ist dem Neuen Testament fremd. Das könnte uns, aber darf uns nicht dazu verführen, die Bedeutung des Eros für das menschliche Leben überhaupt zu leugnen oder zu unterschätzen; ja die Verachtung und Verketzerung des Eros ist eine der verhängnisvollsten Fehlentwicklungen in der christlichen Kirche und ist es bis zu diesem Tag. Vielleicht muß noch gesagt werden, daß Eros sich zwar selbstverständlich auch zwischen den Geschlechtern ereignet, daß dieses Wort aber von Haus aus keine sexuelle Komponente hat. — Das zweite Wort philia, als Verbum philein, ist die besitzende Liebe, die wir im Deutschen sehr bezeichnend mit „lieb haben" benennen. Es ist die natürliche Sympathie mit dem anderen Menschen, den man eben „gern hat", wobei man gar nicht immer angeben kann, warum man ihn gern hat. Dieses einfache und unreflektierte Liebhaben kann ganz ohne erotische oder sexuelle Nebenbedeutung sein. — Das dritte Wort agape wird im profanen Griechisch gerade da gebraucht, wo die Qualität des Geliebten bevorzugt und betont wird. In der Bibel aber hat dieses Wort agape eine neue Prägung bekommen. (Es gibt übrigens eine sehr ausführliche Monographie über diesen Begriff aus der Feder meines benediktinischen Freundes Victor Warnach, der ein großes und gelehrtes Werk über „Agape" geschrieben hat, dem ich viele Erkenntnisse über die Bedeutung dieses Wortes verdanke.) In der Bibel wird dieses Wort ohne Rücksicht auf die Qualität des Geliebten gebraucht. Ob der Gegenstand der agape liebenswerte Eigenschaften oder einen Mangel an solcher Liebenswürdigkeit hat, kommt für den in diesem Sinn Liebenden überhaupt nicht in Betracht. Das Interesse hat sich von der Qualität des Liebenswerten auf die schöpferische Kraft des Liebenden verlagert. Sehr bezeichnend scheint mir der Sprachgebrauch im 11. Kapitel des Johannesevangeliums: Hier wird zwar zweimal (Verse 3 und 36), nämlich da, wo die Äußerungen anderer wiedergegeben wer117

den, der Ausdruck gebraucht, daß Jesus diese Geschwister Martha, Maria und Lazarus in Bethanien „lieb hatte" (philein), aber da, wo der Evangelist selber spricht (Vers 5), wird der Ausdruck philein vermieden und agapan gebraucht: Er liebte die Martha und ihre Schwester und den Lazarus. Gerade weil diese agape nun in der Bibel ganz ohne Rücksicht auf die liebenswerte Qualität des Geliebten gebraucht wird, ist dieses Wort geeignet, die Liebe Gottes zur Welt zu bezeichnen. Denn diese Liebe Gottes zur Welt ist nicht Anerkennung eines Wertes. Gott hat die Welt geliebt (Joh. 3,16, eine Stelle, die hier zwar nicht wörtlich, aber der Sache nach zitiert wird), nicht weil er in dieser Welt etwas findet, was ihm gefällt oder was seine Sehnsucht nach einer Ergänzung seines göttlichen Wesens erwecken könnte; die Liebe Gottes hat ihren Grund nur in ihm selber, und ihr Ziel ist nur der Mensch selber, dem er die Liebe zuwendet. Die schenkende Liebe ist zugleich schöpferische Liebe. Sie weckt Leben, und es wird ausdrücklich gesagt: Gott hat die Welt geliebt, damit wir durch ihn Leben haben sollen (Vers 9). Das ist dem Sinne nach verwandt mit jener Stelle im Buch der Weisheit (Kap. 11), wo Gott mit dem schönen Namen geschmückt wird, „der Liebhaber des Lebens". Weil Gott das Leben als solches liebt, liebt er die Welt, um sie durch seine Liebe zum Leben zu erwecken. Man kann und muß nun wohl fragen, wie sich diese in Christus erschienene schenkende und schöpferische Liebe verhält zu der Aussage, daß Jesus Christus „ins Fleisch gekommen ist". Dies beides darf nicht voneinander getrennt werden, so daß auf der einen Seite die irdische, leibhafte Gestalt des geschichtlichen Jesus und auf der anderen Seite das „übernatürliche" Ereignis der Hinwendung Gottes zur Welt gesucht werden dürfte. Eines liegt ganz und gar im anderen. Die leibhafte Geschichte Jesu ist das „Bild", an dem und in dem die Liebe Gottes sichtbar und erkennbar wird. In diesem „symbolischen" (d. h. zusammenschauenden) Denken der johanneischen Schriften ist der Gegensatz zwischen einem „supranaturalistischen" und einem existentialistischen Denken überwunden. (Dieser Überwindung wollen u. a. die Bücher von W. Knevels [„Die Wirklichkeit Gottes"] und die Schrift von Gerhard Wehr „Spirituelle Interpretation der Bibel als Aufgabe" [Verlag Die Pforte, Basel, 1968] dienen, deren Verfasser freilich mit Recht sagt [S. 69], daß der Begriff „spirituell" nicht glücklich gewählt ist, weil sich das Geistige gerade im Materiellen manifestieren will. Aber die lesenswerte Schrift enthält an gut gewählten Beispielen wesentliche Hilfen für die Überwindung jenes unglücklichen Gegensatzes.) 118

Die in Christus erschienene Liebe Gottes kommt erst zu ihrer Vollendung und Erfüllung (teteleiotai), wenn sie in uns Liebe erweckt. Es ist zwar nicht ausdrücklich die Rede von unserer Liebe zu Gott, aber es ist auch nicht gesagt (was Bultmann herausgelesen hat), daß Gott als Gegenstand der Liebe für uns überhaupt nicht erreichbar sei. Auch Vers 20 kann nicht so verstanden werden, daß die Liebe zu Gott als etwas Unmögliches bezeichnet werden sollte, und daß die Liebe nur in der Form der Bruderliebe möglich sei. Aber Bultmann hat insofern recht, als die „Liebe" des Menschen zu Gott etwas spezifisch anderes ist als jede Liebe zwischen Menschen, und daß jedenfalls keiner jener drei Begriffe von Liebe auf die Liebe zu Gott angewendet werden kann. Die Liebe zu Gott, die uns in jenem Doppelgebot der Liebe (Matth. 22, 37) zugemutet wird, ist denkbar nur als Huldigung („Lob Gottes") und als immer neues Bemühen, den Willen Gottes zu erkennen und zu erfüllen. Wenn die Liebe Gottes in uns zur Vollendung kommt, dann wird sie wirksam und sichtbar als die Liebe zum Bruder, und zwar auch hier vorbehaltlos und ohne Rücksicht auf die Liebenswürdigkeit dieses Bruders. Die Liebe zum Bruder ist Symptom (Erscheinungsform), aber nicht Ersatz für die Liebe zu Gott. Philologisch schwierig ist Vers 13, weil da zwei ¿»//'-Sätze aufeinander folgen, wobei nicht ohne weiteres klar ist, wie sie zu konstruieren sind: Was wird erkannt, und woran wird es erkannt? Nach dem Zusammenhang muß der Vers aber so verstanden werden, daß das erste hoti den Inhalt dessen bezeichnet, was wir erkennen, und das zweite hoti das Merkmal der Erkenntnis. Also: Daß Gott in uns bleibt und wir in Gott, erkennen wir daran, daß er uns von seinem Geist gegeben hat. Ob Gott in uns bleibt und wir in Gott, ist etwas, was sich unserer unmittelbaren Erkenntnis entzieht. Aber wir können es daran erkennen, daß er uns „aus seinem Geist gegeben hat", daß wir teilhaben dürfen an seiner „Art", und weil seine „Art" die agape ist, so ist damit eben unser Anteil an der schenkenden Liebe Gottes bezeichnet. Diese Liebe ist umfassend und vorbehaltlos, im schärfsten Gegensatz zu der kainitischen Frage: „Wie soll ich meines Bruders Hüter sein?" Diese Liebe ist das Kennzeichen des neuen Lebens (3, 14): „Wir sind aus dem Tode ins Leben hindurchgedrungen, denn wir lieben die Brüder." Das heißt nicht, daß unser Durchbruch ins Leben in unserer Liebe seinen Grund hätte, sondern umgekehrt: Daran, daß wir die Brüder lieben, wird sichtbar und erkennbar, daß wir aus dem Tode (der Lieblosigkeit) ins Leben (der Liebe) hindurchgedrungen sind. Das ist genauso gemeint wie das Wort, das Jesus über die Hure gesprochen hat (Luk. 7, 47): Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; nicht weil sie viel geliebt 119

hat, sind ihre Sünden vergeben, sondern an ihrer Liebeskraft wird offenbar, daß sie viel Vergebung erfahren hat. — Darum heißt es in Vers 19 kurz und ohne Objekt: „Wir lieben." Obwohl in einigen Handschriften ein Objekt dasteht, bleibt das Verbum nach der besten Bezeugung ohne Objekt: „Wir lieben, denn Gott hat uns geliebt." Daß wir erweckt und fähig geworden sind zu lieben, ist die Auswirkung und Ausstrahlung davon, daß Gott uns geliebt hat. Ich möchte darum auch nicht (wie Bultmann) die Fragen offen lassen, ob das agapomen als Indikativ oder als Imperativ zu verstehen ist, sondern entscheide mich eindeutig (gegen Luther) für das indikativische Verständnis. Die Liebe geht in einem großen Strom von Gott, der die Welt ohne Grund, aber mit einem Ziel liebt, durch Christus, in dem die Liebe Gottes geschichtliches und leibhaftes Ereignis wird, zu uns und will sich in uns als Bruderliebe auswirken. Diese Gegenwart der Liebe Gottes in uns kann auch so bezeichnet werden, daß wir in Gott bleiben und Gott in uns. Auch hier scheint mir eine deutliche Bezugnahme auf das Evangelium vorzuliegen, dort heißt es (14, 23): „Wir werden kommen und ihn lieben und Wohnung bei ihm machen." Es ist aber für die Bildersprache des Neuen Testaments bezeichnend, daß dieses räumliche Bild umkehrbar ist: Christus in uns, und wir in Christus, Gott in uns, und wir in Gott. Diese Redeweise sprengt jede räumliche Vorstellung, denn es kann ja nicht etwas in einem anderen sein und zugleich umgekehrt. Diese Sprengung des räumlichen Bildes ist aber deswegen möglich und sinnvoll, weil die Sphäre, in der wir nun wohnen, gleichzeitig in uns ist. Wir können uns das vergegenwärtigen, indem wir auf den ursprünglichen Sinn des Begriffs pneuma achten: Atem, Hauch, Luftstrom. Denn die Luft ist ja ein Element, in dem wir leben, und das zugleich in uns ist und durch uns hindurchströmt. Dieses Ineinander ist für das Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenden und ihn durchströmenden Luft absolut wesensnotwendig. In dieser Umkehrbarkeit des räumlichen Bildes kommt also der ursprüngliche Sinn des pneuma zu einem bildhaften Ausdruck. Übrigens ist es eine der notwendigen Konsequenzen dieses vertauschbaren Bildes (daß Gott in uns bleibt und wir in Gott), daß wir auch bei der Feier des sakramentalen Mahles gleichbedeutend und mit gleichem Recht sagen können, daß wir den Leib Christi in uns aufnehmen, und daß der Leib Christi uns in sich aufnimmt, daß wir in Christus „inkorporiert" werden. Zugleich aber ist dieses Bild verbunden mit dem Wort menein, bleiben, in Joh. 14, 23 steht das damit verwandte Wort mone. Dieses Wort menein hätte nicht ein so großes Gewicht im ganzen Neuen Testament, wenn nicht ständig am Rande die Gefahr sichtbar würde, daß dieses Leben 120

eben nicht in uns bleibt, sondern aufhört. Die Unbeständigkeit, das Nicht-bleiben in dem Element, in dem wir leben, begleitet uns als ständige Gefahr. Eine letzte Konsequenz dieses Bleibens in Gott und des Bleibens Gottes in uns ist die parrhesia am Tage des Gerichts als Frucht der agape. Freilich ist der entscheidende Vers 17 in der überlieferten Textfassung (wenigstens in seiner zweiten Hälfte) kaum wirklich zu verstehen. Bultmann hat deswegen eine Umstellung vorgeschlagen. Darauf gehe ich jetzt nicht ein, weil dieser Vers außerhalb der mir angegebenen Verse steht. Der Sinn ist jedenfalls der: Wer noch Angst vor Gott hat, der zeigt damit, daß er sich nicht in der Liebe Gottes geborgen weiß. Er hat noch nicht ganz in sich aufgenommen (die englische Sprache hat dafür das Wort to reaüze, das wir schwer übersetzen können), daß die Liebe Gottes grundlos ist. Er möchte sozusagen in sich selber noch irgendeinen Grund für die Liebe Gottes finden und bekommt Angst, weil er weiß, wie wenig er der Liebe Gottes würdig ist. Wer sich der grundlosen Liebe Gottes wirklich anvertraut, darf dem Tag des Gerichts freudig entgegengehen. Das Wort parrhesia ist schwer übersetzbar. Luther hat ursprünglich gesagt „Freidigkeit". Ein fränkischer Dialektausdruck gibt ziemlich genau das wieder, was parrhesia ist: Wenn ich als Dorfpfarrer zu Bauern gekommen bin und bewunderte, wie schön die Rosen im Garten blühen, sagten die Bauern: „Sehen Sie, wie frech die Rosen sind"; das soll heißen: wie kühn und üppig sie blühen. Das ist parrhesia. Aber - nun wieder eine eigentümliche Wendung - die Liebe zu Gott erweist sich im Halten seiner Gebote. Im 5. Kapitel kehrt dann der Gedanke in einer seltsamen Umkehr wieder Die Nächstenliebe erweist sich in der Gottesliebe. Auch in dieser Umkehrung erkennen wir einen Hinweis darauf, daß es nicht möglich ist, Gottesliebe und Nächstenliebe voneinander zu trennen, und also etwa die in Christus erschienene agape in Mitmenschlichkeit aufzulösen. Wenn ich nun abschließend Ihnen und mir selbst Rechenschaft zu geben versuche, warum wohl diese Verse als der Text für die letzte Bibelarbeit dieser Tagung gewählt sind, und was sie für die Fragestellung über Lehre und Bekenntnis der Kirche bedeuten, dann würde ich folgendes sagen: 1. Gegenüber einer allgemeinen und optimistischen Geistgläubigkeit ist es uns aufgetragen, die Fragwürdigkeit der „geistigen" Sphäre im Auge zu behalten und die Geister zu prüfen und zu unterscheiden. 2. Der Maßstab dieser Unterscheidung ist das Bekenntnis zu Christus. Ein Bekenntnis, mit dem wir nicht primär mit anderen Menschen in 121

Verbindung stehen, sondern primär unseren inneren Zusammenhang, unsere Kommunikation, mit einem Sachverhalt oder vielmehr mit einer Person bezeugen. 3. Daß an dieser Stelle, wo ganz zentral der Inhalt einer die Geister unterscheidenden homologia genannt wird, nicht Tod und Auferstehung Christi, sondern sein Kommen ins Fleisch, seine leibhafte Erscheinung, genannt wird, ist darin begründet, daß eben in dieser leibhaften geschichtlichen Erscheinung die grundlose, nicht begehrende, nicht besitzende, sondern schenkende und schöpferische Liebe Gottes sichtbar geworden ist. 4. Dieses Bekenntnis ist keine theoretische Aussage, keine doctrina, sondern eine Gesamthaltung, die im tätigen Verhalten zum Nächsten glaubhaft bewährt werden muß. Diese Liebe zum Bruder ist Symptom, aber nicht der Inhalt des Bekenntnisses. 5. Die Sache selbst ist die schenkende und sich selbst opfernde Liebe als Gottes „Art", und nur was von dieser Seiner Art ist, erweist die Echtheit jenes Bekenntnisses, an dem der Geist aus Gott von dem Geist des Antichristen zu unterscheiden ist.

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DER HEILIGE GEIST TUT DAS UNERWARTETE (1974) Am Pfingstfest ist es schwieriger als an allen anderen hohen Festtagen der Kirche, sich deutlich vor Augen zu stellen, was der eigentliche Inhalt dieses Festes ist, und was sich in jener Geschichte ereignet hat, deren die Kirche an diesem Tage gedenkt. Daß über die Schar der an Christus glaubenden Menschen in Jerusalem, 50 Tage nach der Auferstehung Christi, „der Heilige Geist ausgegossen" wurde, ist ein Versuch, das Geheimnis jener Geschichte auszudrücken, ohne daß damit doch dem heutigen Menschen unmißverständlich deutlich gemacht werden kann, was damit geschehen ist, und was das für uns bedeutet. Die biblische Erzählung — im 2. Kapitel der Apostelgeschichte - gebraucht selbst zwei Bilder, um jenes Geschehen zu beschreiben. Es geschah, heißt es, ein Brausen als eines gewaltigen Windes, und es erschienen ihnen — den dort versammelten Menschen — feurige Zungen. Also Wind und Feuer; nach der Art von Wind und Feuer, von Wehen und Brennen, sollen wir uns den Gottesgeist vorstellen, der damals die Menschen ergriffen hat. Die bewegte Luft ist wohl spürbar, sie berührt uns sanft oder mit plötzlichem Ungestüm. Aber die Bahn des Windes ist unberechenbar, und er hat keine Gewalt, in der wir ihn einfangen, beschauen oder beherrschen können. Was der Sturmwind ergreift, das trägt er dahin im Wirbel seiner Gewalt, es seien welke Blätter oder die Dächer von den Häusern oder Bäume, die er knickt oder entwurzelt, oder - den Samen der Blüten, den er zu den anderen Blüten trägt, um sie zu befruchten. So ist es mit dem Wind bestellt. So also sollen wir es uns denken oder vorstellen, wenn der Geist Gottes am Werke ist. Das lodernde Feuer verändert in jedem Augenblick seine Gestalt, löst sich auf in die erhitzte Luft und zieht neue Nahrung aus dem brennenden Stoff. Was das Feuer ergreift, kann nicht bleiben in seiner Gestalt. Es wird verbrannt oder verwandelt. In der Bewegung des Windes und in dem Lodern des Feuers ist ein unheimliches Moment, das jeder Berechnung spottet und unserer Verfügung entzogen ist. So ist es mit Wind und Feuer. So also sollen wir es uns vorstellen, wenn der Geist Gottes kommt und wirkt. Die Bibel gebraucht für beides auch das Wort dynamis, das heißt Kraftwirkung, und wir vergessen keinen Augenblick, daß davon unser Fremd123

wort Dynamit abgeleitet wird Gottes Geist kann mit unheimlicher Gewalt den Widerstand sprengen, dem er begegnet. Es hat sehr weitreichende Folgen, wenn wir das pfingstliche Ereignis der Ausgießung und Mitteilung des göttlichen Geistes, so wie es uns die biblische Erzählung nahelegt, uns nach der Art des Sturmwindes und des Feuerbrandes vorstellen. Vielleicht liegt vielen Menschen die Versuchung nahe, von dem Heiligen Geist Gottes in einer solchen Weise zu reden, daß dabei nicht mehr mit einem brausenden Sturm und nicht mehr mit einem lodernden Feuer gerechnet wird Manche stellen sich vielleicht den Heiligen Geist als einen inneren Besitz vor, den man haben und pflegen, aufbewahren und konservieren kann; oder als eine Summe von Wahrheiten, die man zur Kenntnis nehmen, dem Gedächtnis einverleiben, in die Bibliothek des menschlichen Wissens einfügen und dann von Zeit zu Zeit daraus hervorholen kann, wie man eben ein Buch aus dem Gestell oder ein Bild aus dem Kasten hervorholt; oder vielleicht — noch schlimmer - als einen Besitz, über den die Kirche verfügt, den sie in ihren Rechtsordnungen eingefangen hat, und den sie nun ihren Gläubigen spenden kann, wie Zinsen aus einem Kapital. Dies alles hat offenbar mit Wind und Feuer nichts mehr zu tun. Dieser göttliche Sturmwind ist kein Ventilator, den wir nach Bedarf und Neigung einschalten oder abschalten können. Der Wind weht wirklich, wo er will, und wer von jenem Feuer ergriffen ist, kann sich nicht daraus zurückziehen, wenn es ihm zu heiß wird. Der Geist Gottes, von dessen Kommen wir am Pfingstfest reden, ist kein Prinzip, das wir in Regeln und Grundsätzen fassen und nach Bedarf anwenden oder nicht anwenden können. Er hat etwas von dem Ungestüm einer elementaren Gewalt an sich, deren wir nicht mächtig sind Sie wird umgekehrt unser mächtig, sie ergreift uns, sie treibt uns, sie bewegt uns und wandelt uns. Die von dem Sturmwind und Feuer des göttlichen Geistes ergriffenen Menschen waren zu allen Zeiten die Werkzeuge des Ungewöhnlichen, des Außerordentlichen, des Unerwarteten und Erregenden. Es gehört zu den großen Versuchungen der Kirche, daß sie aus dem Wehen des göttlichen Geistes ein neues Gesetz macht, aus dem Feuerbrand, den der göttliche Funke entzündet, eine behagliche Wärme für die Wohnstuben und Arbeitsstätten des täglichen Lebens und damit also gerade das verleugnet, was die Bildersprache der Pfingstgeschichte besagt, indem sie von dem Brausen des Windes und von den Zungen erzählt. Man muß es sich wohl überlegen, ob man wirklich um diesen Heiligen Geist bitten soll, oder ob man in Wahrheit lieber von seinem Ungestüm und seiner Wandlungskraft, von seinem Dynamit verschont bleiben will. Wer sich der Führung des Heiligen Geistes anvertraut, der ist nicht mehr 124

sein eigener Herr. Er kann nicht mehr sein Leben nach bewährten Prinzipien einrichten, sondern er ist wie ein Schwimmer, der vom Ufer abgestoßen ist und den Boden unter den Füßen verloren hat und sich nun der gewaltigen Strömung überlassen muß, die sich seiner bemächtigt hat. Oder um im Bilde von der bewegten Luft zu bleiben, er gleicht dem Segelflieger, der sich dem Luftstrom anvertrauen muß und nur getragen werden kann von dem bewegten Element. Wer sich dem Geist Gottes anvertraut, dem wird es immer wieder in den Grenzen seines Lebens so ergehen, wie es dem Apostel Paulus auf einer seiner Missionsreisen ergangen ist: er hatte einen festen Plan, aber — so heißt es — der Geist ließ es nicht zu. Der göttliche Lebensstrom, der sich seiner bemächtigt hatte, trieb ihn dahin, wohin er gar nicht wollte, aber genau dahin, wo Gott ihn brauchte. Dieser Geist Gottes, der dem Sturmwind und dem Feuerbrand gleicht, ist das immer Unberechenbare und Unvorhergesehene auch in der Geschichte der christlichen Kirche; das Unsichere, das alle starren Gehäuse sprengt wie ein Strom, der sich mit seiner Gewalt immer wieder ein neues Bett gräbt. Er ist die Umkehrung jeder natürlichen Entwicklung, in der das Glühende und Feuerflüssige zur festen Form erkaltet und das strömende Wasser vom starren Eis gefangen genommen wird. Wenn der Wind Gottes dreinbläst, wenn der himmlische Funke den Brand entzündet, dann wird das Tote lebendig, das Erstarrte gerät in Bewegung, und das Eis taut auf. Es fängt alles an zu strömen, zu wehen, zu brausen und zu brennen. Der Heilige Geist ist Sturmwind und Feuer, er ist unverfügbar, und er tut das Überraschende. Wer sich mit ihm einläßt, geht nicht mehr seinen eigenen Weg, sondern er wird von Gott geleitet, vielleicht wider alles eigene Planen und Wünschen. Aber derselbe Heilige Geist baut Wege; zwar bindet er sich nicht an diese geordneten Straßen, sondern er weht, wo er will. Wir aber sind gewiesen auf die Wege, die der Heilige Geist für uns gebaut hat und baut. Beides meinen wir, nicht nach eigener Willkür das eine oder das andere, wenn wir mit der ganzen Christenheit beten: Veni creatur spiritus — Komm Gott Schöpfer, Heiliger Geist.

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III. KIRCHE IN DER ZEIT

ABSAGE AN DIE GÖTTER (Zwei Vorträge 1947)

1. DIE GEISTIGE KRISIS DER GEGENWART Indem wir uns unterfangen, von der geistigen Krisis der Gegenwart zu sprechen, bekennen wir uns zu der Einsicht, daß noch tiefer als jede äußere Not, noch gefährlicher als Hunger, Frost und Seuchen der geistige Zustand, in den wir hineingeraten sind, die Wurzeln unserer Existenz bedroht, und daß allein der Mut, diese tieferen Zusammenhänge zu erkennen, auf eine Heilung hoffen darf, die nicht nur Symptome der Krankheit durch andere Symptome ersetzt. Die Zerstörung unserer Städte, die Entwurzelung von Millionen, das grausame Rad der Rache, das niemand aufzuhalten vermag, sind die sichtbaren Zeichen eines tieferen Schadens; sie sind die bittere Frucht, die auf dem Baum einer jahrhundertelangen Entwicklung gewachsen ist. Man muß weit in der Geschichte zurückgehen, um die ersten Spuren des Verderbens zu entdecken, das an uns, den heute Lebenden und Sterbenden, sich endlich bis zur völligen Zerstörung unseres Seins austobt. Wenn wir dabei unseren Zustand als eine Krisis bezeichnen, so meinen wir dieses Wort genauso ernst, wie wenn es der Arzt auf eine leibliche Krankheit anwendet. In der Krisis ist der Krankheitsverlauf an einen Punkt gekommen, wo der tödliche Ausgang und die Genesung als zwei Möglichkeiten einander die Waage halten. Wo Krisis ist, da ist das Leben tödlich bedroht; so lange aber die Krisis dauert, bleibt auch noch Hoffnung. Optimismus und Pessimismus sind in gleicher Weise Fluchthaltungen, die dem Ernst dieser Entscheidung aus dem Wege gehen. Sie legen die Zuversicht oder die Verzweiflung des eigenen Herzens auf die eine oder die andere Schale, die einander noch im Gleichgewicht halten, und wollen — alle beide — nicht sehen und nicht wahrhaben, wie sehr die Waage schwankt, ehe sie sich nach der einen oder der anderen Seite neigt. Jeder Arzt weiß, wie sehr das Gewicht des eigenen Lebenswillens der Schale des Lebens zu Hilfe kommen kann. Wieviel mehr gilt das im geistigen Bereich! Die Entscheidung fällt in uns allen, und keiner ist der 128

Mitverantwortung dafür entnommen, daß die tödliche Bedrohung der Genesung und Heilung weiche. Darum stellt, wer von der geistigen Krisis der Gegenwart redet, nicht als Historiker oder als Psychologe oder als Philosoph eine Diagnose, sondern er ruft zugleich, indem er den Grund des Übels aufdeckt, alle Kräfte der Abwehr auf den Plan, die gute Einsicht, den Willen zur Umkehr. Aber eben dies ist selten unter uns geworden; eben an dieser Bereitschaft mangelt es den meisten. Es hat Menschen in Deutschland gegeben — man sollte das weder vergessen noch leugnen —, die den Nationalsozialismus in keinem Augenblick als einen neuen Anfang, als einen echten Aufbruch verherrlicht, sondern ihn von Anfang an als das zunächst groteske, dann schauerliche Endstadium einer zu Ende gehenden Menschheitsperiode erkannt haben. Aber auch in einem Augenblick, da die Macht der Zierstörung und Auflösung längst als solche entlarvt war, wurde es den Menschen, die treu zu sein wähnten, als sie starr und trotzig waren, schwer, solcher Einsicht Raum zu geben. Die Mächte des Verderbens wollen nicht abtreten und weigern sich, das Urteil anzuerkennen, das die Geschichte über sie gesprochen hat. Der Kampf wider den bösen Geist der hinter uns liegenden Jahre wird mit Hilfe eben der Geistesmächte geführt, aus denen dieser Ungeist seine Nahrung gezogen hat. Es ist uns alles so schrecklich bekannt und vertraut; nur die Namen haben gewechselt. Es ist nichts anders geworden. Das Verderben rast weiter, und die Krisis der fieberkranken Menschheit scheint unwiderruflich zum Ende zu treiben. Wir fragen: Was ist eigentlich geschehen? Was denn im letzten Grunde ist in dieser Krisis bedroht? Vielen hat sich ein Wort auf die Lippen gedrängt, wenn sie das Furchtbare beschreiben sollten: der Mensch als solcher sei bedroht, das Menschliche im Menschen, das Menschenbild sei zerstört. Wenn sie recht haben, die das sagen — und ich glaube, daß sie recht haben —, dann bedeutet die Krisis, von der wir reden, nichts anderes als dies: Ist unter den Trümmern unserer Städte, auf den unendlichen Schlachtfeldern das Humanuni, die schöne, edle, freie Menschlichkeit untergegangen und begraben, gestorben und verdorben, weil sie längst von einem tödlichen Siechtum ergriffen war? Oder bleibt uns eine Hoffnung, daß der Mensch im Menschen gerettet werde? Wenn es wahr ist, daß die Welt um des Menschen willen und für den Menschen geschaffen ist als der Schauplatz seiner Geschichte und seiner Bestimmung, dann ist mit dem Sinn des Menschen das Weltganze selber vom Untergang bedroht. Es ist keine Übertreibung, sondern nüchterne Klarheit, wenn wir unsere bange Frage in die Worte kleiden, ob die Welt verloren ist, oder ob sie — noch einmal — gerettet werden kann? 129

Schicksal und Wert des Menschen entscheiden sich an drei Aufgaben, vor die der Mensch als solcher, jeder einzelne Mensch, gestellt ist. Mit dieser Dreiheit soll nicht ein System aufgerichtet werden, das beanspruchen könnte, vollständig und allumfassend zu sein. Man könnte auch in ganz anderen Gliederungen von jenem Humanum reden, das heute in die Krisis tödlicher Bedrohung geraten ist. Aber doch, so meinten wir, muß man sich wohl unter diesen drei Gesichtspunkten Rechenschaft geben, was von uns heute wie zu allen Zeiten gefordert ist, und worin wir in einer jahrhundertelangen Entwicklung in immer schrecklicherem Maße versagt haben. I. Der Mensch lebt nicht losgelöst von der Welt, in die er gestellt ist. Die Wirklichkeit, die ihn umgibt, und an der er selbst teil hat, zu erfahren und zu erkennen, ist eine Aufgabe, die mit dem Leben selbst gegeben ist, mit dem schlichten, ursprünglichen Leben ebens'o wie mit den höchsten geistigen Formen des Daseins. Aber eben diese echte Erfahrung der Wirklichkeit, das Verhältnis 7M der wirklichen Welt, ist in der Tiefe bedroht, wenn nicht verfälscht und zerstört, und zwar geschieht diese Bedrohung in einem doppelten Sinn. Viele von uns kennen jenes jähe Erschrecken, das uns zuweilen überfällt: es sei gar nicht mehr die wirkliche Welt, in der wir leben, wir lebten gar nicht in der wirklichen Welt, - wir seien in einer sehr unheimlichen Weise abgeschnitten und ausgesperrt aus dem Bereich der Wirklichkeit. In einer jahrhundertelangen Entwicklung sind wir dazu erzogen und daran gewöhnt, uns Gedanken über die Welt zu machen, die Fülle der Erscheinungen, die uns begegnen, in Begriffe zu ordnen, um sie zu beherrschen. Aber diese Gedanken und Begriffe stehen nun zugleich wie eine undurchdringliche Wand zwischen uns und der gelebten Wirklichkeit, vergleichbar einer hauchdünnen und scheinbar ganz durchsichtigen Schicht, die uns zugleich wirksam isoliert von all den Dingen, über die wir nachdenken und reden. Wir sind selber herausgetreten aus dem Ganzen der Welt und stehen gleichsam auf der Uferböschung, von wo aus wir den vorüberziehenden Strom in seinem Lauf überschauen, in den wir eintauchen und von dem wir getragen werden sollten. Ist es vielleicht dies, was die biblische Paradieses-Geschichte besagen will, wo sie von dem Baum der Erkenntnis und von dem Zusammenhang von Sünde und Erkenntnis redet? Indem der Mensch aus der ursprünglichen Ordnung, in der er mit allen Geschöpfen verbunden war, aus130

bricht und von der gefährlichen Möglichkeit Gebrauch macht, die ihm als einzigen unter allen Geschöpfen gegeben ist, der Möglichkeit, sich abzuwenden von Gott, sich vor seinem Zuruf zu verstecken und Ihm ungehorsam zu werden, vermag er in der Tat zu erkennen, so zu erkennen, wie er vorher nicht erkannt hat. Aber er hat einen Preis dafür zu zahlen, der nicht weniger als das Leben kostet: er steht nun allen Geschöpfen gegenüber. Er weiß von ihnen, er erforscht sie; er gibt ihnen Namen und gebraucht ihre Kräfte, aber er selbst ist ausgesperrt aus ihrer lebendigen Berührung. Er geht mit Namen und Begriffen um, und seine Erkenntnis ist etwas gespenstig Unwirkliches. Der von Gott gelöste Mensch löst sich auch von der Welt. Hier hat sich der Erkenntnistrieb des Menschen losgelöst von Gott; damit hat er Gott aus den Augen verloren und auch die Wirklichkeit des Menschen. Der von diesem fehlgeleiteten Denken vergiftete Pädagoge sieht gar nicht mehr den wirklichen Menschen, das wirkliche Kind vor sich; er hat nur noch einen Begriff, ein Schema, genannt: „das Kind", „den jungen Menschen" vor Augen. Und im gleichen Maß, wie er, der Erzieher, ein Schema statt des wirklichen, aber unberechenbaren Menschen vor sich hat, verführt er seinen Zögling, über die Welt zu reflektieren, statt sich der wirklichen Welt liebend, gehorsam, verantwortlich und vertrauend zuzuwenden. Ja, man ist versucht zu sagen, das sogenannte Bildungsgeschäft habe weithin keine andere Wirkung, als daß der also „Gebildete" nicht mehr unmittelbar im Austausch mit dem wirklichen Leben stehe, sondern vielmehr in jener künstlichen Begriffswelt sich einen großartigen Ersatz für die eigentliche Wirklichkeit geschaffen habe. Es wäre allzu billig, den Philosophen zu tadeln oder zu verhöhnen, um dieser Scheinwelt willen, in der allein er sich bewegen kann. Denn wir alle, die wir Erben und Opfer dieser Menschheitsperiode geworden sind, stecken in der gleichen Gefahr. Kein Zufall, daß in diesem Bereich dann unbedenklich von „Schülermaterial", von „Arbätcimaterial" geredet werden kann, und die soziale Arbeit fast vergißt, daß in den „Fällen" ihrer Karteien lauter lebendige Menschenschicksale nach Rat und Hilfe schreien. Man kann den gleichen Sachverhalt, den wir die „kleine Wirklichkeit" genannt haben, auch an dem Verständnis der Geschichte beobachten. Der Mythos ist der bildhafte Ausdruck einer Wirklichkeitserfahrung, in der gerade die tiefsten und verborgensten Hintergründe ans Licht drängten. In der Sage träumt - nach einem tiefsinnigen Wort — ein Volk von den treibenden Kräften seiner Geschichte. Der Mensch der kleinen Welt läßt nur noch gelten, was in diesem seinem Raum, in der äußeren Geschichte Gestalt gewonnen hat. Er meint, auf Mythos, Sage und Legende als ein vielleicht dichterisch schönes Phantasiegebilde herabsehen und die 131

wirkliche Geschichte von solchen unwirklichen Beimischungen reinigen zu müssen. Wer weiß heute, daß Märchen, Sage und Mythos einen Blick eröffnen in jene größere Wirklichkeit, die wie die Atmosphäre die feste Erde umgibt? Für diese verengte Wirklichkeitserfahrung werden Engel und Dämonen zum Kinderspiel und Kinderschreck, weil sie nicht mehr zu erkennen vermag, daß wir alle in jedem Augenblick von diesen unsichtbaren Mächten bedroht und zugleich von ihnen bewahrt und geleitet werden. Es wäre undankbar zu vergessen, daß es in unserer abendländischen geistigen Entwicklung, immer auch eine andere Linie gegeben hat, eine andere Art des Denkens, das nie ohne Ehrfurcht und Liebe war, und das darum auch Zugang hatte zu jener größeren Wirklichkeit, von der wir soeben gesprochen haben. Die romanische Welt lebte noch ganz in dieser Einheit der vordergründigen und der hintergründigen Wirklichkeit, und der romanische Dom ist das räumliche Sinnbild jenes Weltgefühls, dem das Mysterium nicht ein Gegenstand unendlicher Sehnsucht, sondern die entscheidende, allzeit gegenwärtige Wirklichkeit ist. Aber so gründlich hat jenes andere Denken, das in der nominalistischen Scholastik zum ersten Male aufbrach, das ganze Abendland erobert, daß die großen Gestalten des geistigen Mittelalters wie Albert der Große, der Ordensoberer, Bischof und Naturforscher in einer Person war, gänzlich unserem Blick entschwunden sind. Die Alchimisten, die in chemischen Laboratorien um die Geheimnisse der menschlichen Erlösung rangen, erscheinen uns als komische Leute, weil für uns der Wert solcher Bemühungen selbstverständlich auf die materielle Welt beschränkt ist. Paracelsus ist von den Theologen nicht für voll genommen worden, weil er Naturforscher war, und die Schulmedizin hat ihm, dem großen Arzt, die ihm wahrlich gebührende Ehre versagt, weil ihr materialistisches Denken mit den frommen Spekulationen dieses Mannes nichts anzufangen wußte. In der sogenannten Neuzeit konnte dieser ehrfürchtige Sinn für die Tiefen und Weiten dann nur noch als Unterströmung der Geistesgeschichte weiterwirken. Jakob Böhme, Goethe in seiner Naturbetrachtung, Schelling und Baader gehören in diese Reihe. Wie gern würden wir auch die Kirche einfach und selbstverständlich dieser Reihe zuordnen oder vielmehr von ihr rühmen, daß sie in all diesen Jahrhunderten der Hort und die Werkstatt dieses tieferen und weiteren Denkens gewesen sei, sozusagen das Fenster in dem geistigen Haus der Menschheit, durch das alle Geschlechter Ausblick gewonnen hätten in den Raum jener größeren Wirklichkeit! Aber müssen wir nicht hier ein ernstes Versäumnis, ja, vielleicht eine tiefe Schuld der Kirche beklagen? Die Lehre der Kirche, ihr viel geschmähtes Dogma, hat ja nie132

mals etwas anderes gemeint, als daß hier gültige Aussagen gemacht werden sollen über die Wirklichkeit Gottes, und daß von hier aus die ganze Welt in allen Bereichen erst in Wahrheit verstanden werden sollte. Die Theologie hat eine unendliche Mühe und Sorgfalt darauf verwendet, diese Aussagen der christlichen Lehre richtig zu formulieren, und der Ernst dieser Arbeit entsprang nicht etwa einem rein theoretischen Interesse, sondern vielmehr der Sorge, doch ja nicht die Wirklichkeit - und damit das Heil — zu verfehlen. Aber es mangelte ihr unter der Herrschaft jenes Denkens an der Kraft, von diesen ihren echten Wirklichkeitserfahrungen so zu reden, daß ihre Sprache als Hinweis auf jene größeren Dimensionen aufgenommen und fruchtbar wurde. Wir täuschen uns darüber nicht, daß für den weitaus größten Teil unseres Volkes, vielleicht der abendländischen Menschheit überhaupt, die Sprache der Kirche unverständlich geworden ist. Nicht deswegen, weil wir heute einen anderen Sprachschatz haben und die Vokabeln als solche unbekannt sind, sondern deswegen, weil die Sache selber, von der hier die Rede ist, völlig außerhalb der „Wirklichkeit", nämlich der der kleinen Wirklichkeit, ist, in der dieser Menschentypus sich noch einigermaßen auskennt und zurechtfindet. Dieser ganzen christlichen Rede haftet in peinlicher Weise ein Geruch von Unwirklichkeit an, und die meisten Menschen kommen gar nicht auf den Einfall, daß ihre „Wirklichkeit" nur eine verengte, verstümmelte und dadurch unwahr gewordene Welt sein könnte. Welche Riesenaufgabe, welche unermeßliche Verantwortung, wenn wir versuchen, von der Wahrheit, die der christliche Glaube bekennt, so zu reden, daß dadurch das Verhältnis des Menschen zur Welt in Ordnung gebracht wird, anders ausgedrückt: das Glaubensbekenntnis so auszulegen, daß seine Tragweite für das Selbstverständnis des Menschen, für Weltbild und Menschenbild, darum auch für alles politische Denken und Handeln unmißverständlich sichtbar wird! Wir fragen noch einmal: wie kann der schreckliche Bann durchbrochen werden, der durch eine jahrhundertelange Gewöhnung auf unserem Denken lastet, der Bann, der uns überall durch die Wand unserer Begriffe von der lebendigen Welt absperrt und uns zugleich gefangen nimmt in die kleine Wirklichkeit, die unseren Sinnen und unserem Verstand zugänglich ist? Es tun sich zwei Wege auf: man kann versuchen, den Bereich unserer wissenschaftlichen Erkenntnis auszuweiten, um auch den Hintergründen auf wissenschaftliche Weise ihr Geheimnis zu entlocken und in rationale Formeln zu bannen. Wir wissen, wie sehr uns dieser Weg empfohlen wird. Wir halten aber allein den anderen Weg für echt, gesund und fruchtbar, daß nämlich die wissenschaftliche Erforschung der 133

Welt sich in ihre Grenzen bescheidet, daß dieses Wissen um die Grenze in das wissenschaftliche Denken selbst aufgenommen wird, und daß wir Mut fassen zu jenem mythisch-symbolischen Denken, das jenen Geheimnissen allein angemessen ist. Nicht in rationalen Formen, sondern in Bildern hat die Menschheit ihre höchsten Erkenntnisse ausgesprochen, und die Heilkraft, die von der Liturgie der Kirche ausgehen könnte für das Gesamtverhältnis des Menschen zur Welt, beruht nicht zuletzt darauf, daß hier — muß man nicht sagen: hier allein? — jenes Denken und jene Sprache noch Heimatrecht haben, die nicht aus dem Machttrieb, sondern aus demütiger Hingabe entspringen, und die eben darum das Gefängnis der kleinen Wirklichkeit sprengen und das Fenster aufstoßen in den unendlichen Raum der Wahrheit.

II. Wenn das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit gestört, wenn er durch die Zwischenschicht seiner Begriffe von der Berührung mit der unmittelbaren Wirklichkeit abgeschnitten und in dem engen Raum der ihm zugänglichen Welt gefangen ist, dann gerät notwendig auch die zweite Aufgabe, die der Mensch als solcher in der Beziehung zur Welt hat, in Unordnung. Denn es ist ihm ja nicht nur dies zugemutet, daß er die Wirklichkeit, in die er hineingestellt ist, erkenne, sondern auch dies, daß er die Welt, der er zugehört, an seinem Teil gestalte. Aber auch an dieser Aufgabe muß er versagen, wenn es nicht mehr die wirkliche Welt, nicht mehr die ganze Welt ist, der er ehrfürchtig, liebend und erkennend zugewendet ist. Hier und nirgend anders muß die tiefste Ursache dafür wahrgenommen werden, daß auf dem Siegeszug menschlicher Gestaltungskraft in diesen Jahrhunderten ein unheimlicher Fluch liegt, daß der Mensch, von einem furchtbaren Dämon getrieben, die Welt zerstört, die er bauen sollte. Wir müssen daher die Gedanken, die uns bisher beschäftigt haben, weiter vertiefen und entfalten und uns vergegenwärtigen, was daraus für die Fragen der Weltgestaltung folgt. Wenn der Mensch die Verbindung mit Gott und darum auch die Verbindung mit der wirklichen Welt verloren hat, dann zerbricht ihm die Einheit und Ganzheit des Lebens, und er begegnet ebenso in seinem Handeln wie in seinem Denken immer nur Teilstücken der Wirklichkeit. All sein Tun zerbricht und zerfällt in eine Reihe von zusammenhangslosen einzelnen Funktionen, die sich ständig untereinander widersprechen und 134

stören. Man muß sich dieses Verhängnis an einer Reihe von einzelnen Punkten, richtiger gesagt, auf einer Reihe verschiedener Ebenen deutlich machen. Es scheint ein unentrinnbares Gesetz der modernen Welt zu sein, daß wir entweder Gott und Welt mit einander verwechseln, oder aber sie so von einander trennen, daß auch die echte Verbindung von Gott und Welt geleugnet wird. Gegen jene tief eingewurzelte Neigung zum „Pantheismus" erhebt der christliche Glaube Einspruch, weil damit ebenso die Wirklichkeit Gottes wie die Wirklichkeit der Welt verfehlt wird. Es ist nicht ganz ohne Grund gesagt worden, der Pantheismus sei die höfliche Form des Atheismus. Auf der anderen Seite ist alles das, was wir christliches Abendland nennen können, gewachsen auf dem Boden des Glaubens, daß Gott selbst sich mit der Welt verbunden hat, und daß in diesem einen Punkt der Menschwerdung, in dem Mysterium des Gottmenschen, die Kluft zwischen Gott und Mensch geschlossen ist. Jakobs Traum von der Himmelsleiter, die Himmel und Erde miteinander verbindet, ist der Traum, die Ahnung und der heimliche Sinn aller Religion. Und alles, was die christliche Kirche über die Erscheinung Jesu Christi ausgesagt hat und aussagt, ist in dem einen Satz zusammenzufassen, der ja Seinem eigenen Selbstzeugnis entspricht (Joh. 1, 51), daß Er die Himmelsleiter ist, die nicht wie der babylonische Turm von der Erde bis zum Himmel, sondern vom Himmel bis zur Erde reicht. Es ist dem heutigen Menschen sehr schwer klar zu machen, mit welchem Recht in der alten Kirche über christologische Formeln mit einem so radikalen Ernst gestritten werden konnte, daß darüber Reiche zerfielen und Völker zugrunde gingen. Er begreift nicht, warum das so wichtig sein soll, ob Christus Gott wesensähnlich (homoiousios) gewesen ist, wie Arius lehrte, oder wesensgleich (homoousios), wie Athanasius und nach ihm dann die rechtgläubige Kirche gelehrt hat. Und doch hängt an diesem scheinbar so geringfügigen Unterschied des einen kleinen Buchstabens das Schicksal der Welt. Wenn Christus Gott nur wesensähnlich ist, dann bleiben Gott und Mensch, Himmel und Erde einander fern. Die Kluft bleibt offen, die beiden Pole mögen sich nähern, aber der Funke springt nicht über, und die Welt bleibt mit sich allein, ohne daß Gott gegenwärtig wäre in ihrer Mitte. Dieser Arianismus, der den „Sohn" nicht mit der gleichen Ehre für würdig hält wie den „Vater", ist der Vorläufer der ganzen modernen Denkweise, für die das „Jenseits" und das „Dieseits" auseinanderbrechen, und wo das Jenseits für die praktische Gestaltung der diesseitigen Welt jene Bedeutung verloren hat. Wir haben vorhin an den romanischen Dom erinnert, als an das echte Gehäuse des Mysteriums, den gotterfüllten Raum, der die Menschen aufnimmt, nicht nur in die Bewegung 135

unendlicher Sehnsucht, sondern aufnimmt in den Raum der wirklichen Gegenwart Gottes. Es wird erzählt, daß, als der Großfürst Wladimir von Kiew im 9. Jahrhundert durch seine Boten die Religionen der Völker erforschen ließ, seine Sendboten aus Konstantinopel wiedergekommen seien mit dem Bericht, sie hätten bei dem christlichen Gottesdienst in der Hagia Sophia zwar nichts verstanden, aber sie hätten auch nicht mehr gewußt, ob sie im Himmel oder auf der Erde seien, und daß darauf der Großfürst für sein Volk den christlichen Glauben angenommen habe. Diese Geschichte drückt in einer kindlichen Weise eben das aus, was wir meinen. Aus diesem Glauben, daß der Himmel zu uns auf die Erde gekommen sei, damit wir auf Erden zugleich Teil hätten an der himmlischen Welt, sind alle die großen Gestaltungen des Mittelalters erwachsen. Auch wer diesen Zusammenhang nicht begreift, sollte wenigstens anerkennen, daß die größte Kraft der Weltgestaltung bis hin in den politischen Raum aus dieser Wurzel erwachsen ist. Auch das so schmählich mißbrauchte Wort von dem „Reich", das uns anvertraut und uns aufgetragen ist, ist nur auf diesem Boden und in diesem Zusammenhang verständlich und sinnvoll. Dieser Glaube ist zerbrochen, und indem das Jenseits sich zu einer unwirklichen Idee, allenfalls zu einer erhofften Zukunft verflüchtigte, konnte zwar in dieser Welt sehr vieles unternommen, gebaut und geleistet werden, aber alle diese Werke gehören ganz und gar dem Diesseits an, als ein Erfolg menschlicher Klugheit und Energie; die glühende Inbrunst und die verborgene Würde, die jener Glaube allein verleiht, wird vergeblich in ihnen gesucht. Der Turm, der gebaut wird auf dem irdischen Boden zum Ruhm des Menschen, reicht nicht in den Himmel, und er zerfällt, weil der Mensch zerfällt, der mit Gott zerfallen ist. Man kann auf einer anderen Ebene von dem Verhältnis eines religiösen und eines profanen Bereiches sprechen. Es gab eine Zeit, in der die Menschen gar nicht verstanden hätten, was mit diesem Unterschied gemeint ist. Eine Zeit, in der alle Lebensbereiche so völlig durchdrungen und durchblutet waren von einem frommen Glauben, daß kein Erleben und Handeln des Menschen davon völlig gelöst war. Ein Beispiel macht sehr deutlich, was mit dieser uns verlorengegangenen Einheit gemeint ist. Man redet in der Musikgeschichte von der geistlichen Kontrafaktur und versteht darunter die Tatsache, daß z. B. im 16. Jahrhundert nicht nur viele „weltliche" Lieder, Liebeslieder oder Naturlieder, mit geringfügigen sprachlichen Änderungen, in einen geistlichen Sinn umgewandelt worden sind: „Herzlich tut mich erfreuen die liebe Sommerzeit", und solche Lieder haben wir alle im Ohr, und ihre beiden Fassungen wollen sich in 136

unserem eigenen Herzen verflechten. Als Luther das Lied von der heiligen christlichen Kirche dichtete, übernahm er ungescheut die erste Strophe eines weltlichen Liebesliedes: „Sie ist mir lieb, die werte Magd, und kann ihr nicht vergessen." Darüber hinaus sind unzählige Kirchenlieder nach Weisen gesungen worden, die ursprünglich mit einem „profanen" Text verbunden waren. Wir singen: „Nun freut euch, liebe Christen g'mein" und singen es auf eben die Weise, nach der man zuvor gesungen hatte: „Sie gleichet einem Rosenstock". Wir singen: „Lobt Gott, ihr Christen allzugleich" und merken kaum, daß wir damit ein altes Tanzliedchen: „Kommt her, ihr liebste Schwesterlein" in ein Weihnachtslied verwandelt haben. Warum war das möglich? Und warum empfinden wir es als peinlich verkehrt, wenn irgend jemand heute um der christlichen Propaganda willen irgendeiner Schlagermelodie einen geistlichen Text unterlegt? Es gibt nur die eine Erklärung, daß eben damals auch das Liebeserleben, das Erleben der Tageszeiten und der Jahreszeiten so sehr in einem gläubigen Sinn des Lebensganzen eingetaucht war, daß die Brücke zwischen beiden nie zerbrechen konnte. Wir umgekehrt haben uns etwas darauf zugute getan, daß wir die reinliche Trennung vollziehen. Wir meiden die Mischung der weltlichen und geistlichen Sphäre. Ein Choral am weltlichen Ort ist uns ebenso peinlich wie der plötzliche Einbruch der profanen Sphäre in den Raum des Heiligtums. So wie Glauben und Wissen sich voneinander lösen, so wie der Forschung die entgötterte Welt ohne Hintergrund als ihr einziger Gegenstand erscheint, so brechen auch das religiöse Handeln im kultischen Raum, Gebet, Opfer, Sakrament und das praktische Handeln in der Welt auseinander. Fangen wir allmählich an zu begreifen, daß langsam aber unaufhaltsam damit der handelnde Mensch unfähig wird, in der Welt und an der Welt wirklich zu handeln? Weil wir das „Rohmaterial" nicht mehr als Geschöpf Gottes achten und es seiner hintergründigen Würde entkleiden, darum treiben wir unausgesetzt Raubbau mit der uns anvertrauten Welt und werden immer unfähiger, sie sinnvoll zu gestalten. Als im Jahre 1817 die deutsche Burschenschaft sich zum Kampf gegen die drohende Knechtung und Verfälschung des geistigen Lebens erhob, suchte und fand sie die Weihe zu ihrem politischen Aufbruch in einer gemeinsamen Feier des heiligen Abendmahls. Wie fern lag und liegt heute den Trägern politischer Bewegungen eine solche Verbindung! Wenn wir daran erinnert werden, daß der Gottesdienst des christlichen Abendlandes, die Messe, ihren Namen trägt von der Entlassung am Ende, d. h. von der Sendung in die Welt, so haben wir Mühe, uns diese Beziehung klar zu machen, daß der christliche Altar genau der Ort ist, von dem aus wir gesandt werden in unsern irdischen weltlichen Dienst, und daß dieser Dienst gefährdet, ja, 137

in der Wurzel zerstört wird, wenn er sich nicht mehr von dem Ort des Heiligtums her gesendet weiß. Aber wenn einmal die Einheit und Ganzheit der Wirklichkeit zerbrochen ist, die sich allein der ehrfürchtigen Erkenntnis darbietet, wenn Diesseits und Jenseits und sakrales Handeln sich völlig voneinander gelöst haben, dann geht die Aufspaltung unaufhaltsam weiter und zerstört auch die Einheit der diesseitigen Welt, die der Mensch nüchtern, klug und zweckmäßig gestalten möchte. Er hat es gar nicht mehr mit dem Leben zu tun, sondern mit lauter verschiedenen und voneinander getrennten „Lebensgebieten". Er kann dann immer nur auf einem begrenzten Teilgebiet tätig werden, und diese einzelnen Bereiche sind durch den Drahtverhau einer angeblichen Ordnung wirksam voneinander getrennt. Man hat dafür den schön klingenden Namen der Autonomie erfunden, die allen einzelnen Tätigkeitsbereichen selbstverständlich gebühre. Hinter dieser selbstgefälligen Vokabel verbirgt sich aber die Tatsache, daß nun Wissenschaft und Technik, Industrie, Kunst, Geselligkeit, Politik zu lauter verschiedenen Kraftfeldern werden, auf denen der einzelne sich betätigt, und ein jeder hält, indem er auf einem dieser Gebiete handelt, nur ein Bruchstück des Lebensganzen in der Hand. Jeder Handwerker wird zum Spezialisten, der nur noch einen Handgriff beherrscht und weder weiß, noch danach fragt, mit welchem Stoff der „Kollege" im angrenzenden Saal umgeht, was er macht, und welcher Werkzeuge er sich bedient. Natürlich gibt es auch einzelne, die in verschiedenen „Sparten" Interesse und Geschick bewähren, — aber wenn der Bankdirektor gleichzeitig sich für Kunst interessiert, malt oder Geige spielt, wenn der Gelehrte zugleich in seinen Mußestunden Schreinerarbeiten macht, oder die Hausfrau zugleich Abgeordnete einer politischen Partei ist, oder — der Fall liegt ja nicht wesentlich anders — der Großindustrielle sich für religiöse Fragen interessiert, dann lebt der Mensch in verschiedenen Weltteilen, aber eben dies in dem sehr unheimlichen Sinne der zerteilten, zerbrochenen und zerspaltenen Welt. Aber genauso, wie die christliche Kirche die Teilwahrheit eben nicht als Teil der Wahrheit, sondern als Häresie verdammt, d. h. als eine halbe Wahrheit, die ohne die notwendige andere Hälfte zum ganzen Irrtum wird, so ist das spezialistische Denken und Handeln auf allen Gebieten des Lebens immer bedroht von einem schleichenden Gift, von dem Gift nämlich, daß der Teil für das Ganze genommen wird und, statt seinen Dienst in einem organischen Gefüge zu tun, vielmehr das Ganze wie eine bösartige Geschwulst bedroht. Auf theoretischem Gebiet haben wir dafür die Fremdwörter auf „ismus" erfunden, und alle diese beliebten Vokabeln — sie heißen Materialismus oder Idealismus, Psychologismus oder Militarismus - verraten immer die Ten138

denz, von einem Teilgebiet aus in einem monomanen Fanatismus das Ganze beherrschen und gestalten zu wollen und mit den Mitteln und Methoden, die auf begrenztem Gebiet gut und nützlich sind, alles in der Welt erklären und beherrschen zu wollen. Dieser „Ismus" in jeder Form aber macht den Menschen unfähig für jede wirkliche Gestaltung der Welt, weil er sozusagen wie die furchtbare Pranke eines Raubtieres aus dem schönen vollendeten Leib einen Fetzen Fleisch herausreißt und dadurch das Ganze unheilbar verwundet. Hier ereignet sich auf dem Boden der profanen Weltgestaltung genau das gleiche, was sich auf einer ganz anderen Ebene als Polytheismus darstellt. Denn der mythische Kampf der Götter ist ja der Widerstreit der Mächte, deren der Mensch in seinen verschiedenen und miteinander unvereinbaren Wirklichkeitserfahrungen inne geworden ist. Jeder Gott wacht eifersüchtig über seine Ehre und raubt sozusagen die Opfer, die auf einem anderen Altar einem anderen Gott dargebracht werden. Wer nur einfach als aufgeklärter Mensch nicht mehr an die Götter glaubt, soll nicht wähnen, damit die tiefe Lebensbedrohung zu bannen, die aus diesem Kampf der Götter auf uns zukommt. So billig ist die Absage an die Götter nicht zu vollziehen. Der Widerstreit jedes Teils gegen das Ganze und der Kampf der Teile untereinander wandelt nur Gestalt und Namen, aber er frißt weiter und verdirbt die Kraft echter Gestaltung. Man ist versucht zu sagen, der verhängnisvolle Kampf der verschiedenen „Ressorts", der verschiedenen Amtsstellen, die Zusammenhangslosigkeit und Beziehungslosigkeit, mit der ganz verschiedene Amter, Dienststellen, Ausschüsse und Organisationen ihre eigene kleine Politik machen, dies alles sei die bürokratische Form des Polytheismus. Oder um es in einem anderen Bilde noch deutlicher auszudrücken: Ärzte versichern uns, daß es, soweit unsere Kenntnis reicht, zu keiner früheren Zeit so viele Krebskranke gegeben habe wie heute, daß also der Krebs sozusagen die dem heutigen Menschen besonders anhaftende Modekrankheit sei. Kann man sich darüber wundern? Das Krebsgeschwür, das nicht mehr im Zellenverband des gesunden Organismus, sondern eigenmächtig und auf Kosten des Ganzen drauflos wuchert, ist das genaue Symbol dessen, was wir auf dem Boden dieser zerspaltenen Welt Weltgestaltung nennen. Wir handeln, handeln, handeln und ersticken damit die lebendige Wirklichkeit. Es ist freilich erschreckend, wenn man die geistige Krisis der Gegenwart einmal unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen sucht, wie vieles in unseren Erfindungen, in unserer Technik, in unserer Politik nichts anderes ist als ein Krebsgeschwür mehr am Leibe der Menschheit. 139

Es wäre undankbar, in diesem Augenblick zu vergessen oder zu verschweigen, an wie vielen Stellen heute diese Einsicht aufgebrochen ist und darum auch ernstlich versucht wird, den Schaden an der Wurzel zu heilen. Da und dort treten Menschen zusammen, nicht nur zu Arbeitsgemeinschaften, sondern (was ja keineswegs das Gleiche ist) zu gemeinsamer Arbeit. Menschen verschiedener Herkunft, verschiedener Aufgabenkreise, auch verschiedener theoretischer Überzeugungen suchen einander und kommen miteinander ins Gespräch. Die Erkenntnis, daß das Spezialistentum nicht nur unsere theoretische Erkenntnis, sondern auch unser praktisches Handeln an einen toten Punkt führt, oder — was schlimmer ist — es lähmt und vergiftet, treibt die Menschen zusammen. Unsere Universitäten, die in der vergangenen Zeit auf dem Wege waren, nur organisatorisch zusammengefaßte höhere Fachschulen zu werden, besinnen sich mit großem Ernst auf die Aufgabe einer echten Universitas. Der Versuch, wie ihn etwa Tübingen unternommen hat, einen Wochentag von Fachvorlesungen gänzlich freizuhalten und an diesem Tag „Hörer aller Fakultäten" um die großen, sie gemeinsam bewegenden oder doch sie gemeinsam angehenden Fragen zu sammeln, ist ein Symptom dieses Wunsches, zunächst an dem Ort der Forschung das Auseinanderstrebende zu einer neuen Einheit zusammenzuführen. Der ehrwürdige Name einer „Akademie", vielfach nur für Lehrstätten, ja für gehobene Volkshochschulen mißbraucht, kommt in seinem ursprünglichen Sinn da und dort wieder zu seinem Recht: als der Ort einer Begegnung, wo der Physiker und der Mathematiker, der Historiker und der Soziologe, der Sprachforscher und der Theologe in eine Lebensgemeinschaft miteinander treten, um im echten Gespräch einander zu helfen, einander zu fragen und miteinander zu erkennen. Müssen solche Versuche heute noch sehr einsam sein, kleine und noch kaum wahrnehmbare Inseln, die sich aus dem Ozean der einander überschlagenden Wellen erheben, mag auch vieles davon noch auf der Ebene der theoretischen Frage, der „bloßen" Erkenntnis bleiben, ohne Kraft und Verheißung, heute das praktische Handeln im Kleinen und im Großen zu ordnen und zu heilen — es ist doch ein Anfang, ein Anfang der Genesung, ein Zeichen der Hoffnung in der bedrohlichen Krisis. Und wie anders sollten wir denn Buße tun, als daß wir zunächst in unserem Denken umkehren und lernen, aus dem Ganzen statt aus den Teilen zu denken? Wenn hier sich die Krisis zur Gesundung wendet, dann wird sich diese Genesung auch auswirken, irgendwann im praktischen Handeln bis hin zu den großen Entscheidungen der Politik.

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m. Dies zwiefache Versagen in dem Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit in Erkenntnis und Gestaltung wirkt sich zwangsläufig darin aus, daß der Mensch auch in der Aufgabe des menschlichen Miteinander versagt. Denn mit der gleichen unausweichlichen Dringlichkeit, mit der der Mensch in die Wirklichkeit der Welt gestellt ist mit dem Auftrag, sie zu erkennen und sie zu gestalten, ist er zwischen seine Mitmenschen gestellt mit dem ebenso unabweisbaren Auftrag, dieser sehr menschlichen Mitwelt standzuhalten und in der Verbundenheit mit ihr zu leben. Es ist aber offenbar, daß der Mensch, wie er in der Entwicklung des Abendlandes geworden ist, dieser Aufgabe in einer sehr unheimlichen Weise nicht mehr gerecht wird, ja, ständig gegen diese Aufgabe rebelliert und darum natürlich erst recht an ihr zu schänden — buchstäblich: zu schänden — wird Die Katastrophe des Abendlandes, in die das gegenwärtige Geschlecht gestürzt ist, ist vor allem anderen eine Katastrophe des menschlichen Zusammenlebens. Wir verleugnen und verraten den neben uns lebenden Menschen ebenso, wie wir die Wirklichkeit und Einheit der Welt verleugnen und verraten. Viele Sprachen, darunter auch die deutsche, bezeichnen den neben uns lebenden Menschen, dem wir begegnen und mit dem wir in Beziehung treten, als den „anderen". Die Sprache drückt damit den elementaren Sachverhalt aus, daß wir Menschen einander nicht gleich sind, daß wir uns wie in der leiblichen Gestalt so auch in unserem seelischen Sein und Schicksal von einander unterscheiden, daß also, um es kurz zu sagen, der andere wirklich ein anderer ist. Dies nicht nur zu sehen, sondern auch anzuerkennen und anzunehmen, ist offenbar das allererste Erfordernis jedes menschlichen Miteinander. Gleichheit gibt es nur im toten Stoff. Die Serienfabrikation industrieller Massenartikel oder Typenware ist der einzige Raum, in dem das Ideal der Gleichheit annähernd verwirklicht werden kann. Alles Lebendige ist verschieden in einer unendlichen Mannigfaltigkeit wie die Blätter eines Baumes, wie die berühmten Linien einer Hand, die so verschieden sind, daß ihre Beobachtung jede Verwechslung des einen mit dem anderen Individuum ausschließt. Man soll nicht allgemein behaupten, der Mensch als solcher revolutioniere gegen diese Verschiedenheit. Es gibt ein lebendiges Menschentum, dem eine unmittelbare Freude an dem Dasein des anderen und an der Begegnung mit diesem anderen innewohnt, eine schöne eigene Sicherheit, die weder neidisch nach dem schielt, das des anderen ist, noch auch gewalttätig den anderen dem Maß des eigenen Seins unterwerfen möchte. Viele von uns tragen in ihrem Herzen noch das Straßenbild unserer geliebten alten 141

Städte als ein beglückendes Bild dieser lebendigen Einheit in der lebendigen Vielfalt, und es ist ein unsagbarer Verlust, daß wir dem heranwachsenden Geschlecht nicht mehr an diesem Bild zu zeigen vermögen, wie die echte menschliche Gemeinschaft sich darstellt. Immerhin einige Straßenbilder mögen uns geblieben sein, die jene schöne, zugleich bedächtige und heiter geschwungene Linie der Häuser zeigt, wo ein Haus sich an das andere reiht, jedes in seiner eigentümlichen Gestalt, anders in Giebel, Fensterflucht, Tor und Erker, und doch alle zusammen in selbstverständlicher Gemeinschaft, die auch durch die Streitigkeiten, die die Bewohner damals wie heute untereinander gehabt haben mögen, nicht aufgelöst wird. Wir aber haben uns angewöhnt, es sozusagen dem anderen übel zu nehmen, daß er der andere ist. Es ist nicht unsere Aufgabe, historisch zu untersuchen, woher dieser Ungeist der Gleichmacherei in uns gefahren ist, der jedes echte menschliche Miteinander verleugnet und zerstört. Man kann natürlich sagen, und wir werden keinen Augenblick vergessen, daß mit dem Sündenfall schon von allem Anfang an dieser Bruderzwist zwischen den Söhnen Adams da ist, und die Geschichte von Kain, der seinen Bruder Abel totgeschlagen hat, weil er ihn, den anderen, nicht ertrug, bewahrt uns davor, irgendeine Vergangenheit romantisch zu idealisieren, als ob da alles menschliche Miteinander in Ordnung gewesen wäre. Aber diese wichtige Einsicht, daß mit der Sünde selbst, mit dem Abfall von Gott, auch das menschliche Miteinander seine Ordnung verloren hat, darf nicht zu einer bequemen Formel werden, die uns gleichgültig macht gegen die konkrete Gestalt dieser Sündhaftigkeit. Wenn die lebendige Spannung des Verschiedenen in das Ideal der Gleichheit verfälscht wird, wenn der fromme Glaube, daß Gott die Person nicht ansieht, und daß in diesem Sinn die Menschen vor Gott gleich sind, umgebogen wird in ein Programm, wonach die Menschen auf Erden einander möglichst gleich sein sollten, ihre äußere Lage, und wenn es sein kann, auch der Inhalt ihrer Seelen möglichst wenig Unterschiede mehr zeigen solle, dann allerdings ist das Verkehrte zum Prinzip erhoben und im schlechtesten Sinn die Not in eine Tugend umgelogen. Wir alle sind von dieser verkehrten Denkweise so sehr angesteckt, daß wir kaum mehr bemerken, welchem Verderben wir damit alle Schleusen geöffnet haben, und welcher tiefe Haß gegen das Leben all diesem Aberglauben an die Organisation innewohnt. Eine lateinische Redewendung, deren Ursprung mir unbekannt ist, drückt genau das aus, was hier gemeint ist: „propter vitam vitae perdere causas", d. h. um des Lebens willen die Wurzeln des Lebens zerstören. Während man vorgibt, das Leben zu retten und vielleicht sogar ernstlich des Glaubens ist, man diene dem Leben, verstopft man mit fanatischer Gründlichkeit die Quellen, aus 142

denen das Leben sich speist. Man spürt, daß das Leben, daß jede menschliche Gemeinschaft in Gefahr ist, zu zerbrechen. Man will diesen Auflösungsprozeß aufhalten und weiß nichts anderes, als zu organisieren, d. h. aber, man zerschlägt ahnungslos die letzten Reste gewachsener Gemeinschaft, um aus den atomisierten Einzelnen irgendeine Art künstlicher „Gemeinschaft" zu schaffen. Aber diese unter den verschiedensten Gesichtspunkten organisierten Menschen sehen ja nun gar nicht mehr den anderen. Sie begegnen ihm gar nicht mehr in lebendigem Austausch, und sei es selbst im ehrlichen Kampf, sondern sie hassen einander, oder, was vielleicht noch furchtbarer ist, sie haben überhaupt keine Beziehung mehr zueinander. Hier wird der Mensch ganz in der Tiefe entwurzelt und vergewaltigt, und die gängigen Schlagworte, unter denen dieser Organisationswahn sich aller menschlichen Gebiete bemächtigen will, täuschen die Massen darüber hinweg, daß hier wirklich um des Lebens willen die Quellen des Lebens verschüttet werden. Denn wenn diese Organisationen zerbrechen, dann wird plötzlich erschreckend offenbar, wie wenig sie die Menschen innerlich einander gebunden haben, und es entbrennt nun der Kampf aller gegen alle. Wir haben allen Anlaß, uns gegen die Unterstellung zu verwahren, als ob dieses Ideal der Gleichheit und dieser naive Glaube an die Kraft der Organisation irgend etwas mit der im Namen Christi gepredigten Liebe zu tun hätte. Die Liebe, von der das Neue Testament redet, hat ihr Urbild in der Liebe, mit der Gott sich der Welt verbindet. Da aber diese Welt weder göttlich ist noch Gott irgend etwas darzubieten vermag, das der göttlichen Liebe würdig wäre, so ist diese Liebe Gottes ein für allemal das Wunder jener unbegreiflichen Bewegung, in der Gott sich der Welt zuwendet, obschon sie in einem radikalen Sinn anders ist als er. Die Liebe Christi zu den Seinen wahrt so sehr den Abstand, daß er es vermeidet, sich jemals mit diesen Anderen in einem brüderlichen Wir zusammenzuschließen. Das heißt aber: diese Liebe ist immer die Liebe zum Anderen, nicht das natürliche Zusammengehörigkeitsgefühl des Gleichartigen, sondern die Bereitschaft, den unbequemen, vielleicht unerfreulichen, vielleicht sogar feindseligen Anderen als den uns zugewiesenen Bruder zu nehmen und anzunehmen. Die christliche Gemeinde ist in ihrem Kern und Wesen eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern. Aber ihre Glieder sind Brüder und Schwestern nicht deswegen, weil sie einander in irgendeinem Sinn menschlich ähnlich, gesinnungsverwandt oder gar einander sympathisch wären, sondern deswegen, weil sie jenseits aller ihrer Verschiedenheiten in der Liebe Gottes zusammengehalten und an einander gewiesen sind. Mit dem Glauben an die erlösende Liebe Gottes verfällt notwendig auch die Kraft menschlicher Gemeinschaft, 143

und an die Stelle der wirklichen Liebe zu dem wirklichen Menschen treten jene Surrogate, die den Mangel verdecken und verewigen. Die allgemeine Menschenliebe ist keine christliche Idee; sie ist die pathetische Ausrede derer, die sich der konkreten Nächstenliebe entziehen wollen. Man kann in einer gefühlsmäßigen Übersteigerung versichern, man wolle die Millionen umschlingen, und dabei ein ganz unleidlicher Mensch sein, der in jeder konkreten Aufgabe des menschlichen Miteinander peinlich versagt. — Jede Heilung und Genesung ist ein Geschenk Gottes, und so wie am Krankenbett der fromme Arzt weiß, daß alles, was er kann und tut, des Segens bedarf und ohne diesen Segen vergebliche Mühe bleibt, so wissen auch wir, daß wir im letzten Grunde in der Krisis des menschlichen Lebens nur beten können: „Heile Du uns, Herr, so werden wir heil! Hilf Du uns, so ist uns geholfen." Aber nachdem dies in allem Ernst gesagt ist, darf doch noch etwas anderes dazu gesagt werden: Das Alte Testament erzählte die Geschichte von Sodom und Gomorrha und von dem Gespräch, in dem Abraham mit Gott rang um die Rettung der großen Stadt. Wenn ein paar Gerechte darin zu finden wären, dann wollte Gott um dieser Wenigen willen, die an dem Verderben nicht teilhaben, die Stadt schonen. So wichtig also ist es, daß ein paar Einsichtige da seien, die vielleicht nicht besser sind als die anderen, die aber wissen, um was es geht, die — um es ganz schlicht zu sagen — den Weg des Lebens von dem Weg des Todes unterscheiden können. So sehr kommt es auf den einzelnen an in dieser tödlichen Krisis des Menschen! Aus einem Gefangenenlager schrieb einer nach Hause, verzweifelt und ratlos über manches, was er aus der Heimat gehört hatte: „Wo ist ein Haufe, der in Ordnung ist?" Diese Frage läßt den, dem sie einmal ins Herz und ins Gewissen gefahren ist, nicht mehr los. Die Frage nach der geistigen Krisis der Gegenwart wird nicht mit einer historischen oder psychologischen Untersuchung beantwortet, in der wir als unbeteiligte Zuschauer verharren könnten, sondern weil es um Tod und Leben geht, sind wir gefragt und geben die Frage weiten Wo ist ein Haufe, wo bildet sich ein Haufe, der in Ordnung ist?

2. NIHILISMUS GEFAHR UND VERHEISSUNG Indem wir Gefahr und Verheißung eng aneinander rücken, bekennen wir uns zu dem Glauben, daß es keine Tiefe menschlicher Not gibt, über die nicht auch eine Verheißung sich wölbt wie der Bogen des Friedens über der sturmgepeitschten Erde; und zu der Einsicht, daß keine Verheißung 144

sich erfüllen kann, solange sich der Mensch irgendwie täuscht über die Tiefe seiner Not und über die Größe seiner Gefahr. Welches ist die Gefahr, in die wir geraten sind, und welche Verheißung ist uns in dieser Gefahr gegeben? Indem wir von der Gefahr unserer Lage sprechen, ist viel mehr noch die innere als die äußere Lage gemeint. Aber vielleicht ist es nicht einmal erlaubt, die äußere und die innere Lage, in der wir uns befinden, in solcher Weise voneinander zu unterscheiden. Begreifen wir, was uns widerfährt, wenn wir vermeinen, wir hätten es nur mit einem unberechenbaren und sinnlosen Weltlauf zu tun, oder wir seien nur das unschuldige Opfer der Bosheit und Torheit von Menschen? Ist nicht eben dies der erste Schritt heilsamer Erkenntnis, daß wir auch die ärgste äußere Not als das Spiegelbild unserer inneren Lage zu sehen bereit sind? Dieser Zusammenhang besteht auch dann, wenn er nur wenigen zum Bewußtsein kommt. Es gibt ein Wort indischer Weisheit, in dem diese geheimnisvolle Zuordnung des äußeren Geschehens zu der inneren Verfassung des Menschen (oder der Völker) einen fast erschreckenden Ausdruck findet: „Immer nur kann dir widerfahren, was du selber bist." In dem ungeheuren Zerfall überkommener Ordnung, den das heute lebende Geschlecht erleidet, bricht eine innere Entwicklung langer Jahrzehnte oder Jahrhunderte, in denen die abendländische Menschheit sich immer weiter von den tragenden und heilenden Kräften der göttlichen Wirklichkeit entfernt hat, endlich auch durch in die Welt der äußeren Ereignisse. Nie werde ich vergessen, mit welchen Gedanken und Gefühlen ich in einem der ersten Kriegsjahre zum erstenmal durch eine der Ruinenstraßen gegangen bin, an die wir uns seither so furchtbar gewöhnt haben. Mit jener jähen Deutlichkeit, die keinen Widerspruch duldet, überfiel mich damals die Erkenntnis, daß diese geborstenen Mauern, diese gespenstischen Wände, diese leeren Höhlen des Grauens das echte Symbol dafür waren und sind, daß das geistige Haus, in dem wir gewähnt hatten, Dauer und Sicherheit unserer menschlichen Existenz zu haben, zerbrochen ist, und daß wir aus jeder scheinbar sicheren Wohnung auf das freie Feld der nackten Existenz herausgeschleudert sind, wo keine aus gesicherten Erkenntnissen gebauten und mit freundlichen Theorien tapezierten Wände uns mehr schützen vor der Gewalt der elementarischen Ereignisse. Das Menschenbild, das Bild des Menschen in uns war zerstört, längst ehe unsere Städte barsten und verbrannten. Längst ehe die Völker Europas in dieser grauenhaften Weise aus ihren Wohnsitzen gerissen wurden und in einer großen und schrecklichen Völkerwanderung ihre Heimat verloren, hatten sie seelisch und geistig ihre Heimat verlassen und verloren und waren auf endlosen und mühseligen 145

Straßen unterwegs, sei es, um einen neuen, noch nicht sichtbaren Boden unter die Füße zu bekommen, oder um im Elend zu verkommen. Wem es auferlegt ist, das sichtbare Zeichen mit visionärer Deutlichkeit als Symbol zu schauen, der mag sich unter solcher Einsicht krümmen wie ein getretener Wurm, aber er kann nie mehr vergessen oder verleugnen, was er weiß. Und wer Jahre lang seine Einsicht im schweigenden Herzen hüten muß, wird ihr umso unentrinnbarer verpflichtet. Es ist ein Anfang und ein erster Schritt zur Genesung, wenn wir schaudernd erkennen, wie sehr wahr das ist: „Immer nur kann dir widerfahren, was du selber bist!" I. Wer nicht nur seiner äußeren Gestalt nach beschreiben, sondern in seinem Sinn deuten will, was wir heute erleben, dem bieten sich mythische Bilder dar, weil ja in dieser mythischen Redeweise solche Urerfahrungen sich spiegeln. Die „Götterdämmerung" ist aus dem Bereich einer fernen mythischen Phantasie in den Bereich unserer unmittelbaren Erfahrung gerückt. Die Vorstellung von einer Katastrophe, einem Erdbeben gleichsam im Bereich der metaphysischen Mächte, entspringt dem sehr unheimlichen Wissen, daß die Macht der Götter begrenzt ist und daß die Menschen hineingerissen werden in den Sturz der Götter, an die sie geglaubt haben. Die innere Geschichte der abendländischen Menschheit — unser Volk ist dabei nicht so isoliert, wie es uns manchmal erscheinen möchte, und hat nur alles besonders intensiv, mit einem stellvertretenden Radikalismus durchlitten und vollzogen —, diese innere Geschichte der letzten Jahrhunderte ist bezeichnet durch den Gegensatz zwischen einer vollendeten Diesseitigkeit aller Lebensbereiche und einem neuaufbrechenden Kultus göttlicher Mächte. Was wir in den herkömmlichen Geschichtsdarstellungen als den Beginn der „Neuzeit" gepriesen haben, als die allmähliche Überwindung mittelalterlicher Bindungen, als die sieghafte Befreiung des menschlichen Geistes und der menschlichen Weltgestaltung aus dem Dunkel des Wahns, das ist, von der anderen Seite her gesehen, das zunehmende Schwinden jedes metaphysischen Bewußtseins, die Loslösung des autonomen Menschen und aller Lebensbereiche aus dem verpflichtenden Glauben an eine höhere göttlich-geistliche Welt, von der der Mensch ebenso seine allein gültige Würde wie den Auftrag zu seinem irdischen Dienst empfängt. Man kann sich diese Wandlung an einem Beispiel aus der Geschichte der Malerei verdeutlichen. Die mittelalterlichen Meister haben ihre Figuren auf Goldgrund gemalt, und sie haben ihre Gestalten, auch kleine Szenen, ohne alle Perspektive auf 146

diesen goldenen Hintergrund gestellt. Das war nicht eine technische Manier, die vielleicht nur darin ihren Grund hatte, daß jene Maler noch nicht fähig waren, einen anderen Hintergrund zu malen, sondern diese Meister haben genau das dargestellt, was sie gesehen haben: sie sahen den Menschen auf dem Hintergrund einer jenseitigen, ewigen und gültigen Ordnung, für die ihnen das geheimnisvoll durchsichtige Gold ein echtes Symbol war. Dann aber lernten sie — und wie sehr sind wir angeleitet worden, das als einen großen Fortschritt zu preisen! - Räume mit perspektivischen Linien, Landschaften mit Vordergrund und Hintergrund zu malen, und waren eifrig, den Menschen in diesen perspektivischen Raum mit drei Dimensionen hineinzustellen. Aber im gleichen Maße verschwand das Gold jener metaphysischen Hintergründe. Blickund Sehvermögen ist ausschließlich der diesseitigen „Wirklichkeit" zugewendet und verliert das Vermögen, den Menschen und seine irdische Geschichte im Zusammenhang einer jenseitigen „himmlischen" Welt, als den Kampfplatz und Kampfpreis zwischen Engeln und Dämonen zu schauen. Diese folgenschwere Wandlung, die um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts sich schon ankündigt, in der Renaissance als ein neues Lebens-und Weltgefühl die ersten stolzen Triumphe feiert und dann in der Aufklärung - beidemal etwa im Abstand von 250 Jahren - in der ganzen Breite der Bildung und öffentlichen Lebensgestaltung sich durchsetzt, diese große Wandlung zur Profanität ist die Voraussetzung alles dessen, was wir seit langen, langen Jahren erlebt haben. Doch scheint ein tiefes und unentrinnbares Gesetz zu bestehen, wonach der Mensch es auf die Dauer in der reinen Profanität, in der vollkommenen Diesseitigkeit nicht aushält, sondern eben in diesem gründlich entgötterten Raum, heimlich und vielleicht auch sich selbst unbewußt, von neuem den Göttern sich zuwendet und in den seltsamsten Verkleidungen sich ihrer Macht vergewissern und ihnen huldigen möchte. Denn was sind „Götter"? Das aufgeklärte Denken, in dem wir erzogen sind, hat uns zu der Meinung verführt, die „Götter" der „Heiden" seien unwirkliche Schöpfungen ihrer Phantasie, Spiegelung von Vorgängen, Ideen und Wünschen innerhalb des Menschen, und durch die fortschreitende Durchleuchtung der Welt mit dem hellen Licht wissenschaftlicher Erkenntnis würden diese gespenstischen Gestalten allmählich in das Nichts aufgelöst, dem sie entstammen. Wir — oder doch wenigstens einige von uns — wissen heute, wie wenig diese ganze Denkweise der Größe und Würde echten Heidentums gerecht wird. In den Göttern, an die Menschen wirklich geglaubt haben, spiegeln sich bestimmte Wirklichkeitserfahrungen. Sie sind Bilder und Namen für Mächte, die auf unser Leben wirken, und denen wir begegnen auf dem Weg der Begegnung mit 147

der wirklichen Welt. Zeus und Poseidon, Apoll und Dionysos, Odin und Thor, Wischnu und Kali und wie sie alle heißen mögen: in all diesen mythischen Gestalten sind furchterregende oder vertrauenerweckende Erfahrungen verborgen. Und was die Menschen von ihren Göttern erzählten, das war die einzig angemessene Form, in der sie ihre Erfahrungen von einer tieferen Weltwirklichkeit auszusprechen vermochten. Die Vielzahl der Götter und ihr Widerstreit ist der echte Ausdruck für die Vielgestaltigkeit und den inneren Widerstreit der Mächte und der Erfahrungen, die dem Menschen in der Begegnung mit diesen Mächten zuteil werden. Der Polytheismus, die „Vielgötterei", ist nach den heutigen religionsgeschichtlichen Erkenntnissen nicht etwa die ursprüngliche Form religiöser Erfahrung, sondern vielmehr die Folge davon, daß die ursprüngliche Einheit des Welterlebnisses auseinandergebrochen ist in eine Vielzahl von Erfahrungen, die sich in der menschlichen Seele nicht mehr zu einer großen Einheit zusammenfinden, sondern einander bekämpfen, so wie die Götter miteinander hadern und einander die Macht neiden. In dem Ludus de Antichristo, jenem großen dramatisch-liturgischen Gedicht aus der Zeit Barbarossas, in dem sich das Welt- und Geschichtsverständnis des deutschen Mittelalters einen großartigen Ausdruck geschaffen hat, rühmt der Chor der Heidenschaft gegen den Chor der Synagoge und gegen den Chor der Ekklesia gerade die Vielzahl der Götter als das, was der Wirklichkeit der Welt gemäß ist, und macht den Glauben an den einen Gott lächerlich, weil dieser eine Gott ja den Widerspruch in sich selber tragen müßte. Die Erfahrung des Widerstreites, daß nämlich die Rechnung der Wirklichkeitserfahrung in keiner Weise aufgeht und sich nicht einer harmonischen Gesamtschau ohne Bruch und Widerspruch einfügen läßt, ist eine nicht wegzudenkende Voraussetzung alles heidnischen Lebensgefühls und Götterglaubens. Aber zugleich wird eine andere Tendenz mächtig und wirksam, die jenen Zwiespalt der vielen „Götter" in einer merkwürdigen Weise verdeckt. In der ganzen Welt des Polytheismus beobachten wir in der vielfältigsten Form die Neigung, daß an einem bestimmten Ort ein einzelner Gott alle anderen Götter und sein Kultus den Kultus der anderen Götter verdrängt. Die „Monolatrie", die Verehrung eines einzelnen Gottes, ist der gelehrte Name für diese Tendenz. Es wird nicht geleugnet, daß es viele Götter gibt, aber hier, in diesem Volk, an diesem Ort soll nur dieser eine Gott verehrt, nur ihm gedient werden, und im Namen des „eigenen" Gottes bekämpft ein Volk die anderen Völker samt ihren, den fremden Göttern. Darin spiegelt sich im mythisch-kultischen Raum die Tendenz, daß ein Teil, eine Seite der erfahrenen Wirklichkeit alle anderen Erfahrungen überdeckt und dieser Teil der Wirklichkeit für die ganze Wirk148

lichkeit genommen wird. So wie der Streit der Götter auf dem Rücken der Menschen ausgetragen wird, so will sich ein Gott des Menschen ganz bemächtigen, sein Herz, seinen Willen und seine Kräfte ganz in seinen Dienst ziehen, auf Kosten aller der anderen Götter, deren Bild und Macht an den Rand gedrängt wird. Das schöne Maß, das jede erfahrene Wirklichkeit durch die andere und weitere Wirklichkeit begrenzt, geht verloren. Es wird alles maßlos und „vermessen" in dem Fanatismus, zu dem der gewalttätige und herrschsüchtige Gott seine Diener entflammt; der fanatische Mensch ist das Bild seines Gottes, dem er sich hingegeben hat, des Gottes, der nicht als der Herr der ganzen Welt seine alleinige Ehre verteidigt gegen die falschen Götter, die etwas sein wollen neben ihm, sondern der Gott, der die Herrschaft an sich reißt, die ihm nicht gebührt. Der fanatische Diener des einen und eifersüchtigen Gottes zerreißt das Ganze, die Einheit und Ganzheit des Menschen ebenso, wie die Einheit und Ganzheit der Welt, in einer mörderischen Tyrannei des Teiles über das Ganze. Ist damit nicht ein wesentliches Stück der inneren Geschichte der abendländischen Menschheit in den letzten Jahrhunderten beschrieben? Denn in dem profanen Raum, auf dem Boden eines rein diesseitigen Lebensgefühls, ist mit der echten Gotteserfahrung zugleich die Mitte verlorengegangen, in der die Vielheit der Wirklichkeitserfahrung und Weltbeziehung zusammengehalten wird. So wie im Raum der Kirche überall da, wo nicht mehr der eine dreieinige Gott bekannt wird, entweder die Einheit oder die Fülle der Gotteserfahrung verloren geht, so muß auf dem Boden dieses rein diesseitigen Denkens die Fähigkeit, ja die objektive Möglichkeit verkümmern, das Ganze der Welt gläubig und gehorsam zusammenzuschauen. Der zerstörerische Kampf aller gegen alle, in dem buchstäblich kein Stein auf dem anderen bleibt, ist die notwendige Folge oder vielmehr die sichtbare Form jener inneren Zerrissenheit, in der jeder mit jedem entzweit und jeder in sich selber zerspalten ist. Dieses Bild wird noch deutlicher, wenn wir auf den einen großen Gegensatz achten, der für den modernen Menschen — keineswegs für die Menschen aller Zeiten! - die gesamte Wirklichkeit in zwei widerstreitende Mächte auseinanderbrechen läßt und der sich in allen möglichen Mythologien als der Zwiespalt der „oberen" und „unteren" Götter darstellt. Da sind die Götter des Lichtes, des Geistes, der Ordnung, und die Götter der unheimlichen Tiefe, des Meeres und der Unterwelt, die Götter des Blutes und des Rausches: Apoll und Dionysos, Athene und die „große Mutter", und entsprechend (wenn auch in vielem sehr anders) auf germanischem Boden, die Asen und die Riesen, Baidur und Loki. Kann man die Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wirklich begreifen, 149

wenn man sie nicht auf dem Hintergrund dieses Kampfes zwischen den „oberen" und „unteren" Göttern zu verstehen sucht? Es könnte scheinen, als hätte sich die aufgeklärte Menschheit ganz und gar den Mächten des Geistes, des Lichtes verschrieben. Denn zu der gleichen Zeit, da man selbstverständlich Zeus, Apoll und Athene für bloße „Vorstellungen" der religiösen Phantasie hielt, für Bilder ohne Wirklichkeit, baute die moderne Kultur eben den Mächten prunkvolle Altäre, die früher in der Gestalt jener Götter verehrt worden waren. Die unteren Götter, die wilden Mächte der ungebändigten Urkraft, des Chaos und des Grauens waren in einer stolzen Gigantomachie (Kampf mit den Riesen) in die Unterwelt verbannt, daß sie das Werk der Vernunft und der Organisation nicht mehr stören könnten. Der „Geist" löste sich aus dem Ganzen der Welt. In der schönen hellerleuchteten Bel-Etage des großen Weltenhauses kann man vergessen, daß das Haus auch dunkle Kellerräume hat, von denen man nie genau weiß, was etwa noch darin ist. Die Ideen reißen die Herrschaft über Denken und Leben an sich, und der Idealismus, der an den Sieg des Geistes über alle naturhaften Mächte glaubt, wird zum Religionsersatz, richtiger zu der Ersatz-Religion, zu dem heimlichen Gott, dem prunkvolle Bildungstempel errichtet werden und dessen Kultus mit einem großen und wortreichen Zeremoniell vollzogen wird. Die Prediger und Priester dieser Geheimreligion aller Gebildeten gelten als die eigentlichen Träger der Kultur. Wieder eine Parallele aus der Religionsgeschichte: Es ist selten ein einzelner Gott, der in solcher Weise die Alleinherrschaft gewinnt, sondern zumeist eine Schar verwandter und ähnlicher Götter, sozusagen eine Göttersippe, die das religiöse Angesicht einer Zeit oder einer Landschaft bestimmt. So auch in dieser neuen Verehrung der Götter des Geistes. Da ist das „wissenschaftlich gesicherte Weltbild" (ein sehr gewalttätiger und unduldsamer Gott), das rationale Denkgesetz, das dem „Gefühl" nicht erlaubt, sich in die Fragen der Erkenntnis oder der Weltgestaltung einzuschalten, und alles als „Mystizismus" verachtet, was es selber nicht verdauen kann. Die abstrakten Begriffe übernehmen die Rolle, die einst die Götter gespielt haben. Nicht mehr dem Mysterium, sondern dem Begriff und der Idee werden Altäre gebaut und Weihrauch entzündet. Das gilt ebenso für das theoretische Denken wie für das praktische Handeln in Wirtschaft und Politik. Den Theorien werden Opfer dargebracht ohne Ende, sie heißen nun „Fortschritt" oder „Volk" oder „Sozialismus" oder welcher „Ismus" es immer sei. Die „Ismen" sind die Götter dieses Zeitalters. Insbesondere seit der französischen Revolution von 1789 haben die „Ideen" (wofür „Frei>beit, Gleich^«'/ und Brüderlich^«/" nur die bekanntesten Beispiele sind), die Herrschaft über die Seelen der Masse angetreten, und es sind 150

die Seltenen und Wenigen, von denen man sagen könnte, was Karl Spitteier vor mehr als einem Menschenalter, von Prometheus und Epimetheus rühmte: „Und waren auch von Her2en feind den Götzen ,Heit' und ,Keit'!" Es ist aber das gemeinsame Kennzeichen aller dieser Ismen, daß sie gewalttätig den Geist losreißen aus der Fülle durchbluteter Wirklichkeit und ihre Gläubigen verführen, die Wirklichkeit durch einen seltsamen Uberbau zu ersetzen. Wo diese Götter walten, da wird das ganze Verhältnis zur Wirklichkeit literarisch und ideologisch verfälscht, weil dieser Gott dem Menschen nicht mehr gestattet, das Ganze in seiner lebendigen Fülle zu sehen und ihm standzuhalten. Wer den Tempel dieser „oberen" Götter betritt, zieht an der Schwelle nicht nur die Schuhe aus, mit denen er den heiligen Bezirk beschmutzen könnte, sondern er läßt den Boden zurück, auf dem er gestanden, und die Luft, die er geatmet hat, und er schwebt, von seiner Idee berückt, im luftleeren Raum der Unwirklichkeit. Aber genau das gleiche geschieht auf einer anderen Seite, wo der Mensch statt der „oberen" die „unteren" Götter als seine Herren ehrt. Vieles, was wir in den letzten Jahren im geistigen Raum erlebt haben, ist eine Art Religionswechsel, bei dem der Kultus der oberen Götter mit dem Kultus der unteren Götter vertauscht wurde. Philosophen verkündeten, wie gefährlich der Geist für Seele und Leben sei, und priesen die dunklen Abgründe und das Tier in seiner herrlichen Wildheit, und nur allzu bereitwillig verfielen Politiker und andere in ihrem praktischen Verhalten dem Kultus der zeugenden Kraft. Mit einem Mal verstanden wir, was wir nie hatten begreifen können, warum die Kinder Israel so schnell von der Verehrung des strengen Gottes der zehn Gebote zu der Anbetung des goldenen Stierbildes abfallen konnten, und warum die Kultur des Baal, des gewaltigen Stieres, eine so verführerische Möglichkeit war, freilich auch, warum Elia mit einem so gewaltigen Zorn gegen die Baalspfaffen geeifert hat. Wir haben ja selbst den Baalskultus erlebt, die enthusiastische Verehrung der Götter des Bodens und der Fruchbarkeit, des Blutes und des Rausches. Der Gott Eros und der Gott Sexus, deren Macht man so stark in sich selber verspüren kann, hatten mehr Gewalt über Leben und Leiber als der Gott, vor dem wir verdammte Sünder sind und von dem wir Vergebung und Erlösung erbitten müssen. Niemals ist offenbarer geworden als hier, wie unheimlich nahe profane und „religiöse" Haltung einander sein können: Scheinbar ganz „säkulare" Handlungen im Raum des Staates und der Wirtschaft entpuppten sich dem tiefer Schauenden mit einem Male in ihrem religiösen oder vielmehr dämonischen Sinn: politische Aufmärsche und Versammlungen, Fahnen und Abzeichen, Grußformeln und Lieder waren Kulthandlungen am Opferaltar 151

eines blutgierigen Gottes. Der Sinn für die unteilbare Ganzheit des Lebens und die darin geltenden Maße ist geschwunden. Die animalischen Kräfte des Bios erscheinen als das Eigentliche und Wesentliche in dem Menschen, und in der Freude an der Entdeckung der biologischen Gesetze, die in dem Menschen wie in allem Lebendigen walten, wird der Mensch ganz und gar vom Bios her verstanden und das geistige, sittliche und metaphysische Wesen des Menschen frech geleugnet. Es ist auf beiden Seiten das gleiche: die Götter sind eifersüchtig und entreißen sich gegenseitig ihre Beute, den Menschen, um den sie streiten und den jeder ganz und uneingeschränkt für sich haben will. Die aus dem Gefüge der Welt, aus dem Gefüge des Menschen isolierte Teilkraft wird zerstörerisch wie eine Krebszelle, die auf Kosten des Gesamtorganismus wuchert. Diese Erscheinung haben wir im Auge, wenn wir von den Dämonen, von dem dämonischen Charakter dieser Götter reden. Dämonen sind die göttlichen Kräfte im Aufstand gegen den Gott, der ihrer aller souveräner Herr ist. In der dämonischen Verzauberung werden die Kräfte des Geistes ebenso wie die Kräfte der Natur und des Blutes zu Feinden des wirklichen Lebens. Der Geist, der sich löst aus der heilsamen Bindung, der es nicht mehr erträgt, unter Gott zu sein, wird zu dem verführerischen „Luzifer", dessen Licht nicht erleuchtet, sondern blendet und verblendet; und die sich selbst genügende Natur wird zu dem bösartigen Ungeheuer, das seine eigenen Kinder verschlingt. Das Leben, in stolzer Unabhängigkeit aus allen möglichen Bindungen entbunden, bewußt profan, bewußt säkular und diesseitig, fällt den Dämonen zur Beute. Sie reißen das herrenlos gewordene Gut, wie die Trümmer eines gestrandeten Schiffes an sich und zerstören es in ihrem eigenen Widerstreit. Wie sollten unsere Häuser, unsere Städte nicht zerfallen, wo der Mensch in ihnen in sich selber zerfallen ist? Wie sollten die Mauern nicht bersten, wo der Mensch, der zwischen ihnen wohnt, in sich selber geborsten und gespalten ist? Nirgends wird diese Herrschaft der Dämonen so deutlich wie in ihrer sublimsten Form, das ist in dem Staate dieser Zeit. Wir reden nicht von dem Staate schlechthin, von der erhabenen Idee des Staates, zu dessen Ruhm so vieles gesagt werden kann, sondern wir reden von dem Staat, wie er werden mußte auf dem Boden dieser säkularen Welt. Wir haben es an der Geschichte des römischen Imperiums schaudernd gesehen, wie der profane Staat sich selbst zu dem Anspruch göttlicher Würde erhebt und so zum Reich und Tummelplatz der Dämonen wird. Dieser „absolute" Staat, der keine Bindung über sich anerkennt, der totale Staat, der das Leben seiner Bürger ganz und ungeteilt, mit Leib und Seele und mit dem 152

Einsatz aller Kräfte, für sich fordert, dieser Staat ist der gewaltigste und gewalttätigste unter allen Göttern dieser furchtbaren Zeit, und seine Verehrung der schlimmste Götzendienst. Was er in Wahrheit ist, läßt sich nur beschreiben in dem mythischen Bild des Moloch, in dessen glühenden Rachen die Mütter in fanatischem Eifer ihre Kinder warfen, weil der Opferhunger dieses erschrecklichen Gottes unersättlich ist. So findet sich die aufgeklärte Menschheit plötzlich und fast ahnungslos in der bedenklichsten Nachbarschaft zu primitiven und rohen Kulturen, die scheinbar einer längst überwundenen Weltperiode angehören. Einerlei, ob es die oberen oder die unteren Götter sind, denen das ganze Pathos eines leidenschaftlichen „Gottesdienstes" gewidmet wird, einerlei ob es der Geist, der Begriff und die Vernunft oder ob es Blut und Boden und Trieb und Rausch ist, denen alles unterworfen wird: immer wird der Mensch selbst und mit ihm die Wirklichkeit zerrissen; und während der Mensch, nach seiner eigenen Meinung, im profanen Raum das Notwendige und Richtige tut, hat er unversehentlich die Rolle des Priesters übernommen, der an den Altären seiner grausamen Götter das blutige Messer der Vernichtung in der Hand hält und Menschenopfer schlachtet ohne Maß und Ende. II. Denn was widerfährt dem Menschen unter der Herrschaft seiner Götter? Er erfährt, daß die Götter, denen er sich anvertraut hat, unerbittlich, grausam und zugleich ohnmächtig sind. Sie sind unerbittlich und erlauben dem, der sich ihnen verschreibt, nicht, sich aus ihrem Dienst zu lösen. Auch wer den dämonischen Charakter ihrer Herrschaft erkannt hat, kann sich ihm dennoch nicht entziehen. Wir wissen, wie unsagbar schwer es ist, sich von dem Wahn irgendeines jener „Ismen", aus der Herrschaft irgendeiner Idee oder Theorie zu befreien. Wir wissen, wie schwer es ist, aus dem Rausch des Blutes wirklich zu erwachen. Wir kennen die schauerliche Folgerichtigkeit, mit der der einmal beschrittene Weg zu Ende gegangen werden muß, auch wenn der, der darauf geht, längst erkannt hat, wie unheimlich dieser Weg ist. Das ist mehr als zähe Beharrung, mehr als die Treue, die zum Eigensinn und Trotz entartet; das ist die Macht der unerbittlichen Götter. Sie sind grausam und zerstören ihre Opfer. Sie leben von dem Blut derer, die ihnen geopfert werden, und scheinen sich in brutalem Hohn an den Leiden ihrer Opfer zu weiden. Das ist mehr als die Schadenfreude von Menschen, deren Herz von Haß erfüllt ist. Das ist die Grausamkeit der Götter, der Dämonen, die immer den zerstören, der ihnen verfällt. 153

Die Götter sind zuletzt ohnmächtig. Die Bibel unterscheidet Wahrheit und Lüge nicht als eine zutreffende und eine falsche Aussage, sondern als das, worauf man sich verlassen darf, und das, womit man zuschanden wird. Die Götter sind „Nichtse"; das heißt nicht, daß es überhaupt keine Götter „gibt", daß sie etwa unwirklich, bloße Vorstellungen wären, sondern es heißt, daß man sich nicht auf sie verlassen darf, und daß der, der sich ihrer Macht überläßt, dabei zu Schanden und Schaden wird. Die Götter gleichen immer dem Ungeheuer, das herzlos und ohne Erbarmen seine eigenen Kinder frißt. Das Menschenopfer gehört wesensnotwendig zu dem Kultus der falschen Götter. Es ist etwas Ungeheuerliches, was die Geschichte von Isaaks Opferung erzählt, daß der wirkliche Gott das selbstmörderische Opfer des eigenen Kindes nicht will, nicht annimmt, sondern statt dessen den Widder zeigt, der an Stelle des lebendigen Menschen geschlachtet wird. Gerade darin unterscheidet sich Gott von den Göttern, die unerbittlich sind und grausam; sie schonen die Kinder ihrer Gläubigen nicht und können sie nicht retten. Noch eine andere unter den Geschichten des Alten Testamentes wird unheimlich aktuell: das ist die Geschichte, wie die Anbetung des goldenen „Kalbes" sich auswirkt. Mose befiehlt, daß man das goldene Kalb zerschlage und zerstoße und den eklen Staub den Menschen in das Wasser schütte, das sie trinken. Sie müssen „ihre eigenen Götter saufen". Mit grausamer Unerbittlichkeit, mit unerbittlicher Grausamkeit bekommen alle, die den Göttern dienen, ihre Macht und ihre Ohnmacht zu spüren. Es wird schließlich alles, was so groß und mächtig und herrlich schien, in seiner Nichtigkeit entlarvt. Eine ungeheure Enttäuschung hat sich der Menschen — weitaus der meisten in unserer Mitte — bemächtigt. Nichts kennzeichnet ihre Lage so tief, wie diese furchtbare Enttäuschung. Es ist nicht nur die Enttäuschung darüber, daß Menschen ihre Versprechungen nicht gehalten und sich anders gezeigt haben, als man von ihnen erwarten durfte. Nicht nur die Enttäuschung darüber, daß so viele Hoffnungen gänzlich zerschlagen und alles so sehr viel schlimmer gekommen ist, als die meisten jemals erwartet oder befürchtet hatten. Beides ist noch nicht der Kern der Enttäuschung. Die eigentliche Enttäuschung hat darin ihre Wurzel, daß die Mächte und Kräfte, an die Millionen geglaubt hatten, sich völlig anders, ja entgegengesetzt ausgewirkt haben. Die gepriesene Wahrheit hat sich als Wahn enthüllt. Der ehrwürdige Gott, dem seine Gläubigen mit Inbrunst zu huldigen bereit waren, hat sich als ein Götze erwiesen, der seine Gläubigen dem äußeren und inneren Verderben preisgibt. Nur in dieser religiösen Kategorie kann man beschreiben, was sich da ereignet hat. Furcht und Traurigkeit lasten auf allem heidnischen Kultus. Auch rauschende und lärmende Festlichkeit und die Orgien sinn154

licher Lust übertönen kaum den Unterton einer abgründigen Traurigkeit. Hier droht eine Katastrophe der Herzen, die wahrlich noch viel erschütternder ist als die Katastrophe unserer Städte, oder vielmehr: wir stecken mitten darin in dieser geistigen Katastrophe. Die „Ismen" haben ihren Glanz verloren und sind wie matte und blinde Scheiben, durch die kein Licht mehr dringt. Die Ideen sind fade geworden, niemand will mehr auf sie hören. Die Götzen sind von ihrem Thron gestürzt und haben keine Macht mehr über die Seelen, ihre Tempel sind zerbrochen und ihre Altäre verödet. Ihr Name wird nicht mehr verehrt, und ihre Priester sind als brutale Mörder verjagt. Es ist ein schreckliches Erwachen aus einem großen Rausch, und der Übergang in die nüchterne Wirklichkeit ist eine Zumutung, die den von ihr Betroffenen in allen Tiefen aufwühlt und erschüttert. Oder haben wir schon zu viel behauptet, wenn wir das alles so sagen? Sind denn die Götzen wirklich entthront und ihre Altäre wirklich zerbrochen? Haben denn die Ismen, die Götter „Heit" und „Keit" ihre verführerische Gewalt wirklich verloren, oder geht im Grunde alles weiter, wie es war, nur mit einer etwas veränderten Firma? Mit einer erstaunlichen Zähigkeit saugt sich der Mensch fest an seinen Illusionen. Und es wirken vielerlei Umstände dahin zusammen, daß unter uns viel mehr Krampf und Starre als Einsicht und Umkehr zu finden ist. Die Götter wehren sich verzweifelt gegen ihre Demaskierung, und sie führen in immer neuen Masken ihre Tyrannei weiter. Der horror vacui, die Angst vor der völligen Leere, herrscht auch im geistigen Bereich. Um jeden Preis will der Mensch, der an die Götter dieser Welt, die oberen oder die unteren Götter, wirklich geglaubt hat, dem Nullpunkt entgehen, an den er sich geschleudert sieht. Darum sehen wir so viele Menschen, leider auch sehr viele junge Menschen, in einem Zustand der Verhärtung und Verkrampfung, der schlimmer ist als Fanatismus oder Verzweiflung. Sie verschließen sich geflissentlich dem, was sie eigentlich schon einsehen oder doch einsehen müßten. Sie steigern sich hinein in eine Verteidigung dessen, was man nicht verteidigen kann, oder sie stürzen sich in den seltsamsten Purzelbäumen in neue Ideen und Ideale. Sie haben sich schnell darauf umgestellt, andere Schlagwörter zu gebrauchen und ihren Götzen neue Namen zu geben, weil die alten verpönt sind. Wer möchte behaupten, daß der eben entlarvte Wahn unser letzter Wahn gewesen sei? Was nutzt es, wenn an Stelle der entthronten Götter ein neues Göttergeschlecht die Herrschaft antritt, genauso unerbittlich, genauso grausam, genauso ohnmächtig wie die in der Götterdämmerung gestürzten? Man hat manchmal den verzweifelten Eindruck, daß viele Menschen in dem Bereich der Dämonen schon so gründlich 155

zerstört sind, daß sie nicht nur jede Umkehr verweigern, sondern überhaupt unfähig geworden sind, umzukehren in die Wirklichkeit der Welt und ihres Lebens. Sie können nur in Illusionen leben. Wir begreifen diesen leidenschaftlichen Widerstand. Denn was bleibt, wenn die Illusionen wirklich verflogen sind, wenn die Götter als das erkannt werden, was sie in Wahrheit sind, als die falschen Götter? Was bleibt dem Menschen, der sich selbst die Flucht in neue Illusionen und in die alten, nur ein klein wenig umgebauten Tempel, versagt? Es bleibt nichts. Es bleibt das große trostlose Nichts. Das Herz wird ganz leer, verlassen und hoffnungslos. Der Mensch und sein verlangendes Herz stürzen in einen Abgrund, in den Abgrund des Nichts. Dieses Nichts, dieser Abgrund ohne Boden und Halt, ist das konsequente Endstadium eines sehr langen Prozesses, in dem das menschliche Bewußtsein sich immer weiter von dem Mysterium der göttlichen Gegenwart gelöst hat und die Altäre, an denen diese Gegenwart leibhaft erfahren wurde, immer mehr verödet waren. Wenn diese Entfernung als die große Befreiung gerühmt, die Preisgabe des heiligen Bezirkes an die unheilige Welt als notwendige Weltoffenheit gepriesen, das Nichts verherrlicht wird, weil der Mensch endlich seiner Selbständigkeit froh werden kann, dann wird dieses Nichts zu einem Zustand, an den man sich gewöhnt, ja dem man zustreben und in dem man sich wohl fühlen kann, und erst dann, dann freilich ist das Nichts, das Nihil zum Nihilismus geworden, zu einer seltsamen Religion des entleerten Raumes, vergleichbar der jener seltsamen Heiligen, von denen Solovieff berichtet, daß sie ein schwarzes Loch an der Wand angestarrt und als ihren Gott verehrt haben. Was Nihilismus ist, kann man an Friedrich Nietzsche studieren, und Wilhelm Michel hat in seinem Nietzsche-Buch diese Tendenz zum Nihilismus als die eigentlich treibende Kraft in Nietzsches Philosophie enthüllt. Er möchte das Leben und Denken des Menschen hermetisch abschließen und sichern gegen jeden Einbruch aus der göttlichen Welt. Sein rasender Lebenshunger wittert in jeder Gestalt des göttlichen Glaubens, in jeder Anerkennung irgendeines göttlichen Gebotes den Feind, der die Macht und Selbstherrlichkeit des Menschen begrenzt. Und mit dem Spürsinn des großen Hasses spürt er jede leiseste Berührung auf, die den Menschen noch mit einer solchen Überwelt verbinden könnte, und verstopft, bis zum Angriff auf die logischen Denkgesetze, jede Ritze, durch die noch ein Strahl eines metaphysischen Lichtes in den Raum der „in sich ruhenden Endlichkeit" eindringen könnte. Was bedeutet dieser Nihilismus? Alle die großen Ideen sind entwertet. Keine geschickte Propaganda kann die gründlich enttäuschten Herzen noch für irgendeinen Ismus begei156

stern. Der kühle und skeptische Geist will nichts mehr hören und ist gänzlich immun für alle geistigen Werte. Der Mensch ist tief mißtrauisch geworden, mißtrauisch gegen sich selbst, gegen den Weltlauf, gegen Vernunft und Gerechtigkeit aller Träger der Macht. Es ist nichts hinter alledem; hinter all dem ist das Nichts. Es gibt keine verbindliche Wahrheit. Ein Dogma, das mit dem Anspruch auftritt, verbindliche Wahrheit zu sein, ist eine lächerliche Sache; alles ist preisgegeben dem subjektiven Meinen und Wähnen. Nicht nur, daß das Organ verkümmert ist, mit dem wir Wahn und Wahrheit unterscheiden, es ist sinnlos, sich um solche Unterscheidung zu bemühen, weil die „Wahrheit" nur ein hochtrabender Name für eine der vielen miteinander streitenden Wahnideen ist. Nichts ist heilig, nichts gilt. Nichts ist dem Geschwätz der allgemeinen Diskussion entnommen. Die Frage nach der Wahrheit ist gelähmt und vergiftet durch das Verlangen, auch die „Forschung" solle dem praktischen Leben dienen, und unter dem schönen Namen Pragmatismus werden schließlich „wahr" und „nützlich" Wechselbegriffe. Man läßt nur gelten, was den Menschen tüchtig macht für den Lebenskampf und was sich als sozial nützlich erweist. An der Stelle des Einen, das nottut, drängt sich das Viele, das nützlich ist, nach vorne, und nichts braucht sich messen zu lassen an dem, was unbedingt heilig und ehrwürdig ist. Es lebt sich leicht, so scheint es, in der Luft dieses Nihilismus, weil der Mensch nicht mehr beschwert ist durch die Sorge um „absolute Stellungnahmen", nicht mehr gehemmt durch die unbequeme Frage nach so altmodischen Dingen wie Wahrheit und Heil. Nur auf dem Boden des Nihilismus kann eine so fragwürdige Sache wie Propaganda gedeihen, die nach Wahrheit grundsätzlich nicht mehr fragt, im Kern und Wesen nicht nur lügt, sondern verlogen ist, und mit lauter Stimme verkündet, was sie selber nicht glaubt. Propaganda ist eine Form des Nihilismus, und nur die abgebrühten Skeptiker können Propaganda treiben, ohne hin und wieder zu erröten. Auf dem Boden des Nihilismus stirbt das Recht. Denn das Recht trägt seinen Schutz nicht in der Macht, die es mit den Mitteln der Gewalt verteidigt, sondern allein in dem Glauben an den Gott, „in dessen Reich man das Recht lieb hat". Weil Gott recht richtet, darum gibt es unter uns Menschen Recht und Richter, die etwas anderes sind als Werkzeuge des jeweils Mächtigen. Wenn der Nutzen des Volkes zum Maßstab des Rechts gemacht wird und die politische Gewalt erfindet, was Recht sein soll, dann ist das Recht zur Hure der Macht geworden. Wer schon dem Nihilismus verfallen ist, kann sich auch daran gewöhnen, und er wartet nur auf den erwünschten Augenblick, wo er die Möglichkeit hat, das Recht zu seinen Gunsten zu beugen oder zu brechen. 157

Auf dem Boden des Nihilismus gibt es kein Gewissen. Wer alles, was dem Nihilismus entgegenwirkt, aufspürt wie ein gefährliches Ungeziefer, der muß vor allem das Gewissen aus dem Menschen vertilgen. Eine „Revolution des Nihilismus" muß, ob sie will oder nicht (sie will aber auch!), dem Gewissen Fehde ansagen. Die Restbestände bürgerlicher Hemmungen gegen besonders auffällige Formen des Bösen sind leicht zu überwinden, weil sie ja wie vom Baum losgelöste Blätter jedem Winde preisgegeben sind. Der Nihilismus vergreift sich nicht nur an Eigentum und Leben des andern, sondern er verlacht den Unterschied von Mein und Dein. Er stiehlt ohne Scham und nennt das nur grinsend mit anderen Namen. Er zerstört grundsätzlich die Achtung vor dem Leben und vor der Würde des Menschen. Der Nihilist hat kein Gewissen und rechnet nicht mehr damit, daß irgend jemand ein Gewissen habe. Ohne Gewissen aber wird der Mensch brutal oder subaltern, ein Tyrann oder ein Sklave. Wer nicht mehr unter Gott steht, ist wirklich zu fürchten (1. Mose 50,19). Es ist kein grunsätzlicher Unterschied zwischen dem Tyrannen und dem Sklaven, weil sie beide ohne Gewissen sind; und der Übergang zwischen brutal und subaltern ist leicht und schnell vollzogen. Wenn der Brutale seiner Macht beraubt wird, wird er subaltern, und der Subalterne wartet nur auf den Tag, wo er wieder brutal sein kann. Nach den Geboten Gottes fragt der eine so wenig wie der andere, weil das ewige Gebot des einen und heiligen Gottes ein Nichts ist wie vieles andere. Auf dem Boden des Nihilismus gibt es auch keine echte Gemeinschaft. Nur die Bindung an Gott schützt das menschliche Miteinander. Im Nihilismus vollendet sich jene Aufspaltung, jener Kampf aller gegen alle, den die miteinander streitenden Götter entfesselt haben. Ist nicht die ganze Katastrophe der Welt vor allem anderen eine Katastrophe des menschlichen Miteinander? In dieser Unfähigkeit zur Bindung in der Gemeinschaft wird aber der innere Zustand jedes einzelnen offenbar. Wer in sich selber gespalten ist, wer in sich selber dem Teil erlaubt, das Ganze zu tyrannisieren, der ist offenbar zugleich unfähig, Glied oder Zelle eines größeren Ganzen zu sein. Wenn jede Zeit die Erfindung macht, die ihr angemessen ist, dann ist die Atomzertrümmerung, die Aufspaltung jedes kleinsten Teiles, die Erfindung, die unseren Tagen zukommt. Und es ist eine sehr notwendige und schwierige Frage, ob diese Form der Energie, die durch die Auflösung der letzten Elemente der Einheit entbunden ist, jemals in den Dienst des Lebens, der Arbeit und der Gemeinschaft, statt in den Dienst der schrecklichsten Vernichtung gestellt werden kann. Überall erweist sich dieses Nihil, dieser leere Raum, und dieser theoretisch und praktisch bejahte Nihilismus als die notwendige Folge einer 158

Entwicklung, wo die Götter sich des gottentfremdeten Menschen bemächtigen, die oberen und die unteren Götter, und das geordnete Ganze der Welt auseinander peitschen in einen wüsten Knäuel widerstreitender Kräfte und Mächte. Auf die Verehrung der Götter folgt die Götterdämmerung, und hinter der Götterdämmerung gähnt der Abgrund des Nichts. Es ist kein Zweifel, daß in der grausamen Enttäuschung, die auf den Taumel folgen mußte, ungezählte Herzen in diesen Abgrund des Nihilismus gestürzt sind, ja, daß dieser Nihilismus mit all seinen erschrekkenden Folgen die eigentliche Haltung (oder Nicht-Haltung), die eigentliche Weltanschauung (oder vielmehr Welt-Nicht-Anschauung) ungezählter Menschen ist. Der Nihilismus ist ein Endstadium, und wüßten wir es nicht aus dem apokalyptischen Ausmaß der Zerstörung, so würden wir es erfahren aus der Herrschaft des Nihilismus über die Seelen, daß wir an einem Ende stehen. Der Nihilismus ist das Ende. Der Abgrund eines zynischen Nihilismus droht alles zu verschlingen, was einem Menschen heilig sein kann. Wer diesem Nihilismus sein Herz öffnet und ihm verfällt, der ist nicht mehr ansprechbar. Er hört im tieferen Sinn seinen eigenen Namen nicht mehr rufen. Er ist sozusagen gar nicht mehr vorhanden, wenn er in seinem menschlichen Sein aufgesucht und angeredet wird. Die Flucht aus der menschlichen Existenz ist ihm gelungen, und damit ist das Werk des Teufels, des Lügners und Mörders von Anfang vollendet. Er hat den Menschen als solchen zum Verschwinden gebracht. Dies ist die Gefahr des Nihilismus.

III. Gibt es auf dem Boden dieser Auflösung noch irgendeine Hoffnung? Tag und Nacht sind wir umgetrieben von der Frage nach der Verheißung, deren auch wir uns noch trösten dürfen, und wir wollen uns die Antwort auf diese Frage nicht allzu leicht machen. Denn die optimistische Meinung, daß es schließlich doch auch einmal wieder besser werden würde, gehört ja selbst zu jenen Ismen, die in dem großen Erdbeben zerbrochen und verschüttet worden sind. Die Gefahr, die unermeßliche Gefahr, ist vor unseren Augen. Kann auch eine Verheißung über dieser unserer Lage vor unseren Augen sein? Es ist eine entscheidend wichtige Aussage des christlichen Glaubens, daß es Dinge gibt, die nur an der äußersten Grenze geschehen, Fragen, die nur in der äußersten Bedrängnis, angesichts des drohenden Untergangs, eine Antwort und eine Lösung finden; und Gefahren, die nur am Rande des Abgrundes gebannt und in Segen gewandelt werden können. Und 159

dies ist allerdings eine Verheißung: An der Grenze, wo alle gewohnten Sicherheiten zu Ende sind, am Rande des Abgrundes, in den schon alle die hohen Gedanken und all die scheinbar so mächtigen Kräfte hinabgestürzt sind, genau an dieser Grenze kann ein Mensch fähig werden, bestimmte entscheidende Dinge zu vernehmen, die er vorher nicht hat vernehmen können, weil die Räume seines Herzens ganz ausgefüllt waren mit Ideen, ganz beschlagnahmt von dem Kultus der Götter. Und es kann uns allen nichts Wesentlicheres und Größeres widerfahren, als daß wir fähig werden, das Einfache und Einfältige, das wir so leicht überhören oder verachten, wirklich zu hören. Wir horchen sehr auf alle Nachrichten, die aus manchen Gefangenenlagern zu uns dringen, sowohl aus den Lagern der Kriegsgefangenen, wie auch aus den Internierungslagern, in denen so viele Männer unseres Volkes noch zusammengedrängt sind. Kann die Enttäuschung irgendwo fühlbarer und bitterer sein als dort? Wer kann sich wundern, daß sich die Menschen dort durch den Stacheldraht, der sie umgibt, nicht nur von der Welt der Freiheit, sondern zugleich auch von allem vernünftigen Lebenssinn, von aller Hoffnung abgesperrt fühlen und nun nur allzu leicht in einen Nihilismus versinken, in dem mit den letzten Resten eines, wenn auch verkehrten Glaubens, auch alle feineren Bindungen der Seele verlorengehen? Auf der anderen Seite hören wir, daß gerade dort viele Männer in einer seltsamen und kaum geahnten Weise überwältigt werden von dem, was nun ganz neu, mit einer unerhörten Dringlichkeit an sie herankommt. Daß sie mit einer Aufgeschlossenheit, die gerade hier kaum jemand zu hoffen gewagt hat, sich um die Verkündung des Evangeliums von Jesus Christus drängen, in der dem Lager eigentümlichen Währung hohe Preise zahlen für ein Neues Testament oder selbst nur für ein paar Blätter der Bibel. Tägliche Gottesdienste, allsonntägliche Abendmahlsfeiern mit erstaunlichen Teilnehmerzahlen, große Arbeitsgemeinschaften (wirkliche Arbeitsgemeinschaften!) über Bücher der Heiligen Schrift, über Fragen des christlichen Glaubens, das alles gehört zu dem Bild dieser seltsamen Erweckung. Und doch ist das alles wiederum gar nicht erstaunlich. Denn was hören diese Menschen eigentlich, und warum vermögen gerade sie es zu hören? Es ist die Stimme der Wirklichkeit, die sie endlich erreicht, nachdem sie durch Jahre oder Jahrzehnte im Wahn der Illusionen gelebt haben. Es ist die Stimme des lebendigen Gottes, die nun, nachdem das Getöse der Götter im Abgrund des Nichts verhallt ist, endlich an ihr Ohr und an ihr Herz dringt. Es ist eine große und wundervolle Heimkehr aus den Bereichen der Götter in das Reich des einen und wirklichen Gottes, eine Heimkehr aus der Verzauberung und Zerspaltung in das Heil des ganzen 160

und geheilten Lebens. Ehe sie heimkehren dürfen in die irdische Heimat — und wie viele von ihnen haben keine Heimat mehr, die auf sie wartet! —, kehren sie heim in das unzerstörbare und unverlierbare Reich, das durch all die Jahre, ja sozusagen durch Jahrhunderte auf sie und auf uns alle gewartet hat. Die Stimme der Heimat und der Wirklichkeit ist die Stimme des göttlichen Gebotes: „Ich bin der Herr, Dein Gott!" Es ist ein weiter Weg von den üppigen Gefilden, wo die Altäre des großen Baal gebaut sind, bis zu dem Berg, auf dem Gott sein heiliges Gesetz verkündigt. Welche Wandlung, wenn wir — vielleicht zum allererstenmal! — aus dem großen Dunkel und Schweigen um uns her nicht ein anonymes Es, sondern ein persönliches Ich verspüren, das uns anredet! Es ist eine Heimkehr aus aller Willkür des ungebundenen Lebens und ebenso aus aller Tyrannei der Begriffe und Theorien in die Botmäßigkeit der Beugung unter einen unverbrüchlichen und heiligen Willen. Es ist die Heimkehr in die Wirklichkeit, in der wir schuldig sind vor Gott und keinen Versuch mehr machen, uns zu rechtfertigen, sei es mit der Hoffahrt des reinen Geistes, sei es mit der angeblichen Unschuld des naturhaften Lebens oder auch mit dem Unrecht der anderen, das uns angeblich entschuldigt. In der größten Dichtung des deutschen Mittelalters geschieht an Parzival die entscheidende Wandlung in dem Augenblick, wo er aufhört, Gott zu fluchen und mit sich selbst zu hadern, wo er in Demut weiß um seine Schuld; jetzt, jetzt erst kann er berufen werden auf die Burg des Heils und zu dem hohen Amt des Gralsritters. Und es ist auch bei ihm ein gähnender Abgrund, durch den er hat gehen müssen, ehe dieser Ruf für ihn geschehen und zu ihm dringen konnte. Es ist aber kein Zufall, daß Parzivals Befreiung und Heimkehr geschieht am Karfreitag. Denn der Gott, zu dem wir heimkehren dürfen, wenn die Illusionen entlarvt sind, ist nicht die anonyme und wesenlose Gottheit. Es ist auch nicht der große und schreckliche Gott, der sein Gesetz gibt und die Übertreter verflucht. Dem wirklich Heimkehrenden begegnet der Gott, der eintritt in unsere Geschichte, der Gestalt gewinnt in unserem Fleisch und Blut, dem Gott, der nicht aus einer unvorstellbaren Ferne diese Welt regiert, sondern der selbst den Jammer und die Schuld der Welt auf sich nimmt, der sich selbst dahingibt als Opfer für die arme Welt, um sie heimzuholen zu sich selbst. Der Gott, der bis in den Tod hinein der mitleidende Bruder unseres Menschenloses wird, und der nun durchbricht zu dem Leben der künftigen Welt und der „Erstling" und „Herzog" wird für alle, die Gott aufwecken will aus dem Tode. Es ist unvermeidlich, daß dem, der noch befangen ist in der Herrschaft der Götter, all dieses nur wie aus einer sehr weiten Ferne ans Ohr dringt 161

und als ein märchenhafter Wunschtraum am Rande der Wirklichkeit erscheint. Denn wir waren weit davon entfernt, in dem, was das Evangelium und in seinem Dienst die Kirche verkündigt, die eigentliche, erschütternde und tragende Wirklichkeit zu erkennen und anzuerkennen. Viel zu tief sind wir versunken in den optimistischen Lebensglauben, der in den starken Kräften der äußeren Natur und in den gesunden Instinkten unserer eigenen Natur auch alle Heilkräfte, ja das Heil selber zu finden vermeint. Viel zu hoch verstiegen und verirrt in die Hoffahrt des reinen Geistes, die mit Ideen und Idealen einen imponierenden Überbau über der niederen sinnlichen Welt aufzurichten bemüht ist, und nun erst, da von alle dem nur Trümmer und Tränen, Asche und Ekel geblieben sind, erblicken wir — wenn es uns geschenkt wird — am Rand des Nichts das feste Land, den Grund, auf dem wir stehen, den Weg, auf dem wir gehen können. Die Loslösung von Gott erscheint dem aus dem Rausch Erwachten als die tiefste Wurzel aller Schuld und Not, und den Ruhm des aus aller Bindung gelösten und sich selbst genügenden Menschen erkennt er als den Weg in die Wüste, auf deren Elendsstraßen der Mensch verschmachtet und verdirbt. Die humanistische Illusion des autonomen Menschen ist wie ein wirrer Traum nun ausgeträumt, und der Mensch, der verzweifeln mußte und doch nicht verzweifeln will, sucht die Rettung seines zutiefst bedrohten Menschseins bei dem wirklichen Gott, der „ u m uns Menschen und um unseres Heiles willen herniedergestiegen ist aus dem Himmel und ist Fleisch geworden von dem Heiligen Geist aus Maria der Jungfrau und ist Mensch worden". E r fängt an, vielleicht noch nicht zu begreifen, aber doch zu ahnen, warum in den alten Messen das „Et incarnatus est" mit einer solchen Inbrunst, mit einer scheuen Ehrfurcht und zugleich mit einer fast zärtlichen Dankbarkeit gesungen worden ist, und warum das Bild des Christus, der sich am Kreuze geopfert und „mit Seinem heiligen Kreuz die ganze Welt erlöset hat" — warum dieser Kruzifixus als der große Trost an den endlosen Straßen und an den ungezählten Gräbern steht. Alles dieses — und wieviel mehr noch! — kann man ja nicht wirklich sehen, solange das Auge geblendet ist von den bunten Lichtern, mit denen das Haus dieser Welt zwar nicht erleuchtet, aber festlich beleuchtet und angestrahlt wird. So lange die großen Worte der Bibel, die großen Worte des christlichen Glaubens nur am Rande der Wirklichkeit, gleichsam als eine im Grunde unnötige Dekoration eines in sich gefestigten Hauses erscheinen, so lange bleibt das Geheimnis der Wahrheit wie eine unzugängliche Burg ohne Zugbrücke, ohne Schloß und Schlüssel. Christus läßt sich nicht als eine edle Gestalt in den Götterhimmel unserer Ideen und Kräfte einfügen, sondern E r hat die „Herren dieser Welt", das heißt eben diese Gewalten und Mächte, die

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wir Götter nennen, entthront und in Seinen Dienst gestellt. Langsam fangen auch die, denen das alles sehr fremd geworden ist, an zu verstehen, warum man den „Dämonen", dem Teufel und aller seiner Macht, absagen muß, ehe man getauft werden kann auf den Namen Jesu Christi, das heißt aber: ehe man Anteil gewinnen kann an der göttlichen Kraft, die Christum auferweckt hat von den Toten. Wie hart muß ein Mensch die Unerbittlichkeit, Grausamkeit und Ohnmacht seiner Götter erfahren haben, ehe er fähig und willig wird, sich solchen Erkenntnissen aufzutun! Aber sind solche Erkenntnisse um einen billigeren Preis zu haben? So wie das Leben nicht zu gewinnen ist ohne den Einsatz des Lebens, der zum Tode bereit ist, so wartet die letzte Wahrheit auf das Ende der letzten Illusion. Die Wahrheit, die wirkliche und allein gültige Wahrheit ist die Verheißung am Abgrund des Nihilismus. Noch einmal: Die Verheißung, die über dem Abgrund des Nichts ausgespannt ist wie eine Brücke über eine gähnende Kluft, ist die Heimkehr in die Wirklichkeit, in die Wirklichkeit Gottes und damit in die Wirklichkeit der Welt und des Lebens. Glaube ist Hingabe an die Wirklichkeit. Es ist eben nicht gleichgültig, woran wir glauben, ob an die Wirklichkeit oder an den Wahn, an Gott oder an die Götter. Das Dogma der Kirche redet in feierlichen Bildern von dem, woran ein Mensch sich hingeben darf, ohne daran zu Schanden zu werden. Das kirchliche Credo ist der äußerste Gegenpol des Nihilismus. Aber man muß wohl an diesem Abgrund gestanden haben, um ganz zu ermessen, welche Kraft des Trostes ausgeht von einem solchen Bekenntnis. Mit den Illusionen, mit denen die Götter den profanen Raum erfüllen und verwirren, sind zugleich auch die Uberkleidungen und Verfälschungen und Mißdeutungen versunken, die für ungezählte ganz unsichtbar gemacht haben, was dieses Credo der Kirche eigentlich meint und besagt: die Fülle der Wahrheit Gottes, in der alle Wirklichkeit ihren Grund, ihre Einheit und ihr Ziel hat. Bei alledem geht es nicht nur um das Schicksal des einzelnen Menschen, sondern um den Schicksalsschlag unseres Volkes. Wir sind in dem fürchterlichen Zusammenbruch nicht irre geworden in der Gewißheit, daß unser Volk auch in seiner tiefsten Erniedrigung ein stellvertretendes Schicksal für die abendländische Menschheit erleidet und noch einen Dienst zu erfüllen hat an dem Ganzen der Welt. Die abendländische Menschheit selber steht an einem Scheideweg, und die Entscheidungen, die eben jetzt in dieser Generation fallen, haben eine unermeßliche Tragweite. Der Weg von Jahrhunderten ist zu Ende gegangen. Dieses Ende ist äußerlich der Zusammenbruch unserer ganzen ererbten Kultur, und noch haben wir nicht ermessen, was alles in dieser Sintflut versunken ist. 163

Dies Ende ist innerlich — schlimmer als jede äußere Zerstörung — das zerstörte Bild Gottes im Menschen und die Entleerung des Herzens in einem Nihilismus ohne Glaube und ohne Hoffnung. Aber eben dies ist Gottes Verheißung, daß jedes Ende den Keim eines neuen Beginns in sich birgt, und aus dem Toten ein neues Leben zu erwecken, ist Gottes eigentliches Werk. E s gibt eine Heimkehr aus der weglosen Wüste, in der die Seele verschmachtet, aus den Sümpfen, über denen die Irrlichter tanzen, zu einem fruchtbaren Lande und einem bewohnbaren Haus. Das ist die Verheißung, die mit der Gefahr zugleich auf uns wartet, und nur wo Gefahr ist, ist auch Verheißung, und je größer die Gefahr, desto überschwenglicher ist Gottes Verheißung. Freilich: Der Nihilismus hat keine Verheißung, der „Ismus", der auch aus dem Grauen des Nichts eine neue Theorie macht, mit der er liebäugelt. Das Nichts ist ein Schicksal, eine ehrliche Not, Hunger und Durst voll Qual und Angst. Der Nihilismus ist Schwäche und Verrat, in dem der Mensch sich fallen läßt in das Nichts. Ein letzter und gefährlicher Götze, dem der Mensch seine letzte Hoffnung opfert. Eine letzte und feinste Form der Eitelkeit, in der der Mensch meint, auch im Nichts es aushalten zu können. Aber das Nichts ist ja gar kein Nichts; es wird erst ein Nichts, wenn wir uns ihm ergeben. Das Nichts ist die Stunde Gottes, der Acker, in den er seinen Samen wirft; und dies ist die eigentliche Frage, von der in der Tat die Zukunft der Menschheit abhängt, tausendmal mehr als von dem, was mächtige Menschen planen oder beschließen. Ob wir uns dem Nichts ergeben und im Nichts versinken, oder ob wir die Verheißung ergreifen, die auf uns in dieser tödlichen Gefahr wartet, und im Nichts es wagen, an Gott zu glauben, an den wirklichen und lebendigen Gott, den Vater, den Sohn und den Geist. D a s menschliche Sein in der Welt ist tödlich bedroht, und der Nihilismus bedeutet, daß wir dieser Gefahr erliegen. Der Glaube bekennt sich ehrlich zu Armut und Ratlosigkeit, und um der Glaubenden willen kann das menschliche Sein in der Welt geheilt und gerettet werden. Wo anders als in einer solchen Stunde wird der Glaube erprobt an den Heiligen Geist als an den „Herrn, der lebendig macht"? Wann könnte je dringender und inbrünstiger die Bitte aus den Herzen aufsteigen: Veni Creator Spiritus! K o m m D u Geist, der das Neue schafft!

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FRAGEN D E R ANTHROPOSOPHIE AN D I E EVANGELISCHE KIRCHE (1953 - gekürzt) Die Schrift von Rittelmeyer*) ist durchzogen von einer an vielen einzelnen Stellen durchbrechenden kritischen Schilderung der inneren Lage der evangelischen Kirche und ihrer Theologie. Es mangle ihr durchaus an einer wirklichen Kenntnis jener geistigen Vorgänge und Wirklichkeiten, um die es sich in den biblischen Berichten und in den Glaubensaussagen handle, und dieser Mangel raube ebenso dem Wort der Kirche seine überzeugende Kraft wie dem Handeln der Kirche die vollmächtige Wirkung. Die „zu kurz geratene Frömmigkeit" des Protestantismus vermöge dem gegenwärtigen Geschlecht die Christus-Verkündigung nicht zu bringen, deren es bedarf. Diese Lage veranlaßt Rittelmeyer, an die evangelische Theologie eine Reihe von Fragen zu stellen, die nach seiner Überzeugung von dieser Theologie weder beantwortet noch auch nur genügend gesehen werden. Er richtet seine Fragen ausdrücklich auch an solche, die meinen, schon die Antwort zu haben (S. 99). Es wäre ein großer Schaden für die Theologie, meint Rittelmeyer, wenn sie sich in anmaßender Selbstverherrlichung den Fragen verschließen wollte, die hier auf sie zukommen. Man dürfe nicht aus Not und Mangel eine Tugend machen (S. 13). Es wäre „nicht Gehorsam, sondern gläubigungläubige Verstockung, hier nicht frei und aufgeschlossen zu sein für jede neue Wahrheit" (S. 40). In der Ratlosigkeit, in welcher sich die evangelische Theologie wesentlichen Phänomenen des religiösen Lebens gegenüber befinde, täte sie gut, die Antworten wenigstens zu prüfen, welche von der Anthroposophie zu allen diesen Problemen angeboten werden, und eine entscheidende Hilfe nicht deswegen zu verachten, weil sie von der Anthroposophie komme (S. 42 f.). Man möge, sagt Rittelmeyer, die Erkenntnisse, die die Anthroposophie durch Rudolf Steiner gewonnen hat, zunächst einmal als Hypothesen annehmen (S. 17), und sie in vorurteilsloser, aber ernsthafter und gründlicher Untersuchung nachprüfen. Freilich meint Rittelmeyer (S. 46), die zu fordernde Wende in der Theologie sei so groß, die Nötigung zum Umdenken und Neulernen so einschneidend, „daß man zunächst keine Hoffnung haben kann, mehr als einige junge Theologen für das Studium der Probleme zu gewinnen, die uns hier anblicken". *) Lic. Dr. Friedrich Rittelmeyer, Theologie und Anthroposophie; eine Einführung. (Theologie und Kultus, herausgegeben von Lic. Robert Goebel; Heft 3). Verlag der Christengemeinschaft, Stuttgart 1930.

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Man wird solche und ähnliche Gedanken, wie sie sich an den verschiedensten Stellen des Buches finden, nicht lesen können, ohne sich ernstlich zu fragen, ob nicht hier — aber eben nicht nur „hier", das heißt in der Begegnung mit der Anthroposophie — in der Tat Fragen auf uns zukommen, denen die Theologie nach den verschiedensten Seiten auszuweichen geneigt ist, und ob es nicht in der Tat verkehrt und gefährlich ist, von vornherein zu meinen, von einer bestimmten Seite her könne nichts Gutes, keine neue und hilfreiche Erkenntnis kommen. Die Fragen an die evangelische Kirche, welche die Kommission für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen evangelischer Kirche und Anthroposophie seinerzeit in ihren Schlußbericht aufgenommen hat, entspringen dem ehrlichen Willen, die Probleme, wie sie von den verschiedensten Seiten her aufgebrochen, aber in der Begegnung mit der Anthroposophie besonders brennend geworden sind, ernst zu nehmen und sie als eine Aufgabe aufzuweisen, der sich eine verantwortliche Theologie nicht entziehen darf. Freilich muß zugleich ausgesprochen werden, daß es die Anthroposophie nicht eben leicht macht, sich ihren Fragestellungen zu öffnen. Daß das Buch von Rittelmeyer nicht mehr Beachtung innerhalb der evangelischen Theologie gefunden hat, ist zu einem erheblichen Teil zwar nicht entschuldigt, aber doch erklärt durch die Art, wie dieses Buch geschrieben ist. Es ist mühsam, ein Buch zu lesen, das nicht in einem durchsichtigen Gedankengang geordnet ist. Jeder der vier Teile, die sich mit Bibelverständnis, mit Dogmatik und Ethik, mit der Geschichtsbetrachtung und schließlich mit der praktischen Wirksamkeit beschäftigen, entbehrt in sich einer erkennbaren Gliederung. Längere Exkurse, in denen bestimmte Ausführungen sich stark wiederholen, unterbrechen fast jeden Gedankengang, und die gelegentliche Bemerkung (S. 176), die genannten vier Teile entsprächen den vier Gliedern der Menschenweihehandlung, „wie auch der katholischen Messe und weiter zurück jedes Opfergottesdienstes bis zurück nach Indien: Wort, Opfer, Wandlung, Kommunion", ist vielleicht ein geistreicher Einfall, aber keine wirkliche Hilfe zum Verständnis des Ganzen oder seiner Teile. Auf Schritt und Tritt werden Fragen und Dinge angerührt, die dann nicht weiter verfolgt werden, und die Antworten, die die Antroposophie zu jenen Fragen anbietet, werden nur an wenigen Punkten so deutlich sichtbar, daß es möglich wäre, dazu Stellung zu nehmen. Leider erstreckt sich diese aus dem Zweck des Buches verständliche Zurückhaltung nicht auf die Kritik, die an der evangelischen Kirche geübt wird. Es taugt eben alles nichts, was es außerhalb der anthroposophischen Geisteswelt gibt. „Es sollte natürlich nicht gesagt sein, daß nicht manches einzelne... da und dort auch außerhalb der Anthroposophie 166

schon gesehen und gesagt worden wäre. In solchen geistigen Zusammenhängen und in solcher hellen Klarheit wird man es nicht annähernd irgendwo finden." Den neuen Ansätzen innerhalb des Protestantismus wird der Ernst und die Tiefe abgesprochen. „Die unzureichenden Versuche, die man heute in die Welt stellt, dienen nur dazu, dem menschlichen Bedürfnis Surrogate darzubieten, die ihm vorübergehend zusagen, um hernach eine um so größere Leere zurückzulassen" (S. 170). Man kann die summarischen und überheblichen Urteile, die sich hier wie in der Zeitschrift der Christengemeinschaft immer wieder finden, sobald die Rede auf den Protestantismus kommt, und die sehr volltönenden Worte, mit denen die Forschungen von R. Steiner angepriesen werden, schwer zusammenbringen mit der bescheidenen Zurückhaltung, mit der hier nur Fragen gestellt und Antworten zur freien Prüfung und zur „Bearbeitung durch Theologen überantwortet" werden sollten. Ich bin überzeugt, daß diese hochfahrende Polemik, die selbst keiner Kritik und keiner Belehrung bedürftig zu sein glaubt, mehr als alles andere dafür verantwortlich zu machen ist, wenn die dort gestellten Fragen innerhalb der evangelischen Theologie nicht so ernst genommen und so bereitwillig aufgenommen worden sind, wie sie es verdienen würden. Aber wir dürfen uns durch diese etwas peinliche Seite des Buches von Rittelmeyer nicht abhalten lassen, sehr genau hinzuhören auf das, was er uns zu sagen und zu fragen hat, und zu lernen, was wir davon lernen können.

I. Z U M B I B E L V E R S T Ä N D N I S Die Fragen, die von Rittelmeyer an die evangelische Theologie gestellt werden, konzentrieren sich zunächst auf das Verständnis der biblischen Berichte. Hat der Protestantismus überhaupt einen Zugang zu der Welt der Bibel und zu den Bereichen, in denen sich solche Ereignisse, wie sie dort berichtet werden, abspielen? Oder sind wir ausgeschlossen von solchen Erlebnissen, wie sie hier geschildert werden? (S. 24) Die protestantische Theologie schwanke angesichts dessen, was die Menschen der Bibel erlebt und geschaut haben, hilflos zwischen einem Mirakelglauben, der den Zusammenhang mit dem heutigen Denken der Menschheit und einer liberalen Auflösung, welche den Zusammenhang mit den Erfahrungsbereichen der Bibel verloren hat. Wir versuchen, die Erwägungen klarzustellen, aus denen diese Fragen bei Rittelmeyer geboren sind. In einer unbekümmerten Selbstverständlichkeit machen wir nach seinem Urteil unser modernes Bewußtsein und die 167

Denkformen, in denen wir uns der Wirklichkeit bemächtigen, zum alleingültigen Maßstab, den wir auch an die biblischen Berichte anlegen. Ist aber nicht mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sich im Laufe der Menschheitsgeschichte ein tiefgreifender Wandel des denkenden und erkennenden Bewußtseins vollzogen hat? Könnte es also nicht sein, daß die Menschen früherer Jahrhunderte in der Tat nicht nur anders gedacht, sondern anders gesehen und anders erlebt haben, als wir heutigen Menschen? Gehört es nicht z. B. zu jener uns fremd gewordenen Art des Denkens, daß für die biblischen Menschen Sinneseindrücke, Sinngehalte und Wortgestalten in einer sehr viel engeren Weise miteinander verbunden gewesen sein müssen als für uns heutige Menschen, so daß also mit den Sinneseindrücken zugleich (und davon nicht ablösbar!) bestimmte geistige Eindrücke in die Seele einzogen (S. 19)? Wenn diese Möglichkeit ernstlich ins Auge gefaßt wird, so müßte also auch erwogen werden, ob nicht die Sphäre der Bilder und der Leiblichkeit mit einer inneren Notwendigkeit zu der „Sache", dem geistigen Inhalt selbst gehört, und ob es also ein sinnvolles und sachgemäßes Unterfangen ist, jenen geistigen Inhalt aus der angeblich belanglosen Hülse solcher Bilder oder körperlicher Vorgänge herauszuschälen! Es könnte doch sein, daß z. B. die Orts- und Zeitangaben des Johannesevangeliums nicht einen an sich gleichgültigen Rahmen abstecken, sondern mit der Sache selbst, die in diesem Rahmen gesagt worden oder geschehen ist, in einem notwendigen Zusammenhang stehen (S. 19 f.). Von hier aus wäre dann weiter zu fragen, ob nicht die Menschen der Bibel das, was sie erlebten und erfuhren, auf ganz verschiedenen Ebenen, sozusagen in ganz verschiedenen Schichten ihres Seins erlebt und erfahren haben, die sie nicht mit jener relativen Sicherheit zu unterscheiden vermochten, mit der wir etwa das Traumbewußtsein und das Wachbewußtsein (keineswegs immer mit absoluter Deutlichkeit) zu unterscheiden pflegen. Rittelmeyer wählt (S. 10 ff.) die Geschichte von dem Wandeln Jesu auf dem Meer als Beispiel und knüpft daran etwa die folgenden Fragen: Sind solche Erzählungen vielleicht ursprünglich gar nicht als Schilderungen äußerer Geschehnisse zu verstehen? Sind sie vielleicht als Schauung geistiger Ereignisse zu lesen? Sind die „Bilder", die in solchen Geschichten vor uns hintreten, nur Erdichtungen frommer Phantasie, oder sind sie vielleicht Spiegelungen objektiver Wirklichkeiten? (vgl. S. 46 f.) Die religionsgeschichtlichen Parallelen, die für solche Erzählungen aufzufinden sind, besagen gar nichts gegen die Wirklichkeit dieser Erlebnisse. Die zumeist nur auflösende Wirkung der religionsgeschichtlichen Forschung gewinnt in dem Augenblick ein positives Vorzeichen, wenn man nicht sofort Abhängigkeit und Nachahmung annimmt, wo 168

vielleicht aus gleichen Quellen die gleichen Erkenntnisse erwachsen sind, und wo es sich um geistige Wirklichkeiten handelt, die sich auf verschiedenem Boden in einer parallelen Weise manifestieren (S. 11. 13). Niemand wird das Recht und das Gewicht solcher Fragen, wie sie hier von R. gestellt werden, von vornherein bestreiten. Die Alleinherrschaft des wissenschaftlichen Bewußtseins, dem sich auch die Bibelwissenschaft weithin mit großer Selbstverständlichkeit verpflichtet fühlte, ist in den 20 Jahren, die seit dem Erscheinen des Buches von Rittelmeyer vergangen sind, auch von ganz anderen Seiten her erschüttert worden. Die Tiefenpsychologie hat die geheimnisvolle Verflochtenheit verschiedener Schichten unserer Existenz, unserer Eindrücke und Erfahrungen aufgehellt und dargetan, daß alles, was wir in unserem Wachbewußtsein erleben, nur einen verschwindend geringen Bruchteil aller der Eindrücke ausmacht, die den weiteren Raum unserer „Seele" füllen und formen. Wir würden auch von hier aus nicht mehr wagen, den Wirklichkeitscharakter aller jener Erfahrungen zu bestreiten, die sich in der Bilderschicht unseres Seelenraumes abspielen, und die zweifellos nicht der äußeren, sinnlich wahrnehmbaren „Welt" angehören. Vor allem aber haben Forscher wie Lévy-Bruhl und van der Leeuw darauf aufmerksam gemacht, daß es neben dem „modernen", an der Wissenschaft geschulten Denken (pensée exacte) eine ganz andere Form des Denkens (pensée primitive) gibt, welche keineswegs auf eine „primitive" Entwicklungsstufe der Menschheit (die sogenannten „Primitiven") beschränkt ist, sondern sich gerade darin als „primitiv", das heißt ursprünglich, erweist, daß sie auch heute bei Frauen, Kindern und Künstlern (auch Männern, die das Kind in sich nicht völlig unterdrückt haben) obwaltet. Dieses „primitive" Denken aber ist bildhaft, es denkt sozusagen nicht in Begriffen, sondern in Bildern, es lebt in Beziehungen (nicht in der Subjekt und Objekt spaltenden Gegenständlichkeit), und es erfaßt in und mit dem Sinneseindruck zugleich den Bedeutungsgehalt der wahrgenommenen Wirklichkeit. Dieses aber ist das Wesen des „mythischen" Denkens, das weder eine Eigentümlichkeit der Bibel noch ihrer antiken oder orientalischen Umwelt, sondern eine ursprüngliche, den modernen wissenschaftlichen Denkgewohnheiten entgegengesetzte Form des menschlichen Denkens überhaupt ist. Hier ergibt sich die Frage, die bei R. zwar, soweit ich sehe, nirgend ausdrücklich gestellt wird und doch sozusagen durch alle seine einzelnen Ausführungen hindurch tönt, ob es möglich ist, den Inhalt der biblischen Berichte ohne einen Verlust oder eine Veränderung in der Sache auch in einer anderen Denkform auszusprechen und wiederzugeben, oder ob die Abkehr von der Alleinherrschaft des rationalen Denkens eine unerläßliche Voraussetzung für den Zugang zu dem eigent169

liehen Inhalt der Heiligen Schrift ist. Wobei dann freilich — worauf Rittelmeyer den meisten Wert legt - die Überwindung dieser Schranke nicht eine (unmögliche!) Rückkehr zu früheren Stufen der Menschheit bedeuten, sondern die ganze in der naturwissenschaftlichen Forschung gewonnene Übung in sorgfältiger Beobachtung und kritischem Erkenntnisstreben in sich schließen würde. Dieser Bericht kann nicht die Absicht haben, tiefer in die sachliche Erörterung dieser von Rittelmeyer gestellten oder gemeinten Fragen einzudringen. Es bedarf freilich keiner umfassenden Begründung, daß und wieso diese Fragen des biblischen Weltbildes uns keineswegs nur von der Anthroposophie her bedrängen, vielmehr auf dem eigensten Gebiet der theologischen Interpretation der biblischen Texte aufgebrochen sind, und wohin es mit Notwendigkeit führt, wenn das an der empirischen Wissenschaft orientierte Denken sich selbst zum kritischen Maßstab für das Verständnis der biblischen Urkunden ernennt. Dieses müßte — wir kehren zurück zu dem Bericht über das Buch von Rittelmeyer — freilich unausweichlich geschehen, wenn wir festzustellen hätten, daß die Menschen der Bibel in diesem mythisch-symbolischen Verständnis der Wirklichkeit gelebt haben, daß aber dieses ihr Denken für uns hoffnungslos fern und fremd und für uns jeder Weg versperrt ist, uns dem Bann jener rationalen Denkformen zu entziehen und selbst wieder einen Zugang zu einer anderen Art der Wirklichkeitserfahrung zu gewinnen. Dieses aber ist die von der Anthroposophie behauptete Möglichkeit, und in dem Hinweis auf diese Möglichkeit liegt sozusagen der Kern alles dessen, was Rittelmeyer der Theologie als Hilfe für sonst unlösbare Fragen und Aufgaben anbietet. Man muß sich die Mühe machen, aus den Ausführungen von Rittelmeyer die konkreten Beispiele herauszupräparieren, an denen er seine Fragestellung demonstriert. Gibt es z. B. unter bestimmten Voraussetzungen für den menschlichen Geist die Möglichkeit, zukünftige Ereignisse vorauszuwissen, also in einem exakten Sinn in die Zukunft zu „schauen", sozusagen eine Geschichtsschreibung in umgekehrter Richtung? Besteht ferner die Behauptung Rudolf Steiners zu Recht, daß es eine nicht durch Studium von Urkunden oder Dokumenten, sondern in unmittelbarer Schau gewonnene Kenntnis vergangener Ereignisse und Entwicklungsperioden gibt? Gibt es also eine Art „Weltgedächtnis", in dem die gesamte Vergangenheit aufbewahrt ist (so wie in uns einzelnen Menschen vielleicht, ja wahrscheinlich, alle vergangenen Bewußtseinsinhalte aufbewahrt sind und aus der anscheinend völligen Vergessenheit unvermittelt in die bewußte Erinnerung aufsteigen können)? Eben dieses Weltgedächtnis ist es, was sich hinter dem Namen der „Akascha-Chronik" 170

versteckt. Steiner war der Meinving, daß es für den nach bestimmten Richtungen hin vorbereiteten und geschulten Menschen zwar sehr anstrengend und ermüdend, aber grundsätzlich nicht unmöglich sei, in dieser „Akascha-Chronik" zu lesen, und daß wesentliche Teile der biblischen Urgeschichten auf einer solchen rückwärts gerichteten Prophetie beruhen (S. 37). (Es ist notwendig, in späterem Zusammenhang auf diese Frage zurückzukommen.) - Eine andere Frage, die R. aufwirft, ist die Frage nach den Engeln. Ist es möglich, alle Engelgeschichten als legendär aus der wirklichen Geschichte auszuscheiden, oder spiegelt sich in diesen Geschichten die Erfahrung einer bestimmten Wirklichkeit, so daß also dann dies die eigentlich brennende Frage wäre, ob und in welcher Form von uns eben diese Wirklichkeitsbereiche wahrgenommen und erfahren werden können? Den Zusammenhang der evangelischen Geschichte mit den Mysterienweisheiten des Altertums sieht Rittelmeyer unter anderem darin, daß es sich hier wie dort um den Weg handelt, auf dem Menschen sich führen lassen, und auf dem ihnen verschiedene Dimensionen der Erkenntnis nacheinander zugänglich werden. Es sei also zu fragen, ob nicht die Evangelien „Einweihungsschriften" in dem Sinne sind, daß sie einen bestimmten Weg der Erkenntnis führen wollen, und daß darum die Struktur des Ganzen und die Reihenfolge der einzelnen Stücke unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachtet und verstanden werden müssen, als es im Gesichtskreis einer literarkritischen oder formgeschichtlichen Methode liegen kann. Schließlich fragt Rittelmeyer, ob die von Arthur Drews u. a. behaupteten astrologischen Hintergründe evangelischer Erzählungen nur als eine Bedrohung der wirklichen Geschichte abzulehnen und zu widerlegen seien, oder ob vielleicht auch hier bestimmte Einsichten in die kosmischen Zusammenhänge des irdischen Geschehens, die unserem modernen Denken fremd geworden und darum in den Aberglauben abgesunken sind, in einer neuen Weise auf uns warten. Es ist völlig unmöglich, diese weit schichtigen und komplizierten Fragen selbst hier zu klären. Wie sehr sie vielfach mit den Fragen des Geschichtsbildes und auch dem Verständnis der christlichen Lehre zusammenhängen, ist offenbar, und manches wird uns darum an späterem Ort noch einmal beschäftigen. Aber auch wer keineswegs bereit ist, die von R. angebotenen Antworten der Anthroposophie als erwünschte Hilfe anzunehmen, wird sich dem Gewicht der Fragen selbst nicht entziehen können. Die Frage nach der Wandlung der Denkformen, die Frage nach dem Verhältnis von Bild und Sache, nach der „Übersetzbarkeit" der biblischen Aussagen in andere Denkstrukturen, alle diese Fragen werden unter uns nicht mehr zur Ruhe kommen. 171

Was mir in diesem Abschnitt des Buches das Bemerkenswerteste scheint, ist das, was Rittelmeyer mit großem Nachdruck als die inneren Bedingungen aufzeigt, unter denen allein es einen Zugang zu den für die selbstsichere ratio verschlossenen Räumen gibt. Zu den Hinweisen, die sich durch das ganze Buch hindurchziehen, gehört auch dieser: „Der Theologe der Zukunft wird viel mehr innere Arbeit in sich selbst leisten müssen" (S. 22). Was versteht Rittelmeyer unter dieser inneren Arbeit? In seinem Buch jedenfalls tritt dabei keineswegs eine speziell anthroposophische Schulung in den Vordergrund, sondern die „aktive Ehrfurcht" (deren Mangel nur allzu leicht unter einem „Mantel der Frömmigkeit" verdeckt wird), die Kräfte der „Andacht und Willenswandlung" (S. 24 f.). Es gehe um eine Theologie, die durchaus und in allen Einzelheiten aus dem Gebet geboren ist (S. 24). Auch darauf werden wir in späterem Zusammenhang, da wo von der praktischen Tätigkeit der Kirche die Rede sein wird, zurückkommen müssen. Aber es muß schon hier auf die innere Verbindung hingewiesen werden, die hier obwaltet. Es ist nicht erlaubt, die Fragen der Denkformen, des Bildbewußtseins, der mythischen Schau von dieser Frage der persönlichen Haltung abzulösen, und jedenfalls darin bedeutet Rittelmeyers Frage eine unüberhörbare Mahnung, daß sich die Bereiche der Wirklichkeit und der Erfahrung, in denen die biblischen Ereignisse beheimatet sind, einer ehrfurchtlosen ratio unerbittlich verschließen, und der Anbetung tiefere Geheimnisse enthüllen als dem kritischen Verstände.

II. ZUM VERSTÄNDNIS DER CHRISTLICHEN LEHRE 1. Wir begegnen weithin den gleichen Gedanken, aber in einer etwas anderen Beleuchtung und in einer größeren Tiefe, wenn wir hören, was Rittelmeyer (S. 60 ff.) „zur Dogmatik und Ethik" zu fragen und zu sagen hat. Rittelmeyer zitiert den (von ihm und von mir in gleicher Weise verehrten) Würzburger (später Münchener) Professor Külpe: Die herkömmliche Dogmatik der evangelischen Kirche kranke an der Unzulänglichkeit ihrer erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Unter ganz bestimmten Gesichtspunkten macht sich Rittelmeyer diese Klage, um nicht zu sagen: Anklage, zu eigen: a) in der evangelischen Kirche mangle es überhaupt an einem echten Verlangen nach religiöser Erkenntnis. Es sehe so aus, als ob der Rekurs auf die Gnade und der Hinweis auf die Unerforschlichkeit Gottes den Menschen davon dispensieren könnte, sich den Inhalten des Glaubens er172

kennend zuzuwenden. Freilich darf der Satz (S. 72) nicht übersehen werden, daß wohl die Religion (wir würden sagen: der Glaube) in unmittelbarer Gewißheit leben kann, daß aber für die Theologie, „wenn nicht mehr geistige Klarheit geschaffen wird", der Weg „entweder in die Skepsis oder in die Autorität" führen müsse. b) Dieser für die Theologie lebenswichtige Erkenntnistrieb richte sich wesentlich auf Wirklichkeitsbereiche, die dem sinnlichen Auge nicht wahrnehmbar sind. Zwar habe sich überall dort, wo noch lebendig vom Glauben geredet wird, „eine letzte Fähigkeit des Menschen erhalten, übersinnliche Eindrücke zu empfangen" (S. 65). Aber diese „dumpfe undurchschaute Geistigkeit" reiche nicht aus, um „mit einem sieghaften Erkennen in die Wirklichkeit vorzustoßen". Die „Notburg eines gegen das weltliche Erkennen verbarrikadierten „antiintellektualistischen Wunderbegriffs" wird verlassen werden, „wie sie schon überwiegend nur von Theologen bevölkert ist" (S. 66). Hinter solchen Gedanken steht die in Rittelmeyers Schrift freilich nicht entfaltete Überzeugung der Anthroposophie, daß es „höhere" Bereiche der Wirklichkeit gibt, die von lins genau so exakt „wissenschaftlich" erforscht werden können, wie das die Naturwissenschaft gegenüber den Erscheinungen der unseren gröberen Sinnen zugänglichen Außenwelt tut. Weil die Inhalte unserer religiösen Erfahrung, „Himmel", „Engel", vor allem Christus selbst, diesen „höheren Welten" zugehören, darum bedarf eine Theologie, die sich und anderen über den Glauben Rechenschaft gibt, einer genaueren Kenntnis von jenen anderen Dimensionen der Wirklichkeit, als sie unserer so stark von der herkömmlichen „materialistischen" Wissenschaft bestimmten Theologie zur Verfügung steht. c) Freilich seien diese „höheren" Bereiche nur einer anderen Erkenntnismethode zugänglich. Den „höheren Welten" korrespondiere in dem Menschen eine Schicht nicht-rationaler Erkenntnisvorgänge. Die Versuche, zu verdeutlichen, was mit den von Rudolf Steiner gebrauchten Ausdrücken „ätherisch" und „astral" gemeint ist (S. 66 ff.), müssen in Rittelmeyers Buch notwendigerweise in kurzen Andeutungen stecken bleiben. Gemeint ist, als Voraussetzung aller religiösen Erkenntnisse, „ein gewisses Hinausragen, ein vielleicht nur vorübergehendes Hinausragen des Menschen über die Welt, in der sich die sinnlichen Eindrücke abspielen, in die nächst höhere Welt". Anders ausgedrückt: weil der Mensch seinsmäßig nicht nur der physischen Welt zugehört, mit der er durch seine Sinnesorgane in Verbindung steht, darum hat er auch feinere Organe der Erkenntnis und kann sie in sich entwickeln, mit denen er jene höheren Bereiche der Wirklichkeit in einer der Naturwissenschaft analogen Weise erforschen kann. Die Gesamtheit dieser „nicht-ratio173

nalen Erkenntnisschicht" ist von der Kirche nicht oder jedenfalls nicht in dem nötigen Maß wahrgenommen und beachtet worden. d) Das entscheidende Merkmal dieser nicht-rationalen Erkenntnisvorgänge sei dies, daß in ihnen die dem rationalen Denken eigentümliche Trennung von Subjekt und Objekt nicht in gleicher Weise gültig ist. Weil dieses Erkennen die Hingabe des Herzens und Willens erweckt, darum finde in ihm eine „Wesensmitteilung" statt, indem sich der Inhalt, auf den sich das Erkennen richtet, mit dem erkennenden Ich verbindet (S. 63). Auf der anderen Seite dürfe der Erkenntnisakt nicht einfach in einen Akt des Vertrauens aufgelöst werden (wie in der neueren protestantischen Theologie weithin geschehen sei), weil „die Offenbarung, auf die der Glaube antwortet, in ihm in irgendeiner Art .Erkenntnis' bewirkt haben muß, ehe es zur Hingabe kommen kann" (S. 63 f.). Aber ohne Liebe könne es keine echte Erkenntnis geben. Liebe freilich nicht als „Zuneigung", sondern als Hingabe (S. 84), daher die Verweigerung des Opfers (der Selbsthingabe) nicht nur als die eigentliche Sünde, sondern als die eigentliche Ursache für die Verderbnis der Erkenntnis zu verstehen ist. e) Sachlich sei für die Erkenntnis, welche hier gemeint ist, vor allem anderen ein verwandeltes Verhältnis zwischen Glauben und Naturwissenschaft zu fordern. An die Stelle der theologischen Rückzugsgefechte müsse eine höhere Erkenntnis treten, „die mit der christlichen Offenbarung übereinstimmt, und sie gewissermaßen ausdehnt auf die bisher dunklen Gebiete" (S. 117). Das würde eine sehr viel engere Beziehung zwischen dem personalen und dem nicht-personalen Bereich der Wirklichkeit bedeuten. Es genüge nicht, darauf hinzuweisen, daß auf einer bestimmten Ebene des Seienden das Ich auftaucht, und daß darum die Bereiche, je näher sie Gott sind, desto stärker zugleich ich-haft sind, sondern es müsse möglich sein, dieses Ich auch in der Weite des ganzen Kosmos wiederzuentdecken. Vielleicht ist der folgende Satz besonders charakteristisch: „Wie in der sprachschöpferisch genialen deutschen Wortform im Inneren des Wortes ,Licht' das Wort ,ich' wohnt, so kann wirklich durch innere Arbeit das Ich nach und nach verfolgt werden bis zu einer Höhe, wo es ganz als Licht strahlt, und das Licht verfolgt werden bis in eine Innerlichkeit, wo es ganz als Ich spricht" (S. 98). (Es ist schade, daß R. die Brücke vom personalen zum nicht-personalen Bereich der Wirklichkeit auch mit solchen sprachlichen Spielereien ohne jeden etymologischen Grund bauen oder ersetzen will.) Dies sei der Boden, auf dem dann das in der Bibel unzweifelhaft vorliegende kosmische Verständnis der Christustatsache neu belebt werden könne. Christus ist wirklich Herr in allen Bereichen, und durch Sein Erdenleben ist eine neue 174

Weltsituation geschaffen worden, indem Er selbst „die neue Welt hineingepflanzt hat in die irdische Todeswelt" (S. 99). Die Frage wird brennend an dem Verständnis der Gleichnisse. Luther habe sich noch nicht völlig gelöst von der okkamistischen Meinung, daß in den Gleichnissen Bild und Sache durch einen Akt souveräner Willkür miteinander verbunden seien, während doch in der biblischen Gleichnisrede vielmehr eine ursprüngliche Intention der Schöpfung auf Christus hin zum Ausdruck komme (wobei zwischen den der personalen Sphäre und den aus der Dingwelt entnommenen Bildern kein grundsätzlicher Unterschied zu machen sei). Es sei darum mehr als eine bloße Vergleichung, wenn Christus die Sonne genannt wird; denn es ist die gleiche reale geistige Güte, die sich in der Opferkraft der Sonne manifestiert, und die durch Christus in der menschlichen Ich-Form gesprochen hat (S. 97 f.). Ein falscher Personalismus reiße auseinander, was eine höhere Erkenntnis zusammenzuschauen vermag. 2. Ausführlich und an vielen Stellen setzt sich Rittelmeyer mit dem Einwand auseinander, solche Aufhebung der Grenze zwischen Geist und Natur führe zwangsläufig zu einer Materialisierung und Verdinglichung geistiger Vorgänge, und vor allem widerstreite die bewußte Pflege solcher Erkenntnisse der Alleinherrschaft der Gnade. In der Tat, sagt Rittelmeyer, könne man in der Erforschung geistiger Phänomene auch nur ahnen, und es sei durchaus im Bereich menschlicher Möglichkeiten, „durch eigene Erlebnisse einen Eindruck davon zu gewinnen, in welcher Weise Jesus von dem Christus-Ich durchdrungen worden ist" (S. 96). Mit einer gewissen Ausführlichkeit wird davon gesprochen, welche große Bedeutung Meditation und Fasten für die Erkenntnis übersinnlicher Wirklichkeiten und für die Weckung des Bildbewußtseins haben. (Es ist wohl begründet und richtig, daß die Methoden solcher meditativen Erkenntnis hier von R. nicht im einzelnen beschrieben oder empfohlen werden.) Wichtiger aber ist, sagt R., das andere: das aktive Bemühen um Erkenntnis und Entwicklung der höheren Erkenntnisorgane steht nicht im Gegensatz zur Gnade, zur Hingabe, zum Gebet. Alle Erkenntnis ist Gnade (S. 74); sie ist ebenso sehr ein Empfangen wie eigenes willentliches Tun. „Der göttlich geistigen Welt kann nicht das Geringste abgezwungen werden" (S. 74). „Nur das ist christlich, was Christus selbst in uns tut" (S. 101). Aber es gibt eine eigene sich öffnende Hingabe, eine Bereitung für den Empfang der Gnade; und die von der Gnade geweckte und erleuchtete Erkenntnis ist selbst eine Form der Verehrung und Anbetung. 3. Daß wir versucht haben, gerade hier zunächst einfach wiederzugeben, was Rittelmeyer über die erkenntnismäßigen Voraussetzungen der Dog175

matik gesagt hat, entspricht dem Wunsch, mit dem dieser Bericht niedergeschrieben wird, daß diese Fragen nicht alsbald mit den bereitliegenden Gegenargumenten zum Schweigen gebracht, sondern zunächst einmal ernsthaft gehört werden. D a s was über die nichtrationalen Formen der Erkenntnis gesagt wird, hängt aufs engste zusammen mit dem, was uns im vorigen Abschnitt als bildhaftes Erkennen und mythisches Denken begegnete. U n d wenn die Anthroposophie von Ätherleib und Astralleib redet, so sollte uns diese außerhalb des Bereichs ihrer Anhänger unverständliche Sprache nicht abhalten zu prüfen, o b sich hinter solchen Vokabeln nicht solche Erkenntnis von der Struktur des Menschen verstecken, gegen die unsere landläufige Psychologie und Erkenntnistheorie vielleicht allzu grobschlächtig und in der Tat in gewissem Sinn materialistisch erscheint. Freilich wird kein Theologe diesen ganzen Abschnitt des Buches von R. lesen können, ohne daß sich ganz bestimmte Gegenfragen erheben. a) Was sind die „höheren Welten", deren Erforschung und denkende Durchdringung uns hier zwar nicht um unseres Glaubens, aber um unserer Dogmatik willen zugemutet und verheißen wird? Was ist der Maßstab, unter dem irgendwelche „Welten" oder Bereiche der Wirklichkeit als „höher" anzusehen und zu werten sind? E s wird an einer Stelle (S. 73) ausdrücklich gesagt, daß die Meditation die Aufgabe habe, die allgemeinen Kräfte des Menschen „in der Richtung nach dem Geiste hin" zu stärken; und diese Bemerkung entspricht durchaus der durchgängigen Gewohnheit bei R., das Göttliche und das Geistige nicht nur äußerlich durch einen Bindestrich miteinander zu verkoppeln, sondern fast als Synonyma zu gebrauchen. Hier aber setzt unsere besorgte Frage ein. D e n n die geistigen Bereiche gehören selbst wie alle stoffliche Wirklichkeit und alle Lebensvorgänge zu der geschaffenen Welt, zu den invisibilia omnia, die samt allen Kreaturen von ihrem Schöpfer durch eine unüberschreitbare Grenze geschieden sind. Gibt es innerhalb der Welt der Kreaturen Bereiche, die Gott „näher" sind als andere? E s scheint mir zwar nicht möglich, diese Frage von vornherein zu verneinen und zu behaupten, daß alle Geschöpfe G o t t gleich nahe und gleich fern seien. Entspricht es nicht auch der biblischen Vorstellungswelt, daß die Engel Gott näher sind als der Stein, und der Mensch in einer unvergleichlich näheren Beziehung steht zu Gott als die Pflanze? Aber wäre wirklich die „Geistigkeit", der Gegensatz zu aller „ g r o b e n " Stofflichkeit, der entscheidende Maßstab für die Nähe oder Ferne zu Gott? Wird hier nicht eine tiefe Kluft sichtbar in dem Verständnis Gottes und Seines Verhältnisses zu der geschaffenen Welt? Die gelegentlich auftauchende Versicherung (S. 79), daß der „Heilige G e i s t " ein deutlich sich offenbarendes göttliches 176

Wesen und Leben sei, und daß der Mensch an ihm wohl teilnehmen könne, „in dem Maße als er durch die Christusentscheidung hindurchgegangen ist", kann die Sorge nicht zerstreuen, daß ganz allgemein der Geist und das Geistige in eine kaum mehr unterscheidbare Nähe zu diesem Heiligen Geist gerückt, und also die verschiedenen Dimensionen geistiger Wirklichkeiten mit den „Tiefen der Gottheit" zwar nicht in eins gesetzt, aber in das Verhältnis einer kontinuierlichen Stufenfolge gebracht werden. Damit aber wäre in bedenklicher Weise der Unterschied zwischen jeder auf Erforschung der Weite und Fülle der geschaffenen Welt gerichteten Erkenntnis und der Erkenntnis Gottes verwischt, und damit zugleich dem Theologen, der hier ein deutliches Warnungszeichen vor sich sieht, ein vielleicht erwünschter Anlaß geboten, auch alle die anderen Gedanken über eine Verwandlung unseres Erkennens und Denkens als unerheblich beiseite zu lassen. b) Die Überzeugungskraft aller dieser Fragen und Hinweise R.s ist freilich noch von einer anderen Seite her gefährdet. Im Grunde laufen alle die Antworten, die R. auf die von der evangelischen Kirche nicht gesehenen, jedenfalls nicht gelösten Probleme anbietet, auf die Versicherung hinaus, daß dem gegenwärtigen Geschlecht der Christenheit in Rudolf Steiner ein Mensch geschenkt sei, der über jene Erkenntnisse verfügt, die dem Protestantismus zu seinem Schaden fehlen; ein Mensch, „der Schau-Erlebnisse aus eigener Erfahrung kennt, der sie aber als Gegenwartsmensch mit bewußter Kritik zu durchdringen vermag, der in freier Weise das .Schauen' als geistige Tätigkeit vollbringt, ohne in krankhafte Zustände zu verfallen" (S. 14 f.). „Es kann unerörtert bleiben, ob nicht die Theologie den ungeheuerlichen Fehler begangen hat, sich einen Menschen entgehen zu lassen, von dem sie ohne irgendwie dem Autoritätsglauben zu verfallen, die bedeutungsvollsten Aufschlüsse hätte gewinnen können über die Welten, um deren Erkenntnisse sie sich bemüht. Es kann der Entscheidung späterer Geschlechter vorbehalten sein, wieviel von der Not der gegenwärtigen Theologie, aus der sie Gewaltakte nicht befreien können, auf dieses Versäumnis zurückgeht" (S. 16). Es wird von Steiner behauptet, daß er durch freie Geistesforschung Erkenntnisse gewonnen habe, die ihm dann an der Bibel bestätigt worden seien (S. 44. 81); mindestens daß er durch Lesen in der „Akascha-Chronik" zu Entdeckungen gekommen sei, für die er nachträglich auch in Dokumenten die Bestätigung fand (S. 115). Ja es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß diese großartige Neuentdeckung der Bibel „erfolgt ist durch einen Geist, der nicht ausgezogen ist, um die verlorene Bibel zu retten, der nicht das Abzeichen irgendeiner Kirchlichkeit trägt, der vielmehr außerhalb der Kirche und der Theologie Christus aufs neue gefunden 177

hat" (S. 44). In einer sehr bemerkenswerten Weise wird (S. 51) zwar nicht von einer neuen Offenbarung, aber doch von der Möglichkeit gesprochen, daß die göttliche Offenbarung in Christus durch Steiner neu erleuchtet werden könne. Solche Empfehlungen setzen den kritischen Leser in eine nicht geringe Verlegenheit. Sie wäre geringer, wenn es erlaubt wäre zu leugnen, daß Rudolf Steiner ein Mann von ganz ungewöhnlichen geistigen Fähigkeiten und Erkenntnissen gewesen ist, der in einer höchst erstaunlichen Breite auf den verschiedensten Gebieten der Forschung und der Praxis fruchtbare, ja entscheidende Anregungen gegeben hat. Unsere Verlegenheit, sage ich, wäre geringer, wenn es verantwortlich gehandelt wäre, die Möglichkeit, daß von einer unerwarteten Seite auch der Theologie, der Bibelwissenschaft, den dogmatischen Grundfragen und der kirchlichen Praxis neue Erkenntnisse zuwachsen könnten, von vornherein auszuschließen. Die souveräne Selbstsicherheit, mit der das in der theologischen Polemik vielfach geschehen sei, ist zwar weithin durch den apodiktischen Anspruch, mit dem die Anthroposophie die angeblichen oder wirklichen Erkenntnisse von Rudolf Steiner vorgetragen hat, herausgefordert, aber sie ist keine gute Antwort darauf. Auch die größte Bereitwilligkeit, die lernbereiteste Offenheit hebt indes die Verlegenheit nicht auf, daß noch im Grunde trotz aller gegenteiligen Versicherungen niemand in der Lage ist, die Steinerschen Behauptungen nachzuprüfen. Rittelmeyer versichert zwar, er wolle uns nicht etwa eine Steiner-Dogmatik anstelle einer Schleiermacherschen oder Bardischen vortragen (S. 89), aber praktisch wird doch der Theologie zugemutet, eine „Hypothese" anzunehmen, die sie nicht nachprüfen kann, und die das in der ganzen bisherigen Geschichte der Christenheit lebendige Bild Christi in vielen Punkten von Grund auf verändert. Die Personal-Union, in der bei Rittelmeyer das theologische Erbe des Protestantismus und die anthroposophischen Erkenntniswege verbunden sind, kann die quälende Frage nicht lösen, ob sich nicht hier überall hinter den gleichlautenden Worten Wirklichkeiten sehr verschiedener Art verbergen, und ob also nicht Steiner durch seine Geistesforschung auf ganz andere geistige Wesenheiten gestoßen ist, die er dann als Christus bezeichnet und in die biblischen Urkunden hineininterpretiert hat. Wir können den Anthroposophen, mit denen wir gerne im Gespräch bleiben würden, das Geständnis nicht ersparen, daß es uns in allen literarischen und persönlichen Gesprächen eine offene Frage geblieben ist, ob Rudolf Steiner von dem Christus, an den die christliche Kirche seit 2000 Jahren glaubt, irgend etwas gewußt hat. Indem das gesagt wird, muß freilich zugleich ausgesprochen werden, daß hier das Gespräch - auch das so spät nachgeholte Gespräch über das 178

Buch von Rittelmeyer — an eine Grenze gelangt ist, wo es nicht weitergeführt werden kann. An eine solche neue Quelle der Offenbarung oder Erleuchtung der bisherigen Offenbarung glaubt man oder man glaubt nicht daran. Und wenn man nicht daran glaubt, dann wird man alle von dort her stammenden Gedanken, Erkenntnisse und Anregungen zwar bereitwillig und lernbegierig, aber doch zugleich mit einem großen Maß an Vorsicht prüfen, ja mit der pflichtmäßigen Sorge, es möchte sich eine imponierende und scheinbar sehr hilfreiche Hypothese doch als ein Irrweg erweisen, der von dem schmalen Weg der Wahrheit in den Dschungel grenzenloser Phantasie führt. c) Wie wir meinen, ist ja Vorsicht schon der Rolle gegenüber vonnöten, welche in diesem Zusammenhang dem Erkenntnistrieb zugewiesen wird. Vielleicht hat die Verlegenheit, in der wir uns der Gedankenwelt von Rudolf Steiner gegenüber befinden, hier ihre tiefste Wurzel. Liegt nicht in dem Drang, ja der Forderung, „höhere Welten" mit der Sicherheit wissenschaftlicher Methoden zu erforschen und also eine „Geistes-Wissenschaft" zu betreiben, noch jener Optimismus gegenüber den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten zu Grunde, der die Naturwissenschaft zu ihrem Siegeszug beflügelt hat? Und ist dieser Optimismus berechtigt und ungefährlich, wenn es sich darum handelt, in jene Gebiete und Bereiche einzudringen, die sich ebenso unserer sinnlichen Wahrnehmung wie unserem rationalen Denken entziehen? Wohl verstanden: es soll nicht bestritten werden, daß es solche Erkenntnisse gibt, und daß es möglich ist, jenen Räumen ebenso ihre Geheimnisse zu entreißen, wie das Naturwissenschaft und Technik mit der Welt des unendlich Kleinen und der Gegenwelt des unendlich Großen getan haben. Aber vielleicht ist es doch nicht nur eigensinnige Verhärtung, wenn wir äußerste Zurückhaltung üben und empfehlen gegenüber dem, was die Geisteswissenschaft von Engelhierarchien, von Menschheitsperioden oder von der Verbindung des Christus-Ich mit dem Menschen Jesus glaubt sagen zu dürfen. Die Frage, ob diese Dinge richtig sind, ist nicht einmal die entscheidende Frage, sondern die Frage, ob es nicht eine metaphysische Neugier als eine spezifische Erscheingungsform menschlicher Hybris gibt, und ob sich nicht gegenüber geistigen Geheimnissen, die ihrem Wesen nach Geheimnisse sind und bleiben, das Märchen von der verbotenen Tür wiederholt, an der der ungehorsame Mensch nicht vorübergehen kann, und hinter der er zwar wirklich findet, was er finden möchte, aber zugleich sein Verderben? Es gehört wahrscheinlich zu dem inneren Gesetz des Geistes, der sich anmaßt, alles mit seiner Wissenschaft — wenn auch einer anderen Art von Wissenschaft - zu durchdringen, daß sich ihm die Grenzen zwischen echter Erkenntnis und schweifender Phantasie verwischen, und 179

daß der von luziferischem Licht Geblendete mehr zu sehen meint, als ihm zu sehen in Wahrheit vergönnt ist. *

Es bedarf nur eines kurzen Nachtrags, um auf das aufmerksam zu machen, was Rittelmeyer in dem Schlußteil seines 2. Kapitels (S. 100 ff.) zu einigen Fragen der Ethik geschrieben hat. Es sind Gedanken, die aller Aufmerksamkeit würdig sind, die freilich auch aus ganz anderen Quellen in der evangelischen Theologie heimisch geworden sind: Es gehe um die Überwindung des Moralismus. Es gelte, das große Lebensgeschenk, das wir durch Christus empfangen haben, auszuwirken und das „Christusleben" zu verwirklichen in unserem Alltag. Im Gebet aktiv einszuwerden mit dem Willen Gottes, wird als das Herzstück christlichen Verhaltens empfohlen. Die Christusliebe aber sei in ihrem Kern ein freiwillig übernommenes Sterben, und eben diese fortgehende Christustat sei der entscheidende Beitrag zur Lösung der „sozialen Frage". Es gelte, in jeder Erdentat das Sterben und Auferstehen in der Nachfolge Christi zu üben (S. 107). Vielleicht ist es mir erlaubt, eine persönliche Erinnerung an Friedrich Rittelmeyer aus jenen Jahren, in denen ich mit ihm als dem Nürnberger Pfarrer aufs engste verbunden war, hier ans Licht zu ziehen, weil sie eben jene Grundhaltung zu bestätigen vermag, aus der 20 Jahre später diese Seiten von ihm geschrieben wurden. Am Vortage eines Osterfestes sprachen wir auf unserem gewohnten SamstagnachmittagsSpaziergang miteinander über die Predigt, die wir vorhatten am anderen Tag zu halten. Ich wollte eigentlich, sagte Rittelmeyer dem Sinn nach, über das Wort aus dem Römerbrief predigen: „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem H e r r n . . . " ; aber dann hätte ich wieder einmal über Staubwischen und Strümpfestopfen predigen müssen. So sehr war es ihm ein Anliegen, „die Kleinheit des Alltags" und „die Tiefe der Welt" miteinander zu verbinden (S. 110). Das Gewicht der kritischen Fragen, mit denen wir einander beunruhigen müssen, raubt den Erkenntnissen, in denen keine Frage zwischen uns steht, nichts von ihrem Gewicht. III. ZUR GESCHICHTSBETRACHTUNG In dem der Geschichtsbetrachtung gewidmeten Teil seines Buches (S. 111 ff.) erhebt Rittelmeyer gegen die herkömmliche Geschichtsbetrachtung und Geschichtsschreibung den Vorwurf, sie seien wesentlich eine Geschichte der äußeren Ereignisse und der Ideen, und sie vernachlässige die Aufgabe, die „hinter der Weltgeschichte wirkenden Intelligenzen", das heißt die objektiven Geistmächte zu erforschen und damit zugleich 180

eine Geschichte der menschlichen Seele selbst aufzuzeigen (S. 112). Die philosophischen Abstraktionen aber, mit denen die angebliche Geistesgeschichte zumeist befaßt sei, seien nur Schatten der geistigen Wirklichkeiten, von denen die Menschheitsgeschichte in Wahrheit bewegt wird (S. 41). (Der Sinn dieses Protestes und dieser Forderung bei Rittelmeyer wurde mir vor Jahren blitzartig erhellt in dem Gespräch mit einem Religionshistoriker, den ich nach einem Vortrag über die Hochreligionen Indiens darauf ansprach, welche Seite der Weltwirklichkeit sich in den Anschauungen einer bestimmten von ihm soeben beschriebenen Religion spiegelte. Diese Art der Befragung schien ihm völlig unerwartet, da er sich bisher offenbar darauf beschränkt hätte, bestimmte Ideen als solche zu beschreiben und zu analysieren, daß es ihm aber anscheinend noch nie in den Sinn gekommen war, es könnten objektive Wirklichkeiten sein, die sich in jenen Vorstellungen ausdrücken und spiegeln). Da es sich aber in der Tat um nichts anderes handele als um die Selbstmitteilung des göttlichen Geistes, so könne „das umfassende Ziel einer wahren Geschichtsbetrachtung" auch beschrieben werden als „die Geschichte der göttlichen Offenbarung in der Menschheit, auch in ihrer zunehmenden Trübung, bis Christus" (S. 125). Denn die Menschheitsgeschichte umfasse den „Abstieg in das menschliche Ich" und zugleich den „Aufstieg in das Christus-Ich" (S. 122 f.). Der Sündenfall sei nicht ein einmaliges Ereignis, sondern ein fortschreitender Prozeß, der sich in einem immer stärkeren Zurücktreten des Göttlichen manifestiert (S. 118). Es kann nicht überraschen, daß sich auf diesem Boden ein anderes Bild der Kirchengeschichte ergibt, als es der herkömmlichen Art der Kirchengeschichtsschreibung entspricht: Kirchengeschichte als Geschichte der Christusoffenbarung in der menschlichen Seele. „Es gibt eine Geheimgeschichte des Christentums, die noch nicht geschrieben ist. Sie ist noch kaum entdeckt. Man könnte ihr das Christuswort voranstellen von dem Sauerteig, der allmählich den ganzen Teig durchsäuert" (S. 144). „Würde nur erst einmal deutlich gesehen, daß die eigentliche Christuswirkung viel tiefer im Inneren sich vollzieht, als alle Bekenntnisse und Gedankenformen reichen!" (S. 145) Es würde sich dann, meint Rittelmeyer, u. a. zeigen, daß es sich in der Auseinandersetzung des jungen Christentums mit der Welt der vorchristlichen Mysterien nicht um eine theoretische Auseinandersetzung, sondern um Wandlungen der Seele und der Erscheinungsformen des Göttlichen in der Seele handelt. So sah Steiner die Gnosis „als einen letzten, nicht mehr zeitgemäßen und in allerlei Dekadenzen geratenen Ausläufer" (S. 135). Ebenso erscheint dieser Betrachtung die Reformation in einem sehr veränderten Licht. Es ist notwendig, hier einige Sätze wörtlich anzuführen: 181

„Wenn man von Luther sagt, er habe für die Menschheit die Gewissensfreiheit religiös durchgekämpft, so wird das heute als liberale Oberflächlichkeit bezeichnet. Man glaubt, Luther erst recht entdeckt zu haben, indem man Wort und Gnade, wie sie ihm wichtig waren, unter Zuhilfenahme moderner Dialektik neu in den Mittelpunkt rückt. In Wahrheit kann man gerade von dem anderen Ausgangspunkt tief in die Geschichte eindringen, wenn man nur nicht bei äußerlichem Humanismus und Renaissancefreiheitsgefühl stehen bleibt. Luther, als er sprach: ,Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? — .Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen!', sucht ein Christentum für das aufwachende Ich der neuen Zeit, das sich in seinem Eigensein auch Gott unmittelbar gegenüber stellen will. In dem ,Wort' kämpft es sich unter dem Schutz einer göttlichen Autorität durch gegen die irdische Autorität. Aber es behält sich doch schon vor, über das ,Wort' aus dem Ich und seinem Verstehen heraus zu urteilen. ,Mein Geist kann sich in dies Buch nicht schicken'... Denn das Ich ist das eigentliche Gefäß des Christus, und der Inhalt, der in diesem Gefäß leben will, ist die Liebe, die göttliche Liebe, die Gnade... Aber indem sich das Ich zunächst ganz auf die Innerlichkeit einstellte und ganz aus der Innerlichkeit leben wollte, half es dazu, daß die Außenwelt dem freien Verstandesforschen überantwortet wurde. Und die Folge war für das äußere irdische Leben der Materialismus... Heute hat man zu erkennen, daß man nicht zurück kann zu Luther, wie er im Aufstieg des neuen Zeitalters drinnen steht, daß man damit an den eigentlichen Aufgaben des Christentums in unserer Zeit vorübersieht und vorübergeht, daß der groß und verheerend gewordene Intellektualismus und Materialismus etwas ganz anderes verlangt als den bloßen Protest aus Luther heraus, daß auch Eigensinn und Freiheit des Ich erstarkt genug sind, um neue Aufgaben in Angriff zu nehmen" (S. 136 f.). Die Forderung nach einer anderen, nämlich weniger auf äußere Ereignisse und auf Lehrbildungen als auf das tatsächliche geistige Geschehen gerichteten Kirchengeschichtsschreibung begegnet Erwägungen und Wandlungen, die in der theologischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte selbst ihre Wurzeln haben. Auch das Verlangen nach einer geistesgeschichtlichen und menschheitsgeschichtlichen Einordnung der Reformation ist uns nicht so fremd, wie Rittelmeyer das jedenfalls damals vor 20 Jahren gemeint hat. (Auch hier sei mir eine persönliche Erinnerung gestattet. Etwa sieben Jahre vor dem Erscheinen des Buches von Rittelmeyer hatte ich ein Gespräch mit einem damals noch im landeskirchlichen Pfarramt stehenden Anhänger der Anthroposophie. Ich entsinne mich sehr genau der tiefen Erregung, die mich innerlichst erschütterte, als mir in jenem Gespräch zum ersten Mal die Uberzeugung begeg182

nete, die Fragen der Reformation seien nicht mehr in allem unsere eigenen Fragen, und es könnte sein, däß wir im Rahmen der Gesamtgeschichte des Christentums in vielem völlig andere Aufgaben hätten, als sie Luther in seiner Zeit und in seiner Weise zu lösen hatte; weswegen die Frage, ob etwas „reformatorisch" sei, kein letzter Maßstab dafür sei, was uns zu erkennen, zu sagen und zu tun von Gott aufgetragen sei. Was mich damals als ein mir völlig neues und fremdes Element überwältigte, ist tief in mich eingedrungen, und ich meine, es sei vieles von dem, was Rittelmeyer im Jahre 1930 gegen die protestantische Kirchengeschichtsschreibung und Deutung der Reformation zu sagen für nötig hielt, inzwischen weithin Gemeingut im kirchengeschichtlichen Selbstverständnis des evangelischen Christentums geworden.) Freilich werden wir von der Freiheit Gebrauch machen müssen, mit der auch nach Rittelmeyer eine unbefangene Prüfung der von ihm vorgetragenen und empfohlenen Gedanken zu geschehen hat. Das gilt etwa einem solchen Satz (S. 144) gegenüber: „Rudolf Steiner hat aus seiner Geistesschau heraus manchen Aspekt für die Kirchengeschichte gegeben, der völlig neu und sehr aufschlußreich ist, so zum Beispiel, als er bis in die Jahreszahlen hinein eine Aufeinanderfolge von sieben Erzengelwesenheiten schilderte, die ihren Einfluß auf das werdende Christentum geltend machen." Auch wer das Hineinwirken von Engeln in unsere irdische Geschichte nicht nur theoretisch für möglich hält, sondern meint, ein wenig davon zu wissen, steht etwas hilflos vor einer mit so viel Sicherheit vorgetragenen Theorie von sieben Erzengel-Perioden der Kirchengeschichte. Ob man hier aufschlußreiche Geistesschau oder konstruierende Phantasie suchen soll, hängt wesentlich ab von dem Gesamt urteil über jene rückwärts gewandte Prophetie, welche in der anthroposophischen Sprache Akascha-Chronik genannt wird; darüber ist schon in einem früheren Zusammenhang dieses Berichtes einiges gesagt worden. Es ist begreiflich, daß darüber von R. in dem Abschnitt über die Geschichtsbetrachtung etwas ausführlicher geredet wird. An einer Stelle (S. 114) gibt Rittelmeyer ein Beispiel dessen, was Rudolf Steiner aus der Akascha-Chronik gelesen hat, und es scheint mir auch in diesem Fall notwendig, diesen Bericht vollständig abzudrucken, um nicht durch eine verkürzende Wiedergabe den Verdacht oder Vorwurf einer Entstellung hervorzurufen: „Wie die Bilder der Vergangenheit in Rudolf Steiner selber auflebten, das sieht man vielleicht am besten aus dem kleinen Beispiel, das er in Luzifer-Gnosis, Heft Nr. 13—18, S. 21 über ein religiöses Erleben der Sonne in uralten Zeiten gegeben hat. ,Die Akascha-Chronik zeigt auf diesem Gebiete schöne Szenen. Es soll eine solche beschrieben werden.Wir sind in einem Walde, bei einem mächtigen Baum. Die Sonne 183

ist eben im Osten aufgegangen. Mächtige Schatten wirft der palmenartige Baum, um den ringsherum die anderen Bäume entfernt worden sind. Das Antlitz nach Osten gewendet, verzückt, sitzt auf einem aus seltenen Naturgegenständen und Pflanzen zurechtgemachten Sitz die Priesterin. Langsam, in rhythmischer Folge strömen von ihren Lippen wundersame, wenige Laute, die sich immer wiederholen. In Kreisen herum sitzt eine Anzahl Männer und Frauen mit traumverlorenen Gesichtern, inneres Leben aus dem Gehörten saugend! — Noch andere Szenen können gesehen werden. An einem ähnlich eingerichteten Platze ,singt' eine Priesterin ähnlich, aber ihre Töne haben etwas Mächtigeres, Kräftigeres. Und die Menschen um sie herum bewegen sich in rhythmischen Tänzen. Denn dies war die andere Art, wie ,Seele' in die Menschheit kam. Die geheimnisvollen Rhythmen, die man der Natur abgelauscht hatte, wurden in den Bewegungen der eigenen Glieder nachgeahmt. Man fühlte sich dadurch eins mit der Natur und den in ihr waltenden Mächten." - Anthroposophen werden es wahrscheinlich als eine respektlose Undankbarkeit bezeichnen, wenn wir ehrlich aussprechen, daß diese höchst banalen Schilderungen urzeitlicher Sonnenerlebnisse kein Verlangen nach weiteren Mitteilungen aus der Akascha-Chronik erwecken. Dagegen verdienen einige Bemerkungen über Sage und Mythos (S. 120 ff.) trotz ihrer fragmentarischen Kürze aufmerksame Beachtung. Ich erinnere mich gelegentlich meiner Beschäftigung mit der Grals-Sage in einem anthroposophischen Buch — die Quelle ist mir nicht mehr zugänglich -einen Satz etwa des Inhalts gelesen zu haben: In der Historie berichtet ein Volk von dem äußeren Hergang seiner Geschichte, in der Sage träumt ein Volk von den treibenden und formenden Kräften seiner Geschichte. Viele echte Geschichtsforscher, auch solche, die keineswegs von der Anthroposophie herkommen oder von ihr beeinflußt sind, sind auf dem Wege, auf Grund vertiefter Einsicht über die übliche Vorstellung hinauszuwachsen, als gelte es überall die „wirkliche" Geschichte von den „sagenhaften" oder „mythischen" Beimischungen zu „reinigen". Die Geschichte der protestantischen Theologie in den letzten 20 Jahren hat nur allzusehr als richtig erwiesen, was Rittelmeyer damals vor 20 Jahren geschrieben hat (S. 121): „Gerade in bezug auf den Mythos steht die Theologie vor einer der wichtigsten Entscheidungen. Trotz aller Wälle und Gräben muß der Einbruch der Mythologie die christliche Geschichte zerstören, wenn nicht eine neue Anschauung vom Mythos gewonnen wird." Der unmittelbar darauf folgende Satz deutet an, in welcher Richtung diese neue Anschauung vom Mythos gesucht wird: „Nicht die spielerisch dichtende Phantasie, auch nicht das primitive Weltdenken ist das Ursprungsreich des Mythos, sondern ein wirkliches geistiges Schauen, 184

das Wahrheit erreicht." — „ E s treten allerdings die vorchristlichen und außerchristlichen Schauungen näher an das Christentum heran, und andererseits werden die biblischen Aussagen in einen allgemeinen Geschichtszusammenhang hineingestellt. Aber das gesamte Ergebnis ist doch, daß die chrakteristische Eigenart der christlichen Offenbarung nur um so deutlicher hervortritt, und daß zugleich im vorchristlichen und außerchristlichen Religionsverlauf eine großartige Heilsgeschichte als Hintergrund des Christentums sichtbar wird" (S. 121). Die Gefahren, die hier am Wege liegen, sind kaum zu übersehen. Sie sind gewiß nicht nur in den unkontrollierbaren Schauungen der AkaschaChronik beheimatet, sondern ebenso in der Verwischung von Grenzen und einer synkretistischen Neigung, die verschiedensten Schauungen der Geistes- und Religionsgeschichte mit dem Christus-Wesen in eine positive Beziehung zu setzen. Was heißt es z. B., daß es „Bemühungen" gebe, „die gewiß keineswegs aus bewußtem Christentum hervorgegangen sind und mancherlei andere Impulse in sich tragen, die aber doch auch den Christus-Hintergrund immer wieder deutlich durchschimmern lassen"? (S. 146) Doch muß sich auch hier mit der nötigen Vorsicht und Abwehr die umgekehrte Sorge verbinden, daß nicht das Christentum, um sich rein zu bewahren, sich in seiner Isolierung verbarrikadiere und aus Angst vor einer uferlosen Weite, in welcher alle Konturen verschwimmen und selbst das Luziferisch-Antichristliche noch auf seine Christusimpulse hin angesprochen wird, Zuflucht in einem geistesgeschichtlichen Ghetto enger Selbstgenügsamkeit suche.

IV. Z U R P R A K T I S C H E N W I R K S A M K E I T Die in diesem Bericht wiederholt ausgesprochene Bitte und Mahnung, es möchten nicht um der notwendigen Zurückhaltung oder entschiedenen Abwehr willen die Fragen, die Rittelmeyer an die evangelische Kirche richtet, überhört und die positiven Hinweise, die er gibt, übersehen werden, gilt in besonderem Maß gegenüber dem, was Rittelmeyer zur kirchlichen Praxis sagt (S. 150 ff.). a) Auch hier setzt Rittelmeyer mit einer scharfen Kritik der protestantischen Überlieferung ein. Sein Einwand richtet sich vor allem gegen die Art, wie in unserer Kirche Pfarrer ausgebildet werden. Über die Schulung in der Handhabung rationalwissenschaftlicher Methoden sei kein 185

Wort zu verlieren. Aber es fehle daneben fast gänzlich eine Hilfe zur geistigen Arbeit an sich selbst. „Wir haben in diesen Ausführungen öfters ausgesprochen, daß der Theologe der Zukunft, auch wenn er sich ganz der Wissenschaft widmet, viel mehr innere Arbeit in sich selbst wird vollbringen müssen. Auch der Theologe, der in der Praxis steht, und er gewiß nicht am wenigsten, wird ganz anders als bisher Bescheid wissen müssen über die Möglichkeiten und Methoden einer richtigen Wesensbildung und Selbsterziehung. Schon deshalb, weil die Menschen um ihn mehr davon wissen werden" (S. 150). „Der Pfarrerstand ist heute in einem erschreckenden Maß der Gefahr der Verflachung und Verweltlichung ausgesetzt. Nur regelmäßige, starke und kundige innere Arbeit kann ihm helfen, die innere Sicherheit zu gewinnen, deren er bedarf, und die Jenseitigkeit, in der er stehen sollte, im Leben zu bewahren" (S. 154). Dabei können weder die in Indien noch andererseits die in Amerika entwickelten Methoden der Selbsterziehung uns in unserer Aufgabe entscheidend helfen, noch vollends entsprechen die Hilfen zur Erziehung in Selbstbeherrschung und Geistesstärke, wie sie die Ignatianischen Exerzitien geben, unserer heutigen geistesgeschichtlichen Verantwortung. „Aber die Frage ist, ob nicht die Stunde kommt, wo es nach errungener Selbständigkeit und Innerlichkeit möglich ist, eine Geisteserziehung aufzubauen, die dem Menschen eine freie Hilfe werden kann, sein geistiges Wesen in Kraft zur Entfaltung zu bringen. Es könnte Geistesgesetze geben, die man kennen sollte, Geisteserfahrungen, deren man sich nicht zu entschlagen braucht, Geisteswege, auf denen das Streben aufwärts führt" (S. 15). Man möge, sagt Rittelmeyer, solche Hinweise und Ratschläge nicht einfach durch den Hinweis auf die Alleinwirksamkeit der Gnade abtun und möge also nicht die Gnade zu einer Rechtfertigung der geistigen Trägheit mißbrauchen. „So wenig die ,Gnade* dem Menschen erspart, Theologie zu studieren, so wenig wird sie ihm ersparen, Geistesgesetze kennenzulernen. So wenig sie unnötig macht, das Menschenleben aufmerksam zu beobachten, um ihm helfen zu können, so wenig will sie unnötig machen, die Geistesorganisation des Menschen zu erkennen, um sie handhaben zu können" (S. 152). Als das große Mittel einer solchen geistigen Erziehung und Selbsterziehung wird die Meditation empfohlen. Rittelmeyer macht (S. 154 ff.) einige Mitteilungen über die verschiedenen Arten der Meditation, von denen Rudolf Steiner gesprochen habe. Diese Mitteilungen sind freilich zu knapp, als daß man positiv oder kritisch dazu Stellung nehmen könnte; zumal die Mehrzahl der hier wiedergegebenen Ratschläge von vornherein nur für einen kleinen esoterischen Kreis und teilweise auch hier nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen gemeint sind. Wichtig 186

daraus scheint mir allerdings die hier wirksame Erkenntnis, daß Meditation im strengen Sinn — nicht in jenem abgeblaßten und mißbräuchlichen Sinn, in dem das Wort heute leider fast allgemein in unserer theologischen Literatur verwendet wird — nicht aus allgemeinen Anweisungen, wie sie Rittelmeyer selbst in seinem Buch über Meditation gegeben hat, gelernt werden kann, sondern nur in persönlicher Führung, die in genauer Kenntnis seelischer Voraussetzungen und Möglichkeiten und in persönlicher seelsorgerlicher Verantwortung geübt wird. (Man muß hinzufügen, daß der Aberglaube, man könne alles „veröffentlichen" und könne darum auch alles aus Büchern lernen, die Einsicht bei uns völlig verdunkelt hat, daß man bestimmte wesentliche Dinge nur in einem persönlichen Meister-Schüler-Verhältnis lernen kann, und daß die Ignorierung dieser uralten Weisheit eine wesentliche Ursache dafür ist, daß wir — gerade wir Theologen - im geistlichen und damit im ganz persönlichen Bereich nicht weiterkommen.) Wichtiger als diese etwas unfruchtbaren Mitteilungen aus der Meditationspraxis von Rudolf Steiner scheint mir eine allgemeine Bemerkung zu sein, die Rittelmeyer über das Wesen der Meditation macht. Es ist auch hier am besten, Rittelmeyer selbst zu hören. Er geht aus (S. 152 f.) von der Beschreibung der Meditation als einer „Versenkung". „Gerade das Wort .versenken', das wir auch gebrauchen, wenn wir einen Leib ins Grab legen, zeigt uns, daß wir auf dem richtigen christlichen Wege sind. Nichts anderes ist wirkliche christliche Versenkung als ein Sterben — um aufzuerstehen. Der Mensch gibt sich vor irgendeiner christlichen Wahrheit in den Tod, damit diese Wahrheit, diese Wirklichkeit, in ihm erstehe und lebe. Sie kann nicht anders wirklich auferstehen und leben, als indem der Mensch sich selbst in einen inneren Tod gibt. Vom Grab des alten Wesens aus betrachtet man die Wahrheit, die Offenbarung, die Tat, wenn man meditiert. Die Schwierigkeit des Meditierens besteht gerade darin, daß der Mensch noch nicht sterben kann und — noch nicht sterben will." Ich würde es für verhängnisvoll halten, wenn wir durch die wahrscheinlich sehr nötige Zurückhaltung gegenüber bestimmten Steinerschen Wegen und Rezepten der Meditation uns abhalten ließen, die Erkenntnis gering zu achten, die in diesen Sätzen ausgesprochen ist. Wenn das rational-begriffliche Denken eine Form der Herrschaft und der Bemächtigung ist, so ist das meditierende Denken eine Form der Hingabe. Man kann den Unterschied der beiden Verhaltensweisen bis in die leibliche Haltung hinein (in „angespanntem" Nachdenken und in „entspannter" Betrachtung) beobachten, und ich fürchte, Rittelmeyer hat recht, wenn er die innerste Wurzel der Schwierigkeiten und Bedenken, die unter uns im allgemeinen der Meditation entgegenstehen, in der unüberwindlichen Scheu 187

davor sieht, sich fallen zu lassen, sich hinzugeben, etwas an sich geschehen zu lassen, kurzum „sein Leben zu verlieren", um es neu zu gewinnen. Auch hier können die kritischen Bedenken gegen Hintergründe und Zusammenhänge das Gewicht der schlechthin richtigen Erkenntnisse nicht verringern und dürfen uns nicht abhalten zu erkennen, was wir hier zu lernen haben - oder zu lernen hätten, wenn wir es nicht vielleicht längst von ganz anderer Seite gelernt hätten.*) b) Auf einer etwas anderen Ebene bewegen sich die Ausführungen, die Rittelmeyer im gleichen Abschnitt seines Buches (S. 158 ff.) über den Gottesdienst macht. Es sei notwendig, einen anderen Gottesdienst zu suchen als den protestantischen Predigtgottesdienst. „Der Predigtgottesdienst des Protestantismus mit der Predigt im herrschenden Mittelpunkt ist wirklich das Entsprechende für das Zeitalter des Intellektualismus. Und es ist — positiv und negativ - viel gewonnen, wenn man dies deutlich sieht. Man wendet sich in diesem Gottesdienst an das Verständnis. Man legt aus, wendet an, begründet, verteidigt. Anders kann man einem intellektualistisch eingestellten Geschlecht zunächst nicht nahekommen." Aber eben aus diesem Grunde hat die protestantische Predigt heute für weitaus die meisten Menschen ihre Wirkungskraft verloren. Das Ziel alles Gottesdienstes, auch aller Verkündigung, ja aller christlichen Tätigkeit, ist nicht die Mitteilung von Gedanken, sondern die Vereinigung mit Christus (S. 157. 174). „Das Entscheidende ist nicht das Wort, das Christus verkündigt, sondern die Tat, die Er vollbracht hat. Darum kann auch die rechte Christuspredigt niemals das Wort sein, sondern nur die Tat." Man muß aber sehen, „daß zwischen dem Wort im Gottesdienst und der Tat im Leben ein Zwischenglied fehlt: die Tat im Gottesdienst" (S. 160). Weil aber das entscheidende Merkmal der Christustat das Opfer ist, darum kann es keinen wahrhaft christlichen Gottesdienst geben, ohne daß diese Opfertat Christi in einem nicht nur als Erinnerung, sondern als lebendiges Geschehen gegenwärtig wird. „Daß damit Selbsterlösung und Werkgerechtigkeit gepflanzt wird, ist ausgeschlossen, wenn dies Opfer ganz nur als selbstverständliche Antwort auf das göttliche Opfer geübt wird, das für uns gebracht wurde" (S. 161). „Läßt heute in der Menschheit die Opferkraft sichtlich nach - soweit nicht die Opfer durch die Gewalt der äußeren Forderungen erzwungen werden —, so liegt es mit daran, daß kein Gottesdienst da ist für weite Kreise der Menschen, in

* ) Daß auch in den Ausführungen Rittelmeyers zur Meditation zwischen „geistiger" und geistlicher" Erziehung künftiger Pfarrer nicht immer deutlich geschieden wird, und der idealistische Ursprung der Anthroposophie sich gerade in einer religiösen Überschätzung alles „Geistigen" enthüllt, soll an dieser Stelle zum wenigsten angemerkt werden.

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dem sie das Opfer üben, sich immer wieder zu ihm entschließen und es in der Seele vollziehen: das Opfer, das allem anderen Opfer im Leben zu Grunde liegen will und kann" (S. 151 f.). Die Forderungen eines solchen Gottesdienstes darf nach R. nicht im Gegensatz zur Predigt gesehen werden. Denn gerade aus Kultus und Meditation allein kann eine Erneuerung der Predigt stattfinden. „Vor allem lernt der Prediger im Kultus, wenn er richtig gehalten wird, so sehr die Hauptsache von Nebendingen zu unterscheiden und in der Hauptsache zu leben: Tod und Auferstehung Christi — daß von da der allerstärkste und allersicherste Hintergrund in der Predigt sich geltend macht. Prediger, die keinen Kultus halten, können gar nicht wissen, wie aus dem Vollen heraus zu sprechen ein echter Kultus erlaubt" (S. 175 f.). Schließlich ist auch nur ein solcher Kultus, in dem die Christustat in lebendigem Zeugnis gegenwärtig wird, geeignet, den Individualismus der Predigthörer zu überwinden und sie zu wirklicher Gemeinde zu binden (S. 173). In dem allen ist nun so viel echte Erfahrung und Erkenntnis, und es begegnet sich so sehr mit Fragen, die innerhalb der evangelischen Theologie gerade der letzten Jahre verhandelt werden, und mit Erfahrungen, die auf unserem eigensten Boden gewonnen worden sind, es ist so wenig auf die Gedankenwelt der Anthroposophie beschränkt, daß man nur bedauern kann, daß Rittelmeyer glaubt, diese Gedanken durch hochfahrende und lieblose Urteile über kultische Versuche im Protestantismus (bei welchen angeblich der Kultus gar nicht ernst genommen wird) unterstreichen und bekräftigen zu müssen (S. 170). Er kann sie dadurch nur abschwächen und durch solchen Monopolanspruch anthroposophischer Erkenntnisse das Wirksamwerden der notwendigen Erkenntnisse innerhalb des Protestantismus hemmen und erschweren. Wir sollten uns davor hüten, diese Haltung in gleicher Weise zu vergelten, und uns statt dessen ehrlich freuen, an dieser Stelle auch in der Anthroposophie richtige Erkenntnisse zu finden. c) Über das Abendmahl wird von R. nicht ausführlich gesprochen. Gelegentliche Andeutungen (S. 161) sind in ihrer Kürze notwendigerweise unzulänglich. Der Zweck der Schrift erklärt diese Zurückhaltung; wäre ausführlich von der Umwandlung die Rede, welche die römische Messe durch Rudolf Steiner in der „Menschenweihehandlung" der Christengemeinschaft erfahren hat, so würden ohne Zweifel tiefe Gegensätze offenbar werden. (Aber das Gespräch darüber ist ja erfahrungsgemäß auch dadurch erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht, daß nach der Uberzeugung der Christengemeinschaft ihr sakramentaler Kultus überhaupt nicht aus dem Traditionszusammenhang des abendländischen christlichen 189

Kultus entstanden, sondern ähnlich wie die römische Messe in ihrer ursprünglichen Gestalt aus überirdischen Geistesmächten entstanden ist, daß also die Übereinstimmung mit der römischen Messe nicht auf literarischer Abhängigkeit, sondern auf einer gleichen inspiratorischen Entstehung beruhen. Gegenüber diesem Anspruch hat die Möglichkeit einer sachlichen und kritischen Untersuchung aufgehört.) Dem gleichen Widerspruch muß die Behauptung (S. 168) begegnen, daß eigentlich nur die Anthroposophie die entscheidenden Erkenntnisse über das Geheimnis des Abendmahls zu erschließen vermöge, weil nämlich die Anthroposophie den Menschen lehre zu meditieren, und weil man das sakramentale Geschehen dem Verständnis nur näher bringen könne innerhalb einer Weltanschauung, die über den Zusammenhang zwischen Geist und Natur mehr zu sagen hat als die heutige Naturwissenschaft. Beides, daß es wichtig ist, meditieren zu lernen, und daß wir lernen müssen, Geist und Natur nicht nur als Gegensätze, sondern auch in ihrem Zusammenhang zu sehen, ist richtig. Aber bei beidem ist der sehr entschieden erhobene Absolutheits- oder Monopolanspruch der Anthroposophie entschieden als sachlich unrichtig zu bestreiten. Dagegen verdient es wieder ernste Beachtung, wenn gegen die römische Lehre u. a. eingewendet wird, daß es verkehrt sei, die sakramentale „Transsubstantiation" als ein „isoliertes Wunder" gleichsam im Tempel aufzubewahren, „während die Welt draußen ganz andere Wege ginge"; vielmehr handelte es sich um die Wiederherstellung der ganzen Schöpfung. „Aus einem überleuchtenden Weltbewußtsein schafft Christus in diesem Augenblick die neue Erde." — „Das heilige Mahl ist eine kultische Vorwegnahme, ein irdischer Vorgeschmack der neuen Welt, die kommen soll. Nicht weniger!" (S. 166) Aber welcher „Augenblick" ist das, in dem das geschehen ist oder geschieht, wenn gleichzeitig gesagt werden kann: „Dies alles wäre wahr, auch wenn Christus nicht das heilige Mahl ausdrücklich eingesetzt hätte." Wirklich: auch dann? d) Nur auf den allerletzten Seiten seines Buches berührt Rittelmeyer Fragen der Seelsorge. Nicht ohne Grund stellt er die Seelsorge als eine geistige Werde-Hilfe in Gegensatz zu einem Erbauungschristentum, das wesentlich auf das Gefühl wirken will und diese Gefühle künstlich aufbläst - Rittelmeyer gebraucht den Ausdruck „Blasebalg-Gefühle". Unentbehrlich für echte Seelsorge sei die Wiederbelebung der Beichte. Aber sie könne nur da lebendig sein, wo es „Priester" gibt, die in jedem Seelsorgergespräch „Kommunion mit Christus" bringen können; weswegen es die entscheidende Aufgabe sei, „durch zeitgemäße Meditation und zeitgemäßen Kultus einen neuen Priestertypus in die Welt zu stellen" (S. 180). Es bedarf weniger Worte, um diesen kritischen Bericht abzuschließen. Er 190

möchte auf die von R. und der Anthroposophie gestellten Fragen antworten oder doch die Richtung andeuten, in der eine Antwort zielen müßte. Aber er wendet sich zugleich an die evangelische Theologie selbst und macht sich zum Interpreten, vielfach auch zum Anwalt der Fragen und Anliegen, die Rittelmeyer an die Adresse der protestantischen Theologie richtet. Der Verfasser macht keinen Hehl daraus, daß ihm das Gespräch nach dieser Richtung noch mehr am Herzen lag, und daß ihm dieses zugleich aussichtsreicher scheint als das direkte Gespräch mit der Christengemeinschaft, die offenbar nicht gewillt ist, sich ernstlich fragen oder warnen, geschweige denn belehren zu lassen. Aber auch in der überwiegenden Anrede an die Glieder der eigenen Kirche befindet sich der Berichterstatter in einer zwiespältigen Lage, und er meint, daß diese Zwiespältigkeit von der Sache her unaufhebbar ist. Die Leser werden die vorsichtige Zurückhaltung des Urteils (die nur an ganz wenigen Stellen bewußt verlassen ist) wahrnehmen. Sie werden wahrnehmen, wie sehr es das Anliegen des Berichterstatters gewesen ist, die Fragen Rittelmeyers wirklich ernst zu nehmen und dafür zu sorgen, daß seine „Anliegen" nicht überhört werden, und zugleich noch deutlich zu machen, daß damit weder alle Prämissen noch alle Folgerungen bejaht und anerkannt werden. Solche abwägende Haltung gerät freilich nur allzuleicht in den Verdacht der Schwäche, der Unsicherheit, der falschen Nachgiebigkeit. Die unentwegt Hundertprozentigen auf beiden Seiten werden unzufrieden sein, weil die einen ein ganzes Ja verlangen, die anderen ein ganzes Nein erwarten, um sich nach der einen oder nach der anderen Seite in ihrer schon fertigen Meinung bestätigt und bestärkt fühlen zu dürfen. Aber eben dieses Verhalten wäre nach beiden Seiten hin falsch und gefährlich. Denn die gegenwärtige Stunde verlangt von der evangelischen Kirche ein Doppeltes, das schwer miteinander zu vereinen ist. Es ist von uns gefordert, daß wir abseits jeder Selbstgerechtigkeit und Selbstsicherheit ehrlich bußfertig sind, aufrichtig bereit zu lernen, was wir neu zu lernen oder wieder zu lernen haben, demütig genug, Versäumnisse früherer Zeiten und unserer eigenen Gewohnheiten als solche zu erkennen, und lebendig genug, Dinge aufzunehmen und mit dem eigenen Leben zu erfüllen, auch wenn sie zunächst sehr fremd sind, wenn sie nur, an dem Evangelium geprüft, sich als ein vergessenes und verlorenes Erbe aus der Fülle Christi erweisen; brennend in dem Eifer, den heimatlosen und ratlosen Brüdern um uns das Tor in die Weite der Wahrheit zu öffnen, und ehrlich bereit, zuzugestehen, daß Gottes Wahrheit keinem so zu eigen gehört, daß er darüber verfügte, und daß es Gott gefallen kann, denen, die nach Gott, aber nicht nach uns gefragt haben, Seine göttliche Weisheit zu 191

offenbaren. Das alles ist von uns verlangt, und es wäre ein tiefer Ungehorsam, ja wir würden in die bedenklichste Nähe der Schriftgelehrten und Pharisäer geraten, wenn wir uns und unsere Theologie mit hohen Mauern der Polemik umgeben wollten, hinter denen gerade die entscheidende neue Erkenntnis auf uns wartet. — Aber zugleich und mit gleichem, oder wo es sein kann mit noch größerem Ernst gilt das andere: Es ist uns aufgetragen, die Geister zu prüfen. Denn nicht die offenbaren und groben Irrtümer sind heute die Gefahr der Kirche, sondern die Verwechslungen, mit denen der große Zerwerfer uns verwirrt und verführt. Die Kraft der Verwechslungen und Vertauschungen aber ist darin begründet, daß dem Falschen so viel Wahres beigemischt ist, daß sich das Fremde als das erneuerte und verbesserte Eigene empfiehlt. Wir sind durch das eigene Wort des Herrn gehalten, besonders vorsichtig zu sein, wenn uns ein neuer, besserer, sicherer Zugang zu Christus empfohlen wird, ein Zugang, den auch unsere Forschung und unser Erkenntnistrieb finden und gebrauchen kann, und wir werden solcher Empfehlung nicht unkritisch glauben, daß es wirklich Christus sei, dessen Geheimnis uns auf solche Weise leichter zugänglich gemacht werden soll. Wir erinnern uns daran, daß der schöne Luzifer keineswegs arm ist an echten Erkenntnissen, daß er aber - eben dies wurde uns als eine gelegentliche Äußerung von Rudolf Steiner berichtet — die Erkennenden lüstern macht, mehr zu wissen, als was ihnen geoffenbart ist, und daß er in ihnen das Vermögen trübt, zu unterscheiden zwischen wirklicher Erkenntnis und jenem unheimlichen Mehr, das nicht geschenkt, sondern geraubt ist. Vielleicht sind die Fragen, die Rittelmeyer an uns stellt, nur auf dieser Ebene zu verstehen und zu beantworten. Es wäre dann also kein Zufall, daß solche Fragen in uns ebensoviel dankbare Zustimmung wie vorsichtige Abwehr und entschiedenen Protest wecken; kein Zufall also, daß der Berichterstatter sich unvermeidlich von beiden Seiten dem Vorwurf der Halbheit ausgesetzt sieht. Aber könnte es nicht sein, daß dieser Vorwurf mit Notwendigkeit den trifft, der den schmalen Gratweg der kritischen Offenheit (die ebenso gegen sich selbst wie gegen den anderen kritisch ist) nicht verfehlen und ebenso den Abgrund zur Linken wie den zur Rechten meiden möchte. Ohne Bild gesprochen: der weder sich undankbar verschließen möchte für unerwartete Quellen wirklicher Belehrung und Erkenntnis, noch auch sich verlocken lassen möchte von einem hell leuchtenden Feuer, um dieses Feuer dann als ein fremdes Feuer auf den Altären der Kirchen zu entzünden? Es ist nicht möglich, den Gratweg der Wahrheit breiter zu machen, als er ist. 192

DIE FRAGE NACH DER EINHEIT DER KIRCHE (1973) Ich entsinne mich sehr genau daran, daß in dem Katechismus, mit dem ich aufgewachsen bin, die Frage enthalten war: Wie viele christliche Kirchen gibt es? Die Antwort lautete: Es gibt zwei Kirchen, die evangelische und die katholische. Die katholische zerfällt in die römisch-katholische und die griechisch-katholische Kirche. Die evangelische in die evangelisch-lutherische, die evangelisch-reformierte und die evangelischunierte Kirche. Jeder einzelne Christ gehört nach diesem Schema in einer exklusiven Weise einer dieser „Kirchen" an und hätte also auf die Frage nach seinem „Bekenntnis" zu antworten: er sei römisch-katholisch oder evangelisch-lutherisch usw. Das Ärgernis macht uns unglaubwürdig Stärker als vorangehende Generationen empfinden wir aber den peinlichen Unterschied zwischen diesem Zustand und dem Bekenntnis zu der „una sancta et apostolica ecclesia"; noch mehr zu der selbstverständlichen Einheit der Kirche in den ersten Jahrhunderten, wo der Plural „ecclesiae" (d. h. Kirchen) nur die verschiedenen lokalen Ausprägungen dieser einen und unteilbaren Kirche bezeichnen konnte; vor allem den peinlichen Gegensatz zu dem Gebet des Herrn, daß seine Jünger alle eins seien. Wir wissen, daß die tatsächliche Zerspaltenheit der Christen ein „skandalon" ist, ein Ärgernis, das die Glaubwürdigkeit der Kirche in Frage stellt. Diese neue Selbstbesinnung der christlichen Kirche, die heute im Gange ist, erinnert sich vor allem an die vorgegebene Einheit aller Christen im Glauben an den einen Herrn. Das Bekenntnis zu dieser tatsächlichen und vorgegebenen Einheit bedeutet zugleich die Mahnung, diese Einheit „in dem Heiligen Geist" als ein uns Vorgegebenes und Anvertrautes festzuhalten (Eph. 4,3). Der Plural, der an die Stelle des einen Geistes eine Vielzahl von Geistern setzt, bedeutet im Neuen Testament nicht etwa die verschiedenen Grundsätze getrennter Kirchen, sondern die den Menschen verwirrenden und vergewaltigenden bösen Geister, die uns in unserer persönlichen Verantwortung und damit zugleich in dem Bekenntnis zu der Einheit der Kirche bedrohen. Die Einheit der Welt fordert die Kirche Aber sosehr die ökumenische Bewegung diese vorgegebene Einheit der Christen betont, weiß sie doch, daß wir uns nicht beruhigen können mit 193

diesem Wissen um eine vorgegebene Einheit. Sie kann auch nicht etwa von der Einheit einer unsichtbaren Kirche reden, während die sichtbare Kirche eben nur in dieser Pluralität existiere. Die ökumenische Bewegung kann vielmehr nicht absehen von der Aufgabe, dieser vorgegebenen und glaubhaften Einheit einen praktischen und sichtbaren Ausdruck zu geben. Damit steht die ökumenische Bewegung in einem tiefen Zusammenhang mit dem, was sich heute in der ganzen Menschheit vollzieht oder was hier zumindest als eine Aufgabe gesehen wird. Denn es gilt heute, menschlich nachzuvollziehen, was sich in der technischen und industriellen Entwicklung bereits vollzogen hat, durch die die Menschheit in einer unerhörten Weise zu einer Schicksalsgemeinschaft verflochten ist. Anders ausgedrückt, es geht um den Durchbruch zu dem neuen Bewußtsein einer interkonfessionellen, ja interreligiösen Verantwortung für die Welt. Aber diese praktische Verantwortung, die uns zum Zusammenschluß und zur Zusammenarbeit treibt, kann nicht das eigentliche Motiv jener Bewegung sein; das ist vielmehr das eigenste Anliegen der Christenheit selbst. Eine nur praktisch bedingte Gemeinschaft entspricht nicht dem, was wir mit der Einheit der Christen meinen, jedenfalls nicht dem, was das Neue Testament mit dem Bekenntnis zu der Einheit der christlichen Kirche gemeint hat. Dieses neue ökumenische Bewußtsein, das in der Christenheit selbst erwacht ist, steht in einem deutlichen Gegensatz zu dem konfessionellen Bewußtsein, für das die Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Konfession" d. h. zu einem Teil der Christenheit, im Vordergrund steht. Man kann ohne Übertreibung von einer wachsenden Indifferenz gegenüber dieser konfessionellen Spaltung sprechen. Besonders in der jüngeren Generation wird diese Überwindung des konfessionellen Bewußtseins mit ungeduldigem Eifer gefordert und vorangetrieben. „Wir wollen nicht mehr auf der Stelle treten." Die Amerikanerin Margaret Mead hat in Uppsala das Wort geprägt, daß diese jüngeren Menschen schon „Einwohner" in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seien, während die Alten erst noch „Einwanderer" in diese Jahre seien. Diese „Einwohner" unserer Zeit fordern lautstark die Artikulation des Glaubens an die Einheit der Kirche als eine Sinngebung ihrer eigenen christlichen Existenz, und zugleich als Hoffnung gegenüber Kleinmut und Resignation. Eine Wiedervereinigung ist unrealistisch In dieser Situation kann nichts gefährlicher sein als falsche Vorstellungen darüber, was diese „Einheit" der christlichen Kirche eigentlich ist und was sie sein kann. Kein Enthusiasmus kann uns die nüchterne Besinnung über die wahre Einheit der christlichen Kirche ersparen. 194

Ich weiß nicht, ob es in der römisch-katholischen Kirche heute noch Menschen gibt, die sich die Einheit der Kirche in der Weise vorstellen, daß die von Rom getrennten Kirchen den Weg der Trennung verlassen und in den Schoß der „Mutterkirche" zurückkehren. Von allem anderen abgesehen, ist dabei zu wenig daran gedacht, daß sich die Kirche des Ostens, die sogenannte „orthodoxe" Kirche auch heute noch als die allein legitime Erbin der alten und ungeteilten Kirche ansieht und im Grunde keine andere Kirche als solche gelten läßt. Aber dieser ganzen Meinung von einer möglichen Rückkehr der getrennten in eine Kirche liegt die Auffassung zugrunde, daß die Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts ein häretischer Abfall von der einen und allein wahren Kirche gewesen ist, und daß eben um dieser Einheit willen dieser Abfall zurückgenommen werden muß. Man könnte dagegen schon das Wort anführen, das Kardinal Bea in einem Telegramm an die Kirchen der deutschen Reformation gebraucht hat: „Wir wollen die Schuld an der furchtbaren Spaltung nicht einander zuschieben, sondern gemeinsam nach Wegen suchen, die Einheit wiederherzustellen." In diesem Wort wäre höchstens der Ausdruck „wieder" zu beanstanden. Denn ein solches „wieder" gibt es weder im persönlichen noch im geschichtlichen Bereich. Darum sollten wir auch das anfechtbare Wort „Wiedervereinigung" aus unserem Sprachschatz verbannen, so wie es m. W. auch aus dem Sprachgebrauch des Sekretariats für die Einheit der Christen verschwunden ist. Dieses Wort „ Wiedervereinigung" sollten wir peinlich vermeiden, weil es unrealistisch ist und kein brauchbares Modellfür die erhoffte Einheit aller Christen bietet. Einheit ist keine Frage der Organisation Es wäre aber auch ein Mißverständnis der ökumenischen Bewegung, wenn man ihr zutrauen oder zumuten wollte, die verlorene Einheit durch Organisation, durch Zusammenschlüsse auf höchster Ebene zu finden und zu gewinnen. Damit ist nichts gesagt gegen sachlich berechtigte Zusammenschlüsse, nichts gegen kirchliche Unionen, wo eine frühere Trennung im Verlauf der Geschichte ihren Sinn verloren hat. Auch nichts gegen Arbeitszusammenschlüsse, die aus praktischen Gründen zweckmäßig oder notwendig sein können. Aber solche Zusammenschlüsse haben mit der erhofften Einheit wenig zu tun, schon deswegen nicht, weil keine wirkliche Einheit durch den Zusammenschluß der Teile zustande kommt. Der Weinstock ist kein „Rebenverein", der Leib kein „Gliederverband", weil in allem organischen Leben immer das Ganze vor den Teilen ist. Darin hat Solowjew richtig gesehen, wenn er in seiner „kleinen Erzählung vom Antichrist" (aus dem Jahr 1899!) den organisatorischen Zusammenschluß der petrinischen, der paulinischen und der 195

johanneischen Kirche als einen Triumph des Antichrist beschrieben hat. Niemand sollte sich mit der Frage nach der Einheit der Christen befassen, der sich nicht dieser grandiosen und unheimlichen Vision Solowjews ausgesetzt hat. Es scheint aber auf dieser gefährlichen Linie zu liegen, wenn bis heute die ökumenische Bewegung wesentlich von einem kleinen Kreis der daran Interessierten und darin Sachverständigen getragen wird, während in den breiten Massen des Kirchenvolkes für dieses Streben nach Einheit kein Boden, kein Verständnis und keine Mitverantwortung zu finden ist. Differenzen, die sich nicht überspringen lassen Aber gibt es nicht, von diesen Irrwegen abgesehen, eine sehr populäre Auffassung von der christlichen Einheit als eine bedenkliche Auswirkung der konfessionellen Indifferenz? Hier wird sozusagen die erhoffte Einheit vorweggenommen in einer Gleichgültigkeit gegenüber den Fragen, die zwischen uns liegen und die durch solche Indifferenz keineswegs gelöst werden. Populär ist zweifellos die Meinung, daß wir im Grunde ja doch alle „an einen Herrgott" glauben, vielleicht auch: „an einen Herrn und Erlöser Jesus Christus", und daß alles, worin wir uns unterscheiden und worin wir getrennt sind, theologische Schulmeinungen sind, um derentwillen wir uns nicht zu streiten brauchen. Unfreundlich ausgedrückt: Theologengezänk, um das wir nüchternen Menschen der Gegenwart uns nicht zu kümmern brauchen. Es gibt eine Ungeduld der jungen Generation — und manchmal sind es gar nicht nur jüngere Menschen —, die dazu neigt, in ihrem Enthusiasmus alle geschichtlichen Gegensätze als unwesentlich und uninteressant zu überspringen. Wir haben allen Grund, uns gegen diese Vorstellungen von der christlichen Einheit zu verwahren. Es war mir immer wichtig, zu wissen, daß Kardinal Bea, der verehrte Leiter des Sekretariats für die Einheit, zugleich ein römischer Integralist gewesen ist, der keineswegs geneigt war, im Sinne bestimmter „Progressisten" irgendwelche Abstriche an der überkommenen Struktur oder Lehre der römischen Kirche zu machen. Man muß im Gegenteil wissen, wo der einzelne steht und in welcher Kirche er seinen Standort (ich sage absichtlich nicht Standpunkt) hat. Wir stimmen von Herzen all jenen zu, die mit jeder möglichen Entschiedenheit sagen, daß es keine Einheit der christlichen Kirche auf Kosten der Wahrheit geben kann. Die Paulinische Formel: „Kein anderes Evangelium!" verpflichtet auch diejenigen, die keineswegs der Gruppe angehören, die sich heute zu diesem Schlagwort bekennt. Es gibt keine Revolution ohne Ehrfurcht vor der Geschichte, keine Einigung auf Kosten der Treue. 196

Die Geschichte baut Mauern Freilich können wir uns nicht darüber täuschen, daß in unserer kirchlichen Trennung auch solche Verschiedenheiten eine Rolle spielen, die nicht primär theologischer Art sind Vor Jahren hat der englische Theologe Dodd innerhalb der ökumenischen Bewegung eine erhebliche Aufregung hervorgerufen durch seinen Brief über die „nichttheologischen Faktoren der kirchlichen Trennung". Auch diese historischen, nationalen, soziologischen oder geistesgeschichtlichen Unterschiede sind nicht einfach mit gutem Willen als unwesentlich beiseite zu schieben. Die theologische Diskussion zwischen Ost und West enthüllt immer wieder nicht nur die Verschiedenheit der politischen Situation, sondern auch die Verschiedenheit der Denkvoraussetzungen und Denkstrukturen in der theologischen Arbeit hier und dort. Auch in unseren ökumenischen Arbeitskreisen ist es uns immer wieder sehr deutlich geworden, welch trennende Bedeutung verschiedene sprachliche Gewohnheiten haben. Die Ersetzung der griechischen Sprache durch die lateinische Sprache, die sich etwa im 3. Jahrhundert im Abendland vollzogen hat, war eben nicht nur „Übersetzung", sondern es war die Verpflanzung in einen anderen Raum des Denkens. Die lateinische Sprache ist ebenso ein einigendes Band der ganzen römischen Kirche, wie zugleich eine trennende Mauer gegenüber allen anderen christlichen Kirchen. Die ganze Struktur der lateinischen Sprache hängt so tief mit dem römischen Denken zusammen, daß die Verpflanzung des Evangeliums in den Raum dieses römischen Denkens unvermeidlicherweise bestimmte Aussagen des Neuen Testaments verändert und zum Teil ihren ursprünglichen Sinn verdunkelt hat. Die anglikanische Kirche kann nur aus der Geschichte Englands und aus dem besonderen Charakter dieses Volkes verstanden werden. Ebenso ist die deutsche Reformation nicht zu verstehen ohne den Hintergrund der geschichtlichen Situation des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" in der Wende des 15. Jahrhunderts zum 16. Jahrhundert. Diese Dinge wirken sich oft tiefer aus und lassen sich darum schwerer überwinden als die eigentlichen theologischen Gegensätze. Die Bemühungen, diese Denkvoraus Setzungen zu durchschauen und sich davon unabhängig zu machen, sind auch darum so schwierig, weil diese Voraussetzungen den meisten ganz unbewußt sind und die meisten geneigt wären, diese ihre Denkvoraussetzungen für selbstverständlich und für allgemein gültig zu halten. Darum kann es keine Einheit durch Indifferenz gegenüber diesen theologischen und geschichtlichen Unterschieden geben. Ja, der ehrliche und unerbittliche Dienst an der Wahrheit ist, wenn es auch manchmal anders erscheint, ein notwendiger Beitrag zur Einheit der 197

Christen. Darum sind nur jene Gesprächspartner wirklich ernst ZM nehmen, die nicht auf Kosten der Wahrheit zu einer allgemeinen Versöhnung aufrufen. Die legitime Verschiedenheit anerkennen Wie aber ist dann eine Einheit zu denken, wenn wir weder an die Allmacht der Organisationen oder die Kräfte des guten Willens glauben, noch von der Indifferenz gegenüber theologischen und geschichtlichen Gegensätzen etwas Wesentliches erhoffen? Ich sehe nur ein mögliches Bild der Einheit der Kirche: das ist die wechselseitige Anerkennung des Verschiedenen. Diese Möglichkeit ist uns allen ungewohnt. In diesem Sinn eröffnet die ökumenische Bewegung eine neue Dimension der gesamten Kirche. Von einer solchen neuen Dimension wollte auch Kardinal Bea in seiner Ansprache reden, die er vor dem Sekretariat für die Einheit halten wollte. Dieses Bild der Einheit setzt voraus, daß es eine Verschiedenheit der Verfassung und der rechtlichen Formen, eine Verschiedenheit des Kultes, der „ways of worship", wie der englische Ausdruck lautet, aber auch die Verschiedenheit der Lehrbildung und der theologischen Reflexion gibt. Wo sind die Grenzen, wo die Anerkennung des anderen mit der Treue zur Wahrheit nicht mehr vereinbar ist? Dafür ist wahrscheinlich die Erkenntnis hilfreich, die auch auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil laut geworden ist, daß es eine „Hierarchie der Wahrheiten" d. h. eine verschiedene Rangordnung, einen verschiedenen Stellenwert der einzelnen Lehrauffassungen gibt. Es ist gewiß leichter, den Andersdenkenden als den Ketzer zu beurteilen, als das Wahrheitsmoment zu integrieren, das dort durch die Isolierung zu einer gefährlichen Halbwahrheit entartet ist. Hier liegt ein unerledigtes Problem, eine unerledigte Aufgabe. Dialog muß zur Ergänzung führen An dieser Stelle muß ich aufmerksam machen auf einen gefährlichen Irrtum unseres landläufigen Sprachgebrauchs. Ich wende mich mit allem Nachdruck gegen die Verwechslung von Pluralismus und Pluralität. Man redet so gerne von dem Pluralismus in der heutigen Welt und ist vielleicht geneigt, auch von dem Pluralismus innerhalb der Kirche zu sprechen. Aber sehr viele gebrauchen das Wort „Pluralismus", wo sie eigentlich Pluralität meinen. Die Pluralität der Gedanken, der Sozialformen, der Sprachen und der nationalen Kulturen ist eine unbestreitbare Tatsache unserer Welt; aber der Pluralismus macht aus dieser Verschiedenheit ein neues Prinzip. Er verzichtet auf eine wirkliche Auseinandersetzung oder vielmehr Zusammensetzung des Verschiedenen. Der Pluralis198

mus ist die unverantwortliche Kapitulation vor der Aufgabe, die uns durch die Tatsache der Pluralität gestellt ist, und es gilt von dem Pluralismus, was von jedem dieser Wörter auf „ismus" gilt, daß er eine Einseitigkeit, ein unduldsames Prinzip ausdrückt, d. h. etwas, das wir zu meiden haben. Ich kenne keine Wortbildung auf „ismus", die etwas unbedingt Richtiges und nicht vielmehr eine verwerfliche Einseitigkeit ausdrückt. Wenn das richtig ist, dann ist freilich zu fragen, welchen Ort, welchen Sinn und welches Recht dann noch unsere konfessionelle Polemik hat und haben kann. Kein Gedanke daran, daß um der erhofften Einheit willen diese Polemik verstummen müßte. Im Gegenteil: diese Polemik hinüber und herüber hat ihr Recht und ist notwendig um der Ehrlichkeit willen, aber nicht als Selbstverteidigung, sondern als Hilfe, die wir einander von Kirche zu Kirche, von Theologie zu Theologie leisten sollen, zur besseren und tieferen Erkenntnis. Man spricht heute mit Recht von einem Dialog und unterscheidet mit tiefem Recht den echten Dialog von seiner abscheulichen Karikatur, die man Diskussion nennt, wo nur jeder Recht behalten will und keiner ernsthaft mit der Möglichkeit rechnet, daß er von den anderen etwas lernen könnte. Es gibt heute vorzügliche Beispiele dieses konfessionellen Dialogs, der nicht als „Polemik", sondern als brüderlicher Dienst gemeint ist. Keine Konfession kann und darf sich heute der Einsicht entziehen, wie begrenzt und ergänzttngsbedütfiig die eigene Position ist. Und jede Konfession muß bereit sein ZM der Buße, die mit Notwendigkeit aus solcher Einsicht erfolgt. Den Stil dieses neuen konfessionellen Dialogs müssen wir wohl auf allen Seiten erst lernen, weil es eben diese Art von Polemik in der Vergangenheit kaum gegeben hat. Also weder eine uferlose Toleranz, noch ein Pluralismus, der das hoffnungslos Verschiedene einfach nebeneinander stehen läßt, sondern die Anerkennung der Pluralität und der ehrliche Versuch, einander zu begreifen und zu tieferer Erkenntnis zu verhelfen. Das aber ist keine Utopie, sondern es bedeutet die Rückkehr zu dem ursprünglichen Zustand der christlichen Kirche. Denn die Einheit der Kirche in ihrem Anfang, die Einheit, deren Zeugnis das Neue Testament ist, beruht auf der wechselseitigen Anerkennung und dem wechselseitigen Dienst des Verschiedenen. Damit haben wir freilich auf das Wunschbild einer völlig einheitlichen Heiligen Schrift und eines homogenen Urchristentums verzichtet. Vielleicht waren die Reformatoren bei ihrer Berufung auf die Heilige Schrift noch von der Meinung erfüllt, daß sich aus ihr ein in allen Punkten einheitliches Bild des christlichen Glaubens und der christlichen Kirche gewinnen ließe. Dieses Bild aber ist durch historisch-kritische Forschung, die seit mindestens 200 Jahren im Gange 199

ist, zerstört, und wir sollten dieses Zerstörungswerk nicht beklagen, obwohl es dadurch nicht einfacher, sondern komplizierter und in mancher Hinsicht schwieriger geworden ist, sich auf die Heilige Schrift zu berufen. Wir müssen die Pluralität der Typen der Frömmigkeit, auch der Theologien bei Paulus und Johannes, bei den Synoptikern und in der Apokalypse, im Römerbrief und im Brief des Jakobus einfach sehen, und wir dürfen hier nicht in ein falsches Entweder-Oder-Denken verfallen, das uns auf einen dieser Typen festlegt und alles andere mit fragwürdigen Gründen verwirft. Wir dürfen nicht gegeneinander ausspielen, was zusammen geschaut werden muß und was nur in seiner Zusammengehörigkeit die ganxt Wahrheit darstellt. Alle Kirchen sind in der Diaspora Es kommt aber noch etwas ganz anderes hinzu, wodurch dieses Bild von der erhofften Einheit im Verschiedenen erst seine konkrete Gestalt und seine bedrängende Bedeutung gewinnt: Beide Kirchen des Abendlandes sind heute bedroht von einem Prozeß der Auflösung, dadurch, daß sich auch das theologische Denken dem Anspruch der Vernunft und der darauf gegründeten Wissenschaftlichkeitsgläubigkeit beugen muß. Die Kirche ist ganz allgemein bedroht von dem Versuch, das Mysterium, von dem sie lebt, in eine rational faßbare Theorie aufzulösen. Anders ausgedrückt: daß sie einleuchtende Aussagen machen soll, wo nur die liebende Verehrung und die Anbetung allein das Wort haben dürfte. Die alte dogmatische Regel: „lex orandi lex credendi" gilt in vollem Maß, d. h. nur was im Gebet vor Gott laut werden kann, ist echte Aussage des Glaubens; nicht der Nominativ, sondern der Vokativ, die Anredeform, ist die Grundform des kirchlichen Bekenntnisses. Diese Erkenntnis ist aber in der ganzen Breite der christlichen Kirche heute sehr in Vergessenheit geraten und die daraus entspringende Not und Bedrängnis ist eine folgenschwere Gemeinsamkeit der ganzen Christenheit. Nicht nur Kampf gegen die Kirche, nicht ein militanter Atheismus, nicht einmal Christenverfolgungen, sondern innere Unsicherheit und Gleichgültigkeit und der drohende Abfall von dem Mysterium zugunsten einer rationalen Wissenschaftsgläubigkeit sind die eigentliche Gefahr der Kirche. Dadurch sind wir als Christen aller Konfessionen in eine gefährliche Diaspora-Situation geraten, über die wir uns durch eine äußerlich gesicherte Stellung der Kirche nicht täuschen lassen dürfen, und gerade in dieser Diasporasituation wachsen wir zusammen. Männer, die uns ein Bild von der Zukunft der Kirche zu geben versucht haben, reden von der Kirche der „kleinen Schar", die von der Masse der Mitläufer alleingelassen wird. Diese kleinen Scharen werden sich in einer 200

unerhörten Weise beieinanderfinden. Aus dem Gegeneinander streitbarer Kirchen, aus dem Nebeneinander der Gleichgültigen kann sich ein fruchtbares Miteinander der glaubenden, bekennenden und wohl auch leidenden Christenheit ergeben. Das alles ist ganz gewiß nicht als das Ergebnis menschlicher Bemühungen zu erhoffen oder zu erstreben. Wenn von der Kirche gesagt wird, sie stehe heute „zwischen Planen und Hoffen", so liegt der Nachdruck gewiß nicht auf dem Planen, sondern auf dem Hoffen. Was Prof. Cullmann einmal zu Kardinal Bea gesagt hat: „Sie haben dem Heiligen Geist nicht gewehrt", ist wohl das Beste, was man von dem Freund der ökumenischen Bewegung sagen kann, oder richtiger von einem, dem es ernsthaft um die Einheit der Christen zu tun ist. In einem Wort des Alten Testaments, wo von dem zukünftigen Friedensreich die Rede ist, heißt es zuletzt: „Solches wird tun der Eifer des Herrn", solches, d. h. die Einheit der Christen, die wechselseitige Anerkennung des Verschiedenen, die Einheit in dem Mannigfaltigen, das kann nicht unser Eifer tun, am wenigsten unsere Leidenschaft, aber der Eifer des Herrn.

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IV. HILFEN ZUM GLAUBEN UND LEBEN

UNSER VERHÄLTNIS ZUR ZEIT DER TAG (1925) 1. T A G U N D N A C H T „Die Nachtzeit von 6 Uhr abends bis 5.59 Uhr früh ist durch Unterstreichen der Minutenziffer kenntlich gemacht." Das ist sehr praktisch; wer's weiß und darauf achtet, kann sich dann sofort überzeugen, ob er um Mittag oder um Mitternacht sich auf die Reise machen muß, ob er am Abend oder am Morgen ans Ziel kommt. Wie wollte man's denn auch anders machen im Fahrplan der Eisenbahn, die bei Nacht keine Ruhe kennt! Es ist wirklich sehr praktisch. Aber es ist zugleich der Ausdruck einer Lebensweise, in der Tag und Nacht nur durch irgendwelche äußeren Merkzeichen voneinander unterschieden werden, weil nicht mehr die „Tageszeiten" in ihrem inneren Sinn den Tageslauf regeln und ordnen. Es scheint untrennbar zu dem Leben der Großstadt zu gehören, daß in ihr „die Nacht zum Tag gemacht wird". Eine Fülle von blendendem künstlichen Licht durchdringt den Raum und macht ihn heller als das durch karge Fenster einströmende Sonnenlicht. Grelle Bogenlampen sperren die Straßen ab von dem nächtlichen Himmel und lassen kaum das bleiche Mondlicht, wieviel weniger den flimmernden Sternenglanz zu den Menschen dringen. Der gehetzte Arbeitsmensch raubt der Nacht die Stunden, weil der Tag ihm nicht Raum genug bietet für das Übermaß von Arbeit, das „täglich" auf ihn wartet. Und in Sälen und Zimmern tummelt sich, wenn „die Nacht ist kommen, drin wir ruhen sollen", gesteigerte Lebenslust und macht erst recht „die Nacht zum Tag". Aber die mißhandelte Nacht rächt sich und macht den Tag zwar nicht zur Nacht, aber zu einer Dämmerung, in der das Leben grau und mißfarben dahin schleicht, ohne die Frische des Morgens und ohne den Frieden des Abends, und vollends ohne Glut und Kraft und Lebenshöhe des Mittags. Man kann nicht die Nacht von ihrem Platz und aus ihrem Rang vertreiben und kann nicht irgendwo anders — weil ja doch einmal geschlafen werden muß — die Minutenziffer unterstreichen. 204

Aber wir machen ja in einem viel tieferen Sinn die Nacht zum Tag. Wir zählen die Stunden in ihrem Gleichmaß bei Nacht und bei Tag. Die Turmuhren verkünden mit den gleichen Schlägen die stillen Stunden um Mitternacht und die Stunden der gesteigertsten Arbeit im vollen Mittagslicht. Nur der Strich unter den Minutenziffern unterscheidet die Stunden zwischen Abend und Morgen von den Stunden zwischen Morgen und Abend. Es läßt sich mathematisch beweisen, daß es gar nicht anders sein kann. Zeigt eine Stunde nicht gleichviel Minuten und Sekunden zur Nachtzeit wie während des Tages? Aber die Zeit selber ist anders bei Tag, anders bei Nacht. Unaufhaltsam steigt die Sonne empor zur Mittagshöhe, und indem sie emporsteigt, schenkt sie dem Menschen die köstlichen, wertvollen Stunden des ansteigenden Tages. Unaufhaltsam sinkt die Sonne herab und mahnt erst recht, den Tag zu nützen, ehe die Nacht die Tür der Werkstätte schließt. Hier braucht und nützt das reiche Leben Stunde um Stunde, und die Stunden vom Morgen bis zum Abend stehen in Reih und Glied um ihren Herrscher, um die Mitte des Tages. Aber wenn der helle Tag müde zu Ende gegangen ist, dann mag der Nachtwächterruf noch zu den letzten Stunden bis zur Mitternacht die Menschen grüßen, aber dann hüllt die Nacht alles Leben in ihren blauen Mantel, und ganz leise wandeln die Sterne von einem Horizont zum andern. Darum haben Völker mit einem lebendigen Naturgefühl für die Nachtzeit ein anderes Maß und eine ganz andere Ordnung besessen als für die Stunden des wachen Tages. Und weil ihnen die Nacht mehr wirkliche und wahrhaftige Nacht war, darum war ihnen auch der Tag wirklicher und wacher Tag. Wir aber, in lebendiger Anschauung und unmittelbarem Zeitgefühl gelähmt und verblendet durch die alles beherrschende Uhr, müssen neu lernen, Tag und Nacht zu unterscheiden und die heiligen Zeiten des Tages in ihrem inneren und besonderen Sinn zu begreifen und zu erfüllen. Diese Blätter möchten ja eben dazu helfen, daß uns nicht der Scheinglanz künstlichen Lichtes um die gütige Nacht betrüge und nicht das volle Licht des Tages in einer trüben Dämmerung versinke. Am Morgen löst sich alles, was für den Tag lebt, aus der tiefen Naturverbundenheit des Schlafes und des Traumes und es streckt sich zum Licht. Das ist die Zeit der Einsamkeit. Aus der Traumgebundenheit löst sich das wache Ich. Ehe du unter die Menschen gehst, mußt du allein gewesen sein, damit du dich bewahren kannst unter dem lauten und bunten Kleinkram des Tages. Ohne Morgen, ohne Einsamkeit und Zucht, ohne Reinigung und Weihe kein Tag. 205

Der Tag stellt uns unter die Menschen, sendet uns in die Welt. Unser Tagwerk bindet uns an das Ganze, verbindet uns mit Wirtschaft und Kultur, ordnet uns ein in Raum und Zeit, in Heimat und Geschichte. Aber der Tag muß seine Mitte haben, daß er sich in seiner Weltenweite nicht verliert. Die Stunden und ihr Werk wollen sich um ihren heimlichen Regenten scharen. Weltenweit schauen und wirken, aber sich binden an der Mitte Gesetz, schauen und schaffen vom Aufgang bis zum Niedergang, aber stille halten in gesammelter Kraft im hellsten Tageslicht: das heißt den Tag leben. Kein vollendeter Tag ohne seinen Mittag. Aber der Abend löst wieder. Wie die Dämmerung das einzelne verhüllt und die großen Linien zu einem Ganzen zusammenfügt, so schweigt das Viele und treten die Vielen zurück. Hier stehen die Wenigen um uns, die uns nahe und vertraut sind: der engste Kreis; und zur rechten Stunde fügen die Freunde sich in den Ring. Der Abend birgt uns in menschlicher Liebe, und diese Liebe steht zwischen Tag und Nacht, zwischen Weltenweite und Himmelsweite, zwischen Schaffen und Ruhen. Der Abend weckt ein neues und schweigsames Leben, wenn die lauten Stimmen schweigen, brechen die leisen hervor. Es ist die Stunde der Seele: „Ihr aber, meine Sinnen, auf, auf, ihr sollt beginnen, was eurem Schöpfer wohlgefällt." Wenn uns die Nacht in ihre Arme schließt, dann geben wir selber uns hin und geben unser waches Ich hinein in das große Leben der Welt. Unbegreifliches Vertrauen, daß wir uns zum Schlummer legen! Fern von dem Tag, auch aus der vertrauten Verbundenheit des Abends gelöst, bleiben wir doch nicht einsam, sondern betten uns in das allumfassende Leben. Wer mag sagen, wo seine Seele weilt? Durch welche Länder sie wandert? O meine Seel', merk auf, wo bleibest du? In Gottes Schoß, sonst nirgends hast du Ruh!

2. V O M D R E I F A C H E N M O R G E N Der Morgen ist ein täglich sich wiederholendes Wunder. Wenn nicht unsere Sinne und unsere Seele so abgestumpft wären für die um uns her ausgebreiteten Geheimnisse, dann müßte immer wieder ein fassungsloses Staunen und überströmender Jubel in uns sein vor dem Wunder, das sich in jedem Morgen vollzieht. Freilich, wie sollen wir, eingesperrt zwischen steinernen Mauern, die uns keinen Horizont gönnen, den Morgen erleben und wissen, was der Morgen sei? Wenn wir uns freuen, sooft wir der Stadt entrinnen und Leib und Seele in der unverfälschten Schöp-

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fungswelt haben dürfen, so freuen wir uns kaum auf irgendeine Freude so inbrünstig wie darauf, wieder einmal den Morgen ganz richtig und ganz lebendig zu schauen und zu erfahren. Der Morgen ist ein unerhörtes Wunder, das wahrlich dadurch nicht kleiner wird, daß es sich täglich wiederholt. Der Morgen ist der Sieg des Tages über die Nacht. Draußen in der Stille des Waldes oder in der Einsamkeit des Hochgebirges, oder — in der lastenden Stille des Krankenzimmers ist die Nacht wirklich Nacht: Das Dunkel, das uns umfängt, das Schweigen, in dem alles Leben zur Ruhe gegangen ist, die Einsamkeit, in der nicht nur der Lärm der Arbeit, sondern auch die geselligen Stimmen der Menschen- und Tierwelt verstummt sind, der schwere, dunkelblaue Mantel, der alles bunte und laute Leben unter sich birgt und verhüllt, das ist die Nacht. Wohl uns, wenn wir ruhen dürfen in ihrem gütigen Schoß; weh uns, wenn sie uns umringt mit ihrer unheimlichen Stille, wenn die Einsamkeit uns ängstigt, wenn ihr Schweigen uns verwirrt, wenn ihre Traumbilder uns verführen und in Wahn verstricken. — Aber der Morgen besiegt die Nacht. Unbeschreiblich zartes Erwachen, wenn das erste fahle Licht das Dunkel durchdringt und alles wieder an seinem Ort und in seiner wahren Gestalt sich findet; wenn die Vogelstimmen das aufsteigende Licht begrüßen und sich zu dem vollen Chor des Tages vermehren, wenn die Blumen ihre taugesegneten Kelche der Sonne öffnen und die ganze Erde sich wieder mit dem bunten Gewand des Lebens umkleidet! Morgen ist Klarheit, in der Schatten und Spukgestalten verschwinden. Morgen ist kühler Wind der Frühe, der die Nebel zerreißt und herb in alles dumpfe und matte Wesen hineinfährt. Aber der Morgen stammt nicht aus der nachtverhüllten Erde; niemals gebiert das Dunkel aus sich das Licht, oder die Nacht den Tag. Sondern weil das Licht des Tages sieghaft und gewaltig emporsteigt, darum wird es Morgen auf Erden. Und das heimliche Erwachen der Erde, der erste Vogelruf, der noch wie traumverloren das Schweigen der Nacht durchbricht, das ist Sehnsucht und Ahnung, in der sich das Leben dem Licht und seinem Sieg entgegenstreckt. Darum ist es das gewaltige Bild des Morgens, wenn der Sonnenball selbst über den fernen Waldrand emporsteigt; der Herrscher besteigt seinen Thron, und alle Kreatur empfängt sein Dasein von ihm zu Lehen. Gleich der äußeren Natur ist unser inneres Leben in den Wechsel von Nacht und Tag gestellt. Es hat Menschen gegeben und wird immer wieder Menschen geben, deren Leben gleichsam in zwei Hälften auseinanderfällt: die erste Wegstrecke war ein Weg durch die Nacht und ein Leben in der Finsternis, aber seit der große Morgen für sie anbrach, leben sie im hellen Licht des Tages. Aber für uns gewöhnliche Menschen 207

gilt die unserem Leben aufgeprägte Regel, daß wir immer wieder durch das Dunkel hindurchgehen müssen und immer wieder das Wunder des Morgens erfahren dürfen. Wie dankbar wollten wir sein, wenn wir keine andere Nacht der Seele kennen müßten als die wohlige Stille, wo das Laute und Bunte fernbleibt, und die Seele ruht und wartet und sich bereitet auf einen neuen Anfang und ein neues Tagwerk! Aber wir wissen nur zu gut, was Nacht der Seele bedeutet: Einsamkeit, die lähmt und erschreckt, Kraftlosigkeit, in der „alles verschwindet" und alles versagt, Wahn- und Traumgespenster, die die Gedanken verwirren und das sichere Gefühl des Herzens verfälschen. — „Komm herauf, herauf, du schöner Morgen!" Morgen, da der Tag die Nacht vertreibt und das Licht das Dunkel besiegt! Morgen, da Gott „einen hellen Schein in unsere Herzen gibt"! Die in Nacht verstrickte Seele kann auf den Morgengruß ihres Herrn warten „von einer Morgenwache bis zur anderen", aber sie kann niemals aus sich heraus den Morgen gebären. Aber wenn das helle und kühle Licht der Wahrheit über uns kommt, so vertreibt es die im Finstern schleichenden Gedanken und zerstört die Spukgestalten des Wahnes; wenn der strenge Morgenwind der Zucht und des Gehorsams über einen Menschen kommt, so reißt er ihn aus dumpfen Träumen und führt ihn aus der eingesperrten schwülen Nachtluft ins Freie. Wenn die Stimmen erwachen, die den Morgen grüßen, wenn aus der Dämmerung eine Welt heraustritt, die sich dem Licht entgegenstreckt, um von ihm das Leben zu empfangen, so finden wir uns selber wieder an unserem Platz in einer lebendigen Welt, gewinnen Blick und Maß, und gebrauchen und üben unsere Kräfte. Unbegreifliches Wunder, daß wir, die wir müde und verzagt und verwirrt in die Nacht hineingegangen sind, als neue Menschen erwachen, gestärkt und ermutigt und mit neuem Blick und neuer Sicherheit in die Welt treten dürfen. Morgen ist neuer Anfang. Überströmende Gnade, daß wir immer wieder neu beginnen dürfen, vielmehr daß Gott einen neuen Anfang mit uns wagt! Morgen ist neue Geburt. „Komm herauf, herauf, du schöner Morgen!" Das Wunder des Morgens, der über der schlummernden Welt heraufdämmert, das größere und uns noch tiefer berührende Wunder des Morgens, der die gebundene und verfinsterte Seele zum Licht und zur Kraft befreit, sind beide Sinnbild und Gleichnis für einen Morgen, in dem sich die innere und eigentliche Geschichte der Welt erfüllt und vollendet. Aus dem Dunkel der Welt wird kein neuer Tag geboren. Es wird Tag, weil der Herr einen Himmel gebaut und daran eine Sonne geheftet hat. Es wird Tag, wenn die Welt sich dem aufsteigenden Licht zuwendet. In dem Angesicht Christi, in der Fülle seiner irdischen Erscheinung kommt die Herrlichkeit Gottes als die Klarheit eines neuen Tages über die Welt. Das 208

ist Christus: das Licht, das nicht gleich dem Feuer des Vulkans aus der irdischen Tiefe herausbricht, sondern das aus der Höhe über die Tiefe kommt: der „Aufgang aus der Höhe", der „Morgenglanz der Ewigkeit". Die Stimmen der Sehnsucht in aller menschlichen Religion sind gleich den Vogelstimmen, die in der frühesten Dämmerung dem sieghaften Tag einen ersten Gruß entgegenbringen. Aber wenn die Sonne aufgeht, dann sind alle Zungen gelöst zu dem Lied des Lebens, und ein jedes Ding leuchtet in seiner eigenen und wahren Gestalt. Die Finsternis und ihre Macht zu verwirren und zu verführen, ist überwunden von der sieghaften Gewalt der Wahrheit. Der Schein vergeht an dem sich entschleiernden Wesen und das traumbefangene dämmernde Sein wird erlöst zu der durchsichtigen Klarheit des wachen Tages. Die kühle und strenge Luft der Frühe ist um ihn. Sein Geist ist nicht die Schwüle eines erhitzten Gefühls, sondern der herbe Morgenwind, der die Nebel zerreißt und die Glieder zwingt, sich zu straffen zum Dienst. Gott hat einen neuen Anfang gemacht in der Welt; einen neuen Beginn aus allem Irrtum und aller Weltschuld heraus. Christus ist der Morgen der Welt. Wir grüßen den Morgen. Wenn der zarte Schein des Morgens im nächtlichen Wald aufleuchtet, wenn die ersten Vogelstimmen erwachen, wenn der Mensch sich aufrafft aus weichem Träumen und den Schlaf sich aus den Augen reibt, wenn der strenge Morgenwind über die Erde fährt und das kühle Wasser den Leib erfrischt, dann ist die rechte Stunde, Ihn zu grüßen und Ihm zu danken. Die Welt wartet auf ihren Morgen. Und der Sieg des Tagesgestirns und das Erwachen der Menschenseele strahlt seine Schönheit und Herrlichkeit wieder. „Komm herauf, herauf, du schöner Morgen!" 3. MITTAG Der Mittag ist ein entthronter König. Er ist die verachtetste unter den Tageszeiten. Wenn die Mittagsstunde schlägt, dann entflieht, wer nur immer kann, dem Gefängnis der Arbeit und eilt durch das Gewühl der Straßen dorthin, wo ihn sein „Mittagessen" erwartet. Nur das Essen macht Wort und Sache „Mittag" lebendig. Warum läuten dazu die Glocken? — Wer weiß um den hohen Sinn des Mittags? Wer gibt ihm seine verlorene Ehre? Die Nacht und den Morgen haben wir neu entdeckt, als draußen im Walde sich das Dunkel um uns schmiegte und dann die ersten Gestalten und Stimmen sich aus Dämmer und Schweigen lösten. Wohl ist auch der Mittag schön, wenn der pralle Glanz der Sonne über den Feldern liegt und alles Leben gleichsam gedämpft ist in der flimmernden Fülle von 209

Licht und Glut. Vielleicht haben wir von der mittägigen Landschaft nur den Mittagschlummer gelernt? Nein, seine eigenste Schönheit hat uns der Mittag offenbart mitten im Gewühl, wenn zwischen Arbeit und karger Ruhe die Glocken läuten, die wundersamen, vergessenen Glocken. Denn das ist wirklich der Mittag, den sie einläuten. Jetzt ist der Tag auf seiner Höhe. Jetzt ist die Hoch-Zeit dieses einen Tages. Jetzt entfaltet die Sonne ihre stärkste Kraft. Jetzt sind alle menschlichen Kräfte — auf der Mitte des Weges zwischen Erwachen und Müdigkeit - aufs stärkste angespannt. Jetzt sind wir ganz umringt von Dingen und Menschen. Arbeit, Fragen, Nöte, Kämpfe, Energie, Leidenschaft, Bosheit, Scherzen, Klagen: in dem allen braust das gewaltige Lied um uns. Jetzt gehören wir am wenigsten uns selbst. Ganz in die Welt gesendet, fühlen wir uns ganz mit dem ungeheuren Schicksal und dem unübersehbaren Leben verbunden. Die Glocken läuten Mitt-Tag! Jetzt ganz lebendig sein! Jetzt nicht versagen und nicht den Umkreis des Lebens, das uns anvertraut ist, verengen! Jetzt ganz wach sein und ganz geöffnet und bereit für alle die Pflichten und Ansprüche, die der Tag mit sich bringt, für alle die Menschen, für die Bösen und die Guten, für die Erfreulichen und die Verdrießlichen, für die Bedeutenden und die Geringen, für alle, Kinder, Freunde, Nächste und Fernste. Jetzt ganz offen für die Welt! Aber jetzt nimm du das alles an dein Herz, in deine Mitte und stehe fest in der Mitte des Tages, in der Mitte der Welt! Sonst jagen die Bilder einander, sonst huschen alle die Gestalten wie die wechselnden Bilder eines Kaleidoskops durch deine Sinne und deine Gedanken. Sonst zerreißt dich das Viele und alle deine Kraft verweht und zerflattert in der grenzenlosen Weite der Welt. Mittag! Hohes Fest der Mitte. Jetzt läuten die Glocken. Du sollst heimkehren in die Mitte deines Wesens. In deine Mitte nimm herein, an deine Mitte binde alles, was der Tag vor dich trägt. Du allein kannst der lebendige Zusammenklang und Zusammenhalt deines übervollen Tages sein. Wenn du nicht Mitte bist, die alles sammelt, ordnet, sichtet und durchdringt, so führen die Stunden einen wirren und wüsten Tanz um dich, und so viel du dich verzetteltst und verzehrst in rastlosem Tun, es gedeiht niemals zum Tagwerk. Aber aus der kurzen Stille, aus Weihe und Besinnung des Mittags strömt eine wunderbare Kraft. Die Welt ist um dich, und dein Herz, dein Gewissen ist die lebendige Mitte. Mittag! Menschenherz, stehe fest in deinem Tag, stehe fest in deiner Welt, stehe fest in der Mitte. Mittag! Nun läuten die Glocken. Der Tag will seine Mitte haben. Nicht nur die Stunde, auf die hin und von der ab die anderen Stunden gezählt 210

und genannt werden, sondern die Mitte, die alles bewegt, von der aus alles Sinn und Maß und Weihe empfängt. Jede lebendige Gestalt auf Erden hat ihre bewegende Kraft, ein beherrschendes Gesetz ihres Lebens, eine geheime Ordnung ihres Aufbaus, ein „zentrierendes Moment", eine „Entelechie" ihres Daseins, hat ihre „Mitte". Fehlt ihm der Mitte Gesetz, treibt es zerstiebend ins All. Unsere Tage gehen dahin wie ein Geschwätz, wenn sie keine Mitte haben. Gewaltig läuten die Glocken. Fragen, rufen, mahnen uns hastende, sorgenvolle, gedankenlose, schwätzende und spielende Menschen: wo ist die Mitte deines Tages? Was ist seine Seele, sein inneres Gesetz, seine bewegende Kraft, sein Maß und seine Ordnung? Fehlt ihm der Mitte Gesetz? Mittag! Entscheidende Fraget Innerster Ruf! Jetzt läuten die Glocken. Ihre Stimme ist immer die Stimme der Ewigkeit. Gerade jetzt, mitten in der Fülle des Tages, zwischen Hasten und Lärm, zwischen den vielen Dingen und Menschen reden sie von einer anderen Welt und mahnen an die Ewigkeit. Nicht nur am Morgen, wenn leis der Tag anhebt, nicht nur am Abend, wenn das Tagwerk am Feierabend ruht, in der Mitte des Tages ist die Zeit an die Ewigkeit gebunden. Gott der Herr ist die Mitte. Wenn unser Sein und Wesen in ihm verwurzelt und an ihn gebunden ist, dann hat unser Leben seine Mitte gefunden. Wenn die Ehre seines Namens und sein ewiger Wille das Viele bindet und allem sein Ziel und seine Grenze weist, dann hat der Tag seine Mitte. Mittag ist Ewigkeit. Darum läuten die Glocken. Wenn ein Mensch, der in der Mitte gegründet ist wie in einer festen Burg und von der Mitte aus mit Blick und Herz die weite Welt umspannt, wenn er in der Mitte des Tagwerks sich selber neu verbindet mit der ewigen Mitte aller Welt, damit dem Tag seine Mitte nicht fehle, das ist herrlicher als die Glut der mittägigen Sonne. Darum möchten wir lernen, mit gesammelter Seele das Mittagläuten zu hören und Mittag zu halten, das hohe Fest der Mitte! 4. VOM TISCHGEBET Gott zum Gruß, ihr lieben Tischgenossen! Willkommen am gemeinsamen Tisch! Aber ehe wir uns zu Tisch setzen und essen, wollen wir uns bereiten zum gemeinsamen Mahl als zu einem heiligen Werk, in dem wir Gott gehorchen und ihn ehren. 211

Ihr seid hungrig. Wohl uns, daß wir hungrig sein dürfen! Laßt uns Gott danken für den Hunger! Der gesunde Leib verlangt nach der Nahrung für sein Leben und allen seinen Dienst. Damit erfüllt er die Ordnung seiner Natur. Wir denken der Schwachen und Müden und Kranken, deren Leib zu kraftlos ist, sich nach Speise zu sehnen. Wir danken Gott für den Hunger. Alles Leben in allen Kreaturen braucht Zustrom aus Nährstoffen, um sich zu erhalten und in dem ewigen Wechsel der Baustoffe zu erneuern. Und seht, unser Leib ist ein Stück der Natur und bedarf des gleichen, dessen alle Tiere auf dem Feld und alle Vögel in der Luft und alle Pflanzen im Erdreich bedürfen. Wir können nicht sein ohne das tägliche Brot. Weil wir hungrig sind, lassen wir fern allen menschlichen Hochmut und alles übergeistige Wesen und bekennen mit unserem Leib, daß uns Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen. — Unser Herr Jesus hat die Menschen selig gepriesen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten; weil er also den Hunger zum Gleichnis und Sinnbild der höchsten Sehnsucht gemacht hat, wird wohl ein Stücklein Seligkeit und Gottestrost auch abfallen für den Hunger des Leibes, und es ist Gott wohl recht und lieb, wenn wir ihm danken für den leiblichen Hunger. Gott hat uns den Tisch gedeckt. Hier warten auf uns die Speisen, die unseren Hunger stillen und unseren Leib sättigen und erquicken sollen. Woher kommen sie? Das Tier sucht und findet und verschlingt sein Futter, ohne zu fragen und ohne sich zu besinnen. Wollen wir dem Tier gleichen, wenn wir „unseres Leibes Nahrung und Notdurft" empfangen? Nichts verroht einen Menschen so sehr, wie wenn er gedankenlos Wohltaten empfängt und gebraucht. Damit unser Mahl nicht ein rohes Genießen, sondern ein besinnliches und dankbares Nehmen sei, fragen wir, woher die Gaben stammen, mit denen uns der Tisch gedeckt ist. Wehe uns, wenn wir nicht mehr davon wüßten, als daß sie in irgendeiner Werkstätte „hergestellt" und in irgendeinem Laden feilgeboten sind, wo die Mutter sie für Geld gekauft hat! Armseliges Geschlecht, dessen Blick nur bis zur Wurstmaschine und bis zur Brotfabrik reicht, aber nicht dahinter in das Geheimnis! Wenn ihr Kinder uns fragt: Vater woher kommt das Brot?, so wollen wir euch die rechte Antwort nicht schuldig bleiben. — Mag alles, was uns zum Mahl bereitet ist, durch viele und vielerlei Hände gegangen sein. Mag es in „Nährmittelfabriken" noch so sehr verändert und umgestaltet, und wie oft mit unedlen Stoffen vermengt und verfälscht worden sein, es hat doch kein Mensch etwas „gemacht", was uns Menschen zur Nahrung dienen könnte, sondern es ist alles ein Stück der großen Schöpfung. Ein Lebendiges, das gewachsen ist und hat sterben müssen, damit wir es als Nahrung empfangen können: das Korn, das auf den Äckern im Winde wogte, und das Tier, das sich 212

seines Daseins freute, und die Frucht auf dem Baum, und die Wurzel in der Erde. Es gehört zu den unergründlichen Ordnungen, nach denen unser Gott die Welt geschaffen hat, daß millionenfach das Leben geopfert wird für fremdes Leben und daß ein jedes Leben sich von solchem anderen Leben nähren muß. Niemand kann sich diesem Gesetz entziehen, aber wir Menschen allein können bewußt und dankbar dieses Opfer eines gewachsenen Lebens empfangen. Wahrlich nicht nur, wenn wir das Fleisch der Tiere essen, sondern auch, wenn wir das Kraut aus dem Garten oder den Apfel vom Baum oder das Mehl, das im reifen Korn verborgen war, essen, empfangen wir fremdes Leben. Es ist Gehorsam gegen Gottes Willen, wenn wir nehmen und genießen, was Gott uns zugedacht hat. Aber nur wenn wir mit Erkenntnis und Dankbarkeit dieses Opfer empfangen, wird es uns zum Segen. Wir leben vom Opfer. Wenn wir hungrig uns zu Tisch setzen und uns wohlschmecken lassen, was uns beschert ist, so wollen wir doch keinen Augenblick vergessen: wir leben vom Opfer. Ihr würdet es wohl begreifen, wenn ich das tägliche Brot segnen würde mit dem heiligen Zeichen des Kreuzes. Aber ehe eine Menschenhand das tun und ein Menschenmund ein Wort dazu sprechen kann, hat längst Gott alle Speise mit dem Zeichen des Kreuzes gesegnet. Wir leben vom Opfer und es hat wohl seinen Sinn und seine Wahrheit, wenn wir sagen, daß uns der Herr Jesus das tägliche Brot beschert hat. Es ist aber unter allen Speisen keine, an der uns dieses tiefe und wundersame Geheimnis so offenbar würde, wie das liebe tägliche Brot. Es ist gewurzelt im Erdreich, gewachsen in Sonne, Regen und Wind, gereift in der Glut, gemäht mit hartem Schnitt, zermahlen und zerrieben, für uns geopfertes Leben. Darum haben unsere Väter es das fromme Brot genannt, und unser Herr Christus hat das Brot mit feierlicher Gebärde gebrochen und es zum Sinnbild und Gedächtnis seines eigenen Leibes und Lebens geweiht. Darum soll uns das Brot ein heiliges Ding sein, und keine harte Rinde soll verachtet werden und keine Krume zum Spielzeug werden. Es soll uns das Brot, wenn der Vater es uns gönnt, auf keinem Tisch fehlen, und ehe wir zu den anderen Speisen greifen, teilen wir miteinander ein Stück Brot. Und wenn wir einmal am reichen und üppig gedeckten Tisch sitzen, dann greifen wir erst recht heimlich nach einem Stücklein Brot, damit es uns in der Demut und in der Dankbarkeit erhalte. Unsere tägliche Speise bindet unser Leben an Gottes ewige Ordnung, und sooft wir das Brot brechen, bindet es uns zugleich an den Herrn Christus als die rechte Offenbarung der göttlichen Liebe. Darum wollen 213

wir, ehe wir uns sättigen, einander mit Ernst mahnen, daß wir mit Danksagung empfangen unser täglich Brot. Denn wir stehen ja miteinander um das liebe tägliche Brot. Ihr lieben Hausgenossen, willkommen am gemeinsamen Tisch! Laßt uns unser Mahl halten als eine tägliche Feier unseres gemeinsamen Lebens! Denn wie uns Gott das Korn und das Kraut und alle Früchte hat wachsen lassen, so hat Gott uns einander gegeben, wir wir miteinander leben und einer für des andern Leben sorge. Darum freuen wir uns und danken, daß wir am gemeinsamen Tisch sitzen dürfen. Wir denken aus dem Glück unserer Runde an die Einsamen, denen niemand den Tisch deckt, und an die viel Einsameren und Ärmeren, die unter einem Dach wohnen und mit Groll und Zank einander das tägliche Brot vergiften. Unser Tagwerk hat uns eigene Wege geführt, den Vater an die Stätte seines Berufs, die Mutter in Küche und Stube, euch Kinder in Schule und Werkstätte, aber jetzt sind wir zusammengekommen, so wie wir immer wieder aus den eigenen Wegen heimkehren in den Kreis der Liebe. Wir haben aufeinander gewartet, damit nicht einer darnach allein am Tisch sitzen müsse und ihm sein einsames Mahl ungesegnet bleibe; weil wir ja wissen, wie oft wir aufeinander warten und miteinander Geduld haben müssen. Und nun essen wir von einem Brot und nehmen unsere Speise aus einer Schüssel, weil ja unser aller Leben sich aus einer Wurzel nährt und die Gemeinschaft des Geistes die Gemeinschaft unseres Blutes weiht. Und um der Liebe willen wollen wir ein jeder seine besonderen Sorgen, was ihn bedrückt und bekümmert, fern sein lassen, damit wir einander erfreuen und mit dem Lobgesang der Freude einander das Mahl würzen. Und wir wollen einander bedienen bei Tisch und wollen voneinander erbitten, was wir bedürfen, weil das ein köstliches Recht und eine feine Form der gegenseitigen Liebe ist, einander zu bitten und einander zu dienen. Und gerne wollen wir sehen, was der andere bedarf und einander zureichen, was uns beschert ist, weil wir ja immer wieder einander Handreichung tun müssen, und weil wir im tiefsten Grund dazu berufen sind, einer des anderen täglich Brot zu sein. Wenn wir einander Liebes tun und unser gemeinsames Mahl halten als die tägliche Feier der Liebe, die wir untereinander haben und erweisen, dann ist wahrlich der Herr Christus unser Gast, und was Gottes Liebe uns beschert hat, ist uns gesegnet durch seinen Geist. Dir aber, der du Fremdling und Gast bist an unserem Tisch, einen besonderen Gruß! Gerne öffnet sich dir unser Kreis und schließt dich in den Ring. Wir erweisen dir Ehre, indem wir dich teilhaben lassen an der Gemeinschaft unseres täglichen Brotes; alles was wir einander bringen und geloben, sei auch dir von Herzen gegönnt. Brich mit uns das Brot 214

und nimm teil an der Gemeinschaft des Geistes, der uns regiert! Erwarte keine größere Ehre von uns, als daß du uns „der Nächste" bist in dieser Stunde und uns willkommen an unserem gemeinsamen Tisch! Und nun ihr lieben Tischgenossen, reichen wir einander im Kreis die Hände und sprechen von Herzensgrund: Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast! DAS MASS UNSERER ZEIT (1926) 1. DIE WOCHE Von den Gestirnen empfängt unsere Zeit ihr Maß. Dreifach ist die Ordnung, die unserer Zeit von den Himmelskörpern und aus der Bewegung unserer Erde gegeben ist. Wenn ein Tag sich an den anderen reiht, wenn immer wieder die Zeit „vom Aufgang bis zum Niedergang" uns gegönnt und anvertraut ist zur Arbeit auf der Erde, wenn immer wieder der müde Tag in die Ruhe der Nacht sinkt und aus dem geheimnisvollen Schoß der Nacht der neue Tag geboren wird, so mögen wir wohl vergessen, aber wir brauchen doch nur daran erinnert zu werden, daß keine menschliche Willkür den „Tag" geschaffen, sondern daß diese unmittelbarste und einschneidendste Lebenseinheit verankert ist in dem Rhythmus alles irdischen Lebens, in dem unaufhebbaren Wechsel von Licht und Finsternis, den die Umdrehung unserer Erde ihm auferlegt. Und wenn das Jahr sich erneut, wenn das Leben aus winterlicher Öde neu erwacht und dann wieder in unsagbarer Farbenherrlichkeit Abschied nimmt, wenn wir zwischen Schnee und Eis das Fest der wiederkehrenden Sonne feiern oder auf der Höhe des Jahres Johannes zum Dolmetsch alles irdischen Sonnenschicksals wird: „Ich muß abnehmen", — dann möchten wir nur wünschen, daß der große Rhythmus des Jahres viel stärker auch unser Leben auf seine starken Arme nähme, und es mit der feierlichen Wiederkehr der großen Gottesgleichnisse segne und weihe. Der Kalender aber, dieses kunstvolle Gebilde, an dem Jahrtausende arbeiten, bemüht sich aus diesen beiden eigenwilligen und einander widerstrebenden Grundordnungen, dem Tag und dem Jahr, eine für unsere Zeitrechnung brauchbare Einheit zurecht zu machen und mußte doch im Lauf der Jahrhunderte zu immer kunstvolleren Listen greifen, um nicht das Jahr durch den Tag zu vergewaltigen. Und nur nebenbei erinnert der Kalender mit seinen „Monaten", in die er das Jahr zerlegt und denen er bald 30, bald 31 Tage zuteilt, — die Namen der Monate sind eine besondere, höchst seltsame und verworrene Geschichte für sich und ein schlimmes Beispiel dafür, 215

wie gedankenlos die Menschheit Jahrhunderte hindurch sinnlos gewordene Namen weiter zu schleppen vermag — daran, daß auch der Mond in seiner wechselnden Gestalt unserer irdischen Zeit seine eigene Ordnung verleiht, die sich wiederum weder mit dem Jahr noch mit dem Tag zu einer gefälligen und leichten Einheit fügt. Es hat Zeiten gegeben, in denen die veränderliche Gestalt des Mondes in ganz anderem Maß das Denken der Menschen beschäftigt und ihrem Tun Norm und Maß gegeben hat. Wer spürt heute noch Vollmond oder Neumond als wirkliche Grenzzeichen auf seinem Lebensweg, es sei denn, daß der Aberglaube für sein Zaubersprüchlein auf die wirkungskräftige Neumondmacht wartet, oder der Wanderer für den nächtlichen Weg durch die Wälder gern den silbernen Glanz und Schein des Vollmondes wählt? Aber seltsam zwischen Tag, Mond und Jahr steht die Woche. Liegt auch der Woche irgendeine Ordnung zugrunde, die unabhängig von menschlicher Willkür in dem Lauf der Gestirne selbst vorgebildet ist, oder ist sie ein künstliches Gebilde, zu vernünftigem Gebrauch ersonnen, damit die Tage nicht in unübersehbarer Reihe nacheinander folgen, sondern hübsch in Gruppen gefaßt sich leichter übersehen, beherrschen und leben lassen? Wir wollen nicht gleich die Woche verachten, wenn sich kein Himmelskörper meldet, der seinen Lauf in sieben Tagen vollendet! In der Tat, so vertraut uns die siebentägige Woche ist, es haben nicht alle Zeiten und Völker ihre Tage zu solchen „Wochen" zusammengefaßt. Die alten Griechen hatten Gruppen von zehn Tagen, im alten römischen Reich kamen die Bauern nach sieben Arbeitstagen am achten Tag zum Markt in die Stadt. Sehr früh in Babylonien ist die Woche zu fünf Tagen gerechnet worden, wie man sie an den Fingern einer Hand abzählen konnte. Die Verbreitung der siebentägigen Woche in unserer ganzen abendländischen Menschheit geht ohne jeden Zweifel auf die von dem jungen Christentum übernommene siebentägige Woche Israels zurück. Aber das israelitische VoBc hat diese Woche keinesfalls selbst erfunden oder geschaffen, sondern hat sie selbst aus den beiden großen Kulturkreisen, von denen seine Gesittung von ihren ersten Anfängen an aufs stärkste bestimmt war, dem altbabylonischen und dem altägyptischen, empfangen und übernommen. Als Israel von jenen sechs Tagen erzählte, in denen Gott der Herr die Welt erschaffen hat, und vom siebenten, den Gott der Herr selbst als Ruhetag geheiligt hat, da entsprang der zeitliche Rahmen dieser Geschichte selbst dem Bedürfnis, einen uralten Brauch in dem Mythus von dem Ursprung alles Geschehens zu verankern. Die Woche ist älter als die Schöpfungsgeschichte. Aber woher stammt die Woche? Keine wissenschaftliche Forschung hat untrügliches Licht in das Dunkel dieser ersten Anfänge gebracht. Man 216

hat gemeint, daß die sieben Tage der Woche den sieben Planeten entsprechen sollten, in denen die Alten sieben göttliche, die Welt beherrschende Mächte verehrten. Aber in den ältesten Zeiten findet sich keine Spur einer solchen Beziehung, und die Deutung der sieben Wochentage auf die sieben Planeten taucht tatsächlich erst im letzten vorchristlichen Jahrhundert auf. In Babylonien ist unzweifelhaft ein Monat entsprechend dem Kreislauf des Mondes, mit 4 x 7 Tagen gehalten worden, so daß die Woche aus der Berechnung der vier erkennbar verschiedenen Mondphasen, von denen jede einen Zeitraum von etwa sieben Tagen bestimmt, entstanden wäre. Aber in Alt-Israel findet sich wiederum keine Spur von einer solchen Beziehung, und es scheint, daß die Siebenzahl jenseits und vor allen solchen astronomischen und astrologischen Beobachtungen und Spekulationen als eine heilige Zahl betrachtet und gehalten worden ist. Denn längst, ehe die siebentägige Woche als eine dauernde und feste Größe erscheint, stand die Siebenzahl auf allen möglichen Lebensgebieten, die mit dem Mond nicht das Geringste zu tun haben, als Maß der Ordnung in Heiligkeit und Verehrung. Wer da meint, es hätte ja „ebensogut zufällig" die Zahl 6 oder die Zahl 8 oder die für unser Rechenwesen so praktische Zahl 10 zu dieser Ehre gelangen können, der verkennt die innere Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit uralter Sitte, die auch dann nicht grundlos ist, wenn wir sie mit unserem historischen Wissen nicht restlos zu begründen vermögen. Aus uralten Weisheiten und aus jenen letzten Gründen weltanschauender Ahnungen, in die unsere moderne Verständigkeit nicht eindringt, hat sich die Zahl 7 für die erste Einheit einer Gruppe von Tagen durchgesetzt, und es ist wie eine spätere Rechtfertigung eines uralten Menschheitserbes, daß der Versuch der französischen Revolution, die Woche durch die Dekade zu ersetzen, so schnell und so gründlich zusammengebrochen ist. Es war freilich nicht nur äußerlich von den weittragendsten Folgen, daß sehr früh - das Altertum selbst wies auf Ägypten als Ursprungsland hin, aber vielleicht hat Ägypten selber aus fernerem Osten die astrologische Weisheit übernommen — die sieben Tage der Woche mit den damals bekannten „Planeten" in eine geheimnisvolle Verbindung gebracht wurden. Der Glaube, daß unsere irdischen Geschicke von dem Lauf der Gestirne bestimmt seien, und daß sich insbesondere in den einzelnen Planeten göttliche Mächte verbergen, die unser menschliches Leben im Guten oder im Bösen zu beeinflussen vermögen, drang aus den Geheimnissen der Sterndeuter in das Allgemeinbewußtsein, und die in ihrem Lebensgefühl unsicher gewordene Spät-Antike ergriff gierig diese kosmische Verankerung und Verflechtung des irdischen Schicksals. Es ist eine sehr seltsame Berechnung — die man in irgendeinem Handbuch der Kalender217

künde nachlesen mag, wenn man sie für wichtig genug hält — wie die einzelnen Tage zu den einzelnen Planetengöttern gekommen sind. Genug, daß die einzelnen Tage der Woche dem Saturn, der Sonne, dem Mond, dem Mars, dem Merkur, dem Jupiter und der Venus zugehörig sind, und während sie bis dahin meist — wie zum Beispiel auch in Israel — einfach mit Nummern bezeichnet wurden, nun von diesen Planetengöttern den Namen empfangen. Ja die astronomische Spekulation wußte von den einzelnen Planeten auch, welches Metall und welche Farbe ihnen zugehörig sei und welche auch dem betreffenden Tag zukomme. So ist der Tag der Sonne golden, der Tag des Mondes silbern oder grün, der Mars ist rot, Merkur blau, Jupiter gelb, Venus weiß, und Saturn, der um seines langsamen Umlaufs willen das trägste Element, das Blei, empfängt, ist schwarz. Inschriften aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten zeigen die schon damals allgemeine Verbreitung dieser Planetennamen der einzelnen Wochentage. Die jüdische siebentägige Woche, damals gleichfalls ebenso wie die heiligen Schriften der Juden über den Kreis ihres Volkstums hinaus verbreitet, ging parallel daneben her, doch so, daß stets der siebente Tag der jüdischen Woche, der Sabbath, mit dem ersten Tag der Planetenwoche, dem Tag des Saturn, zusammenfiel. Aber die Weltbedeutung der siebentägigen Woche und die Benennung der einzelnen Tage nach den Planeten des Altertums beginnt doch erst damit, daß das junge Christentum zunächst die Sabbathwoche des jüdischen Volkes übernahm. So sehr die Verkündigung des einen und unsichtbaren Gottes allen astrologischen Aberglauben bekämpfen und die Planetengötter als etwas gänzlich Unbeachtliches und Wesenloses beiseite schieben mußte, so haben doch im Lauf der ersten vier Jahrhunderte überall die Planetennamen als Namen der Wochentage auch in der christlichen Kirche sich durchgesetzt. Und seltsam genug steht auf den christlichen Inschriften oder in den christlichen Büchern jener frühen Jahrhunderte, daß dies oder jenes geschehen sei, „die Lunae" oder „die Veneris". Und mit dem Namen der Wochentage hält unter der Oberfläche christlicher Redeweise der Glaube an den geistig-göttlichen Hintergrund der Himmelswelten und an ihre Bedeutung für unser irdisches Leben selbst seinen Einzug in das Bewußtsein des christlichen Abendlandes. Freilich war nun das alles zum wenigsten für den Glauben des wahrhaft Glaubenden in ein neues Licht getaucht, da der Tag der Sonne als der Tag, da Christus auferstanden war, zur kyriake (hemera), zum Herrentag, zum „Christustag" erhoben war und als solcher die Woche begann. Hier bedurfte es nun keiner astrologischen Deutung, um die Sonne, nach der der Tag genannt war, als Sinnbild und Gleichnis für die Weltensonne Christus zu empfinden. Wie sehr damit der Wochenfeiertag in der christ218

liehen Woche nicht nur von einem Tag auf den anderen verlegt, sondern in der Wurzel etwas völlig anderes geworden war, darüber soll in einem besonderen Beitrag dieses Kalenders gehandelt werden. Es ist aber seltsam, daß nicht nur die Planetennamen der einzelnen Wochentage bis zum heutigen Tag sich erhalten haben — sie waren übrigens offenbar schon in vorchristlicher Zeit mit der römischen Kultur zu den Germanen gekommen und dort durch die Namen ihrer Gottheiten ersetzt worden —, sondern daß doch auch innerhalb der christlichen Kirche immer wieder der Versuch gemacht wurde, diesen Namen eine christliche und geistliche Deutung zu verleihen. So hat Clemens von Alexandrien gemeint, daß gerade Mittwoch und Freitag als Fasttage geboten seien, habe den Sinn, daß der Christ sich vor den Göttern dieser Tage, vor Merkur und Venus hüten und sich der Geldgier und der sinnlichen Lust enthalten solle. Eine eigenartige Deutung hat Berthold von Regensburg in einer seiner Predigten den sieben Wochentagen gegeben: (Deutsche Predigten, übersetzt von O. H. Brandt, Jena 1924). Den Laien, sagt er, seien zwei Bücher gegeben, daraus sie lernen sollten: Erde und Himmel. Am Himmel sollten sie lernen, nämlich von den Sternen, denen Gott Macht gegeben hat über alles Irdische, außer über den freien Willen des Menschen. Die sieben Sterne nämlich, nach denen die Tage der Woche genannt sind, verkündigen die sieben Tugenden, deren sich der Christ befleißigen soll. Die Sonne unter allen Tugenden, das ist der lautere christliche Glaube; aber wie der Mond der allerniederste Stern am Himmel ist, so predigt er uns die Demut, Mars aber die Stärke des Geistes, sonderlich im Kampf gegen die Sünde. Merkurius, der ein Mittler ist, heißt uns Friede machen, Frieden mit den Menschen, Frieden mit den Engeln, Frieden mit Gott durch wahre Reue. Jupiter aber, der Göttervater, lehrt die Mildtätigkeit. Die sechste Tugend, an die Venus gemahnt, ist die Minne, „weil Gott uns am heiligen Freitag die wahre rechte Minne erzeigt hat". Saturn aber ist durch seinen langsamen Gang der Prediger der Stetigkeit: „Also bittet Gott, daß er euch Kraft gebe, sprechen zu können wie Paulus: ich habe den Lauf vollendet." *

Was haben wir mit solchen Erinnerungen, mit astrologischen Spekulationen und solchen geistreichen Deutungen zu schaffen? Wir wollen wahrlich nicht der astrologischen Mode beifallen, wenn wir meinen, wir müßten neu lernen, die Woche als innere Einheit zu erleben. Die Woche ist der einzige Zeitraum über den Tag hinaus, den wir noch in unmittelbarer Anschaulichkeit gegenwärtig erleben können. Freilich sie bestimmt in ungezählten Fällen nur das Maß der Arbeit, und ein Arbeitstag rollt nach 219

dem anderen seinem Ende zu. Auf den Kalendern, die wir in unseren Schreibstuben hängen haben, steht mit großen Ziffern das Datum. Was geht uns der Wochentag an? Aber in der christlichen Kirche sind doch die Bemühungen nie ganz erstorben, den einzelnen Wochentagen im Kreis der Woche ihren bestimmten Sinn zu geben, damit die Woche selbst in ihrer siebentägigen Gliederung wieder die Fülle des Lebens vor uns ausbreite und uns in täglichem Wechsel mahne und erinnere an die Vielfältigkeit der Beziehungen, in denen sich unser irdisches Leben erfüllt und vollendet. Als ein Spiegelbild des großen und heiligen Lebenszusammenhanges, in den wir gestellt sind, wird die Woche wie jedes im Strom der Zeit wiederkehrende Maß der Zeit zu einem Hinweis und einer Predigt von den vielfältigen Gnaden Gottes und den vielfältigen Gestalten des Lebens. Wir denken nicht mehr an Mars und Jupiter, und Venus und Saturn sind uns nicht mehr „Regenten" unserer Tage. Aber wir denken an den Weg, den wir gehen sollen, weil wir ihn geführt werden, und an Ursprung und letztes Ende, zwischen die unser Leben gestellt ist. Alles Lebens Ursprung ist Gott. Weil die Sonne alles irdische Leben immer von neuem erweckt, weil sie der strahlende Herr des irdischen Tages ist, darum ist sie ein Gleichnis des Höchsten. Aber das Leben, dessen wir warten, ist nicht das Leben der kreatürlichen Welt, sondern ist der Hereinbruch der Gotteswelt, die Auferstehung von den Toten. Die Auferstehung ist die Vollendung der Schöpfung. Darum ist der Tag der Sonne der Tag der Auferstehung, der Tag des Christus, von dem wir unser Leben empfangen, so wie eine Woche von ihrem Sonntag Glanz und Freude empfängt. Aber wir sind gesandt in die Welt, und das heißt, wir sind gesandt zu Arbeit und Werk. Darum ist Montag der Tag der Arbeit und des Werkes, und der Weg vom Sonntag zum Werktag, „der Weg zur Arbeit", der Weg, den wir Menschen immer wieder mit Willen und Besinnung zu gehen haben. Leben aber ist Kampf. Leben heißt wagen, heißt Schwierigkeiten meistern, heißt kämpfen und siegen, heißt „den Feind" mit rechtem Blick sehen und auf den Irrfahrten des Lebens gleich Parzifal Demut und Treue lernen, mit denen allein der Berg des Heils gewonnen werden kann. Daran mahnt der Dienstag. Mittwoch aber ist die Mitte des Lebens, ist Reife des Mannes, Reife der Frau. Er ist der Tag der Familie, da alle menschliche Reife des Leibes und der Seele die wahre und nächste Stätte ihrer Fruchtbarkeit findet. Aber um den engen Kreis des eigenen Hauses breitet sich die Fülle der Welt. Donnerstag ist der Tag der Welt. Alle die vielfältigen Beziehungen, 220

in die wir hineingestellt sind: soziale Verbundenheit und herzliche Freundschaft, Gemeinde und Volk, Staat und Menschheit wollen mit dem Blick des Glaubens ergriffen werden, der in ihnen allen die Stätte der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes und die Stätten des Dienstes begreift. Aber am Freitag, an dem die Glocken zur Todesstunde unseres Herrn läuten, gehen wir den heiligen Kreuzweg, den wir ja doch alle Tage unseres Lebens gehen müssen, und geloben uns aufs neue der Einsicht, die zu lernen unser Leben nicht ausreicht, daß der Weg des Lebens, der Weg des Leidens und der Weg des Sterbens die Pforte zum Leben ist. Samstag aber ist das Ende. Der Tag, da die Arbeit einer Woche zu Ende geht, und der unsere Gedanken heißt sich bescheiden und rüsten auf das Ende, dem wir entgegenwandern. Das Ende aber ist nicht schwarz, wie das Blei des schwer lastenden Saturn, sondern es ist zugleich Verheißung wie der tröstliche Name „Sonnabend": „Morgen ist Sonntag!" 2. RUHETAG Daß wir ruhen dürfen, dieses Geschenk vermag nur der zu schätzen, der in rechtschaffener Arbeit müde geworden ist. Wenn nach Last und Hitze eines arbeitsamen Tages der Feierabend und die Ruhe der Nacht auf uns warten, wenn zwischen den „Werktagen" einer langen Arbeitswoche der Feierabend der Woche und der Tag der Ruhe anbricht, dann stellen wir gehorsam und dankbar uns hinein in die große Ordnung alles Lebens, das im geordneten Wechsel und im steten Rhythmus seine Spannkraft und seine Lebendigkeit bewahrt. Wie der Leib einatmet und ausatmet, und in diesem Wechsel seine Gesundheit erhält und erneut, so bedarf unser gesamtes Menschenwesen des geordneten Wechsels von Tätigkeit und Ruhe, von Werk und Stille, von Arbeit und Feier. Wir dürfen ruhen. Fern liegt uns der Gedanke, es sei unsere Arbeitsruhe eine pflichtmäßige Leistung an Gott, ein Tribut, den wir aus der uns geschenkten Zeit an den Herrn des Lebens zu entrichten hätten. Wir dürfen ruhen, es ist nichts als Wohltat und Geschenk. So legen wir getrost das Werk aus der Hand, wohl wissend, daß das Unvollendete morgen auf uns wartet und von neuem uns ruft, lassen die Sonne hereinfluten in unsere Stube und lauschen auf das Rauschen der Bäume und die Vogelstimmen und alle die anderen heimlichen Klänge, die von dem Lärm der Arbeit übertäubt waren. Und wie unser Leib sich erholen darf, sei es in ersehnter Ruhe, sei es in schmerzlich entbehrter Bewegung, so darf unser Geist sich lösen von dem Krampf rastloser Arbeit, aus der Starrheit unersättlicher Zweckhaftigkeit, in die er gebannt war. Er darf zu seiner 221

Ruhe kommen in dem Flug der Phantasie, in dem Spiel der Töne, in Blumengärtlein des Scherzes und der Fröhlichkeit und auf den Bergeshöhen der Klarheit und Weisheit. Jene Menschen, denen der Werktag oft nur kargen Gruß und oft genug ein von der Arbeit zermürbtes und von Sorge verwittertes Gesicht gegönnt hat, heute warten sie, daß wir mit ihnen leben und nichts anderes vorhaben, zu nichts anderem eilen als zu dem einen, zu dem uns nun Zeit und Muße gegönnt ist: daß wir einander grüßen und miteinander leben in Liebe und Freude. Wir dürfen ruhen! Wir dürfen ruhen. Aber wir können nicht vergessen, daß, während wir unseren Ruhetag genießen, tausend andere an die Arbeit gefesselt sind Heute kann ja kaum ein einzelner seinen Ruhetag halten, wie und wann er will. Wir sind hineingebannt in eine Arbeitsorganisation, die einen jeden an die Arbeitsordnung und Arbeitszeit eines größeren Ganzen bindet. Wir haben — das ist ein wirkliches Verdienst dieser trüben letzten Jahre — allmählich begriffen, daß der Ruhetag eine Lebensnotwendigkeit für Gesundheit und Gedeihen eines Volkes, zumal eines in seiner innersten Kraft erschütterten Volkes, ist, und sind weiter, als unsere Väter das für möglich gehalten haben, darin gegangen, durch Sitte und Gesetze die Sonntagsruhe und damit möglichst vielen einzelnen den Ruhetag zu sichern, dessen er bedarf. Wer es gut meint mit unserem Volk, und wer die Ordnungen des Lebens begreift, der wird sich mit aller Kraft und Leidenschaft den törichtigen, aus nackter Erwerbsgier und nervöser Rastlostigkeit geborenen Versuchen widersetzen, von der Sonntagsruhe wieder da und dort ein Stücklein abzubrechen und der alles verschlingenden Hetze unseres Lebens preiszugeben. Aber es bleibt hundertfach Arbeit, die am Sonntag getan werden muß. Wir holen Wasser aus der Wasserleitung, wir gebrauchen das elektrische Licht, wir fahren mit der Straßenbahn, wir benützen den Fernsprecher, und hinter allem steckt Arbeit von menschlichen Brüdern und Schwestern, die den Sonntag als Ruhetag nicht kennen, denen der Sonntag hineingerissen ist in das graue Einerlei der Werktage. Der in unser Volk tief eingefressene Wahn, daß man Gaststätten brauche und daß man auf Sonntagsausflügen des Wirtshauses bedürfe zur „Einkehr", macht Tausenden von Gastwirten und ihren Angestellten den Sonntag zum angestrengtesten Arbeitstag. Und wie viele Hausfrauen können nicht ruhen am Tag der Ruhe, haben vielleicht doppelte Arbeit, weil denen, die ihnen helfen, ihr Ruhetag nicht entzogen oder verkürzt werden soll! Wir setzen uns an den gedeckten Tisch und fragen vielleicht kaum danach, daß unser Ruhetag von fremder Arbeit genährt wird! Wer mit wahrhaftem Dank die Ruhe genießt, die ihm der Ruhetag gönnt, wird auch anderen Ruhe gönnen. Daß den am Sonntag Arbeitenden ein 222

freier Tag unter der Woche gegönnt wird — und wie sehr oft mangelt auch das! - ist nicht alles. Am Sonntag ruhen dürfen, mit den anderen den Ruhetag empfangen und gebrauchen, ist ebenso förderlicher und heilsamer, wie die Nachtruhe nicht einfach durch ebenso viele Ruhestunden im Laufe des Tages ersetzt werden kann. Laßt uns einen stillen Bund miteinander schließen, daß wir keine Sonntagsarbeit von andern begehren, die irgendwie vermieden werden könnte! Es ist so oft nichts als Gedankenlosigkeit, was dem anderen am Sonntag die Arbeit zumutet und auflädt. Wenn Hausfrauen ihre Gedanken zusammennehmen und am Samstag sich beschaffen, was sie zum Sonntag brauchen, wird kein Anlaß sein, daß irgendwelche Kaufläden am Sonntag geöffnet sind. Wenn alle Glieder der Familie zusammenhelfen, kann wohl die sonntägliche Ordnung und Sauberkeit am Samstagabend vollbracht werden, daß nicht der Sonntag in wüster Unordnung begonnen werden muß! Und muß der Sonntag gefeiert werden mit Speisen, die der Hausfrau oder der Köchin am Herde vermehrte Arbeit auferlegen? Hier ist ein Prüfstein unserer „sozialen" Gesinnung. Den Ruhetag halten heißt: anderen die Ruhe gönnen. Und gewiß ist es oft ein Gott wohlgefälligeres Werfe, anderen zur Ruhe zu helfen, als selber die Hände in den Schoß zu legen. Wir dürfen ruhen. Wenn nur nicht aus diesen Worten eine große Klage und Anklage heimlich herausklänge! Wie viele Menschen können den Ruhetag gar nicht halten, nicht weil die Arbeit sie in ihren Frondienst zwingt, sondern weil sie nicht ruhen können! Es ist wie eine dämonische Gewalt über den Menschen unserer Großstädte — und wie weit ist das selbst auf die Dörfer gedrungen! —, daß sie nicht mehr ruhen können. Sie können noch schlafen, wenn der übermüdete Leib sein Recht verlangt, aber sie können nicht mehr stille sein und feiern. Überallhin, wo er angebliche Ruhe und Erholung sucht, nimmt der Mensch seine eigene Unruhe und Rastlosigkeit mit. Er kann es nur da aushalten, wo irgendein Lärm, irgendein Betrieb, irgend etwas ist, das die Ruhe stört. Ach wohin soll der Mensch noch flüchten, wo wirkliche Ruhe ist, wo die große, weite Stille um ihn her ist, in der das unruhige Herz zur Ruhe kommt! Und was muß über die Menschen der Großstadt kommen, daß sie wieder lernen zu ruhen? Welch ungeheure Aufgabe für alle die Menschen, die an der Seele unseres Volkes arbeiten, für Bünde und Gemeinschaften, für Schule und Gemeinde, daß sie sorgsam das pflegen und üben, was der Mensch braucht, damit er nicht zerbreche in der Rastlosigkeit seiner Arbeit und seines Vergnügens, daß sie einem neuen Geschlecht die verschwiegene Pforte wieder öffnen und ihm sein köstliches Gottesgeschenk wieder vermitteln: Wir dürfen ruhen! 223

3. V O M G E B E T Der Sonntag ist die wundervolle Arznei wider alle zerstörenden Mächte der Arbeitswoche. In tausend Kleinigkeiten und in unendlicher Geschäftigkeit werden wir „zerstreut", zerspalten, zerrissen und verlieren uns selbst in diesem Vielerlei, dem die innere Einheit mangelt. Daß das Leben auf tausend Schritten sich „absondert" von der lebendigen und schöpferischen Mitte, an der alles hängt und von der alles sein Leben und seine Weihe empfängt, das ist die Ur-„Sünde" unseres Lebens. Daß wir uns immer von neuem einordnen in den einen lebendigen Zusammenhang, daß wir uns reinigen von der „Sünde" solcher Sonderung, das ist die Weihe und die Gnade des Sonntags. Wir vergessen so oft — und die Stadt ist wahrlich nicht dazu angetan uns daran zu erinnern —, daß wir mit unserem leiblichen Dasein ein Stück der großen Natur sind, deren Gaben wir in der täglichen Arbeit empfangen. Welche Wohltat, wenn unser Leib wieder eintauchen darf in die Natur, von neuem trinken darf aus dem schöpferischen Born, aus dem alle geschaffene Natur gespeist wird. Wenn wieder unser Fuß gewachsenen Erdboden unter sich spürt, wenn Bäume über uns rauschen, wenn die Sonne unseren Leib überflutet, wenn wir hineintauchen dürfen in das geheimnisvolle lebendige Wasser! (Freilich nicht, daß wir „in die Natur hinaus" gehen, sondern daß wir wahrhaft in die Natur hineingehen, erquickt uns an Leib und Seele!) Aber eben dasselbe bedarf unser Geist. Die sichtbare Natur mit allen ihren Herrlichkeiten ist nicht seine Heimat, wird ihm nur Gleichnis und Hinweis auf die geistige Welt, mit der eine unaufhebbare Verbundenheit uns verknüpft. Im „Himmel" ist der Vater, dessen Kinder wir sind. Daß wir uns auf unsere Kindschaft beim Herrn der Geister, auf unser Vaterhaus in der unsichtbaren Welt besinnen, das stellt uns der Sünde verfallene Menschen wieder hinein in den lebendigen Zusammenhang, der allein alles Leben zur inneren Einheit bindet. „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen", das ist der Sinn jeder wahrhaften Sonntagsfeier, in der unser Geist Zwiesprache hält mit seinem verborgenen Ursprung. Was tun wir denn, wenn wir beten? Was müssen wir lernen, wenn wir beten wollen? Wir müssen lernen, still zu werden in uns selber und uns „zu sammeln" aus der Zerstreuung in das Eine. Wir ziehen gleichsam die Außenposten unseres Wesens, die wir in tausend Dinge und Aufgaben, in Nöte und Ziele hineingesandt haben, ein und sammeln alle unsere Kräfte in dem einen lebendigen Mittelpunkt. Wir sagen ab der Oberflächlichkeit unse224

res Treibens und der hohlen Worte, mit denen wir uns einander fern halten, und „lassen uns zugrunde", wie die Mystiker gesagt haben. Wir fragen nicht mehr nach irgend jemandes Meinen und Wünschen, sondern allein nach der Wahrheit. Wir wollen nicht mehr Worte hören, sondern das Wort. Wir schließen unsere Sinne für die Welt der Erscheinungen, damit wir von dem Wesen aller Dinge berührt werden. - Wenn so viele unter uns klagen, sie könnten nicht beten, so ist es oft kein anderer Mangel, keine andere Unfähigkeit, als die mangelnde Stille und Sammlung, als die Bereitschaft zu schweigen und „gründlich" und „wesentlich" zu werden. Darum schließen wir wohl, wenn wir beten, die Augen, damit „die Welt draußen bleibe", und wir ganz „zu uns selber kommen" in der Stille des gesammelten Geistes. Denn in der Stille des gesammelten Geistes stehen wir vor dem lebendigen Gott. Gewiß wir stehen in jedem Augenblick vor seinem Auge und vor seinem Angesicht. Aber in der Stunde des Gebets erkennen wir uns selber vor dem Thron der Majestät, und wir wagen es, uns eben dazu zu bekennen. Wir knien nicht vor dem Gebilde unserer eigenen Phantasie und beten nicht zu unserer eigenen Göttlichkeit, sondern wir hören aus der unsichtbaren Welt eine Stimme, die uns ruft, und wissen, daß wir einem ewigen „Du" gegenüberstehen. Hier erst wird es sinnvoll, den heiligen Namen „Gott" zu gebrauchen, wo wir diesen ungeheuren und unvergleichen „An-Spruch" vernehmen, der an uns ergeht, und es wagen, dem Blick, der unwandelbar auf uns gerichtet ist, standzuhalten: „Rede, Herr, Dein Knecht hört!" Das eben ist das Ungeheure des Gebets, daß wir als menschliches Ich vor dem göttlichen Du stehen und es nicht mehr mit dem Vergänglichen, nicht mehr mit Dingen und Menschen, nicht mehr mit Schwierigkeiten, Kämpfen, Nöten, Erfolgen, Freude und Leiden, nicht mehr mit geliebten und ungeliebten Menschen, mit den vertrautesten Nächsten oder den widerwärtigsten Feinden zu tun haben, sondern allein mit dem lebendigen Gott. Welche unsagbare Befreiung mag darin liegen! Darum erheben wir wohl, wenn wir beten, freudig das Haupt und heben unsere Augen auf und richten „empor die Herzen", empor zu der Höhe, die über aller Welt ist. Aber vor dem lebendigen Gott ist all unser Leben verwandelt. Das ewig Licht geht da herein, Gibt der Welt ein'n neuen Schein. Wir selbst mit allem was wir sind, planen und tun, mit allem was uns freudig bewegt und schmerzlich bedrückt, sind in einen neuen, vielmehr in den uralten und eigentlichen Zusammenhang gerückt. Arbeit und Liebe, Kampf und Leid, Familie und Welt, alles erscheint in seinem gött225

liehen Sinn und in seiner heiligen Ordnung. Eben damit steht unser ganzes Leben unter einem unerbittlichen Gericht und empfängt zugleich, aus dem Gericht emporgehoben, seine neue und wahre „Richtung". Nun wird aller Ehrgeiz still vor dem einen: Dein Name werde geheiligt! Nun wird alles, was wir uns als Ziel gesetzt haben, dem wir unsere Kraft weihen, gering vor dem einen, das allein gilt: Dein Reich komme! Nun wird aller Eigenwille fraglich und aller Wille, den wir glauben bekämpfen zu müssen, steht mit dem unseren vor dem gleichen Herrschaftsanspruch: Dein Wille geschehe! Und wir falten wohl unsere Hände zum Zeichen, daß wir uns diesem Willen ganz zu eigen geben und nichts anderes zu sein begehren als „die Gefangenen Gottes", die sich von ihm „richten" und gebrauchen lassen zu seinem Dienst. Nun ergießt sich ein neuer Strom von Kraft in unser Leben. Wir werden von neuem gesandt und sind bereit uns senden zu lassen. Da liegt vor uns die Woche und in ihr eingebettet der ganze Kreislauf unseres Lebens: Arbeit und Beruf, Kreuz und Leid, Mühe und Ruhe, und in diese Welt lassen wir uns senden aus dem Heiligtum. Nur darum haben wir auf dem Berg der Verklärung stehen dürfen, damit wir dort geweiht werden für den Kreuzweg des Lebens. Nicht mehr zögernd und zaghaft, wie es wohl auch die großen Boten Gottes in schwacher Stunde getan haben, schielen wir nach dem anderen, dem solche Sendung gelten mag, sondern wir selbst sagen ja zu dem, der uns ruft und uns sendet: Hier bin ich, Herr! Gott, Deinen Willen tue ich gern. Nun wissen wir, warum wir beim Gebet im Gottesdienst nicht sitzend verharren, sondern uns erheben, um wahrhaft vor Gott zu stehen. Stehen ist die Haltung der Bereitschaft. Ein Gebet, das nicht mündet in der Bereitschaft zum Dienst in der Welt, ist kein wahrhaftes Gebet im Namen Christi gewesen. Nun ist alles an seinem Ort: der Mensch steht vor Gott und die Welt liegt vor dem Menschen als die Arbeitsstätte, in die er gesendet ist. Aus der tiefsten Ordnung strömt heilige Freude und die Gewißheit, daß wir hoffend und ringend, irrend und strauchelnd dennoch auf dem Wege sind: Und nun mit Fröhlichkeit frisch auf — ivir sind bereit. Es helfe uns der Herre Gott zum Sieg aus aller Not.

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GOTTESDIENST UND KIRCHENJAHR

1. UNSERE WOCHENSPRÜCHE (1929 - gekürzt) Die Wochensprüche sind nicht zufällig und willkürlich gewählt, sie sind nicht wie die „Losungen" der Brüdergemeinde aus einem großen Vorrat von Bibelsprüchen durchs Los bestimmt, sondern sie sind der Ausdruck einer inneren Ordnung. Erst allmählich sind wir im Lauf der Jahre zu dieser inneren Ordnung geführt worden. Im vorigen Jahrgang haben wir das Nötigste über diese innere Ordnung gesagt: „Bisher hatte ein jeder Monat eine besondere Überschrift als Leitwort bekommen: Hoffnung oder Freude, Leiden, Ernte, Ritterschaft und wie sie alle geheißen haben. Die Wochensprüche, die über den einzelnen Sonntagen des Monats standen, sollten diese Überschrift nach den verschiedensten Seiten entfalten, und die Sonntage eines jeden Monats bildeten so ein in sich geschlossenes Ganzes. Aber die Sonntage wollten sich nicht alle gern und leicht in diese Monatsgruppen fügen und wollten viel lieber der inneren Ordnung des Kirchenjahres gehorchen. Die Monate sind eine künstlich gemachte Einteilung des Jahres. Aber das Jahr der Kirche und mit ihm die 52 Sonntage folgen einer eigenen Ordnung, die sich nicht mechanisch in zwölf Stücke zerteilen läßt. Die Ordnung des Kirchenjahres ist nicht künstlich gemacht, sondern sie ist der Ausdruck einer inneren Gliederung des Jahres, die in den Jahreszeiten ihre naturhafte Begründung, in den großen Festen ihren geistigen Hintergrund offenbart. Man muß sich in der Tat entscheiden, ob man die Monate des bürgerlichen Kalenders oder die Zeiten des Kirchenjahres herrschen lassen will, und wenn man diese Frage erst klar gesehen hat, weiß man, daß wir uns nach dem Kirchenjahr richten müssen." Die innere Ordnung des Kirchenjahres ist eine Aufgabe, die heute neu gesehen und mit neuer Liebe ergriffen wird. Wir haben uns im „Gottesjahr" von Anfang an um diese Aufgabe mit Ernst bemüht. Die alten „Perikopen", die im frühen Mittelalter für die einzel227

nen Sonntage kirchlich verordneten Abschnitte aus Evangelien und Episteln, sind nur sehr bedingt als das Gerippe einer solchen Ordnung zu werten. Sie sind zum großen Teil überhaupt ohne Rücksicht auf das Kirchenjahr als Reste einer fortlaufenden Lesung biblischer Bücher entstanden. Andere, wie die alten Evangelien der Passionszeit, beziehen sich auf einen uns heute fremd gewordenen Sinn der betreffenden Zeit. Verschiedene Versuche, eine neue Ordnung des Kirchenjahres zu begründen, sind zu künstlich, zu verstandesmäßig, entfernen sich zu rücksichtslos von der Tradition, auch wo sie wertvoll ist, als daß wir uns mit ihnen befreunden könnten. Den Vorschlag, den wir für die Gestaltung des Kirchenjahres machen wollen, hoffen wir noch im Lauf des Jahres 1929 unseren Freunden in einer ausführlichen Denkschrift unterbreiten zu können. Eine kurze Andeutung findet sich in dem vorigen Jahrgang. Das meiste hat sorgfältiger Prüfung standgehalten; einiges wenige ist verändert worden. Wir haben heuer im Monatswerk den einzelnen Sonntagen ein kurzes Wort vorausgeschickt, das den besonderen Charakter dieses Sonntags und seine Stellung im Ganzen des Jahres andeuten soll, und wir haben den verschiedenen Zeiten des Kirchenjahres eine Überschrift gegeben, die den inneren Zusammenhang deutlich macht. Unsere Leser sind freundlichst gebeten, aus diesen Überschriften und den Wochensprüchen selbst die Ordnung zu erkennen, die das Einzelne an seinen Platz im Ganzen weist. Nur wer auch im geistlichen Leben sein selbstherrliches Eigenleben nach Laune und Willkür bewahren möchte, kann den Wert einer solchen Ordnung verkennen oder leugnen, die uns manchmal von unseren Gedanken hinweg, aber immer einen klaren und sinnvollen Weg führt. Wir sollen nicht immer unseren Lieblingsgedanken nachhängen, und die innere Ordnung des Jahres will uns helfen, dem Gefängnis unserer Lieblingsgedanken zu entrinnen, das Ganze zu sehen und von dem einen zum andern fortschreitend die Fülle der Wahrheit zu erkennen. Die Wochensprüche wollen Meditationsworte sein, das heißt, sie wollen dazu anregen und anleiten, sich in einen Gedanken ganz tief und gründlich zu versenken. Wenn wir von Meditation sprechen, so meinen wir ein Denken, das wir heute neu lernen müssen. Es bezeichnet eine ganz andere innere Haltung, als die wir fast immer einnehmen und fast ausschließlich üben. Wir nehmen einen Gedanken verstandesmäßig auf, wissen, „was damit gemeint ist", und beginnen alsbald, uns kritisch damit auseinanderzusetzen. Wir stimmen zu, widersprechen wohl noch öfter, nehmen an und verwerfen und setzen uns auseinander mit dem, was hier gesagt ist. Aber damit haben wir mit dem Inhalt selbst noch gar keine Berührung gewonnen. Es gilt wieder jene ganz andere Art des Denkens zu lernen, die zunächst einmal auf alle kritische Stellungnahme verzichtet 228

und sich ganz schlicht, zum Hören bereit, in die Wahrheit versenkt, die uns in diesem Satz sucht und berührt. Es kommt darauf an, daß wir gerade nicht an dem Gedanken oder gar seiner guten oder schlechten, einleuchtenden oder dunklen Form hängen bleiben, sondern die Sache selber als eine anschaubare Wirklichkeit uns vergegenwärtigen. Ich darf es vielleicht wieder einmal - wie schon im „Gottesjahr" 1925 - an ein paar Beispielen zeigen, wie das gemeint ist. Nehmt den Spruch, der in unserem Monatswerk auf dem ersten Sonntag nach Epiphanias steht und der uns dort den Sinn des menschlichen Werdens im Licht des Evangeliums verdeutlichen soll: „Es soll geschehen; ehe sie rufen, will Ich antworten." Ich kann diesen Satz mit dem Verstand lesen, kann dann auf den eigentümlichen Widerspruch stoßen, der in dem Begriff einer dem Ruf vorauseilenden Antwort liegt. Ich vergleiche den Satz dann etwa mit anderen Bibelworten, die von Gottes Antwort auf unseren Ruf handeln und lasse mich von der seltsamen Form des vorliegenden Wortes befremden. Aber damit bin ich unversehens schon wieder ins Kritisieren und Besserwissen hineingeraten und damit in eine völlig unfruchtbare Haltung. Ganz anders ergeht es mir, wenn ich mir den Inhalt des Satzes anschaulich vergegenwärtige. Da sind Menschen, die rufen. Sie schwätzen nicht, sie schreien nicht, sondern sie rufen. Sie rufen nicht ins Blaue und Leere hinein, sondern sie rufen nach dem Einen, wonach ihre Seele dürstet. Sie rufen mit der eindringlichen Gewalt, mit der ein Mensch ruft, wenn es um Tod und Leben, um Untergang oder Rettung, um Verderben oder Heil geht. Unversehens stehen wir, indem wir solche rufenden Menschen uns vergegenwärtigen, selbst in ihrer Mitte, und alle Sehnsucht, alle Werdenot und aller Lebenshunger füllen gleichsam unsere mitempfindende Seele. Und nun tritt uns, den Rufenden, Er gegenüber, der antwortet und dessen Antwort schon da ist, ehe unser Ruf nach ihm laut geworden ist. Wir spüren, wie in unserem Rufen selbst schon das Echo klingt auf den anderen Ruf, der uns getroffen hat: „Das soll geschehen." Das ist die große Gewißheit, die uns verheißen ist. - Oder nehmt ein anderes Beispiel, das Wort, das zu dem 25. Sonntag nach Trinitatis, dem Sonntag des Gerichts, gewählt ist: „Der Fürst dieser Welt ist gerichtet und das Wesen dieser Welt vergehet." Auch hier kann ich mich in theoretische Erörterungen verstricken lassen. Ich weiß, daß mit dem Fürsten dieser Welt der Teufel gemeint ist, und es will mir alsbald in den Sinn kommen, wie sich Menschen früherer Zeiten den Teufel vorgestellt und was sie alles in ernsthafter Erfahrung und fabulierendem Aberglauben über ihn erzählt haben. Aber damit habe ich selbst wieder zu reden und zu widersprechen angefangen, statt zu hören. Ganz anders, wenn ich mir die Welt, wie sie ist, die Welt unserer Erfahrungen, unsere soziale Um229

weit vorstelle und durch die Fülle widersprechender äußerer Eindrücke die eigentlich bewegende Kraft dieses Betriebes mir lebhaft zu vergegenwärtigen suche: Was ist der Fürst, der „princeps", das beherrschende Prinzip dieser „Welt"? Diese Macht ist gerichtet, über sie ist das Urteil gesprochen, sie ist von einer höheren Macht verurteilt, sie „gilt" nicht mehr im letzten und tiefsten Sinn. Es ist Torheit, sich vor ihr zu fürchten, weil sie gerichtet ist. Nun steht groß vor meiner Seele der, der die Welt richtet, und das Zeichen des Kreuzes, in dem diese Welt verurteilt ist. Das alles nicht in blassen theoretischen Gedanken, sondern in anschaulicher und bildhafter Wirklichkeit. Ich bewege diesen Gedanken, nein, vielmehr diese Wirklichkeit in meiner Seele. Ich stelle mich ganz hinein wie in einen Lichtkreis, wie in einen Kraftstrom, tauche ganz unter wie in einer starken Flut. Ich schweige und bin ganz zu hören und zu gehorchen bereit. Die Meditationsgedanken, die hier zu den zwei Beispielen ausgeführt wurden, sind nur eine Andeutung für das, was uns auf diesem Weg des Hörens an Klarheit und Erkenntnis zuwachsen kann. So ist Meditieren das Werk eines lauteren und demütigen Herzens. Man wird stille dabei, stille bis in das innerste Gewoge unserer Gedanken hinein, so daß wir von der Wahrheit selber uns ergreifen und ganz und gar durchdringen lassen. Man kann darum nicht über irgendwelche Worte, die irgendwoher stammen, „meditieren". In den verbreiteten Sammlungen tiefsinniger Aussprüche aller möglichen Dichter und Denker findet sich gewiß manches Wort, das des Nachdenkens sehr würdig ist. Trotzdem können wir nicht anfangen, über die Aphorismen solcher Sammlungen eins ums andere zu meditieren. Warum nicht? Weil ich hier gar nicht von vornherein das Vertrauen habe und haben kann, daß mir in jedem dieser Worte lebendige Wahrheit entgegentritt. Es könnte ja sein, daß mancher Irrtum, manche Entstellung und Verzerrung eines richtigen Gedankens uns hier verführt. Ich kann und darf, wenn ich solche Sammlungen gebrauche, den prüfenden, kritischen Verstand nicht ausschalten. Aber eben wo ich mit der Möglichkeit rechne, daß ich kritisieren, widersprechen, nein sagen muß, kann ich nicht wirklich meditieren. Hier muß mir ein Wort begegnen, zu dem ich Vertrauen habe. Ich muß die mir zur Meditation angebotenen Worte mit dem Vertrauen hören, daß hier wirkliche Wahrheit mich heimsucht. Ganz schlicht gesagt, daß es ein „Wort Gottes" ist, demgegenüber es wirklich nichts anderes gilt, als zu hören und immer besser zu hören. Ich kann niemanden zu diesem Vertrauen überreden, der es nicht hat; aber so allerdings sind die Wochensprüche unseres Monatswerks gemeint, und sie werden ihren vollen Dienst nur an den Lesern tun, die ihnen mit diesem Vertrauen begegnen. 230

Es ist wohl am besten, ja es ist wohl notwendig, daß die Leser erfahren, wie die Auswahl dieser Wochensprüche zustandegekommen ist. In den ersten Jahren haben wir zumeist Bibelsprüche, aber doch hin und wieder auch kurze Worte anderer Menschen als Wochensprüche gewählt: Meister Eckehart, Luther, Matthias Claudius und manche andere haben uns ihr Wort gesagt. Wir sind im Lauf der letzten Jahre dazu gekommen, nun mehr Bibelsprüche zu wählen. Nicht aus einer äußeren gesetzlichen Bindung an die Bibel, als ob nicht auch über manches andere Wort sehr wohl in vollem und tiefem Sinn meditiert werden könnte, aber die innere Einheit der Worte schien uns am besten gewahrt, ihre Verbindung auch mit dem täglichen Morgen- und Abendgebet am ehesten möglich, wenn es lauter Bibelsprüche sind. Da kamen Klagen von sehr ernsthaften Menschen: „Die Bibelsprüche sind uns fremd; gib uns leichtere Worte, die uns, unserem Denken und unserem Sein näher stehen." Es kam vor allem der Wunsch aus dem Kreis der Jugend: Wenn die Wochensprüche des „Gottesjahres" der Bibellese zugrunde liegen, dann wollen wir auch in dem Jahrbüchlein unserer Jugendbünde die gleichen Sprüche haben, da wir nicht wohl mehrere Wochensprüche nebeneinander haben und bedenken können. Aber deine Bibelsprüche sind uns fremd, die Sprache der Bibel verstehen wir nicht, ihre Sprache und ihre Gedanken sind uns wie Sauls Rüstung, in der der Knabe David nicht laufen und nicht streiten kann: „mache unser Joch leichter!". — Durfte ich mich solchen Klagen und Bitten entziehen? So habe ich mich an die Arbeit gemacht und Luthers Schriften, Briefe und Predigten auf Worte durchsucht, die uns diesen Dienst leisten sollten. Viele kostbare Worte sind mir begegnet, manche, die mich selbst mit der unerhörten Wucht ergriffen haben, die Luthers Sprache haben kann für den, der sich einmal in sie hineingehört hat. „Wer den Unfrieden stillen will, der muß Gottes Wort ganz wegnehmen und verbieten." — „Der Christus trauert und ist bekümmert über der Gottlosen Verdammnis." Aber es war doch so vieles wieder ganz fremd und dunkel, so vieles unserem heutigen Denken schwer zugänglich, so vieles nur in einer Übersetzung aus dem 16. in das 20. Jahrhundert wirklich lebendig zu machen, daß dies Joch schwerer wurde als das erste. Da meinte ich wohl, es müßte der Versuch gewagt werden, das was der einzelne Sonntag meint, einmal ganz in der Sprache unserer Zeit neu zu sagen, es so zu sagen, daß der im heutigen Leben stehende Mensch ohne Mühe verstehen könnte, was hier gesagt und gemeint ist. Freunde ermutigten mich zu diesem Wagnis, solche Meditationsworte neu zu schaffen. An einem köstlichen Sonntagmorgen, oben auf der Höhe des Teutoburger Waldes, habe ich mich um die neue Aufgabe bemüht. Aber je höher die Sonne stieg, desto zwingender und unerbittlicher 231

klar wurde es, daß diese Aufgabe nicht zu leisten ist. Wir können nur abstrakt reden. Unserem Reden mangelt die bildhafte Kraft, nicht weil wir nicht unsere Rede auch mit bildhaften Worten und wohlgewählten Vergleichen schmücken können, sondern weil wir nicht in der ursprünglichen Kraft sinnlichen Erlebens unser Gotteswort empfangen. Meditieren aber kann man nicht über blutleere Gedanken, meditieren kann man nur da, wo die Geheimnisse der Offenbarung in bildhafter Erdenwirklichkeit vor unsere Seele treten. Niemals vorher ist mir, abseits von aller gesetzlichen Lehre über die Bibel, so zwingend und erschütternd klar geworden, daß wir das Bibelwort nicht durch das von uns geprägte Wort ersetzen können. Ich kann über tausend andere Worte ernsthaft nachdenken, mich von ihnen, auch wo ich widerspreche, anregen und befruchten lassen, aber jene Mächtigkeit, die das Vertrauen weckt und zum Hören verpflichtet, hat das Bibelwort. Der einzelne mag zu diesem oder jenem Wort eines neueren Denkers stärker hingezogen sein und sich unmittelbarer davon berührt fühlen, aber jedes dieser Worte schließt hundert andere hungrige Menschen wiederum aus von dem Tisch, über dem das Brot des Lebens gebrochen wird. Es sind einzelne Kreise, die sich um eine besondere Sprache, um besondere Gedanken scharen; aber das Bibelwort stiftet die Gemeinschaft der ganzen Weite, weil es bildhaft aus offenbarungserfüllter Geschichte heraus gesprochen ist. Es ist seltsam zu sagen: Steht uns nicht in der Tat Jesaja näher als Meister Eckehart, Paulus noch näher als Luther? Darum, wirklich nicht um einer gedankenlosen Gewohnheit willen, stehen wiederum lauter Bibelworte über den Wochen dieses „Gottesjahres". Und dies Bekenntnis von einem unmöglichen und darum vergeblichen Versuch sagt vielleicht am deutlichsten, wie diese Worte gemeint sind. Das alles sind Hilfsmittel; sie haben keinen Wert in sich selber, sondern sie sollen nur dazu dienen, daß wir unsere flüchtigen und zerflatternden Gedanken in die Zucht der Wahrheit sammeln, unsere verstreuten und wechselnden Einfälle unter die Ordnung der sich entfaltenden Wahrheit beugen und unsere einzelnen, von Freude und Leid bewegten Tage durch das heilige Band der einen Wahrheit zu einem Gottesjahr zusammenbinden lassen. 2. KIRCHENSCHMUCK Bedarf das Gotteshaus eines Schmuckes? In Kurland hörte ich während des Krieges eine Predigt in einem ehrwürdigen Gotteshaus, das durch die Beschießung seinen wertvollsten „Schmuck", schöne alte Glasgemälde, verloren hatte. Bedürfen wir dieses 232

Schmuckes?, so fragte der Prediger und gab zugleich die Antwort: Der einzige wirkliche Schmuck des Gotteshauses sei eine andächtige Gemeinde. Das ist zweifellos wahr, wenn es das Bekenntnis der evangelischen Freiheit sein soll, die auch in äußerer Dürftigkeit, in einem kahlen und schmucklosen Raum die stärkste Kraft des Geistes empfangen und ausstrahlen kann. Aber damit darf doch nicht eine notwendige Lebensäußerung unterbunden werden, und es ist eine notwendige Lebensäußerung der Dankbarkeit und Liebe, die das dem Namen des Herrn geweihte Haus, die Stätte der Verkündigung und Anbetving, schmücken will mit allem Edlen und Köstlichen. Die äußerste Schlichtheit, zu der sich die reformierte Kirche in der Gestaltung ihres Gotteshauses verpflichtet fühlt, ist ein notwendiger Protest gegen die Überschätzung all dieses Beiwerks, das wie ein üppiges Schlinggewächs den Stamm, um den es sich rankt, die schlichte Wahrheit der Verkündigung selbst, ersticken könnte. Aber wenn daraus, wie so vielfach, ein neues Gesetz gemacht wird, das den Schmuck der Kirche, die Bilder an den Wänden, Kreuz und Kerzen auf dem Altar, vielleicht sogar die Blumen verbietet, so paßt solche starre Gesetzlichkeit mehr zu der Enge und Furcht des alten Bundes als zu der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat. Der Schmuck der Kirche ist uns ein selbstverständlicher und notwendiger Ausdruck der Dankbarkeit und der Liebe, mit der wir der heiligen Stätte verbunden sind; gewiß nicht notwendig, als ob das Wort Gottes nicht kräftig wäre, das Singen und Beten nicht lebendig und andächtig sein könnte in einem schmucklosen Raum, aber doch notwendig, weil, was in den Herzen lebendig ist und lebendig sein soll, zur Gestaltung in der Gleichnissprache des kirchlichen Schmuckes drängt. Der Schmuck des Gotteshauses ist in einer anderen Formensprache das gleiche wie der Gesang: der in die sinnliche Erscheinung drängende Überschwang der Gottesinnigkeit, ein Bekenntnis der Ehrfurcht und der Liebe. Aber fast möchte man sagen, das Schmücken sei wichtiger als der Schmuck. So wie man bei der Predigt das lebendige und persönliche Wort nicht abtrennen kann von dem Inhalt, der gesagt werden soll, so wie das Lied wirklich gesungen werden will, so kommt es nicht darauf an, daß irgendein Kirchenschmuck eben da ist, sondern daß das Schmücken selbst als ein frommer Dienst am Heiligtum verstanden und geübt wird. Darum geht es nicht an, den Kirchenschmuck wie die „Dekoration" eines Festsaals irgendeinem geschäftlichen Unternehmen zu übertragen. Man kann nicht die Decken, die in wechselnden Farben den Altar schmücken, oder den Teppich, der vor den Stufen des Altars liegt, von irgendeiner Firma beziehen, wie etwa die Ausstattung eines Geschäftsraumes. Hier müssen Menschen sein, die sich um diesen heiligen 233

Schmuck gemüht haben, und die aus dem Glauben und der Liebe heraus die Dinge gestalten, die selbst ein Bekenntnis an dem Ort des Bekenntnisses sein sollen. Ich denke mit Schauder an die Dekorationen, die zu Festtagen oder zu den Trauungen reicher Paare irgendeine Kunst- und Handelsgärtnerei für teures Geld aufgebaut hatte. Es war eben Dekoration, nicht Schmuck, und ich denke mit um so mehr Freude und Dankbarkeit an die Stunde, wo eine Schar von Konfirmanden mit den Blumen, die sie selbst zusammengetragen, den Altar schmückte für den darauffolgenden Fest- und Freudentag, oder an jene Nachmittage vor dem Erntedankfest, wo die Frauen aus der Gemeinde kamen, um alle die Gottesgaben herzutragen, die als ein Opfer der Dankbarkeit am Erntefest den Altar schmücken sollten. Das Schmücken des Gotteshauses darf nicht entwürdigt werden zur Gelegenheit, Geld zu verdienen, es ist ein Dienst, in dem die Glieder der Gemeinde ihre Liebe zum Gotteshaus aussprechen und mehren. Überall sollten sich Männer und Frauen und vor allem junge Menschen finden, die darauf brennen und darin wetteifern, diesen Dienst tun zu dürfen. Und eine gute Ordnung mag dann einmal diesem, ein andermal jenem Kreis Recht und Verantwortung zuweisen. Aber was ist würdig, das Gotteshaus zu schmücken? Doch nur das, was selbst ein heimliches Leben in sich trägt und darum zu einem Bekenntnis des Lebens werden kann. Nur das Echte, das nicht hinter falschem und prunkendem Schein sein wahres Wesen verbirgt, nur das Lebendige, das selber zum Gleichnis der lebendigen Bewegung zu werden vermag. Die heiligen Geräte, die auf dem Altar stehen und beim heiligen Mahl dienen sollen, können nicht immer und sollen in unserer Zeit nicht aus Gold sein, aber sie sollen nicht mit falschem Glanz, mit überladenem Zierat prunken. So ehrwürdig uns die kostbaren Gefäße aus alter Zeit sind, heute ziemt uns der schlichtere Stoff, Silber, oder wo das nicht sein kann, Kupfer und Messing, und die ganz schlichte, edle Form, der man es anspürt, daß der, der sie gestaltet, und die, die sie gebrauchen, um die lautere Schlichtheit des Evangeliums wissen. Ich besitze einen Becher, der als Abendmahlskelch für eine schwedische Dorfkirche geschaffen worden ist, so schlicht als ein solcher kupferner Becher nur sein kann, aber eben darum ein viel schönerer und würdigerer Schmuck des Gotteshauses, als wenn das „armselige" Material mit kümmerlichem Goldglanz und die schlichte Form durch reiche Ornamentik verfälscht wäre. Aber welche Greuel verlogener Scheinkunst haben sich in unseren Kirchen, auf unseren Altären breit gemacht und bezeugen dort das gleiche widerliche, hohle Pathos, das uns in der geistlichen Rede so verächtlich ist! Auf dem Altar steht das Kreuz. Aber das Kreuz soll nicht aus einer Kruzifixus-Fabrik bezogen sein, so wenig wie das Wort vom Kreuz und 234

das Bekenntnis zu dem Gekreuzigten jemals Fabrikware werden darf. Lieber mag kein Kruzifixus, sondern nur das schlichte Kreuzeszeichen selbst dort seinen Platz haben. Es braucht nicht aus Gold geschmiedet und mit kostbaren Steinen besetzt zu sein gleich den Wunderwerken der frühmittelalterlichen Goldschmiedekunst; mag es aus dem schlichten Holz der Eiche oder der Linde geschnitten sein, wenn es sich nur zu dem bekennt, was es ist. Aber wenn daran das Bild des Gekreuzigten hängt, so soll es ein Kunstwerk sein, d. h. ein Werk, in dem ein lebendiger Mensch seine Ehrfurcht und seine Dankbarkeit vor dem Geheimnis des Kreuzes bekannt hat. Rechts und links von dem Kreuz brennen zwei Kerzen. Wohl schmücken wir gern an festlichen Tagen oder in ganz großen Räumen den Altar mit einer verschwenderischen Fülle von Lichtern. Aber es hat doch seinen tiefen und guten Sinn, daß es die zwei Lichter sind, das Sinnbild für den alten und den neuen Bund, Gesetz und Evangelium, die ebenso zusammengehalten wie geschieden werden durch das Zeichen des Kreuzes. Aber es muß die Flamme der lebendigen Kerzen sein, der Kerzen aus edelstem Wachs, denn nur ihr reines und in aller Stille und Stetigkeit doch lebendiges Licht ist würdig, ein Gleichnis zu sein der Anbetung und der Liebe, die leuchtet, indem sie sich verzehrt. Es ist ein Greuel, wenn auf dem Altar die elektrischen Kerzen das lebendige Licht ersetzen; ein erschütterndes Zeichen, wie gänzlich auch die, denen das Gotteshaus anvertraut ist, vergessen und mißverstanden haben, was lebendiges Sinnbild ist und darum Schmuck des Gotteshauses sein kann. Aus dem gleichen Grunde wäre es auch zu wünschen, daß unsere Kirchen wenigstens noch dafür eingerichtet wären, an Festtagen ganz mit Kerzen erleuchtet zu werden. Wie tief ist mir mit Weihnachten verbunden der Gedanke an das Lichtgewoge der 55 Kerzen, die in der heiligen Nacht auf dem Kronleuchter im Chor der St. Lorenzkirche brennen und die zarte Gestalt der Maria in einen lebendigen Lichtmantel hüllen! Sollen wir uns von der Zahl der einsamen Kerzen, die tagaus tagein vor den Marienbildern katholischer Kirchen ihr warmen Licht versprühen, beschämen lassen in dem freudigen Eifer, an hohen Festtagen den, der das Licht der Welt ist, auch mit der verschwenderischen Fülle des lebendigen und sich verzehrenden Lichtes zu ehren? Es soll dann freilich auch das Anzünden der Kerzen nicht die äußerliche Hantierung des Kirchendieners sein, sondern ein sinnvoller Dienst, den junge Männer der Gemeinde beim Beginn des Gottesdienstes tun, selbst ein sichtbares und deutliches Zeichen dessen, was in dem Gottesdienst an unser aller Herzen geschehen soll. Darf man es wagen, ein Wort für das ewige Licht einzulegen? Ich freue mich, daß in unserer ehrwürdigen St. Sebalduskirche in Nürnberg infolge 235

einer alten Stiftung heute noch, heute wieder, das ewige Licht brennt. Es ist ein feines Sinnbild, bei dem der eine an die unwandelbare Treue der Gottesliebe, der andere an das gläubige Gebet denken mag, das vor dem Angesicht Gottes nie verstummen, nie verlöschen darf. Über die Decken und Gewänder, die als Schmuck im Gotteshaus dienen sollen, ist an anderer Stelle dieses Jahrbuches ein besonderes Wort gesagt. Hier hat uns der Offenbacher Meister, Rudolf Koch, ganz neue Erkenntnisse geschenkt. Er hat es in der Arbeit an solchen „Paramenten" erfahren, wie wenig der von Fabriken hergestellte Stoff und irgendeine mechanische Technik für solchen Kirchenschmuck brauchbar sind. Er läßt Flachs und Wolle, die zu dem Werk dienen sollen, nun selber spinnen, die Stoffe selber mit der Hand weben und die farbigen Fäden, mit denen das grobe Leinen bestickt werden soll, mit eigenen Farben färben. Dadurch bekommt ein solches Stück eine unheimliche Lebendigkeit, und wir ahnen wieder das Geheimnis, das uns in den Paramenten des Mittelalters so tief berührt und beglückt. In der evangelischen Schau auf der Presse-Ausstellung in Köln hängen eine Anzahl von Schriftteppichen aus der Werkstatt von Rudolf Koch. Sie sind nicht nur nach meinem Urteil das Lebendigste und Eindrücklichste, was im einzelnen dort zu sehen ist, man spürt den Anbruch einer neuen Zeit, in der man wieder weiß, was Kirchenschmuck ist, und darin wieder mit den Vätern verbunden ist. Nur das ganz lebendige Werk darf von dem Werk des Lebendigen zeugen. Und nun die Blumen! Was wäre der Schmuck der Kirche ohne das Grün und die bunten Farben der lebendigen Blumen! Der lebendigen Blumen! Denn allerdings, die künstlichen Blumen taugen nicht zum Schmuck des Grotteshauses, weder die Papierröschen noch die kunstvollen weißen Lilien aus gestärktem Leinen am grün umwickelten Holzstengel. Hier vor allem ist nur das Lebendige würdig, Bekenntnis und Gleichnis des lebendigen Glaubens zu sein. Und hier vor allem ist das Schmücken fast ebenso wichtig wie der Schmuck. Was bedeutet es für eine Gemeinde, wenn sie an einem der Adventsonntage in den winterlichen Wald hinausgeht, um draußen die Zweige zu holen, mit denen die Kirche zu Weihnachten geschmückt werden soll. Wenn dann an einem der Abende vor Weihnachten die Frauen zusammensitzen, um bei dem Gesang vieler Weihnachtslieder die Girlanden und Kränze zu winden auf den heiligen Abend; oder wenn die Konfirmanden selber die Blumen zusammentragen, die in sinnvoller Ordnung den Altar zieren sollen! Es ist wahrlich etwas anderes, als wenn sie für den Geldbetrag, den sie gesammelt haben, beim Gärtner den Kirchenschmuck bestellen. So mag es vom Frühling bis in den späten Herbst hinein sein, daß immer wieder einzelne 236

Kreise der Gemeinde ausziehen, um die Blumen für den sonntäglichen Kirchenschmuck zu holen, und ich weiß von mancher Gemeinde, wo Sonnabend um Sonnabend ein kleiner Kreis der Getreuen zur gleichen Stunde sich zusammenfand, um das Gotteshaus für den Sonntag zu schmücken. Aus Arbeit und Dienst ist dann ein köstlicher Feierabend und die Wochenschlußandacht der Gemeinde erwachsen. Ist es überflüssig zu sagen, daß immer nur die Pflanzen und Blumen zum Kirchenschmuck dienen dürfen, die die Natur eben in dieser Jahreszeit freiwillig hervorbringt? Das ist freilich nicht nur äußerlich oder gar wirtschaftlich damit zu begründen, daß die künstlich im Treibhaus gezüchteten Blumen zu teuer sind, als daß sie in größerer Zahl verwendet werden könnten, sondern es hat eine jede Blume einen besonderen ihr eigenen Sinn, und dieser hängt heimlich und unauflöslich zusammen mit einer bestimmten Zeit des Jahres. Wenn wir nicht so blind wären für das verborgene Wesen der Natur, würden wir auch diesen Zusammenhang zwischen Jahreszeit und Formen und Gestalten der Pflanzen und Blüten tiefer empfinden und könnten uns dann nicht der eitlen Freude hingeben, zu Weihnachten Maiglöckchen und zu Ostern Rosen auf unserem Tisch zu haben. — Freilich können wir heutigen Menschen nur weniges darüber sagen, und nur zögernd rühre ich an einzelnes, denn ich weiß wohl, daß man ganz anders in das heimliche Leben der Pflanzen eingedrungen sein müßte, um wirklich darüber zu reden, welche Blumen zu den einzelnen Sonntagen des Kirchenjahres gehören. Vielleicht wüßte mancher Bauer oder mancher — Küster, der in einem stillen Dorf noch mit der Weisheit der Väter verbunden ist, darüber viel mehr zu sagen als wir Theologen. Gerne und dankbar habe ich den Rat von Freunden, die durch ihre Arbeit mit dem Leben der Blumen verwachsen sind, gesucht und gebraucht. Wer uns darin weiter helfen kann, dessen Erkenntnis und Rat soll uns herzlich willkommen sein. Zum Advent hängt am Choreingang oder wo es sonst sein kann, der Adventskranz. Wo es sein kann, nicht aus Fichtenzweigen, sondern aus dem tieferen und weicheren Grün der Tanne gewunden. Kein rotes Band oder goldener Flitter störe die herbe Schlichtheit des hoffnungsfreudigen Grün. Der Kranz trägt nur vier große rote Kerzen, von denen Sonntag um Sonntag eine mehr entzündet wird, bis sie an Weihnachten ihr vierfaches Licht mit dem Lichterglanz des Christbaums vereinen. Aber an Weihnachten stehen zu beiden Seiten des Altars die großen mächtigen Christbäume, ohne jeden anderen Schmuck als den Kerzen aus goldenem Bienenwachs. Tiefer Volksglaube, der wohl älter ist als das Christentum, schmückt den Raum in den heiligen zwölf Nächten mit dem immergrünen Baum, und er wird nun am christlichen Weihnachtsfest zu dem 237

Zeichen der unwandelbaren Treue, aus der das Licht mitten im Dunkel entspringt und der Welt einen neuen Schein gibt. Von Pfeiler zu Pfeiler mag sich das grüne Gewoge schlingen, und wo nur Lichter sein können, sollen sie leuchten, damit der Uberschwang der Freude sich genug tue. Dieser Schmuck bleibt bis Epiphanias, und auch die Epiphaniaszeit ist noch voll des Lichtes. Sie ist ja nichts anderes als die Entfaltung der Herrlichkeit, die mit Christus in die Welt hereingebrochen ist, und wenn wir das Lied singen, das in Wort und Weise besonders zu Epiphanias und nur zu Epiphanias gehört: „Wie schön leuchtet der Morgenstern", dann dürfen auch unsere irdischen Lichter leuchten, dem himmlischen Morgenstern zu Ehren. — Die Vorfastenzeit, die Zeit der ernsten Entscheidung, und die Passionszeit selber bleibt ohne Schmuck. Die Flügel der Altäre sind geschlossen, die Bilder verhängt, und am Karfreitag ist auch das Licht der Kerzen verloschen. An Ostern aber bricht auch in dem ersten lebendigen Blumenschmuck auf dem Altar der Jubel des neuen Lebens hervor. Wenn Ostern nicht zu früh fällt, können große Büsche des von seinen Blüten wie von einem Brautschleier umhüllten Schlehdorn auf dem Altar stehen. Narzissen, die der Volksmund die Osterblumen nennt, werden zu finden sein, und das zarte Gelb der Kornelkirsche darf sich wohl unter das festliche Weiß mischen. Die Osterzeit ist Freudenzeit, ein jeder Sonntag der Osterzeit erklingt in neuem Jubel über das neue Leben. Wie die Jahreszeit es gibt, dürfen immer neue Blumen den Schmuck des Gotteshauses vermehren. Die Waldanemone, die Wildkirsche, die in unseren Gärten üppig wachsenden Arabisblüten; an einem Maiensonntag der überquellende Reichtum des Goldregens oder das flammende Feuer des Ginsters, und vielleicht am letzten Sonntag vor Pfingsten die zarten violetten Trauben des Flieders. Immer aber sind es noch die zarten Farben des Frühlings, die nur in dem reinen Weiß oder dem jubelnden Gelb zu starker Freude aufleuchten. Am Himmelfahrtsfest, das am Ende dieser Zeit steht, verbindet sich das leuchtende Gelb der Schlüsselblume, des Himmelsschlüssels, mit dem Blau des Vergißmeinnicht, beides in seiner Weise in uraltem frommem Volksglauben als Gleichnis des Himmelsglaubens verstanden und geliebt. Es ist schade, daß nicht in diese Zeit des aufbrechenden und sich entfaltenden Lebens die Konfirmation fällt. Es ist leider sehr äußerlich, nicht durch innerliche Besinnung und Notwendigkeit veranlaßt, daß die Konfirmation zumeist am Eingang der Karwoche, am Palmsonntag, gehalten wird. Nach dem Sinn, den der Palmsonntag im Kirchenjahr hat, geziemt ihm kein Schmuck. Aber wenn unsere Kinder am Altar gesegnet werden für Kämpfe und Leiden ihrer Jugendjahre, dann soll der Altar doch so reich und freudenvoll geschmückt sein als es sein kann. Selten 238

wird es möglich sein, den Altar mit aufbrechenden Weidenblüten, den „Palmkätzchen", und den zarten Blütenträubchen der Erle in verschwenderischer Fülle zu schmücken. Beide Pflanzen sind geschützt, und wir werden eher unsere Kinder mahnen müssen, sie da, wo sie nicht im Überfluß vorhanden sind, zu schonen. Die ersten zarten Frühlingsblumen, Veilchen, Schneeglöckchen, Anemonen, Leberblümchen, Krokus, wo es sein kann auch Pulsatillen (die Küchenschelle) und Enziane sind der rechte Schmuck für den Tag der Jugend. Aber sie müssen in sehr großer Menge da sein, wenn die zarten kleinen Blumen auch auf weitere Sicht ein wirklicher Schmuck sein sollen. So wird vielleicht das praktische Bedürfnis dazu zwingen, an diesem einen Sonntag eine Ausnahme zu machen und hier die Blumen zum Schmuck des Gotteshauses zusammenzutragen, die Liebe und Sorgfalt in den Häusern zur früheren Blüte getrieben hat. Tulpen und Azaleen, die zarten Cyklamen und die großen Büsche der Hortensie, wenn es nur wirklich mit Liebe zusammengetragen und als Zeichen großer Freude zum farbigen Bild zusammengefügt ist. An Pfingsten schmücken wir die Kirchen und die Häuser mit dem zarten, jungen Grün der Birke als dem Gleichnis des frühlingshaften Wachstums, das da sprießt, wo der Geist Gottes weht. Auf dem Altar sollen die prächtigen Blüten der Pfingstrose leuchten, nicht nur weil sie gerade zu dieser Zeit in unsern Gärten aufblühen, sondern weil ihr starkes und sattes Rot seit eh und je die pfingstliche Farbe des Geistes, der Kirche und der Bruderliebe gewesen ist. An dem Fest der Dreifaltigkeit hat die Kirche seit vielen Jahrhunderten ihre Altäre gern mit den geheimnisvollen Blüten der Lilie geschmückt, in deren reinem Weiß sich die jungfräuliche Keuschheit des Geheimnisses mit der berauschenden Fülle und der verborgenen Ordnung wundersam mischen. Oder aber es mögen schon am Dreifaltigkeitsfest selber, was eigentlich den darauffolgenden Sonntagen erst geziemt, die bunten Sträuße ihr Recht haben, in denen sich die verschwenderische Fülle sommerlicher Pracht entfaltet. Und nun mag ein jeder Sonntag wieder in neuen Glanz und neue Schönheit getaucht sein. Jetzt haben die starken Farben ihr Recht, wie sie unter der sommerlichen Sonne gedeihen, der rote Mohn und die blaue Kornblume oder an einem andern Sonntag der tiefe Purpur des Rotdorns, bis am Johannistag auf der Höhe des Jahres der Altar in rote Rosen getaucht ist. Ein Sonntag um den andern trägt neuen Schmuck, und wir können noch nicht und werden vielleicht nie sagen können, welchem besonderen Sonntag die großen Sonnenblumen, der üppige Phlox, die bunten Astern oder was es sonst geben mag, geziemen. Im August, in der Laurentiuszeit, wo der Gedanke der Bruderliebe unsere Sonntage beherrscht, da mag einmal der 239

Altar ganz eingetaucht sein in die sommerliche Glut der blühenden Heide, die doch zugleich etwas Herbstliches an sich hat, das an die Zeit der Reife mahnt. Noch einmal am Michaelistag leuchten alle Farben in der tiefen und satten Glut des Herbstes auf, und am Erntedankfest trägt der Altar in verschwenderischer Fülle alles, was die Natur uns gegönnt hat: die Früchte des Feldes und des Gartens, Äpfel und Birnen, Trauben, Kürbis und Tomaten, und auf dem Altar oder an dessen Stufen mögen auch einmal die großen Kohlköpfe, die Kartoffeln und Rüben ihr Gastrecht in der Kirche haben, und die großen Laibe Brote sollen nicht fehlen und zu beiden Seiten die mächtigen Garben. Alles übersponnen von der trunkenen Farbenlust des herbstlichen Weinlaubes. Das ist der rechte Schmuck für das Erntedankfest, der wahrhaft nicht verschönt werden kann, wenn der herbstliche Segen mit vornehmeren Blüten vertauscht werden sollte. Am Reformationsfest schmücken die letzten Blumen den Altar, Chrysanthemen und was sonst der Frost noch am Leben gelassen hat. Dann aber mögen nur mehr Sträuße des im Sterben noch einmal aufleuchtenden Laubes, die schwarzen und roten Beeren des Gesträuchs und die schon winterliche Schneebeere ihr Recht haben. Bis am letzten Sonntag des Kirchenjahres oder, wo in der Woche vorher der Bußtag gehalten wird, schon am Bußtag wiederum aller Schmuck verschwunden ist. Wir warten, bis auf dem Kranz der immergrünen Tanne das arme erste Lichtlein uns neues Leben verheißt. So wird der Blumenschmuck der Kirche selber zu einer Verkündigung von den wechselnden Formen des Lebens und begleitet das Kirchenjahr in seiner heiligen Ordnung. Nicht zufälliger Zierat, sondern sinnvolle Gestaltung hilft uns, die Offenbarung des Lebens gläubig zu verstehen in Werden und Vergehen, in Blühen und Reifen und in immer neuer Hoffnung. DAS HEILIGE MAHL „Der christliche Gottesdienst ist Abendmahlsgottesdienst." Das Mahl des Herrn ist die besondere und eigentümliche Form des Gottesdienstes, in dem die christliche Gemeinde ihre dauernde Verbundenheit mit ihrem Meister bekennt. Darum ist jeder christliche Gottesdienst in gewissem Sinn Hinführung zu der Feier des Herrenmahls und leuchtet in dem Widerschein des Lichtes, das in der Feier des heiligen Abendmahls erstrahlt. Aber wie weit sind wir davon entfernt, daß unsere Abendmahlsfeiern der Ausdruck und das Zeugnis dieses Sachverhaltes wären! Die deutsche Reformation hat noch den Grundsatz hochgehalten, daß jeder Gemeinde240

gottesdienst Abendmahlsfeier sein sollte. Auch die Predigt sollte nur eingefügt sein in den Gang eines Gottesdienstes, der im wesentlichen Abendmahlsfeier, Kommunion ist. Aber dieser Versuch hat in der Praxis das genaue Gegenteil dessen bewirkt, was er erstrebte. Der Hauptgottesdienst ist Predigtgottesdienst geworden, und die Abendmahlsfeier ist entweder zu einem Anhängsel an den Predigtgottesdienst oder zu einem „Nebengottesdienst" kleiner Kreise geworden. Der von der reformierten Kirche von Anfang an beschrittene Weg, das Abendmahl von dem Predigtgottesdienst zu trennen und von Zeit zu Zeit zu eigener Stunde zu feiern, hat sich in der Praxis als der allein mögliche Weg erwiesen und beginnt sich auch in der lutherischen Kirche durchzusetzen. Es ist der einzige Weg, um das Abendmahl als wirkliche Gemeindefeier zu halten, und diese Feier aus ihrem eigenen Wesen heraus zu gestalten. Aber viel schwerer wiegt ja das andere: daß über unserer lutherischen Abendmahlsfeier der düstere Ernst einer nie völlig überwundenen Bußstimmung lastet und den hohen Klang der Freudenfeier, der Eucharistie, nicht laut werden läßt; und daß die Not um eine unverstandene Abendmahlslehre Tausenden und Abertausenden den Weg zu der Feier des Herrenmahls versperrt und sie damit ausschließt von der Tischgemeinschaft, in der alle Mühseligen und Beladenen erquickt werden sollten. Gerade das Mahl der Gemeinschaft richtet schmerzlich trennende Zäune auf. Wer weiß noch und kann es lebendig spüren, wie von diesem, gerade diesem einen Punkt aus alle christlichen Gottesdienste ihren Glanz und ihre Kraft empfangen? Wie vieles müßte gesagt werden, um diese Zäune niederzulegen und den versperrten Weg neu zu eröffnen! Das kann nicht auf wenig Seiten geschehen. Es müßte wohl einmal ein ganzer Band unseres Jahrbuches dem Gedanken an das heilige Abendmahl gewidmet werden, um seine Größe und Herrlichkeit nach allen Seiten hin aufleuchten zu lassen. Aber wenn von dem christlichen Gottesdienst und Gotteshaus die Rede ist, dann darf doch zum mindesten ein kurzes Wort über das Herrenmahl nicht fehlen, ein Wort, in dem die Linien offenbar werden, die von allen Seiten her zu diesem einen Mittelpunkt hinführen. Es gibt einzelne Menschen und vielleicht sind es nicht ganz wenige, die gern in einem Winkel der Kirche sitzend einer Abendmahlsfeier beiwohnen, ohne selbst den Gang zum Altar zu tun und Brot und Wein leiblich zu empfangen. Sie lieben die ehrwürdigen Worte, die wundervollen alten Kirchenweisen, die etliche unserer Landeskirchen durch die kirchenmusikalische Wüste der letzten Jahrhunderte hindurchgerettet haben. Aber die „Austeilung", dies leibliche Essen und Trinken, ist ihnen fremd und peinlich, so sehr, daß sie sich dem gerne entziehen. Aber es ist nun aller241

dings dies leibliche Essen und Trinken das Besondere, Eigentümliche und Wesentliche in diesem Gottesdienst. Selbst Luther schreibt in dem 5. Hauptstück seines kleinen Katechismus, daß die Worte des Herrn nur „neben dem leiblichen Essen und Trinken" das Hauptstück im Sakrament seien. Essen und Trinken ist die leibliche Notwendigkeit, an die wir mit unserem Leben als Kreaturen auf Erden gebunden sind. Der „reine Geist" — wenn wir uns so etwas vorstellen könnten — bedarf keiner Speise, aber der Mensch mit Fleisch und Blut, der nicht anders denn als leibliches Wesen Bestand hat, braucht das tägliche Brot. Indem wir essen und trinken, bekennen wir uns, auch wenn wir es nicht in Erkenntnis und Worten tun, doch durch die Tat zu diesem naturhaften Zusammenhang unseres Erdenschicksals, und gerade hier in diesem unserem leiblichen irdischen Dasein trifft uns das Evangelium. Es ist nicht bloß „Seelenspeise", sondern es ist die Gotteskraft für uns Erdenmenschen in der ganzen unteilbaren Einheit unseres Daseins. Es ist das Evangelium nicht von irgendeiner „Wahrheit", irgendeiner Idee, sondern von dem leibgewordenen Gott, von dem in unserer Erdenwirklichkeit erschienenen Christus. Man kann nicht sein geistiges Wesen haben, ohne es aus der leiblichen Wirklichkeit seiner geschichtlichen Erscheinung zu empfangen. Wir müssen, nach dem orthodoxen Wort des Johannesevangeliums, das Fleisch des Menschensohnes essen und sein Blut trinken, um an ihm teilzuhaben. Das ist anstößig und unfaßbar für den übergeistigen Menschen, der die Religion als eine Sache bloßer Innerlichkeit ansieht und das leibliche Leben nur als eine zufällige und im Grund gleichgültige Äußerlichkeit, ja als eine peinliche Last weitet. Er versteht nicht und kann nicht verstehen, daß leibliches Essen und Trinken im Mittelpunkt unseres christlichen Gottesdienstes stehen soll, und er möchte aus dieser Sphäre des Naturhaften und Körperlichen, wie er sagt, in die Höhe des reinen Geistes entfliehen. Aber er entflieht damit dem Evangelium. Es ist die Barmherzigkeit Gottes, daß er uns nicht eine „Vergeistigung" zumutet, durch die wir etwas anderes würden als was wir sind, sondern daß er uns die Speise und den Trank gibt, deren wir für Leib und Seele bedürfen. Wo ist in den Abendmahlsgebeten und Abendmahlsliedern der neueren Zeit noch die schlichte Natürlichkeit und Demut, mit der das älteste Abendmahlsgebet der christlichen Kirche für irdische und leibliche Gabe dankt? Du allmächtiger Herrscher hast alles erschaffen um deines Namens willen. Speise und Trank hast du den Menschen gegeben zur Nießung, damit sie dir danken.

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Nur wo die Schöpfung und unser leibliches Leben inmitten dieser Schöpfung wieder ganz ernst genommen werden, kann das Verständnis dafür neu erwachen, daß im Herrenmahl die naturhafte Gabe zum Gleichnis und Unterpfand der großen Gottesliebe wird, und daß wir, indem wir essen und trinken, die Wirklichkeit der Erlösung feiern. Denn wir gedenken in dem heiligen Mahl des Leidens und Sterbens Jesu Christi und bergen uns in der Gottesliebe, die in dem Opfer des Kreuzes offenbar geworden ist. So feiern wir allerdings das Herrenmahl als ein geschichtliches Zeichen, feiern es mit dem rückwärts gewendeten Blick, der auf das Zeichen schaut, das Gott selber in der Fülle der Zeiten aufgerichtet hat. Darum feiern wir niemals das Herrenmahl, ohne uns durch die von Paulus und den drei ersten Evangelisten überlieferten Herrenworte an den letzten Abend, an das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern erinnern zu lassen. Damit stellen wir uns demütig und dankbar hinein in den Zusammenhang der Geschichte, die von dorther auf uns zukommt und uns das ferne Ereignis zum gegenwärtigen und nahen Zeichen macht. Denn allerdings: der rückwärts in die Vergangenheit gerichtete Blick ist nicht das Entscheidende. Das Kreuz Christi und das Opfer seines Lebens ist der christlichen Kirche nicht ein Ereignis der Vergangenheit, sondern die Offenbarung Gottes, dessen Leben Selbstmitteilung und Opfer ist. In diesem Opfer ist die Sünde der Welt aufgehoben, getragen und weggenommen zugleich. Von diesem Opfer leben wir. In dem Zeichen des für uns dahingegebenen Christus empfangen wir immer neu den Grund, auf den wir nicht „uns gründen", sondern gegründet sind von aller Ewigkeit her. Die naturhafte Gabe, Brot und Wein, kann aber nur deswegen zum Zeichen Christi werden, weil auch die Natur, in die wir hineingestellt sind, durchwaltet ist von dem heiligen Lebensgesetz des Opfers. Nur darum, weil alles, was ist, geschaffen ist durch Ihn, kann auch die Kreatur wiederum zeugen von ihrem Meister. In dem täglichen Brot empfangen wir das Geheimnis eines für uns geopferten Lebens. In der Frucht des Weinstockes, in dem Saft der Traube empfangen wir das Geheimnis eines durch die Sonne verwandelten Erdenstoffes. Es ist die Natur in ihrem Todesschicksal, die zu dem Zeichen Christi werden darf: die dahingemähte Ernte, die gekelterte Traube, das zerbrochene Brot, der vergossene Wein. Das ist die Natur, die nicht in der Schönheit und Lebensfülle ihres Wachsens und Blühens, sondern in ihrer dem Tode geweihten Frucht „fruchtbar" wird. Das ist in der Tat das Besondere im Sakrament, daß nicht nur menschliches Wort, sondern auch die Natur selber das Gottesgeheimnis des Opfers bezeugt. Es ist nicht menschlicher Gedanke, der durch willkürliche und künstliche Vergleiche solchen Zusammenhang 243

erfindet, sondern es ist der Glaube, der das Zeichen des Kreuzes auch über der Weite der Natur sieht und damit ernst macht, daß Christus nicht nur der Seelenbräutigam, sondern der Herr der Welt ist. Aber was der Grund ist, der uns trägt, die Nahrung, von der wir leben, das ist zugleich der Sinn, der unserem Menschenleben Maß und Richtung gibt. Indem wir in Brot und Wein des heiligen Mahls das irdische Zeichen der alle Welt tragenden Gottesliebe empfangen, werden wir zugleich in diese unverbrüchliche Ordnung eingefügt. Und wie in der Natur Blüte oder Frucht, die um ihrer Köstlichkeit willen bewahrt werden soll, aus dem Zusammenhang des Lebens ausgeschaltet wird und unfruchtbar bleibt, so ist ein Mensch, der für sich selber leben und etwas sein, der sich schonen und „sein Leben bewahren will", aus dem Zusammenhang des Lebens ausgesperrt, unter die „Sünde", d. h. die Sonderung von Gott und seiner Lebensordnung, verkauft, unfruchtbar und tot. Darum bekennen wir uns in dem Mahl des Herrn zu dem in Christus erschienenen Sinn des Lebens, der uns in den Dienst an dem Bruder stellt. Darum hat Luther mit solcher Eindringlichkeit, die dann freilich von seinen Nachfahren vergessen worden ist, diese Seite der Abendmahlsfeier betont: Die Furcht soll auch nicht aushüben, deinen Nächsten sollt du lieben, daß er dein genießen kan wie dein Gott an dir hat getan. Er meint und sagt, wir sollten nun auch zu unserem Nächsten sagen: Nimm mich hin, was ich habe, soll dein sein. Ja, wir sollten selbst wieder einer des andern täglich Brot werden! Ist es nicht ganz besonders vonnöten, daß wir diesen Inhalt der Abendmahlsfeier heute ins Licht stellen? Die Welt streckt sich aus nach einer Liebe, die die furchtbare Vereinsamung des Menschen überwindet, die die Klüfte überbrückt, die Mauer niederlegt und die harten und liebeleeren Herzen zu einer neuen Brüderlichkeit erweckt. Hier ist der Grund, auf dem solche Brüderlichkeit gedeiht: die Gemeinde derer, die aus der unergründlichen Barmherzigkeit Gottes leben, die um der Dankbarkeit willen das, was uns voneinander unterscheidet und scheidet, nicht mehr als das Letzte achten können, die die Brüder lieben, weil sie aus dem Tod ins Leben gedrungen sind. Das gemeinsame Mahl, das Brot, das wir brechen, der Kelch, den wir einander reichen, ist das Bekenntnis zu der unendlichen Verpflichtung der Bruderliebe, die Kampfansage wider die Selbstsucht, auch die fromme Selbstsucht in uns, das Bekenntnis zu dem kommenden Reich, in dem eine Herde unter einem Hirten sein wird. — Darum haben in der Feier 244

des heiligen Abendmahls zwei Stücke ihren Ort, die in tiefem und unauflöslichem Zusammenhang miteinander stehen. Die. „Präfation" (die „Vorrede") ist die uralte, aus den ersten Jahrhunderten der Christenheit stammende Einleitung zu dem „Sanktus", dem Dreimal-Heilig, das Jesaja im Tempel zu Jerusalem als den engelischen Lobgesang gehört hat und das seither von Geschlecht zu Geschlecht gesungen wird in der Anbetung dessen, von dessen Ehre alle Lande erfüllt sind. In diesen alten Präfationen verbindet sich die irdische Gemeinde mit den himmlischen Heerscharen, mit den Engeln und Erzengeln zu solchem Lobpreis, erhebt ihre Stimme auf Erden, um das in irdischem Bereich zu bezeugen und zu verkünden, wovon alle Himmel widerklingen: Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr Zebaoth! Aber daß es ihr um diesen Lobpreis ernst ist, bekennt die feiernde Gemeinde nun eben in dem Dienst der Liebe. Die gottesdienstliche Form solchen Dienstes ist die Fürbitte. Darum folgt auf diesen Lobpreis das große Fürbittengebet, in dem die Gemeinde des neuen Bundes alle ihre Glieder, die nahen und die fernen, die gesunden und die kranken, die notleidenden, angefochtenen, sterbenden, ja auch die heimgegangenen, mit einschließt in ihre Liebe, ihren Glauben und ihre Hoffnung. Ihre Hoffnung. Denn schließlich feiert die christliche Kirche das Herrenmahl doch viel weniger mit rückwärtsgewandtem als mit vorwärtsgewandtem Blick. Sie feiert es als die Gemeinde der auf Erden lebenden Menschen, die auf Erden das Evangelium vernommen haben. Aber das heißt als die Gemeinde der wartenden Menschen, die ihrer Erlösung und Vollendung entgegengehen. Sie verkündet Christus nicht nur als den Gestorbenen, sondern zugleich als den Auferstandenen, der als der Erstling unter den Kreaturen zu dem Vater gegangen ist, um eine neue Welt zu schaffen. Darum ziemt es uns, in der Abendmahlsfeier nicht nur anzustimmen: „Christe du Lamm Gottes", sondern den hohen Jubelton des „Christ ist erstanden". Die Verkündigung der Auferstehung ist aber das Bekenntnis zu einer über jede irdische Wirklichkeit hinausgreifenden Hoffnung. Wir können das Abendmahl nicht feiern, um uns in diesem Erdenleben, so wie es ist, von neuem häuslich einzurichten und uns über seine offenbaren Mängel mit frommen Gedanken zu trösten. Die tägliche Speise, die wir empfangen, hält den Verfall unseres irdischen Leibes nicht auf. Die Natur, die an diesem einen Punkt durchtönend wird für das in ihr verkündete Wort Gottes, bleibt doch die vergehende Welt, deren Seufzen sich mit dem Seufzen der Menschenwelt verbindet. Der Bruderbund, den das Liebesmahl der christlichen Gemeinde neu begründet, steht doch in täglichem Krieg nicht nur mit der Welt „draußen", sondern mit der ganzen Welt der Lieblosigkeit, des Hasses und des 245

Tötens, in die wir selber verstrickt sind. Die Abendmahlsfeier ist Verheißung und Hoffnung zugleich. Über alles, was wir sind, wir einzelne und wir als christliche Kirche, über alles das hinaus strecken wir uns entgegen der uns verheißenen Vollendung. Irgendwo in hessischen Dörfern soll noch die Sitte bestehen, daß die Männer mit einem großen Reisehut, die Frauen mit einem geschnürten Reisebündel über dem Arm zum Tisch des Herrn kommen. Als die Pilger, die durch das Erdenleben hindurch einem jenseitigen Ziel entgegenwandern, empfangen sie ihre Wegzehrung. Das Abendmahl ist das Mahl unserer irdischen Pilgerschaft. Darum hat die alte Kirche bei ihrem Herrenmahl all ihre Not und ihre Hoffnung in den einen Ruf zusammengefaßt: Es vergehe die Welt, es komme der Herr! Darum bekennt sich die Kirche in dem heiligen Mahl zu dem Herrn, der nicht nur gelebt hat, gestorben ist und ein Gedächtnis seiner Liebe gestiftet hat, sondern der lebendig bei seiner Gemeinde ist und sie heimsucht. An das Sanktus fügt die Sitte der Kirche das „Benediktus" (Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn). Es ist der Gruß, der nicht dem in den irdischen Elementen auf dem Altar erscheinenden Christus, sondern dem seine Gemeinde besuchenden und auf sie wartenden Herrn gilt. In seinem Kommen wird alles das erfüllt, was wir in dem Herrenmahl glaubend bekennen: eine neue Welt, in der Heil und Liebe sind; ein Menschenwesen, das nicht von irdischem Brot, sondern von der Christuskraft gespeist wird; eine Gemeinde, die, nicht mehr täglich durch Sünde und Tod auseinandergerissen, in Wahrheit der Leib Christi geworden ist. Der Geist und die Braut sprechen: „Komm Herr Jesu!" Ja, komm Herr Jesu!

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LEHRE UND ERZIEHUNG (1930)

1. E R Z I E H U N G A U S D E M G L A U B E N „Was nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde." Es mag klug und „richtig", zweckmäßig und nützlich sein, aber es „gilt" nicht im tiefsten Sinn, es ist vor dem letzten Urteil verworfen, weil es sich selbst ausgeschaltet hat aus dem Strom des lebendigen Geschehens und Handelns, der allein in Gott seinen Ursprung hat und weitergeleitet wird nur in der frommen Hingabe an Gott. Darum ist der Glaube auch nicht etwa ein besonderes Denken oder Verhalten auf dem Einzelgebiet des „Religiösen", während daneben alle anderen Lebensgebiete in ihrem eignen Recht bleiben könnten. Wer glaubt, muß und will immer und überall als der glaubende Mensch denken und handeln. Jede Aufgabe, die an ihn heran tritt, jede Lebensbeziehung, in die er eintreten kann, ist zugleich eine neue Probe darauf, ob er wirklich aus dem Glauben lebt, und er wird kein Werk angreifen können ohne das Gebet: Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben! Es sind nicht besondere einzelne Überzeugungen oder Wahrheiten, die der Glaubende „glaubt", sondern die ganze Breite des Lebens, die ganze Wirklichkeit der Natur und der Geschichte und alle menschlichen Begegnungen sind ihm in das Licht einer unendlichen Aufgabe und einer unendlichen Verheißung getaucht. Wenn wirklich dort, wohin der Glaube schaut, in Christus, das ewig Licht da, das heißt in unsere irdische Wirklichkeit, hereingeht, so empfängt daraus wirklich die Welt, die ganze Welt, einen neuen Schein. Der Glaubende kann es nicht für eine zufällige Begleiterscheinung des Lebens halten, daß wir einander begegnen, in Beziehungen zu einander stehen und aufeinander wirken, sondern er sieht diese menschliche Begegnung gerade als den Ort, wo unser eigener Glaube in Verantwortung und Dienst offenbar und wirksam werden will. Gerade der Glaube lehrt uns jede gliedhafte Verbundenheit ganz ernst nehmen. Ob wir als Vater und Mutter unseren Kinder gegenüberstehen, ob wir als Geschwister, als Arbeitsgenossen oder als Nachbarn nebeneinander leben, ob wir als Lehrer, Meister und Führer mit jüngeren Menschen zu tun haben, überall braucht uns nicht erst ein menschlicher Auftrag an unsere Pflichten zu weisen, sondern wir sind — „um Gottes willen" - aufeinander gewiesen, einander zu helfen und für einander zu 247

sorgen. Nirgends können wir uns diesem Dienst am Nächsten entziehen: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Nirgends könnten wir die eigene Verantwortung auf die berufsmäßigen Erzieher abwälzen. Die besondere erzieherische Aufgabe der Eltern, der Lehrer, der Jugendbildner ist für den Glauben nur ein Sonderfall der Verantwortung und Hilfe, die wir alle einander immer und überall schuldig sind. Es ist ein Stück des allgemeinen Priestertums, denn „allgemeines Priestertum" heißt doch nicht nur, daß jeder einzelne unabhängig von priesterlicher Vermittlung vor seinem Gott steht, sondern heißt vor allem, daß Gott einen jeden von uns zu priesterlichem Dienst an den Brüdern ruft und verpflichtet. Dieser Glaube bewahrt uns vor dem Gift des pädagogischen Dünkels, vor dieser schrecklichen Anmaßung, als ob wir als die schlechthin Überlegenen die anderen Menschen zu führen und zu bilden hätten. „Ihr sollt euch nicht Meister nennen lassen, einer ist euer Meister, Christus." Wir haben kein anderes Recht und keine andere Begründung für unser Erziehungswerk als den Glauben, daß wir als Glieder an dem Leibe Christi zum Dienst aneinander berufen sind. Der neue Blick, den der Glaube auf den andern Menschen richtet, nimmt diesen anderen Menschen ganz ernst; nimmt ihn ganz ernst in seinem besonderen menschlichen Sein und Werden, in seiner Not und seiner Schuld, in seinem Lebenshunger und in seiner Bestimmung zum ewigen Heil. Darum schließt der Glaube jede Erziehung aus, die nur eine Form der Herrschaft über den andern, der Vergewaltigung des werdenden und reifenden Menschen ist. Der Glaubende will nicht seine Macht über die andern Menschen aufrichten und als Herrschaftszeichen das Gepräge seines eigenen Seins und Wesen dem noch bildsamen jungen Menschenherzen aufdrücken, sondern er will wirklich dem andern helfen zu seinem Leben, zu seinem Heil. Dieses Ernstnehmen ist die eigentliche Voraussetzung jeder „christlichen" Erziehung. Um dieses Glaubens willen können Vater und Mutter nicht vergessen, daß Jesus davor gewarnt hat, eines der „Kleinen" zu ärgern. Um dieses Glaubens willen scheut sich der Führer, die Entwicklung des jugendlichen Menschen einfach in die Bahn irgendeines Normalschemas oder eines „Ideals" hineinzuzwängen, statt der Stimme des lebendigen Gottes Gehör zu schaffen. Um dieses Glaubens willen sieht der Seelsorger die große Gefahr, einfach einen menschlichen Willen zum Herrn über ein fremdes Gewissen zu machen. „Erziehung aus dem Glauben" will einfach ein Widerschein und Zeugnis sein von dem Ernst und der Güte Gottes, der will, daß jedem Menschen geholfen wird und er zur Erkenntnis der Wahrheit kommt. Eine solche im Glauben gegründete Erziehung wird sehr bescheiden über die Person des Erziehers und über die Reichweite seiner Bemühungen 248

denken. Die Aufgabe der Erziehung verführt wie kaum ein anderes menschliches Tun zu allerlei Illusionen. Welche Quelle von Selbsttäuschungen, wenn nun der Reife dem Unreifen, der Fertige dem Werdenden, der Gefestigte dem Strauchelnden, der Sichere dem Gefährdeten gegenübersteht, um ihn zu der eigenen Höhe emporzuziehen! Welche Selbsttäuschung, wenn nun der Erzieher meint, im Besitz der eigenen Überlegenheit und der wissenschaftlich begründeten und durch die Erfahrung bewährten Methode die geistigen und sittlichen Kräfte pflegen und fördern, das Gefühl auf die edlen Güter richten, den Willen in die erwünschte Richtung bewegen zu können! Hier mangelt der Glaube; hier ist Gott vergessen, vor dem auch der Erzieher als vor seinem Richter steht und der allein die Herzen der Menschen „wie Wasserbäche" lenkt. Der an Gott gebundene Erzieher kann eben nicht, auf dem Thron seiner pädagogischen Würde sitzend, Menschen nach seinem - oder irgendeinem andern — Bild formen, sondern er kann allein in aller Demut darum ringen und daran mithelfen, daß an dem Leben seines Kindes, seines Schülers, seines jungen Freundes, der Wille Gottes geschieht. Die methodische Selbstsicherheit und die menschliche Anmaßung des Erziehers sind eine der verhängnisvollsten Formen unserer Illusionen. Ein Mensch kommt nicht dadurch zur Reife, daß er in die Hand eines raffinierten und pädagogisch geschulten Erziehers gerät, sondern dadurch, daß er in die Hand des lebendigen Gottes fällt. Während unsere Erziehung auf der einen Seite durch solche Illusionen gefährdet wird, wird von anderer Seite, oder vielmehr von zwei anderen Seiten her jeder erzieherische Wille überhaupt gelähmt. Das seiner selbst mächtige und sich selbst bestimmende Individuum ist von vielen heute als das erkannt, was es ist, nämlich als ein theoretisch konstruiertes Wahngebilde, das es in der Wirklichkeit gar nicht gibt. Wir sehen nüchtern und klar, wie sehr Anlage und Möglichkeiten eines jeden Menschen durch seine „Erbmasse" und durch seine geistige und soziale Umwelt bestimmt ist. Durch alle Erziehung kann nichts wirklich hinzu getan oder geändert werden an dem, was durch die Geburt, oder vielmehr schon durch die Erzeugung über ihn entschieden ist. So bleibt dann jeder erzieherische Wille stecken in dem Drahtverhau des psychologischen und soziologischen Verstehens oder rennt im besten Falle an gegen die Gummiwand dieses Märtyrergefühles: ich bin mit allen meinen Unarten ein Produkt der Verhältnisse, ein Opfer und zugleich eine Strafe einer verfehlten Ehe oder einer entarteten Gesellschaft. Wie soll man dann erziehen? Hier ist dann — das ist das andere — freilich jede Forderung eine Überforderung. Man wagt nicht, den jungen Menschen vor ein unverbrüchliches Gebot, vor eine unerbittliche Forderung zu stellen, weil er ja 249

doch daran scheitern muß und dann durch das Bewußtsein dieses Versagens unerträglich belastet würde. Man wagt kaum, ihm irgendeinen Verzicht, irgendeinen sittlichen Kampf zuzumuten,weil man davon weiß, wie sehr solche gewaltsam an ihrer Entfaltung gehinderten Lebensregungen als „verdrängte Komplexe" das innere Leben schädigen und vergiften können. Aber wie soll ich erziehen, wenn ich dabei Gefahr laufe, der geraden und gesunden Entwicklung des jungen Menschen einen unberechenbaren Schaden zuzufügen? Gerade diesen und ähnlichen Bedenken gegenüber muß der Glaube seinen Mut zu wirklich erzieherischer Arbeit bewähren. Er kann es, weil er gerade nicht der Glaube an die guten und edlen Kräfte des freien menschlichen Willens ist, an den man nur zu appellieren brauchte, sondern der Glaube an die heilsamen göttlichen Kräfte, die auf den Menschen warten, um ihn zu ergreifen und zu wandeln. Darum ist für eine Erziehung aus dem Glauben ganz wesentlich die Rückbeziehung auf die Taufe, in der der Mensch am Anfang seines irdischen Lebens hineingestellt ist in den Lebenszusammenhang der neuen Welt, die mit Christus ihren Anfang genommen hat. Gewiß wird jeder rechte Erzieher den eigenen Willen des andern Menschen, seine guten Kräfte und Anlagen als Bundesgenossen aufrufen gegen jede Form der niederen Triebkraft, Verkehrtheit oder Gefährdung, aber letztlich gründet er weder darauf, noch auf die Unwiderstehlichkeit seines eigenen pädagogischen Talents seine Hoffnung, sondern auf die Macht Gottes, der durch seinen Geist an dem Menschen arbeitet, ja selbst das Wunder wirklicher Wandlung vollbringt. Man kann wirklich im tiefsten Grunde nur „aus dem Glauben" erziehen. Und dem andern Einwand der Uberforderung begegnet der Glaube mit seiner tiefsten Erkenntnis, daß in Gott — in Gott, so wie er uns in seinem Bild Jesus Christus erschienen ist - Forderung und Geschenk, der unerbittliche Ernst des Gebots und die unbedingte Gnade eine unauflösliche Einheit bilden. Mit anderen Worten: der Glaube an die Vergebung der Sünden ist die einzige, aber wirklich auch entscheidende Antwort auf jene Frage. Vergebung der Sünden aber bedeutet, daß wir da, wo wir unter Gottes Urteil stehen, zugleich in seiner Gnade stehen, und daß wir gerade wo wir gerichtet werden, zugleich gerettet werden. Die bloße Verkündigung des Gesetzes ist in der Tat, wo sie ernst genommen wird, eine Überforderung und wo man, um dieser Grausamkeit zu entfliehen, nun die Forderung selber aufgibt, da ist der Mensch seiner sittlichen Würde selber beraubt. Mich will immer wieder wundern, wie wenig der Gedanke noch durchgedacht und anerkannt ist, was die Verkündigung von der Vergebung für die ganze Erziehung bedeutet. Nicht die Nachsicht, die alles versteht und alles verzeiht, diese Aufhebung aller Moral in einer schlappen Duldsamkeit gegen 250

alle triebhaften Regungen, und nicht die steife moralische Forderung, die den Tugendhaften in einen grauenhaften Hochmut und den andern in die Verzweiflung oder in den Leichtsinn hineintreibt, sondern allein der Glaube an die Gnade, die die Sünde Sünde nennt, aber durch Vergebung der Sünde zum Leben führt, ist die Kraft wirklicher Erziehung. Diese Wahrheit wird aber nicht dadurch wirksam, daß der Erzieher von ihr redet, sondern dadurch, daß er selbst in ihr und von ihr lebt und sie in seiner eigenen Haltung verkörpert. In diesem Sinn ist jede echte Erziehung bekenntnishaft. Daraus, wie in Vater und Mutter Ernst und Güte eine unzerteilbare Einheit bilden (so daß man eben nicht etwa von dem strengen Vater an die mildere Mutter appellieren, oder aber im Notfall den strafenden Ernst des Vaters gegen die schwache Mutter zu Hilfe rufen muß!!), daraus, wie der Jugendführer mit klarer und hoher Forderung vor den jungen Menschen tritt, aber zugleich dem irgendwie Hilfsbedürftigen, Ratsuchenden oder Verirrten unbedingt zur Verfügung steht, daraus ahnt das Kind oder der junge Mensch mehr als aus vielen Belehrungen, was die erziehende Gnade Gottes ist und bedeutet. Es ist ganz richtig, daß der Erzieher Entscheidungen fordern kann nur dadurch, daß er selber Entscheidungen trifft, aber es ist ebenso richtig, daß er zum Vertrauen ermutigen kann nur dadurch, daß er selbst durch sein Vertrauen Vertrauen weckt und stärkt. Man kann nicht zum Glauben erziehen wollen, ohne selber aus dem Glauben heraus zu leben. Endlich ist ein letztes zu sagen. Der Glaube ist kein isolierter Bezirk der menschlichen Seele, sondern er bindet das Leben in seiner ganzen Breite und in allen seinen Beziehungen an Gott. Das Kind baut sich gern neben seiner kleinen Welt eine religiöse Traum- und Märchenwelt, und vollends der junge Mensch flüchtet sich leicht aus der Lebenswirklichkeit, der er sich nicht gewachsen fühlt und an der er scheitert, in eine Welt frommer Gefühle und gesteigerter religiöser Erlebnisse. Mancher Erzieher hält für wirkliche „Bekehrung", was doch nur eine Ersatzbildung neben dem Leben ist. Es gibt keinen anderen Weg, den Willen Gottes zu erkennen, als in den ganz konkreten Forderungen des Lebens und in dem Anspruch des Nächsten, Seinen Ruf zu vernehmen. Der Erzieher, der selbst alle diese Lebensgebiete als den Ort, an den wir gestellt sind, ganz ernst nimmt, kann deswegen sich gar nicht damit begnügen, den jungen Menschen in diese „profanen" Lebensgebiete einzuführen, um ihn für dieses Erdenleben tüchtig zu machen, und um daneben eine religiöse Unterweisung, etwa einen „Religionsunterricht" neben andern „Fächern" zu erteilen, sondern er will gerade das alles in seiner letzten religiösen Bedeutung erscheinen lassen. Eine religiöse Erziehung, die neben dem Leben hergeht als eine heimliche Weltflucht, und eine rein realistische Er251

Ziehung, die überall nur zu einer zweckhaft nützlichen Lebensbeherrschung anleitet, entfernen sich gleich weit von einer Erziehung, die aus dem Glauben stammt. Welche Entdeckungen und Erfahrungen der Mensch auf diesem Wege in die Wirklichkeit des Lebens hinein macht, ist Gottes Sache. So jemand ernstlich in diesem Leben „will Gottes Willen tun", der wird von selbst an die letzten erschütternden und demütigenden Erkenntnisse herangeführt werden. Es ist ein gefährliches Unternehmen, wenn der Erzieher versucht, diese Erkenntnisse, die letzten Geheimnisse von Buße, Vergebung und Erneuerung, dem jungen Menschen in Gedanken und Gefühl sozusagen auf Vorrat mitzugeben. Es könnte sein, daß solches Unternehmen gerade nicht aus dem Glauben, sondern aus dem Unglauben kommt, nämlich aus dem Wahn, der Mensch müsse Gott zu Hilfe kommen und von sich aus jene Erkenntnisse züchten, mit denen Gott „den Sünder auf dem Wege unterweist". Und es könnte sein, daß dann die erziehende Hand Gottes gar nicht mehr einen zum Hören und Lernen bereiten Menschen findet, sondern einen Menschen, der sich gewöhnt hat, mit theologischen Gedanken und Worten als Ersatz für das wirkliche Leben sich zu schmücken. Der Glaube kann warten, weil er eben Glaube ist und nicht Berechnung, Technik und Klugheit. Er wartet darauf, daß Gott an dem Menschen sein Werk tut. Er weiß um jenes Geheimnis, daß auch das Wunder des Christus, der das Wasser in Wein wandelt und die menschliche Natur neu schafft für sein Reich, nicht eher geschieht, als bis seine Stunde gekommen ist. In der Erziehung, die aus dem Glauben geschieht, ist die ernsteste Verantwortung mit vollkommener Demut, die strengste Forderung mit tiefster Barmherzigkeit und die verzehrende Ungeduld der Liebe mit der Hoffnung, die des Herrn harrt, zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen. Können wir anders wagen, das Werk der Erziehung, zu dem wir berufen sind, in die Hand zu nehmen, als „aus dem Glauben"?

2. JUGEND UND ALTER Den Gegensatz der Generationen, den Gegensatz zwischen Jungen und Alten, hat jede Zeit in ihrer Weise erlebt und in ihrer besonderen Weise unter ihm gelitten. In Zeiten ruhiger Entwicklung suchen die jungen Menschen wohl auch nach ihrem eigenen Gesetz und nach neuen Formen des Lebens. Aber sie treten dann doch in die Fußstapfen ihrer Väter und biegen nach den notwendigen Umwegen und Irrwegen in die große Heerstraße ein. Aber in Zeiten der Erschütterung und Verwirrung treten 252

die Alten und Jungen in schärferem Gegensatz auseinander, reden eine verschiedene Sprache und erleben ihr Schicksal selbst in verschiedener Weise. In dem schmerzlichen oder nicht einmal als schmerzlich empfundenen Zwiespalt zwischen Jungen und Alten findet dann der Bruch der Zeiten seinen sinnbildlichen Ausdruck. Aber hier soll nun gerade nicht von diesem so oft verhandelten Thema die Rede sein. Das Wort Alter ist ganz streng und eigentlich gemeint: Die Zeit des Altwerdens, der Abend des Lebens, wenn das irdische Tagwerk sich seinem Ende zuneigt, wenn die Kraft des Leibes und oft auch der Seele erlahmt, wenn ein jedes neue Lebensjahr ein unerwartetes Geschenk, manchmal auch eine unerwünschte Last ist. Und wir fragen uns, was dieses „Alter", das Greisenalter, mit der Jugend zu tun hat. Wir reden von der Jugend, nicht von der Kindheit. Das Kind ist sozusagen noch nicht völlig in dieses Erdenleben eingetreten. Es muß in seinen ersten Lebensjahren erst lernen, seine Glieder zum Stehen und Gehen auf dieser Erde zu gebrauchen und sich mit Sinn und Verstand in diesem Leben zurecht zu finden. Aber der Ernst der „Wirklichkeit" ist ihm noch fremd. Der unerbittliche Zusammenhang von Ursache und Wirkung vermischt sich ihm noch mit Märchenbildern des Wunsches und der Phantasie. Ernst und Spiel, Beobachtung und Phantasie sind ineinander verflochten. Aber das, was vom Standpunkt des reifen Menschen aus gesehen ein „noch nicht" ist, ist zugleich ein „noch". Noch lebt das Kind ahnungsvoll in einer Welt der Geheimnisse, aus der es stammt. Karl Thylmann hat in dem wundervollen Gedicht, das er vom Feld aus seinem Kinde „Andreas dem Säugling" gewidmet hat, dieses Geheimnis besungen. Du schläfst, aber hörst mich. Du bist noch groß vom Reich, In dem du wobest seit du gestorben warst. Wie du, Kindlein, sollen wir werden, Spricht der Eine, Wie du. Das ist das schwerste der Wunder. Und noch viel wundersamer redet unser Meister von diesem heiligen „Noch" der Kinder: „Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters" (Matth. 18, 10). Ganz anders ist die Lage der Jugend und ihre Stellung in der Welt. In dem jungen Menschen ist die kindliche Einheit zerbrochen. In erschütternder Zwiespältigkeit treten Leib und Seele, Verstand und Gefühl, Phantasie und Wille auseinander. Durch die Stürme dieser Zerrissenheit hindurch muß die Einheit eines menschlichen Ich neu errungen werden. 253

Aber ebenso ist die selbstverständliche Einordnung, mit der das Kind in seine menschliche Umwelt eingefügt war, zerstört. Mit Interesse, Wissensdurst und Abenteuerdrang wendet sich der junge Mensch dem Leben 2x1, das sich vor ihm eröffnet, und flieht doch auch immer wieder aus der Berührung mit der Wirklichkeit des Lebens in seine Ideale oder verschließt sich in das eigene Innenleben. Das Ich ist Grenze, Abstand und Widerstand gegen das andere und doch wird dieses Ich oft in stürmischer Leidenschaft zu dem Du des andern Menschen, des andern Geschlechts gerissen, in dem der junge Mensch zum ersten Mal die Begegnung als die Urform des menschlichen Lebens erfährt. All das starke und oft peinliche Schwanken des jungen Menschen, der sprunghafte Wechsel seiner seelischen Zustände, die jähen Wandlungen, die oft wie Katastrophen über ihn kommen, wurzeln in dieser zwiespältigen Lebenslage. Solange der Mensch, nicht nur seinen Jahren, sondern seinem Schicksal nach jung ist, kann er sich nicht einfach und leicht in die gegebene Welt eingliedern; und wo wir junge Menschen in dieser vollkommenen Bereitwilligkeit der Anpassung und Eingliederung sehen, sehen wir den Sinn dieser Lebensstufe irgendwie verkümmert und verfehlt. Berufliche Festlegung, endgültige Bindung an menschliche Beziehungen und sachliche Aufgaben, ernsthafte Verantwortung auf dem Boden der Wirklichkeit (und das heißt der Geschichte) widerstreiten der Art des jungen Menschen. Er ist in diesem Sinn ganz „unbürgerlich", immer revolutionär. Aber seine Auflehnung empfängt ihren Antrieb aus den letzten und entscheidenden Fragen nach dem Sinn und der rechten Gestalt des Lebens überhaupt. Wir alle haben in jenen Jahren, sofern wir eine wirkliche Jugend gehabt haben, eine letzte Wahrheit, eine unbedingte Zielsetzung gesucht, als einen Hort gegenüber aller Fragwürdigkeit der Welt um uns her. Wirkliche Hilfe für den jungen Menschen ist nur da möglich, wo dieses sein Schicksal in der Tiefe gesehen und ernst genommen wird. Ganz anders ist die Lage des Menschen im Alter. Aber sie beruht sich mit der Lage des jungen Menschen durch den gemeinsamen Gegensatz zu der Stufe der Reife, zu der eigentlichen Höhe und Mitte des Lebens. Hier ist der Mensch gebunden und verstrickt in menschliche Beziehungen und sachliche Aufgaben. Er weiß sich verpflichtet zu dem Dienst in der konkreten, menschlichen, wirtschaftlichen, politischen Welt. Aber der alte Mensch löst sich wieder aus dieser Verstrickung, die sachlichen Aufgaben treten zurück und müssen zurücktreten, weil die Kraft des Gedächtnisses, der Beobachtung und des Willens schwächer wird. Die Vielzahl menschlicher Beziehungen vermindert sich und ganz wenige sind es noch, mit denen der alt gewordene Mensch in enger Verbindung steht. 254

Neue Bande werden kaum mehr angeknüpft. Auch mitten zwischen den vertrauten Gesichtern und Stimmen legt sich die feierliche Ruhe einer tiefen Einsamkeit um den Greis. Die Nachbarschaft des Todes macht den Wert jeder irdischen Leistungsfähigkeit fragwürdig. Die Maßstäbe verschieben sich, weniges bleibt vor der Pforte des Todes wirklich wichtig und bedeutsam. — Darum haben notwendigerweise immer die Zeiten und die menschlichen Kreise, die in einem echten lebendigen Jenseitsbewußtsein daheim waren, das Alter geehrt. Und es kann umgekehrt, da wo in dem Leben die sachliche Tüchtigkeit und Leistung über alles gehoben wird, der müde und arbeitsunfähig gewordene Greis nur noch als Menschenruine mehr oder weniger willig ertragen werden. Welch peinlicher Widersinn, daß wir eben heute, wo wir, aufs Ganze gesehen, doch noch in einer völlig diesseitigen, rein zweckhaften Wertung des Menschenlebens stecken, eine so starke Vergreisung unseres Volkes erleben! Aber haben nun Jugend und Alter irgendeine Bedeutung für einander? Die unüberbrückbare Verschiedenheit ist offenbar. Zwischen der Jugend und dem Alter liegt der Gang durch dieses Erdenleben. Alle Verschiedenheiten, die man psychologisch beobachten und festlegen kann, hier Unrast, dort Gelassenheit, hier Zwiespalt und Kampf, dort abgeklärte Ruhe, sind nur der Ausdruck dieser letzten Verschiedenheit, daß Jugend und Alter sozusagen diesseits und jenseits der Verstrickung in die irdische Wirklichkeit stehen. Aber sie stehen eben beide an den Polen des Lebens. Sie gehören darin zusammen, daß sie ihre letzten Maßstäbe nicht aus der empirischen Wirklichkeit, aus der irdischen Zweckhaftigkeit nehmen können. Sie haben beide das gemeinsame Interesse, daß der letzte Sinn des Erdenlebens nicht in dem Nutzen gefunden wird, den ein Mensch durch seine Arbeit leistet oder geleistet hat. Wenn Jugend und Alter einander begegnen, so kann diese Begegnung für beide fruchtbar sein. Immer haben alte Menschen sich in einer besonderen Weise verbunden gefühlt mit dem jungen Geschlecht, das berufen ist, in dieses Leben hineinzuschreiten, das der Greis sich anschickt, zu verlassen. Und umgekehrt, der junge Mensch sieht den Greis, der das Leben, das jener erst leben will, vollbracht hat und nun am Ende des Weges steht. In der Weisheit des Alters, die mehr ist als Lebensklugheit, in jener Weisheit, wie sie nur in der Nähe des Todes reift, ahnt der junge Mensch, der den Greis so zu sehen vermag, eine Antwort auf die eigene Frage nach dem Sinn seines Daseins. Darin wurzelt die Bedeutung des Alters für die Erziehung der Jugend. Es ist zunächst etwas Äußerliches. Der alte Mensch hat Zeit. Er ist nicht mehr gejagt und gehetzt in dem Frondienst irdischer Arbeit. Er ist nicht mehr, wie der Mensch in der Vollkraft der Jahre, durch die Mauer seiner 255

Vielgeschäftigkeit von dem Kinde und dem jungen Menschen abgesperrt. Nicht nur Kinder, sondern auch junge Menschen empfangen ein tiefes Glück, wenn sie eine Großmutter haben, die Zeit für sie hat und diese Zeit ihnen gönnt. — Erwachsene Menschen erregen als Erzieher und Führer der Jugend oft das Mißtrauen, sie wollten die Jugend für irgendeine „Sache" statt allein für das Leben selbst werben und festlegen. Für den greisen Menschen, sofern er den Sinn seines Alters selber verstanden hat, sind die blendenden Lichter solcher Eitelkeit verblaßt. Was hätte es für einen Sinn, wenn der Mensch am Rande des Grabes die Jugend noch an sich binden wollte oder an irgendeine menschliche Größe, von der er sich selber eben gelöst hat? Der Dienst des alten Menschen an dem jungen Menschen kann gerade der selbstlose Dienst sein, der nichts anderes will als helfen zum Leben. Was bedeutet es, wenn das Alter aus der Erziehung der Jugend gänzlich ausgeschaltet wird? Gewiß, wenn Erziehung nichts anderes ist als „Ertüchtigung" zu dem irdischen Lebenswerk, dann bedarf es hier am allermeisten der strengen Sachlichkeit, der blutwarmen Lebendigkeit, des klaren Verstandes, des fordernden Willens, und hierin ist der Mensch auf der Höhe seines Lebens dem Greis überlegen. Wenn es darauf allein ankommt, dann muß man junge Menschen in der Tat davor warnen, auf Führer zu hören, die zu alt sind, die selbst schon nicht mehr wirklich im Leben stehen. Wenn alle Erziehung in erster Linie durch bewußte Anrede das Denken und Wollen des jungen Menschen gestalten will, dann ist der Greis, der weniger durch Denken und Reden als durch sein ganzes Sein wirkt und erzieht, ein höchst ungeeigneter Erzieher. Dann ist es richtig und notwendig, Männer und Frauen von einem bestimmten Lebensalter an, vielleicht von einem sehr frühen Zeitpunkt an, von dem Werk der Erziehung auszuschalten und fernzuhalten. Aber eben hier müssen wir fragen: Was wollen wir denn mit unserem ganzen Werk der Erziehung? Eine Erziehungsarbeit, die in ihrem Ziel rein diesseitig bleibt, kann und muß der Alten entbehren. Aber jenseits dieser begrenzten Aufgabe gewinnt die Begegnung zwischen Jugend und Alter ihre weittragende Bedeutung. Die Ehrfurcht vor dem Alter verkörpert das demütige Eingeständnis, daß alle die irdischen, kulturellen, zeitgeschichtlichen Größen und Aufgaben, auf die hin der Mensch in seinen Jugendjahren sich vorbereitet, etwas sehr Relatives sind. Statt an die nächstliegenden Aufgaben und die Tagesereignisse wird der junge Mensch hier an die Ewigkeit selber gebunden, in der das Kind unbewußt daheim war und in der der alternde Mensch von neuem seine Heimat suchen soll. Es handelt sich eben gerade nicht um „Väter und Söhne", um die Ver256

schiedenheit der Anschauungen zweier Zeitalter, um den nie fehlenden Wechsel des Lebensgefühls und der Weltanschauung, sondern es handelt sich um eine verschiedene Stellung im Leben selbst. Der Greis soll und darf den jungen Menschen nicht davon abhalten, ganz aufgeschlossen, ganz nüchtern sich der Wirklichkeit des irdischen Lebens zuzuwenden, aber er soll und kann ihn davor bewahren, in dem Rausche des Lebensgefühls sich an diese Oberflächenschicht des Lebens zu verlieren. Zugleich aber wird hier eine ungeheure Verantwortung des alten Menschen selber sichtbar. Heute will ja niemand alt werden. Die meisten möchten lange leben, aber dabei jung bleiben. Die „Verjüngung", die künstliche Jungerhaltung des Menschen, von der Kleidung und der Schminke an bis zur Operation als Mittel der Verjüngung, ist das große Schlagwort, das dieser Sehnsucht entgegenkommt. Auch der Typus des alten Menschen selber wandelt sich in den Zeiten. Heute sehen wir fast durchweg den alten Menschen, der sein Altsein, so gut er kann, verbirgt und der, wenn nicht seine Leistungsfähigkeit, so wenigstens seine Genußfähigkeit zu konservieren bemüht ist. Ich fürchte freilich, daß dieser Typus von „alten Menschen" sehr bald von der jungen Generation als verkehrt und verächtlich beiseite geschoben werden wird. Denn hier versagt das Alter ja gerade in dem, worin der Sinn seiner Lebensstufe liegt: es will sich nicht lösen aus diesem Leben, es will „wie einen Raub" festhalten, was schicksalsmäßig seinen Händen entgleitet. Diese Art von alten Menschen kann man freilich in der Erziehung nicht brauchen. An der Schwelle des Erdenlebens sind wir getauft worden. In dem Augenblick, wo wir durch die Geburt hineingetaucht worden sind in die Fluten des irdischen Lebens, sind wir zugleich hineingetaucht worden in den Gnadenstrom Gottes, der das Todesschicksal des Menschen in die Berufung zum Leben wandelt. Welche Bedeutung kann es gewinnen, wenn der junge Mensch an der Schwelle des bewußten und selbständigen Lebens dieser seiner Taufe gedenkt. Welche Bedeutung kann es für ihn haben, wenn der in der Taufe verkündigte Sinn des Lebens ihm in alten Menschen verkörpert entgegentritt: Der von Herzen demütige Mensch, der die Last und Hitze dieses Lebens getragen hat, der die Narben des Lebens an sich trägt und nun ganz ruhig und ganz froh geworden ist, nicht in dem stolzen Blick auf das irdische Tagwerk, sondern in dem Glanz einer übernatürlichen Liebe. Welche Ermutigung zum Leben bedeutet es für den jungen Menschen, wenn er einem jener Alten begegnen darf, aus deren faltenreichem und welkem Gesicht stille große Augen leuchten in dem Widerschein jenes letzten tröstlichen Lichtes: „In Deine Hände befehle ich meinen Geist; Du hast mich erlöset, Herr, Du treuer Gott." 257

3. DAS MÄRCHEN VOM STORCH Ein heftiger Streit war ausgebrochen. Ich hatte meine 13jährigen Schüler in eine große Erregung versetzt durch die Frage, ob es wohl in Nürnberg Menschen gäbe, die niemals lügen, so daß man sich auf ihr Wort unbedingt verlassen könne. Eigentlich waren sie alle der gleichen Meinung, nämlich: daß es in Nürnberg und auch anderswo keinen solchen Menschen aufzufinden gäbe. Ob aber die Höflichkeit nicht verlange, die Pfarrer, wenigstens den Anwesenden, von dieser schrecklichen Regel auszunehmen, darüber waren die Meinungen sehr geteilt. Zwar auch darüber waren sie alle eines Sinnes, daß der Pfarrer wie alle andern Menschen doch auch hie und da einmal zur Lüge greife, aber ob man das so schlankweg und unverhohlen sagen, vor ihm selber sagen dürfe, das war die eigentliche und höchst aufregende Frage. Da rettete einer von den Burschen die Klasse aus ihrer Verlegenheit. Ach was, sagte er, unsere Eltern lügen uns doch auch an und haben uns gesagt, daß der Storch die kleinen Kinder bringe. Es war kein befreiendes Lachen, das durch die Klasse ging. Jeder kennt dies widerliche Gemisch von lüsternem Interesse, schamloser Blasiertheit, hilfloser Verlegenheit und unverhohlener Schadenfreude über die Verlegenheit, in die unzweifelhaft der Lehrer nun gebracht schien. Aber in diesem Augenblick schlug die Glocke das Ende der Stunde. Kaum war mehr Zeit, irgend etwas Belangloses auf dieses schlagende Argument zu erwidern. Erst acht Tage später stand ich wieder vor der Schar. Es hatte doch eine kleine Überlegung gekostet, ob ich das Rettungsseil, das in diesem Fall die Schulglocke meiner Feigheit zugeworfen hatte, nicht dankbar ergreifen und mich daran aus der unangenehmen Lage herausziehen sollte. Es wäre so sehr bequem gewesen, die neue Stunde mit einem neuen Stoff zu beginnen. Vielleicht erinnerten sich die Buben gar nicht mehr, wie die vorige Stunde zu Ende gegangen oder vielmehr nicht zu Ende gegangen ist. Aber nein, diese Möglichkeit durfte ich nicht ausnützen. Ich hatte mir's die ganze Woche aufs sorgfältigste überlegt und kam in die Schule mit einigem Bangen, ob die Schlacht gewonnen werden könnte, aber doch mit dem festen Willen, einen Hauptschlag zu führen gegen den unerschütterten Glauben an die allgemeine Verlogenheit. Buben, fing ich nach der allgemeinen Morgenandacht an, neulich hat einer von euch gesagt, daß eure Eltern euch anlügen, indem sie euch das Märlein vom Storch erzählen, der die kleinen Kinder bringe - die ganze Gesellschaft wartet mit außerordentlicher und unverhohlener Spannung, was da nun kommen solle - , da möchte ich mit euch heute einmal gerade darüber reden, was denn das mit dem Storch und den kleinen Kindern 258

eigentlich ist. — Auf einigen Gesichtern das freche Grinsen, von etlichen Bänken her halblaute Bemerkungen. Halt, sage ich, ihr braucht gar nicht alle da zu bleiben. Die Sache mit dem Storch ist eine sehr ernste und sehr feierliche Sache, über die möchte ich nur mit denen reden, die über eine ernsthafte Sache sich ernsthaft besinnen wollen. Die anderen dürfen spazieren gehen bis 9 Uhr. Es geht natürlich niemand fort. So, ihr wollt also alle dableiben und zuhören? Ja! Aber wenn nachher einer zu lachen anfängt, der stört uns alle, der muß dann fortgehen! Ein einziger hat nachher während der Stunde einmal eine dumme Lache aufgeschlagen, den mußte ich vor dem Zorn der anderen schützen, die ihn auf der Stelle hinauswerfen wollten. Ihr kennt den Storch? Tut nicht so großartig, als ob das ganz selbstverständlich wäre! Es gibt sicherlich viele Tausende von Schulkindern in Deutschland, die haben noch nie einen richtigen lebendigen Storch auf dem Dache nisten oder mit seinen langen, roten Beinen durch eine Sumpfwiese steigen sehen. Aber das brauche ich euch nun nicht zu sagen, daß dieser Vogel, der so scheu davonfliegt, sobald wir in die Nähe kommen, mit euren kleinen Geschwistern nichts zu tun hat, und daß nicht etwa er die zappelnden kleinen Kindlein aus seinem Sumpf herausholt und den Eltern zum Fenster hineinlegt. Das sieht man — manchmal auf Bildern und Postkarten so gemalt, und das soll dann ein Witz sein. Aber es ist kein schöner Spaß und ein dummer Spaß dazu. Warum das gar nicht schön, sondern dumm ist, werdet ihr sicherlich nachher begreifen. Aber nun will ich euch einmal etwas sagen: Wenn man seit vielen Jahrhunderten das so sagt, daß der Storch die kleinen Kinder bringe, dann kann das doch nicht gar so dumm und verkehrt sein; denn die Leute, die früher gelebt haben, die haben das natürlich auch ganz richtig gewußt, wo die kleinen Kinder herkommen; und wenn sie die Geschichte vom Storch erzählt haben, so haben sie sich sicher dabei etwas ganz Besonderes gedacht. Denn darauf dürft ihr euch ganz allgemein verlassen: das, was die Leute früher sich so ausgedacht und untereinander gesagt haben, das hat einen sehr tiefen Sinn, auch wenn wir ihn heute gar nicht immer richtig verstehen können. Die Dummen sind nicht die Alten, „die noch so etwas geglaubt haben", sondern wir, die wir irgend etwas, was die Menschen früher gewußt haben, nicht mehr verstehen. Aber ich wollte euch ja vom Storch erzählen: Da hat es eine Zeit gegeben, da sah unser Heimatland noch ganz anders aus als heute. Da gab es wenig fruchtbare Ackerfläche; wo heute Dorf an Dorf sich reiht und viele Hunderttausende dem Boden ihre Nahrung abringen, da dehnten sich riesengroße Wälder, und weite Sümpfe erstreckten sich um die Wälder und in die Wälder hinein, so daß der Mensch versank, der seinen 259

Fuß da hineinsetzen wollte. Aber gerade da, in den undurchdringlichen und unzulänglichen Wäldern, glaubte man, sei die Wohnung der Götter. Natürlich, ihr versteht, weil dort kein menschlicher Fuß hineindringen kann! Wo Gott ist, da können wir Menschen eben nicht hingehen wie zu irgendeinem Nachbarn, dem wir einen Besuch machen, und gerade da, wo unser Weg zu Ende ist, gerade da ist das große, feierliche Geheimnis: „Gott". Und darum haben unsere Vorfahren aus dem Rauschen der gewaltigen Bäume die Stimme ihrer Götter gehört, und die großen, undurchdringlichen Wälder waren ihnen das Heiligtum ihrer Götter. Ja, nun ahnt ihr schon, was das mit unserer Sache zu tun hat! Wo der Mensch mit seinen Füßen keinen festen Grund hatte, auf den er treten und über den er gehen konnte, da konnte der Storch mit seinen langen Beinen hinsteigen, hinweg über die Sümpfe, hinein in die großen, nassen Wälder. Darum ist der Storch ein heiliges Tier; niemand hätte ihm etwas zuleide getan, auch wenn er ihn hätte einfangen können. Deswegen galt und gilt es bis zum heutigen Tage als ein besonderes Glückszeichen für ein Haus, wenn im Frühjahr die Störche wiederkommen und oben auf dem Hausfirst ihr Nest bauen. Der heilige Vogel bringt Glück ins Haus, Grund genug, ihn zu lieben und zu ehren wie einen Boten, den Gott selber geschickt hat. Nun halte ich einen Augenblick inne. Schon fahren ein paar Finger in die Höhe: da haben dann die Leute gemeint, der Storch bringe die Kinder aus dem Walde, wo die Götter wohnen, und sie kommen eigentlich von dort, von dem Heiligtum. Der Storch ist, wie der Vogel in irgendeinem Märchen, der Bote und das Werkzeug Gottes, der das Kindlein zu den Menschen auf die Erde schickt. Es ist sehr still geworden unter den Buben, und sie nehmen, was ich weiter sage, auf wie die Enthüllung eines Geheimnisses, auf das sie lange gewartet haben. Nun stehen wir vor der ganz geheimnisvollen Frage: Woher kommen denn die kleinen Kinder? Wenn einer alles das weiß, was man eben darüber Genaues wissen und immer genauer erfahren kann, daß der Leib des Kindes aus den winzigen Keimen entsteht, die Mann und Frau in ihrem eigenen Körper haben, und daß die Mutter das Kindlein in ihrem eigenen Leibe getragen hat, ehe es auf dieser Erde als eigenes kleines Menschlein leben kann, wenn einer das alles und noch viel mehr weiß, meint ihr, daß er dann eigentlich weiß, wo die Kinder herkommen? Jedes solche Kindlein ist ganz ein Wesen für sich, gar nicht einfach nur das „Produkt" von Vater und Mutter, wie aus einer Pflanze das neue Pflänzlein hervorgeht. Wenn man einmal ganz still in die Augen eines kleinen Kindes schaut, dann spürt man vielleicht ein klein bißchen etwas von dem Geheimnis, daß so ein Kindlein noch gar nicht ganz auf dieser Erde ist, sondern mit

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seiner kleinen Seele noch in einer Traumwelt weilt, aus der es kommt. Es stammt aus einer wunderschönen Welt, in die unsere Augen gar nicht hineinreichen. Ein Dichter hat sehr schön gesagt: Das Kind versteht die Himmelssprache. Die Himmelssprache versteht ihr Schulbuben längst nicht mehr, und wir Erwachsenen müssen erst sehr mühsam lernen, ein bißchen etwas von der Himmelssprache zu verstehen, die wir als kleine Kinder alle verstanden haben. Oder, ich will es euch mit einem noch viel schöneren Worte sagen, das der Herr Jesus gesprochen hat: „Die Engel der Kleinen sehen allezeit das Angesicht des Vaters im Himmel." Darum ist so ein ganz kleines Kindlein gar nicht nur das sehr unvernünftige, hilflose und anspruchsvolle kleine Wesen, das man da sieht, sondern etwas ganz Heiliges, das aus Gottes lichter Welt auf unsere Erde kommt, und Menschen sollen ihm nun Vater und Mutter sein, damit es nicht hungern und frieren muß auf dieser Welt. Aber es stammt vom Himmel, und Gottes Engel haben es auf diese Erde zu seinen Eltern gebracht. Das heißt in der Märchensprache, in der früher die Menschen so etwas gesagt haben: Der Storch hat es gebracht. Also, da seht ihr, daß das gar nicht lächerlich, sondern etwas ganz Ehrwürdiges und Heiliges ist, was damit gemeint ist; auch ganz gewiß nichts Törichtes, sondern eine ganz tiefe und feine Weisheit. Ihr habt schon recht: wenn man euch gar nichts anderes sagen würde als das, daß der Storch euch eure kleinen Geschwister gebracht hat, so könntet ihr das nicht recht verstehen, und die, die es euch so sagen, dürften es euch vielleicht nicht so sagen, weil sie es selber gar nicht glauben, weil sie es nicht recht verstehen. Nein, es ist ganz recht, daß ihr alles genau wissen wollt, wie es wirklich zugeht, und ihr sollt auch alles, was ihr verstehen könnt, zur rechten Zeit erfahren. Aber daß der Storch die kleinen Kinder bringt, das ist nicht ein törichtiges Geschwätz, sondern ein kindlicher Ausdruck für das allerfeinste und tiefste Geheimnis, das über die Geburt eines Menschenkindleins gesagt werden kann. Ist das nun eigentlich gelogen, wenn man die Geschichte vom Storch erzählt? Nicht wahr, wenn man es recht versteht, ist es gar nicht gelogen, sondern die lautere Wahrheit. — Damit will ich schließen. Da hebt einer mit ganz rotem Kopf den Finger und ruft ganz lebhaft: „Und wenn uns irgendeiner fragt, ob wir denn noch an das Märchen vom Storch glauben, dann sagen wir einfach: schweig, da bist du noch zu dumm, das verstehst du noch nicht!"

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DER GLAUBE AN DEN SCHÖPFER (1932)

1. NATUR (Gekürzt) Es gibt viele fromme Christenmenschen, die meinen, mit der Natur habe der Glaube nichts zu schaffen. Sie achten und schätzen in der Religion, auch in ihrem Christentum, das Reich der Innerlichkeit, der „Seele", und meinen, daß Gott es ausschließlich mit dieser Innenwelt menschlichen Geistes zu tun habe. Ja sie achten die Welt der Religion um deswillen, weil sie ein Gegengewicht bildet gegen das Schwergewicht äußeren Geschehens in der Natur um uns her. Diese Denkweise ist in doppeltem Sinn gefährlich. Auf der einen Seite wird damit das Leben der frommen Seele etwas in sich Verschlossenes. Es haftet ihm etwas Blasses und Unwirkliches an und in der harten Welt irdischen Geschehens bleibt diese Religion der Innerlichkeit etwas Bedeutungsloses und Unkräftiges. Auf der anderen Seite wird in dieser Denkweise die ganze Welt der Natur von ihrem göttlichen Hintergrund abgelöst. Nichts wird in ihr gesehen als die erbarmungslose Stofflichkeit und nichts regiert in ihr als das kalte und starre Gesetz. Dieser Natur gegenüber weiß und wagt der Glaube nichts zu sagen. Sie mag schön, herrlich, gewaltig sein, aber ihre Majestät ist doch im Grunde die des toten Steines und des Eises, in dem alles Leben erfroren ist. Schon das Leben des eigenen Körpers ist dann eine unverstandene Außenwelt und der Rückzug auf die Innenwelt des Glaubens ist eine Flucht vor der sinnlosen Wirklichkeit. Es wird in der Sache nichts gebessert, sondern vielmehr verdorben, wenn wir statt dessen uns einer sentimentalen Naturschwärmerei hingeben. In drei Formen begegnet uns diese schwärmerisch unwahre Naturbetrachtung. Für viele Menschen ist die „Natur" vor allem der Ort, an dem man Stimmungen erlebt und sich dem Zauber solcher Stimmungen genießerisch hingibt. Die verständigsten Leute können in Weichheit und Rührung verfallen, wenn sie in der Wirklichkeit, aber vielleicht noch besser in Bildern rosarote Abendwölkchen, oder ein Reh auf der Waldwiese oder das friedliche Dorf im Wiesental betrachten. Ach nein, sie betrachten ja gar nicht solche Erscheinungen der Natur, sondern sie betrachten das Gefühl, das „man" angesichts einer so stimmungsvollen 262

Szenerie hat oder zu haben meint. Was dieser sentimentalen und gefühlsseligen Naturbetrachung (aber die Natur wird ja gar nicht betrachtet!) gänzlich fehlt, ist der Eindruck von dem überwältigenden Ernst, der strengen Größe und herben Unzulänglichkeit der wirklichen Natur. Hier ist die Natur nur ein Genußmittel, und die seelische Genußsucht holt sich das „Schöne", „Liebliche", „Romantische" heraus, an dem sie sich berauschen kann. Die Unwahrheit dieser Naturbetrachtung wird dadurch nicht gemindert, wenn sie sich in einem religiösen Gewand verbirgt. Als ich einmal in einem Vortrag in ähnlichem Sinn, wie es in diesem Jahrbuch geschieht, von den in der Natur auch vorhandenen Symbolen des Dämonischen gesprochen hatte, beklagte sich hernach einer meiner Hörer aufs bitterste, daß ich die Schönheit und Lieblichkeit der Natur so undankbar verkannt hätte. An einem Frühlingstag unter blühenden Obstbäumen könnten wir doch überwältigt werden von der Schönheit der Welt und von der überfließenden Gütigkeit Gottes. Ich fragte den Mann, ob er jemals einen von Raupen völlig kahlgefressenen Obstbaum gesehen habe. Die Erwähnung der Raupen warf sein ganzes romantisches Naturbild über den Haufen. Ja die Raupen! Daran habe er noch nicht gedacht. Vielleicht ist unter uns auch noch nicht gänzlich jene biedere Stimmung ausgestorben, die die Aufklärung gezüchtet hat, die sich und anderen zur Erbauung in der Natur die ungezählten Exempel einer über die Maßen weisen Weltregierung aufspürte. Sie war überzeugt, von vornherein überzeugt von der unübertrefflichen Zweckmäßigkeit aller Einrichtungen in der Natur und redete nicht anders, als hätte sie dem Weltenschöpfer über die Schulter geguckt, als er die Pläne zu diesem Weltengebäude entwarf. Aber unversehens waren es die Lebensbedürfnisse des Menschen, denen alles in weiser Ordnung dienen muß, und im Grunde dankte der Mensch in dem erhabenen Gefühl seiner Vernunft dafür, daß er die Krone dieser besten aller Welten sein durfte. Dieser Betrachtung, die die Natur am liebsten unter dem Bilde eines wohlgeordneten Haushalts oder eines vortrefflich regierten Staatswesens sieht, mangelt es zwiefach am Wirklichkeitssinn. Sie sieht nicht die unerhörte Grausamkeit, die durch die ganze Natur geht, den brutalen Vernichtungswillen, die Selbstverständlichkeit, mit der Millionen und Aber-Millionen von lebenden Wesen sinnlos vernichtet werden, sie sieht nicht die furchtbare Selbstzerstörung der Natur, sie sieht nur das, woraus sie eine Bestätigung ihres eigenen naiven Optimismus zieht. Wahrhaftig, hier ist viel, sehr viel mit staunender Ehrfurcht zu sehen; aber wer nur das sieht, hat das wahre Gesicht der Natur noch nicht gesehen. — Und diese Betrachtung weiß ebensowenig, daß die Natur keineswegs nur den Lebensbedürfnissen des Menschen zweckmäßig und willfährig zu Diensten steht, sondern daß sie mit brutaler 263

Gleichgültigkeit den Menschen und sein Werk zerstampft. Ganz naiv hat der Mensch sich zum Maß aller Dinge gemacht und hofft, die Restbestände ungebändigter Natur bis hin zu Ebbe und Flut, bis hin zu den Wassern des Hochgebirges und zu den Kräften der Sonne noch vollends seinen Zwecken zu unterwerfen. Er sieht nicht und will nicht sehen, daß ihm in der Natur zugleich die Grenze seiner Macht gesetzt ist, eine brutale Urgegebenheit, die nach ihm, seinen Freuden und Leiden, seinem Lebenshunger und seiner Todesangst nicht fragt. Eine dritte Form der Schwärmerei haben wir vielleicht als Jugend zum erstenmal gierig in uns eingesogen, als wir Schillers „Spaziergang" auf einsamen Gängen deklamierten. O so öffnet euch, Mauern, und gebt den Gefangenen ledig, Zu der verlassenen Flur kehr' er gerettet zurück! Andere unter uns hat später die gleiche Sehnsucht nach der mütterlichheilenden Natur in der Zeit der Jugendbewegung ergriffen. Hier war die Natur die große wundersame Welt unverbrüchlicher Ordnung und ursprünglichen Lebens. Ahnend empfand die von eigenem Kampf zerrissene Seele, was Kierkegaard in seinen Beichtreden über das Geheimnis der Natur enthüllt: ihre Schönheit ist ihr Gehorsam. Sie ist ganz, was sie sein muß, kein Eigenwille und kein Dünkel stört ihre heilige Notwendigkeit, und nichts Größeres ersehnt der Mensch, als daß er gänzlich eintauchen darf in dieses naturhafte Leben, selbst blühen, wachsen und reifen wie Pflanze, Baum und Frucht. Hier ist ein Geheimnis, ein echtes Geheimnis, das uns in der Natur aufs tiefste ergreift, gesehen und doch falsch gesehen. Denn der Mensch ist nicht Natur und es ist ein eitler Traum, er könne heimkehren in den Frieden und die Unschuld der Natur. Wir sind aus dem Paradies naturhaften Seins vertrieben und der Cherub mit dem flammenden Schwert versperrt uns den Rückweg in das verlorene Paradies. Unser Teil ist Zwiespalt und Kampf. Der Ruf zur Freiheit reißt eine unübersteigliche Kluft auf zwischen uns und der Natur; und selbst unser Gehorsam ist ein anderer als der Gehorsam des naturhaften Lebens. Und über all dem, ist nicht doch zuletzt auch die Natur selber hier falsch gesehen? Falsch, weil durch sie selbst der unheimliche Riß der Zerstörung hindurchgeht. Selbst wenn der Mensch in seiner Qual sein tiefes Anders-Sein, seine schmerzliche Geschiedenheit von der Natur erkennt, ist die Welt wirklich vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual? Das untrügliche Kennzeichen für die Unwirklichkeit aller solchen schwärmerischen Naturbetrachtung ist es, daß auf ihrem Boden gar nicht mehr verstanden werden kann, was die Bibel von der Natur sagt. Sie 264

singt wohl auch, wie in dem herrlichen 104. Psalm, das Lob Gottes aus der Schönheit, Lieblichkeit und Lebensfülle der Natur, aus den Urgeheimnissen des Lichtes, aus Blitz und Donner, und aus den gar nicht zweckmäßigen, sondern nur unheimlichen Ungetümen und Ungeheuern der Meerestiefe. Aber niemals verdeckt sie den Riß, der durch die Natur hindurchgeht, und sie sieht, das ist ihr letztes — oder doch ihr vorletztes? - Wort über die Natur, daß auch die Natur eine gefallene Natur ist. Sie hört das Seufzen der Kreatur, die sich mit uns Menschen einer künftigen Erlösung entgegensehnt. Niemals könnte die Bibel beten „um Erlösung von Natur", denn sie verkündet ja vielmehr das Evangelium einer Hoffnung, die — das erst ist wirklich ihr letztes Wort - auch die Erlösung der Natur einschließt. Es muß an anderem Ort davon geredet werden, wie diese Naturbetrachtung sich in den biblischen Wunderberichten spiegelt. Wie weit entfernen wir uns von aller plump materialistischen Naturbetrachtung, aber auch von aller unwahren und sentimentalen Verfälschung der Naturwirklichkeit, wenn wir die biblische Botschaft vernehmen, daß alles, alles! durch Christus geschaffen ist, alles Christus unterworfen ist und daß Christus der Herr auch der Naturmächte ist und in erfülltem Sinn sein wird. Das Wesentliche, was die Bibel und mit ihr der christliche Glaube schlechthin über die Natur zu sagen hat, trägt die Form des Gleichnisses. Für den Glauben wird die Natur zum Gleichnis, und nur in der Form des Gleichnisses kann von dem Geheimnis der Natur geredet werden, um das der Glaube weiß. Man muß freilich auch das Wort „Gleichnis" und dieses erst recht vor Mißverständnissen schützen. Die Gewohnheit des rationalen Denkens hat uns auch das Gleichnis seines eigentlichen Sinngehaltes entleert und hat daraus entweder einen rein begrifflichen Akt der Vergleichung oder aber das zufällige Spiel rhetorischer Schmuckformen gemacht. Ich darf ein paar Sätze hier wiederholen, die ich in meinem Büchlein über den Sinn des Leibes geschrieben habe. „Die Vergleichung ist ein Akt des menschlichen Denkens, in dem zwei an sich verschiedenartige Erscheinungen um gewisser Ähnlichkeiten willen zu einander in Beziehung gesetzt werden. Eine solche gedankliche Vergleichung ermöglicht den Vergleich als eine beliebte rhetorische Figur, die das Eine, Fremde und Unanschauliche, schwer zu Sagende und kaum zu Beschreibende durch das Naheliegende, Vertraute, sinnlich Gegenwärtige dem Verständnis, ebenso der Anschauung wie dem Gefühl näherbringt." Die ganze religiöse Sprache ist voll solcher bildlicher Redeweise; und umgekehrt ist die Natur eine unerschöpfliche Fundgrube verdeutlichender oder schmückender Bilder für die Bereiche des geistlichen, sittlichen oder religiösen Lebens. „Mit Gleichnis aber meinen wir etwas anderes und sehr 265

viel Wichtigeres. Wir bezeichnen mit Gleichnis ein Stück der sinnlichirdischen Erfahrungswelt, sofern darin ein Jenseitiges und Göttliches „erscheint". Das, was vor Augen ist, sinnlich, sichtbar, hörbar, greifbar, gewinnt einen Bedeutungsgehalt, einen „Sinn" jenseits dieser seiner „sinnlichen" Erscheinung. Es weist über sich selbst hinaus, aber nicht auf irgendein anderes Element sinnlicher Erscheinung, sondern auf das, was jenseits aller irdischen Wirklichkeit ist; es wird zum Gefäß und Träger eines unbedingten und umfassenden Lebensinns; es wird zum Ort, wo ein Jenseitiges und Ewiges sich offenbaren und Gestalt gewinnen will." — Gewiß finden sich unter den Gleichnissen des Neuen Testaments auch bloße Bilderreden, keine Vergleichungen, die mit einer gewissen Willkür gewählt sind und auch durch andere Beispiele oder Vergleichungen ersetzt werden können. Aber damit wird das entscheidende Anliegen des biblischen Gleichnisses nicht getroffen. Hier handelt es sich vielmehr darum, daß ganz bestimmte Elemente der irdischen Wirklichkeit durchscheinend werden für das Geheimnis des Gottesreiches. Sie sind nicht willkürlich herzugetragen, sondern sie sind selbst in einer geheimnisvollen und jeder Willkür entrückten Ordnung dazu bestimmt und berufen, daß das Göttliche und Ewige sich in ihnen bezeuge. Es ist, wie wenn in dem hellen Schein eines strahlenden Lichtes bestimmte Gegenstände, bestimmte Formen aus dem Raum rings umher hervortreten, im Schein dieses Lichtes in einer nie gekannten Schönheit erstrahlen und erst damit in ihrem verborgenen Wesen sich darstellen und offenbaren. So wird das Licht zum Gleichnis dessen, was Christus für die ganze Welt bedeutet, so wird das als Keim neuen Lebens in die Erde gesenkte Korn zur Darstellung des Opfers, das auf Golgatha gebracht wird, und das gebrochene Brot zur Vergegenwärtigung des sich selbst an die Seinen austeilenden Christus. So findet der Weinstock sein Gegenbild und seine Erfüllung in dem wahrhaftigen Weinstock Christus, der alle seine Reben mit fruchttragendem Leben nährt. Es handelt sich nicht um eine allegorische Deutung der Natur. Es ist das Kennzeichen der allegorischen Rede, daß sie das, was sie „eigentlich" meint, in einer Hülle des „Uneigentlichen" verbirgt. Sie redet in einer mehr oder minder leicht zu durchschauenden Geheimsprache, aber wir merken, daß wir das, was unsere Augen sehen oder unsere Ohren hören, „nur symbolisch" verstehen und unsere Aufmerksamkeit gerade auf das andere, das wir nicht unmittelbar sehen und hören, richten sollen. Wenn die Natur allegorisch, „nur symbolisch" verstanden wird, dann wird ihr unmittelbares Sein, ihre Gestaltenfülle, ihre Lebensvorgänge „entmächtigt". Sie soll gerade das nicht sein, was sie zunächst ist; sie wird nicht ernstgenommen in ihrem naturhaften Dasein. Die Neigung 266

dazu kennen wir sehr wohl aus ungezählten Beispielen geistlicher Naturdeutung. Wem einmal das Auge geöffnet ist für die geistigen Hintergründe der naturhaften Welt, der ist nur allzu schnell bereit, in tausend Einfällen geistiger und geistlicher Beziehungen zu schwelgen. Alles und jedes, Blumen und Tiere, Sterne und Wolken werden zur Verkörperung von Ideen. Aber der Blick ist nicht auf diese Verkörperung, sondern durch sie hindurch auf solche Ideen gerichtet. Die „Erscheinung" wird zum bloßen Schein, unwesentlich und unwirklich. Dem gegenüber ist es ganz ernst gemeint, wenn Jesus uns mahnt: Schauet die Lilien an, schauet die Vögel an. Die Gleichnishaftigkeit der Dinge enthüllt sich nicht dadurch, daß wir uns bei ihnen etwas denken, sondern daß wir sie anschauen und sie ernst nehmen in dem, was sie sind. Es ist kein Zufall, daß wir heute gerade an Naturphotographien diesen gleichnishaften Tiefensinn der sinnlichen Wirklichkeit „anschauen" lernen. Die Photographie zwingt uns mit schärfster Genauigkeit zu sehen und zu erkennen, was in diesen Blumen, in einer Tiergestalt, in einem Sternennebel wirklich gegeben ist. Das Licht des Glaubens verwandelt die Natur nicht in ein durchsichtiges Glas, das unseren Blick möglichst ungehemmt durch sie hindurch leitet, sondern eher in eine farbige Scheibe gleich den alten Kirchenfenstern, die, wenn die Sonne durch sie hindurchbricht, erst in ihrer geheimnisvollen Pracht aufleuchten. Es darf also keine Rede davon sein, daß die sinnliche Fülle und die reale Gegenständlichkeit der Natur in solcher Gleichnisbetrachtung aufgelöst würde. Wenn wir von dem Geheimnis der Pflanze oder dem Gift: in der Natur, wenn wir von der Predigt der Berge oder der Wiederentdeckung des Himmels reden, so wollen wir damit gewiß nicht die Schule exakter naturwissenschaftlicher Beobachtung verleugnen. Aber wir wollen das, was unsere Augen sehen und was die technische Schärfung unserer Sinne vor uns ausbreitet, zugleich mit dem Auge des Glaubens ansehen und in seinem Sinngehalt begreifen. Zum anderen: Dieser Sinngehalt ist nicht etwa eine neue Schicht von Eigenschaften, die wir wie andere Eigenschaften an den Elementen und Gebilden der Natur erfahrungsgemäß feststellen und aufweisen können. Er ist nicht selbst wieder ein gegenständlicher Bereich. Die Anthroposophie scheint uns von dem geistigen Wesen der Pflanze oder von den Sternenmächten bisweilen zu reden, als ob das eine Naturwissenschaft höherer Ordnung wäre und als ob wir nur die rechten Erkenntnisorgane in uns ausbilden und (sozusagen wie auf einer anderen Ebene das Mikroskop) nur das Mittel solcher Geistesschau anwenden müßten, um diese tieferen Schichten der Natur zu erkennen. Dagegen möchten wir uns sehr deutlich abgrenzen. Es ist nur der Glaube, der solche Bilder schaut 267

und sich von Gleichnissen umgeben weiß. Nur weil wir von Gott reden, reden wir von Schöpfung. Nur weil wir um Christus wissen, finden wir die Spuren seines Wesens auch in der Schöpfungswelt. Es ist eine große Gefahr, wenn wir meinen, das Wissen um das Gleichnis wie irgendwelche anderen Kenntnisse in uns tragen zu können, die uns doch im tiefsten nicht berühren. Das Gleichnis redet vielmehr von einer Bedeutsamkeit, die, wie jede Verkündigung, uns im innersten trifft, uns richtet und erschüttert, tröstet und erhebt. Immer betrifft das Gleichnis unsere eigene Existenz, unser Schicksal, unser Heil und Unheil, Leben und T o d Es ist eine rein religiöse Kategorie, in der wir hier „schauen" und erfahren. Die evangelische Lehre, daß Brot und Wein des Sakraments nicht zur Betrachtung, sondern zum Essen und Trinken da sind, meint an einem bestimmten, ganz entscheidenden Punkt eben diesen Unterschied. Endlich: Ist das, was hier gemeint und mit stammelnden Worten angedeutet wird, „Pansymbolismus"? Es wird so oft gegen diese Betrachtung eingewendet, hier werde die ganze Natur auf eine Ebene symbolischer Bedeutung gerückt und es werde dadurch, wie durch jede Form des Pantheismus, eigentlich gerade die Freiheit des überweltlichen Gottes und die Wirklichkeit seiner Offenbarung in eine allgemeine Tiefenschau aufgelöst. Aber das ist ja gerade nicht gemeint, wo vom Gleichnis die Rede ist. Die Natur ist keineswegs in allen ihren Bereichen und Erscheinungen im gleichen Maß durchscheinend, sondern sie wird zum Wort des lebendigen Gottes an ganz bestimmtem Ort. Die Gleichnisse Jesu lassen sich nicht willkürlich mit anderen Bildern aus der Natur vertauschen. Nicht alles wird zum „Symbol". Ja es geht ein Riß der tiefen Zwiespältigkeit auch durch die gleichnishafte Natur hindurch. Vieles wird uns viel eher zum Gleichnis des Dämonisch-Widergöttlichen, als zum Zeichen des göttlichen Heils. Nicht nur, daß uns in der welkenden Blume und dem herbstlichen Vergehen das Todesschicksal der Kreatur erschüttert oder in einem Tierauge das furchtbare Leiden der Kreatur voll Angst und Traurigkeit anblickt. Nicht nur, daß die Unendlichkeit des Weltenraumes, statt die Sehnsucht nach einer jenseitigen Heimat in uns zu stärken, uns mit dem abgründigen Grauen unendlicher Leere und einer letzten kosmischen Angst erschrecken kann. Es gibt auch echte Symbole des Dämonischen in der Natur. Man wäre einen Augenblick versucht zu sagen, daß die unschuldige Pflanze in der Sanftmut ihres Wesens ein reines Spiegelbild friedevoller Ordnung und göttlicher Güte, das Tier aber viel mehr ein Sinnbild unerlöster und zerstörerischer Wildheit sei. Aber gibt es nicht auch Blumen, die in der unheimlichen Lebensmacht ihrer bunten Giftigkeit die dämonische Nachtseite des Lebens verkörpern und die wir darum nicht zum Schmuck neben das Kreuz auf den Altar zu stellen

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wagen? Und ganz gewiß ist es kein Zufall, daß die teuflische Zauberin Circe die Menschen in Tiergestalt verwandelt und daß Künstler, wenn sie die Abgründe der Bosheit und des Lasters, des Hasses, der Gier oder wollüstiger Geilheit gestalten wollen, ihre Abscheu und ihr Grauen in Tiergestalten gebannt haben. Und doch kann auch das Tier, die reine Taube oder das unschuldig und stumm dahingeopferte Lamm zum Sinnbild der Wiedergeburt aus dem Geist und der Erlösung werden. Diese Zwiespältigkeit des Natursymbols wird uns am Feuer besonders eindringlich. Wir wüßten wahrhaftig wenig Eindrücke aus der Natur zu nennen, die uns so sehr im Innersten aufwühlen und erschüttern, wie die gewaltig zum Himmel emporzuckende Flamme. Aber es ist kein Zufall, daß im Umkreis des christlichen Glaubens das Feuer niemals wirklich zum Symbol des Göttlichen geworden ist, es sei denn in der gebändigten und gereinigten Form der still leuchtenden Flamme. Darum ist auch das ergreifende Sinnbild, das die katholische Kirche in früher Morgenstunde des Ostersamstag übt, wenn sie aus dem Stein das Feuer schlägt und an der so erweckten Flamme die Osterkerze entzündet, ein wundervoller Hinweis darauf, wie hier das naturhafte Geschehen, indem es in den Raum der Kirche hineingetragen wird, gereinigt und entsühnt und zu einem Gleichnis des göttlichen Lichtes geweiht wird. Hier steht nun nichts von dem überschwenglichen Lob Gottes aus der Natur - freilich kein heutiges Wort könnte den Zusammenhang dieses Gotteslobes mit dem Glauben tiefer aussprechen als das eine Lutherwort, das wir eingefügt haben. Hier steht nichts von dem Geheimnis des Windes und des Atems, in dem sich unser Wort formt, nichts von dem Wald, in dessen Rauschen unsere Vorväter die Stimme der Gottheit vernommen haben, nichts von Kristall und Edelstein und Gold, die in der Symbolsprache der Kirche so bedeutsam gewesen sind. Niemand weiß schmerzlicher um diese Lücken als der Herausgeber. Es können nur Beispiele sein, die gegeben werden. Aus diesen Beispielen, durch die Verschiedenheit ihres Gegenstandes, auch durch die Verschiedenheit der Sprache, des Temperaments, der Vorsicht oder Kühnheit der Verfasser hindurch mag der willige Leser doch immer das eine spüren, was uns, die wir in gemeinsamer Arbeit verbunden sind, am Herzen liegt: daß die ganze Natur in einem neuen Sinn und einer neuen Bedeutungsfülle sich vor uns breitet, wenn uns an einem Punkt das Geheimnis des Gleichnisses aufleuchtet: Licht ist das Kleid, das Du anhast.

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2. DAS WUNDER Ein Briefwechsel Lieber Herr Professor! Sie haben hier kürzlich über Nöte und Aufgaben des Religionsunterrichts gesprochen und haben sich darüber beklagt, daß die von Ihnen erhoffte Aussprache nicht zustande kam. Sie müssen das begreifen aus der Lage, in der wir Lehrer uns befinden. Was wir seinerzeit auf unseren Seminaren mitbekommen haben für die Aufgaben des Religionsunterrichts, läßt uns ohne alle wirkliche Hilfe für die Aufgaben, die wir heute sehen oder wenigstens ahnen. Gerade das, was ich aus den Schriften der Berneuchener erfahren und gerne aufgenommen habe, hat mich in der Sicherheit meiner bisherigen Methode stark erschüttert. Wie mir, so geht es vielen meiner Kollegen, aber wir sehen keinen klaren Weg vor uns. In dieser Lage verspreche ich mir nichts von der Diskussion nach einem Vortrag; jede einzelne Frage führt so sehr in die Tiefe, daß man nicht wüßte wo anfangen und wo aufhören. Aber nun möchte ich versuchen schriftlich das Gespräch aufzunehmen an einem Punkt, der mich besonders bewegt. Sie haben in Ihrem Vortrag gesagt, die ganze Problematik des Religionsunterrichts dränge sich zusammen in der Frage nach dem Wunder. Hier, so sagen Sie, begegne sich unser neues Verständnis für die biblische Botschaft mit einer Wandlung unseres Weltgefühls. Ich konnte mir offen gestanden nicht klar darüber werden, was sich hinter diesen Andeutungen verbirgt. Aber ich empfinde je länger desto mehr ein Unbehagen bei der Art, wie ich Wundergeschichten im Religionsunterricht bis heute zu behandeln pflege. Darf ich Ihnen kurz schildern, wie ich es mache? Es gibt eine Anzahl von Wundergeschichten, mit denen ich gar nichts anfangen kann. Was soll ich über die redende Eselin Bileams oder über Jona im Bauch des großen Fisches oder über das Essen des auferstandenen Christus sagen? Ich halte das für Legenden, wie sie überall in der Welt von den Gottesmännern erzählt wurden. Aber ich wage nicht, das meinen Kindern in der Schule zu sagen, und helfe mir nun damit, daß ich diese Geschichten auslasse, um meine Verlegenheit zu verbergen. Bei vielen anderen glaube ich eine natürliche Deutung geben zu können. Ich versuche die Heilungen Jesu den Kindern verständlich zu machen, indem ich ihnen etwas von der wunderbaren Kraft des Geistes und von den erstaunlichen Erfahrungen der Psychotherapie erzähle. Oder ich sage ihnen etwa, daß Jesus bei seinem Wunder auf der Hochzeit zu Kana eigentlich nur den wunderbaren Vorgang in einen Augenblick zusammengedrängt hat, den die Sonne am 270

Weinstock vollbringt, kurzum, ich versuche das Wunder in das Geheimnis des Lebens überhaupt hineinzustellen. Ich habe einmal das Wort gelesen, es komme nicht darauf an, daß uns ein Wunder wirklich, sondern daß uns das Wirkliche wunderbar werde; darnach versuche ich meinen Unterricht einzurichten. Oder ich rede ausschließlich von dem geistigen Sinn einer solchen Geschichte und kann dann etwa sagen, daß wir wie Petrus über das Meer des Lebens gehen können, so lange wir auf den Herrn sehen, oder daß der Heiland die Stürme unseres Herzens zur Ruhe bringt. Bei manchen Geschichten schwanke ich. So weiß ich z. B. bei der Speisungsgeschichte immer von neuem nicht: soll ich hier nur von dem Himmelsbrot der Seelenspeise reden, mit der Jesus unzählige Menschen satt macht, oder soll ich lieber die Geschichte so darstellen, daß das Wort Christi die Menschen zur Genügsamkeit und zu brüderlichem Sinn erweckt hat, so daß auch im Leiblichen die Vielen mit wenigem satt werden? Wohl ist mir bei alledem nicht. Vollends aber gerate ich in Verlegenheit bei einigen Geschichten, denen ich nicht ausweichen kann und wo ich auch nicht wüßte, wie man sie etwa erklären oder deuten könnte. Das gilt vor allem von der Weihnachts- und der Ostergeschichte, aber im Grunde doch auch von allen Engelerscheinungen und Totenauferwekkungen. Hier weiß ich mir nicht anders zu helfen, als daß ich die Geschichte einfach stehen lasse und erzähle, wie sie uns gegeben ist. Aber ich habe oft das Gefühl, daß ich den Kindern dabei etwas schuldig bleibe. Die jüngeren Kinder nehmen ganz naiv ein solches äußeres Wunder als selbstverständlichen Erweis der göttlichen Allmacht; aber dann fangen sie an zu fragen, ob es eigentlich Engel gibt und wie das eigentlich mit der Auferstehung Jesu gewesen sei, und ich fürchte, bei weitaus den meisten zerbricht dieser kindliche Wunderglaube, so bald sie sich ernsthaft beobachtend dem wirklichen Leben zuwenden. Und dann weiß ich ihnen nicht weiterzuhelfen, weil ich selber diese Geschichten nicht begreife. Gerade in dieser Not fühle ich mich auch unter meinen Kollegen einsam. Die meisten deuten auch alle diese Geschichten irgendwie symbolisch, oder sie erzählen sie einfach, ohne sich selber dabei durch Fragen beunruhigen zu lassen. Das kann ich nicht, und darum möchte ich Ihnen dieses ganze Bündel von Fragen vorlegen. Vielleicht finden Sie einmal Zeit, mir weiterzuhelfen oder mir wenigstens zu sagen, was Sie mit jenen Andeutungen in Ihrem Vortrag sagen wollten. Ich glaube, wenn ich an diesem einen Punkt einen Weg ins Freie sähe, so würde durch meinen ganzen Religionsunterricht eine neue frische Luft wehen. Mit freundlichem Gruß I h r . . .

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Lieber Freund! Ihr Brief ist mir deswegen eine Freude, weil er die Frage des Religionsunterrichts wirklich an einem ganz entscheidenden Punkt aufgreift und weil er mit solcher nüchternen Ehrlichkeit die Lage und das heißt die Not beschreibt. Das Unbehaben, von dem Sie berichten, ist doch immer ein Zeichen, nicht nur, daß etwas nicht in Ordnung ist, sondern daß man mit dem bisherigen Denken an ein Ende gekommen ist, über das nur eine neue Erkenntnis wirklich hinausführt. Daß Sie sich unbehaglich fühlen den Wundergeschichten und der üblichen Art gegenüber, wie die Wundergeschichten in der Schule behandelt werden, das ist das, was mich in Ihrem Brief so stark berührt. Gerne versuche ich deutlicher zu machen, was ich bei meinem Vortrag in S. nur kurz angedeutet habe. Ich kann freilich kaum etwas anderes tun als die Stadien des Weges bezeichnen, den ich selbst geführt worden bin; aber vielleicht können und müssen auch andere diese Wege gehen. Es war für mich in meiner Studentenzeit ähnlich wie für ungezählte andere eine befreiende Wohltat, als uns die kritische Theologie lehrte, daß unter den biblischen Wundergeschichten eine ganze Anzahl von legendären Zügen eingemengt ist und daß nicht selten die Erfahrung von einer außerordentlichen Hilfe Gottes in der Form einer äußeren Wundergeschichte sich aussprach. Wir werden auch heute ein gutes Gewissen dabei haben, wenn wir einzelne biblische Wundergeschichten so betrachten. Es hat mir immer Freude gemacht den Kindern an einer Geschichte wie von dem „Bogen in den Wolken" oder vom Durchzug durch das Rote Meer deutlich zu machen, wie ein „natürlicher" Vorgang für den Glauben zum Zeichen Gottes und zum Erweis einer besonderen göttlichen Hilfe wird. Ich glaube, daß dadurch ein sehr wesentliches Moment des Wunderglaubens, eben der überwältigende Eindruck einer göttlichen Bekundung, in den Vordergrund geschoben wird. Also darin möchte ich Ihnen recht geben, darin möchte ich Sie ermutigen. Auch darin stimme ich Ihnen zu, daß sehr viele Wundergeschichten eine symbolische Einkleidung inwendiger Erfahrungen oder geistiger Wahrheiten sind. Vielleicht ist der Umkreis solcher Wundergeschichten noch viel größer, als Sie anzunehmen scheinen. Wir abendländischen Menschen der Gegenwart sind so sehr an ein abstrakt-begriffliches Denken gewöhnt, daß wir mit Staunen merken, wie sehr Menschen früherer Jahrhunderte, vor allem des Morgenlandes, in Bildern geredet, in Bildern gedacht, vielleicht sogar wirklich in Bildern erlebt und gehandelt haben. Sind Sie nicht auch bisweilen überrascht davon, wie selbstverständlich Kinder durch die bildhafte Hülle solcher Geschichten hindurch das Wesentliche herausspüren und aufnehmen? Ich entsinne mich eines Unterrichtsgesprächs über das Wandlungswunder 272

auf der Hochzeit zu Kana. Von den Krügen, die da „nach der Weise der jüdischen Reinigung" standen, ließen wir uns auf die sinnbildliche Bedeutung des Wassers als des Mittels der äußeren Reinigung fuhren und vergegenwärtigten uns dann an Worten aus der Bibel und aus ganz anderen Quellen, wie der Wein von innen her den Menschen belebt und befeuert, und plötzlich stand es da, selbstverständlich und befreiend: Wo Christus ist, da wird das Wasser in Wein verwandelt; und was unsereiner auf sehr mühseligen Wegen und durch viele Erschütterungen hindurch gelernt hatte, war dem Kinderherzen beglückend nahe und einfach: daß Jesus Wasser in Wein verwandelt hat, ist die Erfüllung dessen, was Jeremia von dem neuen Bund geweissagt hat. Das „Zeichen" war wirklich zum Zeichen geworden. Oder ein anderes Beispiel: Ich erzählte von Bileam und wir erinnerten uns daran, wie in den Märchen die Tiere reden und der Mensch hellhörig wird für die Stimme der Kreatur. Für die Stimme der Kreatur, die in großer Einfalt dem Schöpfungsgeheimnis näher ist als wir und sich nicht so wie der Mensch verschließen und verhärten kann für das Gesetz aller Dinge. Was hat Bileam geschlagen, als er seine Eselin schlug? Was hat er gehört, als das Tier ihn warnte auf seinem Weg? Wie schön, wie lebensnahe, wie wahr und bezwingend kann eine solche Geschichte werden, wenn wir es wagen, sie mit kindlichen Augen anzuschauen! Selbst der schreckliche Bauch des Fisches verliert im Lichte solcher Betrachtung etwas von seiner Absonderlichkeit. Muß nicht der Mensch vom Rachen des Todes verschlungen werden, ehe er aus diesem grausigen Grab auf die Bahn wirklichen Lebens und wirklichen Gehorsams geworfen werden kann? Steckt nicht hier etwas von den geheimen Erfahrungne eines mystischen Schlafes und eines im Kultus abgebildeten Todesschicksals verborgen? Gewiß meine ich nicht, daß wir vor den Kindern mit solchem religionsgeschichtlichen Wissen prunken sollten, wohl aber können wir sie ahnen lassen, daß hier ein Geheimnis, ein schweres und großes Geheimnis der inneren Führung seinen kindlichbildhaften Ausdruck gefunden hat. Also auf diesem Weg möchte ich Ihnen erst recht Mut machen. Ja, wenn Sie einmal Entdeckungsreisen durch das Land der biblischen Wundergeschichten machen, so werden Sie mit Staunen und Freude hinter Geschichten, in denen Sie das kaum vermutet hätten, einen solchen lebendigen Tiefsinn aufleuchten sehen. Aber freilich, auch damit kann nicht das letzte Wort gesprochen sein. Sie spüren selbst, daß in den biblischen Wundern noch ein Geheimnis steckt, vor dem wir immer wieder wie vor einer verschlossenen und verrammelten Pforte hilflos stehen. Fühlen wir uns nicht wie diesseits einer undurchdringlichen Mauer? Aber durch diese Wand hindurch dringen Klänge eines unbekannten und unerhörten Lebens zu uns und über die 273

Mauer herüber rührt der Lichtschein einer glanzvollen Weite an unser Auge. Die Mauer, hinter der wir wie eingesperrt sind, ist die Naturbetrachtung, in der wir befangen sind; und in dem Maß, als sich unser Welt- und Naturgefühl wandelt, fangen wir wieder an zu begreifen, was die biblischen Wundergeschichten eigentlich meinen. Zunächst müssen wir uns gründlich von dem Wahn befreien, als ob nur das in vollem Sinn wirklich wäre, was wir als die äußere „Natur" um uns her sehen, was wir mit unseren leiblichen Augen sehen und mit unseren leiblichen Ohren hören und mit unseren leiblichen Händen begreifen können. Solange wir diesen seltsamen Respekt vor einer naturhaften Wirklichkeit haben — und wir sind ja alle in erschreckendem Maß davon befangen — fragen wir immer wieder bei dem, was die Bibel erzählt, was sich denn da „eigentlich" und wirklich ereignet habe, und meinen damit, was sich in der äußeren physischen Welt abgespielt hat. Als ob es nicht auch ganz andere Wege echten Erlebens gäbe, auf denen wir doch nicht minder auf die Spur der „Wirklichkeit" stoßen! Es gibt ein inneres Auge, das durch die äußeren Dinge hindurch in ihrem Symbolgehalt das Licht, das blendende oder erleuchtende Licht jenseitiger Wahrheit schaut. Ist es etwas „Unwirkliches", wenn der Dichter des 104. Psalms Gott dafür preist, daß er Winde zu seinen Engeln und Feuerflammen des Blitzes zu seinen Dienern macht — obwohl das natürlich keine Beschreibung äußerer Naturvorgänge ist? Sie kennen vielleicht jene Stelle im Eingang unserer Berneuchener Abendmahlsordnung, wo wir im Anschluß an ein altkirchliches Abendmahlsgebet einfach aussprechen, daß das Brot ein für uns geopfertes Leben ist und daß sich uns darin, wie sich in der Rebe am Weinstock Erdenstoff in den Saft der Traube wandelt, schlechthin das Geheimnis des Lebens selber abbildet. Ich hörte kürzlich, daß ein rheinischer Pfarrer über den Einfall gespottet habe, in eine Abendmahlsordnung solche „naturwissenschaftliche Belehrungen" einzufügen. Ich kann umgekehrt in dieser spöttischen Bemerkung nur ein erschütterndes Zeichen für die völlige Blindheit sehen, mit der heutige Theologen der Natur gegenüberstehen können. Wie wollen Sie denn Ihren Kindern etwa von Engeln erzählen, wenn Sie bei diesen Kindern die Meinung nicht erschüttern können, „wirklich" in vollem Sinn sei nur das, was man betasten und wenn möglich photographieren und phonographisch aufnehmen kann? Muß da nicht alles wie Engelserscheinungen, Gottesrufe, Verklärungen und so weiter zu einem „Gespenst" werden, das heißt zu einem Gespinst der Einbildungskraft, das nur in der menschlichen Seele eine scheinbare Wirklichkeit hat? — Wir fangen wieder an zu begreifen, daß es Bewußtseinszustände gibt, in denen wir anders und anderes aufnehmen, in denen wir sozusagen hinter den Vorhang schauen, in denen 274

sich uns eine Tiefenschicht der Wirklichkeit erschließt, die mit naturhaften Kategorien nicht zu erfassen ist. Sie begreifen, daß ich damit nicht einfach die Erweiterung unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes durch die Erforschung sogenannter okkulter Erscheinungen im Auge habe — obwohl wir in der Tat, wenn wir ernstlich von Telepathie, Telekinese, Levitationen und ähnlichen Tatsachengruppen wissen, mit dem Wort „unmöglich" sehr viel vorsichtiger und sparsamer werden. Aber nicht das ist entscheidend. Materialisationsphänomene sind keine Engel, und Clairvoyancen sind etwas anderes als die „Schauungen" des „Sehers". Es handelt sich vielmehr um die Ahnung von ganz anderen Erlebnisbereichen und ich glaube, daß nur, wer davon wenigstens von ferne ahnt, den biblischen Wundergeschichten überhaupt gerecht werden kann. Die Männer der Bibel haben dann freilich, indem sie berichteten, was ihnen widerfahren war, nicht anders davon erzählen können, als indem sie scheinbar ein äußeres Ereignis in der physischen Welt vermeldeten. Welche Erlösung, welche unerhörte Befreiung, wenn wir mit diesen Möglichkeiten ernsthaft rechnen und den Bann einer naturalistischen und materialistischen Begrenzung des Wirklichen und Erfahrbaren endgültig zerbrochen haben! Noch viel schwerer freilich liegt eine andere Hemmung auf uns. Wir haben das Äußere und das Innere auseinandergerissen. Wir haben das Körperliche und das Geistige geschieden, als ob es zwei Welten wären; und wir haben ganz naiv die Meinung genährt, als ob Gott eigentlich nur mit der Welt sogenannter Innerlichkeit oder Geistigkeit etwas zu tun habe. Ich brauche Ihnen nicht einen Geschichtsvortrag darüber zu halten, wie diese spiritualistische Denkweise aus der Spätantike in das Christentum eingebrochen ist und wie sie dann in den herrschenden Gestalten der neuzeitlichen Philosophie zum vollen Sieg gekommen ist. Haben wir uns nicht alle daran gewöhnt zu meinen, daß in der äußeren Welt, in der Welt der körperlichen Erscheinung, alles nach dem Gesetz strenger Kausalität abrolle und daß Gott es nur mit der „Seele" zu tun habe und daß nur in dieser Seele und an dieser Seele „Wunder" geschehen können? Aber damit haben wir uns ja das Verständnis nicht nur für die Wundergeschichten, sondern für die ganze Botschaft der Bibel radikal verbaut. Für die Bibel wirkt sich ebenso wie das Werk des Teufels auch das Werk des Christus auch in der leiblichen Sphäre aus. Leibliche Krankheit ist eine Erscheinungsform der widergöttlichen Macht nicht minder als die „Sünde", und darum gehört leibliche Heilung zu den Christuswerken, an denen offenbar wird, daß ein Stärkerer in das Reich des Satans eingebrochen ist. Die Wunder sind eine Form, wie der Geist Gottes in der konkreten und leibhaften irdischen Welt sich bekundet und ausspricht. Die275

ser Geist Gottes hat freilich mit dem menschlichen Geist, mit seiner geistigen Innerlichkeit, nicht mehr zu tun als mit der menschlichen Leiblichkeit; er ist vielmehr die Schöpfermacht Gottes, die eine neue Welt ins Dasein ruft. — Sie haben die Geschichte von der Sturmstillung als Beispiel dafür angeführt, daß Sie manche Wunder Ihren Kindern nur in einer symbolischen Deutung nahebringen können; darum möchte ich gerade an diese Geschichte anknüpfen. Haben Christus und die Natur etwas miteinander zu tun? Ich meine nicht nur in dem Sinn, daß Jesus gerne von der sprießenden Saat und den blühenden Lilien geredet hat, sondern so, daß die Erscheinung Christi und sein Erlösungswerk auch in die Welt der Natur hinein etwas bedeuten. Hier tut sich einfach eine völlig andere Naturbetrachtung, freilich auch ein ganz anderes Christusverständnis auf, ein Christusverständnis, wie es etwa der Kolosserbrief als selbstverständlich voraussetzt. Luther hat, wie Sie vielleicht wissen, über jeden der drei Glaubensartikel das Wort „Jesus" geschrieben; auch die Welt der Schöpfung hat einen neuen Namen und das heißt einen neuen Herrn bekommen. Nur deswegen sind wir nicht mehr in Angst und Ohnmacht den Elementen dieser Welt unterworfen, weil Christus der Herr ist auch über die Naturmächte. Ich möchte also gerade diese Geschichte nicht mehr symbolisch deuten, wie ich es selbst durch Jahre hindurch getan habe, sondern möchte gerade an dieser Geschichte den Kindern eine Ahnung davon erschließen, daß es einen Sinn gehabt hat, wenn Franz von Assisi auch den Tieren gepredigt hat und von Sonne, Wasser und Erde um Christi willen als von seinen Brüdern und Schwestern geredet hat. — Ich weiß, daß sich dieser Weg sehr weit entfernt von dem, was auch heute noch zumeist über das Wunder gesagt wird, und ich weiß aus Erfahrung, welche Erschütterung es für die meisten heutigen Menschen bedeutet, wenn ihnen diese biblische Verkündigung zum erstenmal ernsthaft begegnet, daß wir nicht von unserem Leib und von der Natur erlöst werden sollen, sondern daß unser Leib auferstehen soll und daß die Natur selber auf ihre Erlösung wartet. Aber ich kann Ihnen auch das andere bezeugen, daß unsere Kinder im allgemeinen viel offener für diese Botschaft sind und daß sie, noch ganz anders in der Einheit des Lebens und der Welt wurzelnd, es viel leichter als die Erwachsenen als Evangelium vernehmen, daß Jesus Leiber gesund gemacht und dem Sturm und den Wellen geboten hat. Aber damit bin ich eigentlich schon bei dem Letzten angelangt, was ich Ihnen sagen möchte. Es handelt sich bei dem biblischen Wunder um eine Verheißung, die über dem leiblichen Leben und dem ganzen irdischen Geschehen aufleuchtet. Es ist etwas ganz Neues, was hier anhebt, wie die Morgenröte eines neuen Tages. Der Ausdruck, den die Bibel am liebsten 276

von dem Wunder gebraucht, ist das „Zeichen". Es ist aber eben nicht nur ein Zeichen der göttlichen Allmacht, sondern es ist ein Zeichen des Gottes, der die Menschheit erlöst und der eine neue Welt erschafft. Die ganzen Wunder des Neuen Testaments hängen unauflöslich mit dem einen Wunder zusammen, daß Christus der „zweite Adam", der Erstling einer neuen Schöpfung ist. In den Wundern wird gleichsam mitten in der irdischen Situation vorweggenommen das Kommende, zu dem wir berufen sind. Das aber ist der schwerste und finsterste Bann, der auf unserer ganzen Naturbetrachtung lastet, daß wir diese Welt, so wie sie ist, als etwas Letztes und Endgültiges empfinden, und daß darum ihr Todesschicksal, das ja nicht bestritten werden kann, uns höchstens mit der Stimmung tragischer Vergänglichkeit anmutet. Ich habe meinen Schulkindern oft erzählt, daß ich als Kind die Sonne, wenn sie am Abend niedersank, so daß man ihren Glanz ertragen konnte, immer als ein Fenster empfunden habe, durch das der unvorstellbare Glanz einer anderen Welt hereinflutet. Daran habe ich versucht ihnen deutlich zu machen, was ein Wunder ist. Ich könnte auch sagen ein „geöffnetes Fenster nach Jerusalem", nämlich nach dem Reich der jenseitigen Vollendung, wo alle Schwachheit, Verkümmerung und Verkrüppelung der Leiber und der Seelen abgetan sein wird. Man kann das, wie ich meine, am ergreifendsten spüren etwa an der Verklärungsgeschichte. Der ganz zum Licht gewordene Christus: das ist ein stammelnder Ausdruck für den Christus der himmlischen Herrlichkeit. Und nun: Wir werden ihn sehen, wie er ist! Erst von hier aus kann man sinnvollerweise die Auferstehungsgeschichte erzählen und verdeutlichen. Solange wir in der alten Naturbetrachtung befangen sind, kommt uns ja immer das Wörtlein „wieder" über die Lippen, als ob es sich hier in irgendeinem Sinn um eine Rückkehr ins irdische Leben, um ein Ungeschehenmachen des Todes handelte, während es doch der Anbruch des ganz Neuen und das Hereinwirken einer zukünftigen Herrlichkeit in den irdischen Lebensraum ist. Seit ich einmal erlebt habe, wie von diesem einen Punkt aus nun den Kindern ungeheure Zusammenhänge sich auftun, warum die Kirchen nach Osten gebaut sind, und warum wir den Sonntag und nicht den Sabbat halten, und warum wir Christus den Morgenstern und nicht den Abendstern nennen, seither weiß ich ein für allemal, daß das der entscheidende Weg ist, auf dem wir unsere Kinder an die biblischen Wunder heranführen müssen. Und all die Schwierigkeiten, die sich auf diesem Wege bergehoch auftürmen, werden mich nie mehr in der Sicherheit und Freude dieses Weges irremachen. Das ist nun eine lange Epistel geworden. Ich kann mir wohl denken, daß Sie nun erst recht zu fragen anfangen, daß nun ein Wunder um das an277

dere vor Ihrer Seele steht und daß Sie versuchen, wie man diese Wunder wohl einteilen und welcher Gesichtspunkt der richtige für jedes ein2elne sein könnte. Ich freue mich darauf, wenn uns einmal ein Gespräch darüber geschenkt wird. Aber lassen Sie es für heute damit bewenden, daß ich Ihnen Rechenschaft darüber gab, wie ich auch in dem Verständnis der Wunder aus dem Gefängnis einer unfrommen Naturbetrachtung herausgeführt worden bin und den Weg ins Freie gefunden habe, in das freie Land Gottes.

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DER GLAUBE AN DEN ERLÖSER (1934) 1. ICH BIN Wenn die Stunde der Offenbarung geschieht, dann wird das rätselvolle „Es", von dem alle Weisheit raunt, zu einem „Ich", das uns anredet und aufruft. Dann blickt aus allem Dunkel, aus allen Nächten und Rätseln das ewige Auge uns an. Dann tritt unsrem furchtsamen und stolzen, unsrem selbstgefälligen und verzagten menschlichen Ich das ewige „Ich bin" Gottes in den Weg, und keine Frage kann dann so dringlich sein wie die Frage des Menschen, der von solchem Blick und solchem Ruf getroffen ist: Wer bist du? Der Brief an die Hebräer schaut den Unterschied des Alten und des Neuen, der Welt vor Christus und der in Christus angebrochenen neuen Welt, in dem Bild der beiden heiligen Berge: Sinai und Zion. Heilig ist der Berg Sinai, und um seiner Heiligkeit willen darf kein Mensch und kein Tier an ihn rühren, und das Volk verhüllt sein erschrockenes Auge. Heilig ist der Berg Zion; aber auf ihm hat Gott seine Stadt erbaut, in der Menschenkinder wohnen dürfen in dem Licht seiner Gnade und der Lobgesang unvergänglicher Freude nie verstummt. Auf beiden Bergen redet der Ewige und offenbart sein Wesen: Ich bin. Wenn die Offenbarung geschieht, dann tut sich der Vorhang hinweg von dem gänzlich Verborgenen. Und der, den kein Auge gesehen hat noch sehen kann, spricht zu denen, die ihn gesucht haben und spricht es zu denen, die ihn nicht gesucht und nicht nach ihm gefragt haben: Hier bin Ich, hier bin Ich! Aber es ist ein anderer „Ich bin", der auf dem Berge Sinai und der auf dem Berge Zion redet. Unnahbar und unheimlich, voll zornigen Anspruchs, wie der von Blitz und Donner umrauschte Gipfel des Wüstenberges dröhnt das Wort: Ich bin der Herr dein Gott. Der „Ich bin" reißt die Kluft auf zwischen sich und aller Kreatur, und dieser Abgrund spaltet den Boden, auf dem der arme erschrockene Mensch steht: Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen. Der „Ich bin" vom Sinai verkündet in Blitz und Donner das Gesetz: „Nun spricht der Ewige: Ich will, ihr sollt." Und hinter einem jeden Gebot steht die Majestät des zürnenden und strafenden „Ich bin". Durch den Mund des Menschensohnes kommt zu den Menschenkindern der andere „Ich bin" und macht sein verborgenes Wesen offenbar. Nicht 279

daß von neuem das Auge sich schließt vor unerträglichem Glanz, sondern daß das Auge ganz aufgetan wird zu schauen, immer neu, immer tiefer hinein, immer höher hinauf zu schauen. Der „Ich bin" des Neuen Bundes steht nicht auf unzugänglichen Felsen, der durch unübersteigliche Klüfte von dem Land der Menschen getrennt ist. Er hat selbst die Gestalt des Menschen angenommen, und er macht das menschliche Leben und die Kreatur um ihn her zu seinem Gleichnis. Mit den kleinen Dingen unsres menschlichen Alltags verbindet sich der Menschen- und Gottessohn und macht sie zum Gewand, das sein Geheimnis umschließt.

Ich bin das Licht Am ersten Schöpfungsmorgen sprach der Herr Es werde Licht. Und da sich das Licht schied von der Finsternis, ward „unsres Herren erster Tag". Da es sich „lichtete" über der wüsten Erde, da ward im Beginn das Chaos zu einer geordneten Welt. Inbrünstig lieben wir das Licht und können uns nie satt trinken an seinem Wunder. — Licht ist Flamme. Flamme ergreift den trüben Stoff und verzehrt ihn, also daß die Flamme seines Opfers leuchtet als Licht. In der Flamme des Lichtes wird das Trübe geläutert und das Schwere emporgerissen. Der dichte und harte Stoff wird über sich selbst hinausgehoben in geheimer Wandlung zu dem durchsichtig schwebenden Wunder des Lichts. — Licht ist Kampf. Das Licht scheint in der Finsternis. Sieh, wie selbst das arme kleine Kerzenlicht das Dunkel des nächtlichen Raumes erobert. Unversöhnliche Feindschaft ist zwischen Licht und Finsternis; aber wo Licht ist, da flieht die Dunkelheit. „Ich bin das Licht." Das himmlische Feuer hat die Menschheit entzündet und sich den Menschensohn bereitet, an dem alles Irdische ganz geheiligt, ganz durchscheinend, ganz jenseitig geworden ist, und in diesem brennenden und scheinenden Licht erscheint der ewige „Ich bin". Das Licht scheint in der Finsternis, und es macht die unheimlichen Schatten offenbar. Wer den Raum seines Lebens diesem Licht verschließt, der hat sich mit der Finsternis verbündet und muß ihre ewige Verdammnis tragen. Die aber das Licht erwählen, werden selbst verwandelt in das Licht. Kein Licht ohne Opfer und Wandlung. Alle Welt und alles Menschenwesen ist dunkler Stoff, der darauf wartet, verklärt zu werden. Aller Erdenraum wartet darauf, von dem Christuslicht erobert zu werden. Und wo der „Ich bin" sein Machtwort spricht „Es werde Licht", da ist der Morgen der zweiten Schöpfung angebrochen. 280

Ich bin das Brot Gesät ins dunkle Erdreich, gewachsen zum Licht, gereift unter Sonne und Regen, gemäht mit hartem Schnitt, gedroschen und zermahlen, neu zusammengefügt zum Brot, zerteilt und gebrochen: Also ist das liebe Brot, das Gott uns gibt, unsren Leib zu nähren. Im Brote wird die Erde zum köstlichen Geschenk. Im Brote empfangen wir das Leben der Erde als ein Opfer, das uns zugute gebracht wird. Im Brote geht das Leben dieser Erde in uns ein und wandelt sich in menschlichen Leib, wird Blut und Nerv, wird Auge, Fuß und Hand, wird Anmut und Kraft: Von Erde bist du genommen und empfängst im täglichen Brot das Opfer der Erde. „Ich bin das Brot." — „Dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben." In diesem Himmelsbrote empfängt die Menschheit das Opfer Gottes. Gott selber geht ein in das menschliche Leben auf Erden. Der Leib des Gottessohnes wird gebrochen, und sein Blut strömt auf die Erde. Er will empfangen werden als die geheimnisvolle Speise, die uns das Leben rettet und erhält. Ich bin das Brot, das heißt, ihr dürft, ihr sollt mich „zu euch nehmen" wie euer tägliches Brot. Ich will in euch eingehen und mich wandeln lassen in euer Leben. Ich will Leben wirken in eurem Fleisch und Blut, in euren Gedanken und euren Trieben, in eurem Werk und in eurer Liebe. Der Herr des Himmels steigt von seinem erhabenen Thron und bereitet uns den Tisch, auf dem sein heiliger Leib für uns gegeben wird Daß wir nimmer des vergessen gab er uns sein' Leib zu essen, verborgen im Brot so klein und zu trinken sein Blut im Wein. Formme Sitte zeichnet den Laib Brot, ehe der Hausvater ihn den Seinen teilt, mit dem Zeichen des Kreuzes. Denn durch Christus ist das Brot ganz heilig geworden; nun ist der Heilige unser tägliches Brot geworden. Der „Ich bin" ist unser Brot. Ich bin der Weinstode Im Weinstock schauen wir an das Geheimnis des pflanzlichen Lebens, und in dem Saft der Traube alle edle Frucht, die da wächst auf Baum und Strauch. Der Weinstock ist gewurzelt im Erdreich und empfängt die Kräfte der Erde. Er streckt sich aus und wächst zum Licht und empfängt die Kraft der Sonne. Die Rebe am Weinstode darf leben und fruchtbar sein. In der Rebe am Weinstode wandelt sich Erde in den Saft der 281

Traube. — Die Pflanze ist das Urbild organischen Wachstums. Sie wächst empor zwischen Erde und Himmel, und in dem unzerstörten Zusammenhang aller ihrer Zweige mit dem Stamm strömt das Leben, reift die Blüte zur Frucht. Die Frucht aber umhüllt und birgt den Keim eines neuen eigenen Lebens. „Ich bin der Weinstock." Der „Ich bin" hat sich selbst mit seinem Leben in diese Erde eingesenkt. Mit Fleisch und Blut hat er Wurzeln in den Menschheitsboden getrieben. Nun wächst auf Erden der heilige Stamm nach dem in ihm wohnenden Gesetz durch die Kraft, mit der er von oben begnadet wird. Aus seinem göttlichen Wuchs sprießen tausend Äste und Zweige, Zweiglein und Blätter und werden gesegnet mit Gedeihen, weil sie Äste am Baum, Reben am Weinstock sind. Einsam müssen sie verwelken und verdorren. Aber weil sie ganz und gar an Ihm leben, darum strömt aus verborgenen Tiefen und Höhen immer neue Kraft auf ihren Lebenstag. — Und dies ist der heimliche Segen ihres Lebens, daß die natürlichen Kräfte, die gespeist werden aus Boden und Blut, gewandelt werden zur köstlichen Frucht, zu der Frucht, die der himmlische Herr in seinem Weinberg sucht. Die Frucht aber ist der mütterliche Schoß, der neues Leben in sich trägt. „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein." In Christo sein, das heißt leben, Blüte und Frucht sein an dem Weinstock himmlischen Lebens, den Gott in den Ackerboden der Welt gepflanzt hat. Der süße Wein des Geistes und der Liebe ist eine durch Christus gewandelte Menschennatur.

Ich bin der Hirte Der Hirte sammelt seine Herde. Er kennt die Tiere seiner Herde, und sie kennen die Stimme des Hirten. Der Hirte führt seine Herde. Er führt sie zur nahrhaften Weide und führt sie zur Tränke. Eine gefühlvolle Zeit, die von Hirtenpoesie träumte, hat nicht mehr gewußt, wie ernst und verantwortungsvoll das Amt des Hirten ist. Er sucht das Verlorene. Er hegt das Schwache, er pflegt das Kranke, und er schützt mit Leib und Leben die Herde vor dem wilden Tier, das nach ihr lüstern ist. In allem menschlichen Amt, dem fremdes Leben, Leib und Seele anderer Menschen befohlen sind, lebt etwas von dem schweren Dienst, von der heimlichen Würde des Hirtenamtes. In Vater und Mutter, in Lehrer und Meister, in dem Führer des Volkes und in dem Seelsorger vor allem, den wir den Pastor, den Hirten heißen. „Ich bin der Hirte." Wer Christus begegnet, weiß sich von seinem unbestechlichen Blick durchschaut, erkannt in seinem Innersten und Ge282

heimsten, gerufen bei seinem Namen. Christus und unser innerstes Wesen „erkennen" einander wie Liebende einander erkennen, als seien sie sich von Ewigkeit her vertraut. Der Ruf Christi bindet die einsamen Seelen zur Gemeinschaft zusammen. Wer sich entschlossen der Führung dieses Hirten anvertraut hat, in dem wandelt sich alle Furcht und Sorge in ein tiefes und heiliges Gefühl der Geborgenheit. Suchen wir nicht alle jenen Frieden, in den sich unsre Kinder bergen: „Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten..." Der „Ich bin" selber ist der Hirte und Hüter unsres Lebens, und mit dem Opfer seines Lebens besiegelt er den Ernst und die Treue seines Hirtenamtes. Ist es ein Zeichen von weichlicher Schwäche, vom guten Hirten zu reden? Vielleicht muß ein jeder versucht haben, sein eigener Hirte zu sein. Vielleicht hat ein jeder versucht, der unerbittlichen Liebe zu entrinnen. Wir haben ihn nicht zu unsrem Hirten erkoren. Er wartet, bis wir ihn sein lassen, was er ist: „Ich bin der Hirte."

Ich bin die Tür Die Tür scheidet Raum von Raum. Wer die Tür auftut und tritt über die Schwelle, der verläßt den Raum in dem er war, und geht ein in den neuen Raum, der sich vor ihm auftut. Die Tür scheidet, die Tür verbindet. — Durch wie viele Türen sind wir geschritten: und es war doch ein Raum wie der andere. Durch wie viele Türen sind wir geschritten, in Hütten, in Paläste. Wie viele Türen haben sich uns aufgetan: auf Straßen hinaus, in Gärten und in heimliche Kammern. Aber hinter jeder Tür war eine andere Tür, und die Tür, von der das Märchen erzählt, die Tür, hinter der alle Schätze von Gold und Kleinodien liegen, haben wir nicht gefunden. „Ich bin die Tür." Wir müssen durch den „Ich bin" selber hindurchgehen. Keine Tür in aller Welt scheidet so vollkommen Raum von Raum. Keine Tür in aller Welt öffnet so völlig den Zugang. Den Zugang wohin? Christus ist die Tür, durch die wir zu uns selber kommen. Wie oft war die Tür verschlossen, oder unser Fuß zögerte an der Schwelle, wenn wir unser eigenes innerstes Wesen suchen und finden wollten. Nur das Gotteskind schreitet sicher über die Schwelle. Nur wer die Christustür des Gehorsams und der Demut erwählt, findet wirklich heim zu sich selbst. Christus ist die Tür, durch die wir zu unsrem Bruder kommen. Wie oft war uns diese Pforte peinvoll verschlossen, und wie oft sind wir durch 283

die Tür des Zornes und der Gewalttat, durch die Tür der Lüge oder die selbstsichere Begierde in den Lebensraum des anderen Menschen eingebrochen. Wer durch die Christustür der Liebe geht, der hat wirklich den engen Raum seines Ich verlassen und hat 2x1 dem anderen gefunden. Und diese Tür steht immer offen. Christus ist die Tür, durch die wir zu Gott kommen. Beten in Jesu Namen, das heißt durch ihn, durch ihn hindurch zu dem Vater gehen. Unser denkender Verstand, unser eigener Machtwille, unsre Tugenden und Leistungen sind verschlossene und verriegelte Türen in dem Gefängnis der Welt. Christus ist die Tür, die in die Freiheit führt, in die Freiheit der göttlichen Gnade. Man muß es lernen, und man muß es üben, durch diese Tür zu gehen.

Ich bin der Weg Beglückt erspäht unser Blick in der Wirrnis den Weg. Freudig spürt der Fuß den sicheren Weg unter sich. Voll Vertrauen begeben wir uns auf den Weg, den guten Weg, der das Ferne an das Nahe bindet und eine Brücke schlägt über den Abgrund des Kammes, vom Hier zum Dort, vom Anfang zum Ziel. Was kümmern uns die lockenden Stimmen zur Rechten und zur Linken? Uns bindet der Weg. Wie könnten uns Dickicht und Abgrund zur Seite ängstigen? Uns trägt der Weg. Wie könnten wir verzagen in Mühsal und Hitze, unter der Mattigkeit der Glieder und unter der Last der verrinnenden Stunden. Wer den Weg hat, kommt endlich ans Ziel. „Ich bin der Weg." Durch das Dickicht und das Dorngestrüpp aller menschlichen Irrungen und Leidenschaften zeigt der „Ich bin" sich selbst als Weg, als den Weg. Kein anderer Weg führt durch die Wüste der Städte, durch die Wüste des Hasses, durch die Wüste der Angst und der Schuld. Es ist der ewige Weg der Liebe, des Leidens und des Opfers. Es ist der Kalvarienweg, der keine Leidensstation erspart. Er ist der Weg der Einsamkeit und der Tränen, der Weg der Anfechtung und der blutenden Wunden. Er ist der Weg, der aus volkreichen Straßen der Stadt hinausführt zu dem Richtplatz Gottes. Er ist der Weg, der durch alle Leiden hindurch zum Sieg und zur Vollendung führt. Am Ende des Weges, oben auf dem Gipfel des Kalvarienberges, steht das Gnadenbild. Und wer dort anlangt, läutet die Glocke der Danksagung. An jedem Wege steht — sichtbar oder unsichtbar — das Kreuz. Das Wegkreuz gibt jedem Weg seinen letzten Sinn: daß wir Christus erwählen als unsern Weg; daß wir unsern Weg gehen als den Christusweg.

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Um den Weg wissen ist gut. Den Weg gehen ist nötig. Er aber spricht: „Ich bin der Weg." Und die ihm nachfolgen, werden selber zu einem Stücklein Weg in dem Dunkel und Dickicht der Welt.

Ich bin das Leben Was sind alle Güter, die wir unser eigen nennen, was alle Schönheit der Welt, was alle Freuden unsres Herzens gegen das eine, daß wir leben! Als ein täglich neues Wunder empfangen wir dieses unerhörte Geschenk. In dem lebendigen Spiel der Glieder, in dem Schreiten unserer Füße, in dem pochenden Herzschlag, in dem Rauschen des Blutes, in dem Klang unsrer Stimme erfahren wir mit immer neuem Staunen und überströmender Freude unser lebendiges Leben. In dem fröhlichen Krähen des Säuglings in der Wiege, in dem Spiel des Kindes, in dem Tanz gelöster Glieder, in der Umarmung der Liebenden, aber auch in dem schöpferischen Werk des Künstlers und in dem Kampfruf des Helden feiert das Leben sein brausendes Fest. Noch in dem verkrüppelten Leib des Siechen, noch in dem Seufzen des von Schmerzen Zerrissenen bäumt sich das Leben auf gegen den Tod. Leben ist Freude. Leben will dauern. Leben will nichts als lebendig sein. „Ich bin das Leben." Der „Ich bin" macht nicht den Tod, sondern das Leben, das blutwarme Leben, zum Gleichnis seiner selbst, zum Ort, da er erscheinen will mit seinen Gnaden. Nicht die Befreiung vom Leben, nicht irgendein Schattenreich jenseits des Lebens ist der Ort seiner Ehre, sondern das Leben selbst. Der „Ich bin" ist der Lebendige. Das Heil ist das Leben. Das Leben ist nicht wert gelebt zu werden, wenn es keinen Sinn hat. Das bloße Dasein, die vitale Kraft allein mag der Pflanze, mag dem Tier gemäß sein. Über dem Menschen, der nichts aufzuweisen hätte als die strotzende Kraft der Muskeln, als das Feuer seines überschäumenden Blutes liegt die tiefe Traurigkeit eines beschämenden Widersinns. Denn der Mensch muß fragen nach Sinn und Ziel. In das strotzende Leben fährt gewalttätig durchkreuzend die Frage nach der Wahrheit. Denn den Menschen schuf der „Ich bin", daß er sein Bild sei auf Erden. — „Ich bin die Wahrheit." Es heißt nicht „Ich sage die Wahrheit", nicht „Ich bringe die Wahrheit". Diese Wahrheit kann man nicht wissen oder haben, und man kann sie nur erkennen, indem man sich ihr verbündet und von ihr gewandelt wird. Die Wahrheit des Lebens erscheint nur im Leben. Darum offenbart der Ewige die Wahrheit nicht in Spruch oder Buch, sondern in dem lebendigen Sein des Sohnes, in dem der Vater angeschaut 285

und empfangen wird als Speise und Trank. „Ich bin die Wahrheit und das Leben." Der tote Stein liegt nur kraft seiner Schwere auf seinem Boden. Das erstorbene Blatt wirbelt der Sturm dahin und dorthin. Die lebendige Pflanze aber streckt ihre Wurzeln ins Erdreich, und ihre Blätter und Blüten saugen aus Luft und Licht ihre Grüne und allen Reichtum ihrer Farben. Alles Leben strömt in dem lebendigen Kreislauf. Leben holt Kräfte aus dem Unten und aus dem Oben. Leben streckt seine Zweige wie menschliche Hände nach rechts und nach links. Leben ist Liebe. Eingesperrt sein in das selbstherrliche und eigenmächtige Ich, nicht da sein für Brüder und Schwestern, das ist der Tod. Aber empfangen und gewähren, beschenkt werden und selber sich verschenken, ringen mit dem Widerstand, reich werden aus Härte und Güte des anderen und selber als Brot gebrochen werden, von dem Menschen satt werden: das ist das Leben. Darum heilt Christus den Blinden, daß er sehen kann, den Tauben, daß er hören kann, den Stummen, daß er reden kann, den Lahmen, daß er gehen kann: Die Auferweckung des Toten zum Leben und zur Liebe, das ist sein Werk. Haß ist Tod. Der „Ich bin" ist die Liebe. Der „Ich bin" ist das Leben. Leben ist täglich und stündlich im Kampf mit dem Tode. Über alles Lebendige ist mächtig der Tod „dem kein lebender Mensch entrinnen mag". Der Weg des Lebens führt zu einem unerbittlichen Ende, und hinter jeder Hoffnung lauert das Grauen des Todes. — Christus wäre nicht das Leben, wenn er nicht auch den Tod auf sich genommen hätte. Fassungsloses Staunen hat durch die Jahrhunderte immer neu gerungen, in Passionsliedern und Kreuzigungsbildern, in dem „Vesperbild" der um den göttlichen Sohn trauernden Maria, um dies unergründliche Geheimnis „Gott selbst ist tot". Nein, anders muß es gesagt werden: Der „Ich bin" ist auch im Tode. Aber in diesem letzten Triumph wird die Ohnmacht des Todes offenbar. Die Grenze des Menschen ist nicht die Grenze Gottes. Vom Leben zum Tode, das ist der Weg des Menschen. Aber vom Tod zum Leben, das ist der Weg Gottes. Der „Ich bin" ist die Auferstehung. Wer an Christus Anteil gewinnt, ist „aus dem Tode ins Leben gekommen"; weil er sich vor dem Tode nicht fürchtet, wagt er mit Freuden zu leben. Der „Ich bin" ist die Speise des zukünftigen Lebens. Er ist der Kelch des immerwährenden Heils. Er ist die Pforte des unzerstörbaren Sieges. Er ist das Licht, das von keiner Dunkelheit verschlungen wird. Er ist die Auferstehung und das Leben. 286

2. DER K O M M E N D E HERR Das Kommen Christi geht durch die Zeiten. Er ist der kommende Herr vom Anbeginn der Welt bis zum Ende aller Tage. Das Kommen Christi, die „Zukunft" des Herrn, ist der heimliche Sinn der Geschichte. „Im Anfang war das Wort." Von allem Anfang an im verborgenen Grund und Beginn alles Geschehens ist das Wort, das der ewige Gott seiner Welt sagt; das uns zugewendete Angesicht des unsichtbaren Gottes. Gott teilt sich selber mit an seine Welt. Gott hat in alles sich selbst hineingegeben. Gott ist als der Sohn gegenwärtig in allen Seinen Offenbarungen. — „Durch Ihn ist alles geschaffen, das im Himmel und auf Erden ist." Wie könnte etwas sein, das nicht durch das Wort des Vaters ins Dasein gerufen wäre, nicht durch das Opfer Seiner Liebe Bestand hätte. Darum ist das Licht Sein Gleichnis. Darum ist der Weinstock Sein Gleichnis. Darum ist das Brot Sein Gleichnis. Es ist alles in der heimlichen Tiefe mit ihm verbunden und gezeichnet mit dem Zeichen des Menschen sohnes. „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde." Der Mensch aber, der ganz zum Bild des Vaters auf Erden geworden ist, das ist der Gottmensch, der Menschensohn und Gottessohn. Darum ist der Mensch von Anbeginn zu Ihm geschaffen und ist unterwegs zu Christus, dem Gottes- und Menschensohn. Da Gott der Herr Adam schuf, meinte er Christus. Das ist das erste Kommen Christi. Ganz in der Verborgenheit, so wie Blätterwerk, Blüte und Frucht verborgen sind in dem Samenkorn, das in die Erde gelegt ist. Abraham empfing die Verheißung und ging um dieser Verheißung willen aus Vaterland und Freundschaft durch die weite Wüste zu dem Land, das ihm bestimmt war. Darum nennt ihn die Schrift den Vater aller Gläubigen. Der Glaube aber, der der Verheißung traut, sieht über alle Abgründe des Raumes und der Zeit das endliche Ziel. Abraham sah „Meinen Tag und freute sich". — Abraham ward gesegnet von Melchisedek, dem König von Salem, der brachte ihm Brot und Wein und war ein Priester Gottes des Höchsten. Darum leuchtet in ihm auf die Ahnung eines königlichen Priestertums, das sich selbst darbringt als Brot und Wein. In solchem Vorbild begegnet Er selbst, der himmlische Hohepriester, dem Vater der Gläubigen. Abraham und Melchisedek führen die lange Reihe derer an, die mit der inbrünstigen Schau ihrer Seele gerichtet waren auf den kommenden Tag, und die in ihrem eigenen Leben und Leiden ein Schatten waren der zukünftigen Dinge: „die lieben Propheten all" und die kämpfenden, leidenden, opfernden Gottesstreiter. Sie reden von der Wurzel in dürrem Erd287

reich, von dem heiligen Sproß, von dem neuen Bund und dem neuen Tempel, von dem leidenden Gottesknecht und einem ewigen Reich. In ihren Gesichten, aber auch in ihren Wunden und Tränen und in ihren Hoffnungsbildern kommt Er zu dem Volk, aus dem Er den Schoß Seiner Geburt bereiten will; so wie der Tag kommt in dem einsamen Gesang des Vogels in der Nacht. Aber in aller Welt kommt er in dunklen Ahnungen frommen Glaubens, in heiligen Bildern vom leidenden Gott und von dem endlichen Sieg des Lichtes. Das ist das andere Kommen Christi. Als die Zeit erfüllt ward, sandte der Vater den Sohn. Das Wort ward Fleisch. Der, durch den alle Dinge geschaffen sind, ward geboren aus dem Leibe der Maria. Er wohnte unter uns, und wir sahen Seine Herrlichkeit: das Ebenbild des unsichtbaren Gottes und den Abglanz Seiner Herrlichkeit. Er ist umhergezogen und hat wohlgetan. Er heilte die Kranken; Er trieb die Teufel aus und vollbrachte das Wunder der Wandlung. Nun ist der Ewigkommende nicht nur der Zukünftige. Er ist gekommen ins Fleisch und hat in der gefallenen und verderbten Schöpfung den Grund einer neuen Schöpfung gelegt. Der im Anfang war, ist eingegangen in die Geschichte, und die Geschichte hat ihre Mitte empfangen. Alle Jahre von Urbeginn sind Jahre vor Christi Geburt. Alle Jahre bis an den letzten Tag sind Jahre nach Christi Geburt. Das ist das Kommen Christi in der Zeit. Noch aber kommt er in Armut und Niedrigkeit. Er trägt den Leib des Todes und war gehorsam bis zum Tod. Aber durch das Opfer Seines Leibes hat Er den Tod überwunden. Durch die Pforte des Todes und durch die Kammer des Grabes geht Er zum Vater und empfängt den Namen, der über alle Namen ist und die Herrlichkeit, die Er bei dem Vater hatte „ehe der Welt Grund gelegt war". Auferstehung ist nicht Rückkehr in das irdische Leben; sie ist Aufstieg und Eingang in das himmlische Reich. Aber die Leiblichkeit des Menschen ist nicht abgestreift wie ein bestaubtes und zerschlissenes Reisegewand, sondern sie ist „verklärt", das heißt, sie ist ganz zum durchscheinenden Licht, ganz Kraft und Herrlichkeit geworden. In dem Christussieg über Teufel und Tod ist der Morgen der anderen Schöpfung angebrochen. Mit dem Gruß „Der Herr ist auferstanden" grüßen sich die Gläubigen am frohesten Fest der Christenheit. Von Ostern bis Himmelfahrt brennt das Christuslicht in den Kirchen. Nun beginnt Woche um Woche durch die Jahrhunderte mit dem „rechten Sonnentag", weil das Grab dieser Welt gesprengt ist für das Leben der zukünftigen Welt. Er kommt in den Feuerflammen und dem brausenden Wehen des Pfingstfestes. Der Geist ist Sein Statthalter auf Erden. Er kommt in dem 288

Wort, das die Herzen wandelt. Er kommt in der Liebe, die dem Ärmsten und Geringsten Kunde und Zeugnis gibt von dem Erbe des Vaters. Er kommt in Seiner heiligen Kirche. Wo zwei oder drei versammelt sind in Seinem Namen, ist Er mitten unter ihnen, und in dem gebrochenen Brot und dem Kelch des Heils empfängt Ihn Seine Gemeinde als Speise und Trank. Der Lobpreis Seiner Kirche vereinigt sich mit der Anbetung der Engel: „Gelobet sei der da kommt!" Mitten in der Kette der Geschlechter, die von Adam her kommen und mit ihm aus dem Paradiese vertrieben sind, beginnt die Reihe der neuen Schöpfung, die mit Christus, dem zweiten Adam, ihren Anfang genommen hat. Die Kirche ist der Schoß, den Gott bereitet hat zur Stätte der neuen Geburt, und aus der Ihm ohne Unterlaß die Kinder geboren werden. „Ist jemand in Christo, siehe da: Hier ist neue Schöpfung." Der eingeborene Sohn des Vaters ist der Erstgeborene und hat viele Brüder gewonnen. Und in dieser Welt lebt das Christusvolk der Kinder und Erben. Aber noch tragen wir alle den Fluch, der durch Adams Fall über alles Fleisch gekommen ist: „trauernde, weinende, betrübte, elende Kinder Evä." Noch herrscht der Fürst dieser Welt und übt in Versuchung und Anfechtung, in Sünde, in Leiden und Tod seine grausame Macht. Noch ist das Leben derer, die in Christi Tod getauft sind, mit Ihm verborgen. Noch kann niemand die Herrlichkeit Christi sehen, dem nicht durch das Raunen des Geistes das Auge aufgetan ist. Noch scheint das Licht des Morgensterns an einem dunkeln Ort. Noch ist nicht erschienen, was wir sein werden. Noch muß sich aller Lobpreis des kommenden Christus wandeln zu inbrünstigem Flehen: „Ja, komm Herr Jesu." Aber „es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde". Der, dessen Geburt verkündet ist den Hirten in der Nacht, den der Vater selbst Seinem Auserwählten geoffenbart hat als Seinen Christus, der erschienen ist den glaubenden und liebenden Herzen, wird erscheinen aller Welt. Er kommt in den Wolken des Himmels. - Die Bibel redet nicht von der Wiederkunft Christi, sondern sie redet von seinem Kommen schlechthin, von seinem offenbaren Kommen in Herrlichkeit. Die Schöpfung wird vollendet, wie sie begonnen ist am ersten Tage. Das Chaos dieser Welt, in der das Oben und das Unten, das Licht und die Finsternis durcheinander wogen und die Teufel selbst in dem Gewand der Engel die Herzen verwirren und verführen, dies Chaos lichtet sich in dem Urteil des letzten Gerichtes. Dann wird Christus offenbar als das Licht aller Welt, als der letzte und allein gültige Sinn alles Lebens, als das Leuchten aller Sterne und das Blühen aller Blumen, als das Leben aller Welt. Dann werden alle Götzen offenbar in ihrer Nichtigkeit. Dann werden alle Götter dieser Welt von 289

ihrem Thron gestürzt. Dann gilt nichts als was in der Liebe getan ist. Dann leuchtet auf den Stirnen derer, die überwunden haben, der neue Name, der Christusname des erlösten und gewandelten Lebens. Dann ist das Kommen Christi vollendet. „Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unsres Gottes geworden und die Macht seines Christus." „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende." Auf den alten Bildern thront Christus als der himmlische König über dem siebenfarbenen Regenbogen. Der Bogen der göttlichen Treue ist ausgespannt über alles Land und alle Zeiten. Der ewige Ratschluß des Heils ist der Thron, der bereitet ist für Christus. Unter diesem Spannungsbogen lebt die Menschheit ihre Geschichte, leben wir unsren kleinen Erdentag: zwischen Anfang und Ende. Von Ihm kommen wir her, Er wartet auf uns am Ende. Nichts anderes haben wir zu erwarten, nichts anderes ist die Zukunft, die auf uns zukommt. Wir ergreifen uns selbst und das Leben unsres Volkes in dem abgründigen Ernst dieser weltenweiten Wahrheit, wir lassen uns nicht blenden von den Irrlichtern der vergehenden Welt. Aber gleich den Domen unsrer Väter, die in dem Dunkel der Tage mit dem strahlenden Auge ihres Chores nach Osten gerichtet sind, wandern wir dem Morgen des kommenden Tages entgegen. Diesem Christus als der ewigen Liebe Gottes geloben wir uns mit Leib und Leben, und um dieser übergroßen Hoffnung willen laufen wir täglich mit Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist. Dies und nichts anderes meinen wir mit dem Bekenntnis: „Ich glaube an Jesus Christus"

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DER GLAUBE DIE KIRCHE UND DAS ZIEL DER ZEIT (1935)

1. DAS GEHEIMNIS DER KIRCHE Wer um das Geheimnis der Kirche wissen will, muß sich in die letzten Reden Jesu versenken, die uns das Johannesevangelium berichtet. Denn das Geheimnis der Kirche ist das Geheimnis Christi. Wo der Herr seinen Jüngern das Verborgene seines Wesens enthüllt, da beschreibt er zugleich das verborgene Leben seiner Jünger. Jüngerschaft aber ist das Geheimnis der Gemeinde, das Geheimnis der Kirche. Diese Reden münden in ein Gebet, denn sie richten sich nicht eigentlich, wie irgendein anderes menschliches Wort, an einen Kreis von Menschen, sondern sie sind viel eher eine Zwiesprache des Sohnes mit dem Vater, ein Selbstgespräch des Sohnes vor dem Vater, der immer bei ihm ist. Und die Jünger dürfen mithörende, mitwissende, miterkennende Zeugen sein, wie die Engel Gottes hinauf- und herabsteigen auf des Menschen Sohn. Die kirchliche Überlieferung redet von diesem Gebet als dem hohenpriesterlichen Gebet Christi, und sie bezeichnet damit zugleich das innerste Geheimnis der Kirche. Denn die Kirche ist nicht ihrer selbst mächtig, sondern sie ist ganz und gar gehalten und getragen von der Liebe ihres Herrn. So wie priesterliche Fürbitte die Menschen samt ihrer Not und Schwachheit emporträgt, emporhält an das Herz des Vaters, so bringt der Hohepriester Christus seine Gemeinde Gott dar als ein heiliges und vollkommenes Opfer (Eph. 5, 25-27). Die Kirche ist die Welt, die mit Christus und durch Christus Gott geopfert wird. Sie ist das heilige Opferfeuer, das, von keines Menschen Hand entzündet, sondern durch das Himmelsfeuer des göttlichen Geistes entflammt, auf dem Altar dieser Welt brennt. Die Kirche entspringt keiner menschlichen Absicht, und sie zu bauen steht in keines Menschen Macht. „Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum meinen Herrn glauben oder zu ihm kommen kann." Es steht auch in niemandes Belieben, zur Kirche zu gehören oder nicht. Der äußeren Organisation, die sich Kirche nennt, kann man beitreten und man kann sich von ihr lösen. Zu der Gemeinde Jesu Christi aber gehören nur die, die der Vater dem Sohn gegeben hat (Joh. 17, 2). Alle Menschen gehören dem Vater, auch die es nicht wissen, auch die es nicht wollen. Aber die der Vater zur Erkenntnis des Sohnes geführt hat, die der Vater dem Sohne gegeben hat, daß sie seine Stimme 291

hören und im Bilde des Sohnes den unbekannten Gott erkennen, die sind die Glieder seiner heiligen Schar und Bürger mit den Heiligen. *

„Ich habe Deinen Namen offenbaret den Menschen, die Du mir von der Welt gegeben hast" (Joh. 17, 6). Der „Name" Gottes ist das Geheimnis, das von der Welt her verborgen war. Der Name Gottes ist das Geheimnis, das auf dem Grund aller Dinge schlummert. Aber es ist nicht an jedem Ort und zu jeder Stunde der Tiefenschau zugänglich, sondern es wird offenbar in der Menschwerdung des Sohnes. Es wird in Christus sichtbar als die ewige Liebe, die die Welt aus allem Jammer reißt. Das Geheimnis der Kirche ist die in ihr wirkende Erkenntnis. Erkenntnis aber ist gleich weit entfernt von einem toten Wissen um das, was einmal geschah, wie von der inhaltlosen frommen Stimmung und ziellosen religiösen Aufgeregtheit. Christliche Kirche ist nur da, wo in Christus angeschaut wird der zu uns kommende und uns heimsuchende Gott. Da ist die Kirche, wo Menschen erkennen, daß der Vater den Sohn gesandt hat (Joh. 17, 8. 25). Die Gewißheit, daß der Sohn im Vater und der Vater im Sohn lebendig ist (Joh. 14, 11), ist das helle Licht, an dem alle Lichter der Kirche entzündet sind. Diese Erkenntnis wandelte das Leben in der Tiefe. „Das ist das ewige Leben, daß sie Dich, der Du allein wahrer Gott bist, und den Du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen" (Joh. 17, 3). Diese Erkenntnis scheidet die Kirche von der Welt; und eben diese Erkenntnis schuldet die Kirche der Welt. Denn die Kirche weiß eben das, was die Welt nicht weiß. Eine Kirche, die nichts anderes zu sagen hätte, als was alle Welt sagt, wäre ohne Sinn und ohne Recht. Aber „sie sind nicht von der Welt, wie denn auch Ich nicht von der Welt bin" (Joh. 17, 14). Die Welt, wie sie ist, auch in ihrer Weisheit und in der edelsten Blüte ihres Menschentums, widerstrebt dem, was ihr und aller ihrer „Art" wesenhaft fremd ist. „Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb" (Joh. 15, 19). Darum steht die Kirche unter dem Haß der Welt. Aber indem sie den Widerspruch und den Haß der Welt auf sich zieht, entlarvt sie die letzte Not, die tiefste Sünde der Welt (Joh. 16, 8). Eben diese Welt ist der Ort der Kirche. Die Kirche ist nicht ein Ort der stillen Zuflucht. Die Sehnsucht, dem Jammer, der Bosheit, der Todesgestalt dieser Welt entnommen zu werden, kann in ihr nicht befriedigt werden. „Ich bitte nicht, daß Du sie von der Welt nehmest" (Joh. 17, 15). Wie könnte die Liebe des Vaters, der sich selber an das Kreuz dieser Welt hingibt, erkannt und bezeugt werden von denen, die den Haß dieser Welt mit Haß vergelten, oder in der Angst vor dem Leiden dieser Welt entfliehen wollen. „Gleichwie Mich der Vater gesandt hat, so sende Ich euch" (Joh. 20, 21). 292

Das Glaubensbekenntnis redet von der „heiligen" Kirche und beschreibt sie als Gemeinschaft der „Heiligen". Die „Heiligen" Gottes aber sind nicht vollkommene Menschen, die, über alle Fehlsamkeit und Sündhaftigkeit erhaben, in dem Glanz besonderer Tugenden erstrahlen. Heilig ist in der Sprache der Bibel alles, was nicht mehr sich selbst gehört, nicht mehr dem gewalttätigen Anspruch der Welt verfallen ist, sondern Gott zu eigen gehört. Die Heiligen Gottes sind die Menschen, auf die Gott seine Hand gelegt hat, und die mit ihrem Leben bekennen, daß Jesus Christus ihr Herr sei. Darum ist die Kirche die Kirche der Heiligung. Solche Heiligung ist ein für alle Male geschehen in dem vollkommenen Opfer des Hohenpriesters. Indem er selbst, der Sohn, dem Vater vollkommen gehorsam wird, hat er die Seinen von der Welt gelöst und sie als das Volk des Eigentums (1. Petr. 2, 9) dem Vater dargebracht. „Ich heilige Mich selbst für sie" (Joh. 17, 19). Aber zugleich muß die heilige Kirche, weil sie in dieser Welt ist, immer von neuem geheiligt werden. Eben darin wird die Macht des Hohenpriesters an ihr sichtbar, daß sie trotz aller Sünde um sie her und in ihr selbst „bewahrt wird vor dem Argen" (Joh. 17, 15) und „erhalten" wird in der Erkenntnis der Wahrheit (Joh. 17, 11). *

Die Kirche wird „erhalten", indem sie in der Einheit mit ihrem Ursprung bewahrt wird. Das Gleichnis vom Weinstock ist das Bild eines organischen Lebenszusammenhangs, der viel inniger und wesenhafter ist als es die Worte Gemeinschaft, Verkehr oder Umgang ausdrücken könnten. Die Kirche ist das Haus Gottes in der Welt, in dem der Vater und der Sohn sich eine Wohnung bereitet haben (14, 23). Die wesenhafte Einheit des Sohnes mit dem Vater will in dem Geheimnis der Kirche abgebildet und dargestellt werden. „Ich in ihnen und Du in mir" (Joh. 17,23). Die Kirche ist communio: die Kluft, die den Menschen vom Menschen trennt, und die Kluft, die die Welt von Gott scheidet, ist in der Einheit der Kirche, die zugleich auf Erden und im Himmel ist, überbrückt. „Auf daß sie alle eins seien, gleichwie Du Vater in mir und ich in Dir" (Joh. 17, 21). Darum ist die Liebe die Lebensform der Kirche. Die Liebe zu Gott, die der Liebe Gottes antwortet, und die Liebe der Jünger untereinander. „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt" (Joh. 13, 35). „Auf daß die Liebe, damit Du mich liebst, sei in ihnen und ich in ihnen" (Joh. 17, 26). Darum darf und soll die Kirche getrost sein (Joh. 16, 33). Getrost aber ist mehr als getröstet. Getrost sein, das ist die innere Überlegenheit über alle Mächte der Welt. Getrost sein, das heißt mitten im Streit den Frieden haben, den die Welt nicht geben, aber auch nicht nehmen kann (Joh. 293

14, 27). Getrost sein, das heißt Traurigkeit haben, aber gewiß sein, daß die Traurigkeit in Freude verwandelt werden wird (Joh. 16, 22. 20). Das Wunder dieser Freude kann nur verglichen werden mit dem geheimnisvollen Geschehen einer Geburt. Das Geheimnis dieser Freude wird der Kirche immer neu geschenkt in dem Umgang mit ihrem Herrn, in der unzerstörbaren Verbindung der Glieder mit ihrem Haupte. Der Sinn alles Kultus, der Sinn von Wort und Sakrament, von Bitte und Lobgesang im Raum der Kirche ist die Erneuerung der Freude. „Bittet, so werdet ihr nehmen, daß eure Freude vollkommen sei" (Joh. 16, 24). Darum ist das Herzstück alles christlichen Gottesdienstes die Eucharistie, das Mahl der Danksagung und der Freude. *

Die Kirche ist in der Welt. Solange sie in der Welt ist, ist sie noch unterwegs zu ihrem Ziel. Die Gestalt ihrer Herrlichkeit ist noch verborgen unter der Gestalt ihrer Armut, ihrer Sünde und ihrer Anfechtung. Sie ist die kleine Herde; aber die Fürbitte ihres Hohenpriesters gilt auch schon denen, die durch ihr Wort zum Glauben kommen (Joh. 17, 20). Sie ist bedroht von Irrtum, und ihre Erkenntnis bleibt Stückwerk; aber es ist ihr verheißen, daß der Geist sie in alle Wahrheit leiten wird. Sie ist auf der Erde, sie ist in der Fremde; und sie muß immer wieder das bittere Brot des „Elends" essen; aber „Ich will, daß wo Ich bin, auch die bei Mir seien, die Du Mir gegeben hast" (Joh. 17, 24). Ihr Blick ist immer wieder begrenzt in der harten Wirklichkeit dieser Welt. Sie sieht die Kreuzesgestalt ihres Herrn deutlicher als seine Herrlichkeit. Aber es ist ihr verheißen, daß sie die Herrlichkeit ihres Herrn sehen soll, die der Vater dem Sohne gegeben hat (17, 24). Die Kirche ist die Welt, die Christus aus dieser Welt emporgehoben hat und emporhebt als das heilige Opfer, das Opfer, das der Hohepriester darbringt, der Ort in der Welt, den Gott sich geheiligt hat, die Welt, die der Vater zu sich emporzieht in das Licht seiner Herrlichkeit.

2. D A S E N D E Die Geschichte geht zu Ende. Die Welt rast ihrem Ende entgegen. Und eine tiefe Kluft bricht auf zwischen denen, die um das Ende wissen, und denen, die in dieser Welt und ihrer Geschichte leben, als ginge das alles in unendlicher Bewegung wie der Kreislauf eines Rades weiter. In den Liedern der Kirche taucht immer wieder die Rede auf, daß wir in den „letzten Zeiten" leben. Man kann über solcher Redeweise sich einfach dabei beruhigen, daß zu verschiedenen Zeiten von der urchristlichen

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Gemeinde an bis zum heutigen Tag immer wieder die Gemüter erfaßt wurden von der Erwartung des nahen Weltendes und daß, wie ja am Tage ist, diese Meinung, ob sie nun die ganze Christenheit in tiefste Aufregung stürzte oder nur die engen Kreise einer enthusiastischen Sekte erfüllte, sich immer als Täuschung und Wahn erwiesen hat. Wir durchschauen heute die gefährlich ansteckende Kraft solchen Wahnes und wissen uns gefeit gegen die Verführung solcher Träume. Aber die christliche Redeweise, daß wir in den letzten Zeiten leben, hat wenig oder nichts zu tun mit dem Rausch solcher trügerischen Erwartung des nahen Weltendes. Ein Dreifaches ist mit dieser Rede gemeint. Zunächst und vor allem dies, daß dieser Welt und allem Leben auf ihr keine unendliche Dauer verheißen ist, sondern daß „dieses alles" einem Ende entgegengeht. Jeder heimliche oder offene Versuch, Geschichte als eine nie endende Kette oder als die ewige Wiederkehr im unendlichen Wechsel zu begreifen, ist ein Versuch, sich über das Ende aller Dinge zu betrügen. Aber so wie das Leben ohne Tod ein geträumtes aber nicht das wirkliche Leben ist, so wie echte Lebensweisheit nur geboren wird, wo das Ende, der Tod ernsthaft ins Leben hereingenommen wird, so hängt alles echte Verständnis der Geschichte daran, daß man um ihr Ende weiß und versucht, von diesem Ende her zu denken. Die Entwicklung der Menschheit, der Kampf der Völker, der Aufstieg und der Untergang der Rassen geht nicht ins Unendliche weiter. Die Geschichte ist kein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern wir gehen einem Abend der Welt entgegen, an dem unwiderruflich der Vorhang einer letzten Nacht vor dieser ganzen bunt bewegten Bühne fällt. Uralte Schau wacht auf in unserer Mitte. Muspilli, der Weltenbrand bedroht alles, was ist. Die Götterdämmerung steigt herauf, und grandiose dichterische Bilder wissen wieder um den letzten Menschen und um die Vernichtung der Natur. Einerlei, welche Bilder vor uns aufdämmern; sie meinen alle das gleiche: Es geht zu Ende. Das Wissen um das Ende ist in der christlichen Kirche unzertrennlich verknüpft mit dem Glauben an Christus. In der Geburt Jesu Christi hat die Geschichte der Menschheit ihre Mitte empfangen. Nun zählen alle Jahre, in denen Geschichte sich ereignet, als Jahre vor Christi Geburt oder als Jahre nach Christi Geburt. Gott ist eingetreten in die Geschichte. Aber dieser Einbruch Gottes in die Geschichte ist „der Anfang vom Ende"; der Anfang vom Ende dieser Welt samt ihrer Geschichte. Jede Seite des Neuen Testaments spricht von dem Gegensatz zwischen dieser Welt und der Welt, die kommt. Die kommende Welt hat ihren Anfang genommen in der Erscheinung Jesu Christi. Dieser Anfang der neuen Welt aber bedeutet zugleich das Ende der alten Welt. Noch geht diese 295

Welt weiter. Noch blühen die Blumen und die Sterne leuchten, noch werden Menschen geboren, wachsen auf, arbeiten, kämpfen und lieben in dieser Welt. Noch werden Reiche gegründet, noch steigen Völker empor an dem Tag ihrer Geschichte. Aber das alles gehört zu der Gestalt dieser Welt. Und diese Gestalt vergeht. Der Geist, der in der Gemeinde Jesu Christi lebendig ist, gibt den Seinen Klarheit über das, was im Gange ist (Joh. 16, 13). Und wer da weiß, was eigentlich im Gange ist, der weiß auch um das Ende alles anderen. Es handelt sich gar nicht, nicht im geringsten, um die Dauer dieser Frist. Mag sie tausend Jahre währen, wer um ihr Ende weiß, der lebt doch „in den letzten Zeiten" und kann nie mehr so in ihr leben, als hätte sie kein Ende. Es ist das untrügliche Kennzeichen der letzten Zeiten, daß in ihnen die Gegensätze schärfer und unerbittlicher als sonst aufgerissen werden. Nicht die allmähliche Uberwindung des Streites in einer friedlichen Harmonie steht am Ende, sondern vielmehr der letzte unversöhnliche Kampf zwischen Gott und dem „Wider-Gott". Die Fronten klären sich; der Widerstand gegen den, der da „kommt", legt seine christliche Maske ab, sein Haß wird offenbar, und der Kampf der Geister entbrennt in der letzten grauenhaften Leidenschaft, wie ihn apokalyptische Gesichter geschaut haben. Die christliche Kirche aber lebt in der Gewißheit, daß in ihr das angebrochen ist, was dieses Ende überdauert. Christus ist der Anfang vom Ende, weil er der Anbruch einer neuen Welt ist. Darum haben die alten Christen das Freudenmahl ihres Herren gefeiert mit dem Ruf: „Es vergehe die Welt, es komme der Herr!" Darum sind die Märtyrer in den Tod gegangen. Darum haben die Dome unsrer Väter ihr Angesicht nach dem Morgen gewendet. Darum haben unsre Väter mitten in dem Grauen des dreißigjährigen Krieges fröhlich und getrost auf das Ende aller dieser Dinge hin geglaubt und gehofft. Darum ist das gesprengte Grab dieser Welt das eigentliche und wahre Zeichen der christlichen Kirche. Und die Liebe, die Menschen wider aller Vernunft und über alle Natur hinaus einander erzeigen, ist wirklich der Morgenglanz der Ewigkeit. Nur wenn diese Welt zu Ende geht, hat das Dasein einer christlichen Kirche in dieser Welt einen wirklichen Sinn. Man soll sich den Ernst dieser Frage nicht verbergen hinter religionsgeschichtlichen Fragen, als ob es sich hier um das Weltbild irgendeiner Rasse handelte, das ein anderes Volk als artfremd abtun könnte. Es ist eine sehr nüchterne aber zugleich ganz ungeheuerliche Frage, ob diese Welt zu Ende geht. Wenn sie nicht zu Ende geht, wenn sie im ewigen Wechsel doch ewigen Bestand hat, dann laßt uns den Wahn des Christentums abtun. Wenn sie aber zu Ende geht? 296

GEISTLICHES LEBEN (1938)

1. G E I S T L I C H E Ü B U N G Es entspringt weder einem Bedürfnis nach religionsgeschichtlicher Forschung noch nach Klärung eines theologischen Problems, wenn wir uns mit „geistlicher Übung" beschäftigen. Dazu treibt und verpflichtet uns vielmehr eine stark empfundene Not. Immer wieder erfahren wir mit Beschämung und mir Sorge, daß wir Menschen, die mit ihren seelischen Bedrängnissen zu uns kommen, mit den Mitteln eines allgemeinen Zuspruchs nicht helfen können. Wir spüren, es müßte bestimmte Ratschläge, bestimmte Übungen geben, mit denen wir solchen Menschen über einen toten Punkt ihres geistlichen Lebens hinweghelfen könnten. Wir glauben zu sehen, daß frühere Geschlechter aus einem ererbten Wissen um die inneren Gesetze des geistlichen Lebens solche Wege geistlicher Führung und geistlicher Übung gekannt haben, auf denen es uns an Kenntnis und Erfahrung gebricht. Was wir an anderen beobachten, nehmen wir im gleichen Maß an uns selber wahr. Unser eigenes inneres Leben gleicht, wie oft!, einem Kahne, der auf eine Sandbank geraten oder im Gezweig des Ufers hängen geblieben ist. Sehnsüchtig aber hilflos schauen wir auf die Strömung, die uns nicht ergreift. Was können wir nur tun, daß das Schifflein wieder in den rettenden Strom gerät? Von Liebe und Sorge getrieben haben wir angefangen zu handeln, auch wo wir noch keine bewährten Methoden, keine zuverlässige Weisung fanden. Wir haben gewagt, erste Schritte auf einem Wege zu gehen, den jedenfalls unsere Kirche in den letzten Jahrhunderten nicht mehr erprobt hatte. Stammelnd beschreiben wir dies und jenes, was wir dabei erfahren haben, und deuten wenigstens die Richtung des Weges an, auf dem wir uns vorwärts tasten. Erst allmählich erkannten wir, daß hinter jenen Verlegenheiten eine menschheitliche Not, ein zentrales Problem der heutigen Menschenführung und Menschenbildung liegt. Es geht um den Ort des menschlichen Bewußtseins im menschlichen Sein. Hier gibt es zwei verschiedene Betrachtungen: entweder der Mensch als solcher ist eingebettet in große Lebenszusammenhänge. Nach allen Seiten steht er in Verbindung mit Räumen und Bereichen, die größer und weiter sind als er selbst, und nur zu einem kleinen Teil vermögen sich diese ihn umgebenden Räume in 297

seinem bewußten Denken und Erkennen zu spiegeln: das Bewußtsein ist nur ein kleiner Spiegel eines größeren Seins. Oder aber das Bewußtsein wird als Mittelpunkt und als Maßstab der gesamten Wirklichkeit gewertet, so daß alles, was nicht im Bewußtsein existiert, im Grunde überhaupt nicht da ist. Das bewußte Denken wird zur eigentlichen Form des menschlichen Seins: cogito ergo sum. Die abendländische Menschheit hatte sich im Laufe der letzten Jahrhunderte mit ungehemmter Begeisterung dieser letzteren Betrachtung verschrieben, und sie hatte dem entsprechend den Versuch gemacht, auch in Erziehung, Seelsorge und Menschenführung jeder Art sich vorwiegend oder ausschließlich an dies bewußte Denken und Wollen des Menschen zu wenden. Die beiden großen abendländischen Ausprägungen des Christentums haben beide in ihrer Weise Anteil an dieser Entwicklung. So ferne sich protestantische Orthodoxie und Jesuitismus zu stehen scheinen, so sind sie doch beide in dem Aberglauben an die Alleinherrschaft des menschlichen Bewußtseins innig verwandt. Wir erleben heute in den mannigfaltigsten Formen den Zusammenbruch dieser Bewußtseinskultur. Er drückt sich im persönlichen Bereich darin aus, daß der Mensch in seinem bewußten Denken und Sein das nicht mehr zu verarbeiten vermag, was in seinen tieferen Seinsschichten, sei es an Ordnung, sei es an Unordnung, schlummert. Der Mensch, der sich selbst mit seinem Bewußtsein verwechselt, verliert die Beziehung zu den vitalen Rhythmen und Kräften, ohne die auch die höchsten und feinsten seelischen und geistigen Funktionen verkümmern oder entarten müssen. Die schöpferischen Kräfte versiegen. Der Mensch ist in sich zerspalten: der lebendige Austausch zwischen einer Oberflächenschicht bewußter Gedanken und Handlungen und einer dem Menschen selbst verborgenen unterirdischen Schicht, wo heilsame und zerstörerische Mächte schlummern, ist abgeschnitten, und in den verschiedensten Formen der Krankheit macht die zerstörte Ganzheit ihren Anspruch geltend. Aber es ist keineswegs nur eine individuelle Krankheit, die auf einzelne Menschen beschränkt wäre, und die man dadurch isolieren könnte, daß man gelehrte Namen wie Neurose oder dergleichen dafür gebraucht. Es handelt sich vielmehr um ein menschheitliches Problem, das heute als die große Weltennot an den verschiedensten Orten und in den verschiedensten Formen aufbricht. Mit der Ganzheit des Menschen sind durch jenen Bewußtseinswahn zugleich alle Beziehungen des Menschen zum Kosmos gestört und unterbrochen. Und so wie in dem Einzelleben die von dem bewußten Denken nicht erreichten Untergründe sich in den seltsamsten Formen der Lähmung, nervösen Leiden oder Ausbrüchen unheimlichster Art rächen, so tauchen in dem Verhältnis des Menschen zum Weltganzen 298

jene Riesen, Kobolde, Gnomen und Trolle, in denen die Phantasie früherer Geschlechter die unheimliche andere Seite der Welt bildhaft erkannte und anerkannte, in seltsamer Vermummung wieder auf und spotten des kleinen Menschleins, das sich anmaßt, von seinem begrenzten Bewußtsein aus das Weltganze zu erforschen und zu beherrschen. Die „gigantischen" Leistungen des menschlichen Willens rufen die Dämonen auf den Plan, und ebenso die unheimliche Statistik der Verkehrsunfälle wie die Riesenhungersnöte, die der Bolschewismus heraufbeschworen hat, sind grauenhafte Symbole dieses Massenwahnsinns. Der tiefste Sinn dieser ganzen Entwicklung ist ausgedrückt in jener abgründigen Formel, die uns aus dem Altertum überliefert ist: „Propter vitam vitae perdere causas"; das heißt: um angeblich das Leben zu erhalten und zu steigern, werden die Quellen des Lebens verschüttet, die Ursachen zerstört. Wo dem heutigen Menschen diese seine bedrohliche Lage zum Bewußtsein kommt, da besinnt er sich, wie er aus diesem seinen Gefängnis entrinnen könnte, und er sucht solchen Fluchtweg bald nach unten, bald nach oben. Entweder er versucht, einen neuen Zugang zu den vegetativen und animalischen Schichten zu gewinnen. Er möchte zurückkehren in die großen Rhythmen des naturhaften Lebens und verkündigt als seine befreiende Entdeckung, daß der Mensch nicht vom Hirn aus, sondern von seinem Blut aus leben müsse. Oder aber er streckt sich aus nach Erkenntnis „höherer" Welten, er interessiert sich wieder für Engel und Dämonen und holt uralte Symbole metaphysischer Mächte aus dem religionskundlichen Museum hervor, um ernsthaft nach ihrem Sinn zu fragen. Oder er begreift, daß er beides zugleich tun muß, weil hier „unten" und „oben" sich geheimnisvoll berühren. Nur widerfährt dem Menschen, der einmal der Alleinherrschaft des Bewußtseins verfallen ist, das gleiche wie dem König Midas, dem alles, was er berührte, in Gold verwandelt ward. Während er sich nach Erweiterung seines Lebensraumes sehnt, nimmt er doch alles nur in sein Bewußtsein auf. Er gewinnt keine echte Verbindung mit seiner eigenen Tiefe, sondern nur eine Theorie vom Unbewußten. Er meint, die Lebenskraft selbst zu stärken, wenn er biologisches Wissen besitzt und verbreitet. Er weiß wieder von jenen Kräften der Vermittlung, die hilfreich und verwirrend auf uns wirken, aber er begegnet keinem Engel und weiß sich der Teufel nicht zu erwehren. Als ob mich der Besitz eines Telefonbuchs mit unzweifelhaft richtigen Nummernangaben darüber trösten könnte, wenn die Verbindung nicht zustandekommt; oder als ob mir das Kursbuch etwas nützen könnte, wenn der Schienenstrang selbst unterbrochen ist! Hat unsere Kirche wirkliche Vollmacht, dieser Not zu begegnen? Wir reden von der evangelischen Kirche, so wie sie sich im deutschen Volks299

räum darstellt. Wenn wir hier gänzlich darauf verzichten, die katholische Kirche in den Kreis unserer Betrachtung zu ziehen, so hat dies Schweigen gewiß nicht den Sinn, daß wir neiderfüllt meinten, dort sei alles in Ordnung. Wir wissen zu genau, wie ernsthaft unsere katholischen Freunde in dem Umkreis ihrer eigenen Kirche gegen ähnliche Gefahren kämpfen. Aber haben wir, wir Protestanten, uns nicht weithin und unter sehr ehrwürdigen theologischen Formeln damit begnügt, das Bewußtsein des Menschen anzureden und seinen bewußten Willen aufzurufen? Haben wir uns nicht fast gänzlich darauf beschränkt, die künftigen Pfarrer durch einseitige theologische Schulung, das heißt durch Klärung des religiösen Denkens für ihr priesterliches Amt auszurüsten? Wie fern liegt unserer protestantischen Tradition das, was uns in diesem Band ein Engländer über die Ausbildung der Pfarrer in seiner Kirche erzählt; und es ist doch nichts anderes, als was die Väter unserer Kirche selbst einmal deutlich gesehen und ausgesprochen haben: „Es ist nicht genug, wenn die Jugend, welche einst zu den leitenden Amtern der Kirche gelangen soll, wissenschaftlich gebildet wird, sondern sie soll auch durch geistliche Zucht und fromme Übungen zur Liebe der kultischen Formen und zu einem frommen Leben gewöhnt werden. Denn diejenigen, die nicht durch solche hingebende Bemühung gewöhnt sind, sind zumeist weltförmiger, als es der Kirche frommt." Wenn vor Jahren ein junger Theologe in die erschütternde Klage ausbrach: „Wir können das Wort Gottes in der Heiligen Schrift richtig auslegen, aber wir können nicht mehr wirklich lesen und hören, Gott redet nicht zu uns. Wir wissen genau, was Beten ist, aber wir vermögen nicht zu beten. Wir sind überzeugt, die richtige Abendmahlslehre zu haben, aber wir haben weder Verbindung mit Christus noch Verbindung untereinander!" — Findet solche Klage nicht ein tausendfältiges Echo bei Theologen und Nicht-Theologen in unserer Kirche? Und in dem gleichen Augenblick spüren wir doch, daß alles, wirklich alles darauf ankäme, daß wir solche echte Verbindung wiedergewinnen, daß das zerbrochene Menschenwesen wirklich geheilt würde zur Ganzheit, daß die Wirklichkeit Gottes unser Lebensganzes heilend und heiligend durchdringe. An diesem Punkt setzt unsere Frage nach geistlicher Übung ein. „Geistliche Übung" ist der Inbegriff aller jener Bemühungen, in denen der Mensch dafür bereitet wird, der Wirklichkeit Gottes zu begegnen, sein Wort wirklich zu vernehmen und von der Kraft des göttlichen Geistes in Wahrheit berührt und durchdrungen zu werden. Wir wissen wohl: Gott allein verfügt über diese Begegnung. Keine menschliche Technik kann die Gottheit beschwören und ihre gnadenreiche Gegenwart erzwingen, wenn nicht Gott selber zu uns kommt und uns aus der Fremde, in der 300

wir sind, heimsucht. Es ist unmöglich, daß wir jemals wieder hinter diese zentrale Erkenntnis der Reformation zurückgehen und sie verleugnen. Es hat seinen tiefen und guten Sinn, daß Luther den Begriff der geistlichen Übung mit Vorliebe im passiven Sinn gebraucht hat: wir werden von Gott geübt, und das vornehmste Mittel solcher Übung sind die Leiden, die Er uns auferlegt. In der Schule des Leidens macht uns Gott selber empfänglich für das, was Er an uns tun will. Aber darüber darf die andere Frage nicht übersehen werden, was wir selbst tun sollen, um zu jener wahrhaft fruchtbaren Passivität zu gelangen, in der Gott sein Werk in uns und an uns tun kann. Gerade dies ist ja die Not, unter der wir alle leiden, daß wir selber so viel denken, sagen, vinternehmen und vollbringen, daß Gott nicht an uns wirken kann. Aber hätte es einen Sinn, daß die Bibel vom ersten bis zum letzten Blatt uns zumutet zu hören, wenn wir nicht uns (äußerlich oder innerlich verstanden!) an einen Ort begeben könnten, wo uns die Gnade solchen Hörens widerfährt? Ist es wirklich denkbar, daß Jesus in dem Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld bloß vier Menschentypen hätte beschreiben wollen, zu deren einer jeder einzelne Mensch eben durch Anlage und Schicksal gehört? Ist nicht dies seine Meinung, daß der Mensch dem guten Ackerland gleichen soll, das bereitet ist zu empfangen, aufzunehmen, zu bewahren und Frucht zu tragen? Darum ist geistliche Übung „Leiden und Tun" zugleich, wie es uns in einem entscheidend wichtigen Aufsatz dieses Jahrbuchs beschrieben wird. Es denkt niemand daran, uns eine geistliche Betriebsamkeit zu empfehlen, die auch den innersten Lebensbereich unter den Bann unserer übersteigerten Aktivität beugen könnte. Es denkt niemand daran, eine neue Werkgerechtigkeit aufzurichten, in der der Mensch hoffen könnte, durch fromme Werke seinen Schaden zu heilen. Alle geistliche Übung ist Hingabe an Gott, nichts anderes. Eine Hilfe zu dem Einen und Einzigen, wodurch wir Anteil gewinnen können an den heilsamen Kräften der göttlichen Welt. Eben das meint die Sprache unserer Kirche, wenn sie von dem Hören des göttlichen Wortes, von dem Glauben an die Gnade Gottes redet. Solche geistliche Übung hat notwendigerweise zwei Seiten, gleichsam zwei Bewegungen, in denen sie sich entfaltet und verwirklicht: Abkehr und Hinwendung. Es bedarf der Abkehr von alle dem, was uns bei uns selbst und bei dem irdischen Lebensraum festhält und uns absperrt von der schöpferischen Berührung mit Gott. Es gibt eine notwendige Abkehr von der Menschenwelt, den Weg in die Einsamkeit und in die Stille, eben jenen Weg, der uns äußerlich und innerlich so bitter schwer gemacht wird. Wichtiger noch: Es gibt eine Abkehr von der eigenen Aktivität, von der Gefahr der vielen Worte — darum die heilsame Übung des 301

Schweigens! Abkehr von dem rastlosen Tun, darum eine Übung der Entspannung, der Gelassenheit, der Ruhe. Wobei auch die äußere Zeit der leiblichen Ruhe, der körperlichen Entspannung, des ruhigen Atmens nicht verschmäht werden darf. Die Abkehr von den Dingen, die wir als Güter und Genußmittel gebrauchen, ist auch der eigentliche Sinn des Fastens. Da ein eigener Aufsatz über die Bedeutung des Fastens in diesem Band leider fehlt, soll wenigstens hier daran erinnert werden, welche Rolle das Fasten in den biblischen Erzählungen und in der Erfahrung der christlichen Kirche spielt. Kann man, darf man an dem vorübergehen, was die großen Gottesmänner aller Zeiten an sich erfahren haben, wie Zeiten des Fastens gleichsam jene Verstrickung lockern können, in die uns die stofflichen Kräfte und Bedürfnisse unseres leiblichen Lebens immer wieder bannen, und dadurch den Menschen in besonderer Weise aufnahmebereit machen für jene heimliche Weisheit, die Gott uns wissen lassen will? Jesus selbst hat seinen Jüngern unmißverständlich gesagt, daß sie in einen Kampf mit Dämonen hineingestellt sind, denen sie nicht ohne Fasten und Beten gewachsen und überlegen sein werden (Matth. 17, 21). Kann und darf die Kirche an einem solchen Wort vorübergehen, als ginge es sie nichts an, und jede Ordnung des Fastens verschmähen, als hätte sie nun solche Kraftquellen nicht mehr nötig? Solcher Übung der Abkehr entspricht die Übung der Hinwendung. Geistliche Übung ist ein Weg, auf den wir uns begeben, der Aufbruch zu einem Ziel, auf das wir alle unsere Gedanken und Kräfte ausrichten. Darum fehlt auch das Bild der Wallfahrt nicht in der Reihe dessen, was uns die Heilige Schrift über den Weg des Glaubens berichtet, und was wir aus ihr für unsere eigene Übung lernen wollen. Solche Hinwendung zu Gott vollzieht sich in dem Hören des Wortes, in dem Anschauen der heilsamen Zeichen. Sie verwirklicht sich in dem Gebet, in dem wir uns ausrichten auf die Wahrheit und den Willen Gottes, in dem geistlichen Opfer, in dem wir uns selbst Gott darbringen mit Geist, Seele und Leib. Wir lernen das Vaterunser neu erkennen als einen von dem Herrn selbst vorgezeichneten und eröffneten Weg. Wir lernen das Sakrament zu feiern als den Weg, auf dem wir mitgenommen werden bis in das innerste Heiligtum der wesenhaften Einung mit Christus als dem wahren Brot, das uns nährt. Hier kann und soll nur hingedeutet werden auf alle jene Möglichkeiten, die uns die Erfahrung und Weisung der Kirche selber darbietet und von denen die Aufsätze, die in diesem Jahrbuch vereinigt sind, wenigstens einiges beispielhat entfalten. Aber eine Form geistlicher Übung bedarf hier noch eines besonderen hinweisenden und deutenden Wortes: die Meditation. Wenn wir im Zusammenhang geistlicher Übung das Wort Medi302

tation gebrauchen und denen, die zu uns kommen, anbieten, vielleicht auch ihnen dazu raten, sich die ersten Schritte auf dem Wege der Meditation führen zu lassen, dann machen wir immer wieder eine zwiefache Erfahrung. Da sind auf der einen Seite Menschen - es sind freilich mit verschwindenden Ausnahmen nur Theologen - , bei denen sich alsbald die entschiedensten Widerstände und Hemmungen einschalten, die sich mit einem großen Aufgebot kritischer Bedenken dagegen wehren und andere vor solch gefährlichen Unternehmungen warnen. Da sind auf der anderen Seite Menschen, die mit der größten Bereitwilligkeit und Dankbarkeit solche ihnen angebotene Hilfe ergreifen, das, was darin geschieht, als etwas ganz Selbstverständliches, jedenfalls aber als etwas Wohltuendes und Föderliches empfinden und zum Teil die stärksten Auswirkungen davon in ihrem persönlichen Leben erfahren. Es trägt vielleicht zu einem richtigen Gesamtverständnis der geistlichen Übung wesentlich bei, wenn wir uns diese zwiespältige Reaktion auf „Meditation" (das Wort und die Sache) deutlich machen. Zunächst: Es kann keine Rede davon sein, daß wir damit eine Anleihe bei der uns wesensfremden und im Grunde unzugänglichen Weisheit des Ostens machen. Wir nehmen vielmehr ein Erbe unserer eigenen Kirche wieder auf, das nicht die Reformation, sondern erst die Aufklärung hat verfallen lassen. Luther selbst hat die ganze meditative Schulung des späten Mittelalters in sich aufgenommen, hat Lehrbücher der Meditation zeitlebens eifrig zitiert und hat nie aufgehört, die Praxis der Meditation selbst zu üben und anderen zu empfehlen. Aber diese Seite seiner eigenen Frömmigkeit, die die geistliche Erfahrung der mittelalterlichen Kirche in den Zusammenhang und in den Dienst der neuen Erkenntnis des Evangeliums stellte, ist unter uns fast gänzlich verloren gegangen. Wer unter uns weiß denn, daß ein Mann wie Calvin das Fasten empfiehlt, weil es so sehr geeignet sei, die Seele für die heiligen Meditationen zu bereiten? Wer vermutet als den Verfasser einer Schrift „Heilige Meditationen zur Erweckung wahrer Frömmigkeit und zur Förderung des inneren Menschen" einen klassischen Dogmatiker der protestantischen Orthodoxie wie Johann Gerhard? Aber was heißt denn das eigentlich „Meditation", und woher kommt es, daß sie unter uns so sehr vergessen ist und ihr das Heimatrecht in unserer Kirche bestritten wird? Meditation ist eine besondere Art des Denkens. In diesem Denken ist unsere Aktivität, unsere kritische Stellungnahme gegenüber dem Inhalt ausgeschaltet, und wir sind passiv, das soll heißen, empfangend und erleidend, der Sache hingegeben. Es hängt tief damit zusammen, daß wir in der Meditation nicht so sehr in Begriffen als vielmehr in Bildern denken. Meditation vollzieht sich in jener tieferen Schicht unserer Seele, in der wir alle in Bildern denken, so wie es das 303

Kind fast ausschließlich und der Erwachsene im Traume tut. Es ist jene Schicht, in der sowohl unsere entscheidenden Erkenntnisse aufleuchten als auch alle schöpferische Gestaltung empfangen und geboren wird. Dies ist die Ursache für die unzweifelhafte Beobachtung, daß viele Menschen wesentlich leichter zu meditativer Versenkung gelangen, wenn sie Zeichen anschauen, während sie bei ihrem Versuch, etwa über Bibelworte zu meditieren, nur allzu leicht wieder auf die vertraute Bahn gedanklicher Auslegung zurücksinken. Meditation ist in jedem Fall eine reale Verbindung des Menschen mit einem geistigen Inhalt. Unsere Sprache drückt das aus, indem sie sagt: Wir „versenken" uns in eine Sache; und es ist ein und dasselbe, wenn wir sagen, daß die Sache sich in uns einsenkt. Unter den biblischen Gestalten ist in Sonderheit Maria das Urbild solcher Meditation. Wenn von ihr erzählt wird: „Sie behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen", so ist damit eben jenes Verhalten beschrieben, das wir meinen, wenn wir von Meditation reden. Es ist sozusagen eine Fortsetzung ihrer Mutterschaft selbst, da die Seele in Wahrheit empfängt, den Keim eines neuen Lebens in sich aufnimmt, in sich hegt und trägt, und mit ihrem eigenen Blute verbindet, bis die Stunde der Erfüllving kommt, da das, was in der Stille bereitet ist zur Reife, als ein lebendiger Gedanke, als klare Erkenntnis, als heilsame Tat geboren wird. Schließlich ist es der Meditation auch eigentümlich, daß sie wiederholt und also wirklich „geübt" werden will. Während unser Bewußtsein durch immer neue Inhalte wachgehalten werden muß, verlangen die tieferen Schichten unseres Seins danach, immer wieder mit der gleichen Speise ernährt zu werden. Darum gehört zu der „Einübung des Gesetzes" auch dies, daß wir Worte der Heiligen Schrift auswendig oder vielmehr inwendig lernen, damit wir sie unermüdlich in uns wiederholen und immer von neuem bedenken können, daß wir schreibend sie uns einprägen. Aus dem gleichen Grunde erwarten wir wohl in der Predigt, die sich an unser bewußtes Denken wendet, neue Gedanken oder doch alte Gedanken in neuer sprachlicher Form. Aber die Liturgie, dies Herzstück aller geistlichen Übung, ist die festgeprägte Form, die in regelmäßiger Wiederkehr uns umfängt und sich eben dadurch tief in die verborgenen Untergründe unserer Seele versenkt. Meditation ist auch für uns nur eine Form geistlicher Übung, aber doch eine Form, an der die Bedeutung und die Lebensgesetze geistlicher Übung besonders deutlich werden. Hier wird die Kruste einer bloßen Bewußtseinskultur durchbrochen. Hier wird der Mensch bereitet, wirklich in Verbindung zu treten mit der Sache, ihrem Blick und ihrem Anruf standzuhalten, wenn anders Gott ihm die Gnade solcher Begegnung schenken will. Sie enthüllt unerbittlich das eigene Innere und hilft da304

durch dem Menschen, den gefährlichen Wahn zu überwinden, er habe wirklich, was er doch nur weiß, und es geschehe in Wahrheit das, wofür er Formeln und Regeln kennt. Hier lernt der Mensch atmen, und das Beste an der Atmung ist doch das wundersame Geschehen, daß die Luft ohne unser Zutun einströmt in die leergewordene Lunge. Hier macht sich der Mensch auf, um der Einladung zu folgen, die ihn an den gedeckten Tisch ruft, und er weiß, daß Speise und Trank ihn sättigen und erquicken, — wenn er sie zu sich nimmt. Mitten zwischen viel Zerstörung, Herzeleid und Sorgen um unsere Kirche wollen verschüttete Quellen neu aufbrechen. Wir haben um uns her so viele durstige, ja verschmachtende Menschen, und viele wohlgemeinte Ratschläge, die doch nur hohe Worte und unerfüllbare Zumutungen sind, gleichen den ausgehauenen Brunnen, die löcherig sind. Wir müssen tief graben und das Wasser schöpfen aus dem tiefen Grund. In der Menschheitsnot dieser Zeitenwende glauben wir etwas Notwendiges zu tun, wenn wir sagen und weitergeben, was unsere Väter gewußt haben und was sich uns neu bewährt hat von dem Wert geistlicher Übung.

2. GEBETE UND BETRACHTUNGEN AUS EINEM KONFIRMANDENBÜCHLEIN Morgengebet am Sonntag Fülle uns frühe mit deiner Gnade, So wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang. Beginne heute aufs neue Dein Werk in uns Und sprich zu unserer Seele: Es werde Licht, Damit alle Finsternis von uns weiche, Wir alle Deine Werke und Wege in Deinem Licht erkennen Und Dich in Demut und mit freudigem Herzen anbeten. Durch Jesum Christum unsern Herren! (Aus der tägl. Andacht von Karl Bernhard Ritter) Zum Advent (16. Dezember 1923) Ewiger verborgener Gott. Der Du ohne Unterlaß kommst in die Welt um Dein Reich darin zu bauen. Laß in unser Dunkel leuchten das Licht der großen Hoffnung, daß Du Seinem Sohne Jesus Christus Ehre und 305

Reich geben willst über alle Welt. Wecke uns auf, daß wir bereit seien, wenn unser König zu uns kommt, ihn mit Freuden zu empfangen und ihm mit reinem Herzen zu dienen. Herr unser Gott, der Du die ewige Liebe bist, wir preisen in Demut Deinen heiligen Vaternamen, dem Du Wohnung in unseren Herzen gegeben hast. Wir danken Dir, daß Du in Jesus Christus der zerstreuten Menschheit ihr königliches Haupt gegeben hast, daß sie in ihm eine Menschheit und ein Leib werde. Aus dem Haß und dem Streit, da ein Mensch wider den andern und ein Volk wider das andere ist, rufen wir zu Dir empor: Du willst, daß wir untereinander Brüder seien. Wir stellen uns unter Dein Gericht. Dein Liebesratschluß ist das Urteil über unsere Selbstsucht und Lieblosigkeit. Herr, verwirf uns nicht von Deinem Angesicht. Lehre uns und alle Welt erkennen, was zu unserem Frieden dient. Baue Dir mitten in der Welt des Streites Deine Gemeinde, die Dir gehört in gemeinsamer Ehrfurcht und gemeinsamem Gehorsam. Verbinde, was getrennt ist, unter dem Stern, der über Bethlehem leuchtet. Offenbare uns von neuem Jesus Christus als den ewigen König, dem alle Welt zu Füßen gelegt werden muß. Laß sterben den unerlösten Eigenwillen und die ungereinigte Selbstsucht, daß wir in Seinem Reiche unter Ihm leben und Ihm dienen in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit. Amen. Die Epiphaniaszeit Alle tiefste und heimlichste Schönheit der Welt entspringt daraus, daß in ihr etwas „erscheint", was nicht von dieser Welt ist. Das ewige Licht gibt der Welt einen neuen Schein. Und dem Glauben, der dies Licht sieht, ist alles verwandelt. Alle irdische Ordnung ist gleich jenen Gefäßen, in denen das Wasser durch den sich offenbarenden Christus in Wein verwandelt wird. Die Passionszeit (Fastenzeit) Der irdische Weg Christi ist ein Leidensweg. Nicht anders kann die Gottesherrlichkeit Macht und Sieg gewinnen, als durch Leiden hindurch. Nur in der Bereitschaft zum Leiden wird die Entscheidung ernsthaft und die Hinwendung zu Gott wirklich. Leiden und Fasten aber ist keine selbsterwählte Heiligkeit, und wir sollen uns nicht selber einen Kreuzesbalken zimmern, sondern wir sollen treu sein dem Ruf und — stille halten. 306

Sonntag Invokavit (Der Sonntag der Versuchung) Allem tiefsten Leiden kann man sich entziehen; was als äußerer Zwang über uns kommt, ist nicht das Schwerste. Aber daß der Lebenswille in uns und unsere „Ideale" ein Blendwerk des Satans werden können, das macht die Versuchung gefährlich. Herr, mein Gott, Du mußt mich ja in die Versuchung führen; aber Du allein kannst mich auch des Weges gewiß machen. Laß in zweifelnden und widersprechenden Gedanken das Licht nicht verlöschen, das mich führt. Sonntag Reminiscere (Der Sonntag des Gehorsams) Menschlicher Befehl und Gehorsam gegen menschliches Gebot ist eine unschätzbare Hilfe, daß wir den großen Gehorsam lernen: ein Leben in demütigem und bereitem Horchen auf den Ruf, der ganz verpflichtet. Herr, mein Gott, halte Dein eigensinniges und widerstrebendes Kind an Deiner Hand und laß nicht ab, mich zu erziehen zu Deinem Dienst. Sonntag Okuli (Der Sonntag des Dienstes) Dienst ist Hingabe an Not und Aufgabe, statt eigenen Lebensgenusses. Dienst ist Hinwendung zu dem bescheidenen Werk, das hier und jetzt getan werden kann, statt Schwelgen in erhabenen Gedanken. Dienst ist der Sieg über die Angst um das eigene Glück. Herr, mein Gott, ich will Dir danken für die Pflichten, die Du mir zeigst. Laß mich lernen von Deiner schenkenden Güte, daß ich mich nicht spare, sondern mich verzehren und verbrauchen lasse im rechten Dienst. Sonntag Laetare (Der Sonntag des Opfers) Alles Leben lebt durch das Opfer. Aber Opfer ist tägliches Sich-in-denTod-Geben. Wo nur äußerer Zwang unser Leben frißt, ist kein Opfer, nur da, wo die große Kraft sich schenkt. Im Reich Christi gibt es kein anderes Opfer mehr, als wo Priester und Opfer eines geworden sind Herr, mein Gott, Du verschenkst Dich alle Stunde an die Welt. Zieh mich hinein in Deine Opferkraft. Laß aus meinem Schenken und Helfen den Widerschein Deiner Liebe leuchten. 307

Sonntag Judika (Der Sonntag der Stellvertretung) Es ist nicht wahr, daß ein jeder für sich allein steht und lebt. Wir leben voneinander und füreinander und es gibt ein stellvertretendes Denken, Wollen, Glauben, Kämpfen. Die die Lasten, auch Sünde und Wahn der andern auf sich nehmen und tragen, sind die wahren Helfer und Heilande in der Welt. Herr, mein Gott, erwecke mein Herz und mache es lebendig für die großen und kleinen Nöte um mich her. Laß mein Leben ein Sühnopfer sein für fremde Schuld; laß auch durch mich des Fluches weniger, des Segens mehr werden.

Sonntag Palmarum (Der Sonntag des Königs der Wahrheit) Der leidende Christus ist der König der Wahrheit, der wahrhafte Herr. Denn Wahrheit wird nicht gesagt oder gewußt, sondern getan und gelebt, und sie leuchtet am reinsten und klarsten auf dem Weg des vollkommenen Gehorsams. „Ecce bomo", siehe da das Bild, an dem die Wahrheit aller Dinge angeschaut werden kann. Herr, mein Gott, stelle mein Leben unter die Herrschaft der Wahrheit und würdige mich auch mit meinem Leben, Deine Wahrheit zu bezeugen.

Gebet nach einer Predigt über das Abendmahl (22. März 1925) Heiliger Vater! Wir sagen Dir Preis und Lob für Deinen wunderbaren Ratschluß, daß Du aus dieser Erde Korn und Frucht wachsen läßt, unsern Leib zu nähren und zu erhalten. Wir danken Dir für das tägliche Brot, das Du uns bescherest, und bitten Dich, Du wollest uns behüten vor leichtsinnigem Gebrauch, der nur an des Leibes Sättigung denkt, Du wollest uns erwecken zur Dankbarkeit, daß wir recht empfangen das Leben der natürlichen Gaben, die uns gegönnt werden. Du hast Jesus Christus gemacht zum rechten Brot von dem wir leben sollen. Du hast ihn gesegnet mit der Kraft Deiner Wahrheit und Deiner Liebe. Du hast ihn in den Tod dahingegeben, wie das Samenkorn in die Erde gelegt wird und wie das Brot, das gebrochen wird. Wir danken Dir für den Ratschluß Deiner Liebe und bitten Dich, Du wollest uns nie mangeln lassen das Brot, das unserer Seele heilsam ist. 308

Und weil wir in diesen Wochen das Gedächtnis Seines Todes miteinander feiern, und das gesegnete Brot miteinander brechen und essen wollen, so bitten wir Dich, Du wollest unsere Feiern segnen, daß sie Dich nicht verunehren, sondern Deine Wahrheit verkündigen. Überwinde in Gnaden allen Unverstand, alles unbereite Wesen, alle schlechte Sitte und alles scheinheilige Wesen durch die Gemeinschaft der Buße und der Liebe. Segne Pfarrer und Gemeinden, bereite Du durch Deinen Geist, die da kommen und feiern, lehre unsere Jugend, daß sie begreifen die Größe ihrer Berufung, und laß, die hungern und dürsten nach Leben und Gemeinschaft, nicht stehen vor den Toren, sondern führe sie herein, daß sie satt werden und auferstehen zum Leben. Gebete an Ostern (1924/25) Herr Gott, der Du in dem Herrn Christus alle Macht der Finsternis besiegt hast, wir preisen Deine ewige Kraft und Gottheit. Wir danken Dir, daß Du auch uns zum Siege, zum Leben in Deiner Kraft berufen hast, und bitten Dich, daß Du in uns alle Macht der Finsternis und des Todes zerstörest und uns, die wir schwach sind, zu wirklichem Leben auferweckest. Und gleich wie Deine Sonne sich erhebt über den Schatten und Nebeln der Nacht, so baue Dir über den Trümmern einer vergehenden Zeit Dein Reich und Deine Welt! Herr Gott, himmlischer König. Wir danken Dir, daß wir Ostern feiern dürfen. Du läßt uns teilhaben an dem Leben und der Kraft, die Du in Christus der Welt eingepflanzt hast. Dafür danken wir Dir in Ehrfurcht und Freude. Bewahre uns vor der Schwäche und Mattigkeit der Seele, die sich der Unkraft und Knechtschaft gewöhnt. Wecke uns auf aus dem Tod, gib uns teil an der Kraft und der Liebe Christi, laß uns lebendige Zeugen Seiner Auferstehung, Seiner Gegenwart und Seiner Herrlichkeit sein. Laß uns aus aller irdischen Schwachheit immer wieder auferstehen zur Kraft und gib Deinem Reich auch in unserer Mitte den Sieg über die widerstrebenden Mächte. Vollende an uns und an aller Welt das Werk, das Du begonnen hast und laß uns durch jeglichen Tod zum Leben dringen.

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Gebete im Jugendgottesdienst anläßlich der Vierhundertjahrfeier der Nürnberger Reformation (14. März 1925) Herr Gott, heiliger Vater. Aus Deiner Hand nehmen wir heute aufs neue das Erbe, das Du uns anvertraut hast. Du hast uns gesegnet durch Dein Wort. Segne uns aufs neue durch Deine Wahrheit und Gnade. Laß uns nichts gewisser sein als Dein Evangelium, nichts wichtiger als Deine Ehre. Segne uns, daß wir das Gedächtnis der Reformation also begehen, daß wir selbst wachsen an unserem Erbe, treuer uns an Dich binden und geschickter werden, der Welt Deine Wahrheit zu bezeugen. Amen.

Drey Gebett taglich nutzlich zu sprechen O Jesu, mein Leib, ich lobe, und dancke dir, daß du mein gedachttest, da ich nichts war. O Jesu, mein Erlöser, ich lob und dancke dir, daß du mich suchtest, da ich verloren war. O Jesu, mein Leib, ich lob und dancke dir, daß du mich behalten willt, so ich nit weiss, wohin ich sollen. Drum befehle ich meinen Geist in deine Händ, dann du hast mich erlöst. Amen. (Aus dem „Gebetbüchlein", gefunden zwischen Bank und Mauer der Nonnenempore im Kloster Kirchberg i. J. 1958)

Sterbesegen (aus einer alten bayerischen Ordnung) Es segne dich Gott der Vater, der dich geschaffen hat zu Seinem Bilde. Es segne dich Christus der Herr, der dich erlöset und zu seinem Eigentum gewonnen hat. Es segne dich Gott, der Heilige Geist, der dich berufen hat, der da ist Herr und macht lebendig der dich vollenden wird, wie Gott dich wollte. (Kreuzeszeichen bei jeder der drei Bitten) 310

3. BRUDERSCHAFT (Abschluß des 1940 erschienenen gleichnamigen Buches) Bruderschaft wirkt ohne jeden Gedanken an direkte Werbung, durch ihren seelsorgerlichen Dienst in die Gemeinden hinein. Indem sie beispielhaft verwirklicht, was Kirche ist, erschließt sie vielen einen neuen (vielleicht den allerersten) Zugang zu dem Raum des Heiligtums und übt also in Wahrheit jenen stellvertretenden Dienst der allein ihr Dasein innerhalb der Kirche rechtfertigt. Dieser stellvertretende Dienst einer Bruderschaft für die gesamte Kirche, sei es auf dem Gebiet der Lehre, sei es auf dem des Kultus oder der geordneten Gemeinschaft des Amtes und der Gemeinde, hat eine doppelte Voraussetzung. Das, was heute mehr denn je von unserer Kirche gefordert ist und was allein sie für das heranwachsende Geschlecht glaubwürdig machen kann, ist die Wirklichkeit geistlicher Kräfte, die in ihr zu spüren sind und die von ihr aus in die umgebende Welt einströmen. Die Frage, die nach dem Bericht des Markus-Evangeliums (9, 22) der Vater eines unglücklichen Knaben an den Meister richtet: „Kannst du was...?", ist die Frage, die heute unzählige Menschen, verzagt oder verzweifelt über die geistliche Ohnmacht, die sie allenthalben spüren, an die Kirche richten. „Kannst du was?" Kannst du das, was die Welt nicht kann? Hast du Zugang zu einem überlegenen Reich, das unsere Not wenden kann? - Mit Gedanken, Forderungen und Programmen ist uns allen nicht geholfen. Es kommt alles darauf an, daß da etwas geschieht, daß ein Werk hingestellt wird, das einfach durch das Schwergewicht seines Daseins, viel mehr als durch ausdrückliche Werbung, wirkt und dem, was notwendig ist, den Weg bereitet. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Bruderschaft und kirchlicher Öffentlichkeit. Die Träger bruderschaftlicher Arbeit müssen darüber wachen, daß hier geistliches Leben und geistliche Ordnung verwirklicht wird, auch wenn das alles zunächst sehr im Verborgenen bleibt. Wir alle lassen uns so leicht zu dem Wahn verführen, als ob irgendeine Erkenntnis dadurch wertvoller würde, daß sie veröffentlicht und verbreitet wird, als ob irgendein Geschehen dadurch fruchtbarer würde, daß es in das helle Licht allgemeiner Aufmerksamkeit gerückt wird! Wir haben zu wenig Vertrauen auf die Kraft der Sache selbst und auf die Fruchtbarkeit eines Keimes, der einmal in das Erdreich eingesenkt ist, und wir sind dann manchmal nicht weit entfernt von der Versuchung, die Beschreibung für wichtiger zu halten als die Sache und den Bericht für wichtiger als das, was geschieht. Damit ist natürlich nicht einer falschen 311

Heimlichkeit das Wort geredet. Was sich selbst mit einer geflissentlichen Heimlichtuerei umgibt, macht sich mit einigem Recht verdächtig und fordert das Mißtrauen gegen sich heraus. Die Bruderschaft hat nichts zu verheimlichen und sie ist mit Freuden bereit, den berufenen Leitern der Kirche Rechenschaft zu geben über alles, was sie tut. Aber es ist ein Unterschied zwischen heimlich und verborgen. Alles, was echte Kraft und Vollmacht des Lebens in sich trägt, wird zunächst im Verborgenen bereitet, bis es reif ist, in sichtbarer Erscheinung hervorzutreten. Darum soll eine Bruderschaft nicht den Ehrgeiz haben, in ihrem besonderen Wesen, und wenn möglich ihren Verdiensten öffentlich bekannt und anerkannt zu werden. Sie muß die Geduld des bescheidenen Anfangs, des stillen Wachstums, der verborgenen Erprobung haben, und es ist nicht mehr von ihr zu verlangen, als daß sie ihrem Ansatz und Auftrag treu und doch zugleich unerbittlich kritisch gegen sich selber bleibe, bereit, in jedem Augenblick einen Dienst an dem Ganzen, zu dem sie gerufen wird, zu übernehmen, und ebenso bereit, einen erkannten Irrtum zu berichtigen, einen Weg, der sich als gefährlich erwiesen hat, zu verlassen und sich dem Gericht Gottes, das sich an ihr vollzieht, zu beugen. Ob der Bruderschaft diese Bedingungen eines gesunden Wachstums gewährt werden, liegt dann freilich nicht an ihr allein. Wenn sie bei sich selber die eitle Schwatzhaftigkeit bekämpft, die über unausgereifte Ideen Bücher schreibt und mit kaum erprobten Erfahrungen prahlt, dann darf sie auch verlangen, daß andere sie in Ruhe lassen und ihr die nötige Stille und Verborgenheit zugestehen. Wenn eine Gemeinschaft wie eine Bruderschaft von andern in das Licht der Öffentlichkeit gezerrt und der öffentlichen Diskussion preisgegeben wird, so wird dadurch Verteidigung und Gegenangriff auf den Plan gerufen und damit die immer nötige Buße erschwert. Die Bruderschaft muß darum bitten, daß ihr auch ganz offiziell Recht und Raum für das Sonderleben, das sie um ihres kirchlichen Dienstes willen führen will und führen muß, gewährt wird. Eine solche offizielle kirchliche Anerkennung ist freilich dadurch zunächst erschwert, daß sozusagen dieser Fall in den kirchenrechtlichen Normen nicht vorgesehen ist, da kirchenrechtlich der Protestantismus keine andere legitime Form der kirchlichen Verwirklichung kennt, als die lokalbedingte Parochie. Es bedeutet also sicher ein Wagnis, wenn eine Kirchenregierung eine Bruderschaft als eine kirchliche Körperschaft anerkennt und sie damit unter ihren Schutz nimmt gegen Vorwürfe, Verdächtigungen und Angriffe aller Art. Eine solche Anerkennung bedeutet ganz gewiß nicht, daß die Stelle, die sie ausspricht, alles das billigt und gutheißt, was in dieser Bruderschaft gedacht, geredet und begonnen wird-das gerade nicht! - , aber es wird damit allerdings ausgesprochen, 312

daß die Kirche diese Truppe vorausschickt und beauftragt, nach bestem Wissen und Gewissen jene Patrouillen- oder Pionierdienste zu leisten, die nur in einer gewissen Entfernung von der Masse des Heeres und losgelöst von dem unmittelbaren Befehl ihrer Führer geschehen können. Das Vertrauen, das in einer solchen Anerkennung notwendigerweise liegt, ist verpflichtender als eine strenge, immer ängstliche und immer mißtrauische Aufsicht und Bevormundung. Für das, was hier gemeint und als Voraussetzung für den kirchlichen Dienst der Bruderschaft erbeten wird, darf zum Schluß ein Beispiel angeführt werden, das absichtlich von weit hergeholt ist, damit keinerlei Anspielung auf bestimmte Verhältnisse oder Vorgänge innerhalb der deutschen evangelischen Kirche geargwöhnt werden kann. Der Osloer Bischof Eivind Berggrav kommt in einem Bericht über die Kirche Norwegens auch auf die Oxford-(Gruppen-)Bewegung und die Stellung der norwegischen Bischöfe zu ihr zu sprechen: „Die norwegische Kirche hat sich im großen und ganzen den neuen Strömungen gegenüber offen erhalten. Sämtliche Bischöfe haben entweder die Bewegung eingeführt oder sonst ihr gegenüber eine verständnisvolle Haltung bewiesen. Das bedeutet nicht etwa, daß die Kirche für .Oxford' eintritt - die Kirche kann nicht für so schmalspurige Geleise eintreten —, aber die Kirche kann auch nicht ohne Pioniere leben... Es ist ein Glück, daß die norwegische Kirche bereit ist, sich die Korrekturen zu merken, die .Oxford* der kirchlichen Verkündigung und Haltung hat angedeihen lassen." Genau das ist es, was wir meinen. Wenn solcher Pionierdienst nicht anerkannt wird und der wagemutigen und vorwärtsdrängenden Schar statt dessen Mißtrauen und Abwehr begegnet, dann kann das Eigenleben eines solchen besonderen Kreises nicht für das Gesamtleben der Kirche fruchtbar werden. Entweder es gelingt dann den Mächten der Beharrung, der selbstzufriedenen Ruhe, den unbequemen Eifer zu beschwichtigen und also dafür zu sorgen, daß — nichts geschieht und mit dem echten und wertvollen Erbe auch alle Verkümmerung und Fehlentwicklung, alle Schwäche und Krankheit unangefochten weitergetragen wird. Jene Gemeinschaftsbildungen, die um einer bedrohlichen Not willen, aus echter Berufung geboren, ihr eigentümliches Leben im Dienst des Ganzen leben wollten, sind aus diesem Ganzen hinaus und auf den Weg der Sekte gedrängt worden. Was wäre aus der Kirche der Reformation geworden, wenn wenigstens etliche jener Bewegungen, die als Sekte erstarrt sind, als Bruderschaften innerhalb der Kirche hätten existieren dürfen! Es ist nicht zu entscheiden, ob Bruderschaft oder Kirche den größeren Gewinn davon haben, wenn die Bruderschaft in der Kirche leben und dienen darf. 313

HILFE IM ALLTAG (1946) Einleitung Eine Sturmflut größter geschichtlicher Ereignisse brandet über uns alle hinweg, und auch an den stillsten Ufern des persönlichen Lebens brechen sich tosend ihre Wellen. Der große Atem der Geschichte trägt unser Einzeldasein aus aller dumpfen Enge in den weiten Raum. Das gemeinsame Schicksal des Volkes fordert mit unerbittlichem Anspruch, daß auch das Leben des einzelnen mitschwinge in dem brausenden Rhythmus dieser Jahre. Wir sind gewürdigt, eine Zeitwende, wie sie nicht jedem Jahrhundert auferlegt ist, mitzuerleben. Ein ungeheurer Wille, der die Kraft der Nation zusammenreißt, will ein Tor in die Zukunft erstürmen, und er steht dabei bewußt oder unbewußt selbst in einem höheren Dienst. Der ahnende Glaube, daß der Herr der Geschichte unser Volk als Werkzeug dieser Weltenwende gebrauchen will, gibt auch dem engbegrenzten Einzelschicksal Anteil an der Größe dieser Stunde. Niemand von uns wünscht, er könnte zurückkehren in die lähmende Ruhe vergangener Jahre. Das Gebet um „ein geruhiges und stilles Leben" (im ursprünglichen Sinn von 1. Tim. 2, 2 ist freilich an eine wesentlich angemessenere Haltung gedacht) will uns nicht recht über die Lippen. Es möchte uns wie eine Flucht erscheinen, wenn wir das heute begehren; und wir fragen uns ernstlich, ob Gott uns eben diese Gabe heute geben will. — Zugleich aber überfällt uns jählings die Angst, ob wir der inneren Anforderung der Stunde gewachsen sind. Die ganze Menschheit scheint von einem Fieber geschüttelt zu werden, das ihre Lebenskraft aufzuzehren droht, wenn nicht Gegenkräfte besonderer Art dies Fieber in Genesung und neue Gesundheit wandeln. Die Kraftreserven, von denen insbesondere die abendländische Menschheit Jahrhunderte gelebt hat, scheinen aufgebraucht zu sein. Quellen, die gleich den Väterbrunnen der Heiligen Geschichte unser Ackerland bewässerten und ganze Geschlechterreihen zu tränken vermochten, scheinen zu versiegen. Das Grundwasser sinkt ab und die Bäume kümmern dahin, weil ihre Wurzeln nicht mehr zu den Quellen hinabreichen. Unser Leben gleicht einem heißen Ritt durch die Wüste, in der Mensch und Tier verschmachten, weil die Brunnen der Tiefe verschlossen sind. Wer hat die Vollmacht, aus dem unbarmherzigen Stein den sprudelnden Quell hervorzulocken? Ein weitgereister Mann sagte mir vor einigen Jahren, die heranwachsende Jugend der ganzen Welt glaube nicht mehr an die tönenden Worte von dem Aufstieg der Menschheit und sie erhoffe nichts, gar nichts mehr von allen 314

Versuchen, die sozialen Nöte und die zwischenvölkischen Fragen durch gutgemeinte Anstrengungen zu überwinden. Denn diese jungen Menschen seien viel mehr bewegt von der einen Frage, wie in der Welt, so wie sie geworden ist, überhaupt Menschen leben könnten, ohne ihr menschliches Sein zu verlieren. Das ist es, was Ungezählte in wachem Schrecken oder dumpfer Angst empfinden: Das Leben selbst ist in der Tiefe bedroht. Während wir in einer beispiellosen Kraftanstrengung Ungeheures leisten und von einem erstaunlichen Erfolg zum andern weiterschreiten, werden wir immer unsicherer, ob wir nicht in der einen und entscheidenden Aufgabe versagen, ein wahrhaft menschliches Leben auf dieser Erde zu führen; ob nicht längst die Dinge, die menschlicher Geist und Wille als Hilfsmittel des Lebens gestaltet hat, über uns Herr geworden sind. Wir scheinen, in einem tiefen und verborgenen Sinn, in die Lage eines Heeres zu geraten, das in unwiderstehlichem Angriff den Feind niederwirft und einen Landstrich nach dem andern erobert, während es gleichzeitig - hier versagt das Bild — nicht etwa von einem anderen Gegner im Rücken, sondern von einem noch viel unheimlicheren Feind, der den Boden unter den Füßen unterhöhlt, bedroht ist. Der Mythos von der Weltesche Yggdrasil, die stolz in die Höhe ragt, während an ihren Wurzeln die allem Leben feindseligen Riesen nagen, dieser unheimliche Ausdruck einer abgründigen Weltangst, wird in ganz anderen Formen heute wieder lebendig. Dabei sind wir, die wir Christen sein möchten, zunächst keineswegs in einer besseren Lage als die anderen. Einerlei, ob wir Christen bleiben und also das christliche Vätererbe in unserem Leben für unsere Nachfahren bewahren wollen, oder ob wir Christen werden wollen, das heißt, vorstoßen möchten für uns selbst und für unsere Kinder und Kindeskinder zu einer neuen lebendigen Gestalt christlichen Seins: wir alle spüren mit einer tiefen Sorge, wie sehr auch unser Christsein in dieser letzten Tiefe bedroht ist. Können wir überhaupt noch Christen sein? Haben wir überhaupt noch die Freiheit und Möglichkeit, uns für den christlichen Glauben zu entscheiden? Wird nicht aller solcher Wille verschlungen von dem inneren Gesetz unseres heutigen Daseins, von den Formen, die unser aller Leben zwangsläufig annimmt? Unsere christliche Existenz — wenn wir ein so volltönendes Wort überhaupt in den Mund nehmen wollen — wird überrannt von Mächten, die niemand will, die aber eben darum auch niemand fernhalten und denen sich niemand völlig entziehen kann. Es geht um unseren Alltag, das heißt, um den Raum, in dem unser wirkliches Leben sich abspielt. Kaum, daß wir Sonntagschristen sein können — vielleicht wollen wir es auch gar nicht mehr sein —, aber Werktagschristen, Christen im Alltag? Vielleicht können wir das nicht sein, selbst 315

wenn wir es wollten. Gewiß haben wir uns alle auch anzuklagen wegen unserer Trägheit und Untreue, wegen der Verkehrtheit und Bosheit unseres Herzens. Aber wir wissen zugleich, daß es daran allein nicht liegt, wenn alles echte geistliche Leben abgedrängt wird in eine Randzone, wo es keinen echten Austausch mit dem Wohn- und Arbeitsraum unseres Lebens mehr gibt. Man kann sich natürlich auch an diesen Zustand so sehr gewöhnen, daß man nicht mehr unter ihm leidet. Die Randzone stirbt ab, und die Menschen wundern sich kaum mehr, daß sich in ihrem Leben nichts ändert, wenn sie auch äußerlich die letzten Reste religiöser Bindung abstreifen. Wir, die wir Christen sein möchten, können uns an diesen Zustand nicht gewöhnen; wir leiden tiefer als andere unter diesem Zwiespalt: Ein christlicher Glaube, der nicht wirklich in unserem irdischen Dasein verwurzelt ist und hier Früchte trägt, und ein Alltag, der wie ein vertrockneter Garten nicht mehr aus den Quellgründen geistlicher Kräfte gespeist wird. Vielleicht ist dies zunächst und vor allem der Dienst, den wir unserem Volk und durch unser Volk der ganzen Menschheit zu leisten haben, daß wir uns diesem Leiden nicht entziehen und nicht versuchen, diesen schmerzenden Stachel aus dem Leibe unseres Lebens zu ziehen. Welcher Art ist dieses Leiden? Wir wissen sehr deutlich, daß wir in der Tiefe verkommen, wenn wir nicht innerhalb der uns anvertrauten Zeit einen Spielraum der Stille, der Sammlung und Ruhe bewahren. Aber wir haben ja nie Zeit. Unsere Tage sind bis zum Rand ausgefüllt. Das Tempo unserer Verkehrsmittel scheint zwangsläufig auch unsere Lebensführung in seinen Bann zu ziehen. Unsere Nächte werden verkürzt. Wir haben das Dunkel und die Stille, die wie ein mütterlicher Mantel der Barmherzigkeit sich um unsere Seele legen möchte, aus unserer Nähe verbannt. Unsere Arbeitspausen füllen wir mit Zerstreuung, weil wir gar nicht mehr die Ruhe und Gelassenheit haben, in der allein echte Erholung möglich wäre. Kaum, daß wir noch das gute alte Wort Muße kennen und verstehen. Wir wissen nur noch philologisch, daß frühere Geschlechter eben diese Muße (schole, woraus unser Wort Schule entstanden ist) für die unentbehrliche Voraussetzung fruchtbaren Lernens gehalten haben. Wir sehen sehr klar, daß man die entscheidenden und wertvollsten Dinge, insbesondere des geistlichen Lebens, Andacht, Gebet, Versenkung, nicht nebenbei als eine neue Nummer in einem sich jagenden Programm von Verpflichtungen erledigen kann, sondern daß man eben dazu Zeit, Ruhe und Geduld nötig hätte. Aber die Geduld fehlt uns noch mehr als die Zeit. Gibt es hier eine Hilfe? — Wir sehnen uns nach echter menschlicher Verbindung. Wir haben die Vereinzelung des auf sich allein gestellten Menschen als eine gefährliche Erkrankung durch316

schaut und sind, unter entschlossener Führung, aufgebrochen zu neuen Formen der Gemeinschaft und stellen uns gerne mit wirklicher Freude in Reih und Glied. Aber bisweilen fragen wir uns, ob wir nicht eigentlich viel zu sehr in uns selber verschlossen und verkrampft sind, als daß wir zu echter Gemeinschaft fähig sein könnten. Wir sind ärmer geworden an Liebe und Barmherzigkeit, und was wird aus uns, wenn der Strom der Liebe und der Barmherzigkeit versiegt? — Wir können vieles, was frühere Geschlechter nicht gekonnt haben. Wir werden — wenn man einmal so sagen darf — sehr tüchtig; und wir Alten sehen manchmal mit Neid, welche Möglichkeiten die jungen Menschen haben, um in solcher Tüchtigkeit des Körpers und des Geistes, in Gewandtheit und Leistungsfähigkeit weiterzuwachsen. Aber die Sorge überfällt uns, ob wir in aller Tüchtigkeit eigentlich wirklich etwas taugen, nämlich taugen zu einem vollen wirklichen lebenswerten Leben. — Und über alle dem steht dann die uralte Frage, was in diesem Leben, so wie es nun einmal ist, aus unserer Seele wird. Die Formen dieser Frage haben sich gewandelt, aber ist es nicht im Grunde die gleiche Not, die gleiche Angst, wie sie immer wieder aus der Tiefe emporschreit: Was muß ich tun, daß ich gerettet werde? Man kann sich natürlich dieser Frage entziehen. Vielleicht haben wir mehr und gefährlichere Möglichkeiten als frühere Geschlechter, diese Frage zu verdecken und uns über sie zu beruhigen. Unzählige Menschen —und wer von uns gehört im Grunde nicht dazu? — flüchten sich hinein in eine rastlose Tätigkeit, in eine immer noch gesteigerte Leistung, und wir vergessen keinen Augenblick, wie sehr wir das unserem Volk in der Tat schuldig sind. Aber wie verzweifelt nahe liegt es uns dann, daß wir ordentlich froh sind, keine Zeit mehr zu haben. Es sind treffliche, ernsthafte Menschen, die sich darüber ertappen, wie sehr sie sich mit flüchtigem Anschauen flüchtiger Bilder, mit Film und Sport, mit leichter Lektüre, vielleicht auch nur mit Zigarettenrauchen betäuben, weil die echte Widerstandskraft in ihnen gebrochen ist. Wir greifen nach Strohhalmen und verlassen uns auf dünne Drähte, von denen unser Leben überspannt ist, weil der Stab, an dem man ruhig und ausdauernd wandern kann, unserer Hand entglitten ist. Wir sind eigentlich immer auf der Flucht, weil wir keine Zuflucht haben. Wir verbergen uns vor uns selber, weil die bergende Burg unserm Blick entschwunden ist, und wir den Weg dorthin nicht mehr finden. Diese Not steht ausgesprochen oder unausgesprochen hinter den Äußerungen, die in diesem Buch vereinigt sind. Es hat keinen Wert, wenn wir dieser Not allgemeine Gedanken entgegenstellen. Was nützen uns die größten christlichen Erkenntnisse, die schönsten Worte über geistliches 317

Leben und geistliche Übung, wenn wir nicht Wege suchen, unseren Alltag zu ordnen, zu heiligen und mit geistlichen Kräften durchdringen zu lassen. Es gibt unter uns eine Art von Christentum, das theologisch einwandfrei und unangreifbar sein mag, das aber eine unüberwindliche Scheu vor konkreten Weisungen und konkreten Schritten im Alltag des Lebens hat. Diese Scheu müssen wir tapfer und gründlich überwinden. Wir müssen ernsthaft fragen, welche Hilfen es gibt; zunächst für uns selbst und dann auch für die vielen, vielen, die mit uns in der gleichen Not stecken. Wir fragen nach Hilfe im Alltag, weil wir nicht verzweifelt resignieren, sondern gewiß sind, daß es solche Hilfe gibt. Wir reden miteinander, wir tauschen unsere Fragen, unsere Erkenntnisse, unsere Erfahrungen aus, weil wir wissen, daß unser Christsein sich hier, eben hier bewähren muß. Wir reden von Hilfe im Alltag auch in ernster Liebe und Verantwortung vor unserem Volk. Wir haben keine Zeit und kein Recht, abseits von dem Strom des Lebens schöne, friedliche und sanfte Gefühle zu pflegen, sondern wir wollen an unserem Teil dazu helfen, daß wir die Kraftprobe dieser Zeitenwende wirklich bestehen. Die Gegenkräfte gegen alles, was an unserem Sein und Leben bedenklich, unheimlich und krank ist, können nur in unserem Alltag, nicht in flüchtigen Feierstunden und Ferientagen sich auswirken. Darum geht es: Hilfe im Alltag!, damit uns wirklich geholfen sei! *

Wer von Hilfe im Alltag reden will, muß nüchtern von ganz konkreten Dingen sprechen. Darum ist hier vielleicht weniger als manche Leser suchen — die sich gerne wieder einmal begeistern oder erbauen möchten —, von den großen Wahrheiten des christlichen Glaubens die Rede, und statt dessen von so handfesten Dingen, wie Zeiteinteilung, Ordnung des Tageslaufs, fester Gewöhnung, täglichem Bibellesen und täglichem Gebet. Auch von so geringen und unscheinbaren Dingen, wie den Bildern an der Wand, von den Liedern, die wir singen, von den Worten, die wir sprechen, und was dergleichen mehr ist. Wundere sich niemand, wenn der grimmige Ernst sich da und dort in ein Narrengewand hüllt. Wir können nicht jede Festung von vorne anrennen und müssen dem Feind, der unser Leben verderben will, auch auf allerhand Umwegen und mit mancherlei List begegnen. 1. WAS KEINE ZEIT KOSTET Vielleicht werden sich etliche Leser auf diesen Aufsatz in erster Linie stürzen, denn es soll ja das, was für sie etwa brauchbar sein möchte, keine Zeit kosten. Es darf keine Zeit kosten, sonst müßten sie, wie sie 318

meinen, auf solche Hilfe von vornherein verachten. Denn sie haben keine Zeit. Manche, vielleicht viele dieser immer eiligen Leser muß ich von vornherein enttäuschen. Denn ist es nicht ein Widerspruch in sich selbst, wenn man „Hilfe im Alltag" begehrt, aber zugleich die Bedingung stellt: Bitte sehr kurz, Zeit habe ich nicht übrig!? Es gibt Dinge, die können nur gedeihen, wenn man sich Zeit dafür nimmt; und wenn sie schnell und nebenbei erledigt werden sollen, so verkümmern sie, wie eine Blume, der es an Licht mangelt. Wir haben die geistlichen Lebenshilfen, wenn wir keine Zeit dafür aufzuwenden bereit sind, von vornherein dem Tempo unserer Tage unterworfen. Sie sind sofort gleichsam aufgesogen von gefährlichen Mächten, gegen die wir sie zur Hilfe gerufen haben, und sind also unkräftig und unwirksam geworden. Ich würde darum den, der durch die Überschrift dieser Zeilen angelockt wird, zunächst einmal warnen und ihm jene unheimliche Frage vorlegen, die der Herr Christus hin und wieder an einen Kranken gerichtet hat: Willst du gesund werden? Willst du das wirklich? Das heißt auf unseren Fall angewendet: Begehrst du wirklich und ernstlich Hilfe für deinen Alltag? Hilfe gegen die Hetze, gegen den Leerlauf deiner rastlosen und zermürbenden Tätigkeit, Hilfe gegen die Öde, in der die Seele verschmachtet? Wenn du weißt, daß dir solche Hilfe nötig ist wie das tägliche Brot, wenn du sie darum wirklich und ernsthaft begehrst, dann sage nicht: Es darf aber keine Zeit kosten, sondern nimm dir die Zeit für das, was nötiger ist als alles andere, damit dir nicht Gott in einer höchst empfindlichen Weise deine Zeit nehmen oder dir zeigen muß, daß schon der Teufel dir deine Zeit geraubt hat. Aber ich habe nicht den Mut, das allen zu sagen, die mich nach einer Hilfe fragen, die keine Zeit kostet. Denn ich sehe um mich her manche Menschen, die wirklich keine Zeit haben. Alle die, die hineingebunden sind in eine feste und strenge Ordnung der Tage, in der Kaserne, auf dem Truppenübungsplatz, im Arbeitsdienst, haben wirklich kaum die Möglichkeit, „sich Zeit zu nehmen" für das, was ihr ganz persönliches Leben angeht. Aber auch bei manchen anderen vielbeschäftigten Menschen bleibt nach aller gewissenhaften Überlegung und Prüfung wirklich ein Leben übrig, in dem auf keine Weise jene „stille halbe Stunde", jene Zeiten des Schweigens, der Sammlung und Versenkung, des regelmäßigen Bibellesens und täglichen Gebetes ausgespart werden können. Soll es eine Hilfe geben, so darf sie in der Tat keine Zeit kosten. Freilich muß man Menschen solcher Art an das Goethewort erinnern, daß man, um handeln zu können, müsse gehandelt haben. Das heißt: Man muß sich, solange man Zeit hat, jenen inneren Besitz aneignen, der 319

dann eine rechte Hilfe bedeutet, wenn man keine Zeit hat. Es gilt auch von geistlicher Lebenshilfe sehr nüchtern: Spare in der Zeit, so hast du in der Not! Wir sollten uns eine nicht zu geringe Zahl von Gesangbuchliedern oder -versen, von einzelnen Bibelworten oder auch längeren Abschnitten, von Kernworten aus dem Katechismus, oder auch gehaltvollen Worten und Liedern ganz anderer Art einprägen, so daß wir sie als einen unverlierbaren Besitz in uns tragen. Es ist natürlich weitaus das Schönste, wenn sich all dies vom regelmäßigen Gebrauch her unserem Gemüt und unserem Gedächtnis „einprägt" (o schönes und nachdenkliches Wort!); man hat es dann nie gelernt, aber man kann es eben. Aber wir kommen damit nicht aus, sondern müssen mit bewußtem Lernen nachhelfen. Das geht nicht ganz ohne Zeitaufwand ab, aber wir können sehr viele sonst tote Zwischenzeiten dazu verwenden, um solche Stücke zu wiederholen, damit wir nicht allzu schnell verlieren, was wir eben erst gewonnen haben. Es ist besser, wenn du auf deinen notwendigen Wegen Lieder lernst und wiederholst, als wenn du deine sorglichen Gedanken wälzest. Du mußt gelegentlich warten, vielleicht länger als dir lieb ist; fülle solche Zeitspannen aus, statt dich über ihre Leerheit zu ärgern. Und wie wäre es, wenn du auf einer Eisenbahnfahrt, statt dich mit irgendeinem illustrierten Blatt zu zerstreuen und an Kreuzworträtseln dem Denksport zu frönen (ist solcher Denksport nicht nur eine sehr gebildete Form der Zerstreuung?), einen Wochenspruch oder ein Wochenlied nach dem andern lernen würdest? Du kannst ja dein Buch einbinden und auf die Mundbewegungen, mit denen wir dem Lernen zur Hilfe zu kommen pflegen, verzichten, damit deine Umwelt sich nicht über dich wundern muß. Ist da jemand, der nicht weiß, was er in solcher Weise auswendig lernen soll? Dem seien zuerst die Wochensprüche empfohlen, die uns in ihrer Kürze und bildhaften Kraft am eindrücklichsten begleiten; eine Art „eiserne Ration" biblischer Wahrheit und kirchlicher Ordnung zugleich. Von den Wochenliedern, den „Liedern für das Jahr der Kirche", eignen sich weitaus die meisten als solche treuen Begleiter; und die schwierigeren unter ihnen rücken uns erst recht nahe, wenn wir sie so gegenwärtig haben, daß uns ihr Text immer wieder auftaucht. Eine Reihe von längeren Bibelabschnitten, die man in jedem Augenblick aus dem Herzen sollte hervorholen können, nach dem Kirchenjahr geordnet, ist in Vorbereitung. Man mache sich einen festen Plan für drei oder vier Jahre, um sich einen guten und mannigfachen Vorrat zu sammeln. Die treuen Begleiter, die man sich auf solche Weise erworben, lohnen überschwenglich die Mühe, mit der man sozusagen die Abfälle unserer Zeiteinteilung in einer Brockensammlung nutzbar gemacht hat. Die 320

Hilfe, die sie uns leisten, kostet dann wirklich keine Zeit. Gerufen und ungerufen tauchen sie auf, schauen uns an, reden mit uns, klopfen uns auf die Schultern, heben warnend den Finger, besänftigen unsern Zorn, beruhigen unser Gemüt, trocknen unsere Tränen, und was solcher Engelsdienste mehr sind. Es kostet wirklich keine Zeit, es „kostet" nur das eine, daß wir uns ihre Begleitung gefallen lassen und nicht etwa den treuen Freund unwillig beiseite stoßen, weil uns sein Rat im Augenblick unbequem ist, oder weil wir in unseren eigenen Gedanken nicht gestört sein wollen. Ja, diese einzelnen Worte, Liedverse und Sprüche bezeichnen eigentlich den Raum, in dem wir leben, so wie unser „Lebensraum" im anderen Sinn geprägt wird durch die leibhaften Menschen, denen wir immer wieder begegnen. „Die helle Sonn' leucht jetzt herfür, fröhlich vom Schlaf aufstehen wir" — „Treib unsern Willen, Dein Wort zu erfüllen" — „Ein Tag der sagt's dem andern, mein Leben sei ein Wandern zur großen Ewigkeit" - „Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein'n neuen Schein" — „Ertöt' uns durch Dein Güte, erweck' uns durch Dein Gnad" — Ach, wir könnten allein mit Liedzeilen, die es wahrlich wert wären, unverlierbar in unser Leben aufgenommen zu sein, ganze Seiten dieses Buches füllen. Noch etwas anderes, was auch „keine Zeit kostet"! Wenn wir unsere Räume mit Bildern schmücken — besser mit wenigen, die jeder Prüfung standhalten und jede Dauer vertragen —, in denen ein Hauch des ewigen Geheimnisses uns berührt, und wenn wir dann, wenn wir eben können, morgens oder abends, eine Weile lang stille Zwiesprache mit ihnen halten, so wird gleichsam unsere Seele belichtet von diesen Bildern, und die Geschäfte, Erlebnisse, Sorgen und Gespräche des Tages können dann unversehens das Bild sichtbar machen, das verborgen zunächst und vergessen in unsere Tiefe eingegangen war. „ E s kostet keine Zeit": immer wieder einen Blick auf das zu werfen, was wir mit Bedacht in unsere Nähe gerückt haben, damit von Zeit zu Zeit unser Blick darauf „falle". In einem Brief wird der gute Vorschlag gemacht, sich allmählich in Postkarten oder anderen leicht erreichbaren Abbildungen eine dem Gang des Kirchenjahres folgende Sammlung anzulegen, und dann werfen diese Bilder einen Blick auf uns, schauen uns an wie mit leiser Mahnung: Vergiß „es" nicht! Oder richtiger: sie tauchen auf aus der Tiefe, in die sie sich eingesenkt hatten. Ganz ähnlich ergeht es uns mit Melodien. Laßt es nur unsere Sorge sein, daß unsere Seele sich gleichsam vollsauge mit klaren, frommen, ich möchte sagen verbindlichen Weisen, nicht mit leichtfertigen und aufreizenden Melodien. Es gibt eine sehr alte Melodie des Vaterunsers aus der „mozarabischen" Liturgie, ganz einfach und einfältig, aber über die Maßen ehrfürchtig und beruhigend. Ich muß sie nur 321

leise vor mich hinsummen, und schon fühle ich mich mit hineingenommen in den Raum der betenden Kirche, und die aufgeregte Seele ist geborgen und getröstet wie ein Kind auf dem Schoß der Mutter. Die ganz kurzen Gebete, es sei ein Bittruf, ein Lobpreis, eine stille Betrachtung, tun den gleichen Dienst. Wir sind müde und verzagt, da fällt es jählings in unser mattes Herz wie erquickender Regen auf dürres Land: „Du erquickest meine Seele." Wir sind im Begriff, uns wieder einmal zu entrüsten und mit der bösen Welt zu hadern, da quillt es auf, warm und tröstlich und sehr beschämend: „Du aber, o H e r r . . . " , und ehe unsere Gedanken oder unsere Lippen weitere Worte geformt haben, sind wir von diesem einfältigen „Du aber" umhüllt, wie von einem Mantel der Barmherzigkeit. Es muß nichts Neues sein, man braucht vielleicht sehr wenig, um davon wirklich zu leben. Denn hier schweigt alle Neugier, und das Herz wird nicht überdrüssig, immer wieder die gleichen Worte zu wiederholen; nicht die Sensation des noch nie Dagewesenen, sondern die Wiederholung der ganz wenigen großen und unvergänglichen Wahrheiten sind Hilfe im Alltag. Sage niemand: Ich habe wirklich keine Zeit. Hier gilt keine Ausrede. Es kostet wirklich keine Zeit zu atmen.

2. D I E A N D E R E N M E N S C H E N Welche Rolle ist hier den anderen Menschen zugedacht, hier, wo wir von der nötigen Hilfe im Alltag reden? Sind sie, die andern, eine Hilfe, oder verkörpern und vermehren sie selbst jene Schwierigkeiten, um derer willen wir nach Hilfe ausschauen? Natürlich stehen sofort andere Menschen von beiderlei Art vor unserer Seele, Menschen, die unsere Tage belasten, und andere, deren Dasein eine Erquickung und eine Quelle der Hilfe, der Freude und der Kraft ist. Schon fangen wir an, die Menschen unserer Umgebung zu sortieren und in jene beiden Gruppen aufzuteilen. Aber so geht das nicht. Es hängt gewiß nicht nur von den andern, sondern mindestens im gleichen Maß von uns selber ab, ob uns die andern Menschen zur Last oder zur Hilfe werden. Darüber brauchen wir nicht viel Worte zu machen, daß von den Menschen, die wir lieben und die uns lieben, ein Strom warmen Lebens zu uns kommt. Nie werde ich vergessen, wie ein verehrter Mann an der Schwelle des Greisenalters - es war ein Vorkämpfer der nationalen Erhebung —, als er mich zum erstenmal mit seiner Frau bekannt machte, 322

seinen Arm um ihre Schulter legte und zu mir, dem sehr viel Jüngeren, sagte: „Dies ist die Frau, die mein Leben durch 50 Jahre mit immerwährendem Sonnenschein erfüllt hat." Ich bin gewiß, daß mehr Menschen als wir es ahnen, in ähnlicher Weise, vielleicht mit nüchterneren Worten, aber doch in gleicher überströmender Dankbarkeit, eines anderen Menschen gedenken. Wem das Geschenk eines solchen geliebten und liebenden Menschen zuteil geworden ist, der hat darin zugleich eine unvergleichliche, köstliche und nie genug zu bedankende Hilfe im Alltag empfangen. Daneben, gleichsam in einem schönen bunten Kranz, stehen alle die vielen Menschen, die es herzlich gut mit uns meinen, die uns Liebes erweisen, uns mit Freundlichkeit begegnen und uns mit ihrer Treue begleiten und tragen. Wie kann ein herzenswarmer Gruß erquicken! Wie sehr kann ein Wort des Dankes, ein Zeichen der Verbundenheit, ein flüchtiges Wort, das den Klang der Güte in sich trug, erfreuen und stärken! Und höher noch als diese freundlichen Blumen am Wege steht das gewichtige Wort des Freundes, des väterlichen oder mütterlichen Begleiters, das uns warnt und straft zur rechten Zeit. Dreifach gesegnet seien die Menschen, die uns helfen mit der unerbittlichen Wahrheit, die uns schützen gegen uns selber! Was wäre unser Alltag, wenn wir solche Hilfe von anderen Menschen ganz und gar entbehren müßten! Aber nun will ich gerade von den andern sprechen, von denen wir keine solche Hilfe erwarten dürfen, von den andern, die wir eher geneigt sind als eine uns auferlegte Last anzusehen. So gern wir uns dankbar aller hilfreichen Wohltat erinnern wollen, die wir empfangen dürfen, so wichtig ist es, daß wir lernen, auch die Hilfe wirklich zu sehen und dankbar anzunehmen, die uns von jenen andern, unbequemen und mühsamen Menschen zuteil werden kann. Es steckt eine große Weisheit unserer Sprache darin, daß sie von dem uns begegnenden oder uns gegenüberstehenden Menschen als dem „Andern" redet. Selbstsüchtig und in uns selber verliebt, wie wir es nur allzu sehr und allzu gerne sind, sind wir oft schon bereit, uns darüber zu ärgern, daß der andere eben wirklich der „andere" ist, anders als wir nach Lebensgewohnheiten und Meinungen, anders in seinem Wünschen und Streben, anders wohl auch in seinem Glauben und in seinem Gewissen. Es ist gut, wenn wir uns daran gewöhnen, es ist noch besser, wenn wir uns nicht nur widerwillig in dieses Schicksal ergeben, daß nicht alle uns gleichen, sondern es als ein sehr weises und heilsames Geschenk des lebendigen Lebens achten und annehmen. Wir sollen nicht aus jeder Verschiedenheit einen letzten Gegensatz konstruieren, der in alle Tiefen hinabreicht. Der Herrgott braucht diese Menschen, die aus einem ganz an323

dem Holz geschnitzt sind, gewiß ebenso nötig wie uns selber und weiß schon, wozu diese Art gut ist. — Es ist nicht immer schlecht und verwerflich, wenn wir entdecken, wie komisch manche Leute sind, und wenn wir sie also mit einigem Humor — aber beileibe nicht mit Spott! — betrachten. Aber es ist noch besser, wenn wir bedenken, daß wir selber gewiß mindestens ebenso komisch sind und also lernen, uns selber mit etwas weniger Ernst und Wichtigkeit und mit etwas mehr Humor zu nehmen. Solchen Humor, wenn er aus der Demut und der Gütigkeit erwächst, ist wirklich wie ein Tropfen Öl in der Angel einer Tür, die sonst erbarmungslos quietscht und kreischt, so oft wir sie auftun. Diese andern Menschen sind bisweilen sehr rücksichtslos. Sie leben unbekümmert ihre eigene Art und fragen nicht viel darnach, ob das uns freut, oder was etwa unsere besonderen Bedürfnisse und Wünsche sein möchten. Der Raucher, der die Existenz von Nichtrauchern grundsätzlich nicht zur Kenntnis nimmt, oder der Lärmfreudige, der ganze Straßenzüge zu unfreiwilligen Zuhörern seines Lautsprechers macht, sind nur zwei besonders wohl bekannte Vertreter dieser sehr zahlreichen Mitmenschen. Darüber ärgern wir uns bisweilen, und ich will diese Anmaßung und Tyrannei gewiß nicht loben. Aber es hat auch sein Gutes, daß die andern Menschen auf unsere persönlichen Neigungen und Gewohnheiten so wenig Rücksicht nehmen. Wenn wir von lauter Rücksichten umgeben sind, so werden wir verwöhnt und lassen uns verwöhnen; das Leben aber ist nicht rücksichtsvoll, sondern hart und unerbittlich. Wie grausam unerbittlich können kleine Kinder sein; sie fordern, was sie brauchen, und fragen gar nicht darnach, ob die Mutter übermüdet ist und der Ruhe dringend bedarf. Sie lachen und spielen, wo den Eltern das Herz voll Traurigkeit und die Augen voll Tränen sind. Eine Lehrerin schreibt mir: „Als ich einmal wieder an die Grenzen meiner Kraft gekommen war, da waren mir meine Schulkinder eine große Hilfe. Wenn ich morgens zur Schule kam, fragten sie durchaus nicht, wie mir zumute sei und wie mir's ginge, sondern forderten einfach meinen ganzen Einsatz. Und weil dies Fordern ohne Absicht und Spitze ist, verletzt es nicht. Solche Arbeit verzehrt dann wohl die letzten Kräfte, ist aber zugleich Wohltat und Befreiung, weil man von sich selbst weggezogen wird." Als ich diesen Brief las, kam mir in den Sinn, daß im Grunde auch die Liturgie der Kirche gerade deswegen so hilfreich ist, weil sie gar keine Rücksicht nimmt auf unsere subjektiven Stimmungen, Neigungen und Bedürfnisse. Das Leben faßt uns nicht zärtlich an, und die Wahrheit ist unerbittlich. Man kann lernen, für solche Härte zu danken, und also auch den anderen Menschen zu danken, durch deren Rücksichtslosigkeit wir das lernen, was uns zu lernen aufgetragen ist. 324

Vielleicht ist dies die beste und eigentliche Hilfe, die von den andern Menschen zu uns kommt, daß wir immer wieder Aufgaben sehen, Gelegenheiten finden zu dienen, zu helfen, Liebe zu erweisen. Ein schlichter Dienst, den wir andern Menschen erweisen - vielleicht helfen wir nur einen Karren schieben, oder wir halten den Hut fest, den der Wind einem andern Menschen vom Kopf geweht hat —, schlägt sofort eine Brücke über alle Gräben der Verschiedenheit und Fremdheit hinüber. Alles läßt sich ertragen, wenn wir ihm mit dienstwilliger Liebe begegnen. Manche Menschen unserer Umgebung wollen gar nichts von uns. Da müssen wir selber erfinderisch sein, was etwa doch gerade hier von uns gefordert sein könnte. Andere Menschen verlangen um so mehr von uns, sie halten sich an uns und leben von unserer Kraft. Wollten wir die Last aus unserem Leben abwerfen, die uns solche Verantwortung für andere auferlegt? Wie oft gilt das Wort: „Unser stärkster Halt sind, die sich an uns halten!" Wer wird denn eigentlich gehalten, wer wird getragen? Das Licht — so lese ich in einem Brief —, das wir in irgendein Dunkel bringen, strahlt auf uns zurück. Es ist schon gut und recht so mit den andern Menschen, so wie es ist. Es liegt auch an uns, ob wir an ihnen müde werden, oder von ihnen Hilfe empfangen, nicht allein von den Freundlichen, in deren Liebe wir uns sonnen, sondern auch von den Mühsamen und Wunderlichen.

3. DU SOLLST NICHT SCHIELEN! Im voraus bitte ich um Verzeihung für diese ungeistliche Überschrift. Aber wäre es nicht wirklich eine gute Hilfe im Alltag, wenn man sich das Schielen abgewöhnen könnte? Wenn ich meinen Schulkindern das 9. und 10. Gebot erklären wollte, dann sagte ich ihnen, daß wir hier vor dem Schielen gewarnt werden. Das heißt vor der sehr unangenehmen Gewohnheit, statt geradeaus auf unseren Weg zu schauen, nach rechts oder links zu gucken, auf etwas, was uns eigentlich gar nichts angeht, sondern zu Besitz und Aufgaben und Lebensumständen anderer Menschen gehört. Wie verbreitet diese Gewohnheit ist, wissen wir alle. Es ist ja gewiß nicht immer die Frau des Freundes, nach der einer schielt, oder sein Haus, was er mit neidischen Blicken betrachtet. „Knecht, Magd, Vieh oder alles, was sein ist" heißt in die heutige Sprache übersetzt: das Auto, aus dem man sehr viel mehr Kilometer rausholen kann als aus dem unsrigen — wenn wir überhaupt eins haben —, oder die musikalische Begabung, oder das glückliche Tem325

perament. Vielleicht ist's auch nur die schöne Stimme, oder die gute Gestalt, oder was sonst nach unserer Meinung zu den glücklichen und beneidenswerten Lebensumständen gehört. Wer von uns dürfte behaupten, daß er noch nie nach solchen Dingen geschielt hätte? Wenn man überhaupt auf sie schauen will, muß man nämlich nach ihnen schielen, weil sie eben nicht geradeaus auf unserem Weg liegen. Der Räuber macht nun einfach rechtsum oder linksum und geht stracks auf das los, was er dem andern nehmen will. Es fällt uns gar nicht ein, uns auf diesen Weg der brutalen Gewalt oder sonstiger Bosheiten zu begeben. Die meisten Dinge, die wir gern hätten, können wir ohnehin dem glücklichen Besitzer nicht wegnehmen, weil sie eben nicht sein Besitz, sondern ein Stück seines Lebens sind. Also schielen wir wenigstens. Ich weiß natürlich, daß mit dem „Sich-gelüsten-Lassen" des alten Gebotes etwas sehr viel Ernsthafteres gemeint ist. Wahrscheinlich bedeutet dies letzte Gebot in seiner ursprünglichen Fassung den Schutz des Sippenerbes und soll also das Volksganze vor der Entstehung eines landlosen Proletariats bewahren. Aber lassen wir einmal diese ernsten Hintergründe beiseite, verzichten wir auch einmal auf moralische Entrüstung, sagen wir lieber kurz und bündig: Schielen ist dumm! Wir machen uns unseren Weg schwerer, wenn wir schielen. Wir vergiften unser tägliches Brot und rauben uns Freude und Kraft für unseren Alltag, wenn wir „schielen". Heute morgen, als ich mir die Gedanken für diesen Aufsatz zurechtlegte, stand in der Zeitung zu lesen, daß eben ein neuer Film gedreht worden sei, mit dem vielversprechenden Titel: „Das Glück wohnt nebenan." Ich habe keine Ahnung von dem Inhalt des Films, vielleicht habe ich ihn ganz falsch verstanden. Vielleicht sehe ich diesen Film einmal und muß dann über mich selber und über meine verkehrten Gedanken lachen. Aber haben wir nicht manchmal schon uns über einen Buchtitel nur so still für uns selber einen eigenen Roman gedichtet? Und haben wir nicht alle schon sehr oft im wirklichen Leben einen halb komischen, halb tragischen Film abrollen sehen, auf den dieser Titel trefflich paßte: „Das Glück wohnt nebenan?" Ja, wenn ich an diesem anderen Platz stünde, was wollte ich da leisten. Wenn ich diesen anderen Beruf hätte ergreifen können, was für ein tüchtiger Mensch wäre ich geworden. Wenn ich die glückliche Anlage dieses meines Freundes hätte, wieviel leichter könnte ich dann mein Leben meistern. Wenn i c h . . . Das Schielen kann gefährliche oder auch lächerliche Formen annehmen. Wenn ein Ehemann, eine Ehefrau dem Gedanken nachhängt: Wenn ich mit jener anderen Frau, mit jenem anderen Mann verheiratet w ä r e . . . — hat der nicht schon die Ehe gebrochen in seinem Herzen? Wird nicht 326

durch einen solchen Seitenblick - es braucht noch nicht ein Seitensprung zu sein — die eigene Ehe, vielleicht auch die andere Ehe vergiftet? — Ich hatte einen verehrten und lieben Freund, der mir manchmal weise Aussprüche berühmter Männer zitierte und dann gern hinzusetzte: „Was gäbe ich darum, wenn ich das gesagt hätte." Dann und wann sind mir auch Menschen über den Weg gelaufen, die einen andern um seine Krankheit oder sonstiges Leiden beneideten, weil das so sehr interessant und bemitleidenswert war. Schielen ist dumm! Vielleicht nicht nur dumm, vielleicht sehr gefährlich, aber sicherlich dumm; denn damit machen wir uns unseren Alltag schwer. Die Freuden, die uns gegönnt sind, werden uns vergällt, wenn wir nach fremden Freuden schielen. Die uns auferlegten Lasten werden unerträglich, wenn wir meinen, die Last des anderen wäre unserer Kraft wohl angemessener. Wir werden blind, taub und stumm für unsere Nächsten, wenn wir, statt sie wirklich zu sehen, nach anderen Menschen schielen, die uns gar nichts angehen. „Das Glück wohnt nebenan." Kann ein Mensch glücklich werden, bescheiden, gelassen, dankbar seinen Weg gehen, wenn er sich selber immer vorredet: „Das Glück wohnt nebenan?" Wievielen Menschen haben schon Christian Morgensterns schlichte Verse geholfen: Sieh' nicht, was andre tun, Der andern sind so viel, Du kommst nur in ein Spiel, Das nimmermehr wird ruh'n. Hilfe im Alltag? Ein kleiner, unscheinbarer, wichtiger Rat: Du sollst nicht schielen. *

„Hilfen im Alltag" sind alles immer nur sehr menschliche Notwendigkeiten, unendlich vielgestaltige Pforten in das Heiligtum. Aber eigentlich ist alles, was man dabei sagen kann, immer eines und dasselbe, es läßt sich nur ebenso vielfältig ausdrücken — wenn man Worte genug findet —, wie sich der Name Gottes in seiner Schöpfung ausspricht, und wie die Pfade des menschlichen Herzens und die Schwierigkeiten unseres täglichen Lebens vielerlei sind. Wenn wir gelernt haben, in aller dieser unendlichen Mannigfaltigkeit nur Gott zu suchen und zu finden, so wird alles einfach und klar.

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4. „ W I R G E D E N K E N V O R D I R . . . Mit diesen Worten leiten wir in der Feier der Deutschen Messe die einzelnen Fürbitten ein, mit denen wir auch die Abwesenden, alle, die uns in besonderer Weise ans Herz und aufs Gewissen gelegt sind, in die Gemeinschaft des Heiligen Mahles einbeziehen. Wir, die wir jetzt vor dem Altar versammelt sind, haben einander gegrüßt mit dem Friedensgruß. Aber ehe wir nun fortfahren und uns rüsten, an dem Tisch des Herrn die gesegnete Speise, den gesegneten Trank zu empfangen, tun wir unser Herz auf und verbinden uns mit vielen andern, von denen wir, obschon räumlich getrennt, gerade in diesem Augenblick nicht getrennt sein wollen. „Siehe, mit uns feiert die ganze Kirche aus allen Völkern." Aber es kann und darf nicht bei dieser unübersehbaren Weite bleiben. Die Fürbitte für die Kirche, ihre Hirten und Gemeinden, für Obrigkeit und Volk, für die Häuser und Ehen, für alle Stände, schreitet fort zu einer besonderen Fürbitte, in der wir laut oder in der Stille, einzelner Menschen, die uns besonders befohlen sind, ausdrücklich und namentlich vor Gott gedenken. Unsere liebenden Gedanken geben ihnen sozusagen einen Platz an dem Tisch, zu dem wir selber geladen sind, damit der Segen nicht durch Selbstsucht verdorben werde. Sie sind mit gemeint, und wir bitten Gott, er möge ihnen allen den Segen nicht versagen, den wir selber in diesem Heiligen Mahl zu erlangen hoffen: „Sende ihnen allen, derer wir vor Deinem Angesicht gedenken, Hilfe von Deinem Heiligtum und stärke sie in Gnaden." Hier liegt die Herzkammer aller Fürbitte, und ihr innerstes Lebensgesetz wird hier offenbar. Gerade wenn wir täglich für andere Menschen beten und uns täglich in solcher Fürbitte für den Umgang mit anderen Menschen reinigen und stärken lassen wollen, ist es wichtig, daß wir das Wesen solcher Fürbitte klar erkennen, und die äußere Form mit wirklichem Leben erfüllen. Es ist vor allem ein wirkliches „Gedenken". Wir denken an diesen bestimmten einzelnen Menschen. Wir nennen seinen Namen. Selten wird es gerechtfertigt sein, im Gottesdienst einzelne Namen laut zu nennen und die also Bezeichneten der Fürbitte der Gemeinde zu befehlen. Die Brautleute, die in den Stand der Ehe treten wollen, die neugeborenen Kinder und die Häuser, in denen der Tod eingekehrt ist; einzelne Kranke, um deren Leben wirklich die versammelte Gemeinde Sorge trägt: warum sollten wir nicht ihrer aller namentlich gedenken? Aber in vielen anderen Fällen liegt die Gefahr erschreckend nahe, daß die Nennung einzelner Namen eine Form der Mitteilung ist und damit nicht mehr der Fürbitte, sondern der Neugier oder Schlimmerem dienstbar 328

wird. Aber zu Hause, in der Stille unseres ganz persönlichen Gebetes, da wollen wir die Namen nennen, vernehmlich und laut, damit der Klang dieses Namens uns leibhaft berühre, stärker und dringlicher als ein flüchtiges Gedenken. Wir denken wirklich an ihn. Wir vergegenwärtigen uns, wenn es sein kann, seine Gestalt, sein Gesicht, wir schauen ihn an. In jedem Falle aber vergegenwärtigen wir uns seine besonderen Lebensumstände, seine Arbeit, die Menschen seiner täglichen Umgebung. Wir treten gleichsam ein in seinen Raum. Welche Freuden erquicken ihn? Welche Lasten liegen auf ihm? Welche Sorgen begleiten ihn? Womit hat er zu kämpfen? Welche Ziele und Aufgaben liegen vor ihm? Wir lassen uns Zeit, alles dies deutlich vor unserem inneren Auge zu sehen, ja mit der Liebe unseres Herzens zu umfassen, ehe wir zu einem anderen Namen weitereilen. „ Wir gedenken vor D i r . . V o r Gottes Angesicht wollen wir uns das Leben dieses anderen Menschen vergegenwärtigen. Wir stehen nicht eigentlich ihm gegenüber - denn wie könnten wir, während wir beten, unseren Blick von Gott abwenden? —, sondern wir stehen neben ihm und wissen, daß er neben uns steht. Vielleicht ist er keineswegs selber mit uns gekommen. Vielleicht wollte er, wenn wir ihn fragten, gar nicht mit uns vor Gott treten, aber wir haben ihn mitgenommen, oder vielmehr wir haben ihn gefunden, da, wo er, mit Willen oder Widerwillen, steht und stehen muß und stehen darf: vor dem Angesicht des ewigen, allmächtigen und barmherzigen Gottes. Er steht mit uns in dem Licht, das das Verborgene durchdringt und „den Rat der Herzen offenbart". Er steht mit uns vor dem Herrn, der ihm wie uns selber Befehl und Weisung gibt. Er steht mit uns vor dem Thron der Gnade, wo keiner weggewiesen oder verstoßen wird, der hier Barmherzigkeit sucht, und wo aller Schade geheilt und alles — alles! — zu einem rechten und guten Ende gebracht werden kann. Indem wir hier, vor Gott, eines andern Menschen gedenken, wird dieses Gedenken selber und die ganze Art unserer Beziehungen seltsam und spürbar verwandelt. Die räumliche Ferne ist überbrückt, und die irdische Nähe bekommt ein anderes Vorzeichen. Was uns voneinander trennt, wird unwesentlich. Meine persönliche Beziehung zu ihm, sie sei gut oder schlecht, wird unwesentlich, weil sie ganz aufgehoben ist in der übergreifenden Ordnung Gottes. Wage ich vor Gott anzuklagen, was ich wider meinen Bruder habe? Wage ich als Richter aufzutreten über sein Leben und sein Wesen? Oder wage ich vollends zu sagen, dieser mein Bruder, diese meine Schwester ginge mich nichts an? Ich entferne mich selber aus der Nähe Gottes, wenn ich meinen Bruder, meine Schwester nicht wirk329

lieh mitnehme und ihnen ihren Platz, ihr Recht gönne neben mir vor dem Thron der Majestät. „Wir gedenken vor D i r . . I n d e m wir anfangen, wirklich vor Gott dieses bestimmten anderen Menschen zu gedenken, werden wir auch zögern, Gott vorzutragen, was wir über diesen unseren Bruder denken, und welche Wünsche wir nach dem Maß unserer Einsicht für ihn auf dem Herzen haben. Es ist uns viel wichtiger, Gottes Gedanken über ihn zu erfahren, als unsere vielleicht sehr törichtigen Gedanken Gott vorzutragen. Es liegt uns mehr am Herzen, ahnend zu verstehen, was Gott von unserem Bruder und für ihn will, als daß Gott wisse, was wir für das Richtige und Notwendige halten. „Wir gedenken vor D i r . . h e i ß t das nicht auch: Nun zeige uns, Vater, wie dieser Mensch aussieht in dem Licht Deiner Nähe! Hilf uns ihn anschauen mit dem Blick Deiner Liebe! Erwecke unser Herz, daß wir mit ganzer und ungeteilter Seele eben das für ihn wünschen und begehren, was der Plan Deiner Liebe mit ihm will! Heißt es nicht auch dieses, daß wir Fehler und Schuld unseres Bruders vor Gott tragen, nicht als Ankläger, sondern in priesterlicher Stellvertretving: Sei ihm nahe mit Deinem Erbarmen und laß ihm leuchten Dein Angesicht! „Wir bitten Dich, Herr, für alle, die Du uns verbunden hast. Stehe ihnen bei auf dem Wege zum ewigen Heil." Solches Gedenken ist nicht ein müßiger Gedanke ohne Kraft und Wirkung. Das Neue Testament redet in sehr kühnen Bildern davon, daß die von der Liebe Christi ergriffenen Menschen mit Christus auf den Thron gesetzt, mit Ihm zu Königen gemacht sind und Anteil empfangen an der Herrschaft, die Ihm der Vater verliehen hat. Von Blumhardt stammt das nicht minder kühne Wort, daß der Betende mitwirke an der Weltregierung Gottes. Welche Möglichkeit, welche Verheißung, welche Verantwortung, wenn wir wirklich vor Gott aller derer gedenken, die uns befohlen sind! Welche Verantwortung für unsere Kinder, für unser Volk; welche Verantwortung für unsere Häuser und alle unsere menschlichen Begegnungen! Wie werden alle unsere menschlichen Beziehungen verwandelt, unsere Worte geläutert, unsere Gedanken gereinigt, wenn in den Begegnungen des Alltags der Widerschein von dem Angesicht Gottes auf uns leuchtet: Vor dem Herrn habe ich Deiner gedacht!

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DREI WORTE ZUM SONNTAG IM DEUTSCHEN FERNSEHEN

(1967/69)

I. Wovon anders sollten wir in einem „Wort zum Sonntag" sprechen als von dem einen, das uns unmittelbar und bedrängend angeht, von unserem Mensch-Sein, seiner Gefährdung und seiner Bewahrung? Psychologen haben uns darüber belehrt, daß es richtiger sei, nicht von Vollkommenheit, sondern von der Vollständigkeit des Menschen zu sprechen und statt nach der unerreichbaren Vollkommenheit lieber nach Vollständigkeit zu streben, das heißt nach der heilen Einheit und Ganzheit des Menschen. Denn das Wort „heil" meint ja diese unzerspaltene Einheit und Ganzheit des Menschen oder, wenn Sie das Fremdwort vorziehen, seine Integrität. Es ist eine verbreitete und beliebte Redeweise, mit der wir Älteren aufgewachsen sind, daß wir als Menschen einen Leib und eine Seele haben, oder daß der Mensch aus Leib, Seele und Geist „besteht". Aber gerade so sollten wir nicht reden, wenn wir die Einheit des Menschen im Auge haben wollen. Denn wir haben nicht einen Leib und eine Seele, sondern wir sind Leib, Seele und Geist, und das in einer nicht aufzulösenden Einheit. Auch in der ärztlichen Heilkunst wird heute dieser tiefe Zusammenhang leiblicher und seelischer Gesundheit stärker als früher erkannt und beachtet, und darum wird von einer psychosomatischen Medizin gesprochen. Die Bedeutung dieser Erkenntnis kann man sich klarmachen an unserem Verhältnis zu unserem eigenen Leib. Dabei gebrauche ich absichtlich das Wort „Leib", nicht das Wort „Körper". Der Körper ist ein Gegenstand, über den wir in gewissem Maß verfügen, den wir so oder so behandeln und „manipulieren" können. Der Leib aber, das sind wir selber, unabtrennbar von unserem Person-Sein. Wie viele Irrwege sowohl der Medizin als auch der Ordnung oder Unordnung des Geschlechtslebens haben darin ihre Wurzel, daß wir den Leib des Menschen als Körper ansehen und behandeln. Natürlich ist der menschliche Leib auch ein Körper im Raum und unterliegt als solcher allen physikalischen Gesetzen. Aber er ist eben nicht nur Körper, er ist die Form unseres menschlichen Seins, die Gestalt, in der 331

sich Sinn und Bestimmung des Menschen geheimnisvoll aussprechen, die unverwechselbare Form unseres einmaligen und ganz persönlichen Seins und zugleich - woran uns die Epistel des morgigen Sonntags aus dem 6. Kapitel des Römerbriefs erinnert — ist der Leib in seinen Sinnen und Gliedern das Organ unserer Verbindung mit der Umwelt. Diese Integration des Leibes in unser Mensch-Sein ist von zwei Seiten her bedroht: Nach einer Meinung, die anscheinend unausrottbar ist, hat der christliche Glaube nur mit der sogenannten Seele, nicht auch mit dem Leib zu tun; ja, manche Christen meinen, ihrem eigenen Leib mit einem gewissen Mißtrauen, ja mit feindseliger Abwehr begegnen zu müssen. Extrem ausgedrückt: Der Leib ist das Gefängnis der Seele, aus der die Seele im Tode befreit wird. Diese Entwertung des Leibes wurzelt nicht in der Heiligen Schrift und nicht im christlichen Glauben, sondern in einer vor- und außerchristlichen Denkweise, und sie zerreißt die leibseelische Einheit und Ganzheit des Menschen. Die Leibhaftigkeit gehört zur Ganzheit des Menschen, und auch seine Geschlechtlichkeit ist eine Sache des ganzen Menschen und nicht nur seines Körpers. Die entgegengesetzte Gefahr ist die Überbetonung des leiblichen Lebens in der Sorge um körperliche Gesundheit und in der Überbewertung körperlicher Kraft, Schönheit oder Leistung und in dem Wert, der der Erfüllung der geschlechtlichen Anlage beigemessen wird. Hier scheint der Leib der eigentliche Mensch zu sein. Der Aufmerksamkeit, die auf körperliche Hygiene verwendet wird, entspricht keineswegs eine ebenso ernsthafte Sorge um die Gesundheit der Seele, die vielmehr bedenkenlos allen möglichen Verirrungen und zerstörerischen Mächten preisgegeben wird. Es kommt darauf an, den Leib, einschließlich seiner geschlechtlichen Anlage und Bestimmung, in die Gesamtgestalt des menschlichen Seins einzu beziehen. Es gibt einen viel zitierten lateinischen Spruch: „Mens sana in corpore sano"; ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Man hat dieses Wort gern an die Wand von Turnhallen oder in andere Räume gemalt, die der körperlichen Gesundheit und „Ertüchtigung" dienen soll. Dabei vergißt man zumeist, daß dieses Zitat ebenso unvollständig ist wie der zerspaltene Mensch. Bei dem spätrömischen Dichter Juvenal, von dem dieses Wort stammt, ist es ein Gebet: Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano; man soll darum beten, daß ein gesunder Geist in einem gesunden Leibe wohne, weil eben dieses keineswegs selbstverständlich ist. Dieses Gebet zielt also genau auf die Einheit und Ganzheit, auf die Integrität des Menschen, von der wir gesprochen haben. 332

II. Soweit wir in der Geschichte zurücksehen können, hat der Gegensatz der Völker und Rassen und ihr wechselseitiger Haß immer eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Es ist nicht ein besonderes Schicksal oder eine besondere Schuld unserer Zeit, wenn in Amerika und in verschiedenen Teilen Afrikas der Haß der Weißen gegen die Schwarzen, der Schwarzen gegen die Weißen die Länder nicht zur Ruhe kommen läßt. Ist es tröstlich oder beschämend, daß das Neue Testament deutliche Spuren davon enthält, daß auch zur Zeit Jesu die Gemüter erhitzt waren von solcher nationalen Leidenschaft? In der Landschaft Samaria, zwischen Judäa und Galiläa gelegen, lebten, seit Assyrien dem selbständigen „Nordreich" ein Ende bereitete, einen Teil der Bevölkerung deportiert und andere Völkerschaften dort angesiedelt hatte, ein Mischvolk, auf das die Juden mit Verachtung herabsahen und mit dem sie nach Möglichkeit jede Gemeinschaft mieden. „Du bist ein Samariter und hast den Teufel", war einer der haßerfüllten Vorwürfe, mit denen sich die strengen Juden dem Eindruck der Reden und Taten Jesu entzogen. Jesus selbst hat sich von diesem Haß gegen die Samariter frei gehalten. Er hat sich nicht gescheut, am Brunnen zu Sychar mit einer Samariterin zu sprechen, und er hat seinen Jüngern entschieden gewehrt, als sie sich in aufwallendem Zorn an einem Dorf der Samariter für die dort erfahrene Unfreundlichkeit rächen wollten. Die Überlegenheit Jesu tritt besonders deutlich darin zutage, daß er in zwei Fällen einen Samariter, also ein Glied jenes verachteten Mischvolks, als Vorbild herausgestellt hat, und diese beiden Samariter haben für alle Zeiten den Namen des Samariters zu einer hohen Ehre gebracht. Das bekannteste Beispiel ist jener Samariter, von dem der Herr in einem Gleichnis erzählte, der als einziger einem unter die Mörder gefallenen Mann geholfen hat. Ein Priester und ein Levit, zwei beamtete Diener am Heiligtum, hatten den in seinem Blut liegenden Mann zwar gesehen, aber sie waren vorübergegangen. Gott weiß, was für Ausreden sie hatten. Der Samariter aber, der es vielleicht ebenso eilig hatte, ging nicht vorüber. Er half, so gut er konnte, zerriß irgendeinen Stoff, den er gewiß für andere Zwecke bei sich hatte, um dem Mann seine Wunden zu verbinden. Er setzte ihn, gewiß mühselig genug, auf sein Reittier und ging selbst zu Fuß mit ihm den weiten und steinigen Weg bis zur Herberge und sorgte selbst für die nötige weitere Pflege. Dieser „barmherzige Samariter" hat nun durch die Jahrhunderte aller tätigen Nächstenliebe, aller Krankenund Unfallhilfe den ehrenvollen Namen gegeben. In einer Zeit, da die öffentliche Fürsorge und Wohlfahrtspflege weithin an die Stelle persön333

licher Dienstleistung getreten ist, haben wir allen Anlaß, uns dieses barmherzigen Samariters zu erinnern. Dieser Mann hat nicht über die mangelnde Sicherheit auf einer verkehrsreichen Straße geklagt. Er hat sich nicht an die nächste Unfallhilfe gewandt, falls es damals so etwas gegeben hätte. Er hat sich auch nicht durch seine Zugehörigkeit zum Roten Kreuz oder einen Verein für Krankenpflege dispensiert gefühlt, sondern er hat selbst unter Opfern an Zeit und Geld zugegriffen. Wir denken an die heutigen Erscheinungsformen jenes Priesters und jenes Leviten, an die Leute, die bei irgendeinem Unfall oder bei einer Feuersbrunst neugierig und eifrig diskutierend herumstehen, aber selbst keine Hand anlegen; an alle jene Leute, die selbst einen Unfall verursacht haben, aber sich dann schnell der unangenehmen Situation entziehen. Wir denken vor allem daran, daß alle öffentliche Fürsorge die ganz persönliche Hilfe von Mensch zu Mensch, den persönlichen Einsatz, die unmittelbare Hilfsbereitschaft nicht ersetzen kann, und daß es immer auf die paar Menschen — sind es wirklich nur ein paar oder vielleicht doch mehr, als man meint? — ankommt, die selbst zugreifen und vielleicht mit Opfern tun, was notwendig ist; an die Menschen, die sich nicht dagegen wehren, der „Nächste" zu sein, der eben jetzt und hier gerufen ist. Was ich sagen will, ist dieses: Alle weltweiten Nöte, alle großen sozialen Werke, aller revolutionäre Wille zu einer neuen und angeblich besseren Welt machen diesen persönlichen Einsatz, diese Hilfsbereitschaft von Mensch zu Mensch nicht überflüssig, die nun unter dem Namen des „barmherzigen Samariters" geht, und wir wollen das Wort nicht überhören, mit dem der Herr diese seine Erzählung geschlossen hat: „Gehe hin und tue desgleichen."

III. Zwei Angehörigen des verachteten Volkes der Samariter hat der Herr eine besondere Ehre erwiesen, so daß zwar nicht ihre Namen — die wir nicht kennen —, aber ihr Verhalten durch die Jahrhunderte hindurch einen besonderen Glanz haben. Da ist der barmherzige Samariter, der an dem totwunden Mann, der unter die Mörder gefallen war, nicht vorübergegangen ist, sondern ihm unter Einsatz von Zeit, Kraft und Geld in einer ganz persönlichen Weise geholfen hat. Ihm zur Seite steht ein anderer Mann, gleichfalls ein Samariter, so daß die Juden nicht bereit waren, ihn als Vorbild gelten zu lassen. Da waren dem Herrn auf seinem Weg zehn Aussätzige begegnet, und er hatte sie geheilt. Nur einer hielt es für nötig, zu seinem Retter umzukehren und zu 334

danken. Dabei geht es offenbar nicht bloß um Dankbarkeit als schöne Form des Anstands und der guten Sitte. Die Form, in der der Herr seine Verwunderung über die Undankbarkeit der neun Geheilten aussprach, ist merkwürdig: „Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte und Gott die Ehre gäbe?" Der Herr begehrt keinen Dank für sich; der Dank gebührt dem „Vater", in dessen Kraft und Vollmacht er allein redet und handelt. Danken heißt also, von diesem Wort aus verstanden, soviel wie „Gott die Ehre geben". Aber was heißt das eigentlich: Gott die Ehre geben? Bedarf Gott einer Ehre, die wir Ihm geben könnten? Es ist auch unter uns Menschen so, daß die meisten Wert darauf legen, daß ihnen die Ehre erwiesen wird, die ihnen zukommt. Nichts anderes ist mit jenem Wort gemeint: Gott die Ehre erweisen, die Ihm gebührt. „Gott Gott sein lassen", hat es vor einem Menschenalter Karl Barth genannt. Die Ehre Gottes ist seine Macht gegenüber unserer Ohnmacht und unserer Hinfälligkeit. Wer nur von der Macht des Menschen redet und von der Allmacht des Menschen träumt, raubt Gott die Ehre. Die Ehre Gottes ist seine Unbegreiflichkeit, sein Geheimnis, über das er allein verfügt. Wer so tut, als ob er alles verstehen, und als ob er auch über Gottes Gedanken verfügen könnte, raubt Gott die Ehre. Die Ehre Gottes ist seine Heiligkeit, vor der wir Menschen immer als Sünder stehen, die seinen Zorn verdient haben. Wer das nicht sieht und sich breitspurig vor Gott hinstellt und auf sein Recht pocht, raubt Gott die Ehre. Es ist gedankenlos, alles für selbstverständlich zu halten und es als selbstverständlich hinzunehmen, daß wir Tag für Tag leben dürfen und daß die Welt noch besteht. Wer sich das Staunen gänzlich abgewöhnt hat, weil wir einige Gesetze des äußeren Geschehens erkannt haben, der raubt Gott die Ehre, die Ihm gebührt. Die Ehre Gottes ist der Ernst seiner Gebote. „Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott", haben wir als Kinder im Katechismus gelernt. Wer die Gebote Gottes für Willkür hält, über die wir uns hinwegsetzen können, und wer sein Gericht für eine bloße Einbildung hält, vor der wir uns nicht zu fürchten brauchen, der raubt Gott seine Ehre. Gott läßt sich nicht spotten. Die Ehre Gottes, das haben wir von Luther gelernt, ist vor allem Seine Gnade. Daß wir getragen sind von einer Liebe, die wir weder begreifen noch verdienen, das ist die eigentliche Ehre Gottes. Wer die Gnade Gottes zu einer billigen Ware macht, oder wer in den Dunkelheiten des Lebens verzweifelt, der raubt Gott die Ehre. In einem der Psalmen stehen die Worte: „Wer Dank opfert, der ehrt Mich." Der Dank ist immer ein Opfer, ein Opfer an unserer Eitelkeit 335

und unserer Selbstgefälligkeit. Aber daß wir Ihm danken, ist das einzige Opfer, das Er von uns will. Aber man muß umkehren von dem Weg der Gedankenlosigkeit und Selbstgefälligkeit, um Gott die Ehre zu geben, die Ihm gebührt. Und das ist auch der eigentliche Sinn aller christlichen Gottesdienste, daß wir umkehren und Gott die Ehre geben.

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V. ZUM ÖFFENTLICHEN LEBEN

FREIHEIT UND ORDNUNG (1953) Der elementare Ausbruch des unterdrückten Verlangens nach Freiheit am 17. Juni 1953 scheint keine Unklarheit zurückzulassen, daß Freiheit zu jenen Lebensbedingungen gehört, ohne die der Mensch, welcher — einerlei in welchen Abblassungen — das abendländische Bild des Menschen in sich trägt, nicht leben kann und nicht leben will. Wenn er diese Voraussetzung seiner Existenz entbehren muß, so bricht irgendwo und irgendwie der leidenschaftliche Protest hervor gegen die Unsicherheit und tägliche Bedrohung der persönlichen Freiheit, gegen die Ausnutzung des Menschen als bloße Arbeitskraft und gegen seine Entwürdigung zum Funktionär eines anonymen Apparats. Wenn die so verstandene Freiheit dauernd unterdrückt und verweigert wird, dann hat - so jedenfalls empfinden Ungezählte im Osten und im Westen - der physische Fortbestand des Menschengeschlechts seinen metaphysischen Sinn verloren. Was bedeutet demgegenüber die „Freiheitserklärung" der National Association qf Evangelicals, die vor kurzem Präsident Eisenhower feierlich unterzeichnet hat, und in der sich die Unterzeichneten verpflichten, die „im 23. Psalm erwähnten sieben gottgewollten Freiheiten" recht zu verstehen und durch ihr eigenes Verhalten anschaulich zu machen. D a s ist Freiheit von Armut, von Hunger, Durst, Sünde, Furcht; Freiheit von Feinden und die Freiheit eines fruchtbaren Lebens. Wir können die Frage nicht unterdrücken, ob wirklich die Proklamation dieser siebenfachen Freiheit der eigentliche Inhalt des 23. Psalms, des Psalms vom Guten Hirten, ist. Aber wir fragen darüber hinaus, ob wir in diesem Bild die Freiheit wiedererkennen, um derentwillen wir hier zusammengekommen sind. Ich stelle ein Drittes daneben. Berdjajew hat vor Jahren in einem seiner Bücher geschrieben, gegen die Herrschaft des Kollektivs sei jede Freiheitsidee völlig machtlos und unfruchtbar, die im Namen einer liberal verstandenen Persönlichkeit proklamiert wird. Gegen die Zerstörung der Freiheit und damit die vollendete Entwürdigung des Menschen im „Kollektiv" helfe nur eine menschliche Gemeinschaft, in der ebenso die Ordnung wie die Freiheit gewollt und verbürgt wird. Damit rühren wir an das Thema „Ordnung" im Rahmen eines Gesprächs über die Freiheit. 1) Wir können freilich das Wort „Ordnung" ebensowenig wie das Wort „Freiheit" selbstverständlich gebrauchen, als ob uns allen ohne weiteres klar wäre, was „Ordnung" ist. 338

Es ist wahrscheinlich vorzuziehen, nicht von einem philosophischen oder theologischen Begriff der Ordnung, sondern von einigen Beispielen aus unserem alltäglichen Sprachgebrauch auszugehen. Ich komme von einer Reise zurück und finde auf meinem Arbeitsplatz einen Stapel von Briefen, Drucksachen, Zeitungen, Büchern. Was tue ich, wenn ich diesen wüsten Haufen „in Ordnung bringe"? Ich sehe mit einigem Schrecken, wie bei einem Gewitterregen ein wilder Strom sich durch meinen Garten ergossen und vieles verwüstet hat. Was tue ich, wenn ich meinen Garten wieder „in Ordnung bringe"? Oder: Die Gemeinde hat auf dringendes Verlangen einen Zeltplatz angelegt und bestimmt einen Mann, der bei dem zu erwartenden Andrang Ordnung schaffen und Ordnung halten soll. Was tut er, und was heißt hier „Ordnung"? Oder ein ganz anderes Beispiel: Irgend jemand übernimmt die Leitung einer Behörde und merkt sofort, daß da vielerlei „nicht in Ordnung" ist. Was muß geschehen, wenn hier „Ordnung" geschaffen werden soll? Wir könnten die Reihe von Beispielen beliebig fortsetzen, ebenso aus dem öffentlichen wie aus dem persönlichen Bereich. In allen diesen und allen irgendwie vergleichbaren Fällen geschieht zweierlei, wenn „geordnet" wird: Es wird auseinandergelegt, was seinem Wesen nach verschieden ist, und wird beseitigt, was an einem Platz ist (es seien Dinge oder Menschen), der ihm nicht zukommt. Die Briefe kommen an einen anderen Ort als die Zeitungen. Schlamm und Kies werden aus den Blumenund Gemüsebeeten entfernt. Auf dem Zeltplatz werden verschiedene Plätze bestimmt, wo Räder aufbewahrt werden sollen, wo gekocht werden kann, wo Menschen in größerem Kreis sich versammeln können. Ebenso wird dann — in allen diesen Beispielen — zusammengebracht, was zusammengehört, was miteinander in Beziehung steht und aufeinander angewiesen ist: dispositio (das Auseinanderlegen) und compositio (das Zusammenfügen) sind die beiden Grundfunktionen jeder Ordnung. Dabei ist ein gewisses Moment der Willkür nie völlig auszuschalten. Man kann Möbel in einer Wohnung oder Bücher in einer Bibliothek nach verschiedenen „Prinzipien" ordnen. Auch gibt es kein ein für allemal feststehendes Schema, nach dem jene Behörde in Ordnung gebracht werden soll. Aber doch sucht jede Ordnung einer sachlich begründeten Notwendigkeit Rechnung zu tragen und sie zu verwirklichen. Und zwar: Je weiter diese die Ordnungsaufgabe von den äußeren oder technischen Fragen entfernt, und je mehr sie sich den größeren Aufgaben des menschlichen Miteinander nähert, desto weniger kann sie mit irgendwelchen ausgedachten Organisations-Prinzipien erfüllt werden, desto größer wird notwendigerweise der Anteil des innerlich begründeten Notwendigen und die bewußt ergriffene Verpflichtung, diesem Notwendigen zu dienen. 339

Wenn wir in dem prägnanten Sinn dieses Wort sagen, dieses oder jenes sei „nicht in Ordnung", so meinen wir nicht, daß irgendwelche Verkehrsregeln (die auch ganz anders festgesetzt sein könnten) oder irgendwelche positiven Rechts Satzungen (die faktisch in einem anderen Staat ganz anders lauten) verletzt seien, sondern wir meinen, daß hier eine vorgegebene, jeder Willkür entrückte „Ordnung" mißachtet und gestört, wenn nicht zerstört sei. Schon aus dieser primitiven und sehr vorläufigen Erwägung ergeben sich drei Erkenntnisse: Es hätte keinen Sinn, sich überhaupt um Ordnung zu bemühen, wenn es nicht eine vorgegebene Ordnung gäbe, die nicht erst durch unser Ordnungsstreben hergestellt und durch keine von uns angerichtete Un-Ordnung aufgehoben wird. Alle Ordnung beruht — zweitens — auf Unterscheidung des Verschiedenen und Zusammenfassung des Aufeinander-Bezogenen. Und zwar muß diese Aufgabe immer von neuem ergriffen und erfüllt werden, weil die Ordnung — einerlei durch welche Umstände — immer wieder in Unordnung aufgelöst wird. 2) Mit diesen einfachsten Überlegungen haben wir aber zugleich die große Entfaltung des Begriffs der Ordnung in der mittelalterlichen Theologie im Kern getroffen. Von Augustin, an dessen frühe Schrift „De Ordirte" die ganze spätere Ordnungslehre anknüpft, führt eine Linie gemeinsamen Ordnungsdenkens über Albert und Thomas zu Bonaventura. Das Denken wird als eine ordnende Funktion verstanden und beschrieben; aber das ordnende Denken erfindet nicht aus sich selbst heraus willkürliche Ordnungen, sondern es ergreift die Aufgabe, eine in den Dingen selbst liegende Ordnung aufzufinden und nach-zu-denken. Es gibt nicht nur einen ordo rationis, sondern einen ordo naturae, einen ordo umverst, bis hin zu jenem ordo in divinis, kraft dessen Gott selber der Ursprung und das Urbild aller Ordnung ist. Dabei knüpft diese ganze ordo-Lehre an das Wort aus den Apokryphen an (Weish. Sal. 11, 21): „Du hast alles geordnet mit Maß, Zahl und Gewicht." Allerdings wird dieses Wort nicht verstanden in dem Sinn, in dem es jeder naturwissenschaftlich gebildete Mensch der Neuzeit unwillkürlich auffaßt, als auf die Meßbarkeit, die quantitativen Unterschiede und auf das Gesetz der Schwere (oder auf das Naturgesetz überhaupt) bezogen. Vielmehr verstanden jene Lehrer der Kirche unter Maß (mensura) die jedem Ding mit Notwendigkeit bestimmte und in seinem Ursprung festgelegte Form seines Seins, unter „Zahl" verstand man, wie schon Pythagoras lehrte, nicht eine quantitative Größe, sondern die durch die Verschiedenheit des Maßes bedingte Vielzahl und die in eben dieser Verschiedenheit begründete Rangordnung (gradus), wobei es keinen anderen Maßstab dieser verschiedenen gradus geben kann, als das Maß der simili340

tudo (der größeren oder geringeren Nähe zu Gott). In diesem Sinn hat jedes Ding seinen Platz in einer Zahlenreihe, etwa vergleichbar der Ordnung der Planeten nach dem Maß ihres Abstandes von der Sonne oder dem Durchmesser ihrer Umläufe. Mit dem Wort „Gewicht" endlich bezeichnete jene ordo-Lehre die Schwerkraft, mit der jedes Ding zu einem anderen Ding und jedes zu Gott „hin-gezogen" wird; die seinsmäßige Nötigung zu Relationen also, in denen das einzelne Ding sich findet. Aus diesen Grundbegriffen und aus dem eigentümlichen Verständnis des Wortes aus dem Buch der Weisheit folgen einige wenige klare Merkmale der „Ordnung". Distinctio und relatio, Unterscheidung und Beziehung, sind die beiden Grundelemente und Grundfunktionen jeder Ordnung. „Ubi ordo, ibi distinctio" (Bonaventura). Kein Seiendes ist einem anderen Seienden gleich, und kein Seiendes ist für sich. Dabei bedeutet der Universalienstreit, angewendet auf den Begriff des ordo, die Frage, ob die Ordnung der Dinge nur durch unser Denken hergestellt wird oder ob Ordnung zu der Dimension des Seins, nicht nur des Denkens gehört: Die Relationen, so sagen Albert, Thomas und Bonaventura, sind keine Setzung unserer freien Vernunft, sondern sie sind in den Dingen selbst schon vorhanden. Der oben formulierte Satz über die Grundelemente der Ordnung muß also genau präzisiert werden: Ordnung setzt die seinsmäßige Verschiedenheit (mensura) voraus und verwirklicht sich in der rechten, das heißt in der Sache begründeten und der Sache gemäßen, Beziehung des einzelnen zueinander (convenientia, Augustin). Die Vollkommenheit der Welt zielt auf rechte Beziehung (und Verbindung) des Ungleichen, auf die unitas dessen, was seinem Wesen nach nicht einerlei ist. Beides, die wesenhafte Einheit des Verschiedenen, hat sein wahres Urbild in der Beziehung, die zwischen dem Vater und dem Sohn besteht, und die in der „unitas spiritus sancti" die Einheit Gottes verwirklicht. Die Weite dieser Betrachtung hat in einem Satz von Albert einen klassischen kurzen Ausdruck gefunden: potestas haec facit, sapientia disponit, bonitas ordinat. Es ist notwendig, noch einen kurzen Blick zu werfen auf die eigentümliche Form dieser Gedanken bei Augustin. Er hat den Begriff der Zahl ersetzt durch den Begriff der Schönheit und den Begriff des Gewichts durch den des Friedens und will damit sagen, daß die Schönheit darin besteht, daß ein jedes Ding in seinem Maß und an seinem „Ort" sei, der ihm im Gefüge des Ganzen zukommt, und daß der Friede darin bestehe, daß ein jedes Ding in die rechte Beziehung zu dem anderen gesetzt ist. So sind Maß, Schönheit und Friede die Merkmale der rechten Ordnung und die Vollendung dieser Ordnung bewirkt die Vollkommenheit der Welt. So ist Ordnung ebenso das Ziel wie das Medium des Tuns Gottes in der 341

Welt. Pax omtiium rerum tranquillitas ordirtis (Augustin, De civitate Dei XII, 5); der Friede aller Dinge ist die Ruhe der Ordnung. Und diese Gedanken begleiten das Ordnungsdenken des ganzen Mittelalters: Finis gubernationis mundi est pacificus ordo (Thomas, J". th. I. 103, 2); das Ziel der Weltlenkung ist eine Ordnung, die Frieden schafft (und erhält). 3) Diese knappe Uberschau über die Ordnungslehre der Kirchenlehrer läßt freilich die Frage offen, ob mit den gründlich veränderten Voraussetzungen und Formen des Denkens diese Aussagen über die Ordnung selbst dahinfallen, oder ob hier in einer vergänglichen Form eine unverständliche Erkenntnis von der Struktur der Welt ausgesprochen ist. Das ist in der Tat, wie wir zu sehen glauben, der Fall, so sehr, daß keine Zeit sich ungestraft diesen entscheidenden Erkenntnissen über das Wesen der Ordnung entziehen kann. Voraussetzung oder vielmehr Inhalt jeder Ordnung der Welt ist Wesensverschiedenheit, die Rangverschiedenheit und die rechte Zuordnung aller einzelnen „Dinge". Deutlicher freilich als jene vergangenen Zeiten erkennen wir, daß diese „Ordnung" in jedem ihrer Merkmale ständig bedroht und daß darum Ordnung uns mindestens im gleichen Maß aufgegeben wie gegeben ist. Die „mensura" wird verleugnet und geht verloren, wenn das in der geschaffenen Welt jedem einzelnen Ding innewohnende Eigenmaß verdrängt und ersetzt wird durch das Massenfabrikat, das in einem zweckmäßigen Modell in beliebiger Menge „auf den Markt geworfen" wird, mit der Wirkung, daß schließlich die meisten Menschen den Unterschied zwischen dem schöpfungsmäßig Einmaligen und dem serienmäßig Fabrizierten nicht mehr zu erkennen vermögen. Der Mangel an eigenständigem Sein, angewendet auf den menschlichen Bereich, ist das entscheidende Merkmal der Masse, in der kein einzelner mehr ein Maß, sein Maß, hat und sich — schließlich auch willentlich — vor der Aufgabe, sein Leben in seinem besonderen Sein zu führen, in die Anonymität der Masse verloren hat. Die Ähnlichkeit und doch unaufhaltbare Verschiedenheit der beiden Worte mqße und Masse kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß beides ausschließende Gegensätze sind und daß uns mit dem mittelhochdeutschen Wort m^ße (was dort eine der entscheidenden, ja die unentbehrlichste aller Tugenden bezeichnete) auch die damit gemeinte Sache verlorengegangen ist. Nicht nur die Maßlosigkeit (in dem engen Sinn der Verstiegenheit und Hybris), sondern der Mangel an „Maß" als Eigenständigkeit jedes einzelnen Menschen, löst jede Ordnung auf. Der numerus, das ist eine Rangordnung, in der jedes einzelne seinen ihm zustehenden Platz hat, ist bedroht durch ein Gleichheitsdenken, das keine Wesensunterschiede und darum auch keine Rangunterschiede anerkennt. Die richtige Erkenntnis, daß die zwischen den Menschen bestehenden 342

Verschiedenheiten der äußeren Lebensverhältnisse, der wirtschaftlichen und „sozialen Position" oder der Bildung keine letzten Wesensunterschiede begründen, und daß in der letzten Instanz „vor Gott", jedenfalls diese so tief eingreifenden Verschiedenheiten ihre Geltung verloren haben, verführt zu dem Dogma von der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen, und daraus entsteht dann folgerichtig ein fanatischer Angriff auf jede Art von Ordnung, in der eine grundsätzliche Rangverschiedenheit nicht nur der Menschen, sondern alles Seins vorausgesetzt und abgebildet ist. Das Gleichheitsideal ist der Widersacher jeder Ordnung. Das pondus, das Schwergewicht der Relationen, auf die hin alles Seiende angelegt ist, ist bedroht durch die Isolierung des einzelnen, das beziehungslos „für sich" existieren soll und will. Ein Denken, das grundsätzlich nicht mehr vom Ganzen und den darin waltenden Beziehungen her, sondern von den losgelösten Teilen her denkt und diese erst nachträglich und willkürlich zueinander in Beziehung setzt, findet dann im menschlichen Bereich das Individuum, den Einzelmenschen, der sein Ich zum Mittelpunkt und zum Maß seiner Existenz macht und die Beziehungen verleugnet, in denen er sich vorfindet. Die Organisation, in der dann die Einzelwesen zweckhaft zusammengeschlossen werden, ist der fragwürdige Ersatz der echten compositio, der im Sein begründeten und angelegten Zuordnung des einen zum anderen. Ordnung kann nur im ständigen Kampf mit diesen mächtigen Tendenzen zur Unordnung verwirklicht werden. Denn in diesen Bedrohungen ist ein an die Wurzel gehender Gegensatz zu jeder Ordnung wirksam; das, was die alten Kirchenlehrer als das malum schlechthin bezeichnen, eben das, was die Bibel noch viel radikaler in dem personalen Bild des diabolos, des Zerwerfers, beschreibt, dessen Name ihn schon entlarvt als den Feind jeder Ordnung. Durch die Kirchengeschichte, oder richtiger, durch die Theologiegeschichte hindurch geht ein tiefer Gegensatz in der Auffassung jenes malum: Ist es nur ein Mangel (eine Nicht-Ordnung) oder ist es ein seinsmäßiger Abfall, ein echter und aktiver Widerspruch und Widerstand gegen die Ordnung schlechthin? Ist er eine privatto, eine Beraubung oder Verstümmelung der Ordnung, oder eine corruptio, eine wirkliche Verderbnis der Ordnung? Es ist deutlich, daß diese verschiedene Auffassung der Un-Ordnung nicht so sehr die Ursache, als vielmehr das Symptom einer letzten Verschiedenheit in der Auffassung des Sündenfalls ist. Wir werden gegenüber denen, bei denen die Sünde nur als eine Art Mangelkrankheit erscheint, welche durch Zuführung einiger geistlicher Vitamine geheilt werden könnte, an das Wort Augustins erinnern müssen: Nondum considerasti quando ponderis sit peccatum; du hast noch nicht bedacht, wie großes Gewicht die Sünde hat. Und wir werden von hier aus wagen 343

zu sagen, daß die Zerstörung einer von Gott gegebenen Ordnung Schuld ist und daß eben diese Auflehnung gegen die von Gott gemeinte und gewollte Ordnung das Wesen der Schuld ist. Wegen dieses seit dem ursprünglichen Fall in der menschlichen Natur liegenden Widerstandes gegen den ordo, wegen dieser allzu menschlichen Neigung zum Unverbindlichen und Willkürlichen kann es in dieser Welt keine endgültige Rechtsordnung („Gerechtigjkeit") geben. Auch die Ordnung selbst, die Gott in die Struktur der Welt gelegt hat, ist für unseren Verstand keineswegs immer und deutlich zu erkennen (daher die Väter von dem ordo occultus, ja occultissimus geredet haben) — (Augustin, De ordine I, 33); und keine geschichtliche Institution kann jemals diesen ordo divinus occultus in der Weise abbilden, daß darin die göttliche „Gerechtigkeit" restlos und ein für allemal erfüllt wäre. Keine rechtliche Institution der Ehe kann die rechte Zuordnung von Mann und Frau in ihrer Verschiedenheit, ihrer relatio und ihrer unitas verbürgen; aber um so dringlicher ist angehenden Eheleuten zu sagen, daß sie ganz von neuem anfangen dürfen, die Ordnung der Ehe als ein Grundelement irdischer (und nicht nur irdischer) Ordnung zu verwirklichen. Aus dem gleichen Grund müssen wir entschlossen und ein für allemal der Versuchung widerstehen, irgendeine vom Staat aufgerichtete Ordnung als die rechte Ordnung schlechthin zu verherrlichen und sie mit dem Mantel der göttlichen Gerechtigkeit zu bekleiden. In dieser Versuchung wurzelt jene reaktionäre Untertanengesinnung, die das Gegenteil eines wahrhaft konservativen Denkens ist. Aber eben darum können wir uns als Christen zu keiner Zeit der Aufgabe entziehen, in der Gestaltung des menschlichen Miteinander, also in der „Politik" im weitesten Sinn dieses Wortes, um die rechte Ordnung zu ringen. Das heißt auf der einen Seite die der Ordnung widerstrebenden Mächte und Tendenzen zu entlarven (auch wenn sie sich als die Kräfte einer neuen und besseren „Ordnung" empfehlen), auf der anderen Seite jene Grundstruktur menschlicher und kosmischer Ordnung in den menschlichen Beziehungen zur Geltung zu bringen. 4) Haben wir nun mit dem allen das Thema dieses Gesprächs aus dem Auge verloren und versäumt, ebenso von der Freiheit wie von der Ordnung zu sprechen? Oder haben wir schon die Voraussetzungen menschlicher Freiheit beschrieben, indem wir uns um das Bild der Ordnung bemühten? Wenn zur Freiheit wesentlich die Möglichkeit des Menschen gehört, er selbst zu sein und in der rechten Zuordnung zu seiner Mitwelt zu existieren, dann kommt uns zum Bewußtsein, daß wir von Freiheit und Ordnung fast mit den gleichen Vokabeln zu reden genötigt sind. Freiheit und Ordnung sind Wechselbegriffe; keines kann ohne das andere bestehen. Darum sind sie auch von den gleichen Gefahren bedroht. Das 344

verführerische Ideal der Gleichheit führt mit Notwendigkeit zu der Einebnung aller Unterschiede, zur Aufhebung des Menschlichen selbst, und es vollendet sich in dem radikalen Willen, die Gleichheit nicht nur der äußeren Lage, sondern auch des menschlichen Denkens und Seins mit den brutalsten Mitteln zu erzwingen, bis hin zu der wahrhaft teuflichen Möglichkeit, die Persönlichkeit des Menschen willkürlich zu verändern und also in ihrer mmsura zu zerstören. In der höllischen Trinität „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" schließt eines das andere, jedes jedes andere aus: Auf dem Boden der Gleichheit gibt es weder Freiheit noch Brüderlichkeit, weil nämlich Freiheit und Brüderlichkeit immer nur in der willigen Anerkennung des anderen als des anderen bestehen kann. Und ebenso hindert die Isolierung des einzelnen, ein „liberaler" Individualismus also, jede wesensmäßige Zuordnung. Der nicht eingeordnete, auf sich selbst gestellte Mensch wird zur Beute der Tyrannis, und wo er selbst Tyrann werden kann, wird er zum Schrecken der anderen. Daher muß es das Grundanliegen jedes „totalen" Staates sein, jeden Ansatz eines echten ordo zu zerschlagen, weil nur der nicht gebundene und nicht verbundene Mensch das Objekt seiner totalen Herrschaft sein kann, von der die biblische Apokalypse in dem Bild des Tieres aus dem Abgrund redet. Der Mißbrauch der von Gott dem Menschen zugedachten Freiheit mündet in dem Zwang einer scheinbaren Ordnung, die in Wahrheit die Ordnung durch Anordnung, das heißt eben durch den Zwang der Gewalt ersetzt. So ernst ist es Gott mit der Freiheit, zu der er den Menschen berufen hat, daß er ihm die Freiheit, sich selbst zu zerstören, nicht verwehrt. Das letzte Stadium der mißbrauchten Freiheit nennt die Bildersprache des christlichen Glaubens die Hölle. Die Hölle ist der radikale Zwang, unter den diejenigen gebeugt sind, die eine Freiheit ohne Ordnung begehrt haben. In dem Sinn ist die Hölle die letzte Garantie der metaphysischen Freiheit. Keiner wird zur Teilnahme an der himmlischen Herrlichkeit gezwungen; aber wer im Namen der „Freiheit" die Freiheit der Ordnung bestreitet und zerstört, wird zum Werkzeug der Hölle. Die alten Maler, wie Stephan Lochner, haben in ihren Bildern vom Weltgericht in einem gräßlichen Bild dieses Geheimnis der Hölle dargestellt: Die Teufel schlingen um den Haufen der Menschen eine Kette und zerren alles, was von dem Zwang der Kette umschlungen ist, in den aufgesperrten Höllenrachen, während die Engel durch kein anderes Mittel als das der freundlichen und liebenden Weisung den Menschen zu der Pforte des Paradieses geleiten. Es wird schwierig, von Freiheit und Ordnung zu reden, wenn man nicht mehr an die Wirklichkeit der Hölle glaubt. 345

Wie wenig die landläufigen Schlagworte geeignet sind, diese Sachverhalte sachgemäß und unmißverständlich auszudrücken, dafür ist das Wort „Demokratie" ein wahrhaft tragisches Beispiel. Niemand von uns zweifelt daran, daß diesem Wort in der angelsächsischen Welt noch etwas von der Würde einer geordneten (das heißt einander zugeordneten) Welt innewohnt. Aber nun hat sich die Tyrannis des gleichen Wortes bemächtigt und mißbraucht es für die Ausrottung aller Freiheit und die Zerstörung aller menschlichen Würde. Ein erschreckendes Beispiel dafür, wie ein ursprünglich richtig und gutgemeintes Wort unbrauchbar werden kann, um jenen ehrwürdigen Zusammenhang von Ordnung und Freiheit auszudrücken. In einem seiner letzten Bücher hat der alte Friedrich Wilhelm Foerster ein gutes Wort geprägt (ich muß aus dem Gedächtnis zitieren, weil ich das Buch nur für einen kurzen Augenblick in der Hand hatte und darin blättern konnte): Der Friede in der Welt kann nur erhalten werden, wenn diejenigen, die Ordnung wollen, mächtiger sind, als die, die der Ordnung widerstreben. Man kann dasselbe Wort mit dem gleichen Recht von der Freiheit sagen. Es gibt einen Vers des spätrömischen Dichters Juvenal, in dem, wie mir scheint, das Wesen des „konservativen" Denkens in seinem Gegensatz zu jeder lebenszerstörenden Ideologie in klassicher Kürze beschrieben ist: Summum crede nefas animam praeferre pudori et propter vitam vivendi perdere causas. Man könnte den Vers etwa so verdeutschen: Achte es für den äußersten Frevel, das Leben der heiligen Scheu vorzuordnen und um des Lebens willen die Quellen des Lebens zu verderben. Es geht um die rechte Zuordnung von Lebenswillen und heiliger Scheu, der Scheu vor den Ordnungen, die uns vorgegeben sind, auch wenn sie unser Verstand nie ausschöpfen und vollkommen beschreiben kann. Es geht um das Verhältnis des unersättlichen, selbstsüchtigen Lebenswillens zu den Quellen, aus denen die echte Lebendigkeit sich speist. Ideologien haben das Leben auf ihre Fahne geschrieben; heilige Scheu neigt sich ehrfürchtig zu den Quellen, aus denen das Leben quillt. Das Schlagwort „Freiheit" gerät immer in die Gefahr, in der schwärmerischen Hoffnung auf den Strom die verborgenen Quellen zu verschütten. „Ordnung" ist das heilige Maß, in dem die Quelle gefaßt wird, daß sie nicht versickere in dem Sumpf. Freiheit und Ordnung in ihrer Zusammenordnung haben etwas zu tun mit dem pudor, der heiligen Scheu, die niemals der bloßen Existenz geopfert werden darf, sie hat etwas, sehr viel, zu tun mit den causae vivendi, den Quellen des Lebens, die nicht um des angeblichen und scheinbaren Lebens willen verderbt werden dürfen. 346

MACHT UND OHNMACHT DER RATIO IM EUROPÄISCHEN ERBE (1963)

Ratio ist eine internationale Erscheinung, nicht nur eine deutsche Angelegenheit, und es gibt wohl kein geeignetes deutsches Wort. „Vernunft" ist keineswegs dasselbe wie Ratio. Es ist wohl ein halbes Jahrhundert her, daß sich ein französischer Philosoph darüber ausließ, daß die deutsche Sprache besonders ungeeignet sei für den Gebrauch in der Philosophie, weil sie um ihrer starken, überall durchscheinenden Bildhaftigkeit nicht durchsichtig genug sei für klare philosophische Begriffe. Allerdings gilt das auch fürs Französische; nur gehört diese Bildhaftigkeit zu jenen Dingen, deren man in der eigenen Sprache wenig gewahr wird. Wenn man in einem lateinischen Lexikon nachschaut, was das Wort Ratio eigentlich heißt, dann stößt man auf die überraschende Entdeckung, daß das Wort Ratio ursprünglich ein Verhältnisbegriff ist, das heißt, daß dieses Wort eigentlich einen Genitiv neben sich fordert und daß dann Ratio etwa bedeutet: ein Maß v o n . . . , eine Berechnung v o n . . . , eine Methode f ü r . . . , so wie etwa Luther eine seiner früheren Schriften überschrieben hat: ratio vivendi sacerdotum, das heißt: eine Art und Weise, wie Priester ihr Leben führen sollen. Aber nun ereignet sich an diesem Begriff der Ratio etwas, was wir ja als eine viel umfassendere Erscheinung beobachten, daß nämlich das Mittel zum Zweck wird und daß der relative Begriff sich verabsolutiert und nicht mehr die Methode von etwas, sondern die Sache selbst bezeichnet. Es verhält sich mit dem deutschen Wort „Vernunft" als Substantivbildung von vernehmen ganz ähnlich, wobei dann nicht mehr gefragt wird, was denn eigentlich der Mensch mit Hilfe seiner Vernunft vernimmt, vernehmen soll oder vernehmen kann, sondern die Vernunft setzt sich dann absolut und man fragt nicht mehr danach, was es ist, das die Vernunft vernimmt. Eine ähnliche Bedeutungsverschiebung ereignet sich etwa in unserer christlichen Sprache, wenn wir das Wort „Glaube" durch „Gläubigkeit" ersetzen, wobei gar nicht mehr nach einem Inhalt dieser Gläubigkeit gefragt wird, während man sich bei dem Wort „Glaube" immerhin dafür interessieren sollte, woran denn eigentlich der Glaubende glaubt. Die Ratio versucht, sich der uns umgebenden Welt durch Begriffsbildungen zu bemächtigen, der Welt, soweit sie eben diesem unserem begrifflichen Denken zugänglich ist. Darum liegt in dem Begriff „ratio" immer notwendigerweise ein Moment der Abstraktion, das heißt des Abgezogenseins von der Wirklichkeit. Denn der Begriff hat seine Existenz nur 347

mehr oder weniger abhängig von der Wirklichkeit, die durch diesen Begriff erfaßt und beschrieben werden soll. Zu dieser Begriffsbildung gehört dann auch die Definition. Definieren heißt ja, durch Begrenzung beschreiben. Die Wirklichkeitserfahrung, oder vielmehr ein Ausschnitt daraus, der Begriff dieses Ausschnittes aus der Wirklichkeit, wird abgegrenzt und gegen andere, ähnliche Begriffe gesichert. Alles das, was diesem Bemühen nicht zugänglich ist, alle jene Wirklichkeitserfahrung, die sich nicht begrifflich fassen und definieren läßt, bleibt außerhalb dieser Betrachtung. Die Ratio interessiert sich nicht wesentlich für das, dessen sie sich nicht mit Begriffsbildung bemächtigen kann. Man kann sich solche Dinge am deutlichsten machen, wenn man sie mit ihrem Gegensatz konfrontiert. Der verstorbene holländische Religionsphilosoph Gerardus van der Leeuw hat in seinen Büchern immer wieder dieses begrifflich rationale Denken dem mythisch-symbolischen Denken gegenübergestellt. Er verwahrt sich mit der äußersten Leidenschaft gegen den Gedanken, daß das etwa nur für uns eine überwundene und weit unter unserer menschlichen Würde liegenden Denkweise niedriger „Primitiver" (wie man sagt) Völker sei: dieses mythisch-symbolische Denken sei eine Form des Denkens, die in uns allen lebendig ist, obschon sie von den meisten sogenannten gebildeten Menschen mit Mühe unterdrückt wird. Dieses ursprüngliche Denken ist das äußerste Gegenteil des rational begrifflichen Denkens als einer künstlichen Methode. Das wird schon deutlich, wenn man sich dieses Wort „symbolisch" — symbolon — einmal genau vor Augen hält: denn symballein heißt zusammenfassen. Im symbolischen Denken werden die Dinge zusammengeschaut, die im rationalen Denken durch Abstraktion und Definition gegeneinander abgegrenzt und sozusagen gegeneinander abgeschirmt werden. Der Mensch kann sich kraft seiner Ratio der Wirklichkeit gegenüberstellen. In diesem Schema des Subjekt-Objekt-Verhältnisses — diese Terminologie ist sehr umstritten, weil die beiden Vokabeln ursprünglich das Gegenteil von dem bedeuten, was wir heute so bezeichnen - denkt die Ratio, indem der Mensch sich in der von ihm zu erfassenden Wirklichkeit gegenüberstellt. Er gehört nicht mehr zu der Welt, und kraft der Ratio steht er der von ihm zu beobachtenden, zu analysierenden, zu beschreibenden und zu definierenden Welt gegenüber. Auch dieses ist wieder der genaue Gegensatz zu einer Art des Denkens, welche Gerardus van der Leeuw als das Denken der Pertizipation bezeichnet, das heißt der Teilhabe, weil der Mensch hier teil hat, Anteil nimmt, Anteil empfängt und sich selber als ein Teil von eben dem betrachtet, was ihn umgibt und das er zu erforschen und zu erkennen bemüht ist. Man kann sich — um ein Wortspiel anzuwenden, das mehr als ein Wortspiel ist - den Unter348

schied deutlich machen an der Art, wie wir im Deutschen von Interesse reden, was das genaueste und strikteste Gegenteil von dem ist, was das lateinische Wort inter-esse meint. Inter-esse heißt dazwischen stecken, dabeisein, beteiligt sein, drin sein. Wir interessieren uns aber für das, wo wir nicht drinstecken, sondern was uns fremd ist, dem wir gegenüberstehen. Die Ratio interessiert sich; das teilhabende Denken inter-est, ist beteiligt. Die Ratio denkt in bestimmten logischen und kausalen Kategorien. Sie interessiert sich für Zusammenhänge — aber das deutsche Wort „Zusammenhänge" würde nach dem Urteil des französischen Philosophen schon wieder zu bildhaft sein — interessiert sich für Zusammengehörigkeit aufgrund eines kausalen oder logischen Verhältnisses. Eine bestimmte formale Logik gehört mit innerster Notwendigkeit zum Handwerkszeug des rationalen Denkens. Dabei darf aber keinen Augenblick übersehen werden, daß es eben auch eine andere Art von Logik gibt, für die das Gesetz der Kausalität und des formal schlußfolgernden Verfahrens nicht gilt. Das ist nicht in bezug auf die Relativierung des kausalen Denkens gedacht in der modernen theoretischen Physik, sondern ganz und gar vom alltäglichen Denken, wo alle — auch die Männer — von Zeit zu Zeit wahrnehmen, daß das kausale und logische Denken nicht allmächtig ist, sondern daß es Sachverhalte gibt, denen man auf diesem Weg nicht beikommt. Ein viertes Merkmal des rationalen Denkens: Das Denken der Ratio ist immer in einem zweifachen Sinn grenzenlos, maßlos. Es möchte sich der ganzen uns umgebenden Wirklichkeit bemächtigen, es möchte alle Bereiche des Seins erobern. Die Ratio will sich nicht damit abfinden und damit zufriedengeben, daß es Bereiche der Wirklichkeit gibt, in denen sie nicht zuständig sein soll. Darum ist alle Ratio immer ruhelos und duldet keine wie immer begründete Begrenzung, die ihr von außen her auferlegt werden soll. Der Forschungsauftrag der Ratio kennt keine Grenzen und ist nicht bereit, an irgendeiner Grenze mit der rationalen Erforschung und Durchdringung der Welt aufzuhören. Wozu dann der Grundsatz kommt, ohne den sich die ganze moderne Wissenschaft nicht vorstellen läßt: Was ich erforschen kann, muß ich auch erforschen — ins Technische übersetzt: was ich beherrschen kann, muß ich auch beherrschen. Insofern gehört zu der ganzen Ratio immer ein Moment der leidenschaftlichen Unruhe des Alles-wissen-Wollens und alles Begreifen- und Erklären- und Alles-definieren-Wollens. Aber diese Grenzenlosigkeit hat noch einen anderen Sinn: Die Ratio ist nämlich ihrem Wesen nach radikal unduldsam. Die Anerkennung ihres Anspruchs wird zu einer unabdingbaren Forderung. Die Ratio läßt keine 349

andere Art des Denkens neben sich aufkommen. Ein Mensch, der sich der Alleinherrschaft der Ratio widersetzen wollte, geriete in den Verdacht eines unwissenschaftlichen und unsauber denkenden Menschen. Das gilt dann auch in der praktischen Anwendung der Ratio. Die Rationalisierung — was ja nicht mit Rationalismus, sondern mit Ratio zu tun hat — als eine wirtschaftliche Notwendigkeit tritt dann zugleich mit dem ganzen Anspruch einer geistigen Notwendigjkeit auf. Man kann nicht nur anders — darüber wäre durchaus zu reden, daß es eben technisch, praktisch, wirtschaftlich gar nicht anders möglich ist — aber man darf auch nicht anders. Sich dieser Herrschaft der Ratio über die Wirtschaftsformen und Gesellschaftsformen entziehen zu wollen, gilt dann ebenso als ein Vergehen gegen den Geist der Zeit, wie bestimmte Widersprüche gegen den dialektischen Materialismus in den von ihm beherrschten Staaten als ein Staatsverbrechen angesehen werden. Die menschliche Ratio wird zu alleinigem Maßstab der Wirklichkeitserfassung und der Weltgestaltung. Es kann kein Zweifel sein, daß die Ratio Macht verleiht. Es soll ja von der Macht der Ratio gesprochen werden. Das gilt zunächst in dem rein geistigen Sinn, daß die Klarheit und Nüchternheit des Denkens, welche die Ratio von uns verlangt, zu der geistigen Selbstbehauptung des Menschen zu gehören scheint. Die Klarheit und Durchsichtigkeit der Ratio, die von ihr geforderte Rechenschaft über unseren Sprachgebrauch und unsere Begriffsbildung steht im Gegensatz zu allen unklaren Gefühlen, zu jeglicher Form von Schwärmerei, zu jedem Versuch, klares Denken durch Gefühle zu ersetzen. Auch im religiösen Bereich erhebt die Ratio den Anspruch, daß der logos Gottes nicht in dem Sinn irrational ist und irrational gefaßt werden darf, daß er etwa bloß dem frommen Gefühl und den Gemütstiefen zugänglich wäre und daß klares Denken im Bereich des Religiösen schon den Verdacht mangelnder Frömmigkeit auf sich ziehen dürfte. Es ist dies auch gesagt gegen die im Laufe der letzten Jahrzehnte immer wieder auftauchende Möglichkeit, die Seele des Menschen als den Inbegriff aller nichtrationalen Zwischenschichten im menschlichen Innenleben mobil zu machen gegen die Alleinherrschaft des Geistes. Wenn wir von der Ratio sprechen, so haben wir zunächst die Pflicht, die Macht anzuerkennen, die die Ratio dem menschlichen Denken gegenüber all diesen Unklarheiten, allen diesen verschwommenen Seelentiefen, gegenüber allen Gefühligkeiten verleiht. Die Fähigkeit zu rationalem Denken gibt ein Gefühl der Überlegenheit. Das ganze Ethos der Wissenschaft, ohne das unsere Universitäten mindestens im Prinzip nicht zu denken sind, hängt an diesem Gefühl der Überlegenheit des rationalwissenschaftlichen Denkens. Man kann nicht von der Ratio sprechen, 350

kann am allerwenigsten etwa dann auch von ihren Gefahren sprechen, wenn man nicht zunächst mit allem Ernst anerkannt hat, daß die Ratio uns in eine hohe und strenge Schule der Sachlichkeit, des vorurteilsfreien Denkens und der stetigen Selbstkontrolle unserer Gedankenbildung und unserer Sprache nimmt. Ratio verleiht aber auch in einem ganz anderen Sinn Macht. Sie verleiht nämlich die Macht, die Kräfte der äußeren Welt zu beherrschen. Der ganze Siegeszug in der Eroberung der Erde und (über die Erde hinaus) der kosmischen Kräfte, der vielleicht seit 600 Jahren im Gang ist, ist ohne die Herrschaft der Ratio nicht zu denken, wobei nicht ausgeführt zu werden braucht, daß und inwiefern die Ratio die Wurzel aller Technik ist. Wer die Alleingeltung der Ratio und damit die Ermöglichung der Technik antastet, setzt sich dem Verdacht aus, in einer romantischen Weise einem antitechnischen Ressentiment zu huldigen. Das können wir nicht, und das wollen wir nicht. Aber die unaufhaltsamen Fortschritte der Technik, deren Zeugen, Träger und Opfer wir sind, haben einen Machtrausch der menschlichen Ratio erzeugt. Die Ratio tritt einen Siegeszug an auf den verschiedensten Gebieten des Leben: Zunächst einmal auf einem Gebiet, das bei unseren Betrachtungen zu unrecht leicht außerhalb bleibt, nämlich in der Sprache. Die Ratio hat die Tendenz, die Sprache zu einem reinen Verständigungsmittel zu degradieren und sie damit zu denaturieren. Die Technisierung der Sprache läßt nicht nur einen erschütternden Schwund des Wortschatzes heraufdämmern — denn man kann mit sehr viel weniger Wörtern auskommen, als etwa unsere Dichter gebrauchen - , sondern die Rationalisierung der Sprache bedeutet auch einen Verzicht auf ihre magische Tiefe, auf jene heilsame Vielschichtigkeit jedes lebendigen Wortes. Dann wird die Sprache reines Verständigungsmittel, und die Sprache kann dann entgegen ihrem inneren Gesetz, entgegen dem, was in ihr „vorgegeben" ist (Max Picard) technisiert werden. Man kann dann schließlich dank jener scheußlichen Abkürzungsseuche, die unsere Sprache in Grund und Boden hinein verderbt, sich mit ein paar Sigeln und Buchstaben begnügen und braucht sich nicht einmal mehr zu bemühen, Worte zu bilden und zu gebrauchen. In der Kunst kann die Rationalisierung einen Formalismus heraufführen, der im Grunde der künstlerische Ausdruck des Wunsches ist, die Schöpfung rückgängig zu machen und die Schöpfung, die uns gegeben ist, in bestimmte angebliche Formelemente zu zerlegen, deren man sich rational bedienen kann. Die Politik und die Wirtschaft unter dem Vorzeichen der Ratio muß notwendigerweise an allen jenen tieferen Seinsschichten vorübergehen und auf sie verzichten, die sich der Ratio entziehen. Dies wird zwar in fast allen zeitkritischen Analysen, an denen wir ja keinen Mangel haben, sehr stark be351

tont, aber meistens ist in diesen Büchern die Diagnose sehr viel umfangreicher als die Therapie. Die Bücher wissen auch keinen Weg, wie man Sprache, Wirtschaft, Politik dieser Alleinherrschaft der Ratio entziehen könnte. Die Ratio und ihre Herrschaft im Denken und Handeln, in der Erkenntnis und der Beherrschung der Welt ist die eigentliche Machtquelle Europas gewesen, die Voraussetzung kolonialer Herrschaft, weil die rationale Uberlieferung und Technik eine unermeßliche Überlegenheit über die diesem rationalen Denken zunächst hilflos gegenüberstehenden Völkern verliehen haben. Die Ratio ist der eigentliche Exportartikel Europas. Ja, man kann nicht mit Unrecht Europäisierung und Rationalisierung der Welt als Synonyma gebrauchen. Dabei ist der dialektische Materialismus nichts anderes als die konsequenteste Ausprägung dieser Alleinherrschaft der Ratio. Sie ist nur deswegen dort so radikal, weil unter der Herrschaft des dialektischen Materialismus jene Hemmungen und Begleiterscheinungen aus anderen Schichten abgestreift sind, die in den übrigen Teilen der Welt zwar auch nicht die durchgängige Herrschaft der Ratio verhindern, aber dem Menschen diesen Sachverhalt verschleiern und verbergen. Insofern hatte Ernst Benz recht, wenn er in der Lobrede auf Radakrishnan bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Professor Radakrishnan auch dieses rühmte, daß er uns gelehrt habe, den Unterschied zwischen Ost und West anders zu sehen, als wir ihn zu sehen gewohnt sind, daß nämlich der ganze kommunistische Osten Europas durchaus zum Westen gehört als eine extreme Ausprägung jenes rein rationalen Denkens, das im ganzen Westen herrscht, während der Osten zugleich aus ganz anderen Kräften des menschlichen Seins heraus denkt und lebt. Die Macht der Ratio hat eine höchst unheimliche Kehrseite, die hier als die Ohnmacht der Ratio bezeichnet wird, vom Ausgangspunkt her, nach dem die Ratio ein Mittel ist, die Welt zu erkennen und die Welt zu beherrschen. Aber es ist ein allgemeines Gesetz, daß, wenn das Mittel selbst sich zum Zweck macht, damit dieser Zweck selbst entmächtigt, vergewaltigt und zerstört wird. Wenn das Mittel aufhört, Mittel zu einem an sich bestehenden Zweck zu sein, sondern selbst zum Zweck wird, dann entsteht jene unheimliche Selbstzerstörung, die wir auf den verschiedenen Gebieten beobachten. Nehmen wir wieder das Beispiel der Sprache, um es deutlich zu machen. Eine durchrationalisierte Sprache ist keine menschliche Sprache mehr, sondern ein kümmerliches Surrogat oder eine Karrikatur menschlicher Sprache. Ein großer Teil unserer Zeitgenossen lebt heute überhaupt nicht mehr mit einer menschlichen Sprache, sondern mit einer Karikatur oder einem Verwesungsprodukt der menschlichen Sprache. Rationales Denken und Reden strebt danach, eindeutig 352

zu sein. Eindeutigkeit ist aber ein höchst fragwürdiges Ideal. In der Logik, in der Mathematik, müssen alle Sätze eindeutig sein. Wenn ich etwas definieren will, muß ich schon deutlich sagen, wo die Grenze ist, die nicht überschritten werden darf. Die lebendige Sprache - die Sprache der Kinder, die Sprache der Liebenden, der Zauberer und der Beter — ist nicht eindeutig. Sie kann und darf nicht eindeutig sein. Die Dichtung hat ihren Reiz gerade darin, daß ihre Sprache nicht eindeutig ist. Zerstörend wirkt sich die Alleinherrschaft der Ratio aus in dem menschlichen Miteinander. Die Alleinherrschaft der Ratio erträgt ja nicht das menschliche Du. Es ist für uns alle immer eine Zumutung, der wir mehr oder weniger gerecht werden, zu ertragen, daß der andere eben anders ist als wir. Die Ratio aber erhöht diese Schwierigkeit. Denn auf dem Boden der Ratio erwächst ja das tödliche Ideal der Gleichheit, das mit Freiheit und erst recht mit Brüderlichkeit unvereinbar ist. Gleichheit gibt es nur im Bereich des Toten und Mechanischen. Im lebendigen Leben gibt es niemals eine Gleichheit; alles menschliche Miteinander beruht auf der Bereitschaft, den anderen in seinem Anderssein anzunehmen und anzuerkennen. Dies ist aber etwas, das der Ratio schwer erträglich ist. Die Rationalisierung der menschlichen Beziehungen ist eine Zerstörung des menschlichen Miteinander. Man kann sich das an einem zentralen Beispiel deutlich machen: Die Rationalisierung aller erotischen und sexuellen Beziehungen zerstört die Liebesfähigkeit des Menschen. Einen Menschen zur Ehe, das heißt zum Leben in der Liebe erziehen, heißt, ihn dazu zu erziehen, daß er die nichtrationalen Tiefen des menschlichen Miteinander ernst nimmt und nicht meint, er könnte seine zwischenmenschlichen Beziehungen und die Partnerschaft der Geschlechter unter dem rationalen Gesichtspunkt ordnen und regeln. Noch etwas anderes. Wie entwickelt sich denn unser Gespräch, das wir miteinander führen unter der Herrschaft der Ratio? Das Paradies der Ratio ist die Diskussion; in der nichtrationalen Denkweise gedeiht das Gespräch. Gespräch und Diskussion verhalten sich aber wie Feuer und Wasser. Diskutieren ist fast immer langweilig, und Gespräch kann etwas unendlich beglückendes sein. Aber ein Gespräch kommt immer nur da zustande, wo die beiden Partner bereit sind, auf einer nichtrationalen Ebene einander zu begegnen. In der theologischen Sprache haben wir ja auch das sehr fragwürdige Bedürfnis, uns in klaren Begriffen auszudrükken; und es gibt große geschichtliche Erscheinungen in der Theologie, die bemüht sind, in einem wunderbaren Bau rational definierter Begriffe das Geheimnis der Wahrheit einzufangen. Dieser begriffliche Überbau, diese rationalen Definitionen, sind das, was uns eigentlich voneinander trennt. Aus diesen rationalen Begriffen sind die Mauern gebaut, mit 353

denen wir uns gegeneinander abgeschirmt haben. Wo ist da die größere Gefahr: wenn man auf der einen Seite ein höchst kunstvolles und imponierendes Gebäude rationaler Begriffe aufgerichtet hat, mit denen man sich sozusagen panzert gegen jede Invasion des Irrtums, oder wenn man mit diesen rationalen Begriffen einen Maßstab anlegt an die Wahrheit und aus dem Vollbesitz der Wahrheit alles das eliminiert und beiseitesetzt, was sich auf diese Weise nicht rational einfangen läßt. Aber gehen wir einen Schritt weiter. Die Ratio verändert unser Verhältnis zur Welt. Sie ignoriert notwendigerweise die Tiefendimensionen der Wirklichkeit. Das hat die doppelte Wirkung, daß unter der Alleinherrschaft der Ratio bestimmte Kräfte unserer Seele verkümmern. Ein Mensch, der noch an die Alleinherrschaft der Ratio glaubt, ist ein verkümmerter Mensch, in dem bestimmte Organe ganz verkümmern müßten, wenn nicht derselbe Mensch in einer glücklichen Inkonsequenz eben doch nicht bloß an seine Ratio glaubte. Hans Schomerus hat einmal in „Christ und Welt" ein Wort eines Engländers zitiert: „Ein Realist weiß, daß es Kräfte auf Erden und im Himmel gibt, die des Menschen Weisheit weder messen noch ergründen kann." In diesem Sinne ist der Mensch unter der Herrschaft der Ratio eben niemals ein wirklicher Realist, weil er an ganz bestimmten Bereichen der Wirklichkeit einfach vorbeigeht, die er mit seiner Ratio nicht zu erfassen vermag. Unter der Herrschaft der Ratio verwandelt sich die Welt in eine gespenstische Scheinwelt. Es ist eine Abschnürung von der lebendigen Berührung mit der lebendigen Wirklichkeit. Die Ratio schwelgt in Problemen, auf die sie keine Antwort wünscht, weil Probleme zu haben viel interessanter ist als Antworten zu finden. Am deutlichsten wird diese Ohnmacht der Ratio im Bereich des Gottesverhältnisses. Die Ratio verwandelt den Glauben in eine unverbindliche Meinung, ohne Verbindlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse. Unter der Herrschaft der Ratio sind unzählige Menschen der Überzeugung, in den ganzen Aussagen des christlichen Glaubens handle es sich um unverbindliche Meinungen in Dingen und Bereichen, in denen man eigentlich nichts wissen kann. Auf dem Boden der alleinherrschenden Ratio hat ein etwas gefährliches Wort — die Gottlosenpropaganda recht, weil sie nämlich zu einem ganz großen Teil ihre Leidenschaft entzündet an jenen gespenstischen Begriffen, die unter der Herrschaft der Ratio an die Stelle des wirklichen Glaubens getreten sind. Wenn man diesem fanatischen Atheismus — denn der Fanatismus ist ja nur ein Zeichen dafür, daß die Menschen Gott nicht loswerden — begegnen will, dann darf man nicht seine Voraussetzungen teilen. Darauf beruht nach meiner Überzeugung die eigentliche Ohnmacht des Widerstandes gegen die verführerische Macht eines militanten 354

Atheismus, daß wir im Grunde bei allem Antikommunismus die Voraussetzung dafür teilen, nämlich die Anbetung der Ratio. Die Herrschaft der Ratio im Bereich des Glaubens ist ein Paradoxon; aber nicht ein echtes Paradoxon in dem fruchtbaren Sinn, in dem entscheidende Sachverhalte immer einen paradoxen Ausdruck finden, sondern im Sinne eines Widerspruchs, der die Sache sinnlos macht. Denn der Glaube ist genau der Bereich, in dem die Ratio ihre Herrschaft verloren hat. Die Ratio verwandelt Gott in ein höheres Wesen, das man weder fürchten noch lieben, sondern dessen Dasein man höchstens konstatieren kann. Man kann rational denken, aber man kann nicht rational glauben. Die verhängnisvolle Herrschaft der Ratio im Bereich der Theologie hat jene gespenstische Begriffswelt theologischer Definitionen heraufgeführt und die Wahrheitserkenntnis auf den, ach — so engen Raum dessen beschränkt, was der Mensch rational erfassen und definieren kann. Es ist ein unheimliches Wechselverhältnis. Die Ratio höhlt den Glauben aus, und der Glaube ist notwendigerweise als die Verbundenheit des Menschen mit dem göttlichen Geheimnis der unversöhnliche Feind der Alleinherrschaft der Ratio. Das hat dann wieder die unheimliche Folge, daß das, was unter der Herrschaft der Ratio sozusagen unter den Tisch fällt, unter den schön weiß gedeckten Tisch des rationalen wissenschaftlichen Denkens, ein höchst unheimliches Eigenleben führt. Es gibt einen Vers von Rückert: Glaube, dem die Türen ihr versagt, kommt als Aberglaub' durchs Fenster. Wenn die Gottheit ihr verjagt, kommen die Gespenster. Das ist genau das, was wir heute erleben, daß wir in der Christenheit vielfach als Aberglauben bezeichnen, was wir mit unserer rationalen Theologie nicht begreifen. Die glänzenden Erfolge und die berauschende Macht der Ratio kann uns zwar nicht auf den Irrweg verleiten und verführen, die Ratio zu schmähen, um etwa irgendeiner Art von Irrationalismus und unrationaler Schwärmerei das Wort zu reden. Aber wir dürfen uns auch nicht darüber täuschen, daß die Alleinherrschaft der Ratio weder der natürlichen Struktur des Menschen noch der Wirklichkeit des Lebens, weder den tieferen Gesetzen des menschlichen Miteinander noch dem komplexen Charakter der Welt gerecht wird. Darum ist die Europäisierung der Welt im Sinne einer alles erobernden Macht der Ratio eine ungeheure Gefährdung der Welt, weil das, was wir exportieren, auch heute noch weithin der Aberglaube an die Wissenschaft, der Aberglaube an die Errungenschaft der rationalen Technik ist, ohne jene strenge Zucht des Denkens, die Europa 355

im Dienste der rationalen Erforschung der Welt gelernt hat, und ohne den geheimnisvollen Hintergrund dieser ganzen Entwicklung. Es ist der Gedanke zitiert worden, den vor allem Friedrich Gogarten immer wieder vertreten hat, daß die Säkularisierung unseres Denkens unter der Herrschaft der Ratio auf dem Boden des Christentums selbst gewachsen ist. Der Zusammenhang scheint der zu sein, daß die Erscheinung Jesu Christi die Menschheit befreit hat aus einer Bindung an die umschließende Welt mit ihren unheimlichen Hintergründen und dämonischen Mächten. Indem der Mensch aus dieser Umklammerung durch die Welt, durch den Kosmos, befreit wird, ist er nun auch frei, sie zu erforschen. Die Perversion liegt nur darin, daß der Mensch diese Freiheit von den kosmischen Mächten umgewandelt hat in die Leugnung dieser kosmischen Mächte, in die Leugnung dieser Tiefendimension der Wirklichkeit. Und es geht dann genauso, daß man dem Teufel keinen größeren Gefallen tun kann, als seine Existenz zu leugnen. Professor Schütz sagt an einer Stelle: Wenn die Menschen von der Nichtexistenz des Teufels reden, dann hat er gewonnenes Spiel. Genauso ist es aber mit den dämonischen Mächten, die nicht dadurch beherrscht werden, daß man ihre Existenz leugnet. Die Befreiung des Menschen durch das Christentum von den kosmischen Mächten darf nicht pervertiert werden in eine Blindheit gegenüber allen diesen kosmischen Mächten. Wenn es im Kolosserbrief heißt, daß Christus diese kosmischen Mächte — man kann sie auch Dämonen nennen — im Triumphzug seines Sieges einherführt, so heißt das nicht, daß sie nicht existieren, sondern daß sie in ihrem Rang verändert sind und nicht mehr die selbständige Macht haben, vor der die Menschen sich fürchten müssen. Indem sie aber einfach geleugnet wird, entsteht jene Alleinherrschaft der rationalen Denkweise in bezug auf die Welt, die das Gegenteil der wirklichen christlichen Freiheit ist. Das durchrationalisierte Leben wird langweilig, oberflächlich und steril. In bezug auf den eifrigen europäischen Export dieser rationalen Weltbeherrschung gilt wohl das Wort eines Engländers, das in einem Aufsatz von Erik von Kuehnelt-Leddhin zitiert wird: „Europe has become the apostle of her own apostasy", der Apostel seiner eigenen „Apostasie", was nicht nur Ketzerei, sondern Abfall bedeutet. Wenn das alles richtig ist, dann steht natürlich vor uns eine höchst unheimliche Frage. Man muß ja dieses heiße Eisen anfassen! Gibt es eine Möglichkeit, diese Alleinherrschaft der Ratio zu überwinden? Sicherlich ist deutlich geworden, daß dieses Stichwort: „Überwindung der Alleinherrschaft der Ratio" nicht bedeuten kann: Entwertung der Ratio. Der Fluchtweg in irgendein vorrationales, unrationales oder irrationales Denken ist uns versperrt. 356

Aber wenn wir auf der anderen Seite sehen, wie in den Ländern Asiens und Afrikas — Südamerika ist viel fremder - bestimmte Restbestände eines nichtrationalen Denkens da sind — wahrscheinlich auch dort sehr gefährdet — und wenn wir in diesen Ländern nun als eine Ausfuhr Europas mit Eifer unser rationales Denken exportieren, so laden wir eine unerhörte Verantwortung auf uns, weil in der Verbindung mit jenen sehr andersartigen und sehr verschiedenen Resten eines nichtrationalen Denkens diese Rationalisierung und Technisierung des Lebens nur ein ungeheures Weltchaos heraufführen kann. Aber es gilt hier auch — und das ist ein entscheidendes Anliegen — daß ein Übel nur an seiner Quelle überwunden werden kann. So wie Eltern ihre Kinder durch nichts anderes zu den richtigen Entscheidungen ihres Lebens erziehen können, als dadurch, daß sie selbst als erwachsene Menschen die Entscheidung ihres Lebens in einer verantwortlichen Weise treffen, so kann auch die Verantwortung, die wir nun einmal für die Welt tragen, nur dadurch erfüllt werden, daß wir den Schaden, der von uns angerichtet worden ist, mit der Alleinherrschaft der Ratio, in uns und an uns selbst überwinden. Das kann nur so geschehen, daß wir in uns selbst — zunächst einmal ganz persönlich in uns selbst — die nichtrationalen Tiefen der eigenen Seele ernst nehmen, daß wir die Tiefenschichten unseres eigenen Innern nicht einfach vergewaltigen und unterdrücken. Wir müssen einander Mut machen, entgegen allem Bildungsstolz des rational durchgeformten Menschen, an diese Tiefen zu glauben und auf jene Stimmen zu hören. Einfacher gesagt: Wir müssen lernen, daß die Märchen nicht einfach „Schwindel", sondern daß sie sehr ernsthafte Träume der Volksseele sind, von dem, wovor man sich fürchten muß und worauf man vertrauen kann. In den Sagen träumt ein Volk von den treibenden Kräften seiner eigenen Geschichte — ein sehr schönes Wort eines anthroposophischen Sagenforschers - und auch die Mythen sind nicht etwa jener Unrat, von dem wir die Historie reinigen müssen, sondern die Mythen sind ja viel interessanter als die Historie, weil sie große Träume der Menschheit sind von dem, was in unser aller Leben sich ereignet und unserer ganzen menschlichen Existenz zugrunde liegt. Das ernst zu nehmen ist einfach eine Frage unserer Bescheidenheit, und wir muten unserer Ratio zu, auch das ernst zu nehmen, was nicht in ihre Schublade paßt. Wir müssen lernen, jene Übungen in uns selbst zu vollziehen, uns selbst der Sammlung, der Versenkung, der Betrachtung zu öffnen und uns in unserem eigenen tiefsten Innern mit einem transrationalen Bereich der Wirklichkeit zu verbinden. Es muß für gefährlich gehalten werden, zu meinen, daß wir das etwa nur durch indische Yogaübungen lernen könnten. Jene Männer haben recht, die uns sagen, daß 357

die ganze Yogapraxis so tief mit einer uns hoffnungslos fremdartigen Welt des Denkens, der Art des Selbstverständisses, des Weltverständnisses verbunden sei, daß es gefährlich wäre, die „neutralen" Anfangsübungen für harmlos zu halten. Aber wir sollen nicht meinen, daß wir die entscheidenden Dinge im Ausverkauf Ostasiens billiger bekämen als unsere christliche Tradition. Wir haben eine große christliche Tradition, die wir in unseren Kirchen weithin vernachlässigt haben, zugunsten eines rein rationalen theologischen Denkens. Dies müssen wir neu lernen und üben. Ohne Scheu soll hier das so sehr umstrittene und mißverständliche Wort „Meditation" gebraucht werden. Die Übung, die Einübung der Meditation bedeutet nichts anderes, als sich selbst Mut zu machen, diese nicht rationalen Schichten in uns ernst zu nehmen. Alle Meditation ist ja im Grunde eine Hinwendung und Vorübung. Das Beten ist der äußerste Gegenpol des rein rationalen Denkens. Wer rein rational denkt, der wird nicht nur sagen: Was soll ich beten? Er fragt auch nicht nur: Wie macht man das? Sondern er kann es tatsächlich nicht. Ein Mensch, in dem die Ratio ihren tyrannischen Thron aufgeschlagen hat, verliert ja in sich die Freudigkeit, die Fähigkeit, die Möglichkeit zu einem so kühnen Unterfangen, daß wir Menschen mit Gott, dem Urgrund allen Seins, dem Vater aller Dinge, reden. Es ist völlig rational unbegreiflich, daß wir das wagen. Wer betet, der hat schon die Alleinherrschaft der Ratio in sich überwunden. In der Zeitschrift „Hochland" war vor einigen Jahren ein Aufsatz über die merkwürdige Frage zu lesen, warum im Laufe der letzten Jahrhunderte so wenige große theologische Lehrer der Römischen Kirche mehr heilig gesprochen worden sind. Der Verfasser dieses Aufsatzes gibt die erstaunliche Antwort: Die großen theologischen Lehrer der alten Kirche waren zugleich große Beter. Und man wußte noch, daß der theologos eigentlich der ist, der Gott in die Welt hineinproklamiert. Dann kam eine theologische Gelehrsamkeit, die nicht mehr im gleichen Maß mit der Erfahrung der Meditation und des Gebets verbunden war, sondern schon eine tiefere Verbeugung vor der Rationalität der theologischen Begriffssprache gemacht hatte. Die Überwindung der Alleinherrschaft der Ratio auch in unserem menschlichen Miteinander, die Bejahung der gar nicht rational faßbaren Liebesfähigkeit des Menschen, die Bereitschaft, dem ganz anders gearteten Menschen neben uns in der Verschiedenheit der Geschlechter, in der Verschiedenheit des Alters, in der Verschiedenheit der Artung und der Denkgewohnheiten neben uns zu ertragen und ihn ernst zu nehmen, ihn anzuhören und in einem lebendigen fruchtbaren Austausch etwas von ihm zu lernen, das ist der Punkt, den wir in unserem allerengsten und kleinsten Lebensbereich der europäischen Verant358

wortung für die Welt schuldig sind. Daß wir in dem Menschen den Bruder erkennen, dem wir in Liebe begegnen und daß wir damit der grauenhaften Unmenschlichkeit, die uns von allen Seiten selbst bedroht, wehren und an unserem Teil versuchen, das Humane zu retten, ist ein Stück kleinster Beitrag zu der europäischen Verantwortung in der Welt. Daß wir auch innerhalb der echten Wissenschaft nicht der Ratio die Weisheit opfern und jene Demut des echten wissenschaftlich Denkenden bewahren gegenüber der Hoffart des pseudowissenschaftlich gebildeten Menschen, ist ein Stück des Aufstandes gegen die Tyrannei der Ratio. Konservative Haltung ist nicht möglich ohne Uberwindung der Alleinherrschaft der Ratio. Denn die Alleinherrschaft der Ratio ist ja im modernen gesellschaftlichen und politischen Denken durch nichts so gestärkt worden wie durch die Ideen der Französischen Revolution; konservativ ist alles, was den Ideen von 1789 widerspricht und widerstreitet. Darum mag wohl alle technische und wirtschaftliche Hilfe, die wir anderen Völkern zu leisten haben, vollkommen in ihrem Recht sein; aber wir haben die große Sorge und müssen diese Sorge auf uns nehmen, daß wir nicht die Völker der Welt mit dem gefährlichen Erbe unserer Ratioherrschaft vergiften. In dieser Hinsicht gibt es vielleicht so etwas wie eine gemeinsame Front der sich unvereinbar gegenüberstehenden Weltreligionen, daß sie alle in der gemeinsamen Front gegen die Alleinherrschaft der Ratio einig sind. Da die Alleinherrschaft der Ratio aus den Gründen, die ich vorhin deutlich zu machen versuchte, auf dem Boden des Christentums entstanden, ja aus dem Schoß des Christentums geboren worden ist als ein Bestand seiner Geschichte, so kann auch nur aus diesem Schoß die Gefahr überwunden werden, die uns und durch uns die Welt bedroht. In einem der Briefe des Benediktinerinnenklosters in Herstelle steht der schöne Satz: „Es gehört zu den Gnaden unseres Jahrhunderts, daß wenigstens hie und da Menschen beginnen, die Grenzen des begrifflichen Denkens gegenüber dem unbegriffenen und unbegreiflichen Urgrund des Seins zu erkennen und anzuerkennen." Solange wir so viel Mühe haben, daß wir, die wir uns Christen nennen, uns wirklich untereinander verstehen und durch die Krusten unserer rationalen Begrifflichkeit durchstoßen zu dem, wovon wir allein leben können, steht es uns nicht zu, unsere fragwürdige Christlichkeit als ein Aushängeschild vor uns zu tragen und als einen Exportartikel der Welt anzubieten. Aber vielleicht meinen wir damit etwas, was in diesem Wort eigentlich nicht getroffen wird. Was meinen wir eigentlich damit? Vielleicht ein gemeinsames Schicksal, von dem heute die ganze Welt betroffen ist? Ist es die Angst? Denn die Angst ist eine seelische Reaktion. Es 359

ist etwas viel Schlimmeres als Angst — Angst könnte vielleicht der Psychotherapeut wegoperieren - es ist die objektive Bedrohtheit, in der wir leben, die Gefährdung der menschlichen Existenz, die Gefährdung der ganzen Welt, und wir selbst sind deren Werkzeuge. Dies ist ein Weltenschicksal, daß wir um unsere Bedrohtheit wissen. Die eigentlich gefährlichen Menschen sind ja diejenigen, die keine Angst haben, sondern die noch in ihrer Sicherheit dahinleben, als ob sie nicht mit der ganzen Welt bedroht und gefährdet wären. Das andere ist dies, daß in diese Welt hinein, die so gefährdet und bedroht ist, Gott seinen Willen geoffenbart hat, diese Welt nicht zugrunde gehen zu lassen, sondern ihr zu helfen, sie zu retten. Weil das der andere Sachverhalt ist, darum steht uns bei aller Nüchternheit auch in der hoffnungslosen Lage, in der wir sind, im Grunde die Verzweiflung nicht an, weil Gott nicht an uns verzweifelt, wenn wir nicht an ihm verzweifeln, weil Gott den Willen zu erkennen gegeben hat, daß er diese Welt retten will. Konservativ sein heißt, bis in sein politisches Denken hinein ein Werkzeug werden wollen dieses Willens Gottes zum Heil und zur Rettung der Welt. Wenn wir eine europäische Verantwortung für die Welt tragen, dann muß sie bestehen in der Solidarität der Angst um die tödlich bedrohte Menschheit und in dem unzerstörbaren Glauben daran, daß Gott dieser Welt aufhelfen will auch durch unseren Dienst.

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AUFSTIEG ODER NIEDERGANG DER WELT?

ZUM PROBLEM DES FORTSCHRITTS (1966-gekürzt) Einleitung: Die Frage Wer darf es in Wahrheit wagen, über eine so unheimliche Frage zu sprechen wie diese, ob die Welt als ganze im Aufstieg oder im Niedergang begriffen ist? Denn um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müßte man einen Überblick haben über die gesamte Geschichte der Menschheit, soweit sie für uns überschaubar ist, und müßte das ganze Gefüge dieser wechselvollen Geschichte als eine Einheit sehen und sie zugleich mit philosophischer Erkenntnis durchdringen. Oder vielmehr: man müßte das Ganze der Welt so sehen können, wie allein Gott es sieht mit seinem alles umfassenden Blick, der uns Menschen verwehrt ist. Wenn also in dieser Stunde überhaupt zu diesem mit höchster Verantwortung geladenen Thema etwas gesagt werden soll, so kann nur ein persönliches Wort gewagt werden in den Grenzen dessen, was uns Menschen zu sehen vergönnt und zu sagen erlaubt ist. Ein persönliches Bekenntnis also, das freilich versuchen muß, einer zweifachen Verantwortung gerecht zu werden: der Verantwortung gegenüber der christlichen Erkenntnis, die uns anvertraut ist, und gegenüber der Welt, in die wir hineingestellt sind. Verantwortung bedeutet freilich in diesen beiden Richtungen, vor Gott und vor der Welt, nicht das gleiche. Wir sind nicht im gleichen Sinn vor der uns umgebenden Welt verantwortlich, wie wir vor unserem christlichen Gewissen, genauer gesagt, vor Gott verantwortlich sind. Wir sind mit-verantwortlich für den Lauf der Welt, aber wir sind nicht verantwortlich für die Wahrheit; sie ist vielmehr die Instanz, vor der allein wir Verantwortung tragen. In dem Bewußtsein dieser letzten und unaufhebbaren Verantwortung versuchen wir, uns und einander Rechenschaft zu geben über den unheimlichen Prozeß der Umwandlung der Welt, bei dem wir Zuschauer und mitwirkende Akteure zugleich sind; eine Umwandlung, für deren Größe es kaum eine vergleichbare Parallele in der Geschichte gibt, und deren Ausmaß wir selbst als in diesen Umwandlungsprozeß hineinverstrickten Zeitgenossen kaum zu überschauen vermögen. 361

Aber was ist mit der Welt gemeint, nach deren Aufstieg oder Niedergang wir gefragt sind? Das Wort „Welt" läßt immer an ein umfassendes Ganzes denken und erlaubt also im Grunde kein partikulares Urteil auf Grund begrenzter Erfahrung. Aber wir können das Wagnis nicht vermeiden, daß wir, die wir an einen bestimmten Punkt der Geschichte gestellt sind, dennoch versuchen, ein Wort über das Ganze zu sagen, von dem wir nur einen winzigen Bruchteil überschauen, und dessen winziger Teil wir selber sind. Das jedenfalls meint der christliche Glaube immer, wenn er vom Anfang und vom Ende der Welt, von einem Plan des Schöpfers mit der von ihm geschaffenen Welt spricht. Wir fragen noch einmal: Was ist mit dieser Welt gemeint? Gewiß nicht das Weltall, der Kosmos im physischen Sinn. Hier könnte man wahrscheinlich von einer Entwicklung, vielleicht auch von einer Zerstörung reden, aber nicht von Aufstieg oder Niedergang. Kosmogonische Mythen, naturwissenschaftliche Theorien über die Entstehung oder die Entwicklung unserer Erde oder anderer „Himmelskörper", Spekulationen über die Kräfte oder die Vorgänge, durch die diese Erde einmal in ihrer Existenz bedroht sein wird, liegen gewiß nicht im Rahmen dieser Fragestellung. Gemeint ist — darüber kann kein Zweifel sein — die Menschheit in ihrer Einheit und Ganzheit. Das auf der Erde lebende Menschengeschlecht ist mehr als jemals zuvor zu einer „Welt" zusammengewachsen, in der alle mit allen, alles mit allem in einer Vielzahl wechselseitiger Beziehungen verflochten sind, und die bei aller Differenzierung ein gemeinsames Schicksal erfährt und erleidet. Die Frage, ob diese „Weltgeschichte", die Geschichte dieser Menschheit als Ganzes, als ein Aufstieg oder als ein Niedergang begriffen werden kann, ist eine spezifisch heutige Frage, die in dieser Form früher kaum aufgetaucht ist und die erst das gegenwärtige Geschlecht, dieses freilich um so mehr, bedrängt. Zwar hat Berteau in seinem Buch „Mutation der Menschheit" die Meinung ausgesprochen, daß heute überhaupt nicht Fragen, sondern nur Aufgaben gestellt würden. Aber was heißt das: Aufgaben ohne vorhergehende Fragen? Heißt es nicht, daß wir einer Tätigkeit ohne Besinnung und ohne Erkenntnis das Wort reden, und daß wir also gar nicht mehr wissen wollen, was wir eigentlich tun, und ob wir das, was wir tun, für richtig halten, und ob es einer tieferen Besinnung standhält? Heißt es nicht, daß wir uns in einen Aktivismus hineinsteigern, der keine Maßstäbe kennt oder auch nur kennen will? Müssen wir uns nicht der Frage stellen, was da eigentlich an uns geschieht in dieser heutigen „Mutation" der Menschheit, auch wenn wir vielleicht erkennen müssen, daß wir keine eindeutige Antwort darauf finden? Ich halte das Wort für völlig richtig, daß die entscheidende religiöse Grenzlinie heute nicht zwischen 362

den Christen und den Nichtchristen läuft, sondern zwischen den Selbstsicheren und den Unruhig-Gewordenen, zwischen den Gleichgültigen und den Wartenden, zwischen den Zufriedenen und den Zweifelnden, zwischen denen, die fragen, und denen, die nicht mehr fragen wollen. Wenn das richtig ist, dann stellen wir uns - wie könnten und wie dürften wir anders? — mit aller Entschiedenheit nicht nur gegen die Gleichgültigen, sondern auch gegen die Aktivisten, die sich nur Aufgaben, aber keine Fragen stellen lassen wollen, auf die Seite der Fragenden, die fragen, weil sie selbst gefragt werden. Und es ist schon etwas, wenn wir dieser Frage nach Aufstieg oder Niedergang der Welt standhalten, oder wenn wir, um bescheidener zu sein, wenigstens den Sinn dieser Frage zu erhellen suchen. Aufstieg oder Heil? Aber nun endlich: Welchen Sinn kann es haben, nach Aufstieg oder Niedergang der Welt zu fragen? Oder ist vielleicht diese Frage selbst falsch gestellt? Zu den vielen Dingen, Gedanken und Fragen, über die wir uns den Kopf zerbrechen, von denen aber in der Heiligen Schrift überhaupt nicht die Rede ist, gehören auch solche Begriffe wie „Aufstieg" oder „Niedergang" der Welt. Die Kategorien des biblischen Denkens sind vielmehr Heil oder Unheil, Rettung oder Verderben. Ist es nicht schon eine unerlaubte Konzession an den Entwicklungsgedanken oder an den Begriff des Fortschritts, daß wir überhaupt von Aufstieg oder Niedergang, statt von Rettung oder Untergang reden? Wir dürfen und wir können die Augen nicht mehr verschließen vor der Möglichkeit, ja, einer gewissen Wahrscheinlichkeit des Untergangs. Arthur Miller läßt in seinem Schauspiel „Der Sündenfall" seinen Helden Quentin, der wohl er selber ist, zu seiner dritten Frau sagen: „Es scheint mir möglich, sich nicht zu fürchten." Eben dieses scheint mir nicht mehr möglich zu sein. Der Fortschritt hat, nach dem Wort von Tennessee Williams, „tbe age af anxiety", das Zeitalter der Angst, hervorgebracht. Wir leben in der Angst, auch wenn es zu der Technik des Fortschritts zu gehören scheint, diese Angst als das Grundgefühl der heutigen Existenz sich und anderen zu verbergen. Eine Maske der Angst ist der Lärm. Warum halten es so viele Menschen nicht mehr aus, ohne daß irgendein Lärm um sie ist? Sie haben ein tiefes Gefühl der Leere ihres eigenen Seins, und in dieser Leere lauert die Angst, die Angst vor der Stille, in der sie auf Gedanken kommen könnten, die ihnen unbequem sind, und in der ihnen die ganze Fragw ü r d i g s t ihres eigenen Lebens zum Bewußtsein kommen könnte. Wir 363

haben Angst vor uns selber, Angst vor einander, weil wir im Grunde alle Angst haben vor dem Tod. Diese Angst vor uns selber, vor einander und vor dem Tod verstecken wir hinter der Maske des Fortschritts, des Wohlstands und des Lärms. Aber die Angst ist niemals ein Motor des wirklichen Aufstiegs. Wer den Tod fürchtet, entgeht ihm nicht. Oder sind damit die meisten unserer Zeitgenossen vielleicht noch überschätzt? Empfinden sie überhaupt noch die Leere ihres Daseins als einen Mangel? Oder sind sie selbst in dem Maße der Maschine hörig geworden, daß sie den Lärm, oder sagen wir freundlicher, das Geräusch irgendeines Apparates um sich haben müssen, um sich in ihrer Umwelt zu Hause zu fühlen? Sind sie so gänzlich entleert, so sehr dem Nichts verfallen, daß sie nicht einmal mehr Angst zu empfinden vermögen? Kann man von dem allen sprechen, ohne von dem Bösen zu reden, nicht nur von dem „sogenannten Bösen", sondern von dem wirklichen Bösen, das eine Macht ist im Menschen und darum auch in der Welt? „Was mich erschreckt, ist nicht die Zerstörungskraft der Atombombe, sondern die Explosionskraft des menschlichen Herzens zum Bösen." Das hat nicht etwa ein Theologe, sondern Albert Einstein gesagt. Mit diesem „Bösen" sind aber wahrhaftig nicht einzelne Übertretungen moralischer Spielregeln oder Gebote gemeint (die hat es zu allen Zeiten gegeben, und wahrscheinlich früher nicht weniger als heute), sondern gemeint ist die grundsätzliche Erweichung oder Leugnung der Gebote selbst. Man kann eben nicht fortschrittsgläubig der perfekten Maschine den perfekten Menschen gegenüberstellen. Den hat es nie gegeben, und den wird es nie geben, weil der Hang des Menschen zum Bösen, zur Sünde, in dieser Welt nicht ausgerottet werden kann. Die christliche Lehre nennt das Erbsünde. „Die Menschheit ist ein Krebsgeschwür im Leib der Schöpfung geworden, weil sie sich nicht mehr einfügt in den Organismus des Lebens." Darum — darum allein! — ist uns jeder Optimismus verboten. Es ist nicht wahr, daß der christliche Glaube mit irgendeiner Art von Optimismus in eines zu setzen sei, und daß also der gläubige Christ Optimist sein müsse. Ich gebe Gabriel Marcel recht, wenn er sagt, es gäbe überhaupt keinen tiefen Optimismus. Der Optimist ist kein Denker, sondern ein Rhetor. Und von dieser Rhetorik gilt wahrhaftig das Wort, daß die ars rhetorica eine ars fallendi sei, eine Kunst, sich selbst und andere 2x1 betrügen. Müssen wir deswegen Pessimisten sein? Optimismus und Pessimismus haben dieses gemeinsam, daß sie sich weigern, die komplexe Wirklichkeit, deren Rechnung auf keine Weise aufgeht, so zu sehen, wie sie wirklich ist. Ich könnte auch sagen, daß sie sich weigern, mit Gott zu rechnen. Wer wirklich an Gott glaubt, kann weder Optimist noch Pessimist sein. Wenn wir 364

wirklich Christen sein wollen, ist uns keine Kapitulation erlaubt, weder vor dem Verhängnis des Fortschritts noch vor der Drohung des Niedergangs. Es ist uns erst recht nicht erlaubt eine falsche Vertröstung, die jenseits dieser Welt, die so offenbar im Argen liegt, eine neue Welt erwartet, in der dann — endlich! — die rechte Ordnung herrscht. Wer aus der christlichen Hoffnung eine Zukunftserwartung macht ohne gegenwärtige Verantwortung für die Welt und ihr Schicksal, der hat die Hoffnung in der Tiefe verkannt und verfälscht. Wir können, auch wenn wir noch so sehr erschrecken über die offenbaren Symptome des Niedergangs, niemals diese Welt den Dämonen überlassen und sagen: pereat muttdus, wenn nur meine Seele gerettet wird. Denn Gott liebt die Welt, die er geschaffen hat. Wahrscheinlich vermögen wir Menschen auf die Frage, ob die Menschheit, ob die Welt als Ganzes in einem Aufstieg oder einem Niedergang begriffen ist, keine Antwort zu geben, und es ist wohl tröstlich, daß wir auch aus der Heiligen Schrift keine Antwort auf diese Frage, ja, nicht einmal diese Frage selbst, herauszuhören vermögen. Sie gehört zu jenen Fragen, deren Beantwortung sich Gott vorbehalten hat. Wir können nicht in Gottes Urteil blicken und dürfen seinem Urteil auch nicht mit unserer Neigung zu vorschnellen Urteilen vorgreifen. Es ist ja schon nicht möglich, Freuden und Leiden in unserem Leben oder gar unsere Tugenden und unsere Sünden gegeneinander aufzurechnen und eine Bilanz unseres Lebens abzuschließen. Wieviel weniger können wir über Aufstieg oder Niedergang der Welt urteilen! Trotzdem hat es einen guten Sinn und sein tiefes Recht, wenn wir uns bemühen, die Symptome des einen und des anderen zu erkennen. Taillerand hat auf dem Wiener Kongreß 1815 das gute Wort geprägt, wir sollten Zukunft im Sinn haben. Wenn wir dieses — gewiß ganz anders gemeinte - Wort auf unsere Lage anwenden, so heißt das gewiß nicht, daß wir Pläne machen und Programme entwerfen sollten zur Besserung der Welt und zur Heilung oder Rettung der Menschheit. Das steht uns nicht zu. Aber „Zukunft im Sinn haben", das heißt: verantwortlich in der Gegenwart stehen. Wenn wir die Maßstäbe kennen, an denen Aufstieg und Niedergang der Welt sich unterscheiden, dann können wir uns prüfen und sollen uns prüfen, ob wir mit unserem Sein — wohl verstanden, nicht mit unseren Ideen, unserem Reden, nicht einmal mit unseren Taten, sondern wirklich mit unserem Sein — der Erhaltung und Rettung oder dem Untergang der Welt dienstbar sind. Dazu gehört vor allem anderen nüchterne Erkenntnis, Erkenntnis der Wahrheit. Wahrscheinlich noch mehr als über die Explosionskraft des Bösen müssen wir erschrekken oder zum mindesten traurig sein über den Mangel an Erkenntnis, 365

über den Mangel an Einsicht und Weisheit, über die Anfälligkeit für den Wahn. Man kann das nicht aussprechen, ohne auch von der großen Schule der Kirche (der Kirche aller Konfessionen!) zu reden, der es nicht gelungen ist und die sich vielleicht nicht einmal genügend Mühe gegeben hat, die Wahrheitserkenntnis, die ihr anvertraut ist, so zu dolmetschen, daß jedermann erkennen kann, wie sehr es sich bei den sogenannten Dogmen der Kirche um Grundfragen oder vielmehr Grunderkenntnisse des eigenen Lebens handelt. Von meinem Freunde Paul Tillich stammt das Wort: das Dogma sei die Rede von dem, was jeden Menschen unbedingt angeht. Wie weit sind wir davon entfernt, das zu verstehen, wenn wir — oder doch viele von uns - meinen, das Dogma sei eine seltsame Lehre, die uns im Grunde nichts angeht! Die alten Griechen hatten — nach einem Wort von Professor Schadewaldt - die Fähigkeit, aus einem Minimum von Erfahrung, ein Maximum von Erkenntnis zu gewinnen. Die heutige Menschheit gewinnt, umgekehrt, aus einem Maximum von Erfahrung ein Minimum von Erkenntnis. In jeder echten Erkenntnis muß sich freilich die abendländische Schulung des Geistes verbinden mit jenen tieferen Schichten der Weisheit, die in einer Unterströmung der ganzen abendländischen Geistesgeschichte immer auch am Werk gewesen sind, in denen uns aber die alten Kulturvölker Asiens einfach überlegen sind. Oder, um es mit einem Wort des Baseler Biologen Portmann zu sagen: „Wir sollten das sekundäre Weltwissen (das uns von der Wissenschaft vermittelt wird) eingliedern in eine primäre Weltsicht, die mehr aus dem Gewissen als aus dem Wissen gespeist wird." Kraft dieser Erkenntnis können und sollen wir unterscheiden, was dem Aufstieg und was dem Niedergang der Welt, oder sagen wir es richtiger, was dem Heil und was dem Verderben, der Rettung oder dem Untergang der Welt dient. Und dann sollten wir unerbittlich unser eigenes Leben, unser eigenes Sein an diesem Maßstab prüfen, auf welcher Seite wir stehen; weil es ja keine Zuschauerfrage ist, über die wir mit „Interesse" diskutieren können, sondern eine Frage unserer eigenen Existenz, eine Frage auf Tod und Leben. Dann sollten wir freilich auch den Willen und die Fähigkeit haben, aus solchen Erkenntnissen die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Auch wenn diese Konsequenzen dann tief in unser Leben, in unsere Gewohnheiten eingreifen, sollten wir den Mut haben, gegen unsere eigene Trägheit und Feigheit anzukämpfen. Eingedenk jenes unheimlichen Wortes von Augustin, daß die Bösen in der Welt Macht gewinnen durch die Feigheit der Guten. Ohne Mut, gegen den Strom zu schwimmen, ohne den Mut, altmodisch zu scheinen und dabei gerade die „Zukunft im Sinn zu haben", werden wir niemals dem Aufstieg — oder vielmehr dem Heil der Welt dienen. Man muß das Wort des Apostels, wir sollten „haben als 366

hätten wir nicht", auch auf den Fortschritt anwenden. Man kann und man muß wohl in dieser Welt des Fortschritts leben, als ginge er uns nichts an, denn er geht uns im Grunde nichts an. Gott will nicht den Fortschritt, sondern das Heil der Welt. Und nun noch einmal ein Wort vom Fortschritt. Im Jahr 1675 hat John Bunyan, seines Zeichens Kesselflicker und Prediger in einer Baptistengemeinde, sein berühmtes Buch geschrieben, „The pilgrims progress", in dem er in kühnen und phantastischen Bildern den Aufstieg des frommen Menschen durch alle Gefahren und Versuchungen der Welt zum ewigen Ziel — dargestellt in der himmlischen Stadt — beschrieben hat. Das Buch von Bunyan hat einen ungeheuren Einfluß gehabt, und man sagt, daß es neben der Bibel das verbreiteste Buch der Weltliteratur sei. Der ganze Fortschrittsglaube der angelsächsischen Welt hat an dieses Buch angeknüpft, und es ist das große Symbol ihres eigenen moralischen und zugleich politischen Programms geworden. Dagegen hat nun der große englische Dichter und Denker Clive Staples Lewis im Jahr 1933 sein Gegenbuch geschrieben, „The pilgrims regress", das seither in England viele Auflagen, vor allem in einer gründlichen Umarbeitung aus dem Jahr 1943, erlebt hat. John, der Held dieses Buches, ist aufgebrochen aus „Puritania", dem Land eines selbstverständlichen und gewohnheitsmäßigen Christentums, und geht nun, ständig sein Ideal suchend, durch alle geistigen Landschaften dieser Zeit — es ist sehr bezeichnend, daß eine dieser Landschaften auch im englischen Text „Zeitgeistheim" genannt wird —, bis er zuletzt einsieht, daß das Herz des Menschen nur leben kann von etwas, was ihm niemals in der äußeren Erfahrung gegeben ist oder gegeben sein könnte. Schließlich entdeckt John zu seinem eigenen Erstaunen, daß er in höchster Not, auf einem mühsamen und ausweglosen Pfad, gebetet hat. Er kapituliert vor der Gnade, die ihm in der Weisung der „Mutter Kirche" angeboten wird. Er sieht ein, daß er nichts erzwingen kann, sondern daß er annehmen muß, was ihm geschenkt wird. Und, geleitet von dem seltsamen Lied eines Engels, das sich mit den Vogelstimmen eines frühen Sommermorgens verbindet, geht er über den Bach, der die Grenze zwischen Leben und Tod symbolisiert. Das ist the pilgrims regress. Regress aber heißt nicht etwa Rückschritt, sondern Rückkehr zu den Quellen des Lebens, Wiedergewinnung eines verlorenen Geländes, einer Heimat, die verlassen und verloren war. Man kann gegen diese allegorische Dichtung, die viele, zum Teil durchsichtige, zum Teil aber auch schwer durchschaubare Anspielungen enthält, allerhand einwenden. Aber der Grundgedanke, der sich eben in dem Wort „regress" gegen das Wort progress" ausdrückt, ist einleuchtend und richtig. Wie unwesentlich, wie gleichgültig werden alle Symptome des Fortschritts, und wie frag367

würdig werden alle Ideale einer technischen oder menschlichen Perfektion gegenüber dieser Heimkehr in das wirkliche und eigentliche Leben! Ich möchte das, was mir am Herzen liegt, in einem biblischen Bild noch deutlicher sagen. Im Alten Testament kehrt an vielen Stellen ein Wort wieder, das mir so eindrücklich und so lieb ist wie wenige Worte der Heiligen Schrift: „Da gereute es Gott." Das Wort taucht freilich zum erstenmal auf in der Geschichte von der Sintflut. Als die Bosheit der Menschen überhand nahm, „da gereute es Gott, daß er die Menschen gemacht hatte", und er brachte die große Flut über die verderbte Welt (1. Mose 6, 6). Aber dann klingt das Wort immer wieder auf in dem genau entgegengesetzten Sinn: Es gereute Gott das Verderben, das er über sein ungehorsames Volk verhängt hatte, und er erbarmte sich der mißratenen Welt. Wer an den Gott der Philosophen glauben will und nicht an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs — wir kennen ja dieses Wort Pascals —, der wird jenes Wort, daß Gott etwas gereut habe, für einen kindlichen Anthropomorphismus halten, und er wird vielleicht das andere Bibelwort dagegen halten, daß Gott nicht ein Mensch sei, den etwas gereut (4. Mose 23, 19). Aber jenes Wort, „da gereute es Gott", ist eines der kühnsten, großartigsten und tröstlichsten Worte der ganzen Heiligen Schrift. Denn es ist der Ausdruck dessen, daß Gott in souveräner Freiheit die Welt regiert, und daß es eben nicht möglich ist, in der Weise bestimmter Denker des 19. und des 20. Jahrhunderts zu berechnen, wie die Weltgeschichte weitergehen muß. Das Nicht-Berechenbare, das Nicht-Vorherzusehende gehört zu der Art, wie der Lauf der Welt gelenkt wird. Doch meint jenes Wort auch nicht etwa die Willkür eines Tyrannen, auf dessen Beständigkeit und Treue kein Verlaß ist. Es „gereute Gott" — dann nämlich, wenn die Menschen selbst Einsicht und Reue zeigten in ihren Irrtümern und Verkehrtheiten und bereit waren, umzudenken und umzukehren. Gott regiert die Welt nicht ohne uns Menschen, und es liegt an uns, ob es Gott „gereuen" kann. Wir kennen die Geschichte von Sodom und Gomorrha. Die Bürger dieser Stadt waren im Begriff, das heilige Tabu der Gastlichkeit zu brechen und die Gier des Geschlechts schrecklich zu pervertieren. Da bat Abraham Gott um Erbarmen, daß er nicht die Gerechten, die dort lebten, mit der verderbten Stadt vernichte. Und Gott sagt zu, wenn es zehn Gerechte in Sodom gäbe, dann wolle er die Stadt schonen. Die „Gerechten", das sind nicht perfekte Menschen, nicht Menschen, die ausgenommen wären von der allgemeinen Sündhaftigkeit, sondern es sind Menschen, die sich nichts mehr vormachen, die um das Maß des Menschen wissen, die die Ehrfurcht jeder Art von Frechheit vorziehen, und die ihrer selbstsüchtigen Natur zum Trotz Liebe üben. Um der wenigen willen, die eben auch 368

da sind, kann die Welt, die an ihrer Selbstzerstörung arbeitet und das „Fortschritt" nennt, geschont werden. Da die Welt sich ständig auf einem schmalen Grat befindet, am Abgrund des Niedergangs und des Verderbens, muß es unsere Sorge sein, daß wir zu jenen zehn — vielleicht sind es aber Tausende — gehören, um derentwillen es Gott gereut. Wenn um dieser zehn willen „Sodom" nicht zerstört wird, wenn es Gott um seiner Barmherzigkeit und um unserer Buße willen gereut, dann, dann allein, dürfen wir hoffen. Es muß noch ein letztes gesagt werden. Vielleicht haben sich manche gewundert und sind vielleicht sogar geneigt, mir daraus einen Vorwurf zu machen, daß ich in diesem ganzen Vortrag den Namen Jesus Christus nicht erwähnt habe. Können und dürfen wir eine Frage wie die nach Aufstieg oder Niedergang der Welt stellen und uns um ihre Erhellung bemühen, ohne daß wir auch diese Frage einbeziehen in die apostolische Mahnung, alles „in dem Namen Jesu" zu tun, und das heißt doch nichts anderes, als in dem neuen Sein und dem neuen Verhältnis zur Welt, das von diesem Jesus Christus ausgeht? Aber in dem gleichen Augenblick werden wir uns dessen bewußt, was uns bisher gehindert hat, diesen Namen auszusprechen. Gewiß nicht etwa eine seltsame Scheu, uns auch an diesem Ort und in der Besinnung dieser Stunde zu Jesus Christus zu bekennen! Aber sobald wir unsere Frage mit Jesus Christus konfrontieren, merken wir, daß wir bei ihm oder gar von ihm selbst keine Antwort auf diese unsere Frage erwarten dürfen. Denn sie liegt so sehr außerhalb seines ganzen Denkens, außerhalb dessen, was er verkündigt hat, daß uns von hier aus die Formulierung „Aufstieg oder Niedergang?" erst recht als fragwürdig oder vielmehr als eben nicht fragenswürdig erscheinen muß. Weder hat der Fortschritt, das Verhängnis unserer Zeit, auch nur das Geringste zu tun mit dem von Jesus verkündigten Reich Gottes (wenn sich Friedrich Naumann um die Jahrhundertwende darüber aufgeregt hat, daß Jesus so wenig für die Verbesserung der Straßen in Palästina getan hat, so kann uns daran nur die unüberbrückbare Distanz zwischen Jesus und dem „Fortschritt" deutlich werden), noch kann dieses von Jesus verkündigte Reich Gottes als Ziel oder Maßstab für einen Aufstieg der Menschheit verstanden werden. Soweit die Zukunft der Menschheit in seinem Blickfeld gewesen ist und in seinen Reden erscheint, gleicht diese Zukunft vielmehr einem Ackerfeld, auf dem guter Same und Unkraut untrennbar miteinander wachsen bis zu einem Tag der Ernte, an dem das wesenhaft Verschiedene endgültig voneinander getrennt wird, so wie im Urbeginn am ersten Schöpfungstag der Urgegensatz von Licht und Finsternis gestiftet worden ist. 369

Wenn der Inhalt der Menschheitsgeschichte bis zu diesem Tag, dem dies irae, überhaupt beschrieben werden kann, dann ist es eine fortschreitende Verschärfung der Gegensätze, ein immer ärgerer Widerspruch zwischen der Lebenslinie und der Todeslinie, ein immer schrecklicherer Zusammenprall von Heil und Unheil, von Leben und Tod, bis hin zu dem abgründigen Haß derer, die dem Wahn und damit dem Unheil verschworen sind, gegen alle diejenigen, die fremd sind und fremd bleiben in dieser Welt des fortschreitenden Verfalls. Daß das Begriffspaar „Aufstieg und Niedergang der Welt" überhaupt nicht zu den Kategorien des biblischen Denkens - in der ganzen Heiligen Schrift - gehört, ist schon in einem früheren Zusammenhang gesagt worden. Wenn ich mich aber umsehe, ob ich in den Evangelien ein Wort finden könnte, das etwas mit dieser unserer Frage zu tun hat, dann ist es das Wort, das der alte Simeon zu der Mutter Jesu gesagt hat, als sie den neugeborenen Knaben in den Tempel gebracht hatte: „Dieser ist gesetzt zu einem Fall und Auferstehen vieler." — „Fall" und „Auferstehen": das ist nun freilich etwas ganz anderes als Niedergang und Aufstieg; es sind die Worte einer letzten Entscheidung zwischen Leben und Tod, zwischen Rettung und Verderben. Es ist eine Grunderkenntnis des Neuen Testaments, ja, der ganzen Heiligen Schrift, daß jeder Mensch nicht so sehr mit seinem Denken, Reden und Tun, als vielmehr mit seinem ganzen Sein und Wesen auf die eine oder die andere dieser beiden Seiten zu stehen kommt. Ich weiß, daß mit diesem Hinweis die Frage nach Aufstieg oder Niedergang der Welt nicht beantwortet wird. Aber kann sie anders beantwortet werden als mit dem harten Wort, mit dem der Herr selbst alle rückwärts schauende Pietät und alle sentimentalen Gefühle in ihre Schranken gewiesen hat: „Laß die Toten ihre Toten begraben; du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes?" Denn dieses „Reich Gottes verkündigen" kann ja nichts anderes heißen, als mit dem eigenen Sein im Dienst an der Welt die Herrschaft Gottes bezeugen, der die Welt liebt — im Vertrauen darauf, daß dieser gehorsame Dienst zu den Mächten gehört, die das Verderben aufhalten.

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WILHELM STÄHLINS LEBEN IN DATEN Geboren am 24. September 1883 als elftes Kind des früheren Missionars in Indien und damaligen zweiten Pfarrers in Gun2enhausen (Bayern) Wilhelm Stählin und seiner Frau Sophie geb. Hauser Nach dem Tod des Vaters von 1886-1901 Jugendjahre in Augsburg, Besuch des St. Anna-Gymnasiums Studium der Theologie in Erlangen 1901-1903, in Rostock und Berlin 1903/04, 1904/05 Abschluß in Erlangen, Tod der Mutter Vikar in Feucht bei Nürnberg 1905, 1906 in Ansbach ordiniert, Hilfsprediger in Steinbühl Reise nach England 1908 1909 Studium der Psychologie in Würzburg, Vikar in Schwabach 1910 Zweites theologisches Examen, Pfarrer in Egloffstein, Heirat mit Emmy Thäter 1913 Promotion zum Dr. phil. in Würzburg 1914 Gründung der Gesellschaft für Religionspsychologie; als Feldgeistlicher im Krieg, in Frankreich und im Baltikum 1917—1926 Zweiter Pfarrer an St. Lorenz in Nürnberg 1926 Ordentlicher Professor für Praktische Theologie in Münster i. W. 1931 Gründung der Evang. Michaelsbruderschaft in Marburg 1944/45 Pfarramtsvertretung in Oldenburg-Osternburg 1945 Tod von Emmy Stählin geb. Thäter 1945-52 Bischof der Evang.-Luth. Kirche von Oldenburg 1946 Heirat mit Liselotte Künne 1946 Gründung des ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen Gründung der Luth. Liturgischen Konferenz 1947 Gründung des Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntnisses 1952 Konferenz für Glaube und Kirchenverfassung in Lund (Schweden) 1952—1966 in Rimsting am Chiemsee seit 1966 in Prien am Chiemsee gestorben am 16. Dezember 1975 in Prien

Seite 372 und 373: Faksimile der Handschrift von Wilhelm Stählin aus dem Jahre 1945

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NACHWEIS DER QUELLEN

Kap. I Selbstzeugnisse aus dem Leben Was bleibt? Evangelisches Verlagswerk Stuttgart, 1963 Michaelsbruderschaft/Rückkehr und Rechenschaft in: Marburg 1961, vom Rat der Ev. Michaelsbruderschaft 1962 als Manuskript herausgegeben (abgedruckt mit Genehmigung des Rates 1978). Kap. II Zum Verständnis der Heiligen Schrift Die Einheit der Bibel/Die Gleichnisrede/Die alte und die neue Schöpfung - in: Das Gottesjahr 1936, Bärenreiter-Verlag Kassel 1935, S. 26-31, 57-64 und 99-108 Das Kreuz Christi/Drei Vorträge, Chr. Kaiser-Verlag München 1922 Das Kreuzeszeichen, vervielfältigt 1974 1. Joh. 4, 13-16 - Bibelauslegung im Reichenauer Gespräch der Luth. Bischofskonferenz zur Auseinandersetzung um das Bekenntnis, herausgegeben von H. Schnell, Luth. Verlagshaus Berlin und Hamburg 1962, S. 51—66 Der Heilige Geist tut das Unerwartete, in: Acht Seiten Freude Nr. 11, 2. Juni 1974, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn Kap. III Kirche in der Zeit Absage an die Götter/Vier Vorträge 1947 Regensberg, Münster i. W. Fragen der Anthroposophie an die Evangelische Kirche, in: Evangelium und Christengemeinschaft/Aus der Arbeit einer von der Studiengemeinschaft Evangelischer Akademien einberufenen Kommission für Evangelische Kirche und Anthroposophie, herausgegeben von W. Stählin, Joh. Stauda-Verlag Kassel 1953, S. 110-132 Die Frage nach der Einheit der Kirche, in Una Sancta, Jahrgang 1973, KyriosVerlag, Freising, S. 328-334 Kap. IV Hilfen zum Glauben und Leben Das Gottesjahr 1925, 5. Jahrg., Der Greifenverlag zu Rudolstadt/Thür., darin S. 23, 33, 57, 68, 93, 104 und jeweils folgende Seiten Das Gottesjahr 1926, 6. Jahrg., Der Greifenverlag zu Rudolstadt/Thür., darin S. 21, 38, 43, 47 und jeweils folgende Seiten Das Gottesjahr 1927, 7. Jahrg., Der Greifenverlag zu Rudolstadt/Thür., darin S. 32, 65 und jeweils folgende Seiten Das Gottesjahr 1929, 9. Jahrg., Bärenreiter-Verlag zu Kassel 1928, darin S. 19, 57, 128 und jeweils folgende Seiten

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Das Gottesjahr 1930, 10. Jahrg., Bärenreiter-Verlag zu Kassel 1929, darin S. 26 ff., 43 ff. Das Gottesjahr 1932, 12. Jahrg., Bärenreiter-Verlag zu Kassel 1931, darin S. 24 ff., 104 ff. Das Gottesjahr 1934, 14. Jahrg., Bärenreiter-Verlag zu Kassel 1933, darin S. 25 ff., 58 ff., 120 ff. Das Gottesjahr 1935, 15. Jahrg., Bärenreiter-Verlag zu Kassel 1934, darin S. 26 ff., 71 ff, 129 ff. Das Gottesjahr 1938, 18. Jahrg., Johannes Stauda-Verlag zu Kassel, darin S. 8 ff. (Das Konfirmationsbüchlein für Maria Stählin und die Gebete sind dem handschriftlichen Nachlaß entnommen.) Bruderschaft/Bd. 11 der Reihe „Kirche im Aufbau", Johannes Stauda-Verlag Kassel 1940 (Auswahl) Hilfe im Alltag, 3. Auflage, Johannes Stauda-Verlag zu Kassel 1947, darin S. 45, 51, 84, 87, 98 und jeweils folgende Seiten Das Wort zum Sonntag 1967/Evangelische Sendungen im Deutschen Fernsehen, herausg. von R. Geisendörfer, Claudius-Verlag München 1968, S. 62 ff. Das Wort zum Sonntag 1969, desgl. München 1970, S. 47 ff. Der Mensch und die Freiheit, Verlag Neues Abendland München 1953, S. 11 ff. Das europäische Erbe in der heutigen Welt, Abendländische Akademie e. V., Nürnberg 1963, S. 97 ff. Aufstieg oder Niedergang der Welt? Zum Problem des Fortschritts, Anton Pustet München und Salzburg 1966, S. 9 ff., 57-74

LIEFERBARE BÜCHER VON WILHELM STÄHLIN Von den Büchern, die zu Lebzeiten Wilhelm Stählins erschienen, sind bei Erscheinen dieses Buches (Sommer 1980) noch lieferbar: Im Johannes Stauda Verlag, Kassel: MYSTERIUM Vom Geheimnis Gottes. 216 Seiten, kart. ISBN 3-7982-0001-7 PREDIGTHILFEN Gesamtwerk in fünf Bänden Band I: Evangelien 3. Auflage. VIII, 589 Seiten. Leinen. ISBN 3-7982-0036-X Band II: Episteln 3. Auflage. VIII, 589 Seiten. Leinen. ISBN 3-7982-0037-8 375

Band III: Altes Testament 2. durchgesehene und überarbeitete Auflage. VIII, 491 Seiten. Leinen. ISBN 3-7982-0038-6 Band IV: Die Leitbilder / Die Wochensprüche XVI, 408 Seiten. Leinen. ISBN 3-7982-0039-4 Band V: Die Apokryphen 232 Seiten. Leinen. ISBN 3-7982-0104-8 DIE FEIER DES NEUEN BUNDES Betrachtungen zur Messe. 188 Seiten, Leinen. ISBN 3-7982-0035-1 FREU DICH, BEGNADETE Eine Betrachtung über die Verkündigung der Geburt des Herrn. Zweifarbig in der Peter-Jessen-Schrift gedruckt. Mit einer Bildtafel. 80 Seiten, Pappband. ISBN 3-7982-0100-5 DIE REGEL DES GEISTLICHEN LEBENS 3. durchgesehene Auflage, 88 Seiten, kart. ISBN 3-7982-0080-7 TÄGLICHES GELEIT Auslegung der täglichen Lesungen aus der Heiligen Schrift nach dem Kirchenjahr. 2. Auflage, 432 Seiten, Plastikband. ISBN 3-7982-0058-0 VERGESSENES ERBE Die Antiphonen der Sonntagspsalmen. 64 Seiten. ISBN 3-7982-0136-6

Im Evangelischen Verlagswerk Frankfurt-Stuttgart: SYMBOLON 2. Folge: ERKENNTNISSE UND BETRACHTUNGEN Zum 80. Geburtstag von Wilhelm Stählin herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Michaelsbruderschaft von Adolf Köberle. 364 Seiten, Leinen. ISBN 3-7715-0020-6 WISSEN UND WEISHEIT - SYMBOLON 3. Folge Zum 90. Geburtstag im Auftrag der Evangelischen Michaelsbruderschaft und des Berneuchener Dienstes herausgegeben von Adolf Köberle. 320 Seiten, Leinen. ISBN 3-7715-0148-2 DIE BITTE UM DEN HEILIGEN GEIST 132 Seiten, broschiert. ISBN 3-7715-0071-0 DAS BUCH MIT DEN SIEBEN SIEGELN Eine Einführung in die Offenbarung St. Johannis. 32 Seiten, broschiert. ISBN 3-7715-0161-X