Swift: Gulliver’s Travels: Eine Interpretation im Zusammenhang mit den geistesgeschichtlichen Beziehungen [Reprint 2020 ed.] 9783112340721, 9783112340714

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Swift: Gulliver’s Travels: Eine Interpretation im Zusammenhang mit den geistesgeschichtlichen Beziehungen [Reprint 2020 ed.]
 9783112340721, 9783112340714

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Britannica H e r a u s g e g e b e n vom S e m i n a r f ü r e n g l i s c h e S p r a c h e und K u l t u r an der Hansischen U n i v e r s i t ä t H e f t 12

Swift: Gulliver's Travels Eine Interpretation im Zusammenhang mit den geistesgeschichtlichen Beziehungen.

Von

Dr. L i l l i H a n d r o

I

F r i e d e r i c h s e n , de G r u y t e r & Co. m. b. H.

/ Hamburg

1936

I N H A L T . Einleitung

7

1. Aufbau der Satire in den einzelnen Büchern

9

2. Die philosophischen Grundlagen der Satire

51

3. Die anthropologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Satire

65

4. Anthropologie und Gesellschaft im Gulliver. Der satirische Gehalt Satirische Einzelformen

83 105

5. Satire und Utopie ..

123

6. Religion und Ethik

154

7. Die Ironie

157

EINLEITUNG Gullivers Reisen, mit denen sich der Name Swifts am spontansten verknüpft, sind in ihrer Gesamtheit von den Biographen nicht immer freundlich betrachtet worden. Von der heftigsten Abwehr gegen den zynischen Menschenhasser bis zu der Anerkennung des humanen Grundes, auf dem die Travels erwachsen sind, hat die Biographik Swifts alle Stufen durchlaufen 1 . In der Einzelforschung nehmen Quellenuntersuchungen den größten Raum ein. Seit Orrery steht dabei Cyrano im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Ansammlung der Parallelen mit allen vergleichbaren Werken hat einen erstaunlichen Umfang erreicht; am ausführlichsten und vollständigsten in der Untersuchung von Eddy 2 , die zugleich ein Musterbeispiel dafür bietet, daß die alleinige Beschäftigung mit den Quellen nicht zum Verständnis des Werkes führt. Es genügt hierfür ein Beispiel zu zitieren. Eddy urteilt über das vierte Buch: To me the defect of the fourth voyage, is not the brutality of the satire but the stupidity of the Houyhnhnms 3 . Diese Methode der Betrachtung war schon ein Jahr, bevor Eddy's Arbeit erschien, von Hübener in Beziehung auf Hönncher und Borkowsky abgelehnt worden und durch die Forderung ersetzt, das Verhältnis des Gulliver zu den zeitgeschichtlichen Ideen zu untersuchen. Hübener machte hierbei selbst den Anfang, indem er die Beziehungen des Gulliver zur Curiosity-Kultur aufdeckte 4 . Derselben Methode der rein auf das Werk selbst gerichteten Interpretation war auch Firth in seiner aufschlußreichen Arbeit „The Political Significance of Gulliver's Travels" gefolgt 5 . Hinsichtlich der Quellenfrage führten dann auch die weiteren Untersuchungen, die Harold Williams über Swifts Bibliothek anstellte, zu einem angemesseneren Resultat. 1 2 3 4 5

Vgl. allgemein zu den Biographien Swifts: Pons, S. 6 ff. Gulliver's Travels. A Critical Study. 1923. a. a. 0 . S. 188. Neophilologus 7 (1922). Proc. Brit. Aoad. 1919—20. 7

Gulliver'« Travels owes little to direct hints. Its chief sources were originality in the author, and some general reading 6 . In Übereinstimmung mit der dadurch geforderten Methode, bei der Interpretation rein vom Werk selbst auszugehen, möchten wir unsere Arbeit an der Frage nach dem Sinn und der Bedeutung der Satire orientieren. Dabei ist die Einbeziehung der gesamten geistigen Situation, in der Swifts Gulliver steht, unbedingt erforderlich, da sich erst hieraus die Einheit von Gedanke und Form der Satire ganz ergibt. Unmittelbare Vorarbeit war hierfür nicht sehr viel vorhanden. Eine Dissertation von Becker 7 ist unbrauchbar, da sie nur eine Aufteilung der satirischen Formen nach einem Schema ästhetischer Kategorien vornimmt. Der Dissertation von Charlotte Dege über Satire und Utopie im Gulliver 8 können wir ebenfalls nicht zustimmen, da sie unserer Ansicht nach den wirklich fruchtbaren Ansatzpunkt für eine Betrachtung der Swiftschen Utopie nicht gefunden hat. Sehr viel dagegen verdanken wir der Arbeit von Reimers 9 , der uns zu tieferen Ergebnissen über Swifts Persönlichkeit gekommen zu sein scheint als Korn 1 0 , der in seinem Bekenntnis zum Urteil Herders 11 das Problem der geistigen Persönlichkeit Swifts zu sehr in den Bezirk des PrivatZufälligen rückt und außerdem geneigt ist, mit Maßstäben zu messen, die in der Zeit selbst nicht liegen.

Was diese Arbeit über die Anregungen der Swift-Forschung hinaus an entscheidenden Einflüssen erfuhr, dankt die Verfasserin ihrem sehr verehrten Lehrer Herrn Professor Emil Wolff.

Dean Swifts Library, S. 88. Die Satire Swifts. 1913. 8 Jena 1934. 9 Jonathan Swift, Gedanken u. Schriften über Religion u. Kirche, Hamburg, 1935. 1 0 Die Weltanschauung Jonathan Swifts. Jena 1935. 1 1 A. a. 0 . S. 129, 6

T

8

1. A U F B A U D E R S A T I R E I N D E N BÜCHERN.

EINZELNEN

Swift gewinnt die äußere Form seiner Satire aus den für seine Zeit charakteristischen Reiseberichten. Sie sind der lebendige Ausdruck für die Wißbegierde der nach der Erkenntnis anderer menschlicher Zustände strebenden Zeit. Aus der Entdeckerfreude an immer neuen Ländern und ihren geistig-religiösen Anschauungen entstanden im 17. Jahrhundert zunächst die Berichte über tatsächlich gemachte Reisen, die in der Aufzeichnung der seltsamsten und noch so geringen Einzelheiten die Phantasie des Lesers erregten. Aus der Freude am Geheimnisvollen und auf die Spannung rechnend, die das Unbekannte erweckt, entstand eine weitere Art der Reisebeschreibung, die unter dem Mantel des tatsächlich Erlebten der Unterhaltung ihrer Leser Genüge tat. Von hier war kein sehr großer Schritt zur reinen Phantastik des utopischen Romans, der Reiche entdeckte, die einmal das Erzeugnis idealer Wunschträume, andererseits das satirisch scharf beleuchtete Abbild der eigenen europäischen Wirklichkeit waren. Hieraus ergeben sich die zwei Aufbauelemente der literarischen Form der „imaginary voyage": der äußere Rahmen der abenteuerlichen Reise, der die Lust am rein Erzählerischen befriedigt und die Durchführung des philosophischen Gedankens, der die satirisch-kritische Darstellung und ihre utopische Spiegelung umfaßt. So lag die Verbindung von Satire und Utopie innerhalb eines Reiseberichts in den mannigfaltigsten Formen vor, sowohl in der englischen wie der französischen Literatur, und besonders Untersuchungen an der französischen Literatur haben bewiesen, welche Rolle innerhalb der geistesgeschichtlichen Entwicklung diese Literaturgattung gespielt hat. Die Art der philosophischen Reise wie sie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstand, meist in künstlerisch durchaus geringwertiger Form, wurde hauptsächlich benutzt um aufklärerisch-deistische Ideen zu propagieren, wie Atkinson im Anschluß an Lanson für die französische Literatur nachgewiesen hat 1 2 . Die Vertreter solcher Gedanken wählten 1 2 Geoffrey Atkinson. The Extraordinary Voyage in French Literature before 1700. — The Extraordinary Voyage in French Literature. From 1700 to 1720. — Gustave Lanson. Origines et premières manifestations de l'esprit philosophique dans la littérature fran-

9

diese unverfänglichere Form der Mitteilung, die die Relativität der eigenen Welt am sichersten und in sich am unangreifbarsten heraustreten ließ. Das Ende des Jahrhunderts ist dann die Zeit, wo man beginnt, die Kultur Indiens, Siams, Chinas dem absoluten Anspruch des Abendlandes gegenüberzustellen und die Schäden der eigenen Welt, durch die kritischen Augen eines Orientalen oder gar eines Wilden gesehen, aufzudecken. Swift brachte, nach seinen eigenen Aufzeichnungen 13 über seine Lektüre, dieser Literatur ein sehr reges Interesse entgegen. Er selbst hatte die Idee einer Satire im Stile der Lettres Persanes. Am 28. April 1711 schreibt er an Stella: The Spectator is written by Steele with Addison's help: 'tis often very pretty. Yesterday it was made of a noble hint I gave him long ago for his Tatlers about an Indian supposed to write his travels into England 1 4 . Als Swift 1721- 25 seine geniale Satire schrieb, interessierte er sich immer noch für diese Literatur 1 5 . Aber er war selbst zu einer Perspektivenänderung vorgedrungen, die den Menschen überhaupt in seiner ganzen Relativität zeigt. In der einzigartigen Tiefe seiner Satire, in der ironischen Überlegenheit und der Geschlossenheit des künstlerischen Aufbaus scheidet sich Swifts Gulliver von der bisher charakterisierten Literatur so weit, daß Fragen nach dem Einfluß im Einzelnen irrelevant werden. Die aufklärerische Haltung, aus der Swifts Satire wächst, läßt sich zudem nur aus den besonderen eigenen Anschauungen herleiten, die ihn zu einein der größten Exponenten der Aufklärung machen. Swift übernimmt im Gulliver zwar die Form der „voyage", er will im Stile Dampiers schreiben — the style of the chronicler whose sole business is to regard the facts 1 6 . Aber durch die von vornherein parodistische Haltung dieser Form gegenüber gewinnt er eine ironische Grundeinstellung, die ein eigenes, gänzlich neues Verhältnis zu der von ihm gewählten Form schafft und sie zu einem ganz von der Besonderheit der Swiftschen Satire her bestimmten Ausdruck werden läßt. Die naiv-ernste Objektivität des realistischen Reiseberichts, in die 6ich der phantastische Gehalt formt, wird zum reinen Mittel der Ironie. Aus ihr erwachsen unmittelbar die satirischen und komischen Wirkungen, alle Widersprüche zwischen der falschen Anmaßung und der wahrhaften Vollkommenheit realisieren sich rein in der gegenwärtig gefühlten geistigen Überlegenheit Swifts selbst. Die oben geschilderten Seiten des Abenteuers und der philosophischsatirischen Ausdeutung stehen nicht mehr nebeneinander, sondern werden jaise de 1675 ä 1748. — Für die engl. Literatur vgl. Marburg, Sir W. Temple, Ch. II. Eddy hat dann in seiner Studie über Gulliver's Travels versucht, die Beziehungen zwischen diesen Reisen und dem Gulliver nachzuweisen. 1 3 1698 in Moor Park. Vgl. Williams, Gulliver's Travels, Introd. S. 16. 1 4 Works II, 166. 1 5 Vgl. Swift an Ford, 22. July 1722. ed. Nichol Smith. S. 96 f. — Vgl. ferner Corr. III, 134. 1 8 Eddy a. a. 0.. S. 33. 10

ein organisch Verbundenes, werden völlig einheitliches Element des satirischen Aufbaues, das allein kraft der ihm innewohnenden Ironie die Objektivität des Berichts zum Spiegel der ungeheuren Überlegenheit macht, durch die sich die tiefe satirische Bedeutung erfüllt. Ohne bereits weiter auf eine Untersuchung der Swiftschen Ironie und der ihr eigenen Form der Objektivität einzugehen, seien zunächst die Mittel charakterisiert, mit denen diese Objektivität und Tatsachentreue erreicht wird. Swift steht hier in der Geschichte des englischen Romans als Nachfolger Thomas Mores, der in seiner Utopia zuerst die Möglichkeiten des ironischen Spiels ausgekostet hat, die sich aus der empirischexakten Behandlung einer phantasiegeborenen Welt ergeben 1 7 . Swift verknüpft auf eine gleich undurchdringliche Art das Phantastische in der Form der Darstellung so mit dem empirisch Möglichen, daß alles in einen unbewegt objektiven Bericht eingeht. Die Mittel Swifts, die Fiktion der Wahrheit zu erreichen, sind mannigfaltig. Ganz allgemein dient ihr der realistische Stil und die außerordentlich genaue und logisch begründende Darstellung. Schon rein äußerlich erwecken die beigefügten Karten den Eindruck einer fast wissenschaftlich exakten Berichterstattung 18 . Eng mit den Karten hängt die Diskussion geographischer Probleme der Zeit zusammen, um die Zweifel, die auf Grund der bisherigen Kenntnisse der Erdkarte entstehen möchten, zu widerlegen. Gulliver begründet seine Ansichten über die Lage Brobdingliags z. B., die von vornherein dahin gingen, zwischen Japan und Kalifornien als Gleichgewicht für den tartarischen Kontinent Land vorauszusetzen : . . . and therefore they ought to correct their maps and charts, by joining this vast tract of land to the north-west parts of America, wherein I shall be ready to lend them my assistance 19 . Diesen ins Einzelne gehenden Erörterungen entsprechen die stets äußerst genauen navigatorischen Angaben. We then set sail, and had a good voyage till we passed the Straits of Madagascar; but having got northward of that island, and to about five degrees south latitude, the winds, which in those seas are observed to blow a constant equal gale between the north and west from the beginning of December to the beginning of May, on the 19th of April began to blow with much greater violence . . , 2 0 1 7 Baker, The History of the English Novel, Vol. III, S. 231, spricht Swift als „borrower of Defoe's method" an. Dies ist darum nicht begründet, weil Swifts Methode organisch und unablöslich aus der Ironie hervorgeht. 1 8 Nach Williams, Introd., S. 52, 57, 79, ist es zweifelhaft, ob die Karten von Swift selbst stammen, da auch das Porträt Gullivers ohne sein Wissen eingefügt wurde. Es ist jedenfalls beides im Stil des Werkes. 1 B Works VIII, 113. Vgl. ferner VIII. 150. 2 0 Works VIII, 85. Vgl. ferner die aus dem Mariners Magazine übernommenen seeund schiffstechnischen Ausdrücke s. Collins, Jonathan Swift, S. 206.

11

Diese ganz objektiven F a k t o r e n des Berichts w e r d e n in i h r e r B e d e u t u n g noch verstärkt durch den Brief, den der Verleger den Reisen vorausschickt, u n d in dem er betont, d a ß er unzählige Stellen „relating to t h e winds and tides" gestrichen habe, u m das B u c h dem Verständnis des Lesers anzupassen. Das ganze Werk sei aber f ü r j e d e n Wißbegierigen bei i h m einz u s e h e n 2 1 . Auf derselben Linie liegt auch die Klage Gullivers selbst in dem Brief, den er seinerseits an den Verleger schreibt: . . . t h a t your p r i n t e r has been so careless as to c o n f o u n d t h e times and mistake t h e dates 2 2 . Der Brief des Verlegers e n t h ä l t a u ß e r d e m als wichtigstes Mittel, den E i n d r u c k des w a h r h a f t Geschehenen h e r v o r z u r u f e n , die Charakteristik des Autors. Mr. Sympson ist mit Mr. Gulliver persönlich b e k a n n t , k e n n t auch Verwandte von i h m u n d weiß vor allem zu berichten, d a ß Mr. Gullivers W a h r h e i t s l i e b e bei seinen N a c h b a r n geradezu sprichwörtlich sei 2 3 . Gullivers Einleitung zu seinen Reisen f ü h r t dies Motiv fort. D u r c h die genealogischen und biographischen Einzelheiten, in denen Gulliver vor allem betont, d a ß e r ein Vetter D a m p i e r s ist, wird er zu einer bestimmten historischen Persönlichkeit. A u s f ü h r l i c h b e r i c h t e t er von seinem Studiengang u n d d a n n von seinen F a h r t e n . Die Reisen, die ihn f r ü h e r n a c h der Levante f ü h r t e n , b r a c h t e n i h m später die B e k a n n t s c h a f t m i t u n b e k a n n t e ren a b e r ebenso wirklichen L ä n d e r n , von denen einige m i t dem wieder allgemeiner b e k a n n t e n J a p a n in enger V e r b i n d u n g stehen. Diese Verk n ü p f u n g der Länder m i t der W i r k l i c h k e i t ist m i t ausgesuchter I r o n i e d u r c h g e f ü h r t , wenn Swift das Riesenreich ganz unbewegt n e b e n die gewöhnlichen Größenverhältnisse setzt u n d dann das entstehende P r o b l e m den P h i l o s o p h e n ü b e r l ä ß t : . . . t h e large rivers are f u l l of vessels, a n d a b o u n d with excellent fish, for they seldom get any f r o m t h e sea, because t h e sea-fish are of t h e same size with those in E u r o p e , and consequently not w o r t h catching; whereby it is manifest, t h a t n a t u r e , in t h e production of plants a n d animals of so extraordinary a bulk, is wholly confined to this continent, of which I leave t h e reasons to be d e t e r m i n e d by p h i l o s o p h e r s 2 4 . Die jeweiligen A b e n t e u e r Gullivers werden so eingeleitet, d a ß von vornherein die Möglichkeit, f r e m d e L ä n d e r zu entdecken, n a h e liegt: durch Sturm oder Schiffsmeuterei h e r v o r g e r u f e n e I r r f a h r t e n b r i n g e n das Schiff oder Boot in völlig u n b e k a n n t e Gegenden, . . . t h a t t h e oldest sailor on b o a r d could not tell in w h a t p a r t of t h e world we were 2 5 . U m g e k e h r t beweist die Beschaffenheit der entdeckten Reiche, d a ß es 21 22 23 24 25

12

Works Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII, VIII,

4. 7. 3. 114. 86.

schwer war, sie zu finden, und daß die Bewohner selbst wenig Gelegenheit zu Entdeckungen ihrerseits hatten: The kingdom is a peninsula, terminated to the north-east by a ridge of mountains thirty miles high, which are altogether impassible by reason of the vulcanoes upon the tops. . . . On the three other sides it is bounded by the ocean. There is not one sea-port in the whole kingdom, and those parts of the coast into which the rivers issue are so full of pointed rocks, and the sea generally so rough, that there is no venturing with the smallest of their boats, so that these people are wholly excluded from any commerce with the rest of the world 26 . Die für Gullivers Abenteuer notwendige Isolierung wird ebenfalls auf natürlich-realistische Weise durchgeführt. In Brobdingnag z. B. fährt Gulliver mit einigen anderen an Land und wird dort von den Gefährten plötzlich verlassen, die er nur noch „rowing for life" flüchten sieht, was abgesehen von der realistischen Form eine spannende Vorbereitung des folgenden ist, wie überhaupt diese Übergänge von- Swift mit außerordentlicher Kunst vollzogen werden 27 . Um die Realität des Landes weiter zu erweisen, führt Gulliver die Sprache an. Er übersetzt so genau er irgend kann und falls diese Genauigkeit nicht möglich ist, vermerkt er den Unterschied, der zwischen dem europäischen und dem fremden Land besteht. Er fügt z. B. zur Übersetzung „swallow" hinzu: For so I translated the word lyhannh, although it be a much larger fowl 28 . Ebenso genau ist Gulliver in der Orthographie der fremden Sprachen. Er beanstandet z. B. den Druckfehler „Brobdingnag" statt richtig „Brobdingrag" 29 . Ganz realistisch wird die langsam sich vollziehende Angleichung Gullivers an die jeweiligen Verhältnisse des Landes gezeigt, besonders deutlich in der für Gulliver bestehenden Schwierigkeit, die Pferdesprache zu erlernen. Eins der geschicktesten und in ihrer Objektivität unvergleichlich ironischen Mittel liegt darin, das Phantastische ohne weiteres in den realistischen Zwischenbericht einzubeziehen. I asked whether he or the crew had seen any prodigious birds in the air . . . one of them said he had observed three eagles flying towards the north, but remarked nothing of their being larger than the usual size, which I suppose must be imputed to the great height they were a t . . . 3 0 Works VIII. S. 113 f. Besonders hübsch ist es auch in Lilliput, wo Gulliver als Schiffbrüchiger ans Land getrieben wird und in seiner Übermüdung zunächst gar nicht bemerkt, daß er ein bewohntes Land erreicht hat 2 8 Works VIII. 284. Works VIII. 8. 3 0 Works VIII. 150. 26

aT

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In der gleichen Weise geschieht dies in der Erzählung von Gullivers gesammelten Kuriositäten, die er aus den entdeckten Ländern mitbringt. Aus Lilliput z. B. nimmt Gulliver Schafe und Kühe mit, die er zum Teil in der Jackentasche trägt, von denen aber leider eins von den Ratten an Bord aufgefressen wird. Die anderen kommen heil nach England und Gulliver fügt hinzu: Since my last return, I find the breed is considerably increased, especially the sheep . . . 3 1 In diesen Zügen ist schon der subjektive Anteil am ironischen Spiel sehr viel spürbarer. Er wird am deutlichsten dort, wo Gulliver innerhalb seines objektiven Berichts deutlich den Leser einbezieht. Gulliver ahnt trotz all der geschilderten Wege, die Wahrheit zu bekräftigen, immer noch die Ungläubigkeit des Lesers und kann sich z. B. selbst vorstellen, daß ein gestrenger Kritiker von ihm dächte „ I enlarged a little 3 2 ". Er kennt die üblichen Reisebücher und weiß, daß nur ganz außerordentliche Dinge den meisten Lesern gefallen. Ihm scheint, daß die Autoren nicht nach der Wahrheit fragen, sondern aus Eitelkeit oder persönlichem Interesse schreiben. Wie könnte er sich mit ihren Berichten messen? My story could contain little besides common events 33 . In wunderbar ironischem Spiel läßt Swift die Lilliputaner die Ungläubigkeit über fremde Welten ihrerseits bekunden, die in ihrer groteskanmaßlichen Begründung ein seltsames Licht auch auf die zweifelnde und vielleicht gleichermaßen anmaßliche Haltung des Lesers wirft. For as to what we have heard you affirm, that there are other kingdoms and states in the world inhabited by human creatures as large as yourself, our philosophers are in much doubt, and would rather conjecture that you dropped from the moon, or one of the stars; because it is certain, that an hundred mortals of your bulk would, in a short time, destroy all the fruits and cattle of his Majesty's dominions 3 4 . Der Leser darf sich ebenfalls getroffen fühlen, wenn Gulliver mit fast unbemerkbarem Seitenblick einflicht: . . . as truth always forces its way into rational minds 3 5 . Wird aber das, was Gulliver erlebt, zu phantastisch, begegnet er dem Mißtrauen dadurch, daß er sich selbst auf die Seite des ungläubigen Lesers stellt, alle seine Argumente anerkennt, und dann widerlegt. 3 1 Works VIII, 82. Mit Swiftschem humour stellt sich auch der Bericht über folgende Riesenkuriosität dar: I showed him a corn that I had cut off with my own hand, from a maid of honour's toe; it was about the bigness of a Kentish pippin, and grown so hard that when I returned to England, I got it hollowed into a cup and set in silver. VIII, 152. 3 2 Works VIII. 117. 3 3 Works VIII. 52. vgl. ferner VIII, 96. 3 4 Works VIII. 49. 3 6 Works VIII, 151. Vgl. because the truth immediately strikes every reader with conviction. VIII. 8.

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. . . it was necessary to mention this matter, lest the world should think it impossible that I could find sustenance for three years in such a country and among such inhabitants 3 6 . Im Laufe der sich entwickelnden Satire überwindet das Pathos der Wahrheitsbeteuerung die komisch-parodistische Wirkung. Im Land der Weisheit, wo sich das Wesen des Menschlichen als Lüge entlarvt, erhebt sich allmählich die Erkenntnis Gullivers weit über diese Fragwürdigkeit und bestimmt seine endgültige Haltung, wie sie der Brief an seinen Verleger enthält. Do these miserable animals presume to think that I am so far degenerated as to defend my veracity 3 7 ? Am Ende wird die Ironie selbst zur reinen Wahrheit. I have not been so studious of ornament as truth 3 8 . I write for the noblest end, to inform and instruct mankind. , 3 9 Innerhalb des konstitutiven satirischen Prinzips der Relativierung, das den Aufbau der Reisen beherrscht, ergibt sich als zweites Kunstmittel, den Eindruck des Geschehenen und Erlebten zu erwecken, die vollkommen konsequente Durchführung der einmal angenommenen Voraussetzung, besonders deutlich in der zahlenmäßig nachzurechnenden Übersetzung menschlicher Proportionsverhältnisse in9 Zwerg- und Riesenhafte. Das Prinzip der Relativität und der Objektivität ergänzen sich hier gegenseitig: durch die Folgerichtigkeit und homogene Geschlossenheit der Reiche, in die Gulliver kommt, wird wiederum eine in sich durch Gewohnheit absolut gesetzte Welt geschaffen, deren Bewohner entsprechend menschlich reagieren. I saw one of them (of the whales) in a dish at the King's table, . . . but I did not observe he was fond of it; for I think indeed the bigness disgusted him . . . 4 0 Gulliver verfällt der großen Macht „custom and prejudice" auf gleiche Weise. Nach der Rückkehr aus Brobdingnag vermag er nicht sich den normalen Größenverhältnissen gleich wieder anzupassen: My daughter kneeled to ask my blessing, but I could not see her till she arose, having been so long used to stand with my head and eyes erect to above sixty foot . . . I told my wife, she had been too thrifty, for I found she had starved herself and her daughter to nothing 4 1 . Hiermit haben wir bereits das zentrale Aufbauelement der Satire berührt: die Relativierung alles dessen, was menschlicher Gedanke und 3 9 Works VIII, 241. Vgl. Gullivers anfängliches Verhalten den Pferden gegenüber: I feared my brain was disturbed by my sufferings and misfortunes . . . I rubbed my eyes often, but the same objects still occurred. (S. 237) 3 7 Works VIII. 8 f. 3 8 Works VIII. 302. 3 9 Works VIII. 304. 4 0 Works VIII, 114

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menschliche Gewohnheit absolut gesetzt h a b e n . Die w a h r e Relativität der menschlichen Welt ergibt sich, wenn sie nicht m e h r einer anthropozentrischen B e t r a c h t u n g unterworfen, sondern einer ganzen Folge möglicher Perspektiven ausgesetzt wird. D a n n wird erkannt, d a ß alle als fest betrachteten Begriffe i h r e Geltung n u r aus der Macht der Gewohnheit herleiten k ö n n e n , d a ß sie sich aber, kritisch u n d überlegen gesehen, auflockern in eine Reihe variabler Relationen. Vor der höchsten u n d letzten Instanz, der „perfection of n a t u r e " , bedeutet das die gänzliche E n t w e r t u n g des Menschen ü b e r h a u p t , die E r k e n n t n i s seiner völligen Fragwürdigkeit. Dies Ergebnis steht am E n d e des Weges, den Gulliver zu gehen h a t . Seine E r z i e h u n g zur E r k e n n t n i s aller menschlichen Illusion u n d Relativität 6piegelt am schärfsten den satirischen G e d a n k e n . E r steht d a m i t im M i t t e l p u n k t des A u f b a u e s der Satire. An dem jeweiligen Überlegenheitsoder Minderwertigkeits-Gefühl Gullivers den B e w o h n e r n des i h n aufn e h m e n d e n Landes gegenüber h a b e n wir die Wichtigkeit seiner Stellung zu entwickeln. D a m i t z u s a m m e n h ä n g e n d ergibt sich die zweite wesentliche A u f g a b e : das Verhältnis des Komischen z u m Satirischen u n d die Änderung der einzelnen F o r m e n der Satire i n n e r h a l b der Steigerung i h r e r Schärfe herauszustellen. Bevor wir den Weg verfolgen, den Gullivers E r z i e h u n g in den vier Reichen n i m m t , ist es nötig, d a ß wir uns einen Augenblick m i t seiner Persönlichkeit beschäftigen, die durchaus individuelle Züge trägt. Es ist d a r u m wichtig, Gulliver als besonderen C h a r a k t e r zu sehen, weil sich erst hieraus die Schärfe der Satire ganz b e g r ü n d e n l ä ß t u n d weil erst d u r c h die Geschichte Gullivers die vier B ü c h e r organisch v e r k n ü p f t werden, so d a ß die Reisen von i h m aus gesehen einem Bildungsroman verglichen werden könnten. Die schon bei der Darstellung der Objektivität e r w ä h n t e biographische Einleitung erzählt von Gullivers Werdegang, von seinem anfänglichen Studium in Cambridge, von seiner Arzt-Ausbildung in London u n d seiner Beschäftigung m i t Navigation u n d M a t h e m a t i k . Dazu nutzt Gulliver seine M u ß e s t u n d e n f ü r die L e k t ü r e der besten alten u n d m o d e r n e n Autoren. Zu diesem Interesse k o m m t noch die F r e u d e Gullivers am „observing t h e m a n n e r s and dispositions of t h e p e o p l e 4 2 " , die i h n a u c h nach den bittersten E r f a h r u n g e n nicht verläßt u n d bei der i h m seine a u ß e r o r d e n t l i c h e Sprachbegabung zu Hilfe k o m m t . Zu seiner praktischen B e g a b u n g „having a head mechanically t u r n e d 4 3 " k o m m t ein ausgesprochen wissenschaftliches Interesse, wie es der Curiosity-Kultur der Zeit eigen ist u n d von Swift mit seinem ganzen Witz p a r o d i e r t wird. Gulliver steht m i t der Royal Society in Verbindung, sammelt naturwissenschaftliche Kuriositäten u n d spricht

" Works VIII. 154. Works VIII. 18. 43 Works VIII. 64.

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z. B. in Brobdingnag den Wunsch aus, eine der dort vorhandenen Läuse zu sezieren 44 . Gleich zu Anfang, da Gulliver von seinen Geschicken berichtet, tritt uns der wichtigste Zug in seinem Charakter entgegen: die ganz unangreifbare moralische Integrität, die ihn von der großen Menge seiner Mitmenschen von vornherein unterscheidet und ihm seinen Berufsweg erschwert. . . . for my conscience would not suffer me to imitate the bad practice of too many among my brethren 4 5 . Dieser Zug, der sich vor allem in der unbedingten Wahrheitsliebe Gullivers äußert, deren Betonung von hier aus gesehen neben der Fiktion der Tatsachentreue, die von ihr gestützt wird, noch einen tieferen Sinn erhält, verbürgt die innere Wahrheit der späteren Erlebnisse Gullivers und der aus ihnen gewonnenen Anschauungen. Betrachtet man dazu das Verhalten Gullivers in den verschiedenen Ländern, so bekommt man das Bild eines liebenswürdigen, höflichen, großherzigen und milden Mannes, der die ihm angetane Bosheit nicht mit gleicher Münze zahlt, sondern — wie das Verhalten Gullivers gegenüber den Lilliputanern und in Brobdingnag gegenüber dem Sohn des Farmers und dem Zwergen am Hof zeigt — zu verzeihen und zu versöhnen weiß. Er ist weiter von den loyalsten Gefühlen gegen sein Land beherrscht und vertritt mit Entschlossenheit die Würde des Menschen im allgemeinen und die des Engländers im besonderen. Alle positiven Züge seiner Natur lassen die in allen Reisen, abgesehen von der mißgünstigen Gruppe Lilliputaner, gleichmäßig freundlichen Beziehungen der jeweiligen Bewohner zu Gulliver erkennen. Selbst die Pferde machen hierin keine Ausnahme. They would condescend to distinguish me from the rest of my species 4 6 . Die gleiche menschenfreundliche Haltung, die den Gulliver der ersten Reisen charakterisiert, stellt sich in den Rahmenstücken dar, die Gulliver in seiner Familie und im Umgang mit seinen Freunden zeigen. Moore weist darauf hin, daß Gulliver in seinem Beruf allmählich eine höhere Stellung bekommt und z. B. vor Antritt seiner dritten Reise mit der größten Achtung aufgefordert wird, an der Fahrt teilzunehmen 47 . Wenn diese Haltung im Laufe der Abenteuer Gullivers zerstört wird, wenn er bei der letzten Heimkehr seine Familie von sich stößt und nur noch den heftigsten Abscheu und die tiefste Verachtung selbst für die ihm nächststehenden Menschen hat, so enthält diese Entwicklung gerade des urWorks VIII. 115. Works VIII, 18. Vgl. das Urteil des Königs von Brobdingnag, VIII, 136. 4U Works VIII. 289. 4 7 Moore, The Rdle of Gulliver, M. Ph. 25, S. 474 ff. Moore hat die Entwicklung Gullivers innerhalb der Reisen verfolgt und ist dabei zu ähnlichen Resultaten gekommen, die er ebenfalls im Begriff der „education" zusammenfaßt. Siehe S. 476. 44

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sprünglich jeder Menschenfeindschaft fernen Gulliver das Gepräge des unabänderlich Notwendigen und rein aus der unbestechlichen Liebe zur Wahrheit Gewachsenen. Im Reich der Lilliputaner ist die Stellung Gullivers als Man-Mountain naturgemäß die Äes Überlegenen, worin von vornherein die Voraussetzungen dafür liegen, daß sich hier das Satirische weitgehend mit dem Komischen zu verbinden vermag. Aus der Höhe Gullivers gesehen genießt man das komische Gewimmel dieser kleinen Wesen, die sich mit gleich gravitätischer Wichtigkeit und Sicherheit als Schöpfungshöhepunkt betrachten wie ihre Verwandten der größeren Gattung. In ausführlicher Beschreibung entwickelt sich vor uns das Bild dieses kleinen Staates, der in seinen Einrichtungen ein völlig getreues Abbild europäisch-englischer Wirklichkeit ist und dessen Bewohner das menschliche Wesen nur gar zu genau spiegeln. Keinem der anderen Reiche hat Swift mit gleicher Freude einen so ausführlichen szenarischen Rahmen gegeben wie dieser Miniaturwelt, der die physische Konstitution ihrer Bewohner völlig angeglichen ist. Der Zartheit und Zerbrechlichkeit ihrer kleinen Welt entspricht die Schärfe ihres Auges, die Feinheit ihres Gehörs und die Geschicklichkeit ihrer handlichen Verrichtungen. Viele kleine Szenen fügt Swift ein, die ein immer umfassenderes Bild davon geben, wie Pflanzen und Tiere und im menschlichen Bereich Technik und Kunstfertigkeit sich der Kleinheit dieser Welt anpassen. In voller Ausmalung der Komik der Dimensionen läßt Swift die Lilliputaner in Gullivers Haar Versteck spielen oder zu Pferd über seinen Fuß springen. Er läßt sie Gullivers Hut mit Anstrengung zwar, aber mit kunstgerechter technischer Lösung des Problems, unter Zuhilfenahme von „only five horses" über das Land ziehen 4 8 . In geschickter Berechnung gelingt es, Gulliver Kleider anzumessen und nach eifrigem Bemühen Nahrung zu beschaffen, von der er anerkennend bemerkt: I have had a 6irloin so large, that I have been forced to make three bite of it49. Die Lilliputaner dagegen stehen bewundernd vor den Dingen, die Gulliver mit sich führt. Seine Geldtasche erscheint ihnen wie ein Fischernetz und — ein hübsches Bild der akustischen Verhältnisse — das Ticken seiner Uhr klingt ihnen wie das unaufhörliche Brausen einer Wassermühle 5 0 . Besonders deutlich wird diese Komik, wenn das lilliputanische Maß an dem Gullivers gemessen wird, . . . and seemed to be somewhat longer than my middlefinger 51 . Oder umgekehrt: 48 49 50 81

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Works Works Works Works

VIII. VIII. VIII. VIII,

41 f. 65. 35. 22. Vgl. He is taller by almost the breadth of my nail. VIII, 29.

. . . we observed a girdle about his waist made of the hide of some prodigious animal; from which, on the left side, hung a sword of the length of five men . . . 5 2 Durch die Bewegung in dieser Spielzeugwelt wird zunächst reine Situationskomik geschaffen, die allerdings als Veranschaulichung der Relativität tiefere Bedeutung bekommt. Bezeichnend für sie ist gleich die herrliche Anfangsszene, als der gebundene Gulliver erwacht und langsam von dem Hören eines verworrenen Lärms zu dem Gefühl kommt, als bewege sich auf ihm „something alive", bis er schließlich das kleine Menschlein von 6 Zoll Höhe mit Pfeil und Bogen kriegerisch bewaffnet auf seiner Brust einherspazieren sieht. Die liebenswürdige Zeichnung dieser kleinen Wesen in Geste und Bewegung vollendet die Komik ihrer Erscheinung, wenn z. B. einer der Kleinen vor ihm steht „lifting up his hands and eyes by way of admiration 5 4 ". Sofort kommt die komische Spannung hinzu, die durch das Verhältnis des völlig ernsten und naiven Gulliver zu dieser Welt entsteht, auf die er ganz selbstverständlich die ihm gewohnten Urteile seiner eigenen Heimat überträgt. He seemed to be a person of quality 5 4 . Vollendet in der rein zur akustischen Verständigung nötigen Bühnenerrichtung, die die Szene zu ihrem Höhepunkt bringt. He acted every part of an orator, and I could observe many periods of threatenings, and others of promises, pity, and kindness 5 5 . Gullivers Erlebnisse in Lilliput sind reich an dieser Komik, die bei allen Begebenheiten stets wieder zustandekommt. Die Vorliebe Swifts, die komischen Dimensionen in der Bewegung und der Haltung der Personen zu charakterisieren führt zu einem reizenden Gegeneinander der Verständigungsgesten. Der vorsichtig gutmütige Gulliver steht vor der ganzen Entschlossenheit und Gewichtigkeit des kleinen lilliputanischen Würdenträgers. I answered in few words, but to no purpose, and made a sign with my hand that was loose, putting it to the other (but over his Excellency's head for fear of hurting him or his train) and then to my own head and body, to signify that I desired my liberty. It appeared that he understood me well enough, for he shook his head by way of disapprobation, and held his hand in a posture to show that I must be carried as a prisoner 5 6 . Immer wieder nutzt Swift die Komik des sich ganz unmittelbar aufdrängenden Vergleichs der Dimensionen, wenn die Lilliputaner auf dem liegenden Gulliver herumlaufen, wie es durch ihre Neugier häufig der Fall B a Works VIII, 35. Vgl. ebda.: A bag or pouch . . . capable of holding three of your Majesty's subjects. M Works VIII, 20. « Works VIII, 21. « Works VIII, 22. 6 6 Works VIII. 23 f.

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ist, wobei folgendes Erlebnis selbst von Gulliver als „ridiculous" empfunden wird: . . . and advancing very softly to my face, one of them, an officer in the guards, put the sharp end of his half-pike a good way up into my left nostril, which tickled my nose like a straw, and made me sneeze violently.. . 5 7 Der komische Eindruck dieser Situationen verstärkt sich, wenn sie bedeutsame staatliche Funktionen bekommen und eine Unterhaltung mit gleichsam amtlicher Nachdrücklichkeit erforderlich ist. Mit einem Dutzend seiner Gefolgschaft schreitet seine lilliputanische Exzellenz auf Gulliver entlang. . . . producing his credentials under the Signet Royal, which he applied close to my eyes, spoke about ten minutes, without any signs of anger, but with a kind of determinate resolution . . . 5 8 Umgekehrt ruft auch Gullivers Bewegung in der lilliputanischen Well eine Fülle komischer Situationen hervor. Bezeichnend ist der Transport des gefangenen Gulliver: Fifteen hundred of the Emperor's largest horses, each about four inches and a half high, were employed to draw me towards the metropolis, which, as I said, was half a mile distant 5 9 . Unter diesen Szenen zeichnet sich der Besuch Gullivers in der Hauptstadt besonders aus, der schon durch das Straßenbild entzückend vorbereitet wird: The garret windows and tops of houses were so crowded with spectators, that I thought in all my travels I had not seen a more populous place 6 0 . Mit großer Vorsicht bewegt sich Gulliver durch die Stadt, bis er schließlich mit Hilfe zweier selbst angefertigter Stühle den Hof des königlichen Palastes erreicht hat, wo ihm die Königin in gnädiger Herablassung aus dem Fenster ihres Zimmers die Hand zum Kusse zu reichen geruht 6 1 . Dies köstliche Bild wird doppelt komisch durch die stets vorhandene Spannung zwischen dem Abbild und der schattenhaft dahinter auftauchenden politischen Welt Englands mit dem unberechenbaren Wechsel königlicher Huld und Ungnade. In Zügen wie diesen liegt noch die ganze Freude Swifts am geistreich treffenden Witz, den die Tale und die Battie 5 7 Works VIII, 25 f. Vgl. S. 64: The sempstresses took my measure as I lay on the ground, one standing at my neck, and another at my midleg, with a strong cord extended, that each held by the end, while the third measured the length of the cord with a rule of an inch long. 6 8 Works VIII, 23. 6 9 Works VIII, 25. 0 0 Works VIII, 46. Vgl. ferner die Flotteneroberung und Gullivers Verlassen Lilliputs: I seized a large man of war, tied a cable to the prow, and, lifting up the anchors, I stripped myself, put my clothes . . . into the vessel, and drawing it after me between wading and swimming, arrived at the royal port of Blefuscu ... S. 75. « Works VIII. 47.

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h a t t e n u n d der die literarische Gesellschaft seiner Zeit entzückte als der ideale Ausdruck ihres überlegenen Geistes. I n dieser Szene h a b e n wir bereits das zentrale E l e m e n t der Satire des ersten Buches b e r ü h r t , das in der allegorischen B e d e u t u n g dieses kleinen Reiches liegt. Lilliput ist England, das in etwas spannungsreicher Beziehung zu Blefuscu-Frankreich steht u n d dessen außenpolitische diplomatische Künste das Bild im I n n e r n des Landes entsprechend a b r u n d e n u n d a u ß e r d e m den R a h m e n f ü r Gullivers persönliches Geschick bilden. I n i h m finden sich in gleicher W e r t u n g u n d gleich selbstverständlicher A n e r k e n n u n g die politischen u n d gesellschaftlichen Zustände in allen Einzelheiten, in den Ideen von R u h m u n d Ehre, von Majestät u n d Macht, v e r b u n d e n m i t der gleichen Skrupellosigkeit der Selbstliebe, wieder. D u r c h die Rückspiegelung, die gleichzeitig die englische Gesellschaft u n d i h r e R e d u k t i o n auf die in sich lächerlichen P r o p o r t i o n e n Lilliputs d a u e r n d gegenwärtig hält, offenbart sich der hier noch als komisch e m p f u n d e n e W i d e r s p r u c h in der A n m a ß u n g des Menschlichen selbst. I n der Tatsache, d a ß Lilliput das Menschliche in sich ganz unverzerrt n u r in der G r ö ß e verändert enthält, d a ß dazu Gulliver selbst von der Satire unangegriffen u n d auch äußerlich überlegen in dieser Welt sich zu bewegen vermag und gleichzeitig unbeweglich ernst bleibt, liegen die Voraussetzungen f ü r die komischen W i r k u n g e n i m ersten Buch, dessen satirische Absicht sich noch fast restlos in i h n e n ausdrücken läßt. Die K o m i k bleibt zunächst ganz allgemein in der Schilderung des politischen Bereichs ü b e r h a u p t , verstärkt durch die h a r m l o s naive A n e r k e n n u n g der Verhältnisse d u r c h Gulliver. W i e d e r nutzt Swifts Vorliebe f ü r Bewegung, Ausdruck u n d Geste alle komischen Züge der Dimensionen u n d der daraus sich ergebenden Situationskomik, wie sie oben geschildert wurde, aus, was i h m sehr ausgeprägt in der Beschreibung des Königs gelingt: He is taller by almost t h e b r e a d t h of my nail, t h a n any of his c o u r t ; which alone is enough to strike an awe into t h e beholders. His features are strong and masculine, with an Austrian lip a n d arched nose, his complexion olive, his countenance erect, his b o d y and limbs well proportioned, all his motions graceful, a n d his d e p o r t m e n t majestic. . . . H e h e l d his sword drawn in his h a n d , to defend himself, if I should h a p p e n to break loose; it was almost t h r e e inches long, t h e hilt and scabbard were gold enriched with diamonds. Hi6 voice was shrill, b u t very clear and articulate, a n d I could distinctly h e a r it when I stood u p 6 2 . Völlig h a r m l o s u n d n u r auf die Genauigkeit seiner E r z ä h l u n g bedacht f ü g t Gulliver diesem majestätischen C h a r a k t e r b i l d die Zwischenbemerkung e i n : 62

Works VIII. 29 f.

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. . . I have had him since many times in my hand, and therefore cannot be deceived in the description 63 . Die Angleichung Gullivers an das Urteil der Lilliputaner, die ganz selbstverständlich vollzogen wird, ist das Mittel aus der Ironie des objektiven, mit unbewegter Miene gegebenen Berichts immer neu den komischen Widerspruch der angemaßten und wahren Bedeutung erstehen zu lassen. There were six ambassadors, with a train of about five hundred persons, and their entry was very magnificent, suitable to the grandeur of their master, and the importance of their business 6 4 . J e stärker der Zwiespalt der lilliputanischen Wertung und des in Gulliver gegebenen Maßstabs aber herauskommt, um so mehr beginnt allmählich der satirische Hohn die Komik zwar nicht aufzulösen, aber zu dämpfen, da die reine Überlegenheit den verwandten menschlichen Regungen gegenüber sich bedroht fühlt. In grotesker Übertreibung malt sich der Widerspruch zwischen der selbstgesetzten Gottähnlichkeit und der wahren Kleinheit in einem Brief des Königs, dessen Superlativismus schlechterdings unüberbietbar bleibt. Golbasto Momaren Evlame Gurdilo Shefin Mully Ully Gue, most mighty Emperor of Lilliput, delight and terror of the universe, whose dominions extend five thousand blustrugs (about twelve miles in circumference) to the extremities of the globe; monarch of all monarchs, taller than the sons of men; whose feet press down to the centre, and whose head strikes against the sun; at whose nod the princes of the earth shake their knees . . . 6 5 Die Komik der Personen wird unterstützt durch die der Einrichtungen des Staates. Nur aus Freude an der komischen Wirkung wird von der Zeitberechnung nach Monden, von der absonderlichen Schwurzeremonie, von der Art des Schreibens „aslant from one corner of the paper to the other, like ladies in England^ 6 " erzählt. Im weiteren aber ist die allegorische Abänderung englischer Institutionen für die Art der Relativierung des ersten Buches außerordentlich charakteristisch. Wichtige politische Funktionen, religiöse Riten und sonstige zeremoniale Handlungen aus lilliputanischer Perspektive gesehen, lassen den Glauben an die analogen in Gullivers „own dear country" seltsam wankend werden. Die Um- und Entsymbolisierung ist ein allgemein charakteristischer Zug der Swiftschen Satire, der sich organisch dem Prinzip der Relativität eingliedert. Die Symbole Lilliputs sind völlig Ausdruck der Größen- und der von ihnen abhängigen Wertverhältnisse dieses Landes. Die kirchlichen Parteien unterscheiden sich im Ritus des Ei-Essens: die eine Partei schlägt das Ei am oberen, die andere am unteren Ende auf. Der Unter« 3 Works 8 4 Works 6 5 Works «« Works 22

VIII, VIII, Vm. VIII,

30. 54. 43. 59.

schied der Slamecksan und Tramecksan (allegorisch für Whigs und Tories) symbolisiert sich im niedrigen und hohen Absatz und besonders . . . his Majesty's Imperial heels are lower at least by a drurr than any of his court 6 7 . Diese Umsymbolisierung hat durch die Reduzierung des Symbolausdrucks auf lilliputanischen Maßstab eine vollendet komische Wirkung — die z. B. durch die überaus anschauliche Darstellung des unschlüssigen Prinzen besonders unterstrichen wird, der „a hobble in his gait 6 8 " hat — zugleich aber durch die Erniedrigung des Symbols und seiner Bedeutung satirische Schärfe. Zu der komisch-satirischen Wirkung der allgemeinen allegorisch-politischen Satire kommt die der bestimmten witzigen Anspielung hinzu, die zeitweise in eine völlig getreue allegorische Abbildung einzelner historischer Ereignisse übergeht 6 9 . Das ist zunächst in einzelnen Charakteristiken der Fall, die von einigen Ministern des Königs gegeben werden und deren komische Kraft in der porträthaften Einzelheit liegt, die auf den kleinen Lilliputaner bezogen witzig-grotesk das zugrundeliegende Original unerbittlich dem Lächerlichen preisgibt. Galbet, or Admiral of the Realm, very much in his master's confidence, and a person well versed in affairs, but of a morose and sour complexion 7 0 . Überwältigend komisch in der Darstellung Flimnap-Walpoles in all seiner Indigniertheit dem großen Gulliver gegenüber, hinter dem in diesem Moment Swift selbst auftaucht: I observed he often looked on me with a sour countenance 71 . Diese Herausarbeitung der einzelnen Züge verbindet sich mit der vollen Schilderung ihrer staatsmännischen Fähigkeiten und ihrer Bedeutung für das Wohl des Staates, die 6ich in den Lilliput vertrauten politischen Formen zeigt. Swift erfindet dafür innerhalb der allgemeinen Allegorie des ganzen Buches einzelne satirische Allegorien, die in ihrer unmittelbaren Wirkung die ganze Kraft Swifts zeigen, den Gegner der Lächerlichkeit preiszugeben. So gehören die seiltanzenden Minister und die Zeremonie der Ordensverteilung zum Vollendetsten des ganzen Werkes. Unübertroffen ist in diesen country-shows die Darstellung Flimnap-Walpoles und seiner politischen Geschicke. Flimnap, the Treasurer, is allowed to cut a caper on the straight rope, at least an inch higher than any other lord in the whole empire. I have seen him do the summerset several times together upon a trencher fixed 61 88 69 70 n

Works VIII, 48. Works VIII, 49. Vgl. Firth, The Political Significance of Gullivers Travels. Works VIII. 43. Works VIII, 66.

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on the rope, which is no thicker than a common pack-thread in England 7 2 . Der Bemerkung, daß er vor ein oder zwei Jahren fast den Hals gebrochen hätte, fügt Swift in bissig-sarkastischer Anspielung hinzu: . . . if one of the King's cushions 7 3 , that accidentally lay on the ground, had not weakened the force of his fall 7 4 . In gewisser Weise gehört zu der Komik der allegorischen Verkleidung bestimmter Ereignisse auch die Heldentat Gullivers im ßabelaisschen Geiste, durch die er den Palast vor der völligen Zerstörung bewahrt. Sie bringt ihm jedoch den unversöhnlichen Haß der kleinen Königin ein, die „in the presence of her chief confidents could not forbear vowing revenge 7 5 " und die in dieser drohenden Haltung die Gefühle der Königin Anna Swift gegenüber parodiert 7 6 . Die allegorisch-politische Satire wird in ihren Angriffen gegen die Fragwürdigkeit der politischen Methoden durch die Verbindung mit der anfangs geschilderten Dimensions- und Situationskomik gemildert, wie z. B. in der Proklamation der Freiheit Gullivers und in dem Flottenunternehmen. Allein aus dieser Komik der Dimension entsteht der Witz der Anspielung, wenn z. B. Gulliver von einem Gerücht berichtet, das die Ehre der Gemahlin Flimnaps in ihrer Beziehung zu Gulliver angreift, und das uns einen eifersüchtigen Flimnap vor Augen führt 7 7 , oder wenn durch die Art seiner Erlebnisse hinter Gulliver plötzlich Bolingbroke steht und sich dessen Geschick in dem Verhältnis Gullivers zu seinen kleinen Feinden abbildet. Gegen Ende des Buches verliert die Komik ihre Kraft, die Satire wird unverhüllter. Vorbereitet wird dies in der bewußten Andeutung der völligen Befangenheit und anmaßlichen Beschränktheit der kleinen Wesen. I could not sufficiently wonder at the intrepidity of these diminutive mortals, who durst venture to mount and walk upon my body, while one of my hands was at liberty, without trembling at the very sight of so prodigious a creature as I must appear to them 7 8 . Ganz klar wird dies später in der Anklage gegen Gulliver, die neben der widersinnigen Anmaßung die völlige Gemeinheit der Gesinnung enthält. Hier tritt zum ersten Male die erbarmungslose Kälte der Satire ganz Works V I I I . 39. Nach Firth, a. a. 0 . S. 245 die Duchess of Kendal. 7 4 Works VIII, 39. 7 5 Works V I I I , 57. 7 0 Firth, a. a. O. S. 241. 7 7 Williams, Gullivers Travels, S. 466, spricht sich für mehrere Möglichkeiten der Anspielung aus und betont, daß auch vielleicht keine bestimmte beabsichtigt sei. 7 8 Works V I I I , 23. 72

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direkt heraus, die Objektivität des Berichts wird hohnvoller und die Charakteristik der lilliputanischen Minister verliert die versöhnende Überlegenheit der komischen Betrachtung. Man beschließt, Gulliver auszuhungern : . . . and immediately upon your death, five or six thousand of his Majesty's subjects might, in two or three days, cut your flesh from your bones, take it away by cart-loads, and bury it in distant parts to prevent infection, leaving the skeleton as a monument of admiration to posterity 7 9 . Der ganze Hohn, der in Gullivers naiv-objektiver Erzählung liegt, kommt heraus. Thus by the great friendship of the Secretary, the whole affair was compromised 80 . Die in den letzten Begebenheiten trotz der äußeren Sicherheit des Menschen einsetzende Erschütterung seiner Überlegenheit — da diesem so getreu abbildenden wahrhaft „menschlichen" Verhalten gegenüber die eigene Sicherheit allmählich wankend wird — erhält noch eine Unterstützung durch die im 6. Kapitel geschilderten utopisch-idealen Zustände. In einigen Staats- und Rechtstheorien, die sich bei den Lilliputanern allerdings auch nur aus den „original institutions" ergeben, erweist sich das so verächtlich scheinende kleine Volk als weit überlegen. Die Darstellung hat gezeigt, daß Gullivers Naivität in Lilliput so gut wie gar nicht erschüttert wird. Der schreibende Gulliver nimmt ausdrücklich auf seine damalige Ahnungslosigkeit Bezug. If I had then known the nature of princes and ministers . . . 8 1 . Wir haben nur die geringen Spuren eines ersten Beginns von Gullivers Erziehung zu verzeichnen, der am Hofe Lilliputs zuerst die menschlichen Handlungen in ihren wahren Motiven kennengelernt hat. Er sieht die Leidenschaften: And so unmeasureable is the ambition of princes 8 2 . . . , und trennt 6ich persönlich von diesen niedrigen Motiven, als er die völlige Vernichtung des Nachbarstaates ablehnt. Gulliver sieht die Unsicherheit politischer Verhältnisse: This was the first time I began to conceive some imperfect idea of courts and ministers 8 3 . Er formt für sich persönlich seine erste Maxime: 7 9 Works VIII, 73. Vgl.: This envoy had instructions to represent to the monarch of Blefuscu, the great lenity of his master, who was content to punish me no farther than with the loss of my eyes . . . (S. 78) 8 0 Works V I I I , 73. 8 1 Works V I I I , 75. 5 2 Works V I I I , 53. 5 3 Works V I I I , 55.

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I resolved never more to put any confidence in princes or ministers 8 4 , aber die menschliche Welt als Ganzes bleibt ihm unerschiittert. Versucht man den Gesamteindruck des ersten Buches noch einmal zusammenzufassen, so kann man eben das Charakteristische darin sehen, daß hier das Satirische sich zum größten Teil in der Form des Komischen ausdrückt. Wir haben dieser Welt als solcher gegenüber das Gefühl eines „entertaining prospect 8 5 ", den wir nicht ohne Sympathie betrachten. The ladies and courtiers were all most magnificently clad, so that the spot they stood upon seemed to resemble a petticoat spread on the ground, embroidered with figures of gold and silver 8 6 . Die Haltung, die man Lilliput gegenüber hat, scheint der des ästhetischen Betrachters verwandt. Man könnte sie dem Verhältnis vergleichen, das der Zuschauer im Theater zu den Vorgängen auf der Bühne einnimmt. Gulliver selbst spricht einmal diesen Vergleich aus: I viewed the town on my left hand, which looked like the painted scene of a city in a theatre 8 7 . Die Komik in Lilliput lebt aus dieser überlegenen Distanz, die auch die scharfe satirische Wendung noch nicht ganz zu durchbrechen vermag, da im großen und ganzen die Überlegenheit der Vernunft über das Lächerliche rein erhalten bleibt. Im Reiche Brobdingnag kehrt sich das Größenverhältnis genau proportional um, wobei von vornherein durch die Bedrohung Gullivers und durch seine Unfähigkeit, sich selbständig in diesem Reiche zu bewegen, eine scharf satirische Situation geschaffen wird. Alle Sicherheit, die Gulliver in Lilliput hatte, ist ausgelöscht und gerade die Erinnerung an seine Stellung dort zeigt die ganze Relativität der menschlichen Macht, die auch Gulliver in seiner Niedergedrücktheit zum Bewußtsein kommt. In this terrible agitation of mind I could not forbear thinking of Lilliput, whose inhabitants looked upon me as the greatest prodigy that ever appeared in the world; . . . I reflected what a mortification it must prove to me to appear as inconsiderable in this nation as one single Lilliputian would be among us 8 8 . Es hat sich mit dieser neuen Lage Gullivers ein entscheidender Wechsel vollzogen: er ist nicht mehr der ruhige Betrachter, sondern wird selbst Objekt der Satire. Aus seiner lächerlichen Rolle entsteht, je nachdem sich ihr Satire harmloser oder bitterer Art zugesellt, eine schattierte Abstufung des Komischen, Witzigen und rein Satirischen. Zugleich bekommt die Satire hier mannigfaltigere Formen und größere Schärfe als in Lilliput dadurch, daß Brobdingnag doppelte Bedeutung hat. Es ist teils wirklich84 85 86 87 88

26

Works Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII. VIII, VIII,

79. 28. 30. 28. 89.

keitsgetreues Abbild, nicht mehr der politischen, sondern der allgemein menschlichen Welt, teils aber deren utopisches Spiegelbild. Mit vollendeter Kunst hat Swift dieses zweite Reich in getreu symmetrischer Darstellung nur gleichsam mit umgekehrten Vorzeichen gezeichnet. Wieder dienen viele Szenen dazu, zu zeigen, wie sich den gewaltigen Dimensionen der Riesen und ihren entsprechenden gröberen Sinneswerkzeugen die Natur in Pflanzen- und Tierwelt anpaßt. Mehr noch als in Lilliput berühren die grotesken Dimensionen in Brobdingnag anschaulich komisch, besonders da Gulliver wieder in seine eigenen Begriffe übersetzen muß und eins mit dem anderen vergleicht. So, wenn z. B. ein Kettenhund auftaucht „equal in bulk to four elephants" 8 9 , oder wenn Gulliver das Taschentuch der Bauersfrau beschreibt „larger and coarser than the mainsail of a man of war" 9 0 . Besonders komisch wird der Gegensatz im Akustischen, da Gulliver die Stimmen wie Donner klingen, so daß er fast noch mehr Mühe hat, sich an die veränderten Lautstärken als an die neuen Raumverhältnisse zu gewöhnen. Das Schnurren der Katze z. B. klingt, als seien ein Dutzend Strumpfweber am Werk 9 1 . Mit bewußtem Genießen nutzt der der Musik abgeneigte Swift die witzige Beziehung der Akustik in Brobdingnag zu der des Menschen in einer späteren Szene, wo er den mit den akustischen Verhältnissen schon vertrauten Gulliver sich bei den königlichen Konzerten möglichst weit entfernen und alle Fenster und Türen seiner Wohnung schließen läßt: . . . after which I found their music not disagreeable 92 . Rein komisch ist es auch, wenn Gulliver ganz unbewegt die Perspektive der Riesen übernimmt und z. B. Glumdalclitch schildert . . . and not above forty foot high, being little for her age 9 3 , oder wenn er bei dem Unternehmen, auf das Taschentuch des Riesen zu steigen, bemerkt . . . as I could easily do, for it was not above a foot in thickness 9 4 . Diese Züge durchdringen aber die zweite Reise nicht in dem Maße wie die erste. Es gibt daneben ganz direkte, in die Größe der Dimensionen verlegte Satire. Neben die unschönen und groben Formen der äußeren Welt 9 5 tritt die ekelerregende Vergrößerung des menschlichen Körpers und seiner Funktionen. Sie findet sich in der Schilderung der Bauersfrau mit dem Säugling, in der Darstellung der maids of honour, sie wirkt besonders grauenvoll durch die ganz sachlich berichtende Art in der Erzählung von der Hinrichtung und von den Bettlern, mit dem hier bis Works VIII, 93. Works VIII, 95. Vgl. die Schilderung der Wespenstachel und Hagelkörner. 9 1 Works VIII, 92 f. 9 2 Works VIII, 129. Vgl. But when I spoke in thal country, it was like a man talking in the street to another looking out from the top of a steeple. S. 152. 9 3 Works V I I I , 97. M Works VIII, 91. 9 5 Vgl. die Schilderung der toten Ratte S. 95 und der Fliegen S. 111. 89

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aufs äußerste gesteigerten satirischen Mittel des Vergleichs zu Gullivers eigener Größe. There was a woman with a cancer in her breast, swelled to a monstrous size, full of holes, in two or three of which I could have easily crept, and covered my whole body 9 6 . Entgegen Lilliput bedeutet das Gegenüber der Dimensionen Brobdingnags und Gullivers sehr viel schärfere Satire, die sich allerdings noch mit „wit" und „humour" zu verbinden vermag. Wieder ist die erste Begegnungsszene äußerst aufschlußreich für die Gesamtsituation. . . . when one of the reapers . . . made me apprehend that with the next step I should be squashed to death under his foot, or cut in two with his reaping-hook. And therefore when he was again about to move, I screamed as loud as fear could make me. Whereupon the huge creature trod short, and looking round about under him for some time, at last espied me as I lay on the ground 9 7 . In mehreren Szenen gibt Swift den Eindruck des unverständlich kleinen Gulliver auf die Bauern wieder, die ihn wie ein kleines, unangenehmes, vielleicht auch bösartiges Tier behandeln. . . . she screamed and ran back, as women in England do at the sight of a toad or a spider 9 8 . Durch die Freundlichkeit der Riesen, die allmählich davon überzeugt werden, daß Gulliver „must be a rational creature 9 9 ", lichtet sich das Ganze zuweilen etwas auf und die Schilderung Gullivers aus der Perspektive der Riesen hat dann jenen Witz, in dem das Beteiligtsein am Ob jekte der Satire von der gleichzeitigen Überlegenheit überwunden wird. The farmer having . . . received such an account of me as his servant could give him, took a piece of a small straw, about the 6ize of a walking staff, and therewith lifted up the lappets of my coat; which it seems he thought to be some kind of covering that nature had given me. He blew my hairs aside to take a better view of my face 1 0 0 . Gullivers Bewegung in dieser Welt führt durch die darin anschauliche Lebendigkeit der Riesenwelt zum letztenmal zu einer Situationskomik, wie sie entsteht, wenn Gulliver über eine Brotkrume auf dem Tisch stolpert, oder, wenn er, um ein Brobdingnagisches Buch zu lesen, auf einer Leiter auf und ab laufen muß. Sehr hübsch ist die Schilderung der Wagenfahrt. . . . the horse went about forty foot at every step, and trotted so high, that the agitation was equal to the rising and falling of a ship in a great storm, but much more frequent 1 0 1 . Works VIII. 115. Works VIII, 89. 9 8 Works VIII, 91. Vgl. S. 89. 9 9 Works VIII, 91. 1 0 0 Works VIII, 90. 1 0 1 Works VIII, 99. 98

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Halb komisch, halb aber auch schon die heftige Gegenwehr gegen die Abhängigkeit des Menschen vom rein physischen Dasein ankündigend, wie es selbst in Lilliput schon vorbereitet wurde, ist die für Gulliver in einer bestimmten Situation besonders peinliche Behinderung der selbständigen Bewegung, von der ihn schließlich die Bauersfrau erlöst. Gulliver verfehlt nicht, sich für diesen Bericht zu entschuldigen und gleichzeitig einige philosophische Betrachtungen daran anzuknüpfen. . . . these and the like particulars, which however insignificant they may appear to grovelling vulgar minds, yet will certainly help a philosopher to enlarge his thoughts and imagination . . . 1 0 2 . In den meisten Ereignissen wird aber die Situationskomik durch den Akzent der Verachtung oder Nichtachtung Gullivers abgeschwächt. In deutlicher Symmetrie zu Lilliput, wo Gulliver mit den dreisten Lilliputanern scherzt, fünf in die Tasche steckt und den sechsten lebendig aufzuessen droht, steht in Brobdingnag die Szene, wo Gulliver dem schreienden Baby als Spielzeug gegeben wird. The mother out of pure indulgence took me up, and put me towards the child, who presently seized me by the middle, and got my head in his mouth, where I roared so loud that the urchin was frighted, and let me drop . . - 1 0 3 . Die satirische Entwürdigung, die in der lächerlichen Bedeutung Gullivers liegt, wird immer von neuem dargestellt: er wird zum Schaustück der curiosity, zur sensationellen Sehenswürdigkeit auf dem Markt: . . . a public spectacle to the meanest of the people 1 0 4 . Wo in Lilliput die mildere Form der Komik herrschte, wird in Brobdingnag umgekehrt die jetzt von Gulliver ausgehende lächerliche Wirkung zur tödlich treffenden und unbestechlichen Satire. So komisch ein sich mit Würde bewegender Lilliputaner in Haltung und Geste war, so komisch sind die Gebärden und Bewegungen Gullivers für die Riesen. All I ventured was to raise my eyes towards the sun and place my hands together in a supplicating posture . . - 1 0 5 . . . . expressing the words as loud as I could in English, which made the company laugh so heartily that I was almost deafened with the noise 1 0 6 . Die Düsterkeit der Situation für Gulliver und auch die Härte der Satire wird für einen Augenblick aufgelichtet und besänftigt dadurch, daß sich die heftige Gemütsbewegung in Gulliver selbst löst. Als er einen alten kurzsichtigen Riesen kommen sieht, bringen ihn die grotesken Dimensionen und der unmittelbar in ihm aufsteigende Vergleich zu altgewohnten Verhältnissen zum Lachen. Works Works i a * Works 1 0 6 Works 1 0 6 Works 102

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VIII. VIII, VIII, VIII, VIII,

96. 93. 99. 90. 92.

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This man, who was old and dimsighted, put on his spectacles to behold me better, at which I could not forbear laughing very heartily, for his eyes appeared like the full moon shining into a chamber at two windows 1 0 7 . Nach diesen geringen Entspannungen nimmt die Satire immer mehr Härte an, die nur ab und zu durch die dankbare Schilderung der liebevollen Betreuerin Glumdalclitch wohltuend gemildert, durch die sich enthüllenden Charakterzüge der übrigen Riesen aber wieder verstärkt wird. Nachdem der Schauplatz von den Bauern an den königlichen Hof verlegt ist, wird der satirische Gedanke zunächst in der gleichen Form, nur teils noch konzentrierter und heftiger, weitergeführt. In der Interpretation von Gullivers Existenz entfaltet sich noch einmal der ganze Witz Swifts, die Philosophie und ihre Vertreter gleicherweise zu parodieren. Die Meinungen über Gulliver schwanken und gelangen von der Vermutung des Königs, „I might be a piec# of clock-work . . . contrived by some ingenious artist 1 0 8 ", zu der Annahme, in Gulliver einen Embryo zu sehen, was aber mit Hilfe des Mikroskops widerlegt wird und endlich eine Einigung im Begriff des lusus naturae herbeiführt 1 0 9 . Hier am Hof erfährt die Lächerlichkeit Gullivers ihre Höhepunkte, die er anekdotenartig berichtet, denn I was every day furnishing the court with some ridiculous story 1 1 0 . Den boshaften Streichen des Zwerges, der etwa Gulliver bei Tisch in eine Schüssel mit Creme wirft oder ihn in einen Markknochen zwängt, verbindet sich die Bedrohung Gullivers in der Natur bei Hagelschauern, oder wenn Äpfel vom Baum fallen oder gar ein Hund ihn zu fassen bekommt. Die übrigen Tiere allerdings beachten ihn nicht. Selbst kleinere Vögel . . . would hop about . . . looking for worms, and other food, with as much indifference and security, as if no creature at all were near t h e m 1 1 1 . Für die Königin, die „wit" und „humour" hat, ist Gulliver das possierlichste und ergötzlichste Spielzeug, dem sie zum Beispiel beim Essen amüsiert zusieht und dessen Mißgeschicke ihrer Erheiterung dienen. Zur Erholung Gullivers und zum Ergötzen der übrigen wird ihm ein Boot gebaut, das in einen Wassertrog gesetzt wird. Trotz der Schärfe der Satire überwindet hier der Witz noch einmal das Gefühl des Mitbetroffenseins. Die Gouvernante will Gulliver in das Boot setzen, . . . but I happened to slip through her fingers, and should have infallibly fallen down forty feet upon the floor, if by the luckiest chance in the world, I had not been stopped by a corking-pin that stuck in the good Works V I I I , 98. Works V I I I , 105. 1 0 9 Works V I I I . 106. 1 1 0 Works V I I I . 126. 1 1 1 Works V I I I , 120. Vgl. das schamlose Benehmen der maids of honour, die Gulliver ebenfalls behandeln „like a creature who had no sort of consequence". (S. 121.) 107

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gentlewoman's stomacher; the head of the pin passed between my shirt and the waistband of my breeches and thus I was held by the middle in the air till Ghimdalclitch ran to my relief 1 1 2 . Dië objektivste und von keiner Spur witziger Überlegenheit mehr gelinderte Lächerlichkeit erreicht Gulliver in dem Affenabenteuer, als er, von dem Affen geraubt und als seinesgleichen betrachtet, zum Gaudium dès Pöbels auf die widerwärtigste Weise behandelt wird. Verstärkt wird die Wirkung vor allem durch die selbstbewußte Haltung Gullivers, die in all der Lächerlichkeit ihrer stolzen Gestik lilliputanischem Benehmen völlig ähnlich ist. . . . as for that monstrous animal with whom I was so lately engaged, ( . . . ) if my fears had suffered me to think so far as to make use of my hanger, (looking fiercely and clapping my hand upon the hilt as I spoke) when he poked his paw into my chamber perhaps I should have given him such a wound, as would have made him glad to withdraw it with more haste than he put it in . . . However, my speech produced nothing else besides a loud laughter . . , 1 1 3 . Die Satire, die in diesen entwürdigenden Lagen unmittelbar sichtbar wird, wird in ihrer Schärfe wieder abgelöst von dem ruhigeren Bericht über die geschickten Arbeiten Gullivers, wobei wiederum durch Gullivers naiven Ernst Pointen von echt Swiftschem Witz zustande kommen. Gulliver, der aus den ausgekämmten Haaren der Königin unter anderem einen Stuhl verfertigt hat und von der Königin aufgefordert wird, sich daraufzusetzen, verwahrt sich auf das bestimmteste dagegen. . . . I absolutely refused to obey her, protesting I would rather die a thousand deaths than place a dishonourable part of my body on those precious hairs that once adorned Her Majesty's head 1 1 4 . Zur Aufheiterung der satirischen Heftigkeit dient besonders eine Episode, die einen grotesken Humor entwickelt. Um seine musikalische Geschicklichkeit zu zeigen, versucht Gulliver auf dem Spinett zu spielen, was infolge der Größe dieses Instruments mit Schwierigkeiten verbunden ist. Er löst das Problem, indem er am Instrument entlang läuft und die Tasten mit einem Stock anschlägt. . . . but it was the most violent exercise I ever underwent, and yet I could not strike above sixteen keys, nor consequently play the bass and treble together, as other artists do; which was a great disadvantage to my performance 1 1 5 . Die Satire gegen die ganz unvergleichliche physische Unterlegenheit Gullivers wird auch indirekt sichtbar durch weiter eingeschaltete Relativität der Größe wie z. B. im Zwerg, der sich am Hof aufhält, und im BeWorks Works i " Works 1 1 6 Works 112

113

VIH, Vin, VIII, VIII,

123. 126. 129. 130. 31

rieht über ein Buch, das Gulliver findet und das von der unvergleichlich größeren und stärkeren Rasse früherer Zeiten handelt. Darüber hinaus aber steigt die Satire in Brobdingnag im Angriff gegen die menschliche Vernunft zu einer neuen Stufe empor, auf der sie sich mit großartiger Ironie vollendet. Die großen zentralen Hauptszenen' des zweiten Buches erreichen in den Dialogen Gullivers mit dem König einen der Höhepunkte des satirischen Zorns. Wie schon andeutungsweise im ersten Buch formt sich die überlegene Ironie aus dem Gegensatz menschlich-europäischer und brobdingnagischer Anschauung. Hier, wo der Mensch einem wirklich überlegenen und humanen Wesen, wie es nach Gullivers eigenem Urteil der König ist, gegenüber steht, wird die Lächerlichkeit in einem höheren Sinne absolut. Der Widerspruch, den sie jetzt darstellt, liegt im Anspruch und im wahren Sein der menschlichen Vernunft. Die Relativität der Größe wird zugleich symbolisch für das, was scheinbar von ihr ausgeschlossen schien und für unangreifbar erachtet wurde1-16. Hier wird alle Komik und aller Witz ausgeschaltet, es bleibt nur das tief Verletzende der reinen Ironie. Der Widerspruch zwischen dem naiven Glauben, der Begeisterung Gullivers und der beides zerstörenden Wahrheit tritt mit erbarmungsloser satirischer Schärfe heraus. Der Emst Gullivers, mit dem er auf der königlichen Tafel neben dem Salzfaß sitzend sein Land und dessen Einrichtungen erklärt und verteidigt, wird durch die überlegene Betrachtung des Königs zur unvergleichlich lächerlichen Befangenheit: — he could not forbear taking me up in his right hand, and stroking me gently with the other, after an hearty fit of laughing, asked me, whether I were a Whig or a Tory 1 1 7 . Die Ironie der Dialoge, vor allem der ersten Zusammenfassung der Unterredung, entsteht aus dem Gegensatz von Gullivers bewußt enthusiastischem Lob aller Verhältnisse seines Heimatlandes und den Einwänden des Königs, die die hypokritische Verkleidung der Wirklichkeit zu entdecken wissen. Klassisch geformt baut sich Gullivers rhetorische Leistung auf. Die ausgewogene Zweigliedrigkeit der Satzteile, der pathetische Schwung der Synonyma, die berechnete Verwendung von Superlativen charakterisiert seine emphatische Begeisterung. Die Einwände sind scharf, knapp und von entlarvender Präzision. Dem so vernünftig Scheinenden wird von dem mit allen menschlichen Irrwegen vertrauten König die Maske abgerissen, hinter der die niedrigsten Leidenschaften verborgen liegen. In stets wiederkehrender Steigerung der Ironie betont Swift die Naivität Gullivers, in der sich allerdings schon leise die Wandlung ankündet. lie Vgl. Gullivers Einwand gegen „raillery" und „contempt" des Königs „that reason did not extend itself with the bulk of the body". S. 130. Works VIII. 109.

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. . . I was forced to rest with patience while my noble a n d most beloved country was so injuriously treated. . . . Yet t h u s m u c h I may be allowed to say in my own vindication, t h a t I a r t f u l l y e l u d e d m a n y of his questions, a n d gave to every point a more favourable t u r n by m a n y degrees t h a n t b e strictness of t r u t h would allow 1 1 8 . I m Verlauf der U n t e r r e d u n g e n wird der Gegensatz zwischen der echten H u m a n i t ä t des Königs u n d der Verworfenheit, von der Gulliver berichtet, i m m e r tiefer. Die objektive u n d u n g e r ü h r t e Darstellung Gullivers wird in sich i m m e r haßgesättigter u n d f ü h r t mit viel allgemeinerer Bedeutung die Satire des „ i m p e a c h m e n t " in Lilliput fort. Gulliver schildert den Krieg u n d seine Waffen. . . . I understood t h e m a n n e r of compounding t h e m , a n d could direct his w o r k m e n how to m a k e those tubes, of a size p r o p o r t i o n a b l e to all other things in his Majesty's kingdom, a n d t h e largest need not be above an h u n d r e d foot long; twenty or t h i r t y of which tubes, charged with t h e p r o p e r quantity of powder and balls, would batter down t h e walls of t h e strongest town in his dominions in a few hours, or destroy the whole metropolis, if ever it should p r e t e n d to dispute his absolute commands119. Abscheu u n d E m p ö r u n g des utopischen Königs d r ü c k e n die Reaktion der w a h r e n V e r n u n f t den menschlichen Geschöpfen gegenüber aus. Die Gegenüberstellung mit dem wirklich Guten hat den Menschen entlarvt u n d entwertet. Die h u m a n e Überlegenheit des Königs, der in seiner Existenz die einzige Rechtfertigung des Menschlichen v e r k ö r p e r t , t r e n n t sich als das u n e r r e i c h b a r e Ideal von dieser Wirklichkeit, die bedingungslos verd a m m t wird. Im Urteil des Königs faßt sich die gesamte satirische E n t w e r t u n g des zweiten Buches zusammen. . . . I cannot b u t conclude t h e bulk of your natives to be t h e most pernicious race of little odious vermin that n a t u r e ever suffered to crawl u p o n t h e surface of t h e e a r t h 1 2 0 . H e was amazed how so i m p o t e n t a n d grovelling an insect as I . . . could e n t e r t a i n such i n h u m a n ideas . . . 1 2 1 Durch die der Naivität Gullivers i m m a n e n t e I r o n i e wird die völlige Unü b e r b r ü c k b a r k e i t der Gegensätze n o c h einmal in der gänzlichen Einsichtsloeigkeit ausgedrückt. . . . it would be h a r d indeed, if so remote a prince's notions of virtue and vice were to be offered as a standard f o r all m a n k i n d 1 2 2 . Es bleibt die Stellung Gullivers u n d die P h a s e seiner E r z i e h u n g abzugrenzen. Wie gerade die U n t e r r e d u n g e n m i t d e m K ö n i g zeigten, bleibt 118 119 120 121 122

Works Works Works Works Works

VIII. VIII. VIII, VIII. VIII,

137. 138. 136. 139. 138.

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seine Naivität und Gläubigkeit im ganzen noch unzerstört, aber doch beginnt daneben der Prozeß, der eine Verschärfung der satirischen Form ermöglicht: Gullivers Zustimmung zur Lächerlichkeit und Fragwürdigkeit des Menschen. Langsam beginnt er mit kritischen Augen die Illusion von menschlicher Würde und Macht zu sehen. Nach dem abstoßenden Anblick der Bauersfrau sagt Gulliver: This made me reflect upon the fair skins of our English ladies, who appear so beautiful to us, only because they are of our own size, and their defects not to be seen but through a magnifying glass 1 2 3 , und in allgemeinerer und noch deutlicherer Formulierung, die zeigt, wie Gulliver das Lilliputanische des Menschen und die Lächerlichkeit seines Gehabens zu sehen beginnt: . . . I began to doubt whether I were injured or no. For, after having been accustomed several months to the sight and converse of this people, and observed every object upon which I ca6t my eyes, to be of proportionable magnitude, the horror I had first conceived from their bulk and aspect was so far worn off, that if I had then beheld a company of English lords and ladies in their finery and birth-day clothes, acting their several parts in the most courtly manner, of strutting, and bowing, and prating; to say the truth, I should have been strongly tempted to laugh as much at them as the King and his grandees did at m e 1 2 4 . Hierin liegt bereits die Erkenntnis der Quintessenz des satirischen Gedankens, den Gulliver realisiert und ausspricht: daß die Vorstellungen des Menschen von Gewohnheit und Vorurteil beherrscht sind. Hierin liegt der Keim seiner endgültigen Wandlung. Doch für sich persönlich vertritt Gulliver noch nachdrücklich den Standpunkt der menschlichen Würde, was in diesem Lande schon in sich selbst grausam witzige Satire ist. . . . I should rather have died than undergone the disgrace of leaving a posterity to be kept in cages like tame canary b i r d s . . , 1 2 5 Zusammenfassend läßt sich die satirische Situation des zweiten Buches dahin charakterisieren, daß das, was dem überlegenen Menschen im lächerlichen Beiche Lilliput komisch schien, hier dem überlegenen Riesen in diesem Licht erscheint. Aber aus dem Nebeneinander der Perspektive des Riesen und der des Menschen ergibt sich die Verurteilung, die in dieser Komik liegt und die sie zu einem erbarmungslosen Mittel der Satire macht. Bei dem Affenabenteuer sagt Gulliver: . . . whereat many of the rabble below could not forbear laughing; neither do I think they justly ought to be blamed, for without question the sight was ridiculous enough to everybody but myself 1 2 6 . 123 124 125 128

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Works Works Works Works

VIII, VIII. VIII, VIII,

94. 109 f. 144. 125.

Wie aber in Lilliput die Komik für den Menschen allmählich dadurch gedämpft wurde, daß sie wohl Unterlegenes aber zugleich eben Menschliches traf, 60 ist hier aus dem gleichen Grund die Überlegenheit des Riesen selbst kein sicheres Lachen, sondern gegenüber Lilliput verstärkt und bewußt Abscheu und Verachtung. . . . he observed how contemptible a thing was human grandeur, which could be mimicked by such diminutive insects as I . . . 1 2 7 Bevor die Entwicklung, die sich aus den Abenteuern der dritten Reise ergibt, dargestellt werden kann, ist es notwendig, hier die Stellung Gullivers vorangehend zu charakterisieren, da von ihr die satirische Form des Buches weitgehend abhängig ist. Die Haltung Gullivers, wie wir sie in den ersten beiden Reisen geschildert haben, ist zu Beginn seiner Erlebnisse in Laputa den zuletzt in Brobdingnag gezeigten Ansätzen gemäß geändert. Hier wird zum ersten Mal ganz deutlich, daß Gulliver auf dem Wege ist, die Dinge überlegener zu sehen, auf dem Wege, sich schließlich mit dem Geist, der den vollen satirischen Widerspruch realisiert, zu identifizieren. Diese neue Haltung Gullivers bedingt die grundlegende formale Veränderung, die die beiden ersten Reisen von der dritten und vierten trennt. In Lilliput und Brobdingnag gestaltete sich die Satire hauptsächlich in der szenischen Bewegtheit und im Bild einer bestimmten Situation, in den beiden letzten tritt diese Form des vorgängig Handlungsmäßigen immer mehr zurück und wird durch unmittelbarere Satire ersetzt: die Höhepunkte des Berichts verlagern sich nach und nach auf die epigrammatischen Zusammenfassungen und die allgemeinen Maximen, die in Gullivers eigener psychologischer Einsicht gegründet sind 1 2 8 . Die ganz seltenen, immer nur auf die persönlich beurteilte Einzelsituation bezogenen Reflexionen Gullivers etwa in Lilliput werden auf der dritten Reise allgemein und Ausdruck seiner vertieften Menschenkenntnis. Das einmalig Erfahrene verdichtet sich zur allgemeinen Sentenz, die die überlegene Kritik enthält. Lilliput: And this was the first time I began to conceive some imperfect idea of courts and ministers 1 2 9 . Laputa etc.: But I rather take this quality to spring from a very common infirmity of human nature, inclining us to be more curious and conceited in matters where we have least concern, and for which we are least adapted either by study or nature 1 3 0 . Works V I I I , 109. Firth, a. a. O, S. 258 weist darauf hin, daß an die Stelle der satirischen Behandlung Englands jetzt die des England-Irland-Kampfes tritt, an dem Swift mit aller Leidenschaft beteiligt war, und daß daher „his satire ceased to be playful and became serious and bitter". Works V I I I . 55. 1 3 0 Works V I I I , 169. 127

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This may perhaps pass with the reader rather for an European or English story, than for one of a country so remote. But he may please to consider, that the caprices of womankind are not limited by any climate or nation, and that they are much more uniform than can be easily imagined 1 3 1 . Dies bedingt zugleich, daß unsere Analyse des Aufbaus sich jetzt stärker an die Entwicklung der Stellungnahme Gullivers anzuschließen hat, da die lose aneinander gereihten Begebnisse in Laputa wie auch das Gegenüber von Utopie und Wirklichkeit der vierten Reise in der Wirkung auf Gulliver und in seiner sich vollendenden Erziehung ihr formal durchgehendes Aufbauprinzip bekommen, das zugleich die Schärfe der Satire steigert. Die dritte Reise führt Gulliver nach einer Gruppe von Inseln, die unter sich nur lose verknüpft sind. Er lernt die nur Denkenden, die Projectors, die Zauberer und die Unsterblichen kennen, die sich inmitten von Menschen bewegen, die, wie Gulliver, nichts Absonderliches an sich haben, wodurch trotz aller Fremdheit eine eigentümliche Nähe des normalen Menschen zu diesen unheimlichen Gestalten geschaffen wird. Die vollkommene Verkehrung des menschlich Vernunftgemäßen in ihnen durch Enthusiasmus und Spekulation, die sich vom Standpunkt des common sense und des praktischen Handelns ergibt, ist nur die letzte, auf die äußerste Spitze getriebene Konsequenz menschlicher Neigungen, die zum mindesten latent in allen Menschen vorhanden sind. Gulliver, der den common sense repräsentiert, wird dadurch den Laputanern überlegen, aber in anderer Weise als er es den Lilliputanern war. Es entstehen daraus beinahe keine komischen Wirkungen mehr, denn fast immer ist die Überlegenheit Gullivers gefühlsmäßig so stark gebunden, daß sie nicht mehr frei werden kann. Weil Gulliver aus seinem erworbenen Wissen um die menschliche Natur sich jetzt beteiligt weiß, tritt an die Stelle seiner ruhigen Betrachtung die Abwehr, die um so heftiger wird, je stärker der ihr zugrunde liegende Glaube an das als wahr Erkannte ist. Die oben charakterisierte allgemeine Änderung der satirischen Form bringt es mit sich, daß die rein erzählerische Ausmalung des äußeren Rahmens weniger ausführlich wird. Was in Laputa noch an Szenerie vorhanden ist, stellt sich in Übereinstimmung mit den Menschen seltsam und grotesk dar, _ so daß selbst die komische Wirkung der Genauigkeit und der Einzelschilderung die bedrückende Stimmung nicht ganz zu durchbrechen vermag. Gulliver sieht zum ersten Mal die fliegende Insel: . . . I could see the sides of it encompassed with several gradations of galleries and stairs at certain intervals, to descend from one to the other. In the lowest gallery, I beheld eome people fishing with long angling rods, and others looking on 1 3 2 . 131 132

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Works VIII. 171. Works VIII. 161.

Im übrigen begnügt sich Swift mit einer genauen Darstellung des Mechanismus der fliegenden Insel, der eine praktisch konkretisierte Konsequenz der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Zeit darstellt. Die Satire, die sich in der Darstellung der Bewohner und in der Schilderung ihrer Gewohnheiten ausdrückt, baut sich auf den Gegensatz der völligen spekulativen Verkehrung des Sinngemäßen und des gesunden common sense, wie ihn Gulliver repräsentiert, auf. Die fanatische Einseitigkeit der Laputaner wird von Swift in der physiognomischen Verzerrung erfaßt: . . . having never till then seen a race of mortals so singular in their shapes, habits and countenances. Their heads were all reclined either to the right or to the left; one of their eyes turned inward, and the other directly up to the zenith 1 3 3 . Die deutliche Beziehung dieser äußeren Erscheinung der Laputaner zu Swifts physiognomischer Darstellung des religiösen Enthusiasmus 1 3 4 betont auch die weitere Beschreibung dieser völlig im Denken versunkenen Geschöpfe, die die Erinnerung an die Thales-Geschichte wachruft. . . . he is always so wrapped up in cogitation, that he is in manifest danger of falling down every precipice, and bouncing his head against every post, and in the streets, of justling others, or being justled himself into the kennel 1 3 5 . Die Unheimlichkeit der Atmosphäre, die aus der Erscheinung und dem Wesen dieser Menschen entsteht, nimmt den Erlebnissen Gullivers von vornherein die Möglichkeit der komischen Wirkung. Es bleibt nur die reine Satire des Grotesken und Verzerrten. Jeder „imagination, fancy and invention 1 3 6 " bar, erschöpft sich das Leben in mathematisch-naturwissenschaftlicher Spekulation und musikalischen Absurditäten. Swift drückt diese Verzerrung äußerst deutlich aus. Die gewöhnlichsten Lebensfunktionen wie Hören und Sprechen müssen durch gewisse Berührungsinstrumente, die den Betreffenden aus der Spekulation herausreißen, in Tätigkeit gesetzt werden. Der König z. B. nimmt von Gulliver kaum Notiz. . . . he was then deep in a problem, and we attended at least an hour, before he could solve it. There stood by him on each side, a young page, with flaps in their hands, and when they saw he was at leisure, one of them gently struck his mouth, and the other his right ear; at which he started like one awaked on the sudden . . . 1 3 7 Works VIII, 163. 134 Y g ] a Discourse on the Mechanical Operation of the Spirit, Works I, 198. . . . They move their bodies up and down, to a degree, that sometimes their heads and points lie parallel to the horizon. Meanwhile you may observe their eyes turned up, in the posture of one who endeavours to keep himself awake . . . 1 3 6 Works VIII. 164. 1 3 8 Works VIII, 168. 1 3 7 Works VIII, 164. 133

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Sein Hof dagegen gibt sich dem Genuß der Sphären-Musik hin. Einzelne Wesenszüge ergänzen das Bild der Versunkenheit. Die Laputaner kennen keine Neugier, selbst die Untreue ihrer Frauen, und geschähe sie vor ihren eigenen Augen, vermag sie nicht zu rühren. Diesem Leben entspricht das Aussehen der äußeren Dinge und des ganzen Landes. Die mathematische Form ist das Ausdrucksmittel des geistigen Daseins dieser Menschen. Their ideas are perpetually conversant in lines and

figures138.

Sie findet sich z. B. in der Art, das Essen anzurichten und ist ganz allgemein der Maßstab der Schönheit. Die veränderte satirische Situation läßt sich am besten an dem Bericht über die Kleideranmessung erweisen, die hier entgegen der stofflich gleichen, aber frei komischen Erzählung in Lilliput hoffnungslos und bitter klingt. He first took my altitude by a quadrant, and then with a rule and compasses, described the dimensions and outlines of my whole body, all which he entered upon paper, and in six days brought my clothes veryill made, and quite out of shape, by happening to mistake a figure in the calculation. But my comfort was, that I ober6erved such accidents very frequent, and little regarded 1 3 9 . Die überfeinerten Berechnungen der Architekten, die die praktische Geometrie verachten, bestimmen das Stadtbild, das den Geist seiner Bewohner ebenfalls höchst anschaulich wiedergibt. Their houses are very ill-built, the walls bevil, without one right angle in any appartment. . . 1 4 0 Entscheidend für die Härte der Satire in diesem Buch ist die Beurteilung Gullivers durch die Bewohner des Landes. Entgegen Lilliput, wo man Gullivers Überlegenheit bis zu einem gewissen Grade anerkannte, verschärft sich hier die Satire durch das völlige Insichbef an gensein der Laputaner: Gulliver wird dem Pöbel gleichgeachtet, der dem eigentlich menschlich Wertvollen fernsteht. . . . I made signs, as well as I could, that I had no occasion for such an instrument (the flapper); which, as I afterwards found, gave His Majesty and the whole court a very mean opinion of my understanding 141 . Wie das erste Buch erhält auch das dritte einen Teil seiner satirischen Wirkung durch die politisch-allegorische Bedeutung, die dem Verhältnis der fliegenden Insel zu Balnibarbi innewohnt, in deren gegenseitigen Feindseligkeiten Swift den Kampf Englands gegen Irland in ausführ138 139 140 141

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Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII.

168. 166 f. 168. 165.

licher Anschaulichkeit abgebildet h a t 1 4 2 . Die satirische W i r k u n g dieser Allegorie r u h t in der vereinfachenden Konkretisierung, die den Kampf u m die gut oder schlecht f u n k t i o n i e r e n d e K r a f t des magnetischen Inselk e r n s u n d die Widerstandsfähigkeit des „ a d a m a n t i n e b o t t o m " zentriert. Hinzu k o m m t die besondere Lage der feindseligen Mächte zueinander, die die ganze Grausamkeit u n d Ungerechtigkeit der Kriegsmethoden Laputas zeigt, der sich die Klugheit u n d Vorsicht B a l n i b a r b i s gegenüberstellt. . . . his Majesty c o m m a n d e d all the i n h a b i t a n t s of t h e island to cast great stones f r o m the lower gallery into the t o w n ; but t h e citizens h a d provided against this mischief by conveying t h e i r persons and effects into t h e four towers, and other strong buildings, and vaults u n d e r g r o u n d 1 4 3 . Nach seinem A u f e n t h a l t in L a p u t a f a ß t Gulliver zum ersten Mal das satirische Ergebnis durch seine neue persönliche Stellungnahme zusammen: . . . I was very desirous to leave it, being people144.

heartily

weary

of

those

In B a l n i b a r b i ist die Satire zunächst wenig verändert. Die Menschen h a b e n ein von den L a p u t a n e r n k a u m unterschiedenes Aussehen, n u r d a ß hier m e h r die sozialen Nöte hervortreten, die aus der falschen Vernunftbetätigung k o m m e n . T h e people in t h e streets walked fast, looked wild, t h e i r eyes fixed, and were generally in rags 1 4 5 . E i n e die Verhältnisse in L a p u t a ergänzende Darstellung des Ackerbaues u n d der Viehzucht in B a l n i b a r b i betont die A r m u t u n d die Not. Beide Betätigungen sind dem wilden Spekulationstrieb zum O p f e r gefallen. . . . I never knew a soil so u n h a p p i l y cultivated, houses so ill contrived and 60 ruinous, or a people whose countenances and h a b i t expressed so m u c h misery a n d w a n t 1 4 6 . Wieder benutzt hier Swift sein Kunstmittel des utopischen Kontrastes u n d stellt in der Persönlichkeit Munodis u n d in dem überzeugenden Gelingen seiner landwirtschaftlichen B e m ü h u n g e n die Folie zu „those defects, which folly and beggary h a d produced in o t h e r s 1 4 7 " dar. Munodi h a t alle Eigenschaften, die den L a p u t a n e r n wie B a l n i b a r b i s B e w o h n e r n a b g e h e n : Interesse, Bildung u n d common sense. Die W i d e r s p r ü c h e in der Beurteilung des m i t M u n o d i b e f r e u n d e t e n L a p u t a n e r s d u r c h seine Landsleute u n d durch Gulliver m a c h t gleichzeitig die hoffnungslose Unüberb r ü c k b a r k e i t der empirischen u n d utopischen Welt deutlich. 142 143 144 145 146 14T

Firth a. a. O. Works VIII, Works VIII. Works VIII. Works VIII, Works VIII,

S. 256 f. 178. 180. 182. 182. 183.

He was universally reckoned the most ignorant and stupid person among them 1 4 8 . He listened to me with great attention, and made very wise observations on all I spoke 1 4 9 . In den Projekten der Akademie Lagado erreicht die Satire Laputas und Balnibarbis ihre größte Konzentration. Immer neu stellt Swift in ihnen beispielhaft anschaulich die Unsinnigkeit und Verkehrtheit, deren das menschliche Denken fähig ist, heraus. Die Angleichung Gullivers an die Perspektive der Laputaner, die nur noch ganz flüchtig verwandt wird, da der urteilsüberlegene Gulliver die Sinnlosigkeit in ihrem Verhalten mehr und mehr realisiert, zeigt die Urteile und Maßstäbe, die diese Welt beherrschen, wenn von den „most ingenious architects 1 5 0 " oder von „this wonderful machine 1 5 1 " gesprochen wird. Die satirische Form der Projekte besteht in der handgreiflichen Verkehrung der Absichten und Gesetze der Natur in ihr Gegenteil, wodurch die völlige Absurdität, zuweilen durch sehr bitteren Witz unterstrichen, unmittelbar anschaulich wird: The artist himself was at that time busy upon two great designs; the first, to sow land with chaff, wherein he affirmed the true seminal virtue to be contained, as he demonstrated by several experiments which I was not skilful enough to comprehend. The other was, by a certain composition of gums, minerals, and vegetables outwardly applied, to prevent the growth of wool upon two young lambs . . . 1 5 2 . Die aus dem politischen oder philosophischen Denken stammenden Projekte haben die gleiche satirische Form. Die Schärfe der Satire in diesen Projekten schwankt. Es findet sich hier zuerst die vor keinen Widerwärtigkeiten zurückschreckende Darstellung, daneben zeigt sich scharf pointierter Witz, wie z. B. bei dem Parteien-Projekt, und eo gibt sogar eine Auflichtung des Ganzen durch die allerdings noch einmal wahrhaft komische Darstellung der Sprachverbesserer. Swift nimmt hier seinen Kampf gegen die Sprachverkürzung auf. Die Auffassung, daß die Worte nur „names for things 1 5 3 " sind, führt zu der Darlegung eines Projektes, sich fortan nur der Dinge selbst anstelle der Worte zu bedienen, „and this was urged as a great advantage in point of health as well as brevity 1 5 4 ". Die Konsequenzen hieraus stellt Swift in einer Szene dar, die die des Spinettspieles in Brobdingnag noch an Plastizität übertrifft und die durch ihre umständliche Genauigkeit von vollendeter Komik ist. 148 149 150 151 153 153 164

40

Works Works Works Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII,

180. 181. 187. 192. 189. 193. 192.

I have often beheld two of those sages almost sinking under the weight of their packs, like pedlars among us; who, when they met in the streets, would lay down their loads, open their sacks, and hold conversation for an hour together; then put up their implements, help each other to resume their burthens, and take their leave 1 5 5 . Dies bleibt nur kurze Episode. Gerade der Gegensatz zwischen der Erfinderleidenschaft der Akademiker von Lagado und der wahrhaften Beschaffenheit dieses armen unglückseligen Landes steigert die Satire wieder, da sich darin die ganze verhängnisvolle Neigung des Menschen ausprägt, sich an vorgefaßte Ideen zu klammern und an ihnen die vernünftigen Kräfte zu vergeuden. . . . in the mean time, the whole country lies miserably waste, the houses in ruins, and the people without food or clothes. By all which, instead of being discouraged, they are fifty times more violently bent upon prosecuting their schemes, driven equally on by hope and despair . . . 1 5 6 Den Höhepunkt erreicht die Satire in Lagado bei der Darstellung utopischer Pläne. Die kritische Schilderung des einzig vernunftgemäßen Projekts verkehrt das Gute in das an sich Sinnlose. Daß das reine Ideal selbst auf die Stufe des Sinnlosen gestellt wird, zeigt den ganz absoluten Pessimismus der Swiftschen Satire, der sich im vierten Buch vollendet. In der durch scharfe Akzente erregten Sprache malt sich der leidende Zorn dieses Pessimismus und zeigt, wie sich die ganze Kraft der Satire in der allgemeinen Gültigkeit der Erkenntnis sammelt. These unhappy people were proposing schemes for persuading monarchs to choose favourites upon the score of their wisdom, capacity, and virtue; of teaching ministers to consult the public good . . . with many other wild impossible chimaeras, that never entered before into the heart of man to conceive, and confirmed in me the old observation, that there is nothing so extravagant and irrational which some philosophers have not maintained for truth 1 5 7 . Die Insel der Zauberer beweist, daß die Satire des dritten Buches eine durchgehende Steigerung zu der ganz allgemeinen Satire der menschlichen Vernunft ist, wobei das Phantastische immer mehr zum äußeren Rahmen wird, dessen Grauenhaftigkeit die Atmosphäre der Satire schafft. . . . we all three entered. the gate of the palace between two rows of guards, armed and dressed after a very antic manner, and something in their countenances that made my flesh creep with a horror I can not express 1 5 8 . In Glubbdubdrib nimmt Swift in ganz großartiger Weise sein altes Kunstmittel wieder auf, die Ironie au6 dem Kontrast utopischer und empirisch-menschlicher Wirklichkeit zu gestalten. In einem Toten168 167 168

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VIII, VIII, VIII. VIII.

193. 184. 195. 203.

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gespräch stellt sich die ideale Welt der Antike dar, vor deren Richterstuhl der moderne Mensch verurteilt wird, der nicht mehr fähig ist, ihre Ideengröße zu fassen und sie in der Geschichte wie in der Philosophie nur verfälscht hat. Wie immer bei Swift gibt die Politik ein besonders aufschlußreiches Bild des menschlichen Wesens überhaupt. Sie begründet das vernichtende Urteil, das der Kontrast der neuen Geschichte zur alten unmittelbar in den Persönlichkeiten heraustreten läßt. I desired that the senate of Rome might appear before me in one large chamber, and a modern representative in counterview to another. The first seemed to be an assembly of heroes and demigods; the other a knot of pedlars, pickpockets, highway-men, and bullies 1 5 9 . In dieser Berührung mit der Unterwelt ist der erste große Schritt zur Desillu8ionierung Gullivers getan. Die Satire bekommt gegenüber den ersten Reisen um so tiefere Bedeutung, als der Mensch selbst die Maske erkennen lernt, die das wahre Sein und die wirkliche Verderbtheit mit dem Schein des Guten und Edlen bedeckt. . . . I found how the world had been misled by prostitute writers, to ascribe the greatest exploits in war to cowards, the wisest council to fools, sincerity to flatterers, Roman virtue to betrayers of their own country, piety to atheists, chastity to sodomites, truth to informers 1 6 0 . Das Große und Wahre wird von Gulliver als das jeder empirischen modernen Welt gänzlich unnahbare Ideal, als reines Utopia erkannt, wie es sein abschließendes Urteil zusammenfaßt. . . . Brutus . . . Junius, Socrates, Epaminondas, Cato the younger, Sir Thomas More, . . . were perpetually together: a sextumvirate to which all the ages of the world cannot add a seventh 1 6 1 . Luggnag nimmt in der zeremonialen Allegorie des königlichen Hofes noch einmal wieder direkte politische Satire auf und schildert Laune, Gewalt und Unsicherheit des königlichen Machtbereiches. Gullivers Verhalten zeigt beispielhaft die aus seiner Erfahrung gewonnene Abwehr. But I thought it more consistent with prudence and justice to pass the remainder of my days with my family 1 6 2 . Die Darstellung des Menschlichen vollendet sich auf der Insel der Unsterblichen. Der letzte begeisterte Ausbruch Gullivers über die Freuden und Glückseligkeiten der Unsterblichkeit offenbart noch einmal seine ganze Begeisterung für alles Große und Schöne und seinen Glauben an menschliche Werte, obgleich er schon pessimistisch befürchtet, daß . . . the virtue of those reverend 6ages was too strict for the corrupt and libertine manners of a court 1 6 3 . 159 160 181 162 163

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VIII, VIII, VIII, VIII. VIII.

205. 208. 205. 215. 217.

Die Illusion zerreißt durch die Berichtigung einiger weniger Fehler, . . . which I had fallen into through the common imbecility of human nature164. Die Unsterblichkeit bedeutet die Erhaltung der Quintessenz menschlichen Wesens, also die vollkommene Enthüllung aller Schwächen und Laster und der wahren Gestalt des einzigen vernunftbegabten Geschöpfs. When they came to fourscore years . . . they had not only all the follies and infirmities of other old men, but many more which arose from the dreadful prospect of never dying 1 6 5 . Die Satire des vierten Buches bereitet sich hier vor. Der Mensch wird dem Menschen verächtlich und sein Anblick wahrhaft geeignet . . . to arm our people against the fear of d e a t h 1 6 6 . They are despised and hated by all sorts of p e o p l e 1 6 7 . Die durchgehende Steigerung der Satire, zugleich die Desillusionierung Gullivers, beides zum vierten Buch hinführend, läßt sich noch einmal an den Urteilen Gullivers über jede Insel zusammenzufassen: On the other side, after having seen all the curiosities of the island, I was heartily desirous to leave it, being heartily weary of those p e o p l e 1 6 8 . As every person called up made exactly the same appearance he had done in the world, it gave me melancholy reflections to observe how much the race of human kind was degenerated among us . . . 1 6 9 . They were the most mortifying sight I ever beheld, and the women more horrible than the men. . . . I grew heartily ashamed of the pleasing visions I had formed, and thought no tyrant could invent a death into which I would not run with pleasure from such a l i f e 1 7 0 . Im vierten Teil vollendet sich die Satire, indem sich die Verneinung des Menschen aus der Perspektive der weisen Pferde zusammenschließt mit der Anerkennung dieses Urteils durch Gulliver, der damit seine Erziehung vollendet. Wie in Brobdingnag, ist auch im Land der Houyhnhnms die Unterlegenheit Gullivers das Anfangsthema, auf dem die Satire aufbaut. Dadurch läßt eich aus einer gewissen Parallelität des Houyhnhnms-Landes zu Brobdingnag, die die Unterschiede besonders stark heraustreten läßt, die Vollendung der Satire als Endpunkt einer großen Steigerung darstellen. Die Überlegenheit der weisen Pferde ist solcher Art, daß sie dem Menschen, der für sie der untersten Stufe des Tierischen angehört, so fern und nur mit dem gelegentlichen Gefühl des Abscheus gegenüberstehen und 164 165 166 167 168 168 1T0

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VIII, VIII. VIII. VIII, VIII. VIII, VIII.

220. 221. 223. 222. 180. 211. 223. 43

daß diese Überlegenheit ein für sie durchaus natürliches, ganz unreflektiertes Gefühl ist. Es ergeben sich aus ihrer Haltung keine komischen, aber für die weisen Pferde selbst auch keine satirischen Wirkungen mehr, da ihnen nicht, wie dem König von Brobdingnag, ein verzerrtes eigenes Bild im Menschen entgegentritt. In der vollen Objektivität reiner Vernunft, gefühlsmäßig unbeteiligt, verkünden sie ihr Urteil über die Menschen. Mit dieser absoluten satirischen Entwürdigung verbindet sich die Realisierung der grauenhaften Wahrheit durch Gulliver, der die letzte relative Perspektive als absolut anerkennt. Dadurch intensiviert sich die Gefühlsbeteiligung Gullivers, der jetzt, als Objekt der Satire, zugleich ihre Idee realisiert, zu solchem Stärkegrad, daß sie sich schließlich nur noch im Haß gegen das physische Sein des Menschen als solches äußern kann. Diese letzte Stufe der Swiftschen Satire enthält die Auflehnung eines Menschen gegen die Fesseln seiner Menschlichkeit aus einer Überlegenheit heraus, die darum kämpft, das Postulat der reinen Vernunft als höchstes Gut gegen die durch physische Grenzen und durch Leidenschaften bestimmte Wirklichkeit zu setzen, und darin zu den letzten Möglichkeiten der Satire vordringt. Für die gedankliche Absicht dieser Reise, die in dem absoluten Ergebnis und in der Tiefe der Begründung dieses Ergebnisses sich von den anderen scheidet, hat Swift eine Form fabelhafter Einkleidung benutzt, die dieser Trennung in sich Ausdruck verleiht. Nur in der völligen äußeren Ablösung von allem Menschlichen konnte Swift das letzte absolute Reich zeichnen. Wie einzig genial diese Form für den Ausdruck des Vernunftund Naturbegriffs ist, den Swift in dieser letzten Instanz von den Pferden vertreten läßt, kann sich erst aus der genauen Analyse dieser utopischen Welt und ihrer Voraussetzungen ergeben. Der Aufbau des vierten Buches beruht ausschließlich auf der Gegenüberstellung der utopischen Welt und der menschlichen, die vertreten wird von den Europäern in Gullivers Bericht, von den Yahoos, in denen Swift die von der Vernunft gelösten Instinkte und Triebe allegorisch konkretisiert, und von Gulliver selbst, dem einzigen, der sich in der Wandlung seines Urteils als rationis capax zeigt. Swift beginnt mit der Gegenüberstellung der physiognomischen Charakteristik von Yahoo und Houyhnhnm, deren erzählerische Momente kaum noch von Komik und Witz, sondern vom Seltsamen und abstoßend oder anziehend Spannenden erfüllt sind. In der Schilderung der Yahoos, denen Gulliver zuerst begegnet, bricht sofort der ganze Haß der Satire heraus, die die über alles Tierische hinaus widerwärtige Gestalt dieser Wesen in allen Einzelheiten beschreibt und sogleich das Thema des „animal" voll durchführt. The ugly monster, when he saw me, distorted several ways every feature 44

of his visage, and stared as at an object he had never seen before; then approaching nearer, lifted up his fore-paw .. , 171 . Das Aussehen dieser Tiere wird an Widerwärtigkeit noch von dem Benehmen überboten: When the beast felt the smart, he drew back, and roared so loud, that a herd of at least forty came flocking about me from the next field, howling and making odious faces; . . . Several of this cursed brood getting hold of the branches behind, leapt up into the tree, from whence they began to discharge their excrements on my head; however, I escaped pretty well, by sticking close to the stem of the tree, but was almost stifled with the filth, which fell about me on every side 172 . In utopischer Reinheit und Abgeklärtheit erscheinen dagegen die Pferde: . . . looking with a very mild aspect, never offering the least violence173. Auch untereinander verhalten sie sich zuvorkommend und höflich 174 . In dieser wunderbaren Begegnung wird das Erstaunen der Pferde über Gulliver noch einmal mit ganz leicht witzigen Bemerkungen aufgefangen, ebenso wie Gulliver aus der Pferdeperspektive gesehen, noch einmal in harmloseren Zügen leicht komisch wird. They were under great perplexity about my shoes and stockings, which they felt very often, neighing to each other, and using various gestures, not unlike those of a philosopher, when he would attempt to solve some new and difficult phenomenon 175 . Diese Milderung der satirischen Schärfe bleibt ganz flüchtig. Durch die Stellungnahme Gullivers, der die unüberwindbare Trennung zwischen den fremden Wesen dieses Landes aus instinktiv spontanem Eindruck vollzieht, beginnt vielmehr die Satire ihrem eigentlichen Ziel entgegenzugehen. Gulliver wendet sich angewidert von den Yahoos ab: . . . I never beheld in all my travels so disagreeable an animal, nor one against which I naturally conceived 6o strong an antipathy 176 . Er steht dagegen in ehrfürchtigem Staunen vor der Anmut und Harmonie der Pferde: I was amazed to see such actions and behaviour in brute beasts, and concluded with myself, that if the inhabitants of this country were endued with a proportionable degree of reason, they must needs be the wisest people upon earth 177 . Die nächste Stufe der Satire wird sehr bald erreicht, als Gulliver in den von den Pferden als Arbeitstiere gehaltenen Yahoos menschliche Wesen 171

Works VIII. 232. " 2 Works VIII. 232. " 3 Works VIII. 233. 1T4 Vgl. Xhe behaviour of the young colt and foal appeared very modest, and that of the master and mistress extremely cheerful and complaisant to their guest. (S. 239) 176 Works VIII. 234. » « Works VIII, 232. 177 Works VIII. 233.

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erkennt und ihnen mit bewußter Ablehnung und gesteigertem Abscheu gegenübertritt. My horror and astonishment are not to be described, when I observed, in this abominable animal, a perfect human figure . . . 1 7 8 . In allen Lebensverhältnissen, in allem Schmutz und aller Gier, die ihnen eigen ist, werden die Yahoos Gulliver bekannt. Die friedlich-heiteren Lebensgewohnheiten der Pferde treten dagegen um so reiner heraus. Die Spanne zwischen seiner angeborenen Menschenfreundlichkeit und der durch nichts zu überwindenden Beweiskraft der Verwerflichkeit menschlichen Wesens wird von Gulliver selbst empfunden: . . . as to those filthy Yahoos, although there were few greater lovers of mankind, at that time, than myself, yet I confess I never saw any sensitive being so detestable on all accounts . . . 1 7 9 . Die wenigen erheiternden Züge, die in der Betrachtung der Pferde über Gulliver, etwa über seine Kleidung und insbesondere seine Handschuhe liegen, werden erdrückt von der allmählich sich gegen Gulliver selbst wendenden Schärfe der Satire. Das Erstaunen der Tiere, „that a brute animal should discover such marks of a rational creature 180 ", und ihre Verwunderung über die Sprache dieses yahooähnlichen Geschöpfes, klärt 6ich in der Entdeckung von Gullivers Kleidergeheimnis: er ist ein vollkommener, nur durch einen winzigen Anteil Vernunft zivilisierter Yahoo. Die von vornherein entschiedene Übereinstimmung Gullivers mit den Houyhnhnms in der Abneigung gegen die Yahoos, schafft Gulliver selbst keine Überlegenheit mehr. Seine Einsicht ist nur das Zeichen seiner wirklichen Unterlegenheit. I had hitherto concealed the secret of my dre6s, in order to distinguish myself, as much as possible, from that cursed race of Yahoos . . . 1 8 1 . I expressed my uneasiness at hi6 giving me so often the appellation of Yahoo, an odious animal, for which I had so utter a hatred and contempt 182 . Die beginnende Auseinandersetzung zwischen Utopie und Wirklichkeit ist zunächst wie in Brobdingnag Satire gegen Gullivers physische Beschaffenheit, die nicht ganz ohne eine witzige Entgegensetzung der menschlichen und der Pferde-Perspektive zu nutzen, durchgeführt wird. He then began to find fault with other parts of my body, the flatness of my face, the prominence of my nose, my eyes placed directly in front, so that I could not look on either side without turning my head: that I Works VIII. 238. Works VIII. 239. 1 8 0 Works VIII, 242. Vgl. The report spread of a wonderful Yahoo, that could speak like a Houyhnhnm, and seemed in his words and actions to discover some glimmerings of reason. S. 244. 1 8 1 Works VIII. 244. 1 8 2 Works VIII, 245. 178

179

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was not able to feed myself, without lifting one of my fore-feet to my mouth . . . 1 8 3 . Diese harmloseren Gegensätze der verschiedenen Perspektiven dämpfen gelegentlich den satirischen Haß. So, wenn die große Einfachheit der Pferde Gulliver zu einer wahrhaft bescheidenen Beköstigung zwingt und er das Salz als Luxusartikel der Verwöhnung zu betrachten lernt. Sehr kunstvoll führt Swift die Fremdheit der Tiere allen europäischen Dingen gegenüber durch. Die Pferde hören z. B. sehr verwundert Gullivers Bericht über Schiffe an. Der Gedanke an sie bleibt ihnen aber fremd, denn sie befehlen ihm schließlich: . . . to swim back to the place from whence I came 1 8 4 . Auf der völligen Verständnislosigkeit, die das wirkliche Vernunftgeschöpf dem Treiben der Menschen entgegenbringt, gründet sich auch die satirische Voraussetzung des Berichtes, den Gulliver allmählich von seinem Land zu geben beginnt. Dieser Bericht Gullivers über das Leben seiner englischen Artgenossen und darüber hinaus über „the whole state of E u r o p e 1 8 5 " enthüllt in direkter Darstellung alle Schäden der Wirklichkeit, die der Mensch geschaffen hat und die sein wahres Wesen widerspiegeln. Gulliver deckt die Gemeinheit der Grundsätze auf, nach denen der Mensch wirklich handelt. Diese Erzählung über die letzten Grundlagen der Gesellschaft und ihre typischen Vertreter offenbart die volle Einsicht Gullivers, die er vom menschlichen Leben gewonnen hat. Mit ganz sachlicher Ruhe und in klassisch konzentrierter Form berichtet er, zuweilen mit der Anschaulichkeit grimmig-witziger Einzelzüge: . . . in order to feed the luxury and intemperance of the males, and the vanity of the females, we sent away the greatest part of our necessary things to other countries, from whence in return we brought the materials of diseases, folly, and vice, to spend among ourselves 1 8 6 . Die gehämmerte Antitlietik des epigrammatischen Stils führt zu letzter satirischer Intensität in Gullivers Bericht über den Krieg: Sometimes a war is entered upon, because the enemy is too strong, and sometimes because he is too weak 1 8 7 . Rein mimisch spiegelt das Verhalten des sonst so gleichmäßig ruhigen Pferdes sein Entsetzen über die Fülle der Laster und Verbrechen: . . . he would lift up his eyes with amazement and indignation 1 8 8 . Durch die Einwände des Pferdes, daß Gullivers Bericht unmöglich sei, Works V I I I . 250. Works VIII, 290. Nur das graue Pferd spricht von einem „vehicle resembling those I described to him". S. 291. 1 8 5 Works V I I I . 253. 1 8 0 Works V I I I , 263. 1 8 T Works V I I I . 254. 188 Works VIII, 252. Vgl. . . . he found it gave him a disturbance in his mind, to which he was wholly a stranger before. (S. 256) 183

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steigert Swift die Satire — wie in Brobdingnag — im Kontrast der Ansichten. I could not forbear shaking my head, and smiling a little at his ignorance 1 8 9 . In diesen Unterredungen erweist sich der Fortschritt der Satire durch den absoluten Gegensatz, in dem die Überlegenheit des weisen Pferdes zu der des Königs von Brobdingnag steht, der gerade aus der Kenntnis des menschlichen Wesens völlig illusionslos seine Fragen stellte, die der naiven Gläubigkeit Gullivers wissend gegenüberstanden. Das Pferd in seiner reinen Verkörperung der Vernunft ist dem Menschlichen so fern, daß seine aus der sittlichen Vollkommenheit gestellten Fragen durch die gänzliche Unfähigkeit entstehen, das absolut Böse auch nur in der Vorstellung zu realisieren. Da6 von Gulliver Dargestellte wird in seiner Unvernünftigkeit und Unnatürlichkeit zur untersten Stufe möglicher Verzerrung und der Ilouyhnhnm faßt dies dahin zusammen, daß der geringe, den Menschen zugefallene Anteil der Vernunft nur der Helfer seiner schlechten Instinkte sei, und ihn über die von der Natur gesetzten Grenzen hinaustreibe 1 9 0 . Gullivers Rechtfertigung für seinen rückhaltlosen Bericht, von dem er dazu wie in Brobdingnag sagt, daß seine eigene Befangenheit ihn ein günstigeres Bild entwerfen lasse, enthält den Endpunkt seiner Erziehung und darin den Gipfelpunkt der Satire, der besonders deutlich wird, wenn man erinnert, wie Gulliver Brobdingnag verließ. . . . I must freely confess, that the many virtues of those excellent quadrupeds placed in opposite view to human corruptions, had so far opened my eyes and enlarged my understanding, that I began to view the actions and passions of man in a very different light, and to think the honour of my own kind not worth managing . . . 1 9 1 . Seine Wahrheitsliebe hat seine Menschenfreundlichkeit besiegt: . . . truth appeared so amiable to me, that I determined upon sacrificing every thing to i t 1 9 2 . Im Bericht des grauen Pferdes über die Yahoos, in deren Art er völlige Ähnlichkeit mit den Menschen erkannt hat, übersetzt Swift die Charakteräußerung der zivilisiert „vernünftigen" Art in die Primitivität des reinen Triebes, der in unverhüllter Gier hervortritt. Innerhalb paralleler Vorgänge steigert sich die Satire durch den Vergleich beider Arten, da der europäische Mensch sich als das noch naturentferntere Wesen erweist. . . . if a cow died . . . those in the neighbourhood would come in herds to seize it, and then would ensue such a battle as I had described, with terrible wounds made by their claws on both sides, although they seldom 189 190 191 192

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Works Works Works Works

VIII. VIII. VIII, VIII.

255. 270. 269. 269.

Were able to kill one another, for want of such convenient instruments of death as we had invented 1 9 3 . In Gullivers Erlebnissen im Lande intensiviert sich der Abscheu vor den Yahoos. In der haßvollsten Satire zeigt Swift sie in ihrem widerwärtigen Verhalten gegen Gulliver und nimmt ihm dabei jeglichen Rest von Überlegenheit, indem er seine Verwandtschaft zu ihnen durch die „natural propensity" der Yahoo-Frau für ihn zeigt 1 9 4 . Die Verzweiflung Gullivers, an diese Wesen gebunden zu sein, verwandelt sich in Haß und Ekel gegen ihr physisches Sein, wenn Gulliver sich überwindet, eins der „odious vermin" anzufassen 1 9 5 . I observed the young animal's flesh to smell very rank, and the stink was somewhat between a weasel and a fox, but much more disagreeable 1 9 6 . Ausführlicher als in jeder anderen Reise hat Swift hier die Entwicklung der Satire auf den Kontrast zum Ideal aufgebaut. Das absolut vernunftgemäße, den Gesetzen der Natur entsprechende Wesen der weisen Pferde vollendet Gullivers Einsicht in den wahren Sinn des Lebens, zugleich aber auch den unabänderlichen Pessimismus der Satire, der den Yahoo als „the most unteachable of all animals 1 9 7 " für immer als das diesem Ideal fernste Wesen verurteilt. Gulliver, der in seiner äußersten Bescheidenheit und Zurückhaltung den Houyhnhnms gegenüber ihr Urteil anerkennt, wendet sich gegen sich selbst. . . . I turned away my face in horror and detestation of myself . . - 1 9 8 Obgleich Gulliver der Erkenntnis des Wahren in den Pferden fähig war, bestätigt das Urteil der Tiere über ihn, wie weit auch er noch von dem eigentlichen Ideal entfernt ist. . . . he found I had cured myself of some bad habits and dispositions, by endeavouring, as far as my inferior nature was capable, to imitate the Houyhnhnms 1 ". Die höchste Steigerung der Satire liegt in der Qual Gullivers, dieses Land verlassen zu müssen, da kein Iiouyhnhnm mit einem Yahoo länger verkehren darf. Die übrigen sollen durch Kastration ausgerottet und durch Esel ersetzt werden. Rein erzählerisch zeigt Swift nochmals in Gullivers Reisevorbereitungen, daß er den Standpunkt der Pferde über den Wert seiner eigenen Rasse völlig teilt. Works Works « s Works 1 9 6 Works 1 9 7 Works 1 9 » Works 1 9 9 Works 193

VIII. VIII. VIII. VIII. VIII, VIII, VIII,

271. Vgl. ferner 275. 278. 277. 277. 277. 289 f. 291.

. . . I finished a sort of Indian canoe, but much larger, covering it with the skins of Yahoos well stitched together 2 0 0 . . . . stopping all the chinks with Yahoos' tallow . . . 2 0 1 . In der Abschiedszene drückt sich zum letzten Male der tiefe Widerspruch aus, der in der selbstgesetzten Würde, dem „pride" des Menschen liegt, zugleich noch einmal Beispiel für das gleichzeitige Beteiligt* und Überlegensein Gullivers. . . . as I was going to prostrate myself to kiss his hoof, he did me the honour to raise it gently to my mouth. I am not ignorant how much I have been censured for mentioning this last particular. For my detractors are pleased to think it improbable that so illustrious a person should descend to give so great a mark of distinction to a creature so inferior as 1202. Die breit ausgeführte Schilderung der Heimkehr Gullivers entwickelt die unerschütterliche Sicherheit seiner im Houyhnhnms-Lande gewonnenen Überzeugung. Die Satire liegt unmittelbar im Bericht, den Gulliver gibt. Als er den Menschen wieder begegnet, zittert er vor Haß und Furcht und ist „ready to faint at the smell 2 0 3 ". Es dauert sehr lange, bis er dem Kapitän des Schiffes gegenüber seine Scheu überwindet. . . . at last I descended to treat him like an animal which had some little portion of reason 2 0 4 . In der Heimat zieht er sich von allen, auch von seiner Familie, angewidert zurück und betritt die Straße nur, die Nase „well stopped with r u e 2 0 5 " . Zwei Pferde sind ihm Erinnerung und Tro6t. Der seinen Erlebnissen vorangestellte Brief an seinen Vetter besiegelt noch einmal die Tiefe und Endgültigkeit seines Pessimismus. Pray bring to your mind how often I desired you to consider, when you insisted on the motive of public good; that the Yahoos were a species of animals utterly incapable of amendment by precepts or examples: and so it has proved . . . 2 0 6 . . . . I have now done with all such visionary schemes for ever 2 0 7 .

•-w« Works Works 2 0 2 Works 2 0 3 Works 2 0 4 Works 2 0 6 Works 2 0 6 Works 2 0 1 Works 201

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VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII,

292. 293. 293. 298. 298. 307. 6. 9.

2. D I E P H I L O S O P H I S C H E N G R U N D L A G E N SATIRE.

DER

Das am Aufbau der Satire charakterisierte Element der Relativierung ist nicht allein als für sich 6tehendes satirisches Formprinzip zu erklären. Es ist gleichzeitig der Ausdruck einer geistigen Haltung, für die im zeitgenössischen Denken Verwandtes gefunden werden kann und deren tieferer Sinn sich erst in der Verbindung zu allgemeinen philosophischen Gedanken deutlich machen läßt. Seit Galilei, Kepler und Descartes war die Erweiterung des Weltraums eine naturwissenschaftliche Erkenntnis und ein philosophisches Problem. Die Aufhebung der anthropozentrischen Betrachtung und die sich daraus ergebende Relativität des menschlichen Seins rückt im 17. Jahrhundert mehr und mehr in den Mittelpunkt des Denkens. Man ist weitgehend geneigt, ein Stufenreich der Geister anzunehmen, in dem der Mensch einen bestimmten, relativen Ort inne hat. Fontenelle hat in seinen Entretiens sur la pluralité des Mondes diese Gedanken popularisiert und weiten Einfluß ausgeübt. Cyrano eben hatte diese Ideen, übrigens nicht als erster, in der Form der tran6terrestrischen Reise zum Mond und zur Sonne ausgesprochen, in besonderer Anlehnung an die Philosophie Gassendis. Wir wollen Swifts Gulliver nicht an diese allgemeinen Voraussetzungen anschließen, obgleich er natürlich auch in dieser Reihe einen Platz beanspruchen darf, sondern wir wollen versuchen, zwischen der ganz originalen Form der anschaulichen Relativierung bei Swift und der Philosophie des englischen Empirismus die Verbindung herzustellen 208 . In den Ergebnissen des Empirismus, wie er von Locke entwickelt wurde, liegt in der Berufung auf die Erfahrung als einzigen Ursprung des Wissens von vornherein ein die Gültigkeit der menschlichen Erkenntniskraft relativierendes Moment. An den Begriffen Erfahrung und Gewohnheit wird diese Tendenz im Denken Lockee zu zeigen sein. Seine Philosophie bleibt für die ihr nachfolgende Zeit entscheidend. Den stärksten Ausdruck ihres Einflusses findet sie in der kritischen Fortbildung, die 3 0 8 Auch die Entdeckung der Linsen, besonders des Mikroskops hat eine Rolle in der Erkenntnis der Relativität gespielt. Vgl. dafür Hübener, Neophilologus 7, 41 ff.

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ihr bei Berkeley besonders in den Frühschriften zuteil wird. Die Theory of Vision und die Principles of Human Knowledge vollenden die Einsicht in die Bewußtseinsabhängigkeit des Erkenntnisobjekts, die in der ausdrücklichen Betonung des Unterschiedes der sekundären und primären Qualitäten in der modernen Philosophie besonders bei Locke vorbereitet wurde. Bei Berkeley stehen Subjekt und Objekt in einer unaufhebbaren Relation der Abhängigkeit, die die absolut objektiven Maßstäbe zunichte macht. Die Verwandtschaft der für Berkeley fundamentalen Züge seines Denkens zu der Relativierung der Größe, die Swift in der ersten und zweiten Reise seines Gulliver vornimmt, soll im folgenden zu zeigen versucht werden 2 0 9 . Der zweite Teil des Kapitels soll dann zeigen, wie Berkeley in der konsequenten Durchführung seiner empiristischen Gedanken zu einer Haltung der Mathematik und Naturwissenschaft gegenüber kommt, die der Swifts, wie sie besonders das dritte Buch zeigt, verwandt ist, vor allem da, wo der Primat der praktischen Vernunft gegen die spekulative verteidigt wird. Bei dem Verhältnis der ersten beiden Reisen zu Berkeleys Philosophie muß die Frage einer etwaigen Abhängigkeit Swifts von Berkeley unentschieden bleiben. Wir besitzen eine Äußerung Swifts über Berkeleys Alciphron, die die für Swift charakteristische Ablehnung des Theoretischen und Spekulativen zeigt 2 1 0 . Trotzdem scheint die Äußerung Gullivers: „philosophers are in the right when they tell us, that nothing is great or little otherwise than by comparison 2 1 1 " darauf hinzuweisen, daß Swift mit den Ergebnissen der Theory of Vision und der Principles of Human Knowledge bekannt war. Eddy spricht sich für die Wahrscheinlichkeit dieser Ansicht aus und bemerkt dazu: „Certainly Swift must have read the Theory of Vision, which if it did not suggest the sceptical view of man's greatness reflected in the satirical picture in Gulliver of man as a creature of six inches, six feet or seventy two feet, is at least such a significant anticipation in contemporary philosophy that we cannot afford to pass it b y 2 1 2 " . Ohne überzeugende Beweisgründe und unter Verkennung der Züge, die Berkeleys Philosophie mit dem Denken Swifts verbinden, behaupten dagegen Hone und Rossi, daß Swift die Theory of Vision und die Dialoge Hylas and Philonous, obgleich er sie in seiner Bibliothek hatte, nicht gelesen habe 2 1 3 . Hone und Rossis Bemerkung ist dagegen soweit beizustimmen, als sie betont, daß Swifts Urteil über Berkeley als einen „great philosopher" hauptsächlich aus der Einigkeit ihrer sittlichen Auf diese Beziehung hat zuerst Eddy verwiesen. A. a. 0 . S. 101 ff. Swift an Gay 4. May 1732: Pray how does Dr. Berkeley's book pas» amongst you? It is too speculative for me. Corr. IV, S. 295. 2 1 1 Works VIII, 89. 2 1 2 Eddy, a. a. O. S. 102. vgl. auch S. 164. 2 1 3 Hone and Rossi, Bishop Berkeley, S. 87. S.'\e schließen es aus der Tatsache, daß die Bücher keine Randbemerkungen Swifts haben. 209

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Überzeugungen und ihrer gemeinsamen Kampfstellung gegen Skeptizismus und Atheismus entstanden ist. Swifts herzliche Freundschaft zu Berkeley ruhte sicherlich vor allem in der Achtung vor dem Charakter und der harmonischen Persönlichkeit Berkeleys, was seinen Äußerungen über ihn eine für Swift selten gezeigte Wärme gibt. So, wenn er z. B. an Lord Carteret schreibt, „one of the first men in this kingdom for learning and virtue" 2 1 4 . Allgemein bleibt zur Haltung Swifts zur Philosophie zu bemerken, daß der Haß gegen die Scholastik, der seine Studienjahre im Trinity College in Dublin beherrschte, ihm als Haß gegen jede Philosophie blieb und sich seiner anlagemäßig begründeten Abneigung gegen theoretisches und naturwissenschaftliches Denken überhaupt verband, so daß es Swift notwendig versagt war, die Originalität in der Entwicklung der modernen Philosophie zu erkennen. Er sagt von den idealen Riesen: . . . as to ideas, entities, abstractions, and transcendentals, I could never drive the least conception into their heads 2 1 5 . Aus dem Ausgeführten ergibt sich, daß die Frage des Einflusses nicht entschieden werden kann. Es handelt sich nur um eine Frage der geistigen Verwandtschaft, die aufzuzeigen notwendig ist für die Bestimmung des geistesgeschichtlichen Ortes, den Swifts Satire einnimmt. Die von Locke in die Philosophie eingeführte Methode, allein durch die psychologische Analyse des Erkenntnisvorganges Gültigkeit, Art und Grenze unseres Wissens festzustellen, hat zur Hauptvoraussetzung, daß sich alles Erfahrbare nur in der Beschäftigung mit der eigenen Vernunft und in der Zergliederung der psychischen Phänomene ergeben kann. Die Analyse des Bewußtseinsinhalts wird in der Frage nach dem Ursprung unserer Bewußtseinsvorstellungen begründet und ergibt, daß sich die Erfahrung aus dem Zusammenwirken der äußeren und der inneren Erfahrung, der „ideas of sensations" und „ideas of reflection", aufbaut. Damit tritt an die Stelle der a priori begründbaren notwendigen Erkenntnis eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, die in der konsequenten Verfolgung des empiristischen Gedankens bei völliger Passivität des Geistes den Aufbau einer objektiven Welt überhaupt unmöglich machen würde. Locke löst dieses Problem, indem er im Aufbau der Welt des objektiven Seins die Grenze des reinen Empfindungsinhalts 2 1 6 überCorr. III, 213. Works VIII, 140. — Von den wenigen Stellen, die sich im Gulliver auf die Philosophie beziehen, sind die besonders interessant, die eine Ablehnung mechanistischer Tendenzen enthalten. Wenn im Riesenreich Gullivers Existenz als „a piece of clock-work" gedeutet wird, kann das als ironische Aufnahme des cartesischen Gedanken vom Menschen als einer Maschine angesprochen werden (siehe Überweg, S. 241, u. Hübener a. a. O. S. 51). Interessanter ist die mögliche Deutung für das Projekt in Lagado, das der Verbesserung des spekulativen Wissens „by practical and mechanical Operations" dient (S. 190). Dennis (ebda.) bezieht die Satire auf Lully und Cornelius Agrippa. Es wäre auch möglich, darin eine Satire auf die epikuräische Atomtheorie zu 214

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schreitet und aus der inneren Erfahrung der Denknotwendigkeit von neuem die materiell-objektive Welt setzt, die allerdings erfahrungstranszendent ist. Innerhalb des Aufbaus der Erfahrung selbst aber kommt Locke an einer Stelle zu einer wichtigen, doch von ihm nicht konsequent verwerteten Erkenntnis über die Veränderung der reinen Sinneswahrnehmung durch Urteile des Verstandes. Locke sieht, was später Ausgangspunkt für Berkeley wurde, daß in der Perzeption als solcher bereits eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung stattfindet. Die rein sinnliche Wahrnehmung wird mit einem aus der Erfahrung durch Übung gewonnenen Urteil verbunden. Locke führt u. a. das Beispiel des Blindgeborenen an, der sehend geworden nach seiner und Molineux's Ansicht eine Kugel nicht von einem Würfel zu unterscheiden vermöge, da ihm die erfahrene Übereinstimmung zwischen Seheindruck und Tasteindruck fehlt. Locke sagt ausdrücklich dazu: „Ich habe dies mitgeteilt und meinem Leser vorgelegt, um ihm Gelegenheit zu bieten, zu erwägen, wieviel er der Erfahrung, Belehrung und erworbenen Kenntnissen auch da verdanken mag, wo er nicht den geringsten Nutzen oder Beistand von ihnen zu haben glaubt 2 1 7 ." So hat Locke ansatzweise die Bedeutung der Gewohnheit für den Prozeß des Erkenntnisaufbaus gesehen. Die Betonung ihrer Macht im Bereich der praktischen Grundsätze ist weit weniger original. Wie der Skeptizismus seit Montaigne betont auch Locke, daß die entscheidenden Faktoren in Erziehung, Gesellschaft und subjektiv bestimmtem Urteil liegen. Die unkritisch übernommenen Grundsätze und Anschauungen beherrschen das ganze menschliche Leben, da „die Gewohnheit eine größere Macht als die Natur selbst h a t " 2 1 8 . Berkeley nimmt das empiristische Wissensideal auf, gestaltet aber durch seine psychologischen Einzeluntersuchungen den Begriff der Erfahrung dadurch um, daß er dem Wissen des Bewußtseins die Aktivität des perzipierenden Geistes zugrunde legt. Er nimmt durch die Begründung der völligen existentialen Bewußtseinsabhängigkeit der Außenwelt, womit notwendig die körperliche Substanz beseitigt ist, dem Erfahrungswissen Lockes die skeptische Grenze und begründet ganz schroff seinfe empiristische These, die allein den Bewußtseinsinhalt zum Kriterium der Existenz macht. Aus diesen Voraussetzungen entwickelt sich dann die für sehen, wie sie Jordan an einer Stelle für Cyrano anzieht. Zwei Auffassungen standen gegeneinander. „Wenn man alle Buchstaben der Aeneide einzeln ausschnitte und durcheinanderwürfe, so wäre selbst bei unendlich vielen Würfen zweifellos, daß die Aeneide n i c h t herauskäme. Wogegen die Freunde der epikuräischen Lehre behaupteten, daß, wenn man beliebig viele Würfe zur Verfügung habe, sie einmal herauskommen müsse." Vgl. Jordan, Savinien de Cyrano de Bergerac's L'Autre Monde, S. 76. 2 1 8 Cassirer, Das Erkenntnisproblem I I , S. 192. 2 1 7 Vers. üb. d. menschl. Verstand II, 9, § 8, vgl. 5 9. 2 1 8 Ebda. I.. 3. § 25.

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Berkeley charakteristische und, wie zu zeigen sein wird, die Swift verwandte Relativität des menschlichen Wissens. Die Analyse des Wahrnehmungsaktes beim Sehen von Entfernung, Größe und Lage von Gegenständen ergibt, daß er sich aus der Gesichtswahrnehmung als solcher und einem auf Erfahrung gegründeten dazu tretenden Urteil zusammensetzt. Das, was wir zu sehen glauben, ist das Produkt der reinen Empfindung und eines assoziativ urteilenden Verhaltens. Die Idee 2 1 9 des Raumes, der Entfernung, der Größe wird durch die Gesichtsidee nur vermittelt, da diese dem Geist die entsprechende Tastidee, unterstüzt durch Sensationen von Pupillenbewegungen, suggeriert, aus deren Verbindung mit dem visuellen Eindruck der Farbigkeit, Helligkeit, Schwäche oder Undeutlichkeit sich erst die gedeutete, dreidimensionale Gegenstandswelt ergibt. Der z. B. bei der Wahrnehmung von Größe suggerierte Erfahrungsschluß von der visuellen Idee auf die Tastidee garantiert für Berkeley allein die konstante Größe des Gegenstandes, da die reine Sehwahrnehmung abhängig von dem Standpunkt des Sehenden ist 2 2 0 . Diese Verbindung von Seh- und Tastidee ist, wie Berkeley wieder und wieder betont, keine notwendige 2 2 1 , sondern nur eine durch Übung erworbene „habitual connexion". The judgment we make of the distance of an object is entirely the result of experience 2 2 2 . Und noch stärker die Bedeutung der beiden Begriffe betonend: . . . perception, abstracting from custom and experience, being equally fitted to produce the idea of great distance, or small distance, or no distance at all 2 2 3 . In dem eben charakterisierten Hinausgehen über die reine Sinneswahrnehmung liegt für Berkeley da6, was die Erfahrung ausmacht, und diese induktiv aus der Erfahrung erlernte Deutung des in der Sinneswahrnehmung gegebenen Zeichens ist an eben ihren Erfahrungsbereich wiederum gebunden 2 2 4 . Hier soll zunächst eingehalten werden, um zu zeigen, daß eine Stelle im Gulliver den bisher dargestellten Gedankengang der Berkeleyschen 2 1 8 Der Begriff der Idee umfaßt bei Berkeley nur die Vorstellungen der äußeren Erfahrung. 2 2 0 Th. o. V., § 55. Dabei ist zu beachten, daß zwar die Sehempfindung für die Größe des Objekts illusorisch ist, daß aber die Seheindrücke an sich bei allen Menschen in fester Beziehung stehen, da derselbe Winkel für alle dasselbe minimum visibile bestimmt. Commonplace Book 227. 2 2 1 Th. o. V., § 45. 2 2 2 Th. o. V., § 21. Vgl. § 62, § 104. 2 2 3 Th. o. V., § 26. 2 2 4 Berkeley formuliert diese Erkenntnis sehr p a r a d o x : Suppose inverting perspectives bound to ye eyes of a child; continu'd to the years of manhood —• when he looks up, or turns up his head, he shall behold w< we call u n d e r . Q u . what would he think of u p and d o w n ? Commonplace Book 286.

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Erfahrungephilosophie völlig analog ausdrückt. Am Ende des vierten Buches, als das Pferd Gulliver zum Bootbau an die Küste begleitet hat, und sie beide über das Meer sehen, auf dem Gulliver eine ferne Insel entdeckt, heißt es: I took out my pocket-glass, and could then clearly distinguish it (the island), about five leagues off, as I computed; but it appeared to the sorrel nag to be only a blue cloud; for, as he had no conception of any country beside his own, so he could not be as expert in distinguishing remote objects at sea as we who are so much converse in that element 2 2 5 . Swift hat damit auf vollendete Weise die völlige Andersheit des Pferdes und seine Fremdheit der Welt Gullivers gegenüber ausgedrückt. Das Pferd vermag die Gegenstände dieser Welt nicht zu erkennen, da es in den Erfahrungsbereich seiner eigenen Perzeptionen eingeschlossen ist. Zugleich zeigt diese Stelle, welche Bedeutung der Tatsache zukommt, daß sich die Erziehung Gullivers weitgehend durch Erfahrung bestimmt, derart, wie sie Gulliver anschaulich-sinnlich auf der ersten und zweiten Reise zuteil wird. Bevor wir aber auf die Parallelität der Berkeleyschen Theorie und der Relativierung der Größe in Lilliput und Brobdingnag, die in der gleichen Auffassung von „experience" und „custom" wurzelt, eingehen, seien zunächst noch die weiteren Voraussetzungen bei Berkeley dargestellt. Es ist die Aufgabe der philosophischen Untersuchung, die Rolle, die frühere Erfahrung im endgültigen Tatbestand der Erkenntnis spielt, bewußt zu machen, und dadurch auf die reinen Gegebenheiten zurückzugehen. Nur so kann die Reinheit des menschlichen Wissens bewahrt und vor der schädlichen Wirkung des Vorurteils und mangelnden Nachdenkens behütet werden 2 2 6 . Berkeley untersucht diese Gegebenheiten selbst noch weiter. Die bei der Theorie der Gesichtswahrnehmung aufgetretene „tangible idea" vermittelt dem Denken die Vorstellungen dessen, was Locke die primären Qualitäten genannt hatte, deren Ursachen für ihn die körperlichen Substanzen waren. Berkeley wendet dagegen ein, daß es kein Kriterium dafür gäbe, daß die primäre Qualität nicht genau so geistabhängig sei wie die sekundäre 2 2 7 , da jedes Hinausgehen über die sinnliche Wahrnehmung in sich unbegründet und nur ein Operieren mit leeren Worten sei. Die als unerkennbar gedachte Substanz enthält in ihrem Gedachtwerden nichts anderes als eben die Charakteristika der Idee. Das phänomenale Beieinander der Sinnesqualitäten in der Einheit der Vorstellung garantiert für Berkeley die Einheit des Objekts, da der kausalaktive Grund der passiven Ideen in dem unendlichen Geist, in Gott erkannt wird. Damit scheidet sich die Welt in das Reich der passiven Ideen und der aktiven Geister. Die Geistesabhängigkeit der objektiven Welt 226 2!W 227

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Works VIII, 292. Th.o.V., § 51. Commonplace Book, 20.

bedeutet, daß ihre Maßstäbe sowohl des Raumes wie der Zeit nicht in ihr, sondern in der sie perzipierenden geistigen Kraft liegen. . . . G r e a t and s m a l l , s w i f t and s l o w a r e a l l o w e d t o e x i s t n o w h e r e w i t h o u t t h e m i n d , being entirely r e l a t i v e and changing as the frame or position of the organs of sense varies 2 2 8 . Blicken wir hiernach auf den Weg Gullivers zurück, so erhellt sich die Bedeutung seiner Erziehung, in der er lernt, die Relativität seines Wissens und die Macht von „custom and experience" zu sehen, handgreiflich symbolisiert in der räumlichen Welt Lilliputs und Brobdingnags. Schon Berkeley hatte in einigen gelegentlich geäußerten Gedanken, die die Konsequenz seiner Lehre von der festen Verknüpfung zwischen Gewohnheit und Erfahrung ziehen, auf die spezifischen Veränderungen des Weltbildes hingewiesen, die aus der jeweiligen physiologischen Struktur der wahrnehmenden Wesen entstehen. So im Dialog zwischen Hylas und Philonous: Besides it is not only possible but manifest that there actually are animals whose eyes are by nature framed to perceive those things which by reason of their minuteness escape our sight 2 2 9 . Gleichzeitig ändert sich die urteilende Interpretation der Welt nach den eigenen Lebenserfahrungen dieses Wesens. . . . that what you can hardly discern will to another extremely minute animal appear as some huge mountain 2 3 0 . Genau diese Gedanken liegen zugrunde, wenn Swift die normalen menschlichen Maße in den Dimensionen verändert und die diesem neuen Lebewesen angemessene Welt aufbaut. Die Raum- und Gegenstandswahrnehmungen sind von dem Maß der perzipierenden Bewohner abhängig. Zwischen beiden besteht das gleiche habituell bedingte Erfahrungs- und Deutungsverhältnis wie in der uns vertrauten Welt scheinbar objektiver Größe zwischen uns und den uns umgebenden Gegenständen. Dem in seine Welt Eingeschlossenen erscheint sie immer absolut, und erst wenn einmal diese Schranke der gewohnten Erfahrung durchbrochen ist, tritt die Relativität, in der eine bestehende Welt zu einer anderen möglichen Welt sich befindet, zutage. Gulliver sagt, nachdem er eine zweite und dritte anders geartete Welt gesehen hat: It might have pleased fortune to let the Lilliputians find some nation, where the people were as diminutive with respect to them, as they were to me. And who knows but that even this prodigious race of mortals Princ. of H. K. § 11. *»» Berkeley's Works, I, 394 f. 1130 Berkeley's Works I, 399. Vgl. ferner: The age of a flye for ought that we know may be as long as that of a man. Commonplace Book 48. 228

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might be equally overmatched in some distant part of the world, whereof we have yet no discovery 2 3 1 . Erst die Kontrastierung des vertrauten Maßstabs, der sich in Gulliver verkörpert, mit dem anderen der in sich ganz geschlossenen Reiche ermöglicht die relative Größenfestsetzung und läßt die besondere Struktur der sinnlichen Welt dieser fremden Geschöpfe charakterisieren. Da die Beschaffenheit ihrer sinnlichen Organe der Größe nach verschieden ist, ist die Welt Lilliputs und Brobdingnags eine andere für Gulliver als für die Lilliputaner oder Riesen selbst. Die der Körpergröße der Lilliputaner proportionale und ihren Augen notwendig entsprechende Sehfähigkeit charakterisiert sich für Gulliver als besonders genau, aber auf sehr kleine Entfernungen beschränkt. . . . nature hath adapted the eyes of the Lilliputians to all objects proper for their view: they see with great exactness, but at no great distance 2 3 2 . Es ist Gulliver, als ob die Lilliputanerinnen mit unsichtbarer Nadel und unsichtbarer Seide nähten 2 3 3 . Genau umgekehrt liegen die Dinge bei den Riesen, wo Gulliver weitaus über das genauere, aber für riesische Entfernungen sehr beschränkte Auge verfügt. Das Nähgarn dort scheint ihm dick wie ein Bindfaden. Der visuellen Wahrnehmung ist notwendig die akustische angepaßt. Denn, wie Berkeley ebenfalls erwähnt hatte, kann die Deutung von Entfernungen sowohl durch die Gesichtswahrnehmung als auch durch den Gehörseindruck suggeriert werden 2 3 4 . Es ist darum ein ausgezeichneter Zug, die Gegensätzlichkeit der Welten zu zeigen, wenn Gulliver die Stimme der Lilliputaner zwar deutlich aber nur sehr fein scheint und er Mühe hat, sie zu verstehen, oder wenn ihm die Stimme der Bewohner Brobdingnags wie Donner tönt und er, der kleine Lilliputaner im Riesenreiche, sich nur mit großer Mühe verständlich machen kann. Ähnlicher Relativität sind Geruchs- und Geschmackssinn unterworfen: (it) . . . tasted like a small wine of Burgundy, but much more delicious 2 3 6 . und ganz im Sinne der abstoßenden Vergrößerung des Riesenlandes: . . . to say the truth, a very offensive smell came from their skins; . . . I conceive that my sense was more acute in proportion to my littleness . . . 2 3 6 . Von einer eigentlichen Relativierung der Zeit ist bei Swift kaum zu Works VIII, 89. Works VIII, 58, vgl. weiter . . . for their sight is much more acute than ours. S. 37. . . . The natives of that country (Brobdingnag), whose large optics were not so acute as mine in viewing smaller objects. S. 111. 2 3 3 Works VIII, 58. 2 3 4 Th. o. V. § 46. 2 3 6 Works VIII, 22 f. 2 3 6 Works VIII, 120 f. 231

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sprechen. Es heißt zwar von den Frauen in den Erziehungsanstalten, daß sie „are aged proportionably to ours at fifty 2 3 7 ", aber im übrigen war es für den Zweck der Satire nicht erforderlich, Wesen mit einem anderen Zeitmaß zu schildern. Auch in unseren Aussagen über Freude und Schmerz urteilen wir den gewohnheitsmäßigen Maßstäben unserer Welt getreu. We regard the objects that environ us in proportion as they are adapted to benefit or injure our own bodies and thereby produce in our minds the sensations of pleasure or pain 2 3 8 . Aus diesem Grunde vermag ein so riesenhaftes Wesen wie der König von Brobdingnag eich von der Größe eines Fisches abgestoßen zu fühlen: I saw one of them (whales) in a dish at the king's table, which passed for a rarity, but I did not observe he was fond of it; for I think indeed the bigness disgusted him . . , 2 3 9 . Am schlagendsten erweist sich nun die Macht von „custom" und „habit" im menschlichen Verhalten daran, daß Gulliver allmählich sich seinem neuen Erfahrungsbereich angleicht, getreu dem Worte Lockes, daß die Gewohnheit eine größere Macht als die Natur selbst sei 2 4 0 . In Brobdingnag imponieren ihm nur noch die dort geltenden Größenmaßstäbe, die er bewußt in proportionaler Umrechnung denen seiner eigenen Welt vergleicht. . . . but I may truly say I came back disappointed; for the height is not above three thousand foot, . . . which allowing for the difference between the size of those people, and us in Europe, is no great matter for admiration, nor at all equal in proportion ( . . . ) to Salisbury steeple 2 4 1 . Besonders klar kommt dies Gulliver zum Bewußtsein, wenn er wieder in die ursprünglich normale Welt zurückgeht. I was equally confounded at the sight of so many pigmies, for such I took them to be, after having so long accustomed my eyes to the monstrous objects I had left 2 4 2 . Und ebenso im Akustischen: . . . I admired as much at the voices of him and his men, who seemed to me only to whisper . . . 2 4 3 . Works VIII, 62, vgl. S. 63. Th. o. V., § 59. 2 3 9 Works VIII, 114. 2 4 0 Vers. ü. d. menschl. Verstand, I, 3, § 25. 2 4 1 Works VIII, 116. 2 4 2 Works VIII, 149. 2 4 3 Works VIII, 152. Vgl. noch: As I was on the road, observing the littleness of the houses, the trees, the cattle, and the people, I began to think myself in Lilliput. I was afraid of trampling on every traveller I met, and often called aloud to have them stand out of the way, so that I had like to have gotten one or two broken heads for my impertinence. S. 154. Nach der 4. Reise tritt die Macht der Gewohnheit nochmals charakteristisch hervor: . . . my friends often tell me in a blunt way, that I trot like a h o r s e . . . S. 290. 237

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Aus den Erlebnissen in Lilliput und Brobdingnag heraus kommt Gulliver zu der Erkenntnis, daß „philosophers are in the right when they tell us that nothing is great or little, otherwise than by comparison 2 4 4 ". Dies führt ihn zum kritischen Nachdenken über alle weiteren Begebenheiten, was, wie das erste Kapitel zeigte, seine langsame Erziehung zur wahren Erkenntnis bewirkt, denn diese Erfahrung bekommt repräsentativen Wert für die Erkenntnis der Mächte, die das menschliche Leben beherrschen. Das Ergebnis dieser Erfahrungen wird ausdrücklich von Gulliver ausgesprochen. This I mention as an instance of the great power of habit and prejudice245. In diesen Worten faßt sich die wichtigste Erkenntnis Gullivers nach den ersten beiden Reisen zusammen. Der im menschlichen Wesen am festesten verankerte Glauben an den absoluten Sinn des menschlichen Seins und des menschlichen Wissens zeigt sich als das nur aus seiner Eitelkeit und Anmaßung und aus der Schwäche seines Gedankens entstandene Vorurteil. Swift raubt den Maßstäben des menschlichen Denkens jede übersubjektive Gültigkeit und hält ihm die völlige Nichtigkeit und Ohnmacht entgegen, die aus der Gebundenheit seiner Maßstäbe entsteht: This made me reflect how vain an attempt it is for a man to endeavour doing himself honour among those who are out of all degree of equality or comparison with h i m 2 4 6 . Der Pessimismus der Swiftschen Satire, der die als relativ erkannte menschliche Welt in überbrückbaren Gegensatz zur wahren und absoluten Vernunft stellt, scheidet sich von der harmonischen Lösung der Berkeleyschen Philosophie, die durch die metaphysische Bestimmung jedes einzelnen Zugs — da Gott die einzige causa der Ideen ist — die Relativität der Welterkenntnis in einer „anthropozentrisch fundierten religiösen Grundstimmung" 2 4 7 ruhen läßt. Für Berkeley wird die Geistabhängigkeit der Natur der Ausdruck eines religiösen Pathos, das sich ganz im Gefühl der Verwandtschaft, die der endliche Geist zum unendlichen hat, konzentriert 2 4 8 . Es bleibt aber auch in dieser Scheidung noch eine Verbindung im wesentlichen Grundgefühl Berkeleys und Swifts bestehen, auch wenn sich die gläubige Sicherheit der Berkeleyschen Philosophie von dem zornigen Ausbruch des Satirikers trennt, der im Ideal zugleich die Verderbtheit der Wirklichkeit zu sehen verurteilt ist. Die im letzten Grunde im Ethischen und Religiösen liegende sinnvolle Ergänzung des Relativitätsgedankens ist beiden das, was allein dem Menschen Wert verleihen 344 245 248 247

S. 67. 248

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Works VIII, 89. Works VIII, 154. Works V I I I , 126. Erdmann, Berkeleys Philosophie im Lichte seines wissenschaftlichen Tagebuchs, Princ. o. H. K „ § 6.

kann. Die NichtVerwirklichung dieses eigentlichen menschlichen Zweckes

nährt den satirischen Zorn Swifts, der dem Menschen den vollen Widerspruch seiner Bedingtheit und seiner Anmaßung mit leidenschaftlicher Kraft vorwirft und in diesem Urteil die Bindung an die gleichen ewigen Werte zeigt, wie Berkeley in der Frömmigkeit seiner Philosophie. Die letzte Verzweiflung und der grausamste Haß des Swiftschen Pessimismus wächst aus diesem Crund.

Man hat gegen das dritte Buch des Gulliver angeführt, daß Swift den Kampf gegen eine Wissenschaft geführt habe, die er selbst nicht verstand, wobei er um so mehr der Gefahr, sich lächerlich zu machen, nahe gekommen sei, als die Mathematik und Naturwissenschaft gerade in seiner Zeit ihren großartigsten Aufstieg nahm. Es ist zweifellos richtig, daß Swift eine merkwürdige Interesselosigkeit diesen Wissenschaften gegenüber gezeigt hat, aber es ist doch notwendig zu sehen, mit welchen Argumenten sich diese Auffassung verbindet. Hinzu kommt die Tatsache, daß auch für diese Denkweise Swifts sich Parallelen bei Berkeley finden, der seine Einstellung zur Mathematik in eingehenderer Begründung als Swift und in systematischer Beziehung zu seiner Philosophie motiviert, aber innerhalb dieser Gedanken und im Endresultat weitgehend mit ihm übereinstimmt 249 . Es kann in unserem Zusammenhang nicht darauf ankommen, die Stellung Berkeleys zur Mathematik in allen Einzelheiten und in genauer systematischer Einordnung in seine Philosophie zu charakterisieren. Sie sei nur so weit skizziert, als notwendig ist, ihre wichtigsten Voraussetzungen zu sehen. In konsequenter Durchführung seines empiristischen Grundgedankens lehnt Berkeley die Mathematik als Wissenschaft des Geistes ab 2 5 0 . Wir haben es in ihr mit sichtbaren Gebilden zu tun, folglich ist das Kriterium ihrer Beurteilung rein aus dem Sinneseindruck und der Erfahrung zu gewinnen. Ridiculous in mathematicians to despise sense 251 . In der Außerachtlassung dieser Voraussetzung sieht Berkeley den Grund aller Verwirrung. Da z. B. die menschliche Sehfähigkeit an ein minimum visibile gebunden ist, ist es völlig unsinnig, etwa von der unendlichen Teilbarkeit der Linie zu sprechen, denn für Berkeley schließt die Unvorstellbarkeit die Undenkbarkeit und damit die Nichtexistenz ein 2 5 2 . Berkeleys 2 4 9 Eddy a. a. 0 . 158 betont, daß er keine Quelle oder Analogie finden könne. Hone und Rossi dagegen sehen die Verwandtschaft, die in der Ablehnung beider gerade vom Standpunkt einer praktisch gerichteten Humanitätsidee besteht. A. a. 0 . S. 31. 2 8 0 Johnston, The Development of Berkeley's Philosophy, S. 82, 2 6 1 Commonplace Book, 328. 2 6 2 Metz, Berkeleys Leben und Lehre, S. 143.

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Berufung auf die Sinne als Grundlage mathematischer Erkenntnis und seine völlige Ausschaltung reinen Denkens in ihr, bringt ihn in enge Verbindung mit Swift, der ihm in seinem Festhalten an der reinen Tatsächiichkeit der Welt gleicht. This great philosopher freely acknowledged his own mistake in natural philosophy, because he proceeded in many things upon conjecture . . . 2 5 3 . I am of a vulgar cast simple enough to believe my senses and leave things as I find them 2 5 4 . Da für Berkeley die Natur in einem rein symbolischen Bezug zum Menschen steht, ist sein Kausalitätsbegriff dem der reinen Naturwissenschaft von vornherein entgegengesetzt. Die erste causa ist Gott, und damit „wird das causari in der Körperwelt auf ein erfahrungsmäßiges sequi reduziert" 2 5 5 . Diese Überzeugung läßt Berkeley vor allem die Begriffe der modernen Naturwissenschaft ablehnen, die über die phänomenologische Naturdeutung hinausgehen, wie etwa der bei Newton zentrale Begriff der Anziehung. Die Einführung des Kraftbegriffs scheint ihm in diesem Zusammenhang als Ausflucht, die einer reinen qualitas occulta gleichkommt 2 5 6 . Ohne eigenen systematischen Aufbau einer Naturansicht kommt Swift zur Kritik desselben Begriffs einfach aus der Ablehnung der rein begrifflichen Erklärung, die für ihn ebenfalls keine notwendige Beziehung zum Tatbestand der Erfahrung hat. Dieser Widerspruch zwischen Begriff und Erfahrung erklärt ihm die dauernden Änderungen der philosophischen Naturansichten und ihre ewige Unsicherheit: . . . he (Aristoteles) found, that Gassendi, who had made the doctrine of Epicurus as palatable as he could, and the vortices of Descartes, were equally exploded. He predicted the same fate to attraction, whereof the present learned are such zealous asserters. He said that new systems of nature were but new fashions, which would vary in every age; and even those, who pretend to demonstrate them from mathematical principles, would flourish but a short period of time, and be out of vogue when that was determined 2 5 7 . Wie es sich für Berkeley in einer sinnvollen philosophischen Untersuchung nicht darum handeln kann, die von einem Geist unabhängige causa efficiens zu suchen, sondern, wie der religiös bestimmte Sinn des Lebens verlangt, die Frage nach der causa finalis zu stellen 2 5 8 , so stimmt Swift mit ihm darin überein, daß die spekulative Beschäftigung nur Mißbrauch der Vernunft sei, die wir zu einer edleren Verwendung bekommen haben 2 5 9 . Dieser Mißbrauch der Vernunft zu spekulativen Zwecken ist es, 253 254 255 258

208 359

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Works VIII, 207. Berkeley's Works I. 445. Erdmann, a. a. 0.. S. 76. Erdmann, a. a. O.. S. 76. Works VIII, 207, vgl. S. 106. Princ. o. H. K.. 5 107. vgl. 5 56. Commonplace Book 382.

den Swift m i t aller Grimmigkeit i m dritten Buch geschildert hat. Die w a h r h a f t nihilistische 2 6 0 Lebensart der L a p u t a n e r , die „spent t h e greatest part of t h e i r lives in observing the celestial b o d i e s 2 6 1 " , wird von Swift mit satirischer U n m i t t e l b a r k e i t dargestellt. Die Astronomie der L a p u t a n e r konzentriert das ganze Leben auf die Sonne, da sie in u n a b s e h b a r langer Zeit vielleicht eine G e f a h r f ü r das Bestehen der E r d e werden könnte, was jeden L a p u t a n e r Tag f ü r . Tag angstvoll nach der Gesundheit der Sonne fragen läßt, w ä h r e n d er seine Äcker u n d Häuser r u h i g verkommen sieht. Die A k a d e m i e von Lagado ist eine einzige h a ß e r f ü l l t e Darstellung solcher „hypothetical g e n t l e m e n 2 6 2 " , die ihr Leben f ü r das restlos Unsinnige opfern. W e n n Swift in der Darstellung der L a p u t a n e r durchblicken läßt, wie f e r n sie von der w a h r e n u n d allseitigen K u l t u r e n t f e r n t sind, so ist es i h m u n d Berkeley Postulat der Humanitätsidee, d a ß die menschliche V e r n u n f t sich n u r im weitesten Sinne in der praktischen Betätigung bewähren k a n n , d a ß aber darin die sinnvoll angewandte „practical geometry" ihren Platz findet. Swift spricht bei den L a p u t a n e r n ausdrücklich von dem „ c o n t e m p t they bear to practical geometry, which they despise as vulgar and m e c h a n i c 2 6 3 " , w ä h r e n d er in Brobdingnag u n d im H o u y h n h n m s Lande das Ideal seiner praktisch-utilitaristischen Grundeinstellung zeigt: But the last of these (mathematics) is wholly a p p l i e d to what may be useful in life, to the improvement of agriculture, and all mechanical arts . . . 2 6 4 . Das Gleiche f a ß t Berkeley in dem Ausruf zusammen, welchen Fortschritt die Menschen hätten erzielen können, wenn sie i h r e n Scharfsinn u n d ihren F l e i ß an die nützliche und praktische M a t h e m a t i k gewandt h ä t t e n 2 6 5 , statt an die spekulative, die ist „as if a m a n was all day m a k i n g h a r d knots on purpose to untie t h e m a g a i n 2 6 6 " . Berkeley u n d Swift beschränken die Tätigkeit der V e r n u n f t im unbedingten B e k e n n t n i s zum common sense auf das Praktische. Die Überschreitung der durch ihn gesetzten Grenzen f ü h r t den Menschen zu Unsicherheit u n d Verwirrung. Selbst aber wenn diese Grenzen zu überschreiten wären, könnte sich kein neuer Sinn f ü r das menschliche Leben hinter ihnen a u f t u n , der nicht schon in der E r k e n n t n i s der praktischen u n d religiösen Gebote gegeben wäre. Where's t h e need of certainty in such trifles? T h e t h i n g t h a t m a k e s it so much esteem'd in t h e m is t h a t we are t h o u g h t not capable of getting it elsewhere. B u t we may in ethiques and m e t a p h y s i q u e s 2 6 7 . 280

Commonplace Book Works V I I I , 174. 282 Commonplace Book 283 Works V I I I , 168. 28 « Works V I I I , 140. 286 Commonplace Book 288 Commonplace Book 287 Commonplace Book 281

470. 402.

470. 880. 348.

. . . when I used to explain to h i m (the horee) our several systems of n a t u r a l philosophy, h e would laugh t h a t a c r e a t u r e p r e t e n d i n g to reason, should value itself u p o n t h e knowledge of o t h e r people's conjectures, and in things, where t h a t knowledge, if it were certain, could b e of n o use. Wherein he agreed entirely with t h e sentiments of Socrates, as P l a t o delivers t h e m ; which I mention as t h e highest h o n o u r I can do t h a t prince of p h i l o s o p h e r s 2 6 8 .

288

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Works VIII, 279.

3. D I E A N T H R O P O L O G I S C H E N U N D G E S E L L SCHAFTLICHEN VORAUSSETZUNGEN DER SATIRE. Die Satire, die sich in der aufgezeigten Wertrelativität der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten ausspricht, und darin zugleich den Gegensatz zwischen der Unermeßlichkeit des Universums und der verächtlichen Stellung des Menschen in ihm ausdrückt, bildet die ganz allgemeine Voraussetzung, die die satirische Wertung des Menschen ein für allemal bestimmt. Wenn wir andeuteten, daß der Mensch für Swift allein in der Erfüllung seiner ethischen Aufgabe seinen Zweck hat, so zeigt die Satire im weiteren, daß auch die menschlichen Handlungen einzig von Erbärmlichkeit und Egoismus beherrscht sind. Die satirische Charakteristik entdeckt die wahren anthropologischen Bedingungen, die die Stellung des Menschen als soziales und politisches Wesen bestimmen. Swift steht in seiner Auffassung vom Menschen in einer Tradition, die in der Anthropologie und der auf ihr beruhenden Gesellschaftsethik und Staatslehre Hobbes' ihren Anfang nimmt. Wenn im folgenden versucht werden soll, diese Grundlagen im Zusammenhang mit der Gesellschaftsschilderung der Restaurationszeit in den Hauptlinien ausführlicher darzulegen, so geschieht es aus mehreren Gründen. Zunächst liegen in der dort geprägten Auffassung der menschlichen Natur und in der von ihr abhängigen Gesellschafts- und Staatsauffassung die Voraussetzungen für Gehalt und Form der satirischen Abwehr Swifts. Da die Besonderheit des satirischen Geistes im Gulliver wesentlich an den unüberbrückbaren Gegensatz von Empirie und Utopie gebunden ist, ist es ferner begründet, daß auch die utopische Gegenüberstellung zur Satire dieser Grundlage zum Verständnis bedarf. Zuletzt weist der Ausdruck des satirischen Gehaltes in der Form der Ironie auf eine geistige Haltung, die vor allem in der Gesellschaft der Restaurationszeit und in ihrem wesentlichsten literarischen Ausdruck, der Komödie, weitgehend vorbereitet wird. Hobbes stellt als erster englischer Denker die Frage nach dem Wesen der menschlichen Natur und nach der Gesetzlichkeit und den Triebkräften des menschlichen Handelns völlig frei von jeder theologischen Voreingenommenheit. Er gewinnt die Antwort rein aus der empirischpsychologischen Beobachtung, deren einzelne Ergebnisse er aus einem 66

Grundaffekt kausalgenetisch abzuleiten sucht. Das letztlich allem menschlichen Verhalten zugrunde liegende Prinzip findet Hobhes in dem Selbsterhaltungstrieb. Ist dieses Motiv einmal ausschließlich als das angenommen, was allein den psychischen Mechanismus in Bewegung setzt, so können alle Handlungen nur den Charakter eines schrankenlosen Egoismus tragen. Dem nach immer größerer Macht strebenden Individuum ist jedes Mittel recht, seine Interessen und Wünsche durchzusetzen. Notwendigerweise können ihm in der Beurteilung von gut und schlecht nur die subjektiven Kategorien des eigenen Schadens oder Nutzens zur Verfügung stehen: „Die menschliche Natur ist so beschaffen, daß man das, was man für sich begehrt, als gut, was man Verabscheut, als schlecht bezeichnet 2 6 9 ." Der vom Streben nach dem begehrten Gut erfüllte Mensch zeigt alle Züge von Grausamkeit und List, die ihm in der Verfolgung seines egozentrischen Willens nützen können, und die das Nebeneinander der Individuen zu einem ungehemmten Krieg aller gegen alle machen. In der Darstellung dieses egoistisch-triebhaften Menschen im Naturzustand schlägt Hobbes das Thema an, das im Gegensatz zu seiner wissenschaftlich-prüfenden Haltung die Satire als mehr oder weniger heftige Anklage wiederholt, die in Swift ihren Höhepunkt findet: Hobbes stellt die der Vernunft und Sprache verbundene Triebhaftigkeit des Menschen der reinen unreflektierten und instinkthaft begrenzten des Tieres gegenüber: „ . . . so gewiß Schwerter und Spieße, die Waffen der Menschen, Horner, Zähne und Stacheln, die Waffen der Tiere, übertreffen, so gewiß ist auch der Mensch raublustiger und grausamer als Wölfe, Bären und Schlangen, deren Raubgier nicht länger dauert als ihr Hunger, und die nur grausam sind, wenn sie gereizt sind 2 7 0 ." Zu dem alle menschlichen Handlungen bedingenden Motiv des Nutzens kommt beim Menschen außerdem ein seelischer Lusttrieb hinzu, das Streben nach Ehre und Würde, das der Erhöhung des Selbstbewußtseins dient und insofern gesellschaftsbildend wirkt. Selbst freundschaftliche Verbindungen werden nur aus dem egoistischen Impuls des Nutzens erklärt. In dem Augenblick, wo die Affekte unter die Leitung der Vernunft gestellt werden, da der Mensch erkennt, daß ihm im Kriegszustand als höchstes Übel der Natur der gewaltsame Tod droht, löst er sich aus dem natürlichen Kriegszustand und tritt in den des Naturrechts, in dem allein die Vernunftforderung des Friedens und der Gemeinschaft erfüllt werden kann. Wenn hier an die Stelle des affektbetonten Handelns aus dem Augenblick heraus die Voraussicht tritt, die dem dauernden Interesse der Selbsterhaltung besser dient, so bleibt der Vernunftbetätigung doch die 269 270

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De cive, Kap. 14, § 17. De homine, Kap. 10, § 3.

individualistische Begründung eigen, die die subjektive Freiheit nur darum eingeschränkt werden läßt, weil sie in der Abgrenzung der Bereiche jedes einzelnen eine höhere Garantie für die Verfolgung -der eigenen Interessen sieht, als in der Unsicherheit und Lebensbedrohung des reinen Machtkampfes. So definiert sich für Hobbes dieses natürliche Gesetz als „das Gebot der rechten Vernunft in betreffs dessen, was behufs einer möglichst langen Erhaltung des Lebens und der Glieder zu tun und zu lassen ist" 2 7 1 . Es ist in unserem Zusammenhang von außerordentlicher Wichtigkeit, die Definition zu betrachten, die Hobbes von der „rechten Vernunft" gibt, da dieser Vernunftbegriff bereits latent in sich den Keim des von Swift satirisch erfaßten Dualismus von Affekt und Vernunft enthält, der das ganze menschliche Handeln beherrscht und es von der Erkenntnis eines absoluten Guten notwendig trennt. Hobbes sagt: „Unter rechter Vernunft im Naturzustand der Menschen verstehe ich nicht wie viele ein untrügliches Vermögen, sondern den Denkakt selber, d. h. die eigene und wahre Schlußfolgerung eines jeden in betreff derjenigen seiner Handlungen, welche zum Nutzen oder Schaden anderer ausschlagen können 2 7 2 ." Dieser rein logische Denkakt bleibt in seiner Betätigung abhängig von der Subjektivität des ethischen Werturteils, das mit dem Grundaffekt der Selbsterhaltung unlöslich verbunden ist. Die Vernunft bleibt auf alle Fälle Mittel des menschlichen Interesses, sowohl im Erdenken aller schädigenden Wirkungen als auch dann, wenn sich diese Interessen im Streben nach dem Frieden zusammenschließen und sich in der Verfolgung dieses Zieles den logisch abgeleiteten Maximen des Naturrechts als „unveränderlichen und ewigen Gesetzen" unterwerfen. Diese Gesetze sind nur die Voraussetzung, auf der sich die konventionelle Übereinkunft des staatlichen Zusammenschlusses aufbaut, die allein einen verpflichtenden, allgemeinen Maßstab für gut und böse schafft. Die ethischen Normen bleiben im tieferen Sinn Produkte der Willkür, da es keinen Zustand der Gerechtigkeit für sich bestehend gibt, sondern nur den von der menschlichen Vernunft innerhalb eines Staatskontrakts geschaffenen, der, soweit die Belange des Naturrechts nicht berührt werden, die Mittel zur Erreichung seines Friedenszieles wechseln lassen kann 2 7 3 . De cive, Kap. 2, § 1. De cive. Kap. 2, § 1 Anm. 2 7 3 Vgl. De cive, Kap. 3, § 29. — In einer interessanten Gegenüberstellung des Hobbesschen Vernunftbegriffs zu dem Miltons kommt Marjorie Nicolson über den im letzten Grunde willkürlichen Moralbegriff Hobbes' zu gleichen Ergebnissen. From this (first natural law) are derived all the other laws of nature, laws which Hobbes calls immutable and eternal saying that what they command can never be unlawful, what they forbid can never be lawful. Yet these „ l a w s " of Hobbes as he himself saw, are not laws but conclusions, reached by that „right reason" which is only a logical faculty. De cive II, 190 ff. (ed. Molesworth): „The law of nature, commands us to keep all civil laws. For where we are tied to obedience before we know, what will be 271

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Es kommt hinzu, daß, solange das echte Staatsideal nicht erfüllt ist, der Kriegszustand praktisch nicht aufgehoben ist, denn „as oft as reason is against a man, so oft will a man be against reason 2 7 4 ". Mit Heuchelei und unbewußter Verstellung versuchen die Menschen ihre eigenen Interessen durchzusetzen und ihrem eigenen Selbstbewußtsein zu schmeicheln. Dies berechtigt jedes einzelne Individuum, gegen die ihm dadurch drohende Gefahr mit allen ihm zur Verfügung stehenden Waffen vorzugehen. Da die Erkenntnis der Gesetze nicht die Sicherheit der Befolgung gewährleistet, ist es ein Gesetz der Selbsterhaltung, auch für den, der zur Erfüllung des natürlichen Gesetzes bereit ist, daß „solange man keine Sicherheit gegen einen Überfall der anderen hat, jedem das gleiche, ursprüngliche Recht verbleibt, sich auf alle Weise, wie er kann oder will, zu schützen, d. h. . . . das Recht zum Kriege" 2 7 5 . Hier wird besonders deutlich, daß es Hobbes ist, der der naturalistischen Psychologie Macchiavells mit ihrer rein zweck- und erfolgbestimmten Moral den Weg in England freimacht. Die reine Nützlichkeitsmoral kommt den Tendenzen der Zeit weit entgegen: sie ist eng mit der Entstehung des Kapitalismus und dem ganzen kommerziellen Aufschwung verbunden, und die gegen Ende des Jahrhunderts einsetzende Arrondierungspolitik und die in den Ländern sich entwickelnde Kabinettspolitik sind ebenfalls macchiavellistischen Prinzipien weitgehend offen. Gegen sie richtet sich die gesamte politische Satire Swifts. Mit besonderer Voraussicht auf das vierte Buch des Gulliver fassen wir die entscheidenden Charakteristika der Hobbesschen Auffassung noch einmal an seiner Theorie der Sprache zusammen. Die Sprache als spezifisches Eigentum des Menschen ist ein getreuer Spiegel seines Wesens und seiner Vernunft. Als ein durch Übereinkunft geschaffenes System von Namen ist sie die ursprüngliche Bedingung der Wahrheitserkenntnis und somit auch der Aufstellung ethischer Gebote, d. h. sie ist die Voraussetzung der gesellschaftlichen Vereinigung. In Übereinstimmung mit der Fähigkeit der rechten Vernunft, die Folgerungen für den Nutzen und den Schaden anderer ziehen zu können, kann sie als Bedingung der Gedankenmitteilung dem Machtstreben durch Lüge und Heuchelei dienstbar gemacht werden, da durch sie die Handlungen anderer zu lenken sind. So ist die Zunge des Menschen die Trompete des Krieges, „denn nur durch die Sprache kann dem Menschen ein Gutes besser und ein Schlechtes schlechter dargestellt werden als es wirklich ist" 2 7 6 . commanded us, there we are universally tied to obey in all things. Whence it follows that no civil law whatsoever . . . can possible be against the law of nature. For though the law of nature forbid theft adultery etc., yet if the civil law command us to invade anything, that invasion is not theft, adultery etc." Studies in Philology 3, 424. 2 7 4 Elements of Law, Ep. ded. 2 7 5 De cive, K a p . 5, § 1, vgl. Kap. 3, § 27. 2 7 0 De cive, K a p . 5, § 5.

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Die menschliche Vernunft trägt in sich die ungeschiedenen Möglichkeiten aus eigener freier Entscheidung, zwischen den beiden Alternativen zu wählen: homo homini Deus oder: homo homini lupus. Die aus dem eigenen Entschluß vollzogene Wendung zum Frieden macht den Menschen größer als alle Lebewesen, wie ihn die Verhinderung und Bekämpfung dieser Vernunftforderung unter das Tier sinken läßt. Hobbes selbst sah den Kampf um die beiden Möglichkeiten mit dem ganzen Pessimismus dessen, der den Egoismus in allen Schachzügen erkannt hatte. „Vermag der Mensch als einziger unter allen Lebewesen vermittels der allgemeinen Wortbedeutungen sich praktische Gesetze, vor allem für die Lebensordnung zu ersinnen, so vermag er allein auch nach falschen Regeln zu handeln und diese auch anderen mitzuteilen, damit sie danach handeln . . . Auch kann der Mensch, wenn es ihm beliebt — belieben aber wird es ihm, so oft er meint, daß es für seine Absichten vorteilhaft ist — vorsätzlich Falsches lehren, d. h. lügen und die Bedingung von Gemeinschaft und Frieden unter den Menschen aufheben 2 7 7 ." Hobbes' Lehre von der egoistischen Motivation der psychischen Reaktionen im Menschen und vom Nominalismus seiner ethischen Begriffe wird für die Folgezeit unmittelbar wie auch im Spiegel der Satire von besonderem Interesse. Bevor wir aber auf einzelne für uns wichtige Züge der als Voraussetzung für die Swiftsche Satire bedeutsamen Zeit eingehen, müssen wir versuchen, uns kurz den entscheidenden Einfluß von außen zu vergegenwärtigen: nämlich den Einfluß des französischen Gesellschaftsideals, wie es sich im Laufe des 17. Jahrhunderts entwickelt und wie es nach der Rückkehr Karls II. auch die aristokratische Gesellschaft in Whitehall bestimmt. Der Ursprung der Gesellschaft als einer besonderen Kulturform liegt in den französischen Salons, die am Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden und deren Entwicklung die verschiedenen Strömungen des französischen Geisteslebens in sich aufnahm und an ihnen mitwirkte. Der bedeutendste Salon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts war das Hotel de Rambouillet, wo z. B. auch La Rochefoucauld und Saint-Evremond verkehrten, die uns beide kurz beschäftigen werden, da sie für diese Zeit charakteristisch sind und außerdem ihre Gedanken in England weitgehenden Einfluß hatten. Es versammelte sich in den Salons eine Gruppe von Aristokraten, die eine feinfühlig empfundene Freude an der geistigen Begegnung und an der einmaligen und treffenden Formulierung im Austausch ihrer Gedanken hatten, die im Bemühen um die höchste Form des sprachlichen Ausdrucks selbst verfeinert und differenziert wurden. Diese Form bestimmte sich durch ihre Wirkung auf den anderen. Sie wurde getragen von der entgegenkommenden Bereitschaft der Zuhörenden und ihrer Fähigkeit, im wechselvollen Hin und Her alle Möglichkeiten der Betrach277

De homine, Kap. 10, § 3. 69

tung zu erschöpfen. Gleichermaßen Ausdruck geistiger Interessen wie Form eines sich immer mehr verfeinernden gesellschaftlichen Empfindens wird die Konversation die wahre Essenz des „esprit mondain". La fonction propre de l'homme de monde fut la conversation 278 . Wird die Auseinandersetzung zur Freude am geistreich-witzigen Spiel als solchem, so entsteht die „raillerie", die ein fester Begriff in den gesellschaftlichen Beziehungen ist. Die Pflege der Gesellschaft, die sich hier ausbildet, modelt jede persönliche Eigenschaft nach dem Wert, den sie in Beziehung auf den anderen hat, so daß ein vielfältiges, gleichsam schauspielerisches Gegen- und Füreinander der Persönlichkeiten entsteht, dessen adäquater geistiger Auedruck sich im Esprit vollendet: . . . Tout ce qu'on a en soi et sur soi, réalité solide ou surface, il faut l'avoir pour les autres ou s'en donner l'air: cette coquetterie de parure par laquelle la beauté semble faire don de soi au public et prendre intérêt à son plaisir quand il s'agit de la pensée et de l'expression de la pensée c'est l'esprit 2 7 9 . Aus dieser von Lanson vorzüglich gekennzeichneten Haltung 2 8 0 erwächst die Herrschaft, die die Mode und die gesellschaftlichen Zeremonien über das äußere Leben gewinnen und die sorgfältig darauf abgestimmt wird, dem Selbstgefühl des einzelnen Rechnung zu tragen. Die gesellschaftlichen Konventionen aber haben weitere Wirkungen. Die Berührung mit diesen Mächten wandelt und verfeinert den Ausdruck der persönlichen Gefühle. Dies trägt zu einer Kultivierung der Sitten bei, die ihren Höhepunkt in der Empfindlichkeit des Geschmacks und im Bekenntnis zur „délicatesse" erhält. Es ist hierbei wichtig, daß die Kultur der Salons wesentlich von der Frau getragen wird und daß sich hier ihre Gleichberechtigung in der Gesellschaft vorbereitet, die Meredith für die Entstehung der großen Komödie, etwa bei Molière und Congreve, für entscheidend hielt. Naturgemäß wohnte dieser Gesellschaft eine ausgesprochen aristokratische Grundstimmung inne. Sie trennte sich von der groben alltäglichen Wirklichkeit und schuf sich eine Welt nach eigenen Gesetzen. Nicht die vulgäre Unterscheidung des Wahren und Falschen, des Rechten und Unrechten, galt in ihr, sondern das Prinzip der Angemessenheit, das der Differenziertheit der seelischen Struktur und jeder Nuance des geistigen und sinnlichen Genusses sein Recht verleiht 2 8 1 . Wird das einzige Ziel des Lebens die Glückseligkeit und das Vergnügen, so hebt die Elastizität des Lanson, Histoire de la Littérature Française, S. 376. Lanson, a. a. 0 . , S. 379. 2 8 0 Samuel Butler hat das gleiche — knapper — formuliert: Conversation ìs a Glass for Men to Dress their Minds and Manners by. Characters etc., p. 276. 2 8 1 Lanson. a. a. 0 . . S. 378. 278 279

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Esprit jeden dem widersprechenden ethischen Gegensatz Evremond charakterisiert die Zeit der Regentschaft:

auf.

Saint-

La douce erreur ne s'appelait point crime; Les vices délicats se nommaient des plaisirs 2 8 2 . Auf dem Prinzip der Angemessenheit und der geistigen Überlegenheit ruht die Ächtung, die diese Gesellschaft aussprechen oder die sich von selbst vollziehen kann: allein das Lächerliche scheidet den Menschen von der Beherrschtheit und Konvention dieser Welt. Die im Lächerlichen offenbar werdende Unterlegenheit verletzt das gesellschaftliche Ehrgefühl : Le ridicule déshonore plus que le déshonneur 2 8 3 . Wenden wir uns zu den Gedanken, die die Salons bewegen, so findet sich, daß sie in engem Zusammenhang mit allen philosophisch-religiösen, wissenschaftlichen und literarischen Erscheinungen der Zeit stehen. Es ist nicht unsere Aufgabe, hierauf näher einzugehen, sondern wir beschränken uns darauf, die allgemeine Tendenz zur Betrachtung des Menschen festzustellen. Es charakterisiert außerdem eine Reihe der Salons, sich für die Freiheit des Denkens einzusetzen. Die meist in ihnen herrschende skeptische Haltung zur Religion bereitet die kritisch-rationalistische Betrachtung des Menschen vor. Hobbes, dessen Philosophie, wie wir sahen, in weitem Maße an einer solchen Analyse der menschlichen Natur orientiert war, und der in den philosophischen und schöngeistigen Kreisen Frankreichs verkehrte, stärkte diese Art der Betrachtung. Das gleiche Thema des eigenen Selbst und die Beziehung zum anderen leitet die Konversation und macht die im Salon entstandene und gepflegte psychologische Epigramm- und Porträtkunst zu einer beliebten Beschäftigung, die vielleicht unter Mitwirkung englischer Einflüsse 2 8 4 scharf satirisch in den Charakteren von La Bruyère gipfelt. Illusionslos kritisch spürt man den verborgensten Verwicklungen des menschlichen Seelenlebens nach. In enger Verbindung zur Gesellschaft sind diese psychologischen Einsichten, die die irrationalistischen Grundlagen unseres wirklichen Seins in scharfem Widerspruch zu dem tugendhaften und vernunftgemäßen Schein zeigen, am klarsten in den Maximen La Rochefoucaulds formuliert worden. Wenn La Rochefoucauld das gesamte Verhalten der Menschen auf Selbstliebe zurückführt, so zeigt das, daß er nach der Methode des wissenschaftlichen Rationalismus verfährt. Die einzelnen, zum Teil oft wiederholten Themen aber, wie die Analyse der Liebe und der Freundschaft, beweisen, welche große Rolle seine persönlichen Erfahrungen in der Gesellschaft in seinen Gedanken gespielt haben. Mit eindringlichem Scharf282 283 284

S. 59.

Zitiert nach Daniels, Saint-Evremond en Angleterre, S. 7. La Rochefoucauld, Réflexions morales, 326. Vgl. Papenheim, Die Charakterschilderungen iin Tatler, Spectator und Guardian,

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blick zeigt La Rochefoucauld den Ehrgeiz, die Berechnung, die Eitelkeit, die Heuchelei, die unter dem Glanz der gesellschaftlichen Formen, der Beteuerung der Gefühle und der Gewandtheit des Esprit verborgen liegen. Wie Hobbes steht La Rochefoucauld auf dem Standpunkt, daß das Handeln durch die Affekte determiniert ist. Auch der vernünftig scheinenden Handlung liegt nur der Sieg eines stärkeren über einen schwächeren Affekt zugrunde. L'esprit est toujours la dupe du coeur 2 8 5 . Wenn La Rochefoucauld die egoistischen Triebfedern im menschlichen Verhalten aufzeigen will, kommt es ihm vor allem darauf an, die gemeinhin als Tugend anerkannte Verkleidung des selbstsüchtigen Motivs als solche erkennen zu lassen. L'intérêt parle toutes sortes de langues et joue toutes sortes de personnages, même celui de désintéressé 286 . Wir sind in der Verfolgung unseres Interesses nicht nur auf die Irref ü h r u n g anderer bedacht, sondern wir verfallen durch diese langgeübte Gewohnheit schließlich darauf, uns auch uns selbst gegenüber zu verkleiden. Wie Hobbes die sozialen Triebe leugnete, so findet auch La Rochefoucauld in ihnen den egoistischen Grund, den er am härtesten in der Maxime über die Freundschaft ausspricht: Dans l'adversité de nos meilleurs amis nous trouvons toujours quelque chose qui ne nous déplaît pas 2 8 7 . Wenn die Selbstsucht die Form der Eigenliebe und Eitelkeit annimmt, schildern uns die Maximen besonders gut die Rückwirkung der Gesellschaft auf den einzelnen, die wir kurz zu charakterisieren versuchten. Die f ü r den gesellschaftlichen Partner bestimmten Äußerungen des Lebens und des Denkens führen zur Affektation, zur bewußten Berechnung der Wirkung : Dans toutes les professions, chacun affecte une mine et un extérieur pour paraître ce qu'il veut qu'on le croie. Ainsi on peut dire que le monde n'est composé que de mines 2 8 8 . Diese Verzerrung des eigentlichen Wesens rückt den Menschen unweigerlich ins Lächerliche, sobald die Affektation erkannt und der Gegensatz zum darunterliegenden Sein die Verstellung bloßstellt. On n'est jamais si ridicule par les qualités que l'on a que par celles que l'on affecte d'avoir 2 8 9 . Dieser Ausspruch läßt erkennen, wie verwandt die Gesamthaltung der Gesellschaft, in der La Rochefoucauld lebte, und die Art ihrer psycho286 288 287 288 289

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Réflexions Réflexions Réflexions Réflexions Réflexions

morales, 102. morales, 39. supprimées, 99. morales, 256. morales, 134.

logischen Betrachtung der der englischen Komödie ist, die die Lächerlichkeit der „affected follies" zeigt. Der politische Umschwung 1660 verpflanzte das französische gesellschaftliche Ideal und seine Menschenbetrachtung nach England. Der Hof wurde der alleinige Mittelpunkt der Gesellschaft und der zu ihr gehörigen Literatur. Um Karl II. entfaltete eich ein glänzendes, vielfältig schattiertes Leben, das dem Vorbild des übernommenen Ideals getreu zu folgen suchte. Dazu kam das reich bewegte literarische Leben der englischen Kaffeehäuser. Die überlegene geistige Haltung der vornehmsten Vertreter dieser Zeit, verfeinert und skeptisch, steht in unüberbrückbarem Gegensatz zu jeder Form des Enthusiasmus, wie er die vorangehende Zeit erfüllt hatte. Gerade in dieser Beziehung wurde der französische Einfluß von bereits vorhandenen englischen Tendenzen unterstützt. Vor allem die CharacterLiteratur wandte sich gegen den Enthusiasmus und bereitete eine kritische Einsicht in die unvernünftigen Seiten der menschlichen Natur vor. Diesem geistigen Gegensatz zum Enthusiasmus eng verbunden ist die wilde und skrupellose Sittenlosigkeit als Protest gegen die als frömmelnde Heuchelei aufgefaßte asketische Lebensform der Puritaner. Wie Karl II. für die geistigen Interessen, die er in seinem Verhältnis zur Literatur und der sich entfaltenden Wissenschaft der Zeit bekundete, Vorbild war, so war er es auch in uneingeschränktem Maße für die völlige moralische Unverbindlichkeit, die das Leben der Restaurationszeit beherrschte. An seinem Hof galt voll und ganz das Wort Don Juans: „N'allons point songer au mal qui nous peut arriver et songeons seulement ä ce qui peut donner du plaisir." Wenn von dieser Gesellschaft gesagt worden ist, daß sie aus der nominalistischen Begründung der Ethik bei Hobbes die Rechtfertigung für ihr gewissenloses Handeln zog 2 9 0 , so ist dazu zu bemerken, daß sie das von Hobbes ausgesprochene Postulat den naturgegebenen egoistischen Individualismus durch die vernünftige Hinwendung zur Gemeinschaft aufzuheben, dabei vergaß, und nur bei der Berufung auf die Naturgegebenheit stehen blieb, die das Recht der schrankenlosesten Selbstsucht rechtfertigen sollte. Sie glaubte sich den im tieferen Sinne willkürlichen Moralbegriffen um so weniger verbunden, als die sehr stark zum reinen Materialismus neigende Philosophie Hobbes' den Grund zur Abwendung von jeder religiösen Bindung legte und den Atheismus auch in England als einen wesentlichen Zug der „polite society" ermöglichte. Die skeptischen und atheistischen Tendenzen sind es gerade, die die von einem neuen moralischen Willen erfüllte Zeit Swifts als Grund alles Übels, das aus dieser Gesellschaft erwuchs, bekämpfte, am großartigsten in der apologetischen Philosophie Berkeleys und der Satire Swifts. Mit gleicher Erbitterung 290

Vgl. Daniels, a. a. O., S. 19.

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kämpfte Swift um die Reform der Geistlichkeit selbst, da auch sie von dem Verfall der Sitten nicht verschont blieb 2 9 1 . Es erübrigt sich im einzelnen ein Bild der berüchtigten Unmoral und der sich selbst überbietenden libertinistischen Exzesse der Restaurationszeit zu entwerfen. Als solche liegen in ihr alle Voraussetzungen für die schärfste und grausamste satirische Betrachtung, die ihr in der Zeit selbst am tiefsten von Samuel Butler und dann zur ganz allgemeinen Satire des Menschen werdend bei Swift zuteil wird, der stets in ihr den Beginn der Verkommenheit sah, gegen die sein Haß gerichtet war 2 9 2 . Es ist im folgenden unser Ziel, das bei Hobbes und La Rochefoucauld herausgestellte Verhältnis von „reason" und „passion" in seinen verschiedenen Formen innerhalb der Gesellschaft weiter zu verfolgen und wechselweise daran die Gesellschaft selbst zu charakterisieren. Wir beginnen kurz mit dem ausgesprochen französischen Einfluß, der durch die Verbindung Englands mit den geistigen und literarischen Ereignissen in Frankreich, wie vor allem durch die sich in England aufhaltenden Franzosen, ausgeübt wird. Unter ihnen ist die ausgeprägteste Gestalt Saint-Evremond, der mit der glänzendsten französischen Gesellschaft vertraut war und die skeptisch-epikuräische Richtung in ihr vielleicht am ausdrucksvollsten repräsentierte. E r war der geistige Mittelpunkt im Salon der Herzogin von Mazarin. Seine Schriften und Briefe vertreten die Philosophie des Genusses, dem diese Gesellschaft in mehr oder weniger verfeinerten Formen ergeben war. Die Begriffe, die das Verhalten Saint-Evremonds in dem Streben, den Lebenszweck des „plaisir" zu erreichen, leiten, sind „délicatesse" und „bon sens 2 9 3 ". Die durch sie gegebene Forderung des Maßhaltens spielt in dem Verhältnis, in dem für Saint-Evremond die Vernunft zu den irrationalen Neigungen 6teht, eine wirksame Rolle. Der Begriff des Maßes, wie ihn Saint-Evremond versteht, beruht auf der ästhetischen Grundlage, die seinen Lebensregeln eigen ist. Der geläuterte und verfeinerte Geschmack entscheidet im Streit der Neigungen stets zugunsten der Vernunft, wenn der Trieb zu dem groben Laster führen würde, das das Gefühl für die „délicatesse" beleidigt. Da andererseits die Lustempfindung das einzige Wertbewußtsein ist, an dem der Tugendbegriff Saint-Evremonds orientiert ist, gibt es keinen Grund, der diesem Streben angemessenen Neigung die Vernunft entgegenzustellen. Saint-Evremond vertraute der Sicherheit seines Geschmacks und konnte so von sich die außerordentliche Tatsache berichten, daß er niemals den Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaft in seinem Innern empfunden h a b e 2 9 4 . 2 9 1 Beljame, Le Public et les Hommes de Lettres en Angleterre, S. 6 ff. 292 Vgl. Essay on modem Education. Works X I , 15. 2 9 3 Vgl. Daniels, a. a. O.. S. 93. 2 9 4 Oeuvres I. 90.

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Dadurch, daß Saint-Evremond die Vernunft-Forderung seinem epikuräischen Lebensideal der Verfeinerung und Delikatesse des geistigen und sinnlichen Genusses anpaßt, verdeckt er die eindeutige Entscheidung zwischen Tugend und Laster und bekennt sich zu den unverbindlicheren Nuancen des Geachmackaurteils, das die anfängliche Unbeweglichkeit und Strenge der moralischen Verpflichtung als dem gewonnenen Stand der Zivilisation widersprechend aufgibt. . . . trouver bon que les délicats nomment plaisir ce que les gens rudes et grossiers ont nommé vice et ne composer pas votre vertue de vieux sentiments qu'un naturel sauvage avait inspiré aux premiers hommes 2 9 5 . Der elegante, mit dem wechselnden Liebesspiel vertraute Hofmann sieht mit etwas lächelnd überlegener Verwunderung, wie in Holland z. B. für die Ehe die „simplicité du devoir" gilt. L'infidélité, qui fait le mérite galant des cours agréables, est le plus gros des vices chez cette bonne nation, fort sage dans la conduite et dans le gouvernement, peu savante dans les plaisirs délicats et les moeurs polies 2 9 6 . Hinter der ironischen Maske, die Swift vornimmt, um die „politeness" seiner Zeit im Gegensatz zur Einfachheit und Tugend zu rühmen, spricht er nicht anders. Es kommt uns darauf an zu betonen, daß die Relativität der Moral und die Subjektivität und Zweckbestimmtheit des Vernunftgebrauchs, die Hobbes erkannte, ebenfalls die Voraussetzungen für Saint-Evremonds individual-hedonistische Ethik 6ind. Die Wendungsfähigkeit des Esprit, eine Sache von verschiedenen Seiten zu betrachten und die dem „plaisir" dienlichste geschickt zu verwerten und der ethischen Vorschrift anzugleichen, bildet den ausgesprochensten Zug in der Haltung SaintEvremonds. La morale n'est propre conscience 2 9 7 .

qu'à former méthodiquement

une

bonne

So bezeichnend die Haltung Saint-Evremonds in ihrem Raffinement und ihrer ethischen Weitherzigkeit ist und so häufig diese Faktoren sich 2 9 5 Zitiert nach Kaye. The Fable of the Bees, Introd. S. 95 (Oeuvres, Ed. 1753, III, 210). Vgl. Lanson, Cours 16, 2 S. 481 f. Vgl. weiter Saint-Evremonds Abhandlung: Réflexion sur les Divers Génies du Peuple Romain. 2 9 6 Oeuvres III, 29. 2 9 7 Oeuvres III, 13. — Ein gemäßigter Vertreter der Restauration ist auch Sir William Temple, der Freund Saint-Evremonds, der sich ebenfalls zu Epikur bekennt und vor allem die neue Naturauffassung, die sich gegen den religiösen Enthusiasmus ausbildet, betont. Alle Züge, die er in seiner Charakteristik Epikurs heraushebt, zeigen, daß er gerade das Wesentliche der neuen Zeit in ihm vereinigt fand. „I have often wondered how such sharp and violent Invectives came to be made so generally against Epicurus by the Ages that followed him, whose admirable Wit, Felicity of Expression, Excellence of Nature, Sweetness of Conversation, Temperance of Life and Constancy of Death, made him so beloved by his Friends, admired by his Scholars, and honoured by the Athenians." (On the Gardens of Epicurus, S. 174.)

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z. B. in der Komödie wiederfinden, so muß für die englische Gesellschaft nochmals ergänzend hinzugefügt werden, daß die von Saint-Evremond verlangte Grenze gegenüber dem ganz sich selbst überlassenen Trieb von ihr nicht immer eingehalten wurde. Die Unmoral der englischen Gesellschaft um Karl II. hat durchaus brutale und gemeine Züge und läßt jedes Gefühl einer auch nur irgendwie gearteten Verbindlichkeit des Handelns verlorengehen 298 . Der vollendetste Ausdruck der englischen Gesellschaft ist die Komödie der Zeit: sie ist gegenständlich das realistisch getreue Abbild ihrer Sittenlosigkeit, zugleich aber in der Form die Quintessenz ihrer geistigen Qualität und Kultur und bedeutet insofern eine neue Art der Voraussetzung für Swifts Satire. Die Komödie knüpft an den Geist der Konversation 2 9 9 und an die überlegene Haltung der „raillery" an und erreicht in ihren besten Vertretern die höchste Form einer Komödie des Dialogs. Wenn man sie als Comedy of Manners bezeichnet hat, so läßt sich daran schon erkennen, daß die gesellschaftsgebundene Komik ihr hervorragendster Zug ist. Sie ist in ihrer höchsten Form abhängig von dem durch die Gesellschaft vertretenen und geforderten Verhältnis des Geistes zur Spontaneität des Gefühls, wie in ihren weniger subtil komischen Charakteren von den mehr äußeren Formen und Sitten. Die Komödie Ethereges und Congreves, die wir als Repräsentanten wählen, ist von dem uns interessierenden Verhältnis von Vernunft und Gefühl abhängig und stellt in der bisher charakterisierten Entwicklungsreihe die umfassendste Verbindung der bei Hobbes und La Rochefoucauld entwickelten Auffassung der menschlichen Natur und der in Saint Evremond vertretenen Lebensphilosophie des verfeinerten Genusses dar. Bei dem Versuch, die Komik der Restaurationskomödie zu erfassen, geht man am besten davon aus, daß sie in besonderer Weise darauf beruht, Gefühle und Gebaren des Menschen vom Geist her zu sehen, der in seiner absolut unsentimentalen Überlegenheit seinen eigenen Gegensatz als komisch empfindet. Das Gefühl aber, das aus dieser Perspektive gesehen wird, ist der bisher charakterisierten Auffassung gemäß der ganz nackte Naturtrieb und Instinkt, den Hobbes analysiert hatte. Die Menschen der Restaurationszeit stehen der Unmittelbarkeit des Gefühls mit der Skepsis gegenüber, die sie durch den von jeder Illusion freien Scharfblick für die menschliche Natur gewonnen haben, und mit der gesellschaftlichen Forderung ihm überlegen zu bleiben, oder aber der Lächerlichkeit zu verfallen, die die Unfreiheit der Leidenschaft, aus der rationalen Überlegenheit gesehen, gewinnt. Die instinktmäßige Gebundenheit der Leidenschaften und die intellektuell freie und witzige Reflexion darüber, sind die Komponenten der inneren Form der Komödie. 288 Vgl. Beljame, a. a. O., Kap. 1, der allerdings diese Züge der Restaurationszeit einseitig betont. 2 0 9 Vgl. Dedication zu Way of the World. 76

Für sie wie für die gegen die Zeit gerichtete Satire ist es gleichermaßen wichtig, daß die Gefühle und Leidenschaften, wie auch bei Hobbes zunächst, ohne moralische Wertung gesehen werden. Man kennt ihre determinierende Kraft, man rechtfertigt das Nachgeben durch den Hinweis auf die Natur und weiß gleichzeitig mit darüberstehender Ironie um die eigene Schwäche. Mit unnachahmlicher Grazie beruft sich Dorimant auf die Schwachheit der menschlichen Natur: We are not masters of our own affections, our inclinations daily alter; now we love pleasure, and anon we shall doat on business; human frailty will have it so, and who can help i t 3 0 0 ? Aus dieser skeptischen Überlegenheit gesehen, in der alle Sicherheit ruht, wird jede Bindung lächerlich und die Tugend selbst komisch. Für das verfeinerte Genußgefühl des Libertin ist allein die Spannung, in der der sinnliche Genuß zum geistigen steht, wesentlich. Die bewußte Beobachtung der Leidenschaft steigert die Lustempfindung. Aus dieser Doppelheit entsteht der Witz, der mit zum Genuß gehört. Daraus wird in der Komödie die paradoxe Formulierung, die die bisherigen moralischen Begriffe in ihr Gegenteil verkehrt und ein frivoles Spiel mit ihnen treibt. If it (thy face) should but be half so good as thy humour, thou shouldst dangerously tempt me to doat upon thee and forgetting all shame, become constant 3 0 1 . Vernunft und Affekt stehen in einem Dualismus zueinander, für den die Forderung eines Ausgleichs nicht erhoben wird, sondern der ganz frei komisch gesehen wird. Die Vernunft sieht gleichsam unbeteiligt dem Spiel der Leideschaften zu, dem Gegeneinander der Affekte, die vergebens nach dem Einklang mit der rationalen Einsicht streben. Der komische Gegensatz der geistigen und gefühlsabhängigen Seite der menschlichen Natur tritt am feinsten und tiefsten in der Komik der erotischen Beziehung hervor, deren Gefühlsgebundenheit von einem mit geschliffenen Waffen geführten Kampf des Witzes überdeckt wird. Dieses Übereinandergelagertsein aber bringt die Komik hervor, deren Wesen nicht die Handlung sondern nur das Gegeneinander des epigrammatisch zugespitzten Dialogs erschöpfen kann, die sich, wie Meredith sagt, an den Geist wendet, und deren Wirkung „spiritual laughter" ist 3 0 2 . Die subtilste Form dieser Komik ist da erreicht, wo die Kraft des Gefühls die ironische Überlegenheit besiegt, aber der eigene Kampf zwischen Gebundenheit und Freiheit als komisch gesehen wird. Es ist das Schicksal Dorimants, wie in gehaltenerer Weise das Mirabells. A Fellow that lives in a Windmill, has not a more whimsical Dwelling than the Heart of a Man that is lodged in a Woman. There is no Point of the Compass to which they can not turn und by which they are not turn'd; 300 301 302

The Man of Mode, Act I I , Sc. II. She wou'd if she cou'd. Act II, Sc. I. Essay on Comedy, S, 8, S, 58; vgl. S. 88.

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and by one as well as another; for Motion not Method is their Occupation. To know this, and yet continue to be in Love, is to be made wise from the Dictates of Reason, and yet persevere to play the Fool by the Force of Instinct 3 0 3 . In der Fähigkeit zum komischen Selbstporträt, wie z. B. Etherege sie im Man of Mode hat, die letztlich auf der Einsicht des sich selbst überlegenen Libertins in die Motive und Ungebundenheit des eigenen Handelns ruht, gelangt die Restaurationskomödie zu einer geistig-ästhetischen Wirkung, in der zwar das Maß der Moral belanglos wird, in der sich aber allmählich — wie vor allem in den Frauengestalten Congreves, in Cynthia und Millamant, deutlich wird — die geistige Überlegenheit mit einer bestimmten Humanität verbindet, die aus der Sicherheit des Gefühls und des Geistes zugleich kommt. Vorbereitet bei Etherege und vollendet bei Congreve liegen in der Komödie Anzeichen einer geistigen Kraft, die in ihrer Überlegenheit und anti-enthusiastischen Freiheit eine Humanitätsidee vorbereitet, aus der allein die Ironie Swifts wachsen kann. Die ethische Neutralitätsstimmung Ethereges wird bei Congreve gesellschaftskritischer und hier entsteht der Witz weitgehend aus der dargelegten Doppelheit von Sein und Schein in der „acquired folly" wie in der wirklichen Untugend. Schonungslos satirisch wird das eigentliche Wesen der menschlichen Natur dargelegt in den Komödien Wycherleys, dessen Gesellschaftskritik dem psychologischen Tiefenblick Mandevilles nichts nachgibt. Im Gegensatz zu ihm aber hat er bereits etwas vom Swiftschen Zorn über die Menschen. Wie La Rochefoucauld legt Wycherley die Wurzeln und die Verschlagenheit des Verhaltens bloß in einer Gesellschaft, in der „piain dealing is quite out of fashion 3 0 4 ". Es herrscht in den Menschen Wycherleys die Begierde und die Selbstsucht, nur der Konvention der Gesellschaft entsprechend mit dem Schein von Moral überdeckt. Das Recht beugt sich dem Interesse, und das Geld beherrscht die Welt. Freundschaftliche Beziehungen sind nur altruistisch verkleideter Egoismus. Die geistige Spielerei der „raillery" und der Portraitzeichnung entartet zum Ressentiment, und das Lachen ist, wie Hobbes definiert hatte, ein Auskosten des Überlegenheitsgefühls über den andern. Die Lächerlichkeit des falschen „wit" ist kein komisches Sichentfalten der Eitelkeit mehr, sie ist das abstoßende Bild einer völligen Lebensleere. Das ganze Leben wird von der Hypokrisie beherrscht, es gibt kein interesseloses Handeln. „Your virtue", sagt Horner zu Lady Fidget, „is your greatest affectation, madam 3 0 5 ". Die von Wycherley in schärfste Satire umgebogene Einsicht der Zeit wird von Samuel Butler zusammen mit der Darstellung des ganz offen 303 304 306

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The Way of the World, Act 2, Sc. 6. Prolog zum Plain-Dealer. The Country Wife, Act 1, Sc. 1.

Unsittlichen aufgenommen. Seine Satire zieht das Fazit dieser Zeit aus selbständiger Kraft der Vernunft und der moralischen Einsicht. Butlers Name verknüpft sich zunächst mit dem Hudibras, in dem die Triebkräfte des Enthusiasmus und die Hypokrisie der übersteigerten ekstatischen Religiosität mit schonungslosem Hohn überschüttet werden. Butlers Bekenntnis zur rationalen Durchdringung aller Lebensbereiche, seine Hingabe an die philosophischen und wissenschaftlichen Probleme und Interessen seiner Zeit verbinden ihn in eminentem Sinne mit den Idealen der Gesellschaft: der geistigen Überlegenheit und der kritischen Distanz. Gerade als Kampf für eine andere Auffassung vom Menschen, von der Natur und von der Vernunft hat der Hudibras in seiner Zeit und über sie hinaus gewirkt: Swift, dessen Satire gegen den Puritanismus in der Tale ihm bis in die allegorischen und symbolischen Einzelheiten verwandt ist, kannte ihn auswendig, Hogartli, der dritte große Satiriker Butlerschen und Swiftschen Geistes, illustrierte ihn. Was Butler dennoch von der Gesellschaft seiner Zeit trennt und ihn in die gleiche satirische Stellung zu ihr bringt wie zu der vorhergehenden, liegt in der Tiefe seines Vernunftbegriffs, dem auch das Gesetz der ethischen Verpflichtung angehört. Diese Seite des praktischen Rationalismus macht Butler zum Satiriker, „upon the Licentious Age of Charles I I . " Aber über die reine Gesellschaftssatire noch hinaus kommt gerade Butler als Rationalist zur Satire gegen die menschliche Vernunft überhaupt, die in ihren theoretischen und praktischen Erscheinungsformen von ihrer wahrhaften Idee unendlich weit entfernt ist. Die Wissenschaft, die die Grenzen der Vernunft leichtsinnig überschreitet, verkehrt ihre theoretische Kraft zu nutzloser Spekulation, die egoistischen Instinkte aber lassen ihre praktischen Forderungen vergessen und machen ihre Erfinderkraft zum destruktiven Machtmittel. Es ist sehr schwierig, ohne weitere Spezialuntersuchung Butlers Verhältnis zu Hobbes zu bestimmen. Der Character „A modern Politician", auf den gleich näher einzugehen sein wird, ist zweifellos eine bis ins einzelne gehende satirische Bekämpfung des Hobbesschen Menschen, ebenso wie Butlers ganze Vernunftsatire sich gegen den selbstsüchtig interessierten Vernunftgebrauch richtet, den Hobbes dargelegt und unter bestimmten Bedingungen sogar anzuwenden gefordert hatte. So weit Butlers Satire an die bisher im Mittelpunkt stehenden Probleme anknüpft, versuchen wir, sie diesem Zusammenhang einzuordnen. Auf die allgemeine Satire gegen die menschliche Vernunft dagegen möchten wir in direkter Verbindung mit der Gulliver-Interpretation zurückkommen. In der „Satyr upon the Licentious Age of Charles I I . " faßt Butler sein Urteil über die Restaurationszeit zusammen. Der Hypokrisie des Puritanismus hat die Zeit Karls II. nur die Offenheit des Laster entgegenzustellen gewußt.

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So Men, who one Extravagance would shun, Into the Contrary Extreme have run; For those who heretofore sought private Holes, Securely in the Dark to damn their Souls Wore Vizards of Hypocrisy, to steal And slink away, in Masquerade, to Hell, Now bring their Crimes into the open Sun, For all Mankind to gaze their worst upon . . . 3 0 6 Das Raffinement des Genusses macht aus dem Laster eine Kunst. Die Begriffe haben sich völlig verkehrt: Das Laster gehört zum guten Ton der Gesellschaft und man gefällt sich in der Affektation und Zurschaustellung des Unzüchtigen: For Men have now made Vice so great an Art, The Matter of Fact's become the slightest Part; And the debauched'st Actions they can do, Mere Trifles, to the Circumstance and Show. For 'tis not what they do, that's now the Sin, But what they lewdly affect, and glory in: As if prepost'rously they would profess A forc'd Hypocrisy of Wickedness: And Affectation that makes good Things bad, Must make affected Shame accurst, and mad; For Vices for themselves may find Excuse, But never for their Complement, and Shews 3 0 7 . Die allgemeine Charakteristik der Zeit, die diese Satire enthält, wird durch Butlers Characters ergänzt, die mit tieferer psychologischer Eindringlichkeit und mit größerer Berücksichtigung der mannigfaltigen Einzelheiten die Typen der Restaurationszeit nachzeichnen. Am aufschlußreichsten ist sie im Modern Politician, der Butlers Auseinandersetzung mit demjenigen Menschentyp enthält, der die Konsequenzen, die aus der Hobbesschen Auffassung von der menschlichen Natur und ihrem Verhältnis zum moralischen Gesetz entstehen können, in der skrupellosesten Weise verwirklicht. Der Modern Politician ist der ausgesprochene moralische Individualist, der 6ein einziges Gut in der Macht sieht, und aus dieser Selbstsucht heraus sich verhält wie der Mensch im Kriegszustand, den Hobbes geschildert hat. He endeavours to restore Mankind to the original Condition, it fell from, by forgetting to discern between Good and E v i l 3 0 8 . He stedfastly believes, that all Men are borne in the State of War, and that the civil Life is but a Cessation, and no Peace . . , 3 0 8 308 307 308

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Satyrs etc., 40 f. Satyrs etc.. S. 41. Characters, S. 1.

Religion und Moral sind nur Irrtümer der Unwissenden für den Weisen, d. h. für den Erfolg und persönlichen Vorteil Suchenden sind sie bloße Worte. Von keinem moralischen Gefühl angekränkelt fehlt ihm, wie wir von den Charakteren der Restaurationszeit schon wiederholt festgestellt haben, jegliche moralische Einsicht. He wonders how the Distinction of Virtue and Vice came into the World's Head, and believes them to be more ridiculous than any Foppery of the Schools 3 0 8 . Das witzige Paradoxon der Komödie stellt fest, daß ein Versprechen zu halten unter der Würde eines Gentleman sei. Die kühle Berechnung des Modern Politician denkt ebenso: Promises are but Words, and Words Air, which no Man can proclaim a Propriety in, but is equally free to all, and incapable of being confined; and if it were not, yet he who pays Debts, which he can possibly avoid, does but part with his Money for nothing and pays more for the mere Reputation of Honesty and Conscience than it is worth 3 0 9 . Im ersten Teil des Gedankens scheint Butlers antinominalistische Stellung besonders deutlich zu werden. Der Nominalismus definierte das Wort seiner Natur nach als Schall (Boethius: Flatus vocis, und ebenso Hobbes), dem erst durch Übereinkunft eine gültige Bestimmung zukomme. Der Politician setzt und hebt Übereinkünfte auf nach Stimmung und Nutzen. Was kann ihn binden, da die Worte naturalistisch betrachtet nur Luft s i n d 3 1 0 ? Die wichtigste Lebensmaxime des Modem Politician faßt die psychologische Einsicht der Zeit als Imperativ der Nützlichkeitsmoral zusammen : And since the Opinion of the World is vain, and for the most Part false, he believes it is not to be attempted but by Ways as false and vain as itself; and therefore to appear and seem is much better and wiser, than really to be, whatsoever is well esteemed in the general Value of the World 3 11. Überflüssig zu betonen, daß jedes nicht egoistische Gefühl dem Politician lächerlich ist. (He) laughs at Friendship as a ridiculous Foppery, which all wise Men easily outgrow; for the more a Man loves another, the less he loves himself 3 ! 2 . Die Übergangszeit zur Swift-Zeit und die wichtigsten Richtungen in ihr selbst lassen sich sehr kurz skizzieren. Mit dem Tode Karls II. beginnt a. a. 0 . 4. 310 Ygj Clarendon, der in der Polemik gegen Hobbes ironisch auf Butler verweist: Oaths are but words, and words but wind. Too feeble instruments to bind. — (Hudibras, Part II, Canto II, ed. Waller, S. 132.) A Brief View and Survey S. 255. 3 1 1 a. a. 0 . S. 7. 3 1 2 a.a.O. S . l l . 309

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der französische Einfluß geringer zu werden und mit der Thronbesteigung Wilhelm von Oraniens hört der Hof auf, Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens zu sein und den Ton der moralischen Indulgenz anzugeben. Vielmehr unterstützen besonders die Königinnen Mary wie Anna die allgemeinen allmählich stärker werdenden moralischen Bestrebungen. Mit dieser Entwicklung zusammenhängend läuft ihr parallel die Zunahme der politischen, wirtschaftlichen Bedeutung, die der City zukommt. Das bedeutet einmal ein Übergreifen der gesellschaftlichen Unmoral auf die aufsteigenden und reich werdenden Großen der City, zugleich aber bekommt das literarische Leben weiterreichende Bedeutung. Gerade die fortgesetzten Bestrebungen für eine moralische Reform zeigen, daß tatsächlich nur eine sehr langsame und oft eben keine Besserung der Sitten eintrat. Von der Komödie her urteilt Nicoll sogar sehr scharf über die Nachfolger der Cavaliers, die die offene Unmoral nur hypokritisch verbergen: . . . The rakes of the age of William and Anne were as hardened heartless sinners as any of the days of Charles 3 1 3 . Dem ein neues moralisches Maß gegenüberzustellen und das Heitere und Geistvolle, Kluge und Überlegene der vergangenen Zeit damit zu verbinden, ist das Ideal der Swift-Zeit. „ I shall endeavour to enliven morality with wit and to temper wit with morality" 3 1 4 sagt Addison. In Addison, Berkeley und Shaftesbury bahnt sich eine andere Auffassung des Menschen als eines wirklicher Sympathiegefühle fähigen Wesens an, während zur gleichen Zeit Mandeville in seiner Bienenfabel einmal aufs schroffste den ethischen Rigorismus formuliert und andererseits die letzten Konsequenzen der Hobbistischen Auffassung und der besonders von Bayle entwickelten Autonomie der utilitaristischen Moral zieht.

313 314

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History of Restoration Drama, S. 253. Spectator 10. vgl. Beljame a. a. O. S. 294.)

4. A N T H R O P O L O G I E U N D G E S E L L S C H A F T GULLIVER.

IM

Der s a t i r i s c h e Gehalt. Einer der Gründe, warum wir die gesellschaftlichen Voraussetzungen in solcher Ausführlichkeit vorangestellt haben, liegt darin, daß wir das Verhältnis der Swiftschen Satire zu ihrer Zeit nicht nur als einen Gegensatz des moralischen Denkens zur herrschenden Ungebundenheit und Sittenlosigkeit sehen wollen, sondern daß wir vielmehr versuchen möchten, die tiefere ihr zugrundeliegende Auseinandersetzung mit besonderen der vorangehenden wie Swifts eigener Zeit zugehörigen gedanklichen Tendenzen herauszustellen. Es soll dabei nicht vergessen werden, daß sich Swifts Satire unmittelbar an der direkten Berührung mit der Gesellschaft und Politik seiner Zeit entzündet. Ein ganz kurzer biographischer Umriß mag das bestätigen. Während Swift in London lebt, gehört er zu den Mittelpunkten des literarischen Lebens, das eng verbunden ist mit den Angehörigen der Aristokratie, d. h. zugleich mit den Vertretern der Politik. Swift, der in dieser Gesellschaft um Anerkennung und eine ihm entsprechende Stellung kämpft, lernt die zum größten Teil in ihr herrschende sittliche Minderwertigkeit aufs gründlichste kennen, und als anglikanischer Geistlicher bemüht sich Swift mit den Mitteln der Satire und Ironie, der Religion wieder Geltung zu verschaffen und damit eine Reform der Sitten herbeizuführen. Die Erfolglosigkeit seines Strebens nach einer seinem geistigen Rang entsprechenden sozialen Stellung führt zu einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der in ihrer geistigen und moralischen Kraft sich überlegen und unabhängig fühlenden Persönlichkeit Swifts und der Korruption, die ihn umgibt und die ihm am greifbarsten in seiner politischen Tätigkeit engegentritt. Sie begründet das Thema der politischen Satire, die im Gulliver allgemeingültig gegen den Menschen als soziales Wesen überhaupt gerichtet wird, wobei sich der homo politicus nur als ein besonders fruchtbares Objekt für die Sonde der psychologischen Betrachtung zeigt. Wir erfassen aber mit diesen Feststellungen nur die äußeren Anlässe der Satire. Die prinzipielle Auseinandersetzung mit seiner Zeit, die Swift 83

in der Satire und Utopie des Gulliver vollzieht, erschließt sich nur, wenn man den in der Gesellschaft wirksamen Kräften in den ausgesprochenen Gedanken ihrer einzelnen Vertreter nachgeht, ohne daß dabei die Frage des Einflusses angeschnitten werden soll. An Hand der gegebenen Voraussetzungen versuchen wir zunächst, das Wesentliche in der Betrachtung des Menschen, die die Gesellschaftskritik bei Swift bedingt, darzulegen. Die vor keiner Erkenntnis zurückschreckende psychologische Einsicht Swifts, die durch die Fülle seiner Erfahrung bestärkt wird, bringt ihn in Übereinstimmung mit der durch Hobbes begründeten Anschauung von der egoistischen Triebbestimmtheit des Menschen. Sehr früh hat unter den Vertretern dieser Anschauung Swifts Vorliebe La Rochefoucauld gehört, von dem er 1725 an Pope schreibt, daß er in ihm seinen ganzen Charakter wiederfinde 3 1 5 . Swift sieht genau so die Selbstliebe als ursprünglichsten und einzig wirksamen Affekt und kennt die Einbruchstellen des Irrationalen in die Region der ratio. Reason itself is true and just, but the reason of every particular man is weak and wavering, perpetually swayed and turned by his interest, his passions, and his vices. Let any man but consider, when he hath a controversy with another, although his cause be ever so unjust, although the world be against him, how blinded he is by the love of himself, to believe that right is wrong, and wrong is right, when it maketh for his own advantage 3 1 6 . Swift weiß um die verborgenen Regungen wie um die unendliche, fast ungreifbare Fülle der Formen und Erscheinungen, in denen sich die Triebe der menschlichen Natur hervorwagen 3 1 7 . Da aber Swifts moralisches Werturteil sich ganz und gar auf die Seite des Rationalen stellt und er im Gegensatz zur Relativität der Hobbesschen Ethik und zur hedonistisch bestimmten Auflösung der eindeutigen ethischen Alternativen, wie sie in der Restaurationszeit einsetzt, die absolute Bestimmtheit ethischer Grundsätze behauptet und die rigoristische Forderung der vernünftig motivierten und nach dem Motiv allein zu beurteilenden Handlung erhebt 3 1 8 , kann sich die Stellung Swifts zu den irrationalen Leidenschaften der menschlichen Natur nur in der Empörung der Satire äußern, und die anthropologische Erkenntnis wird zum satirischen Mittel der tatsächlichen Wertbestimmung des Menschen. Diese Methode der satirischen Charakteristik, die Wycherley und Butler übten und die in der an die aristokratische Gesellschaft gebundenen Psychologie La Rochefoucaulds vorbereitet war, wird bei Swift zur Grundlage der satirischen Betrachtung des ganzen Lebens. Sie rührt in ihrer umfassenden Weite an die Fundamente der menschlichen Gesellschaft und 315 318 317 318

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26. Nov. 1725, Corr. I l l , 293 f. On the Trinity, Works IV, 135. The Difficulty of Knowing One's-Self, Works IV, 50. On the Testimony of Conscience. Works IV, 124.

gemahnt in der Ausschaltung jedes echt rationalen Einflusses fast an die Resultate, wie sie sich gleichfalls vom rigoristischen Standpunkt Mandevilles ergeben. Die Satire gestaltet sich, aus dem Widerspruch von Erfahrung und Postulat folgend, rein aus der Frage nach den Motiven, die dem Handeln des einzelnen und damit dem Ganzen der Gesellschaft zugrunde liegen. Der Widerspruch von Sein und Schein, den Butler in der ganz und gar konsequenten Nützlichkeitsmoral als typischsten Zug ihrer Taktik herausgehoben hatte, wird bei Swift das ganz allgemeine Prinzip der satirischen Charakteristik, dem ergänzend nur die Darstellung der Charakterlosigkeit, wie sie der moralischen Unempfindlichkeit der Zeit entsprach, zur Seite tritt. Wir versuchen im folgenden das sich aus der anthropologischen und gesellschaftlichen Satire ergebende allgemeine Bild der menschlichen Handlungen und Institutionen und der ihnen zugrundeliegenden Motive darzustellen. Es greifen hierbei die direkte Schilderung der menschlichen Verhältnisse und ihre Spiegelung in den phantastischen Reichen, die Gulliver entdeckt, ineinander. Soweit im Gulliver die staatlichen und politischen Verhältnisse die menschliche Natur offenbaren, sind in ihnen alle Prinzipien Macchiavells und alle Triebfedern, die Hobbes' Psychologie darstellte, wiederzufinden: Selbstsucht, Ehrgeiz, Befriedigung des eigenen Interesses und der eigenen Laune, Neid und Bosheit treten offen oder geschickt verkleidet heraus. Die politischen Figuren, die am ausführlichsten geschildert werden, sind der König und die Minister. Der König ist der ausgesprochene Vertreter der macchiavellistischen These, daß es für den Fürsten besser sei, unter dem Schein der Tugend alle Mittel der Staatsklugheit zu verbergen, als sich wirklich durch moralische Vorschriften gebunden zu fühlen. Der König von Lilliput beherrscht diese Technik in der ausgesprochensten Weise, wie die von ihm und seiner Regierung eingeführte Sitte beweist, von der Gulliver berichtet : It was a custom introduced by this prince and his ministry ( . . . ) that after the court had decreed any cruel execution, either to gratify the monarch's resentment, or the malice of a favourite, the Emperor always made a speech to his whole Council, expressing his great lenity and tenderness, as qualities known and confessed by all the world. This speech was immediately published through the kingdom; nor did anything terrify the people so much as those encomiums on his Majesty's mercy; because it was observed, that the more these praises were enlarged and insisted on, the more inhuman was the punishment, and the sufferer more innocent 3 1 9 . 3 1 9 Works VIII, 74. Vgl. dazu Macchiavell: Es ist (also) nicht nötig, daß ein Fürst alle aufgezählten Tugenden besitzt, wohl aber, daß er sie zu besitzen scheint. Ja, ich.

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Die Milde des Fürsten wird in dem lilliputanischen „impeachment" gegen Gulliver ebenso in den Vordergrund gerückt 320 , wie der König von Laputa darauf bedacht ist, die Sorge für sein Volk vorzuschieben, wenn er, aus Angst vor den möglichen Folgen für die fliegende Insel selbst, gezwungen ist, Balnibarbi milder zu behandeln als er möchte 321 . Selbst bei dem weit offeneren Vorgehen, das sich der König von Luggnagg erlaubt, wenn er seine persönlichen Feinde vernichten will, wird die große Milde und die Sorge für das Leben seiner Untertanen betont 322 . Ebenso ist die zur Schau getragene Großmut des lilliputanischen Königs in Wirklichkeit aus dem Motiv der Vorsicht entstanden 323 , wie auch Gullivers Freilassung sehr gnädig aussieht, aber vor allem darum gewährt wird, um sich Gulliver zu verpflichten und ihn auszunutzen 324 . „Die Eroberungslust", schrieb Macchiavell, „ ist etwas sehr Natürliches und Verbreitetes, und so oft Fürsten auf Eroberungen ausgehen, die die Macht dazu haben, werden sie gepriesen oder wenigstens nicht getadelt 3 2 5 ." Swifts König von Lilliput hat den Willen zur unermeßlichen Machtsteigerung und Befriedigung seines Ehrgeizes. And so unmeasurable is the ambition of princes, that he seemed to think of nothing less than reducing the whole empire of Blefuscu into a province, and governing it by a viceroy; of destroying the Big-Endian exiles, and compelling that people to break the smaller end of their eggs, by which he would remain the sole monarch of the whole world 326 . Unberechenbar affektbestimmt und selbstherrlich sind auch die königlichen Entschlüsse und Gebote der inneren Politik. Wie schon aus dem obigen Zitat hervorgeht 327 , sind persönliche Abneigungen des Königs oder Wünsche eines boshaften Günstlings bestimmende Faktoren der königlichen Rechtserlässe. Die besonders raffinierten HofZeremonien des Königs von Luggnagg dienen neben der Befriedigung eines übersteigerten Machtbedürfnisses ebenfalls den königlichen Launen, die mit Tod und Leben willkürlich schalten 328 . wage zu behaupten, daß sie schädlich sind, wenn man sie besitzt und stets ausübt, und nützlich, wenn man sie zur Schau trägt. So muß der Fürst Milde, Treue, Menschlichkeit, Redlichkeit und Frömmigkeit zur Schau tragen und besitzen, aber wenn es nötig ist, imstande sein, sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Der Fürst, Klassiker der Politik, Bd. 8, S. 100. 320 Vgl. . . . to signify the great lenity and favour of His Majesty and Council, whereby you are only condemned to the loss of your e y e s . . . Works VIII, 73. 3 2 1 Works VIII, 177. 3 2 2 Works VIII, 214. 3 2 3 Works VIII, 24. 3 2 4 Works VIII, 48. 3 2 6 a. a. O. S. 59. 3 2 6 Works VIII, 53 f. Vgl. S. 70, Article 2. 3 2 7 Vgl. ob. S. 85. 3 2 8 Works VIII, 214.

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Die Nichterfüllung der Neigungen und Wünsche ruft unabänderlich die Ungnade und Feindschaft des Königs hervor, mögen auch die geleisteten Dienste noch so groß gewesen sein. Die Dankbarkeit unterliegt der Kraft des neuen Verlangens. Gulliver spürt es, als er sich den imperialistischen Tendenzen entgegenstellt. Of so little weight are the greatest services to princes, when put into the balance with a refusal to gratify their passions 3 2 9 . Der König urteilt nicht nach eigener Erfahrung oder prüft ihm zugetragene Verleumdungen über verdienstvolle Persönlichkeiten nach, er ist durchaus von den Einflüsterungen seiner intriganten Minister abhängig. Lilliputs König z. B. gewährt Gullivers Wunsch nach einer Lizenz, Blefuscu besuchen zu dürfen, plötzlich „in a very cold manner" 3 3 0 . Eine der aufschlußreichsten königlichen Gewohnheiten ist die, Versprechen nicht zu halten. That this said Quinbus Flestrin, contrary to the duty of a faithful subject, is now preparing to make a voyage to the court and empire of Blefuscu, for which he hath received only verbal licence from his Imperial Majesty . . . 3 3 1 Dem König entsprechen seine Minister, die schon durch die Art ihrer Bewerbung den König und sich gleichzeitig charakterisieren. Skrupellose Wendigkeit begünstigt sie in Lilliput ebenso wie nach Gullivers Bericht in England, wo drei Methoden besonders ausgebildet sind. . . . the first is, by knowing how with prudence to dispose of a wife, a daughter, or a sister: the second, by betraying or undermining his predecessor: and the third is, by a furious zeal in public assemblies against the corruptions of the court 3 3 2 . Gerade der „furious zeal" enthält die schlimmste und tiefste Hypokrisie, denn diejenigen, die diese letzte Methode anwenden, sind dem Willen und den Leidenschaften ihres Königs am meisten ergeben. Um sich im Amt zu halten, nutzen die Minister die Habgier der Senatsund Ratsmitglieder, indem sie 6ie bestechen 3 3 3 . Untereinander versuchen sie sich gegenseitig im Kriechen und Lavieren zu übertrumpfen 3 3 4 . Dem Ehrgeiz der Minister entspricht der Neid, den sie gegen Erfolgreichere haben und der sie in geschickter Ausnutzung ebenso oder ähnlich gearteter Gefühle anderer zu Intrigen und Verleumdungen führt. Ohne jeden vernünftigen Grund steht in Lilliput Skyresh Bolgolam Gulliver mit den feindlichsten Gefühlen gegenüber: 32B 330 331 332 333 334

Works Works Works Works Works Works

vni, VIII, VIII, VIII, VIII. VIII,

54. 55. 70. 267. 266, vgl. 196. 38 f.

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. . . Skyresh Bolgolam, who was pleased, without any provocation, to be my mortal enemy 3 3 5 . Seine allmählich heraustretenden Beweggründe sind Mißgunst und Neid: You are very sensible that Skyresh Bolgolam . . . hath been your mortal enemy almost ever since your arrival. His original reasons I know not; but his hatred is much increased since your great success against Blefuscu, by which his glory, as Admiral, is obscured 3 3 6 . Mit Flimnap zusammen verleumdet er Gulliver beim König. Flimnap handelt hauptsächlich aus zwei Motiven: aus Neid auf die von Gulliver am Hof erworbene hohe Stellung, und, da der Hofskandal die freundschaftliche Beziehung Gullivers zu seiner Frau verdächtigt, aus in Wirklichkeit unbegründeter Eifersucht 3 3 7 . Flimnap übt in seinem Verhalten Gulliver gegenüber ebenfalls vom Interesse gebotene Heuchelei. That minister had always been my secret enemy, though he outwardly caressed me more than was usual to the moroseness of his nature 3 3 8 . Werden Minister und König von der Durchführung grausamer Pläne zurückgehalten, liegt das Motiv nicht in der Erkenntnis der Verwerflichkeit solcher Handlungen, sondern darin, daß die eigensüchtigen Interessen dabei mitbetroffen würden. However, this (Senken der fliegenden Insel) is an extremity to which the prince is seldom driven, neither indeed is he willing to put it in execution, nor dare his ministers advise him to an action, which as it would render them odious to the people, so it would be a great damage to their own estates, which lie all below, for the island is the King's demesne 3 3 9 . Im Königreich Tribnia, von dem Gulliver erzählt, liegt die Methode der Minister, ihrem eigenen Vorteil zu dienen, darin, mißliebige Personen der Verschwörung anzuklagen. It is first agreed and settled among them, what suspected persons shall be accused of a plot; then, effectual care is taken to secure all their letters and papers, and put the criminals in chains 3 4 0 . Die korrumpierten Minister sind stets darauf bedacht, den wirklich fähigen Kopf aus ihren Reihen zu verdrängen. This Lord Munodi was a person of the first rank, and had been some years Governor of Lagado; but by a cabal of ministers was discharged for insufficiency 3 4 1 . 886 338 837 338 838 840 341

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Works Works Works Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII,

43. 69. 69. 66. 177. 200. 182.

Die Einzelvorschläge, die in der Anklage gegen Gulliver gemacht werden, zeigen, daß den höchsten Vertretern des Staates jedes Mittel recht ist, ihren Haß befriedigen zu können. Alle Möglichkeiten erdenkbarer Grausamkeit werden abgewogen, wobei der Kampf hauptsächlich zwischen persönlichen Rachegefühlen und den etwaigen Nachteilen für den Staat, soweit dabei die selbstsüchtigen Interessen in Mitleidenschaft gezogen würden, ausgekämpft wird. I m Urteil dieses Prozesses spielt auch die Bestechlichkeit eine Rolle. Sie ist ein weiteres Motiv im Verhalten Bolgolams, den die von Rache gegen Gulliver ihrerseits erfüllte Königin für ihre Absichten gewonnen hat. . . . Bolgolam the Admiral, who, being a creature of the Empress, was perpetually instigated by her Majesty to insist upon your death, she having borne perpetual malice against you, on account of that infamous and illegal method you took to extinguish the fire in her appartment 3 * 2 . Zusammenfassend wird der Chief Minister of State von Gulliver in seinem Bericht für das graue Pferd charakterisiert. Hier wird die Doppelheit von Sein und Schein zur offenen Lasterhaftigkeit: E r ist ein Wesen, dem die allgemein-menschlichen Gefühle Freude und Schmerz, Liebe und Haß, Mitleid und Ärger fremd sind. Sein Verhalten beherrschen nur drei Motive: heftige Begierde nach Reichtum, Macht und Würden. Vom Machttrieb ist sein ganzes Verhalten bestimmt. E r kennt keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge, denn er gebraucht die Worte nur wie es seine persönlichen Zwecke erforderlich machen. Alle seine Handlungen stehen in umgekehrtem Verhältnis zu seinen wirklichen Absichten. So steht das Schlimmste zu erwarten, wenn er ein Versprechen gibt und es gar mit einem Eid bekräftigt. Mit dem Trieb zur Macht vermag nur wenig Einfluß von außen zu wetteifern. Gewöhnlich gelingt es einer verkommenen Dirne oder einem Lieblingsbedienten, ihn zu beherrschen. Seine schlechten Eigenschaften werden auf seine Umgebung übertragen, und so zersetzt sich die Gesellschaft immer weiter. Durch den „Act of Indemnity" geschützt ziehen sich die Minister aus ihrer öffentlichen Tätigkeit zurück „laden with the spoils of the n a t i o n " 3 4 3 . Dieser Charakter prägt die reine Verkörperung des Hobbesschen Machtmenschen deutlich aus. Sein wichtigstes Instrument ist, wie Hobbes erkannte und wie Butler es bereits satirisch charakterisierte, die subjektiv willkürliche Verwendung der Sprache in Lüge und Betrug. Die besondere Betonung der „insolence" und die vollkommene Gefühlsleere verstärken den Eindruck der gänzlichen moralischen Empfindungslosigkeit. E s ist an dieser Stelle aufschlußreich, einen Blick auf die übrigen politischen Charakterbilder in Swifts Schriften zu werfen. Dabei ergibt sich die Übereinstimmung mit den Schilderungen, die Swift von bestimmten Führern der Whigs gegeben hat. Der komprimierten Zusammenfassung Works VIII, 73. * Works VIII, 267.

342 3 3

89

im Gulliver entspricht am genauesten der Character des Earl of Wharton, dem Swift ein ganzes Pamphlet gewidmet hat, worin ebenfalls als alleinbestimmend die drei Motive: love of power, of money und — statt der titles — of pleasure auftauchen. Im „Character of Wharton" unterstreicht Swift die absolute als solche nicht einmal gewußte Lasterhaftigkeit noch stärker: He is without the sense of shame or glory as some men are without the sense of smelling 3 4 4 . Heuchelei und Lüge sind die Talente, die er übt und die er wert hält. He swears solemnly he loves and will serve you and your back is no sooner turned but he tells those about him you are a dog and a rascal 3 4 5 . Die Skrupellosigkeit des Lügens ist das, was den Charakter dieses Politikers bestimmt. Im Examiner hat Swift in diesem einen Zug noch einmal wie im Brennpunkt eines Spiegels das ganze Wesen des politischen Machtmenschen aufgefangen. That he (a political liar) ought to have but a short memory, which is necessary according to the various occasions he meets with every hour, of differing from himself, and swearing to both sides of a contradiction, as he finds the persons disposed, with whom he has to deal 3 4 6 . Wharton gehört in seiner Lebensauffassung durchaus zu den libertinistischen Kreisen der letzten Stuart-Zeit. He early acquired and retained the reputation of being the greatest rake in England 3 4 7 . In Wharton fand Swift vereinigt, was er mehr und mehr in gesetzmäßiger, wechselseitiger Abhängigkeit sah: Whigismus, moralische Verworfenheit und Atheismus. Dies zeigt, wie stark Swifts politische Überzeugungen und Kämpfe und seine Verteidigung der anglikanischen Kirche mit dem Ethos seiner ganzen Persönlichkeit verwachsen waren, und wie sehr der Gulliver der ins allgemeine geweitete Ausdruck dessen ist, was die Persönlichkeit Swifts bedeutet. Dem Charakter des Ministers eng verwandt ist der ähnlich geartete des Günstlings, der sich ebenfalls durch keine Bindung an Versprechen auszeichnet. In England spielen zudem die Lords des Oberhauses und in Lagado die Senatoren eine Rolle. B e i ihrer Wahl sprechen alle Motive außer Anständigkeit und Können mit. He asked . . . whether the humour of the prince, a sum of money to a court-lady, or a prime minister, or a design of strengthening a party 344 346 349 347

90

Works V, 8. Works V, 9. Works IX, 81. D.N.B., 418.

opposite to the public interest, ever happened to be motives in those advancements 3 4 8 . Die gesamte Regierung in Lilliput zeigt in ihrer Stellung Gulliver gegenüber, wie sie ihre Entschlüsse und Befehle ausschließlich am Nutzen mißt, den Gulliver bringen könnte, und wie sie einzig darauf bedacht ist, diesen Nutzen recht groß zu gestalten. Die Neugier, Gulliver zu sehen, treibt die Leute von Haus und Hof. Um der Vernachlässigung der Arbeit zu steuern, werden Befehle ausgegeben und für das Betreten einer gewissen Bannmeile eine vom Hof ausgestellte Lizenz gefordert, . .. whereby the secretaries of state got considerable fees 3 4 9 . Gulliver ist in Lilliput die gegebene Hilfskraft, Kriegs- und Eroberungspläne durchzuführen. Die Bedingungen, die ihm seine Freiheit zurückgeben, enthalten diesen Punkt. He shall be our ally against our enemies in the Island of Blefuscu, and do his utmost to destroy their fleet, which is now preparing to invade u s 3 5 0 . Am stärksten kommt diese Ausnutzung für persönliche Zwecke im Prozeß gegen Gulliver heraus: That the loss of your eyes would be no impediment to your bodily strength, by which you might still be useful to his Majesty 3 5 1 . Auch die erste Aufnahme Gullivers im Lande Lilliput kommt nicht aus irgendwelchem Wohlwollen, sondern aus einem durch Furcht verursachten, sehr bezeichnenden Gegeneinander der Motive, indem das kleinere gegen das größere Übel abgewogen wird. Sometimes they determined to starve me, or at least to shoot me in the face and hands with poisoned arrows, which would soon dispatch me; but again they considered, that the stench of so large a carcass might produce a plague in the metropolis, and probably spread through the whole kingdom 3 5 2 . Der Egoismus, der sich in den Leidenschaften verkörpert, führt zum Kampf, der sich innerpolitisch in den Parteien austobt. Lilliput leidet unter einer „violent faction" und die Erbitterung nimmt die extremsten Formen an. The animosities between these two parties run so high, that they will neither eat nor drink, nor talk with each other 3 5 3 . Selbst Brobdingnag hat lange Zeit Last gehabt Works VIII, Works VIII, 3 5 0 Works VIII, 3 5 1 Works VIII, 3 5 2 Works VIII, 3 6 3 Works VIII, Ireland who would 348

349

132. 31. 44. 71. 31 f. 48 f. Vgl. Corr. Ill, 267. I tell you, there is hardly a Whig in allow a potato and butter-milk to a reputed Tory. 91

. . . with the same disease to which the whole race of mankind is subject; the nobility often contending for power, the people for liberty, and the King for absolute dominion 3 5 4 . Die Parteisucht der menschlichen Natur arbeitet zur Erreichung ihres Ziels mit den Neigungen und Wünschen der übrigen. Die Wahl der Commoners in England ist das Ergebnis eines Bestechungssystems 355 . Der Vertreter der Partei wiederum gewinnt seinen Nutzen, indem er nicht dem öffentlichen Wohl folgt, sondern durch Konzession an König und Minister seine eigene Tasche füllt. Es taucht an dieser Stelle eine für Swift außerordentlich charakteristische Entlarvung auf: die enthusiastische Übersteigerung wird als moralische Hypokrisie erkannt. How it came to pass, that people were so violently bent upon getting into this assembly, which I allowed to be a great trouble and expense, often to the ruin of their families, without any salary or pension: because this appeared such an exalted strain of virtue and public spirit, that his Majesty seemed to doubt it might possibly not be always sincere . . . 3 5 e Außenpolitisch führt der Gegensatz der Meinungen zum Krieg. Neither are any wars so furious and bloody, or of so long continuance, as those occasioned by difference in opinion, especially if it be in things indifferent 3 5 7 . Die Kriege können von verschiedenen Affekten motiviert werden: Furcht, Neid, Überlegenheitsgefühl, Habgier, Hunger, Stolz und Streit zwischen Blutsverwandten. Die Methode der Kriegsführung kann dahin gehen, daß der Gegner die innerpolitischen Gegensätze ausnutzt. These civil commotions were constantly fomented by the monarchs of Blefuscu . . . 3 5 8 Die Mittel des Krieges sind Betrug und Lüge und sie werden wahllos nach dem Nutzen des Augenblicks auch gegen den gewandt, der eben noch Freund war, eine ebenfalls macchiavellistische Taktik. It is a very kingly, honourable, and frequent practice, when one prince desires the assistance of another to secure him against an invasion, that the assistant, when he hath driven out the invader, should seize on the dominions himself, and kill, imprison or banish the prince he came to relieve 3 5 9 . Auch bei offiziell bestehendem Frieden bleibt zwischen den Staaten ein latenter Kriegszustand bestehen, der von Stolz und Überheblichkeit genährt wird. Works VIII, 143. Works VIII, 133. 3 5 6 Works VIII, 133. 3 5 7 Works VIII, 254. 3 5 8 Works VIII, 50. Vgl. S. 254: It is a very justifiable cause of a war to invade a country after the people have been wasted by famine, destroyed by pestilence, or embroiled by factions among themselves. 3 6 B Works VIII, 254. 354

356

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It is to be observed, that these ambassadors spoke to me by an interpreter, the languages of both empires differing as much from each other as any two in Europe, and each nation priding itself upon the antiquity, beauty, and energy of their own tongues, with an avowed contempt for that of their neighbour . . . 3 6 ° Die politische Satire wird ergänzt durch die Schilderung der Familien, aus denen die Vertreter des Staates hervorgehen. Swifts Charakteristik der „nobility" fügt zu den öffentlichen Lasten der Staatsmänner die privaten ihres Standes. Von Kindheit an verwöhnt, ruinieren sie ihr Vermögen im Glücksspiel und ihre Gesundheit durch Ausschweifungen. Die Kinder ihrer aus Geldinteresse geschlossenen Ehen sind krank und mißgestaltet. . . . a weak diseased body, a meagre countenance, and sallow complexion, are the true marks of noble blood; and a healthy robust appearance is so disgraceful in a man of quality, that the world concludes his real father to have been a groom or a coachman 361 . Diesen körperlichen Gebrechlichkeiten entsprechen die des Geistes. . . . being a composition of spleen, dullness, ignorance, caprice, sensuality and pride 3 6 2 . Von den weiteren Institutionen des Staates wird die Kirche nur gestreift. Im Zusammenhang mit dem politischen Parteiensystem wird auch von den kirchlichen Parteien und Sekten gesprochen 363 . Und bei der Ernennung der englischen Lords werden auch die Konzessionen der in weltkluger Unterwürfigkeit handelnden großen Geistlichen als die wirklichen Motive ihres Fortkommens erwähnt. Whether those holy lords . . . were always promoted to that rank upon account of their knowledge in religious matters, and the sanctity of their lives, had never been compliers with the times, while they were common priests, or slavish prostitute chaplains to some nobleman, whose opinions they continued servilely to follow after they were admitted into that assembly 364 . Mit der Politik am engsten verknüpft ist das Recht, das um so mehr Mittel und Erscheinungsform der gleichen Affekte ist, als die Gesetzgeber selbst den geschilderten Leidenschaften unterworfen sind. . . . you have clearly proved that ignorance, idleness, and vice, are the proper ingredients for qualifying a legislator 365 . Die Politik benutzt das Recht für ihre Zwecke und die Vertreter der Legalität gehorchen aus Eigennutz und Unterwürfigkeit. Im lilliputanischen „impeachment" tritt aus diesem Grunde an die Stelle der formalen 380 361 362 383 384 386

Works Works Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII, VIII, VIII,

55. 268. 268. 53. 132 f. ir>.

R e c h t s b e g r ü n d u n g die subjektive, affektbestimmte Überzeugung, die sogar ein Todesurteil vollzieht. . . . t h a t his sacred Majesty a n d t h e Council, who a r e your judges, were in t h e i r own consciences f u l l y convinced of your guilt, which was a sufficient a r g u m e n t to condemn you to death, without the f o r m a l proofs r e q u i r e d by t h e strict letter of t h e l a w 3 6 6 . D e r König von Brobdingnag w e i ß u m die gleichen Zusammenhänge, wenn er f r a g t : W h e t h e r p a r t y in religion or politics were observed to be of any weight in the scale of j u s t i c e 3 6 7 . Gulliver bestätigt das Recht dieser Frage, als er dem P f e r d von den englischen Rechtsverhältnissen erzählt, die bei Vergehen gegen den Staat eine Rolle spielen: I n t h e trial of persons accused f o r crimes against t h e state, the method is m u c h m o r e short and c o m m e n d a b l e ; t h e j u d g e first sends to sound the disposition of those in power, a f t e r which h e can easily hang or save the criminal, strictly preserving all due f o r m s of l a w 3 6 8 . Das E n d e dieses Zitates zeigt schon, welch Instrument der Willkür die Rechtsinterpretation darstellt. Die Methoden, dieses Instrument zu geb r a u c h e n , sind vielfältig u n d abhängig vom subjektiven Nutzen des Rechtsanwaltes. J e n a c h d e m die Lawyers bezahlt werden, beweisen sie m i t vielen W o r t e n , d a ß schwarz weiß u n d w e i ß schwarz ist. Wieder zeigt sich h i e r die Vieldeutigkeit der Sprache als Mittel des Egoismus. Die Rechtssprache ist so verfeinert u n d spitzfindig, d a ß die E i n f a c h h e i t des w a h r e n Rechts in i h r untergeht. . . . this society h a t h a peculiar cant and j a r g o n of t h e i r own, t h a t no o t h e r m o r t a l can understand, a n d wherein all t h e i r laws are written, which they t a k e special care to m u l t i p l y ; w h e r e b y they have wholly conf o u n d e d t h e very essence of t r u t h a n d falsehood, of right and wrong 3 6 9 . Die Richter m e i d e n den geraden Weg, der auf den K e r n der Rechtsfragen f ü h r t , u n d geben sich mit lächerlichen N e b e n u m s t ä n d e n ab. I n n e r h a l b der Urteilssprechung v e r k ö r p e r t sich die ganze Subjektivität u n d Affektabhängigkeit des Rechts in der B e r u f u n g auf den Präzedenzfall. It is a m a x i m among these lawyers, t h a t whatever h a t h been done before, may legally b e done again: and t h e r e f o r e they take special care to record all t h e decisions f o r m e r l y m a d e against common justice a n d t h e general reason of m a n k i n d . These, u n d e r t h e n a m e of precedents, they ?,66 Works VIII, 72. Vgl. . . . that he had good reasons to think you were a Big-Endian in your heart; and as treason begins in the heart, before it appears in overt-acts, so he accused you as a traitor on that account, and therefore insisted you should be put to death. (S. 72.) 387 368 389

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Works VIII, 133. Works VIII, 261. Works VIII, 261.

p r o d u c e as authorities, to justify t h e most iniquitous opinions; and t h e judges never fail of directing accordingly 3 7 0 . Die P r i n z i p i e n der tatsächlichen R e c h t s p r e c h u n g t r e t e n am deutlichsten in d e n Handlungsmotiven der Lawyers heraus, die sich von vornherein in einer an Versuchungen reichen Lage befinden, da sie m i t i h r e r Tätigkeit der Rechtsprechung Geld verdienen. I h r e m Nutzen entspricht es, die Zeit, die ein P r o z e ß dauert, möglichst lange hinauszuziehen u n d auch in Sachen zu p l ä d i e r e n „manifestly k n o w n to b e u n j u s t , vexatious, or oppressive" 3 7 1 . Rein vom eigenen Vorteil geleitet, m a c h t es den Anwälten nichts aus, einmal f ü r u n d einmal gegen dieselbe Sache zu sprechen. Das Interesse u n d die Fähigkeiten der Gesetzesinterpreten liegt einzig in der V e r d r e h u n g des Gesetzes. . . . laws are best explained, i n t e r p r e t e d , and a p p l i e d by those whose interest and abilities lie in perverting, confounding, a n d eluding them372. Wie b e i m C h a r a k t e r des Ministers zieht Gulliver w i e d e r u m in der Erzählung f ü r das graue P f e r d das Fazit. D e r Lawyer ist von f r ü h an d a r i n geübt, das Unrecht zu vertreten u n d w ü r d e die Verteidigung der Gerechtigkeit als eine u n n a t ü r l i c h e A u f g a b e empfinden, die er n u r m i t Abneigung auf sich n e h m e n könnte. Der Lawyer steht so sehr u n t e r der Notwendigkeit, B e t r u g , Meineid u n d U n t e r d r ü c k u n g zu begünstigen: . . . t h a t I have k n o w n several of t h e m refuse a large b r i b e f r o m the side where justice lay, r a t h e r t h a n i n j u r e t h e faculty, by doing any t h i n g unbecoming t h e i r n a t u r e or t h e i r office 3 7 3 . Die Möglichkeit, einen P r o z e ß zu gewinnen, liegt n u r darin, zu versuchen, sich diesen Tatsachen u n d Methoden anzugleichen. An dieser Charakteristik sind als die wesentlichsten Züge die völlige V e r k e h r u n g der ethischen W e r t e u n d vor allem die Betonung, d a ß das Unrechte als das N a t ü r l i c h e betrachtet wird, herauszuheben. Es gilt auch f ü r den Lawyer, den Swift i m Gulliver schildert, dasselbe, was Samuel Butler als Kennzeichen seines C o r r u p t J u d g e a n f ü h r t : right or wrong are all one to h i m . Die i h n charakterisierenden Mittel sind die Verwendungsmöglichkeiten der Sprache u n d besonders seine in der I n t e r p r e t a t i o n willkürlich gebrauchte H e r r s c h a f t über die begriffsreiche Ausdrucksform des Rechtes. Die das Bild der Gesellschaft weiter vervollständigende Stände- u n d Berufssatire beschränkt sich auf die der Ärzte u n d der Seeleute, deren Charakteristik durch den ä u ß e r e n R a h m e n der Reisen gegeben ist. Die Ärzte repräsentieren wie die Vertreter des Rechts eine Berufsklasse, die i h r e eigene Unwissenheit u n d Skrupellosigkeit zur Ausbeutung anderer nutzt. Schon in Brobdingnag m a c h t Gulliver eine bissige Be370 371 372 373

Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII,

260. Vgl. 134 und 261. 133. 135. 260.

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merkung über ärztliche Unwissenheit, die sich in diesem besonderen Falle auf einen Zahnarzt bezieht: It (the tooth) was drawn by an unskilful surgeon, in a mistake, from one of Glumdalclitch's men, who was afflicted with the tooth-ache, but it was as sound as any in his head 3 7 4 . Im Land der Pferde spricht Gulliver allgemeiner. Dem Wissen der Ärzte entsprechend gibt es für sie nur zwei Heilmethoden, durch die sie die körperlichen Funktionen jeweils in ihr Gegenteil verkehren. Neben den wirklichen Krankheiten gibt es außerdem eingebildete „for which the physicians have invented imaginary cures" 3 7 5 . Die auszeichnende Geschicklichkeit der Ärzte liegt in der Prognose. Da die Voraussage in ernsten Fällen auf den Tod geht, ist ihre Eitelkeit und ihr Selbstbewußtsein stets gesichert, denn . . . upon any unexpected signs of amendment, after they have pronounced their sentence, rather than be accused as false prophets, they know how to approve their sagacity to the world by a seasonable dose 3 7 6 . Durch den Arzt als Giftmischer charakterisiert Swift gleichzeitig alle diejenigen, die ihn in dieser Eigenschaft zu Rate ziehen: Gatten, die einander überdrüssig sind, älteste Söhne, große Staatsminister und Fürsten. Die Charakteristik der Seeleute ergibt sich hauptsächlich in dem Rahmenbericht. Die Vorbereitung des dritten und vierten Abenteuers bringt Schiffsszenen, die von Haß, Mißgunst und Grausamkeit erfüllt sind. Der Piratenüberfall, der Gulliver isoliert, bevor er nach Laputa kommt, zeigt dies besonders deutlich in der Gegenüberstellung des Holländers und des Japaners. Von sinnloser Wut gegen den Engländer erfüllt, ersinnt der Holländer Vernichtungspläne, die der japanische Kapitän nur wenig zu mildern vermag. . . . I was sorry to find more mercy in a heathen than in a brother Christian 3 7 7 . Das vierte Abenteuer wird von einer typischen Schiffsrevolte vorbereitet, die ausbricht, um das Schiff zugunsten der Besatzung zum Piratenschiff zu machen: . . . I knew not what course they took, being kept a close prisoner in my cabin, and expecting nothing less than to be murdered, as they often threatened m e 3 7 8 . Bei der Schilderung von Handel und Schiffahrt berichtet Gulliver dem Pferd nochmals von den typischen Schiffsbesatzungen, die entweder aus Armut oder eines Verbrechens halber zur See gehen. Gulliver entwickelt Works VIII, 152. Works VIII, 265. 3 7 8 Works VIII, 265. 3 7 7 Works VIII, 159. Dies ist im Gulliver beiläufig die einzige Stelle im Sinne der sonstigen philosophical voyages. 3 7 8 Works VIII, 230. 374

376

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die ganze Reihe der möglichen europäischen Verbrechen: Some were undone by law-suits; others spent all they had in drinking, whoring and gaming; others fled for treason; many for murder, theft, poisoning, robbery, perjury, forgery, coining false money, for committing rapes or sodomy, for flying from their colours, or deserting to the enemy, and most of them had broken prison . . , 3 7 9 Die in diesen Rahmenepisoden realistisch festgehaltenen Vorgänge sind für die Zeit Swifts typisch. It was an age of pirates and wreckers, pressgangs and mutineers 3 8 0 . Neben der politischen und der an Stände und Berufe gebundenen gesellschaftlichen Satire gibt es im Gulliver eine Fülle von einzelnen psychologischen Beobachtungen und Feststellungen, die mit der menschlichen Natur als solcher verknüpft sind. Sie werden meistens an ganz einfachen Menschen gemacht, etwa an den Bauern in Brobdingnag, und zeigen, daß die durch das Milieu des Hofes gegebene Korruption als ursprünglich in der menschlichen Natur angelegte Neigung vorhanden ist. Die am häufigsten begegnende Eigenschaft des Menschen ist die natürliche Grausamkeit, die teils unbewußt, teils mit sehr überlegter Bosheit verbunden ist. In Gullivers Angst vor dem Riesen spiegelt sich seine Erfahrung, die er mit den Menschen gemacht hat: . . . for, as human creatures are observed to be more savage and cruel in proportion to their bulk . . . 3 8 1 . . . I apprehended every moment that he would dash me against the ground, as we usually do any little hateful animal which we have a mind to destroy 3 8 2 . Die Befürchtungen Gullivers sind berechtigt, denn in dem zehnjährigen Jungen des Bauern kommen alle natürlichen Bosheiten heraus: Er ergreift Gulliver und hält ihn hoch in die Luft, daß er an allen Gliedern zittert. Der Vater züchtigt den Jungen, aber das ruft in Gulliver nur neue Ängste wach. . . . being afraid the boy might owe me a spite, and well remembering how mischievous all children among us naturally are to sparrows, rabbits, young kittens and puppy dogs. I fell on my knees . . . 3 8 3 In derselben Richtung liegen die Bosheiten des Zwerges, die überlegte und vorbereitete Racheakte gegen Gullivers witzige Überlegenheit sind. Die ursprüngliche Grausamkeit des Menschen verraten Gullivers Angst und Vorsichtsmaßnahmen, wenn er in die Nähe der primitiven Völker kommt. Er wagt sich möglichst nicht in das Land hinein. Als er doch einmal dazu gezwungen ist, wird er sofort angegriffen. Works VIII, 263. Clark, The seventeenth Century, S. 59. 3 8 1 Works VIII, 89. 3 8 2 Works VIII, 90. 383 Works VIII, 92. Vgl. An unlucky school-boy aimed a hazelnut directly at my head. S. 100. 97 379

380

I made what haste I could to the shore, and getting into my canoe, shoved off; the savages . . . discharged an arrow, which wounded me deeply on the inside of my left knee . . . I apprehended the arrow might be poisoned . . , 3 8 4 Die ganze von allen Erfindungen der menschlichen Vernunft unterstützte Grausamkeit des Menschen tritt vollständig in der Kriegführung und den Waffen hervor, mit denen die zivilisierten Völker den Gegner zu vernichten suchen. Die dem Menschen unwürdigste dieser Erfindungen ist das Pulver, dessen vernichtende Kraft Gulliver ausführlich schildert: That the largest balls thus discharged, would not only destroy whole ranks of an army at once, but batter the strongest walls to the ground, sink down ships, with a thousand men in each, to the bottom of the sea . . . 3 8 5 Ähnlich verheerend sind die Belagerungsgeschütze. Ihre Kugeln would rip up the pavements, tear the houses to pieces, burst and throw splinters on every side, dashing out the brains of all who come near 3 8 8 . Der fürchterlichen Wirkung seiner Erfindung steht der Mensch gegenüber in so familiar a manner as to appear wholly unmoved at all the scenes of blood and desolation . . . 3 8 7 , eine Haltung, die mit äußerster satirischer Intensität im vierten Buch noch einmal geschildert wird: I assured him, that I had seen them blow up a hundred enemies at once in a siege, and as many in a ship, and beheld the dead bodies come down in pieces from the clouds, to the great diversion of the spectators 3 8 8 . Gleichermaßen ursprünglich wie die Grausamkeit äußert sich die Selbstsucht. Der Bauer in Brobdingnag weist in seinem Verhalten einen natürlichen Egoismus auf. Um sich durchzusetzen, sucht er ebenso Tatsachen und wahre Motive zu verschleiern, wie es die politische Kunst der Staatsmänner tut. Als Gulliver durch die Schaustellungen gesundheitlich völlig herunter ist, richtet der Bauer sein weiteres Verhalten danach ein. . . . concluding I soon must die (he) resolved to make as good a hand of me as he could 3 8 9 . Der König fragt, ob er bereit wäre, Gulliver zu gutem Preis zu verkaufen, und sofort nutzt er es aus. He, who apprehended I could not live a month, was ready enough to part with me, and demanded a thousand pieces of gold . . , 3 9 0 Works V I I I , 296. Works V I I I , 138. 3 8 6 ebda. 3 8 7 Works V I I I , 139. 3 8 8 Works V I I I , 256 f. 3 8 9 Works V I I I , 103. 3 9 0 Works V I I I , 104. Vgl. That if my master had not thought my life in danger, her Majesty perhaps would not have got so cheap a bargain. S. 104. 384 385

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Äußerungsformen des Egoismus wie Wortbruch und vom Interesse gebotene Lüge begegnen als alltägliche Erscheinungen des Lebens überall. Glumdalclitch klagt Gulliver gegenüber, daß ihre Eltern wieder, wie im vergangenen Jahr, ihr Versprechen nicht halten würden. . . . when they pretended to give her a lamb, and yet, as soon as it was fat, sold it to a butcher 3 9 1 . Daß der Selbstsucht jede Überzeugung geopfert wird, zeigt ein Erlebnis Gullivers in Japan. Hier wird von Gulliver verlangt, auf das Kruzifix zu treten, eine Zeremonie, die die Holländer erfüllen, um mit Japan Handel treiben zu können. Gulliver bringt ein vom König von Luggnagg unterstütztes Gesuch, dieser Zeremonie überhoben zu werden. . . . he seemed a little surprised, and said, he believed I was the first of my countrymen who ever made any scruple in this point . . , 3 9 2 In diesem Zusammenhang zeigt sich auch, daß der Angeber nicht nur am Hof zu finden ist. . . . a malicious rogue of a skipper went to an officer, and pointing to me, told him, I had not yet trampled on the crucifix . . . 3 9 3 Wir kommen zur abschließenden Zusammenfassung über die menschliche Gesellschaft. Wie sich die moralischen Werturteile in ihr darstellen, zeigen zwei der Projektoren in Lagado, die ein neues Steuersystem herausfinden wollen. Der eine von ihnen will die Qualitäten des Körpers und des Geistes besteuern, derenthalben die Menschen sich selbst am höchsten einschätzen, . . . who are the giteatest favourites of the other sex, and the assessments according to the number and natures of the favours they have received; for which they are allowed to be their own vouchers 3 9 4 . Ebenso werden „wit, valour and politeness" und bei den Frauen „beauty" und „skill in dressing" behandelt. Dagegen brauchen Ehre, Gerechtigkeit, Weisheit und Bildung, und bei den Frauen Beständigkeit, Keuschheit, „good sense" und „good nature" nicht besteuert zu werden. . . . because they are qualifications of so singular a kind, that no man will either allow them in his neighbour, or value them in himself 3 9 5 . Es sprechen sich hierin die Gegensätze, die wir in den gesellschaftlichen Voraussetzungen entwickelt haben, deutlich aus: der kulturellen geistigen Höhe (wit und politeness) entsprechen keine moralischen Werte. Im „good sense" das stützende moralische Gefühl für die vernünftige Daseinsforrn des Menschen zu schaffen, ist erst das Bestreben der Satire Swifts, d»6 vor allem von den Wochenschriften Addisons und Steeles unterstützt wird. 391 392 393 3M 368

Woiks Woiks Woiks Woiks Woiks

VIII, VIII, VIII, VIII, VIII,

99. 226. 227. 197. 198

99

Gullivers weitergehende Ausführungen f ü r das graue Pferd vervollständigen die Charakteristik der menschlichen Gesellschaft, deren letzte Triebfedern und Machtmittel offengelegt werden. Der Bericht paßt sich der völligen Ahnungslosigkeit seines Zuhörers in diesen Dingen an. Durch die betonte Einfachheit der Schilderung werden die unverhüllten Tatsachen mit ungeheurer Härte herausgestellt. Das mächtigste und am meisten erstrebte Mittel des schrankenlosen Individualismus ist das Geld, das allein alle Wünsche erfüllbar macht. Durch die Machtkämpfe um das Geld sind soziale Gegensätze entstanden, die den Armen zur Beute des Reichen machen. That the rich man enjoyed the fruit of the poor man's labour, and the latter were a thousand to one in proportion to the former. That the bulk of our people were forced to live miserably, by labouring every day for small wages to make a few live plentifully 3 9 6 . F ü r die Reichen ist Geld das Mittel, ihre Leidenschaften und Launen befriedigen zu können. Der Hang zu Luxus und Ausschweifung, die Eitelkeit der Frauen setzt den ganzen Mechanismus des Handels in Bewegung, durch den . . . we sent away the geratest part of our necessary things to other countries, from whence in return we brought the materials of diseases, folly, and vice, to spend among ourselves 3 9 7 . Diese Laster ziehen folgerichtig alle anderen nach sich, die aus dem sozialen Gegensatz zwischen dem Lebensstandard der Reichen und der furchtbaren Lage der Armen entstehen. Gulliver erzählt dem Pferd von den Wirkungen des Weines. Er zeigt im schärfsten Licht die Folgen der Trunksucht und der übrigen Laster über Generationen hinaus und berührt damit das Thema der Degeneration, die er an englischen Familien beobachtet und die er als Entwicklungsgesetz auf die menschliche Geschichte überhaupt überträgt. Das Buch, das Gulliver in Brobdingnag findet, geißelt die Schwäche der menschlichen Natur und beweist, wie der Mensch von vielen Geschöpfen an Kraft, Schnelligkeit, Voraussicht und Fleiß übertroffen wird. He added, that nature was degenerated in these latter declining ages of the world, and could now produce only small abortive births in comparison of those in ancient times 3 9 8 . Dieser Bericht ist einmal eingeschoben, um die mögliche Fülle der relativen Welten zu zeigen. Zugleich wird darin die absteigende Linie aller Werte von der Vergangenheit bis zur Gegenwart sichtbar gemacht, wie 388 397 388

100

Works VIII, 262. Works VIII, 263. Works VIII, 141.

sie eich aus Swifts Überzeugung vom gänzlichen moralischen Verfall erklärt, der sich besonders in den letzten 100 Jahren vollzogen hat 3 9 9 . Die auf die Geschichte übertragene Frage nach dem Motiv des Handelns und die Degeneration des Menschen bilden in der Totenbeschwörung des dritten Buches die Aufbaufaktoren, die zur utopisch-satirischen Gegenüberstellung des antiken und modernen Menschen führen. Das Heroische der Geschichte in den letzten 100 Jahren enthüllt sich als Schein der Feigheit und der Unmoral. Die Könige und ihre Ahnen, die aus dem Totenreich heraufgerufen werden, sind die erste Enttäuschung Gullivers, der von Interesse für „old illustrious families" erfüllt ist. . . . I saw in one family two fiddlers, three spruce courtiers, and an Italian prelate. In another, a barber, an abbot, and two cardinals 4 0 0 . Ebenso ist es bei den verschiedenen Adelsklassen. Gulliver sieht, woher die Schurken, Narren, Schwachsinnigen und Betrüger unter ihnen kommen, Grausamkeit, Falschheit und Feigheit zeichnen die Familien aus, zu deren Charakteristik Gulliver Polydore Vergils Wort: Nec vir fortis, nec femina casta, zitiert. Deformierende Krankheiten haben sich gradlinig in ihnen weitervererbt und die Mißgestalt der äußeren Erscheinung verursacht. Neither could I wonder at all this, when I saw such an interruption of lineages by pages, lackeys, valets, coachmen, gamesters, fiddlers, players, captains, and pickpockets 4 0 1 . Zusammengefaßt in scharfer Gegenüberstellung lernt Gulliver hier die „springs and motives of great enterprises and revolutions in the world" 4 0 2 kennen. Die Geschichtsschreiber haben die echten Tatsachen verfälscht und die größten Tugenden den Lasterhaftesten zugeschrieben. Die Wirklichkeit liegt anders. Die Intrige großer Minister, die Korruption der Richter und die Bosheit der Parteien hat ausgezeichnete Persönlichkeiten verbannt oder zum Tode verurteilt. Die höchsten Plätze des Vertrauens, der Macht und der Würde hat man Verbrechern gegeben. . . . how great a share in the motions and events of courts, councils, and senates might be challenged by bawds, whores, pimps, parasites, and buffoons 4 0 3 . Gulliver durchschaut jetzt den Betrug und die Unkenntnis derer, die die „secret history" geschrieben haben. Im Gegensatz zur Darstellung ihrer unwissenden Fabeln über die geschichtlichen Ereignisse, wird Gulliver in 3 9 9 Diese ablehnende Haltung zur eigenen Zeit und die Entscheidung für die höheren Werte der Antike prägte sich zum ersten Mal aus, als Swift zugunsten Sir W. Temples in die „querelle des anciens et modernes" mit aller geistvollen Gewandtheit seines Witzes eingriff und die Battle of Books schrieb. Works VIII, 208. 4 0 1 Works VIII, 208. 2 Works VIII, 237. «03 Works VIII, 208 f.

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die geheimen Ursachen vieler großer Geschehnisse, die die Welt i n Erstaunen gesetzt h a b e n , eingeweiht. E r lernt erkennen, . . . how a whore can goviern t h e back-stairs, t h e back-stairs a council a n d t h e council a s e n a t e 4 0 4 . E i n General b e k e n n t Gulliver, d a ß er seinen Sieg n u r d u r c h die K r a f t der Feigheit u n d durch schlechte F ü h r u n g errungen, u n d ein A d m i r a l berichtet, d a ß er aus Mangel an entsprechenden N a c h r i c h t e n den F e i n d geschlagen habe, an den er die Flotte verraten wollte. Die Beteuerungen der drei Könige, m i t denen Gulliver spricht, fassen i h r e macchiavellistischen Anschauungen ganz b e w u ß t als Gegensatz z u m Ideal der moralischen S t a a t s f ü h r u n g zusammen u n d begründen die Notwendigkeit des Lasters f ü r den Bestand des königlichen Thrones. T h r e e kings protested to me, t h a t in t h e i r whole reigns they never did once p r e f e r any person of merit, unless by mistake or treachery of some minister in w h o m they confided; n e i t h e r w o u l d they do it, if t h e y were to live again; a n d they showed with great strength of reason, t h a t t h e royal t h r o n e could not b e s u p p o r t e d w i t h o u t corruption, because t h a t positive, confident, restive t e m p e r , which virtue infused into men, was a p e r p e t u a l clog t o public business 4 0 5 . Gullivers E r f a h r u n g e n , wie h o h e E h r e n t i t e l u n d große Güter e r w o r b e n wurden, werden erweitert. Meineide, U n t e r d r ü c k u n g , Anstiftung z u m Verbrechen, Betrug, K u p p e l e i u n d ähnliches sind die entschuldbarsten G r ü n d e des Fortkommens. Sie w e r d e n bei weitem durch folgende Methoden ü b e r t r o f f e n : . . . some confessed they owed t h e i r greatness and wealth to sodomy or incest, others to t h e prostituting of t h e i r own wives and daughters; others to t h e betraying of t h e i r country or t h e i r p r i n c e ; some to poisoning, m o r e to t h e perverting of justice in o r d e r to destroy t h e innocent . . . 4 0 6 Die wirklich verdienstvollen S t a a t s m ä n n e r a b e r fielen in Ungnade oder endeten auf dem Schafott. D a f ü r tritt zu den m o d e r n e n Beispielen ein einziges aus der römischen Kaiserzeit. Der w a h r e Sieger von Actium wurde eines u n e r f a h r e n e n Günstlinge der kaiserlichen Maitresse h a l b e r in der B e f ö r d e r u n g übergangen u n d der Pflichtverletzung angeklagt. Sein Schiff erhielt der Lieblingspage des Vizeadmirals. Es ist bedeutsam, d a ß an dieser Stelle nochmals als ursprüngliches Laster u n d damit als Motiv vieler anderer der Luxus bezeichnet wird. Es spricht sich darin die Problemlage des Imperialismus aus, der sich im 17. J a h r h u n d e r t voll entwickelte u n d die viel b e h a n d e l t e F r a g e der Berechtigung des Luxus n a c h sich zog. Swifts Stellung zu i h m ist, wie zu zeigen sein wird, besonders interessant. 404 408 409

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Works VIII, 209. ebda. Works VIII, 210.

Wie im dritten Buch in den Unsterblichen, auf die nochmals einzugehen sich erübrigt (vgl. I. Kapitel), erhellt Swift im vierten Buch seine Anschauung von der menschlichen Natur noch einmal in aller pessimistischen Härte durch die Yahoos, deren Verwandtschaft mit dem hobbistischen Menschen im ausgesprochenen Kriegszustand offen zutage liegt. Was die Menschen heuchlerisch verdecken, ist bei den Yahoos offen befolgter Trieb. Die Absicht Swifts scheint klar: im Yahoo, der durch seine Sprachunfähigkeit als vernunftlos gekennzeichnet ist, und infolgedessen weder Staat noch Wissenschaft noch Kunst kennt, hat Swift ein Wesen geschaffen, das die menschlichen Triebe und Instinkte eben ohne den verändernden Einfluß der Vernunft verkörpert. Es kommen im Yahoo gleicherweise die ursprünglich gegebene Grausamkeit, Selbstsucht und Ehrbegierde der Triebnatur heraus, wie durch den Vergleich zum zivilisierten — d. h. „vernünftigen" — Yahoo die rein destruktive Kraft dieser spezifisch menschlichen Eigenschaft gezeigt wird, da das Raffinement und die Kriegskunst des zivilisierten Yahoo, seinen Instinkten Befriedigung zu schaffen, die des unzivilisierten bei weitem übertrifft 4 0 7 . Das äußere Aussehen zeigt ausdrücklich die Ähnlichkeit mit den Wilden und betont damit, daß in diesen tierischen Wesen der Mensch gesehen werden soll. In ihrer Schnelligkeit und Gelenkigkeit, in den ihnen angeborenen Fähigkeiten des Schwimmens und Kletterns, sind die Yahoos dem Tier vergleichbar, von dem sie nur durch den menschlichen Grad der Verdorbenheit ihrer Instinkte unterschieden sind. Der Kriegszustand zwischen ihnen wird nicht nur auf Selbstsucht, sondern auf den Haß gegen die Scheußlichkeit der eigenen Gattung begründet, die sie nur in sich selbst zu sehen unfähig sind. He said the Yahoos were known to hate one another more than they did any different species of animals; and the reason usually assigned was the odiousness of their own shapes, which all could see in the rest, but not in themselves 4 0 8 . Dieser Haß geht so weit, daß gönnt: um Nahrung, die für Yahoos auf die heftigste Art, kampf ist die ursprünglichste alle.

keiner dem anderen das Lebensnotwendige fünfzig reichen würde, streiten sich fünf da jeder alles für sich will. Der NahrungsErscheinungsform des Kampfes aller gegen

. . . if a cow died of age or accident, before a Houyhnhnm could secure it for his own Yahoos, those in the neighbourhood would come in herds to seize it, and then would ensue such a battle as I have described, with terrible wounds made by their claws on both sides, although they seldom 4 0 1 Vgl. Korn, S. 54, Anm. 217, der gegen Webster M. L. N. 47, 451 die Ansicht verteidigt, daß Swift ein geschlossenes Bild der Yahoos gibt. « o s Works VIII, 271.

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were able to kill one another, for want of such convenient instruments of death as we had invented 4 0 9 . Die Yahoos brauchen den Krieg um jeden Preis als Daseinsform. Gibt es keine Feindschaft zwischen verschiedenen Nachbarschaften, so beginnt der Kampf innerhalb einer solchen als eine Art Bürgerkrieg. Ihre Habgier ist auf glänzende Steine gerichtet, die sie, obgleich sie gänzlich zwecklos 6ind, eingraben und wütend verteidigen. Schenkt man sie ihnen, werden sie plötzlich gefügig und nachgiebig 4 1 0 . Wie die Menschen haben sie ein berauschendes, dem Wein ähnliches Getränk : It would make them sometimes hug, and sometimes tear one another; they would howl and grin, and chatter, and reel, and tumble, and then fall asleep in the mud 4 1 1 . Die Gier und Unsauberkeit der Yahoos ruft Krankheit hervor, die mit widerlicher Medizin zu heilen versucht wird. Den Institutionen der zivilisierten Yahoos entsprechend gibt es auch hier einen . . . ruling yahoo . . . who was always more deformed in body, and mischievous in disposition, than any of the rest 4 1 2 . Dieser führende Yahoo ist von einem Günstling begleitet, . . . whose employment was to lick his master's feet and posteriors and drive the female yahoos to his kennel. E r behält seinen Platz, bis sich ein schlechterer findet. Die Yahoos kennen keine Ehe, sondern „had their females in common". In dem besonderen Verhalten der Yahoos aber liegt ein Grad von Brutalität, die jedem Tier fremd ist. . . . but in this they differed, that the she-Yahoo would admit the while she was pregnant; and that the hees would quarrel and fight the females as fiercely as with each other. Both which practices such degrees of infamous brutality that no other sensitive creature arrived a t 4 1 3 .

male with were ever

Die weiblichen Yahoos üben alle Künste der Koketterie in offenster und schamlosester Weise. Selbst dem Spleen Verwandtes findet sich bei den Yahoos. Ein Yahoo, der keinerlei Not leidet, zieht sich zurück, heult und stöhnt und stößt verächtlich alle sich Nähernden zurück. Der Yahoo ist in seinen Instinkten völlig befangen und entwickelt sich nicht über die Fähigkeit hinaus, Lasten zu ziehen und zu tragen. Diese Eigenschaft der Works V I I I , Works VIII, toys und bracelets. 4 1 1 Works V I I I , 4 1 2 Works V I I I , «w Works V I I I , 409

410

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271. 272. Derselbe Zug begegnet bei den Wilden in ihrer Vorliebe für 236. 273. 273. 274.

völligen Unbelehrbarkeit und des stumpfen Verharrens im Gegebenen ißt es, die ihn am meisten degradiert. Yet I am of opinion, this defect ariseth chiefly from a perverse, restive disposition. For they are cunning, malicious, treacherous and revengeful. They are strong and hardy, but of a cowardly spirit, and by consequence insolent, abject, and cruel 4 1 4 . Satirische

Einzelformen.

Wir haben gesehen, wie weit Swift in der Erkenntnis der irrationalen Motive mit der Psychologie des 17. Jahrhunderts übereinstimmt. Seine Originalität liegt weniger in den Motiveinsichten als solchen als in der einzigartigen Anschaulichkeit der Form, die die psychologische Analyse und die von ihr abhängige Schilderung der gesellschaftlichen Zustände als ein Bild des ganzen menschlichen Lebens unmittelbar faßlich lebendig macht. Innerhalb der gesellschaftlichen Satire des Gulliver gibt es bestimmte Einzelformen, die das von Leidenschaften diktierte Verhalten des Menschen in der Einzelsituation und in der allgemeineren aber konkretisierten Feststellung auffangen. In ihnen erweist sich der volle aufklärerische Gehalt des Swiftschen Werkes. Wir wählen die Allegorien, den Dialog des zweiten Buches und aus Gullivers Bericht für die Pferde die Charaktere und die Sentenz aus und möchten an der genauen Analyse dieser Beispiele zeigen, wie der satirische Gehalt mit der besonderen Form der Swiftschen Satire verbunden wird. Die gesamte Anlage des Gulliver wie die ihr notwendig verwandten Einzelformen der Satire haben ein gemeinsames Aufbauelement, durch das der Gulliver noch in einem weiteren Sinn, als es im zweiten Kapitel an dem Prinzip der Relativität dargestellt wurde, zu einer Schöpfung aus dem Geist des Empirismus und des in ihm zum Ideal erhobenen Vernunftbegriffs des common sense wird. Wie wir schon bei der Stellung Swifts und Berkeleys zur spekulativen Wissenschaft andeuteten, liegt für den Empirismus die einzige Realität in der partikularen Gegebenheit, im individuellen Einzelding. Die Folgerungen über abstrakte allgemeine Ideen, die Locke aus diesem von ihm aufgestellten Axiom zog, wurden von Berkeley bekämpft, der hier den spezifisch empiristischen Gedanken, Denken und Vorstellung in eins zu setzen, konsequenter durchdachte und so nicht nur das Seiende sondern auch das Begriffliche als voll anschaulich setzte „mit dem ganzen Gehalt der individuellen sensualen Wirklichkeit gesättigt" 4 1 5 . Der Rückgang auf die absolute Gebundenheit aller Erkenntnis an die Sinne und damit auf den allgemeinen gesunden Menschenverstand (Berkeley: „ I side in all things with the mob"! Commonpl. 414 416

Works VIII, 277. Metz, a. a. 0., S. 67. Vgl. Commonplace Book, 676. 105

völligen Unbelehrbarkeit und des stumpfen Verharrens im Gegebenen ißt es, die ihn am meisten degradiert. Yet I am of opinion, this defect ariseth chiefly from a perverse, restive disposition. For they are cunning, malicious, treacherous and revengeful. They are strong and hardy, but of a cowardly spirit, and by consequence insolent, abject, and cruel 4 1 4 . Satirische

Einzelformen.

Wir haben gesehen, wie weit Swift in der Erkenntnis der irrationalen Motive mit der Psychologie des 17. Jahrhunderts übereinstimmt. Seine Originalität liegt weniger in den Motiveinsichten als solchen als in der einzigartigen Anschaulichkeit der Form, die die psychologische Analyse und die von ihr abhängige Schilderung der gesellschaftlichen Zustände als ein Bild des ganzen menschlichen Lebens unmittelbar faßlich lebendig macht. Innerhalb der gesellschaftlichen Satire des Gulliver gibt es bestimmte Einzelformen, die das von Leidenschaften diktierte Verhalten des Menschen in der Einzelsituation und in der allgemeineren aber konkretisierten Feststellung auffangen. In ihnen erweist sich der volle aufklärerische Gehalt des Swiftschen Werkes. Wir wählen die Allegorien, den Dialog des zweiten Buches und aus Gullivers Bericht für die Pferde die Charaktere und die Sentenz aus und möchten an der genauen Analyse dieser Beispiele zeigen, wie der satirische Gehalt mit der besonderen Form der Swiftschen Satire verbunden wird. Die gesamte Anlage des Gulliver wie die ihr notwendig verwandten Einzelformen der Satire haben ein gemeinsames Aufbauelement, durch das der Gulliver noch in einem weiteren Sinn, als es im zweiten Kapitel an dem Prinzip der Relativität dargestellt wurde, zu einer Schöpfung aus dem Geist des Empirismus und des in ihm zum Ideal erhobenen Vernunftbegriffs des common sense wird. Wie wir schon bei der Stellung Swifts und Berkeleys zur spekulativen Wissenschaft andeuteten, liegt für den Empirismus die einzige Realität in der partikularen Gegebenheit, im individuellen Einzelding. Die Folgerungen über abstrakte allgemeine Ideen, die Locke aus diesem von ihm aufgestellten Axiom zog, wurden von Berkeley bekämpft, der hier den spezifisch empiristischen Gedanken, Denken und Vorstellung in eins zu setzen, konsequenter durchdachte und so nicht nur das Seiende sondern auch das Begriffliche als voll anschaulich setzte „mit dem ganzen Gehalt der individuellen sensualen Wirklichkeit gesättigt" 4 1 5 . Der Rückgang auf die absolute Gebundenheit aller Erkenntnis an die Sinne und damit auf den allgemeinen gesunden Menschenverstand (Berkeley: „ I side in all things with the mob"! Commonpl. 414 416

Works VIII, 277. Metz, a. a. 0., S. 67. Vgl. Commonplace Book, 676. 105

Bk. 401) entspricht dem Swiftschen Denken in hervorragendem Maße. Die Neigung, das Allgemeine als repräsentative Funktion des Besonderen zu fassen, findet sich z. B. ähnlich bei Swift in der ausgesprochen aufklärerischen Tendenz, an der Besonderheit, d. h. am empirisch-primitiven Beispiel, die allgemeine Regel des Verhaltens zu demonstrieren, und innerhalb der satirischen Polemik gerade in der exemplarischen Vereinfachung die Absurdität des Allgemeinen zu zeigen. Gleicherweise bedeutet die Allegorie bei Swift die Einkleidung eines Tatbestandes in einen ganz sinnenfälligen und unmittelbar konkret-erläuternden Zusammenhang. Selbst da, wo die Einzelformen ins Allgemeinere gehen, wie in den Sentenzen und im Gespräch, 6ind sie spürbar am praktisch Besonderen gestaltet und auf seine Erkenntnis gerichtet. Den charakteristischen Einzelformen entsprechend läßt sich das ganze Formprinzip Swifts, den satirischen Gedanken im Phantastischen zu konkretisieren, ebenfalls von hier verstehen. Wie Swift die Relativität der Größe unmittelbar veranschaulichte, so gelang es ihm auch die anthropologischen und gesellschaftlichen Einsichten konkret greifbar zu machen. In der Anschaulichkeit des rein Erzählten, das z. B. in Lilliput die Thesen Macchiavells auflöst in die mit den Handlungsvorgängen gegebene Fülle der individualisierten Einzelheiten, liegt der Reiz der satirischen Form, die die satirische Absicht mit prägnanter Eindringlichkeit ausdrückt. Eine der häufiger vorkommenden Formen, die Swift für die direkte Sittenschilderung wählt, ist die Allegorie und im dritten Buch das ihr verwandte phantastische Projekt. Beide treten als typische Form in den Reisen auf, die unmittelbar das satirische Abbild der Wirklichkeit sind. Beiden eignet der erwähnte Zug, das Abstrakte anschaulich zu machen, und zwar verwirklicht sich dabei der satirische Gedanke in der Weise, daß durch direkte Verdinglichung das Fragliche und Hypokritische der Wirklichkeit Mittelpunkt der allegorischen Schilderung wird, und daß diese Konkretisierung zugleich als witzig empfunden ihren eigentlichen Gegenstand lächerlich macht. Die Allegorien in Lilliput, die seiltanzenden Minister und die Ordensverteilung, haben zu ihrem Thema die moralisch unbeschwerte Geschicklichkeit, sich im staatlichen Leben Fortkommen und Gunst zu verschaffen. Die Charakteristik der Geschmeidigkeit und Wendungsfähigkeit, die durch die der Sprache eigene Metaphorik bereits ursprüngliche Bildhaftigkeit in sich hat, übersetzt Swift in die voll anschauliche des Seiltanzens, wunderbar geeignet, daran die Züge der ministeriellen Staatskunst und des von ihr abhängigen Aufstiegs zu entwickeln. . . . whoever jumps the highest without falling, succeeds in the office 4 1 6 . Die Lächerlichkeit der lilliputanischen Umwelt und die komische Gesamtperspektive dieses Buches überträgt sich auf die Allegorie und läßt damit " « Works VIII, 38.

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die Politik aus einer Höhe gesehen werden, die die allegorische Umwandlung ins Lächerliche zum symbolischen Ausdruck des wahren Wertes macht, der dem Menschen und seinen Institutionen zukommt. Die Lächerlichkeit konzentriert sich ganz rein im überlegen Witzigen, das die lilliputanische Anschaulichkeit durch die gefühlte Spannung zur menschlichen Wirklichkeit enthält. Flimnap, the Treasurer, is allowed to cut a caper on the straight rope, at least an inch higher than any other Lord in the whole Empire 4 1 7 . Alle Untugenden der Minister, Ehrgeiz und Neid, löst Swift in der Durchführung der Allegorie in Geschehnisse und Ereignisse auf, die beim Seiltanzen gegeben sind. I myself have seen two or three candidates break a limb. . . . by contending to excel themselves and their fellows, they strain so far, that there is hardly one of them who hath not received a fall, and some of them two or three 4 1 8 . Mit den Ministerschicksalen verbundene Persönlichkeiten bezieht Swift ein, die in die allegorische Situation übersetzt unmittelbar die Motivzusammenhänge des politischen Geschehens deutlich werden lassen. . . . Flimnap would have infallibly broke his neck, if one of the king's cushions, that accidentally lay on the ground, had not weakened the force of his fall 4 1 9 . Die zweite lilliputanische Allegorie, die Ordensverteilung, ist für die Satire Swifts ebenfalls besonders bezeichnend. Hier ist es ganz deutlich die sprachliche Metapher des Kriechens, die konkret verwirklicht und, um die willkürlichen Änderungen und Gunstbezeugungen im politischen Leben zu bezeichnen, mit dem Springen verbunden wird. Der Machtinhaber aber ist durch den Stock charakterisiert, mit dem er jeden zwingt, zu springen oder zu kriechen. Die Verdinglichung des Metaphorischen wird ganz bewußt als witzig empfunden. The Emperor holds a stick in his hands, both ends parallel to the horizon, while the candidates advancing one by one, sometimes leap over the stick, sometimes creep under it backwards and forwards several times, according a6 the stick is advanced or depressed 4 2 0 . Swift flicht in diese Zeremonie als Abbild der wechselnden politischen Machtverhältnisse eine szenische Personenänderung ein. Sometimes the Emperor holds one end of the stick, and his first minister the other; sometimes the minister has it entirely to himself 4 2 1 . Das zveite überaus charakteristische Kennzeichen dieser Allegorie liegt in der politischen Symbolentwertung, die aus dem common sense folgt. Das 417 418 419 420 421

Vorks VIII, 39. Vorks VIII, 39. ebda. Vorks VIII, 40. ebda.

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Symbol des Ordens, nach dem die Ehrbegierde der Minister strebt, hat seinen Wert nur für die Befriedigung eben der leidenschaftlich unvernünftigen Seite der Natur. Vor der Vernunft sinkt dies Zeichen als chimärischer Wert zusammen und es bleibt die reine naturalistische Grundlage des seidenen Fadens, dem nachzujagen durch diese Erkenntnis lächerlich wird. The Emperor lays on the table three fine silken threads of six inches long. One is blue, the other red, and the third green 4 2 2 . Die gesellschaftskritischen Allegorien der dritten Reise sind fast alle in die Form des Projekts verwandelt, wie es durch die Satire der Akademie Lagado gegeben ist. Der Gesamtsituation des Buches entsprechend, haben sie nichts von dem komisch-satirischen Witz der lilliputanischen Allegorien, sondern sind, wenn überhaupt, mit rein satirischem, zuweilen sehr grimmigem Witz verbunden. Unter den Projektoren in Lagado findet sich einer, der, indem er sich auf die alte Theorie von der Ähnlichkeit zwischen staatlichem und menschlichem Organismus stützt, die Senats- und Ratskrankheiten heilen will. In den Krankheiten, die den Senaten und den „great councils" zugesprochen werden, faßt Swift die moralischen Schäden allegorisch zusammen. It is allowed, that senates and great councils are often troubled with redundant, ebullient, and other peccant humours, with many diseases of the head, and more of the heart; . . . with spleen, flatus, vertigos, and deliriums; with scrofulous tumours full of foetid purulent matter; with sour frothy ructations, with canine appetites and crudeness of digestion . . , 4 2 3 Besonders bezeichnend ist die Stelle, wo sich der Charakter der Bestechlichkeit in körperlichen Krankheitssymptomen ausdrückt und wo die Doppelheit von Konkretisierung und tatsächlicher Bedeutung die moralische Absicht durch den Witz akzentuiert. With strong convulsions, with grievous contractions of the nerves and sinews in both hands, but especially the right . . . 4 2 4 Ebenfalls ins Medizinische weist das Projekt, das die Unsinnigkeit, Rechthaberei und Einseitigkeit der Parteisucht beseitigen will. Die praktische Vorschrift, zwischen zwei Parteigegnern jeweils eine Gehirnhälfte gegen die andere auszutauschen, erläutert die notwendige Forderung des wirklich umfassenden Denkens und führt zugleich die Parteifeindschaft ad absurdum. Diesen Sinn faßt die witzige Pointe zusammen. . . . as to the difference of brains in quantity or quality, among those who are directors in faction; the doctor assured us from his own knowledge that it was a perfect trifle 4 2 5 . 422 423 424 426

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Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII,

39. 195 f. 195. 197.

Ein weiteres Projekt beschäftigt sich damit, dem kurzen und schwachen Gedächtnis der Günstlinge abzuhelfen. Der vorgeschlagene Weg ist durch seine Deutlichkeit und Grobheit komisch und gibt durch die verzweifelte Kraft der Mittel einen ausgezeichneten Maßstab, die Stärke der Vergeßlichkeit klarzumachen. . . . whoever attended a first minister . . . should at his departure give the said minister a tweak by the nose, or a kick in the belly, or tread on his corns, or lug him thrice by both ears, or run a pin into his breech, or pinch his arm black and blue . . . 4 2 6 Dem Seiltanzen der Minister ist das Projekt am ähnlichsten, das, um rachsüchtige Pläne nicht beschäftigter Senatoren auszuschalten und die für die Krone und ihre Wahlen nützlichsten Affekte, Hoffnung und Erwartung, lebendig zu halten, aus dem Fortkommen des Einzelnen ein Glückspiel macht, in dem der Würfel entscheidet. Wieder macht Swift hierin einen irrationalen Faktor des politischen Lebens handgreiflich deutlich. To keep senators in the interest of the crown, it was proposed that the members should raffle for employments, every man first taking an oath, and giving security that he would vote for the court, whether he won or no; after which the losers had in their turn the liberty of raffling upon the next vacancy 4 2 7 . Die Projekte, die dazu dienen sollen, Komplotte und Verschwörungen aufzudecken, entwickeln in ihren Methoden die völlige Willkür und subjektive Beurteilung, die diesen Untersuchungen eigen ist. In der Verdeutlichung solchen Vorgehens offenbart sich bei Swift die ganze Hemmungslosigkeit seines satirischen Zorns. Die gänzlich absurde Weise zu charakterisieren, setzt dies Projekt das Physische in bewußt abstoßender Form als Grund des verstandesmäßigen Handelns und Denkens. He advised great statesmen to examine into the diet of all suspected persons; their times of eating; upon which side they lay in bed; with which hand they wiped their posteriors; to take a strict view of their excrements, and, from the colour, the odour, the taste, the consistence, the crudeness or maturity of digestion, form a judgment of their thoughts and designs 4 2 8 . Das allgemeinste gesellschaftliche Bild gewährt das Steuerprojekt, das schon in der gehaltlichen Analyse der Gesellschaftsdarstellung behandelt wurde. Wie alle anderen ist es durch die Fähigkeit Swifts gekennzeichnet, die für ihn wichtigen Züge in einer allgemein faßlichen und schlagend einleuchtenden Einkleidung, wie es die Besteuerung von bestimmten Werten ist, herauszustellen, und durch die ganz objektiv ruhige Schlußkonstatierung mit einem satirisch-witzigen Gehalt zu füllen. 428 427 428

Works VIII, 196. Works VIII, 198. Works VIII, 198. 109

. . . constancy, chastity, good sense, and good nature werfe not rated, because they would not bear the charge of collecting 4 2 9 . Die letzte Allegorie erscheint im Königreich Luggnagg, dessen König sich durch besonders übertriebene Hofzeremonien, die an sich schon fast allegorisch wirken, auszeichnet. Die erforderliche, wörtlich genommene Zeremonie lautet: . . . to lick the dust before his footstool 4 3 0 . Sie bildet den äußeren Rahmen der weiteren zeremonialen Handlungen, in der die Skrupellosigkeit, den Gegner zu beseitigen, allegorisch konkret wird. When the King hath a mind to put any of his nobles to death in a gentle indulgent manner, he commands to have the floor strowed with a certain brown powder, of a deadly composition, which being licked up infallibly kills him in twenty-four hours 4 3 1 . Wieder nimmt die Ausmalung und konsequente Durchführung der allegorischen Situation die etwaigen, übrigen Umstände, die durch diese Methoden des Königs entstehen, in sich auf. . . . it must be mentioned for his honour, that strict orders are given to have the infected parts of the floor well washed after every such execution . . . 4 3 2 Die Vernachlässigung dieser notwendigen Handlung durch die Bosheit der königlichen Umgebung greift ebenfalls nachdrücklich in das Leben der Untertanen ein. . . . one of his pages should be whipped, whose turn it was to give notice about washing the floor after an execution, but maliciously had omitted it; by which neglect a young lord of great hopes coming to an audience, was unfortunately poisoned, — und jetzt die sarkastische Schlußwendung — although the King at that time had no design against his life 4 3 3 . Im zweiten und vierten Buch, wo die Satire wesentlich im Gegensatz der Erzählung Gullivers und der utopischen Bedeutung der entdeckten Länder begründet ist, ergibt sich folgerichtig als Ausdrucksmittel der Gesellschaftsdarstellung die Gesprächsform. Durch den im ersten Kapitel erörterten formalen Unterschied, der das Gespräch des zweiten Buches von dem des vierten trennt, läßt sich nur das des zweiten als wirkliche Form des Gesprächs erfassen, während Gullivers Unterhaltung mit dem Pferd wiederum in mehrere Formen aufzuteilen ist, die zusammen seinen Bericht ausmachen. Der Dialog zwischen Gulliver und dem König von Brobdingnag ist einer der formalen Höhepunkte. Da er mehrere Unterredungen zusammenfaßt, 428 430 431 432 433

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ebda. Works VIII, 213. Works VIII, 214. ebda. ebda.

h a n d e l t es sich genauer u m einen berichteten Dialog, in d e m erst alle Argumente der einen Seite dargestellt werden, worauf d a n n die Lebhaftigkeit der F r a g e n einsetzt, die die einzelnen U n t e r h a l t u n g e n lebendig u n d vorstellbar m a c h t . Die allgemeinste anthropologische E r k e n n t n i s des interessierten Scheines als Überlagerungsschicht eines gegensätzlich gearteten Seins bildet die innere F o r m seines A u f b a u s . Die enthusiastische Schilder u n g des Scheines durch Gulliver wird von der m o t i v k u n d i g e n Frage des Königs zerbrochen, deren U n b e a n t w o r t b a r k e i t i m Sinne des Gegners dessen Unwissenheit e n t h ü l l t u n d als Ergebnis die unausgesprochene W a h r h e i t der sokratischen Ironie erreicht. Gulliver erzählt in ganz naiver Begeisterung, die sich in der superlativreichen Sprache offenbart. E r spricht von d e m „illustrious body des House of P e e r s , . . . of t h e noblest blood, a n d of t h e most ancient a n d a m p l e patrimonies". I h r e E r z i e h u n g in den Künsten u n d den Waffen wird m i t „extrao r d i n a r y care" geleitet. Sie sind „worthy followers of t h e i r most renowned ancestors". I h r e N a c h k o m m e n s c h a f t „were never once known to degenerate". Bischöfe werden von F ü r s t e n u n d den „wisest counsellors" ausgesucht, wobei die W a h l „ t h e most deservedly distinguished" trifft. Ebenso bildet das freigewählte House of Commons „the most august assembly in E u r o p e " . Stilistisch f ü h r t dieser Enthusiasmus sogar zu einer M e t a p h e r : Die Peers sind „ t h e o r n a m e n t a n d b u l w a r k of t h e kingdom". J e d e m Stand werden von Gulliver die i h n a m meisten auszeichnenden Tugendejn zugesprochen. Dem House of Lords: „defence of t h e i r prince and country . . . valour, conduct, a n d fidelity", den Bischöfen: „care of religion, sanctity of t h e i r lives, depth of t h e i r erudition". Das House of Commons wird gewählt wegen der „great abilities" u n d „love of t h e i r country", die Rechtsvertreter sind „venerable sages". Die Charakteristik gipfelt jeweilig in der ganz eindeutig allgemeinen Zusammenfassung. Die E h r e der gegenwärtigen Mitglieder des House of Lords u n d i h r e r A h n e n „ h a d been t h e r e w a r d of t h e i r virtue", die Bischöfe sind „indeed t h e spiritual f a t h e r s of t h e clergy a n d t h e people", das House of Commons ist gewählt „to represent t h e wisdom of t h e whole nation". U n d die R e c h t s p r e c h u n g dient dem „ p u n i s h m e n t of vice" u n d der „protection of innocence". Den A b s c h l u ß in Gullivers Lob bilden die T a p f e r k e i t u n d die H e l d e n t a t e n der See- u n d L a n d s t r e i t k r ä f t e u n d die sorgfältige Vorsicht der Schatzamtsverwaltung. Dieser u n p r o b l e m a t i s c h e n Sicherheit des allgemeinen Berichts stellt sich n u n die Frage gegenüber, die ganz scharf u n d illusionslos auf die tatsächlichen besonderen Umstände u n d die .Zweideutigkeit der H a n d l u n g e n i m einzelnen eingeht, u n d den problemlosen Zustand als trügerisches Ergebnis von Gullivers rhetorischer Begeisterung zerstört. Zuerst bleibt die F r a g e ganz offen; der „extraordinary care" der E r z i e h u n g gegenüber lautet sie n u r : H e asked what m e t h o d s were used to cultivate t h e minds a n d bodies of 111

o u r young nobility, a n d i n w h a t k i n d of business they commonly spent t h e first and teachable p a r t of t h e i r lives. D a n n f ü l l t sich die F r a g e selbst m i t der Antwort u n d stellt d a d u r c h die der Situation i n n e w o h n e n d e n Möglichkeiten der Motive klar heraus, z. B. bei der W a h l der P e e r s : . . . w h e t h e r t h e h u m o u r of t h e prince, a sum of money to a court lady, or a p r i m e minister, or a design of strengthening a party opposite to t h e public interest, ever h a p p e n e d to be motives in those advancements. Dieser Art gehört die M e h r z a h l der folgenden F r a g e n an. Gerade die zuweilen a u f t r e t e n d e Vorsicht d e r F o r m u l i e r u n g betont die innere Berechtigung der Frage, die damit das bisher nicht Beachtete herausholt. W h e t h e r they were always so f r e e f r o m avarice, partialities, or want, t h a t a bribe, or some other sinister view, could have no place among t h e m . . . . w h e t h e r a stranger with a strong purse m i g h t not influence t h e vulgar voters to choose h i m b e f o r e t h e i r own l a n d l o r d . . . Oder die Frage greift kritisch einen mit Gullivers Bericht unvereinbaren Zug heraus. How it came to pass, t h a t people were so violently bent u p o n getting into this assembly, which I allowed to be a great t r o u b l e a n d expense, often to t h e ruin of t h e i r families, without any salary or pension . . . Die nächste F r a g e trägt die Lösung dieses Widerspruchs in sich u n d entlarvt die Doppeldeutigkeit der Motive: . . . w h e t h e r such zealous gentlemen could have any views of r e f u n d i n g themselves for t h e charges a n d t r o u b l e they were at, by sacrificing t h e public good to t h e designs of a weak and vicious prince in c o n j u n c t i o n with a c o r r u p t e d ministry. Weiter enthält die Frage die problematische Gegenüberstellung zweier Möglichkeiten u n d h e b t d a d u r c h alle Einseitigkeit der empirisch wahrscheinlichen heraus. W h e t h e r those pleading orators were persons educated in t h e general knowledge of equity, or only in provincial, national, and other local customs. Durch die Frage werden von Gulliver nicht b e r ü h r t e Zusammenhänge deutlich, so wenn der König bei den Courts of Justice fragt, . . . whether they were a rich or a poor corporation. Der König e n t h ü l l t die wichtigsten, von Gulliver übersehenen Abhängigkeiten durch den besonderen N a c h d r u c k seiner Frage. So abermals bei den Courts of Justice: A n d particulary, w h e t h e r they were ever a d m i t t e d as m e m b e r s in t h e lower senate. Die größte V e r i r r u n g der Politik, die Kriegsschulden Englands, ergibt sich nicht durch die o f f e n b a r e n d e Macht der Frage allein, sondern sie wird eingeleitet u n d unterstützt d u r c h die r u h i g e Zurückweisung eines Irrtums in Gullivers Erzählung, der v o m König der logischen W i d e r s p r ü c h e halber, die sich aus Gullivers B e r i c h t ergeben, vorausgesetzt wird. 112

. . . he thought my memory had failed me, because I computed our taxes at about five or six millions a year, and when I came to mention the issues, he found they sometimes amounted to more than double . . . Die nächste Frage entsteht aus dem weiteren Nachdenken des Königs, der bei der Annahme, Gulliver habe recht berichtet, auf neue Rätsel stößt. . . . if what I told him were true, he was still at a loss how a kingdom could run out of its estate like a private person. Mehr und mehr nimmt die Frage den Ausdruck der Verwunderung an über die für den König nicht mit der Vernunfteinsicht zu vereinbarenden Zustände des englischen Staates und wieder enthält der Vergleich innerhalb der Frage implizit das Urteil über Richtiges und Falsches. . . . whether a private man's house might not better be defended by himself, his children, and family, than by half a dozen rascals picked up at a venture in the streets, for small wages, who might get an hundred times more by cutting their throats 4 3 4 . Die Einwände füllen sich immer mehr mit dem utopischen Gehalt, den der König von Brobdingnag vertritt, bis er schließlich die bohrende Hartnäckigkeit seines Fragens aufgibt und die durch sie freigelegte wahre Verkettung der Motive explizit zusammenfaßt. Wenn die Bedeutung des Dialogs erkannt werden soll, darf nicht bei der Feststellung stehen geblieben werden, daß hier die hypokritischen Seiten des Lebens durch ihre wahren Grundlagen entlarvt worden sind. Wenn von dem Ergebnis als der unausgesprochenen Wahrheit sokratischer Ironie gesprochen wurde, so hat diese Wahrheit eine doppelte Bedeutung: einmal die, die echte empirische Wirklichkeit von aller Illusion befreit, ganz wie sie ist, erkannt zu haben. Der empirischen Erkenntnis gegenüber aber bekommt die Illusion Gullivers einen anderen Wert, wenn in ihr nicht mehr von der Tatsächlichkeit her der Irrtum, sondern das Postulat der Wirklichkeit, wie sie sein soll, gesehen wird. Von dem Gehalt der Fragen her wendet sich Gullivers Enthusiasmus nur auf den hypokritischen Schein; aber vom Eigenwert der Gesinnung aus enthält er echtes Pathos, das durch die Unvereinbarkeit der beiden Seiten in pessimistisch gebrochenem Licht erscheint und von hier aus nochmals das endgültige Werturteil über die Wirklichkeit bestätigt. Die Unterhaltung des vierten Buches ist so groß und Utopisches und Satirisches zugleich umfassend, daß sich ein einheitliches Aufbauprinzip wie für die Unterredung mit dem Riesenkönig, schwer finden läßt, sondern sich nur ganz allgemein in der Weise ergibt, daß durch die Gegensätzlichkeit, in der die unwissenden Fragen und die kritischen Einwände des idealen common sense-Vertreters zu der völligen Umkehrung des Natürlichen und Vernunftgemäßen stehen, das in den Bericht übergehende Gespräch vorwärts getrieben wird, und sich darin die große Scheidung 434

Works VIII, 130 ff. 113

zwischen Utopie u n d E m p i r i e endgültig vollzieht. Es ist d a h e r der formalen Seite der an die anthropologischen Erkenntnisse anschließenden Satire besser gerecht zu werden, wenn m a n i n n e r h a l b der E r z ä h l u n g Gullivers einzelne F o r m e n herauszulösen sucht. Dabei ist leicht zu erkennen, d a ß bei Swift die i m 17. J a h r h u n d e r t gepflegten literarischen F o r m e n , in denen sich das psychologische Interesse am Menschen ausdrückte, in individueller W a n d l u n g wieder a u f t r e t e n , nämlich der Character u n d die Sentenz. Die besondere Swiftsche A b w a n d l u n g ist n a t ü r l i c h rein äußerlich vor allem durch die E i n o r d n u n g in den erzählenden Gesamtzusammenhang bedingt, die diese F o r m d u r c h die Tatsache, d a ß sie Bestandteile eines Berichtes sind, lockerer gestaltet u n d in indirekte Redef o r m einkleidet. Die typisierende Schilderung des Menschen, die i m 17. J a h r h u n d e r t neben dem Essay vornehmlich der literarischen Gattung des Character angehört, k o m m t aus verschiedenen geistigen H a l t u n g e n u n d f ü h r t so in der H a u p t s a c h e zu zwei A r t e n : zu den offen moralisierenden u n d zu den komischen u n d satirischen. Den letzteren ist die typische Charakteristik d u r c h den Witz eigen. Diese F r e u d e am Witz, der versöhnlich-komisch oder beißend-satirisch 6ein k a n n , verbindet den Character u n d seine H a l t u n g zum Menschen m i t der in der Restaurationszeit erreichten geistigen Überlegenheit u n d i h r e r E m p f i n d l i c h k e i t f ü r das Lächerliche. Ger a d e die größten Vertreter der Character-Kunst allerdings n u t z t e n die illusionslose B e t r a c h t u n g der menschlichen N a t u r dazu, sie satirisch gegen die Träger dieses Ideals selbst zu wenden, wie in E n g l a n d Samuel B u t l e r u n d in F r a n k r e i c h La Bruyere. Es kennzeichnet die Swiftsclien Characters ein gleichsam logischer Aufbau, die seinem ganzen W e r k angehörige realistische, metapherlose Sprache u n d teilweise die oben geschilderte empiristische .Hinwendung z u m Beispiel, in dem 6ich der d e m satirischen C h a r a k t e r eigene Witz in besonderer Weise darstellt. I n Gullivers Bericht k o m m e n vier Characters vor, die ausschließlich Standes- u n d Berufssatire e n t h a l t e n : der Chief Minister of State, der Lawyer, der Arzt u n d der allgemeine Standesc h a r a k t e r der Nobility. Wir w ä h l e n den Minister u n d den Lawyer, da sich an ihnen die Charakterisierungskunst Swifts a m besten erfassen läßt. Den anthropologischen Erkenntnissen entsprechend, die der politischen Satire i m Gulliver z u g r u n d e liegen, b a u t sich die innere F o r m des Ministercharakters durch die logische A u f e i n a n d e r f o g e der einzelnen vom Interesse gebotenen Verhaltungsweisen auf. Die einleitende Definition charakterisiert i h n sofort von den Motiven seines H a n d e l n s h e r u n d erreicht in der Kontrastierung der Affekte einmal die negative Schattierung der Gefühllosigkeit u n d zum anderen die Akzentuierung dessen, was als Beweggrund den Keim des Weiteren bildet. (I told h i m ) a First or Chief Minister of State . . . was a creature wholly exempt f r o m joy and grief, love a n d h a t r e d , pity a n d a n g e r ; at leaBt m a d e 114

use of no other passions but a violent desire of power, wealth and titles . . . In dem nächsten herausgehobenen Trieb seines Verhaltens: in seinen Äußerungen anderen gegenüber, beginnt Swift die Methoden zur Befriedigung des „violent desire" zu entwickeln: He applies his words to all uses, except to the indication of his mind . . . Die Willkür und direkte Umkehrung des Zwecks der Sprache zeichnet sich in der Antithetik der weiter ins einzelne gehenden Erläuterung seiner Mittel: . . . that he never tells the truth but with intent that you should take it for a lie; nor a lie but with the design that you should take it for a truth . . . Eine ähnliche Antithetik findet sich in dem weiteren charakteristischen Zug seines politischen Verkehrs mit anderen. Innerhalb der einzelnen Seiten des Gegensatzes wiederholt 6ich noch einmal das diametrale Gegeneinander des Seins und Scheins, das die Charakteristik durch die Lüge enthielt. . . . that those he speaks worst of behind their back« are in the surest way of preferment; and whenever he begins to praise you to others or to yourself you are from that day forlorn. Die schon hierin enthaltene Superlativ betonte Gegensätzlichkeit faßt Swift abschließend mit dem stärksten möglichen Akzent auf der Lüge zusammen, den er besonders in der Differenzierung des Verhaltens erreicht. The worst mark you can receive is a promise, especially when it is confirmed with an oath . . . Hiernach schließt sich die Charakteristik, indem plötzlich im Handeln des Betroffenen, der den Schein des Verhaltens durchschaut, dieser Politik der auffangende Spiegel entgegengehalten wird. . . . after which every wise man retires and gives over all hopes. Dies ständige und allgemeine Gebaren wird im weiteren dadurch spezialisiert, daß Swift neu ansetzend vom interessierten Streben nach einem bestimmten Ziel ausgeht, indem er sich den Methoden zuwendet, durch die man Minister wird. Swift löst die hierfür erforderlichen Eigenschaften in ganz bestimmte Handlungszüge auf, deren erste mit einer gewissen Kunst des Auslassens die delikate Handhabung insinuiert, deren weitere kurz und bündig die Tatsachen aussprechen. . . . the first is, by knowing how with prudence to dispose of a wife, a daughter, or a sister: the second, by betraying or undermining his predecessor: and the third is, by a furious zeal in public assemblies against the corruptions of the court. Zwei weitere Mittel zeigen in diesem mehr gleichgeordneten Teil, wie sich der Eigennutz jeder Situation gewachsen fühlt und durch die Minister das ganze öffentliche Leben beherrscht: That these ministers having all employments at their disposal, preserve themselves in power, by bribing the majority of a senate or great council; 115

and at last by an expedient called an Act of Indemnity . . . they secure themselves from after-reckonings, and retire from the public, laden with the spoils of the nation. Der abschließende Teil des Characters hat die Form der indirekten Darstellung, dadurch, daß die Wechselbeziehung, in der der Chief Minister zu seiner Umgebung steht, gezeigt wird. Der unmittelbare Einfluß des Ministers auf Pagen und Lakaien charakterisiert rückwirkend ihn selbst, da sich seine Laster kaum verändert in diesen wiederfinden: The palace of a Chief Minister, is a seminary to breed up others in his own trade: the pages, lackeys, and porters, by imitating their master, become ministers of state in their several districts, and learn to excel in the three principal ingredients of insolence, lying, and bribery. Der Radius der indirekten Charakteristik erweitert sich noch mehr, indem auch ihrem Verhalten wiederum durch andere Besucher des „palace of a Chief Minister" ein besonderes Licht gegeben wird. Zugleich behält das Ganze die analoge Beziehung zum eigentlichen Mittelpunkt des Character. Accordingly, they have a subaltern court paid to them by persons of the best rank, and sometimes by the force of dexterity and impudence, arrive through several gradations to be successors to their lord. Die Schilderung durch die Umgebung wird endgültig in ein paar besonders ausgesprochenen Beziehungen zusammengefaßt und ergänzt den bisher entwickelten Beweggrund des Interesses durch den einzig möglichen anderen der persönlichen Leidenschaft, der in seinen Folgen die Stellung des Ministers innerhalb der politischen Welt überhaupt bezeichnet und darin diese Welt andeutend mit charakterisiert. He is usually governed by a decayed wench, or favourite footman, who are the tunnels through which all graces are conveyed, and may properly be called, in the last resort, the governors of the kingdom 4 3 5 . Die satirische Kraft dieses Swiftschen Characters liegt in der mit innerer Logik wirkenden Sicherheit der Illusionslosigkeit. Diese unbewegt knappen und scharf gegliederten, rhythmisch akzentuierten Sätze treffen ihren Gegner, dessen heimliche und offene Mittel mit unbestechlicher Härte aufgezählt und mit unerbittlicher Selbstverständlichkeit erörtert werden. Der ausführlichste Character ist der des Lawyers, dessen Schilderung sich mit der allgemeinen des Rechtes verbindet, von der wir ihn nicht ganz lösen können. Durch die betont erklärende Haltung dem Pferd gegenüber, die sich vor allem in der beispielhaften Vereinfachung zeigt, wird die reine common sense-Betrachtung der einzelnen Rechtsmethoden zum Aufbauprinzip. Die Definition dieses Berufs enthält sofort alle diese Elemente. Anschaulich und eindringlich reduziert Swift die Willkür der Rechtsinterpretation auf das Beispiel der Sprachhandhabung und geht in 435

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Works VIII, 266 f.

der Bezeichnung der Sprache auf ihre einzelnen Bestandteile zurück, um damit die unbegrenzten Möglichkeiten, sie zu verbinden, anzudeuten. Den Zweck dieses Verfahrens verdeutlicht der Beweggrund, um dessentwillen überhaupt „Recht" gesprochen wird. I said there was a society of men among us, bred up from their youth in the art of proving by words, multiplied for the purpose, that white is black, and black is white, according as they are paid. 4 3 6 Dann wendet sich Swift sofort einem konkreten Rechtsfall zu, den er zur beispielhaften Erläuterung immer wieder aufgreift. Dieses Beispiel erreicht in der Vereinfachung die völlige Entlarvung der Wirklichkeit, die, nachdem alle Verdeckung von ihr abgestreift ist, vom aufklärerischen common sense geradezu neu endeckt erscheint: For example, if my neighbour hath a mind to my cow, he hires a lawyer to prove that he ought to have my cow from me. I must then hire another to defend my r i g h t . . . Hier folgt die erste polemische Simplifikation eines allgemeinen Rechtsbrauches : . . . it being against all rules of law that any man should be allowed to 6peak for himself. Von dem praktischen Fall her gelangt Swift zu den allgemeinen Folgen: Ganz parallel gebaut stehen die beiden Nachteile des eigentlichen Rechtsinhabers neben den beiden Möglichkeiten, diese Nachteile aufzuheben. Sowohl das Eine wie das Andere erklärt sich aus der natürlichen Neigung des Lawyers zur Ungerechtigkeit, und die vier Punkte entwickeln die Konsequenzen dieses Umstandes für die Rechtsprechung mit geradezu dialektischer Geschicklichkeit, ganz und gar von der notwendigen Anpassung an die erkannten wirklichen Triebkräfte der Rechtsprechung ausgehend. . . . my lawyer, being practised almost from his cradle in defending falsehood, is quite out of his element when he would be an advocate for justice, which as an office unnatural he always attempts with ill-will. The second disadvantage is, that my lawyer must proceed with great caution, or else he will be reprimanded by the judges, and abhorred by his brethren, as one that would lessen the practice of the law. Es folgen die „two methods to preserve my cow". Die erste stützt sich auf die ausgesprochen eigennützigen Instinkte des Gegenanwalts, deren Befriedigung sofort die juristische Geschicklichkeit in Tätigkeit setzt: The first is, to gain over my adversary's lawyer with a double fee; who will then betray his client, by insinuating that he hath justice on his side. Die zweite verläßt sich auf die Interpretationskunst des eigenen Anwalts, die von Swift wieder im direkten Beispiel demonstriert wird. 436 Wj r erinnern hier an Butler: Promises are but Words, and Words A i r . . . oben S. 81.

Vgl.

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T h e second way is f o r my lawyer to m a k e my cause a p p e a r as u n j u s t as h e can, by allowing t h e cow to belong to my adversary: . . . der A b s c h l u ß erweitert den Kreis der Charakteristik ins allgemeine and this, if it be skilfully done, will certainly bespeak t h e favour of t h e bench. Die h i e r d u r c h gegebene B e m e r k u n g ü b e r die Judges gliedert sich d e m Character des Lawyers insofern ein, als sie aus diesem Stande hervorgegangen durch die E r w e i t e r u n g ihres Machtbereichs geradezu die Quintessenz der Lawyer-Eigenschaften verkörpern. Die persönliche Erf a h r u n g Gullivers zeigt diese R i c h t e r in einer bestimmten Situation, die geeignet ist, die Stärke i h r e r n a t ü r l i c h e n Abneigung gegen Gerechtigkeit unwiderleglich darzulegen. These jugdes . . . having been biassed all t h e i r lives against t r u t h and equity, are u n d e r such a fatal necessity of favouring f r a u d , p e r j u r y a n d oppression, t h a t I have k n o w n several of t h e m refuse a large b r i b e f r o m t h e side where justice lay, r a t h e r t h a n i n j u r e t h e faculty, by doing anything unbecoming t h e i r n a t u r e or t h e i r office. Das ganze Rechtsverfahren, dem die Lawyers huldigen, kennzeichnet sich durch i h r e H a u p t m a x i m e , in der sich ihre Motive u n d Methoden vereinigen. It is a m a x i m among these lawyers t h a t whatever h a t h b e e n done before, may legally b e done again; and t h e r e f o r e they take special care to record all the decisions f o r m e r l y m a d e against common justice, a n d t h e general reason of m a n k i n d . These, u n d e r t h e n a m e of precedents, they p r o d u c e as authorities, to justify t h e most iniquitous opinions; a n d the judges never fail of directing accordingly. Einzelne bestimmte Situationen u n d Gebräuche vervollständigen das Bild der Lawyers. Swift zeigt sie in der Verhandlung, im Verhör, in der Verteidigung, in der I n t e r p r e t a t i o n des Gesetzbuches, in ihrer politischen Abhängigkeit u n d im privaten Leben. I h r Verhalten u n d i h r e Reden vor Gericht kennzeichnen sie schon äußerlich im Benehmen wie sachlich in der V e r k e n n u n g der Aufgabe. A u ß e r o r d e n t l i c h bezeichnend f ü r Swifts Satire konkretisiert er diese Charakteristik sofort wieder in den beispielh a f t e n Sonderumständen des Kuhprozesses. F o r instance, in t h e ca6e already m e n t i o n e d : they never desire to know what claim or title my adversary h a t h to m y cow; b u t w h e t h e r t h e said cow were red or b l a c k ; h e r h o r n s long or s h o r t ; w h e t h e r t h e field I graze her in be r o u n d or s q u a r e ; w h e t h e r she was milked at house or a b r o a d ; w h a t diseases she is subject to, and t h e like . . . Drei k n a p p e k u r z e Sätze umfassen den weiteren Prozeßverlauf, der, noch m i t der Anschaulichkeit des besonderen Falles erfüllt, repräsentativ den Nutzen des Rechts in der Gesellschaft erläutert. . . . after w h i c h they consult precedents, a d j o u r n t h e cause f r o m t i m e to t i m e and in ten, twenty, or t h i r t y years, come to an issue. 118

In der Charakteristik der Lawyers durch ihre Interpretation der Gesetzbücher nimmt Swift die einleitende Schilderung ihres Verhältnisses zur Sprache wieder auf. Er entkleidet die Rechtssprache ihrer Ehrwürdigkeit, indem er sie einen „peculiar cant and jargon" nennt, und begründet im Sprachmißbrauch die furchtbaren Folgen für die gesamte Rechtslage. . . . they have wholly confounded the very essence of truth and falsehood, of right and wrong . . . In betonter Überspitzung greift Swift wieder zu dem Mittel, die absurde Lage am Beispiel zu belegen, das in der Gegenüberstellung die Widersprüche und Unsinnigkeiten unmittelbar einleuchtend macht. . . . so that it will take thirty years to decide whether the field left me by my ancestors for six generations belongs to me, or to a stranger three hundred miles off. Abschließend wird die Kunst der Interpretation durch die Beziehung des Lawyers zur Politik verdeutlicht, wobei er sich als würdiger Gefährte der Machtpolitiker zeigt und darin die ganz allgemeine Yerderbtheit der Gesellschaft erweist. . . . the judge first sends to sound the disposition of those in power, after which he can easily hang or save the criminal, strictly preserving all due forms of law 4 3 7 . Schon durch das wiedereinsetzende Wechselgespräch mit dem Pferd unterbrochen, faßt Gulliver die Stellung des Lawyers im gewöhnlichen Leben als die eines gänzlich ungebildeten Menschen zusammen. Im Gegensatz zum Charakter des Ministers liegt hier die satirische Wirkung zum großen Teil im Witzigen. Dadurch, daß Swift die Kompliziertheit der menschlichen Einrichtungen auf die denkbar mögliche konkrete Einfachheit reduziert, offenbart sich in ihnen und ihren affektbestimmten Vertretern das Lächerliche. Gerade die Beispiele dienen der Satire durch die witzige Spannung, die in ihnen dadurch entsteht, daß ihre aus der Perspektive des common sense gesehene berechtigte Anschaulichkeit und Einfachheit die komplexeren Zustände der Wirklichkeit unmittelbar unter eine analoge Betrachtung zwingt. Der satirischen Tiefe des vierten Buches entsprechend ist der Witz hier keine befreiende komische Anschauung der Widersprüche, sondern er entspringt einer Haltung, für die die im Witz kristallisierte Lächerlichkeit die Widersprüche des ganzen menschlichen Daseins trifft. Der geistige Impuls, der hier den Witz bestimmt, ist mit dem schmerzvollen Zorn des Satirikers unablöslich verbunden 4 3 8 . Works VIII, 259 ff. In Gullivers weiterem Bericht komprimiert Swift bei der Schilderung der allgemeinen sozialen Zustände, besonders des Luxus, ebenfalls wieder die lächerliche Absurdität in der witzigen Anschaulichkeit des Einzelfalles. Works VIII, 263: I assured him, that this whole globe of earth must at least three times have gone round, before one of our better female Yahoos could get her breakfast or a cup to put it in. 437

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Die zweite Einzelform des Guiliverechen Berichtes ist die Sentenz. Wir haben schon im ersten Kapitel darauf hingewiesen, daß sich die Einsichten Gullivers in ihr mehr und mehr allgemeingültig zusammengeschlossen haben. Die Vorliebe für die Sentenz gehörte im 17. Jahrhundert zu den Merkmalen der Gesellschaft. In ihr versuchte man die vielfältigen Faktoren des Lebens rational zu fassen und, wie es das innere Formprinzip der La Rochefoucauldschen Maxime ist, aus einem Grundaffekt abzuleiten. Als besondere Form des witzig-pointierten und epigrammatischen Stils findet sich die Sentenz in der Komödie; die ihr eigene Antithetik und Komprimiertheit macht sie dem klassischen Stil, insbesondere dem Swifts, von vornherein verwandt. Wir wählen unter den Sentenzen des Gulliver, die meist sehr eng mit den erzählten Ereignissen verknüpft sind, den am besten herauslösbaren Bericht Gullivers über den Krieg, der eine Kette aneinandergereihter Sentenzen ist. Der Sinn der Swiftschen Sentenz liegt ebenfalls darin, das Interesse in seinen verschiedenen Äußerungen gesetzmäßig zu erkennen. Aber es geschieht nicht theoretisch abstrahierend, sondern mit Einbeziehung der besonderen Situationsumstände, die beispielhaft gefaßt verallgemeinernd wirken. Die Darstellung des Krieges vollzieht sich nach Ursache und Mittel, und zwar sind es die Grundsätze der absoluten Nützlichkeitsmoral, wie sie Macchiavell und Hobbes vertreten, die Swift mit epigrammatischer Knappheit, aus der Perspektive des Satirikers gesehen, formuliert und die sich in dieser konzentrierten Form nicht mit dem Schein bedeckt, den ihre Ausführung annehmen möchte, sondern sich in den ganz nackten wirklichen Verhältnissen darstellt. Die Sentenz erfüllt damit ebenfalls eine im wörtlichen Sinne aufklärende Aufgabe des moralisch-rigoristischen common sense. Sie kann zunächst die vom subjektiven Blickpunkt ausgehende Verallgemeinerung persönlicher Erfahrung sein. Neither are any wars so furious and bloody, or of so long continuance, as those occasioned by difference in opinion, especially if it be in things indifferent. Die Aufdeckung der Motive kann in der Sentenz auf verschiedene Weisen erfolgen, die alle in dem Bemühen wurzeln, den gleichsam fruchtbaren Moment herauszuholen. Das kann z. B. durch eine Art Überraschung geschehen, die die Aufmerksamkeit auf den wichtigen Punkt richtet, so wenn von dem Streitmotiv zweier Fürsten die Rede ist und sich erst in der plötzlichen Einbeziehung eines dritten die Beweggründe der beiden ersten erhellen. Sometimes the quarrel between two princes is to decide which of them Works VIII, 264: . . . when I am at home and dressed as I ought to be, I carry on my body the workmanship of an hundred tradesmen; the building and furniture of my house employ as many more, and five times the number to adorn my wife. 120

shall dispossess a third of his dominions, where neither of them pretend to any right. In der bis ins feinste abgewogenen Antithetik der Möglichkeiten bildet sich die ganz hemmungslose Unverbindlichkeit des Machtpolitikers ab, der heute dem einen Beweggrund gehorcht und morgen ganz dem entgegengesetzten. Sometimes a war is entered upon, because the enemy is too strong, and sometimes because he is too weak. Vollendet in der Form ist die folgende Sentenz, die die antithetische Gegenüberstellung vielfältig wiederholt und mit der Reduzierung des Komplexen auf die primitiven Grundvoraussetzungen vereinigt. Sometimes our neighbours want the things which we have, or have the things, which we want; and we both fight, till they take ours or give us theirs. Die eigentliche Form der Maxime charakterisiert die nächsten beiden, die auch bezeichnend sind für Swifts Tendenz, das Allgemeine in Beziehung zu den konkreten Einzelbedingungen zu setzen. It is a very justifiable cause of a war to invade a country after the people have been vasted by famine, destroyed by pestilence, or embroiled by factions among themselves. Die zweite bekommt zudem einen etwas witzigen Schimmer, da hier in der vorsichtig konventionellen Formulierung der Begründung etwas von dem Schein angedeutet wird, der die wahren Gründe verdeckt. It is justifiable to enter into war against our nearest ally, when one of his towns lies convenient for us, or a territory or land, that would render our dominions round and complete. Ganz scharf satirisch ist die Verdeckung des eigentlichen Motivs in der offenen Nebeneinanderstellung von Sein und Schein, die den Gegensatz aufs schärfste betont. If a prince sends forces into a nation, where the people are poor and ignorant, he may lawfully put half of them to death, and make slaves of the rest, in order to civilize and reduce them from their barbarous way of living. Aus der Verallgemeinerung der Erfahrung baut sich die logische Kette der Beweggründe auf, wie sie die exemplarische Handlungsfolge der nächsten Sentenz enthält. It is a very kingly, honourable, and frequent practice, when one prince desires the assistance of another to secure him against an invasion, that the assistant, when he hath driven out the invader, should seize on the dominions himself, and kill, imprison, or banish the prince he came to relieve. Der Abschluß ist eine Synthese mehrerer kleiner Sentenzen, die gleichsam konzentrisch vom Besonderen zum Generellen aufsteigt und mit der all121

gemeinen Feststellung des unabänderlichen Kampfes der Affekte den Bericht abschließt. Alliance by blood or marriage, is a frequent cause of war between princes; and the nearer the kindred is, the greater is their disposition to quarrel; poor nations are hungry, and rich nations are proud; and pride and hunger will ever be at variance 439 . Wenn wir bei dem Versuch, die formalen Einzelheiten der auf die Anthropologie gegründeten Satire Swifts herauszuarbeiten, nicht den Anspruch erheben, alle Besonderheiten und Feinheiten durch Zitat und Analyse wiedergegeben zu haben, so hoffen wir doch das allgemeine Formprinzip, das die angeführten Einzelformen gemeinsam charakterisiert, deutlich gemacht zu haben. Es sei zum Schluß gestattet, noch auf einen formal ausgezeichneten Zug hinzuweisen, für den wir allerdings nur zwei Beispiele gefunden haben. Er ist aber darum besonders interessant, weil er Swift in unmittelbare Verwandtschaft zu Hogarth stellt, wie sich überhaupt bei der Swiftschen Satire, etwa in der Verdinglichung der Metapher, Verbindungen zum Bildwitz des 18. Jahrhunderts finden. Wie bei Hogarth die Entlarvung des Heroischen in der Doppeldeutigkeit der Gebärde beruht, die das Hypokritische der Affektation mitleidslos entlarvt — in gleichzeitig bewußtem Genuß des Witzes, den die Anschauung dieses Widerspruches enthält — so erreicht Swift das Gleiche, indem er in Gullivers Urteil die mögliche andersgeartete Interpretation der zur Schau getragenen heroischen oder großmütigen Haltung gegenüberstellt. This resolution perhaps may appear very bold and dangerous, and I am confident would not be imitated by any prince in Europe on the like occasion; however in my opinion it was extremely prudent, as well as generous . . . 4 4 0 . . . the King, when he is highest provoked, and most determined to press a city to rubbish, orders the island to descend with great gentleness, out of pretence of tenderness to his people, but indeed for fear of breaking the adamantine bottom . . . 4 4 1

« » Works VIII, 254 f. Works VIII, 24. 4 4 1 Works VIII, 177. 122

5.

SATIRE

UND

UTOPIE.

Die anthropologische und gesellschaftliche Satire erwuchs daraus, daß der empirische Irrationalismus dem absoluten Glauben an die Berechtigung rein rationaler Postulate gegenüberstand. Alle Mittel der Affekte aber, wie z. B. die Lüge, sind auf negative Zwecke gerichtete bewußte Äußerungsformen der menschlichen Vernunft. Der satirische Angriff muß daher notwendig in seinem letzten Ziel gegen diese Vernunft selbst gerichtet sein. In der eigentlichen Vernunftsatire Swifts handelt es sich nicht darum, die Schwäche der Vernunft der Kraft der Affekte gegenüberzustellen und an diesem Gegensatz das Unvermögen zum rationalen Handeln zu zeigen, sondern vielmehr darum, die Vernunft als willenloses und mühelos beherrschtes Werkzeug der unvernünftigen Instinkte zu treffen, und sie selbst als die Ursache aller Übel in der Welt anzuklagen. Gerade diese Fähigkeit zur egoistischen Vernunftbetätigung, die sich im haßerfüllten Ersinnen von Mitteln erschöpft, den eigenen Herrschtrieb durchzusetzen, war es, die Hobbes, wie wir zeigten, eingehend formuliert und den aufbauenden und positiven Möglichkeiten, die in der menschlichen Vernunft liegen können, gegenübergestellt hatte. Mit Großartigkeit und Tiefe hatte Hobbes' Philosophie die alten theologischen Gegensätze des Bösen und Guten in selbstgesetzte und -verantwortliche Entscheidungen des Menschen verwandelt und ihm in der Macht der Sprache das Kriterium des Wahren als schöpferischen Akt seines eigenen Geistes zuerkannt. Die inhaltliche Bestimmung des ethischen Dualismus aber gründete er, wie wir sahen, in dem wechselnden Auf und Ab des Kampfes, mit dem die Affekte die Tätigkeit der Vernunft zu stören suchen. Es ist eine notwendige Folgerung, anzunehmen, daß dieser Dualismus zu einer wechselseitigen Beeinflussung führt. Wenn die Vernunft dem Affekt unterliegt, so liegen in ihr (vgl. oben Hobbes' Definition der rechten Vernunft, S. 67) alle Fähigkeiten, diesem Affekt nicht nur Befriedigung zu verschaffen, sondern ihn selbst zu ändern und zu steigern. Tönnies sagt über Hobbes: „ E s wäre auch ganz seinem Denken gemäß wenn wir sagen: der habsüchtige Mensch wird durch entwickelte Vernunft nicht besser sondern schlechter, oder: das Denken selber entwickelt, unter gegebenen Bedingungen, wenn einmal die Rennbahn eröffnet ist, die Habsucht 4 4 2 ." 442

Tönnies, Hobbes. S. 275.

123

Aus der Einsicht in diese unlösbaren Zusammenhänge des Rationalen mit dem Irrationalen erheben sich die bittersten Anklagen, die die Satire dieser vernunftgläubigen Zeit der empirischen Wirklichkeit entgegenschleudert. In erstaunlicher Übereinstimmung der Gedanken gipfelt die Satire Butlers und Swifts in dieser Verurteilung der menschlichen Vernunft, da die ganze von ihr geschaffene und bestimmte Wirklichkeit in jedem einzelnen Zug die Verderbtheit ihrer Urheberin bezeugt. Da er trotz der auffallenden Verwandtschaft beider, die um so interessanter ist, als eben Butler der erste Satiriker gegen die hobbistische Nützlichkeitsmoral ist, im Zusammenhang mit Swifts Vernunftsatire nicht genannt wird, so weit wir sehen, geben wir anmerkungsweise den besonders charakteristischen Beleg aus Butlers „Satyr upon the Weakness and Misery of Man". Mit einer Butler allerdings nicht zu vergleichenden Intensität des Hasses hat Swift in der Gegenüberstellung von Yahoo und zivilisiertem Menschen die vom Instinkt und von der Vernunft geschaffenen Wirklichkeiten voneinander isoliert und gezeigt, daß in den triebbestimmten Lebensäußerungen der Yahoos, rudimentär bereits alle Faktoren der Lebensform des zivilisierten Menschen vorhanden sind. Mit anderen Worten heißt dies, daß das Vorhandensein der Vernunft eben nur die Fortbildung und Weiterentwicklung des Triebhaften ausdrückt und nicht ein neues, bewußt regulativ wirkendes, vom reinen Instinktleben verschiedenes Prinzip in der Gestaltung des Lebens bedeutet. Soweit es sich um die reine Naturgegebenheit des unbewußt InstinktIi aften handelt, gibt es kein Recht zur objektiven Anklage, sondern n u r zur persönlichen Reaktion der Abwehr. . . . although he hated the Yahoos of this country, yet he no more blamed them for their odious qualities, than he did a gnnayh (a bird of pray) for its cruelty, or a sharp stone for cutting his hoof 4 4 3 . Die Anklage erhebt sich erst vor der bewußten Handlung der Vernunft, die durch ihre Kraft der Überlegung und bewußten Einsicht die besondere Wirkung der Affekte ermöglicht, die wir im Ganzen der Gesellschaft in der Heuchelei, im Betrug, in der Rechtsverdrehung, im Krieg, im sozialen Unterschied der Klassen, in Luxus und Armut, Krankheit und Degeneration vor uns haben 4 4 4 . 443 444

Works VIII, 256. Vgl. Butler, Satyr upon the Weakness and Misery of Man: „All this is nothing to the Evils, Which Men, and their confed'rate Devils Inflict, to aggravate the Curse On their own hated Kind, much worse;

124

Besonders deutlich zeigt sich der Einfluß der Vernunft in der Ausbildung des Krieges. Das graue Pferd, dem die egoistische Erfindungskraft der Vernunft fremd ist, beurteilt die Wirkung der Affekte zunächst nach den von der Natur gesteckten Grenzen: What you have told me . . . upon the subject of war, does indeed discover most admirably the effects of that reason you pretend to: however, it is happy that the shame is greater than the danger; and that nature hath left you utterly uncapable of doing much mischief 4 4 5 . Gullivers Anwort, in der er dem Pferd die gesamte Technik der Kriegskunst seiner Zeit entwickelt, klärt über die Macht auf, die die Vernunft über die Natur gewonnen hat. Sie hat sie in ihren Dienst gezwungen und ist, wie das Pferd erkennt, gleichzeitig selbst durch die Verkehrung ihres eigenen naturbestimmten Gesetzes das Opfer dieses Machttriebs geworden. Die Möglichkeiten der Vernunftbetätigung, die Hobbes dargelegt hatte, wirken sich nur in der Unterstützung der Leidenschaften aus und treiben die Mittel, sich durchzusetzen, den letzten Graden unnatürlicher Grausamkeit entgegen. Was Hobbes in der philosophischen Untersuchung als empirische Tatsache festgestellt hatte, begründet in der Satire Swifts das vernichtende Werturteil, das hart und ausschließlich über die menschliche Vernunft gefällt wird: alle natürliche tierische Grausamkeit wird übertroffen von den Wirkungen, die von der Verderbtheit der vernünftigen Fähigkeiten ausgeht. But when a creature pretending to reason, could be capable of such enormities, he dreaded lest the corruption of that faculty might be worse than brutality itself. He seemed therefore confident, that instead of reason, we were only possessed of some quality fitted to increase our Hence bloody Wars at first began, The artificial Plague of Man, That from his own Invention rise, To scourge his own Iniquities; . . . . there is no good, Kind Nature ere on Man bestow'd, But he can easily divert To his own Misery and Hurt; Make that, which Heaven meant to bless Th' ungrateful World with, gentle Peace With Luxury and Excess, as fast As War and Desolation, waste;

(S. 36 f.) 4 4 6 Works VIII, 255.

Make Law and Equity as dear, As Plunder and Free-quarter were, And fierce Encountres at the Bar Undo as fast, as those in War."

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natural vices; as the reflection from a troubled stream returns the imagé of an ill-shapen body, not only larger, but more distorted 44 «. Der kleine Anteil Vernunft, der dem Menschen zugefallen ist, dient nach dem Urteil des Pferdes nur dazu, mit seiner Hilfe . . . to aggravate our natural corruptions, and to acquire new ones, which nature had not given us 4 4 7 . Der wenigen natürlichen Fähigkeiten, die uns gegeben waren, haben wir uns beraubt und nur in ewig unfruchtbarer, aus der Dumpfheit der Leidenschaften kommender Dialektik der Vernunft unsere ursprünglichen Mängel vervielfacht und ihnen dann vergebens mit unseren eigenen Erfindungen zu begegnen versucht 4 4 8 . Erst nach dieser Charakteristik der Vernunft ist der eigentliche zentrale Angriffspunkt der Satire zu verstehen. Der Grund der heuchlerischen Verkleidung des gesellschaftlichen Lebens liegt in der unausrottbaren, egoistisch-leidenschaftlichen Wurzel der Vernunftbetätigung, die dadurch von der Einfachheit und Klarheit der echten Vernunft restlos getrennt bleibt. Gerade ihrer korrumpierten Erscheinungsform aber gehört der Stolz an, der in seiner selbstbewußtesten und überheblichsten Form da auftritt, wo er am unberechtigtsten ist, und der die Stellung des Menschen im vernünftigen Universum in sich selbst persifliert. Nicht die Niedrigkeit seiner Instinkte verdammt den Menschen, sondern die bewußte Anerkennung ihrer Gemeinheit als höchsten Ausdruck der Schöpfung. I am not in the least provoked at the sight of a lawyer, a pickpocket, a colonel, a fool, a lord, a gamester, a politician, a whoremaster, a physician, an evidence, a suborner, an attorney, a traitor, or the like; this is all according to the due course of things: but when I behold a lump of deformity, and diseases both in body and mind, smitten with pride, it immediately breaks all the measures of my patience; neither shall I be ever able to comprehend how such an animal and such a vice could tally together 4 4 9 . Die weitgehende gedankliche Ähnlichkeit der Satire Swifts mit der Butlers im Angriff gegen die Vernunft selbst beweist, daß sich in Butlers Works VIII, 256. Works VIII, 270. 4 4 8 ebda. Vgl. . . . I considered them as they really were, Yahoos in shape and disposition, perhaps a little more civilized, and qualified with the gift of speech, but making no other use of reason, than to improve and multiply those vices, whereof their brethren in this country had only the share that nature allotted them. S. 289. 4 4 8 Works VIII, 307. — Vgl. Butler: Yet, as no Barbarousness beside Is half so barbarous as Pride, Nor any prouder Insolence Than that, which has the least Pretence, We are so wretched to profess A Glory in our Wretchedness; a. a. 0 . , 35. Vgl. weiter Elder, The Pride of the Yahoo. M. L. N. 35. 446 447

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Werk bereits der Kampf um eine andere Realität und einen anderen Sinn des Menschen, als es Hobbes' Auffassung von der menschlichen Natur zuließ, anbahnt, und daß endlich Swifts positiv utopische Formulierung einer Hobbes entgegengesetzten Humanitätsidee die antihobbistische Strömung des 17. Jahrhunderts, die sich in der Satire aussprach, in sich begreift und abschließt. Die Form der Utopie, die sofort die vergleichende Erinnerung an More wachruft, rechtfertigt sich bei Swift aus demselben geistigen Verantwortungsgefühl. Swifts Utopie entsteht aus derselben bewußten Gegensätzlichkeit zur einfachen Anerkennung der naturalistischen Gegebenheit der menschlichen Natur, wie die Utopie Thomas Mores sich am Gegensatz zur Staatskunst macchiavellistischen Geistes gestaltete. Und gerade dieser geistige Gegner Mores war es, dem Hobbes' Philosophie zu neuem weitreichenden Einfluß verhalf, und in dem Swift neben Hobbes den Repräsentanten dessen sah, wogegen er mit den Waffen der Ironie und Satire sein Leben lang kämpfte. Die Wiederkehr dieser Kampfposition des im wahren Sinne Vernunftgemäßen gegen den an der reinen Empirie orientierten Naturalismus enthält in der Gestaltung der Swiftschen Utopie dem humanistischen Denken Mores verwandte Motive, die allerdings durch das Gedankengut der Aufklärung und durch die persönlichen Uberzeugungen Swifts charakteristisch abgewandelt werden. Wie Mores Utopia enthält der Gulliver eine enge Verbindung von Satire und Utopie, die nebeneinander, sich gegenseitig Licht und Schatten gebend, die ihnen zugrunde liegende Einheitlichkeit der geistigen Haltung manifestieren. Denn es scheint unmittelbar einleuchtend, beide als verschiedene Ausdrucksformen einer im Grunde gleichgearteten Betrachtung der Wirklichkeit anzusehen. Beide sind Zeugnis einer ursprünglichen moralischen Kraft und eines ihr ebenbürtigen geistigen Willens. Die eigene ihrer selbst gewisse geistige Kraft, die sich in der Utopie behauptet und in ihr das Recht der Vernunft vertritt, wird, je stärker sie ist, in um so tieferem Gegensatz zur Wirklichkeit stehen und, wenn sie zu deren Darstellung schreitet, satirisch werden, wie der satirische Zorn, wenn er die Tiefe seiner Verzweiflung und seinen eigenen Abstand von der Wirklichkeit durchmißt, zur Form der Utopie kommen wird. Die Doppelschichtigkeit dieser Formen, die unter der Satire die Utopie und umgekehrt in der Utopie die Satire ahnen läßt, verbietet es, ihre Gegenüberstellung mit den Werturteilen negativer und positiver Weltanschauung abzutun 4 5 0 . Die Utopia und Gulliver scheiden sich dadurch, daß die Konzeption Mores trotz aller satirischen Absicht von einer ganz in sich selbst sicheren Ruhe und Gewißheit getragen wird, während bei Swift alles aus dem primär vorhandenen pessimistischen Zorn wächst. Wenn dieser Unter450

So bei Dege, Utopie und Satire in Gullivers Travels, Einleitung. 127

schied zuletzt aus den Persönlichkeiten Swifts und Mores erklärt werden muß, so liegt darin keine Einschränkung im Sinne des privat Begrenzten 4 5 1 , wie man es so oft der Ablehnung Swifts zugrunde gelegt hat. Die Grenze, die in Swifts Pessimismus liegt, soll dabei nicht verwischt werden, aber es muß zugleich betont werden, daß man sich, um das Ethos der Satire wirklich zu begreifen, von allen optimistischen Vorurteilen über die Würde der menschlichen Natur befreien muß. Die große Satire, wie Swifts Gulliver sie darstellt, besitzt in der entdeckten Tiefe der Widersprüche Wahrheit und Allgemeingültigkeit. Daß über sie hinaus eine noch echtere letzte Tiefe zu erreichen möglich ist, wie es der harmonischen Persönlichkeit Mores vergönnt war, ist eine andere Frage. Dem Verhältnis von Satire und Utopie im Gulliver entsprechend ist die Utopie nur aus der ganz engen Abhängigkeit vom satirischen Gedanken zu verstehen. Da in der Erzählung beide eng zusammenhängen, verteilt sich das Utopische ebenso wie das Satirische über alle vier Reisen und enthält gleichfalls eine steigende Entwicklung zum vierten Buch hin. Das letzte Buch, das sich bereits durch die Schärfe seiner Satire auszeichnet, gewinnt vor allem durch die sich hier erst voll entfaltende besondere Gedanklichkeit der Utopie eine von den vorangehenden Büchern sich abhebende und die Schärfe der Satire krönende Stellung. Die enge Bezogenheit der Utopie auf die Satire verleiht ihr von vornherein eine im allgemeinen liegende moralische Bedeutung. Die wechselnde Einkleidung des utopischen Gehalts scheint es uns außerdem zu verbieten, gerade Gulliver als eindeutige Quelle für Swifts staatsanschauliche Überzeugungen im einzelnen zu betrachten, und aus ihnen gewissermaßen ein System politischer Gedanken herauszulösen 4 5 2 . Daß jedoch Swift auch im realpolitischen Bereich Frieden und „piain reaeon" als den Ausgangspunkt bestimmendes moralisches Ziel sah, verlegt in seine eigene politische Tätigkeit die Widersprüche von Vernunftforderung und Empirie als immer wieder erlittene persönliche Erfahrung, von denen die wiederkehrenden Äußerungen über seinen Widerwillen gegen die Politik Zeugnis ablegen. Die Kraft seiner geistigen Überlegenheit weitet diese Erfahrung zur Erkenntnis der allgemeinen Widersprüche des menschlichen Lebens überhaupt und zentriert in der Utopie des Gulliver noch einmal das eigene ethische Bewußtsein im Ideal des Vernünftigen. Die Wurzel der Swiftschen Utopie, besonders der vierten Reise, scheint also nicht in staatspolitischen Erwägungen zu liegen, sondern, wie letztlich auch Mores Utopia, in einer tieferen Schicht des Geistigen, aus dem das Denken über das Wesen und den Sinn des Menschen 4 6 1 Vgl. Dege a. a. 0., S. 16. Vor allem wurzelt die Satire in der pessimistischen Charakteranlage Swifts. 4 5 2 Darin liegt unser Haupteinwand gegen die Anlage der Arbeit von Dege. Vgl. Reimers S. 62 . . . obgleich er nicht in der Verfassung die wichtigste Instanz für das Gedeihen des Staates sieht, sondern in der Sittlichkeit «einer Bewohner.

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überhaupt kommt, und in dieser allumfassenden Fragestellung ist der Staat nur als eine, wenn auch höchst bedeutende, Ausdrucksform der menschlichen Vernunft einbegriffen. Der Begriff der Utopie läßt sich auf den Gulliver nicht in einem eindeutigen Sinne anwenden. Wenn wir von einer Steigerung der Satire durch den utopischen Kontrast gesprochen haben, so war darin ganz allgemein der Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit begriffen. Das Ideal jedoch, das Swift in den verschiedenen Reisen schildert, stellt verschiedene Schichten der Betrachtung dar, die bereits sehr deutlich zu scheiden sind, wenn man das Kriterium der Wirklichkeitsnähe anwendet und dadurch die verschiedene Verhältnisstärke feststellt, in der die Berücksichtigung der realpolitischen Probleme zu den über die Empirie hinausgehenden rein vernünftigen Postulaten steht. Hiernach lassen sich die — wenn man eine schärfere begriffliche Bestimmung will, als im weitesten Sinn politische Programmpunkte zu bezeichnenden — positiven Darstellungen in Lilliput und Laputa von denen der zweiten und vierten Reise trennen. Brobdingnag nimmt eine mittlere Stellung ein: Es enthält neben vielen Forderungen, die von Swift im politischen Kampf selbst vertreten wurden, bereits den Übergang zu utopischen Zügen im engeren Sinn, die weitgehend die Utopie des vierten Buches vorbereiten. Aber erst hier wird in schroffster Abwendung von allen Begrenzungen der Wirklichkeit rein aus der Innerlichkeit des Gedankens eine ideale Welt dargestellt, deren Gesetzlichkeit in dem Wesen des für Swift allein echten Vernunftbegriffs begründet ist. Der besondere Charakter der Vernünftigkeit und die damit verbundene Form des Tierreiches rechtfertigt für das Ideal der vierten Reise die Bezeichnung der Utopie auf besondere Weise. Das Reich der Pferde ist eine vom Menschen absolut getrennte aber doch in seiner echtesten Vernunft- und Selbsterkenntnis gegründete ideale Welt. Es ist selbstverständlich, daß die Unterscheidung verschiedener Schichten nicht die folgerichtige Verbindung aufhebt, die von dem politischen Programm Swifts zur Utopie des Gulliver führt, sondern daß vielmehr die Aufdeckung der letzten Gründe der Swiftschen Anschauungen im Reich der vollkommenen Weisheit den einzelnen vorangegangenen, staatlichen und politischen Forderungen die tiefste Bedeutungsnuance zuerteilt. Das Zeitalter der Aufklärung ist auf dem Gebiet des praktischen Lebens als eine Reformbewegung zu bezeichnen mit dem ausgesprochenen Ziel, eine dem common sense entsprechende moralische Lebensgestaltung herbeizuführen. Swifts Persönlichkeit verkörpert diesen Willen mit der ganzen Leidenschaftlichkeit des Mannes, dem die ethische Verbindlichkeit des Handelns zugleich tiefstes Bedürfnis seines eigenen Gewissens wie entscheidende Bedingung eines dem allgemeinen Wohle dienenden — und dies nur heißt vernunftgemäßen — staatlichen Lebens ist. Wir haben wiederholt gesehen, daß sich für Swift im Bekenntnis zum common sense die Hinwendung zur eindeutigen, klaren und einzelnen 129

Gegebenheit begreift, die erst durch die interessierte Affektbedingtheit der Vernunft oder durch den zerstörenden Einfluß ihres abstrakten Spekulationstriebs problematisch und vieldeutig wird. Die staatsmoralische Forderung richtet sich also der Erkenntnis des common sense gemäß darauf, der Überfeinerung und dem Mystizismus entgegen sich der an sich bestehenden Einfachheit der Dinge zuzuwenden. Nach den Geboten von „common sense" und „piain reason" zu handeln sind die wiederkehrenden Imperative der Swiftschen Pamphlete. Dies bedeutet zugleich, daß sich die Staatanschauungen Swifts aus vernunftgemäßen moralischen Überzeugungen herleiten und daß die sowohl vom Staatsmann wie vom einfachen Bürger zu erfüllende Aufgabe auf ausgesprochen ethischem Fundament ruht. Die Vernünftigkeit ihres moralischen Verhaltens als solche garantiert die Rechtmäßigkeit der Staatsform und der das ganze Leben regelnden Gesetze. Der aus diesem moralischen Reformwillen unausweichlich sich ergebende Zusammenstoß mit der politischen Wirklichkeit wird ohne weiteres klar, wenn wir an die satirische Gesellschaftschilderung zurückdenken und uns das intrigante und vielfältige Spiel damaliger Parteipolitik vergegenwärtigen 453 . Nur wenn man diese dem moralischen Wollen Swifts gänzlich entgegengesetzten Tendenzen der Zeit berücksichtigt, erhellt sich die volle Bedeutung des von Swift im common sense vertretenen Ideals der Einfachheit, das seine Gesellschaftssatire wie den realpolitischen Gehalt seiner Pamphlete und schließlich seine Utopie grundlegend bestimmt. I never yet knew a minister, who was not earnestly desirous to have it thought that the art of government was a most profound science; whereas it requires no more in reality than diligence, honesty, and a moderate 6hare of piain natural sense 454 . Weitaus der Hauptteil der idealstaatlichen Erwägungen der ersten drei Reisen geht folgerichtig dahin, die Politik der moralischen Forderung zu unterwerfen und dadurch einen Zustand von Menschlichkeit und Gerechtigkeit herbeizuführen. Die Lilliputaner lassen sich hierin von ganz prinzipiellen Einsichten leiten. Da sie, von der Bedeutung des Staatswohles restlos überzeugt, Staatsverbrechen besonders schwer bestrafen, haben sie aus der Kenntnis der menschlichen Fehler heraus besonders harte Gesetze gegen Verleumder erlassen. Der Schuldige hat die Todesstrafe zu erleiden, während dem unschuldig Verklagten reiche materielle und ehrenvolle Entschädigung zuteil wird 4 5 5 . Ebenso sehen die Lilliputaner im mit Überlegung ausgeführtem Betrug ein größeres Verbrechen als im Diebstahl, und bestrafen ihn mit dem Tode. 4 6 3 Wir verweisen für die im allgemeinen Leben wirksamen Tendenzen auf das dritte Kapitel zurück. 4 5 4 Works V, 434 f. 4 6 6 Works VIII, 59.

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. . . for they allege, that care and vigilance, with a very common understanding, may preserve a man's goods from thieves, but honesty has no fence against superior cunning; and since it is necessary that there should be a perpetual intercourse of buying and selling, in dealing upon credit, where fraud is permitted and connived at, or hath no law to punish it, the honest dealer is always undone, and the knave gets the advantage 4 5 6 . Diese Begründung macht die ganze Macht der Ungerechtigkeit deutlich, die dem gesellschaftlichen Leben innewohnt, wenn nicht die staatlichen Gesetze dem egoistischen Interesse und seinen Mitteln entgegentreten. Diesem selben Egoismus stellt sich die öffentliche Meinung Lilliputs entgegen, da für sie Undankbarkeit als ein todeswürdiges Verbrechen gilt. . . . for they reason thus, that whoever makes ill returns to his benefactor, must needs be a common enemy to the rest of mankind, from whom he hath received no obligation, and therefore such a man is not fit to live 4 5 7 . Wie schon aus diesen Gesetzen Lilliputs hervorgeht, steht die ideale Staatsanschauung, die sich in den „original institutions" der Lilliputaner ausdrückt in der Einschätzung der menschlichen Natur durchaus auf dem Boden der Wirklichkeit und ruht insofern auf der gleichen Grundlage wie die Satire selbst. Ihr positiver Wert besteht darin, daß die in jedem Menschen vorhandenen Affekte so durch äußeren Zwang beherrscht oder durch geschickte Ausspielung eines Affekts gegen einen anderen geleitel werden, daß als Gesamtresultat ein vernunftgemäßes Zusammenleben im Staate herauskommt. Die bewußte Leitung der Affekte zu dem positiven Ziel, das Staatswohl und das Wohl des einzelnen, wechselseitig ineinander zu begründen, wird am deutlichsten in der lilliputanischen Einrichtung, die staatliche Gerechtigkeit zu einem allgemeinen Vergeltungssystem für gute und schlechte Taten zu machen und die Maxime: „reward and punishment, the two hinges upon which all government turns" 4 5 8 tatsächlich zu befolgen. Im Gegensatz zu europäischen Rechtsverhältnissen hat der Lilliputaner, der die Gesetze seines Landes strikt befolgt, Anspruch auf bestimmte Vorrechte und auf eine geldliche Belohnung. It is upon this account that the image of Justice, in their courts of judicature, is formed with six eyes, two before, as many behind, and on each side one, to signify circumspection; with a bag of gold open in her right hand, and a sword sheathed in her left, to show she is more disposed to reward than to punish 4 5 9 . 459 467 468 459

Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII,

59. 61. 60. 60. Vgl. Irish tracts, Works VII, 133. 131

Die Hauptbedingung für die mögliche Vortrefflichkeit der Staatsbürger liegt in der Erziehung. In der ausführlichen Darstellung der Grundsätze, die in Lilliput die Erziehung leiten, prägt sich das für die Aufklärung typische pädagogische Interesse aus, das sich eben durch die in ihm am wirksamsten zu vertretenden moralischen Ansprüche der Zeit erklärt. Die Erkenntnistheorie des Empirismus ließ zudem die Möglichkeit der erzieherischen Beeinflussung als besonders günstig angesehen werden. Es galt vor allem, wie z. B . in der Erziehungstheorie Lockes ausgeführt wird, die Macht der Gewohnheit von vornherein der Einsicht der Vernunft zu unterwerfen. Um diese wichtigste Forderung der Erziehung zu erfüllen, hält Swift es in Übereinstimmung mit anderen Utopien für unumgänglich notwendig, die Kinder, getrennt von den Eltern, gemeinsam zu erziehen. Die triebbestimmte und daher egoistische Beziehung, der das Kind sein Leben verdankt, beherrscht auch das Verhältnis der Eltern zum Kind, das ihnen keinen Dank für seine Existenz schuldet und ihnen auch sonst nicht verpflichtet ist. Abgetrennt von allen schädigenden Einflüssen versucht Swift auf diese Weise die Kinder zu allen persönlichen und staatsbürgerlichen Tugenden zu erziehen: They are bred up in the principles of honour, justice, courage, modesty, clemency, religion, and love of their country . . , 4 6 0 Im einzelnen richtet sich die Erziehung nach den Fähigkeiten und dem künftigen Beruf des Kindes. Die Mädchen werden ähnlich erzogen, nur daß auf ihren späteren häuslichen Beruf größere Rücksicht genommen wird. Die Fürsorge, die die Erziehung trifft, kann sich spürbar für das Wohl des Staates nur durchsetzen, wenn die Wahl der Beamten nach dem Gesichtspunkt der moralischen Integrität und nicht nach der überragenden Qualität der geistigen Fähigkeiten getroffen wird. In dieser fundamentalen Entscheidung verkörpern sich die für Swift wichtigsten politischen Grundsätze und Erkenntnisse, die in seinen englischen Traktaten fast wörtlich wiederzufinden sind. Die Begründung dieses lilliputanischen Gebrauches zeigt die unbedingte Verbindung auf, in der für Swift die moralische Forderung zu dem Glauben des common sense an die Einfachheit des Wahren steht. Gleichzeitig kommt hier die Überzeugung der Aufklärung von der Gleichberechtigung aller Staatsbürger heraus, da allen die gleiche Fähigkeit zur Vernunftbetätigung eigen ist, die es nur zu stützen und zu bilden gilt. Jeder Zweifel hieran ist ungerechtfertigt, denn es muß in der Kraft des Menschen liegen, die ihm von der Vorsehung gestellten Aufgaben lösen zu können. . . . since government is necessary to mankind, they believe that the common size of human understandings is fitted to some station or other, and that Providence never intended to make the management of public 460

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Works VIII, 62.

affairs a mystery, to be comprehended only by a few persons of sublime genius, of which there seldom are three born in an age: but they suppose truth, justice, temperance and the like to be in every man's power; the practice of which virtues assisted by experience and a good intention, would qualify any man for the service of his country, except where a course of study is required 4 6 1 . Nachdem die verderbliche Kraft der menschlichen Vernunft im Dienste des Egoismus einmal erkannt ist, verbietet es sich, das Fehlen sittlicher Überzeugung durch die Stärke der Vernunftbegabtheit für ersetzbar zu halten, da gerade die moralisch ungebundene Vernunftbetätigung um so gefährlicher ist, je überlegener die intellektuellen Fähigkeiten sind. . . . the mistakes committed by ignorance in a virtuous disposition, would never be of such fatal consequence to the public weal, as the practices of a man whose inclinations led him to be corrupt, and had great abilities to manage, and multiply, and defend his corruptions 4 6 2 . Eine besondere Garantie des moralischen Verhaltens bildet die Vorschrift, daß keiner Beamter werden kann, der nicht an eine göttliche Vorsehung glaubt. In Brobdingnag, dessen König das Ideal der Einfachheit und des common sense repräsentiert, wird die Bedeutung des moralisch-verdienstvollen Beamtentums in den an Gulliver gerichteten Fragen von neuem betont und durch den Zusammenhang mit den übrigen Ansichten des Königs über ein gutes Regierungssystem in allen folgerichtigen Konsequenzen beleuchtet. Die Idealität Brobdingnags besteht daher in der reinen Verwirklichung der in seiner realpolitischen Betätigung von Swift vertretenen Grundsätze. Swifts Bekenntnis zur eindeutigen Wahrheit läßt ihn das Ideal der Einfachheit in Brobdingnag in einer phantastisch anmutenden utopischen Beschränkung der empirischen Vielfältigkeit darstellen. Diese vorbereitenden Züge des vierten Buches verbinden sich aber mit den direkt aus der englischen Politik übernommenen Erörterungen durchaus organisch, da beide Seiten durch die zugrundeliegende Einheitlichkeit der Vernunftauffassung bestimmt werden. Der König befindet sich in völliger Übereinstimmung mit der Ansicht < e l Works VIII, 60. Vgl. Works V, 434: But I look upon it that God intending the government of a nation in the several branches and subordinations of power, hath made the science of governing sufficiently obvious to common capacities; otherwise the world would be left in a desolate condition if great affairs did always require a great genius, whereof the most fruitful age will hardly produce above three or four in a n a t i o n . . . Vgl. ebda. S. 396: Whatever may be thought or practised by profound politicians they will hardly be able to convince the reasonable part of mankind that the most plain, short, easy, safe, and lawful way to any good end, is not more eligible than one, directly contrary in some or all of these qualities. Und: God hath given the bulk of mankind a capacity to understand reason when it is fairly offered; and by reason they would easily be governed if it were left to their choice. Works VIII, 61.

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der Lilliputaner über die für den common sense bestehende unproblematische Einfachheit der Regierungskunst. He confined the knowledge of government within very narrow bounds; to common sense and reason, to justice and lenity, to the speedy determination of civil and criminal causes . . . 4 6 3 Negativ ausgedrückt bedeutet dies die Ablehnung der komplizierten und intriganten Kunst der Diplomatie: He professed both to abominate and despise all mystery, refinement, and intrigue, either in a prince or a minister 4 6 4 . Dem Vertreter solcher Anschauung sind „secrets of state" unbekannt. Die Eindeutigkeit der Wahrheit macht es unnötig, Regierungs- und Gesetzesprobleme zu diskutieren. Da dies von den Brobdingnagiern erkannt ist, gibt Gullivers Bericht von mehreren tausend Büchern über die „art of government" dem König nur eine sehr geringe Meinung über den Verstand der Engländer. Da aber auch im Riesenland die gefährliche Neigung der Vernunft zur Verschleierung der Wahrheit bekannt ist, steht auf dem Schreiben von Gesetzeskommentaren die Todesstrafe. Die Gesetze sind in sich wahr und einfach und insofern eindeutig, was sich äußerlich schon in ihrer Wortarmut ausspricht. They are expressed in the most plain and simple terms, wherein those people are not mercurial enough to discover above one interpretation . . , 4 6 5 Alle Urteile kommen aus vernünftiger Einsicht und so sind Präzedenzfälle den Riesen wenig bekannt. Der der Vernunft gehorchende König von Brobdingnag vertritt gegenüber absolutistischen Tendenzen, von denen Gulliver in seiner Erzählung berichtet, den Standpunkt des allgemeinen öffentlichen Wohls. Er ist z. B. ein Gegner des stehenden Heeres, des Krieges und aller unmenschlichen Gewaltmittel. So bemerkt Gulliver zu seinem Abscheu gegen die Wirkung des Pulvers . . . that a prince . . . should from a nice unnecessary scruple, whereof in Europe we can have no conception, let slip an opportunity put into his hands, that would have made him absolute master of the lives, the liberties, and the fortunes of his people 4 6 6 . In reiner Identität mit Swift selbst spricht sich die Überlegenheit des common sense und sein Interessiertsein am allgemeinen Wohl in der Ironie des Königs den Parteien gegenüber aus. In dieser Spaltung vergeuden sich die Kräfte, die gesammelt dem nationalen Interesse besser dienen würden. 463 4M 465 469

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Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII,

140. 139. 140. 139.

Dieses allgemeine Staatsinteresse verbindet sich für Swift mit ganz bestimmten Programmpunkten, die allein eine vernünftige Staatsführung gewährleisten. So steht Swifts König von Brobdingnag mit aller Entschiedenheit auf dem Standpunkt, daß eine gut gestützte und ausgebaute Landwirtschaft das einzig sichere Fundament des Staates ist: And he gave it for his opinion, that whoever could make two ears of corn, or two blades of grass to grow upon a spot of ground where only one grew before, would deserve better of mankind, and do more essential service to his country than the whole race of politicians put together 4 6 7 . Dies unbedingte Eintreten Swifts für das „landed interest" zeigt ihn in der damit ausgesprochenen Ablehnung des stärker und stärker werdenden „moneyed interest" als ausgesprochenen Gegner der kapitalistischen und machtpolitischen Interessen. So ideal der König selbst und die von ihm vertretenen Ansichten sind, so gibt es in Brobdingnag doch noch Einrichtungen, die wie in Lilliput mit der wirklichen Natur des Menschen rechnen. Er vertritt auf kirchlichem und politischem Gebiet die Beschränkung der freien Meinungsäußerung, um die Sicherheit des Staates zu gewährleisten: He said, he knew no reason, why those who entertain opinions prejudicial to the public, should be obliged to change, or should not be obliged to conceal them. And as it was tyranny in any government to require the first, so it was weakness not to enforce the second: for a man may be allowed to keep poisons in his closet, but not to vend them about for cordials 4 6 8 . Der Geist der Brobdingnagier, der sich in ihren politischen Überzeugungen ausspricht, bestimmt auch ihre Stellung zum übrigen geistigen Leben. Ihrem Mißtrauen gegen die gefährliche Macht vieler Worte entsprechend gibt es in Brobdingnag wenig Bücher. Der sprachliche Stil ist ebenfalls dem common sense gemäß klar, männlich und fließend, aber metapherlos: . . . for they avoid nothing more than multiplying unnecessary words, or using various expressions 4 6 9 . Das gesamte wissenschaftliche Interesse ist von einer praktischen Humanitätsidee gesehen und beschränkt sich auf „morality, history and poetry" 4 7 0 , und praktische Mathematik. Die eingangs gekennzeichnete Gegensätzlichkeit der politischen und allgemein sittlichen Grundsätze Swifts zu einer Zeit, die in ihrer verfeinerten Kultur und wendungsreichen Politik ihre hedonistisch-utilitaristischen Ziele verficht, zeigt die 4 6 7 Works VIII, 140. Hier werden deutlich irische Probleme sichtbar. Vgl. Irish Tracts VII, 17 Agriculture, which hath been the principle care of all wise nations. Und S. 134: There is not an older or more uncontroverted maxim in the politics of all wise nations than that of encouraging agriculture. 4 8 8 Works VIII, 135. 4 8 9 Works VIII, 141. 4 7 0 Works VIII, 140.

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Ironie, die in Gullivers naiven Urteilen liegt. In ihnen wird das Ideal der Einfachheit zur . . . narrowness of thinking, from which we and the politer countries of Europe are wholly exempted 4 7 1 . Direkt aufs Politische bezogen spricht Gulliver von der Unwissenheit der Riesen . . . not having hitherto reduced politics into a science, as the more acute wits of Europe have done 4 7 2 . Es scheint berechtigt in diesen „wits" eine Anspielung auf Macchiavell und seine Schüler, wie auf den Verfasser des Leviathan zu sehen. Die geringen idealen Kontraste, die die Satire Laputas erhält, beruhen ganz auf dem realpolitischen Sicheinsetzen Swifts für Irland und den gründlichen und sorgfältigen Ausbau seiner Landwirtschaft. Oasenhaft und märchenartig taucht in der düsteren Satire, die die trostlosen irischen Verhältnisse wiedergibt, ein herrlicher Anblick auf. . . . we came into a most beautiful country; farmers' houses at small distances, neatly built; the fields enclosed, containing vine-yards, corngrounds, and meadows. Neither do I remember to have seen a more delightful prospect 4 7 3 . Es bleibt abschließend noch eine idealstaatliche Bemerkung Gullivers selbst zu erwähnen. Gulliver rechtfertigt sich am Ende seines Berichtes dem etwaigen Vorwurf gegenüber, die von ihm entdeckten Länder nicht als Kolonien Britanniens beansprucht zu haben. Abgesehen von dem zu hegenden Zweifel an dem Nutzen der kolonialen Besitzergreifung von Ländern gerade dieser Art verficht Gulliver den unbeirrbaren Standpunkt des Rechtes gegen den der Gewalt. Meistens ist es unersättliche Habgier, die Kolonien mit den unmenschlichsten Mitteln erobert und dann das Land „by divine right" beansprucht 4 7 4 . Damit ordnet sich die Ablehnung der skrupellosen Kolonialeroberung Swifts Ablehnung der reinen politischen Machtbestrebungen e i n 4 7 5 . Wenn wir bei den bisher geschilderten idealen Grundsätzen und Einrichtungen nicht für die Erklärung jedes einzelnen Zuges auf das satirische Gegenbild zurückzugreifen brauchten, so muß dies bei der Interpretation der Utopie des vierten Buches um so mehr geschehen. Wie schon angedeutet wurde, läßt sich ihr letzter Sinn nicht erfassen, wenn man versucht, ein staatliches System herauszulösen, sondern nur, wenn man ihre tiefste Bedeutung im Ideal eines neuen Vernunftbegriffs sieht. Sie ist bis ins einzelne hinein nur als Spiegel für die satirisch dargestellte Welt zu verstehen, da die Vollkommenheit des Ideals aus der reziproken 471

S. 75. 472 473 474

Works V I I I , 138. Vgl. für die ironische Bedeutung des Wortes „polite" oben Works V I I I , 139. Works V I I I , 183. Works V I I I , 305.

476 y g j Gullivers antiimperialistische Äußerung Works VIII, 53 f. 136

Abhängigkeit von eben der Wirklichkeit wächst, wie sie in der anthropologischen und gesellschaftlichen Satire gezeigt wurde. Um die Bedeutung dieser Abhängigkeit zu charakterisieren, sei das Gesetz des utopischen Lebens formelhaft vorweggenommen. In dieser utopischen idealvernünftigen Welt löst sich der verderbenbringende Widerspruch zwischen Affekt und Vernunft. Ihre Einswerdung im Natürlich-Vernünftigen beseitigt den Unterschied zwischen Natur- und Gesellschaftszustand und damit die innerhalb des letzteren aufgetretene Spaltung zwischen der realen Wesenseigentümlichkeit des Menschen und der auf Wirkung berechneten schauspielernden Heuchelei, denn der Zustand des wahrhaft vernünftigen Seins, in dem die Tugend unreflektiert aus der vernünftigen Natur hervorgeht, muß dem Schein notwendig unzugänglich werden. Hierin liegt weiterhin bereits angedeutet, daß Swift sich in der Utopie einem anderen Naturbegriff zuwendet, als er aus der empirischen Erfahrung gewonnen der Satire zugrunde lag. Der in ihr herrschenden Auffassung von der Verderbtheit der menschlichen Natur steht in der Natur der Houyhnhnms die optimistisch-rationalistische Auffassung der Aufklärung gegenüber, die das Wesen des Menschen in seiner ursprünglichen Güte zentriert und ihm ein eingeborenes moralisches Bewußtsein zuspricht. . . . these noble Houyhnhnms are endowed by nature with a général disposition to all virtues 4 7 6 . A people . . . naturally disposed to every virtue . . . 4 7 7 Die Vollkommenheit der Natur als das wahrhaft Vernünftige prägt sich unmittelbar darin aus, daß das tugendhafte Leben aus dem einfachen Befolgeil ihrer Gesetze entsteht. Diese dem englischen Humanismus eigene und von der Aufklärung neu aufgenommene Dreieinheit von Natur, Vernunft und Tugend enthält ihre einzigartige Charakteristik durch die in den Houyhnhnms verwirklichte Idee der Vernunft, und in dieser Idee faßt sich die gesamte Fehde, die Swift gegen die Anerkennung des naturalistisch gesehenen Menschen führte, als in ihrem positiven Gegensatz zusammen. Swift konnte nicht umhin, empirisch die Berechtigung der psychologischen Analyse etwa Hobbes' anzuerkennen, aber aus der ethischen Bestimmtheit seines eigenen Wollens konnte er am Widerspruch zu einer höheren Wahrheit die Verderbtheit dieser Wirklichkeit erweisen. Wie seine Satire im Angriff gegen die menschliche Vernunft selbst gipfelt, so liegt folgerichtig das Prinzip der utopisch gegensätzlichen Welt in Form und Wesen der ihr zugehörigen Vernunft begründet. Works VIII, 278. Works VIII, 284. Wedel, The Philosophical Background of Gullivers Travels, S. 442, weist daraf hin, daß man in den Houyhnhnms den Naturzustand verkörpert sehen könne, wie Locke ihn dargestellt hat, in dem die Menschen „according to reason" leben, „in a State of liberty without licence, every one administering the laws of nature for himself, laws of temperance and mutual benevolence". (Locke, Two treatises II, Ch. 2 u. 3.) Die Besonderheit des Pferdestaates läßt sich hierin nicht erschöpfen, da es darauf ankommt, die Form der Vernunft selbst weiter zu analysieren. 476 477

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Wenn Hobbes die Vernunft in der dualistischen Auseinandersetzung von Affekt und Vernunft als eine logische Fähigkeit definierte, die in sich die subjektiv bestimmbare Entscheidungsmöglichkeit nach beiden Seiten trägt, so sieht Swift gerade in der Triebbestimmtheit dieser Subjektivität die Wurzel alles Übels und stellt ihr in der Vernunft der Pferde die durch die Abwesenheit aller antirationalen Affekte von egoistischen Einflüssen befreite und von jedem Begriff des Bösen gelöste Vernunft gegenüber, die allein die Erkenntnis der vom inneren Zweck des Vernünftigen geforderten Objektivität der Wahrheit garantiert, weil sie nur fähig ist, in Übereinstimmung mit der Natur und der unverfälschten Einfachheit der Dinge zu bleiben. Wir wiederholen das Hobbes-Zitat, das am besten geeignet ist zu zeigen, wie sich das Ideal Swifts an seinem Gegensatz verdeutlicht, und stellen ihm dann das Zitat aus der Utopie Swifts gegenüber. „Vermag der Mensch als einziger unter allen Lebewesen vermittels der allgemeinen Wortbedeutung sich praktische Gesetze, vor allem für die Lebensordnung zu ersinnen, so vermag er allein auch nach falschen Regeln zu handeln und diese auch anderen mitzuteilen, damit sie danach handeln. Auch kann der Mensch, wenn es ihm beliebt, — belieben wird es ihm aber, so oft er meint, daß es für 6eine Absichten vorteilhaft ist —, vorsätzlich Falsches lehren, d. h. lügen, und die Bedingung von Gemeinschaft und Frieden unter den Menschen aufheben 4 7 8 ." As these noble Houyhnhnms are endowed by nature with a general disposition to all virtues, and have no conceptions or ideas of what is evil in a rational creature, so their grand maxim is, to cultivate reason, and to be wholly governed by it. N e i t h e r i s r e a s o n a m o n g them a p o i n t p r o b l e m a t i c a l as with us, w h e r e men can argue with p l a u s i b i l i t y on b o t h s i d e s of t h e q u e s t i o n ; but strikes you with immediate conviction; as it must needs do where it is not mingled, obscured, or discoloured by passion and interest 4 7 9 . Es liegt in der ganzen Art dieses Vernunftbegriffs begründet, daß es sich hier um ein Ideal der praktischen Vernunft handelt, die jede im Theoretischen bleibende Wissenschaft als ungewiß und für die Forderung des Tages als bedeutungslos zurückweist, sich aber in dieser Haltung mit dem größten Ethiker der Antike, mit Sokrates, eins weiß 4 9 0 . Die eindeutige Gewißheit, die diese Vernunft enthält, wird von Swift noch darin charakterisiert, daß den Houyhnhnms das Verständnis für das Wort „opinion" fehlt. 4 7 8 De homine, Kap. 10, § 3. Vgl. die satirische Charakteristik Swifts: swearing to both sides of a contradiction . . . S. oben S. 90. 4 7 9 Works VIII, 278. V. Vf. gesperrt. 4 8 0 Works V n i , 279.

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I remember it was with extreme difficulty that I could bring my master to understand the meaning of the word o p i n i o n , or how a point could be disputable; because reason taught us to affirm or deny only where we are certain; and beyond our knowledge we cannot do either 481 . Seit dem 16. Jahrhundert begriff für den Skeptizismus die Meinung das Unsichere, Schwankende, kurz das Irrationale in sich. Die Fülle der Beispiele, die man für diese Auffassung zitieren könnte, wird durch Swift selbst vermehrt, wenn er unter den allegorischen Figuren in der „Battie of Books" die Meinung als „light of foot, hoodwinked, and headstrong, yet giddy, and perpetually turning" schildert 482 . In einem „Essay on Opinion" versuchte Matthew Prior das Wesen der Meinung in mannigfachen Formulierungen festzuhalten. Seine Feststellung, daß unsere Leidenschaften mit unserem Eifer und daß unsere Meinung mit unseren Leidenschaften wechsele 483 , möge den ganzen Unterschied erläutern, den diese Form des menschlichen Verhaltens der Geistesverfassung der Pferde gegenüber einnimmt. Den entschiedensten Ausdruck findet das Wesen dieser Vernunft in der Sprache. Das absolute Durchdrungensein von Vernunft, das die Pferde darstellen, ist von einer solchen rein in sich ruhenden Abgeschlossenheit, daß sie zur Konzeption ihres eigenen Gegensatzes unfähig sind; in das Wesen der Sprache übersetzt, heißt das, daß ihnen die Lüge fehlt. An ihre Stelle tritt „the thing which is not" 484 . Rein empirisch deskriptiv setzen sie zur Bezeichnung des Unangenehmen und Schlechten, das sie sehen, dem positiven Begriff die Negation Yahoo voran 485 . Die spezifische Verderbnis der Vernunft von Gullivers Artgenossen aber überschreitet schlechterdings die Grenze ihrer Fassungsfähigkeit. So stehen sie der Eigenschaft des Stolzes durchaus unzugänglich gegenüber. Works VIII, 278 f. Works I, 175. 4 8 3 S. 191. 484 Ygj j j e s e j j r interessanten Gedanken über die Sprache der Pferde bei Kaßner, Physiognomik S. 88 f. Das Besondere, ganz und gar Geniale und entschieden Tiefsinnige der „Reise zu den Houyhnhnms" . . . liegt darin, daß diese Art von Sprache dem Vernunftwesen der redenden Pferde völlig entspricht oder daraus kommt. Die H. 6ind nämlich nicht vernünftig wie wir Menschen: aus Idee, sondern wie eben redende Tiere, aus Instinkt, d. h. sie spiegeln sich nicht in Ideen, sondern sind von der Vernunft ganz durchdrungen und damit durchsetzt, wie Fleisch vom Blut durchdrungen ist. Ihre Vernunft ist so vollkommen und das Ganze der Welt so bestimmend und umfassend, wie sie es nie bei den Menschen, sondern wie bei den Tieren nur der Instinkt es ist. Diese H. haben kein Jenseits, also auch kein Jenseits der Vernunft, sie sind ohne Imigination, ohne Spiegel, ohne Innen und Außen. Swift drückt das auf eine ebenso einfache wie sublime Art damit aus, daß er den H. die Fähigkeit zur Lüge abspricht. Sie lUgen nicht, sondern wer lügt, der sagt bei ihnen. „Das Ding, das nicht ist", oder „das es nicht gibt". Welcher Mangel an Imagination, an Spiegel! 481 482

486

Works VIII, 286.

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. . . they were not able to distinguish this (quality) of pride, for want of thoroughly understanding human nature 486 . Die Sprache der Houyhnhnms ist sparsam, angemessen und bedeutsam. Gulliver bemerkt gleich zu Anfang, „that their language expressed the passions very well" 4 8 7 , und erzählt später noch einmal, daß sie sich in den wenigsten und bedeutsamsten Worten ausdrücken. Gerade in der Lüge lag nach Hobbes das bedeutendste Mittel des Egoismus, und Butlers und Swifts Satire charakterisiert den Machttrieb an dem willkürlichen Spiel mit der Vieldeutigkeit und Vervielfältigungsmöglichkeit der Worte. Der echten und im Erkennen ungestörten Vernunft entspricht dagegen die Kargheit und Wortarmut dieser vernünftigen Tiersprache, „because their wants and passions are fewer than among us" 488 . Swift steht völlig auf der Seite des auch von Hobbes erhobenen Postulats, in der Sprache das Instrument des Friedens und der Gemeinschaft zu sehen und dadurch den Segen eines wahrhaft vernünftigen Lebens zu genießen. Aber nur die affektfreie Vernunft der Pferde vermag dieses Postulat zu verwirklichen. Das graue Pferd begründet seine Einsicht mit der unwiderleglichen Logik und Beweiskraft des common sense und erläutert der satirischen Darstellung analog die moralgesetzliche Notwendigkeit am praktischen Beispiel. . . . he argued thus: that the use of speech was to make us understand one another, and to receive information of facts; now if any one s a i d t h e t h i n g w h i c h w a s n o t , these ends were defeated; because I cannot properly be said to understand him; and I am so far from receiving information, that he leaves me worse than in ignorance, for I am led to believe a thing black when it is white, and short when it is long. And these were all the notions he had concerning that faculty of lying, so perfectly well understood . . . among human creatures 489 . Bevor wir auf die nähere Interpretation des Vernunftbegriffs eingehen, gilt es zunächst, die Vernunftwesen selbst und darauf das utopische Reich in seinen weiteren mit ihnen verknüpften Zügen darzustellen, und zwar direkt durch die vorhandene Kultur der Pferde wie auch auf indirekte Weise, indem wir das Fehlen der den Tieren fremden europäischen Erscheinungen begründen. Das Wesen der Pferde wird in wenigen bedeutenden Zügen gezeichnet. Die in der Vernunft ruhende Heiterkeit der weisen Tiere kann durch keinen Affekt beunruhigt werden. Sie kennen weder die Unersättlichkeit der Menschen, die sich an das Leben klammert, noch ihre ewige Angst vor dem Tode. Um die Vollkommenheit und Harmonie der vernünftigen Natur wissend und im Glauben daran, „to retire to their first mother" 486 487 488 489

140

Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII,

307. 234. 250. 248.

sterben die Bewohner dieses Reiches ohne eigene Gemütserregung und ohne das geringste Bedauern irgendwelcher Art bei ihren Verwandten und Freunden hervorzurufen. . . . they take a solemn leave of their friends, as if they were going to some remote part of the country, where they designed to pass the rest of their lives 4 9 0 . Der absolute Gegensatz, der in dieser Klarheit und in diesem feierlichen Ernst der menschlichen Kleinheit, Not und Unsicherheit gegenüber besteht, enthält die volle Bedeutsamkeit, die der Stellung zum Tode zukommt. Dem typischen Wesen der Vernunft ist der Tod die notwendige Grenze ihres Daseins, durch die ihre weise Einsicht gefühlsmäßig nicht erregt wird 4 9 1 . Ihr Leben erfüllt die Glückseligkeit, die dem Menschen in seiner für sich stehenden und von Widersprüchen erschütterten Individualität nie zuteil werden kann. In Swifts eigenen späteren Äußerungen über Todesgedanken fällt etwas von dem Schleier, der sein persönlichstes Fühlen und Denken sonst verhüllt, und läßt dieses Gefühl des Alleinseins und des Schmerzes sichtbar werden. As to mortality it hath never been out of my head eighteen minutes these eighteen years; neither do I value it a rush further than as it parts a man from his friends for ever, and that share of it I have suffered already, and am likely to suffer as long as I live 4 9 2 . Es spricht sich in diesem Gegensatz, in dem Swifts eigenes Leben zur glücklichen Ruhe seiner Utopie steht, der ganze Zwiespalt zwischen Vernunft und Gefühl aus, der Swift in seinem eigenen Leben den harmonischen Ausgleich nicht finden ließ. Der egoistischen Isolierung der Menschen fremd, entspringen alle von der Vernunft bestimmten Gefühle der Tiere ausschließlich sozialen Antrieben. Der unerbittlichen Analyse der naturalistischen Psychologen, die selbst in der Freundschaft nur den ursprünglich auf die Selbstliebe gerichteten, heuchlerisch verkleideten Trieb sahen, setzt Swift in den Pferden, die wahrhaft reinen Sympathiegefühle „friendship" und „benovelence" entgegen, die ihre ersten Tugenden ausmachen. Sie beschränken sich nicht auf die Verbindung einzelner, sondern bestimmen das gesamte Gemeinschaftsleben. For a stranger from the remotest part is equally treated with the nearest neighbour, and wherever he goes, looks upon himself as at home 4 9 3 . Sie verhalten sich zueinander mit gleichmäßiger Höflichkeit, kennen aber Works VIII, 286. Works III, 309. 4 9 2 Corr. IV, 414. 4 8 3 Works VIII, 279. Hier ist die Verbindung mit der Utopia besonders eng. More spricht von den Utopiern auf Reisen: And thoughe they carye nothynge furth with them, yet in all their jorney they lack nothing. For whersoever they come, they be at home. S. 65. 490

481

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dabei keinerlei Art von Zeremonie. Die in den Houyhnhnms dargestellte moralische Vollkommenheit der sozialen Beziehungen, wie sie sich am deutlichsten in ihrer Stellung zur Lüge ausdrückt, läßt sich in Swifts praktischer Tätigkeit als Ziel und Aufgabe seines reformerischen Kampfes für eine echte Sittlichkeit wiederfinden. Wie er die Überzeugung hat, die Politik rein auf das „public good" richten zu müssen, ermahnt er als Geistlicher seine Hörer, daß jeder auf seinem Platze für das Wohl des Ganzen wirken müsse 4 9 4 . Er ordnet dies ethische Gemeinschaftsideal dem allgemeinen Plan der Natur ein, in der auch eines das andere erhält und stützt, und gewinnt somit seine Forderung aus dem allgemeinen vernünftigen Gesetz des Lebens, das die Grundlage seines utopischen Pferdereiches bildet. Die Vernünftigkeit der freundschaftlichen und wohlwollenden Gefühle der Tiere ist von einer solchen Allgemeinheit, daß sie alles Persönliche und Individuelle ausschaltet. Weder zwischen Ehegatten noch zwischen Eltern und Kindern bestehen irgendwelche persönlichen Gefühlsbindungen. And I observed my master to show the same affection to his neighbour's issue that he had for his own 4 9 5 . Ihre Fürsorge für sie und die Erziehung entspringt rein aus den Geboten der Vernunft. Die Natur gebietet, die ganze Gattung zu lieben. . . . and it is reason only that maketh a distinction of persona, where there is a superior degree of virtue 4 9 6 . Die Erziehung der jungen Pferde selbst bietet keine Probleme. Sie entspricht allen Forderungen der Vernunft, deren erste ist, daß beide Geschlechter gleich erzogen werden, da beide denselben Anspruch auf das Leben vernünftiger Wesen erheben können, ein Gedanke, den Swift mit anderen Utopien gemeinsam hat. Sie werden denkbar einfach erzogen. In „temperance, industry, exercise" und „cleanliness" wird das Ziel gesehen, dem die pädagogischen Bemühungen nachstreben. Um die Rasse auf der gleichen Höhe zu halten, beachtet man gewisse Vorschriften der Zuchtwahl. Wieder in Übereinstimmung mit platonischen Gedanken spielt das Ergebnis einer seelischen Harmonie in den Kindern dabei die Hauptrolle. 4 9 4 So among mankind, our particular stations are appointed to each of us by God Almighty, wherein we are obliged to act, as far as our power reacheth, toward the good of the whole community. And he who doth not perform that part assigned him toward advancing the benefice of the whole, in proportion to his opportunities and abilities, is not only a useless, but a very mischievous member of the public: because he taketh his share of the profit, and yet leaves his share of the burden to be born by others, which is the true principal cause of most miseries and misfortunes in life. — On mutual Subjection, Works IV, 112. 495 498

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Works VIII, 279. Works VIII, 279.

. . . where a female happens to excel in strength, a consort is chosen with regard to comeliness 4 9 7 . Die Pferde betrachten die Ehe als notwendige Einrichtung vernünftiger Wesen zur Fortpflanzung der Gattung. Sie kennen keinen Ehebruch und leben „without jealousy, fondness, quarrelling, or discontent" 4 9 8 . Um eine Übervölkerung des Landes zu vermeiden, gibt es auch bei den Houyhnhnms die in Utopien sich wiederholende Vorschrift der Kinderbeschränkung, die durch die abgeschlossene meist insulare Lage des Staates gegeben ist. Den höhergestellten Houyhnhnms ist je ein Kind jeden Geschlechts zu haben erlaubt, die dienende Klasse dagegen darf drei Kinder haben. Werden in einer Ehe nur männliche oder nur weibliche Nachkommen geboren, tauscht man eins der Kinder gegen eins des anderen Geschlechts aus. Wie alles in diesem Land von größter naturgemäßer Einfachheit ist, so auch das Wenige, was sich an Regierungskunst hier findet. In bewußtem Gegensatz zu der von Hobbes aufgestellten These der Gleichheit aller Menschen vertritt Swift die platonische Auffassung der Wertunterschiede zwischen den Menschen. Die Pferde unterscheiden sich sowohl in der körperlichen Gestalt wie in den geistigen Fähigkeiten. Im Unterschied zu den Menschen, bei denen die Elendesten die „nobility" repräsentieren, folgt hier jeder den von der Natur gebotenen Rangstufen. Die Dienenden bleiben in ihrem Stand . . . without ever aspiring to match out of their own race, which in that country would be reckoned monstrous and unnatural 4 9 9 . Es ergeben sich aber hieraus keine sozialen Unterschiede, wie sie in den ungeheuren Extremen bei den Menschen bestehen. Für die Houyhnhnms besteht ein natürliches Gesetz der Gerechtigkeit. Sie sind der Ansicht, . . . that all animals had a title to their share in the productions of the earth 5 0 0 . Da die Tugend bei den Houyhnhnms ganz unreflektiert und selbstverständlich die Handlungen bestimmt, fällt die Notwendigkeit der staatlichen Gesetze fort. Dem weisen Pferd, dem Gulliver berichtet, ist das Wort „law" völlig fremd. . . . he thought nature and reason were sufficient guides for a reasonable animal . . . 5 0 1 . Das vernunftbegabte Geschöpf handelt auch ausschließlich nach der Vernunft, und dieses Gesetz zu durchbrechen würde die völlige Selbstaufgabe bedeuten. Die Dekrete ihrer vierjährlich abgehaltenen Staatsversammlungen sind daher nicht Gesetze, sondern „Ermahnungen". 497 498 489 500 501

Works Works Works Works Works

VIII, VIII, VIII, VIII, VIII,

280. 280. 268. 262. 257.

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. . . f o r they h a v e n o conception how a rational creature can be compelled, b u t only advised, or e x h o r t e d ; because n o person can disobey reason without giving u p his claim to be a rational c r e a t u r e 5 0 2 . Diese e r w ä h n t e Z u s a m m e n k u n f t ist eine R e p r ä s e n t a t i w e r s a m m l u n g , die ü b e r Stand u n d Lage der Dinge in den Landesdistrikten berät. Die E r n t e z. B. u n d die Yahoos werden h i e r gerecht verteilt u n d a u c h der Kinderaustausch wird geregelt. Was die K u l t u r u n d Wissenschaft der H o u y h n h n m s b e t r i f f t , so ist sie in i h r e n Grenzen schon d a d u r c h bestimmt, d a ß die V e r n u n f t der P f e r d e auf praktisch-ethische Ziele gerichtet ist. Das astronomische Wissen z. B. beschränkt sich auf die Beschäftigung mit den einfachsten Vorgängen. Sie berechnen die Jahreslänge n a c h den Bewegungen d e r Sonne u n d des Mondes, o h n e das J a h r w i e d e r u m in Wochen einzuteilen. F e r n e r versehen sie das Wesen der Verfinsterungen . . . and this is t h e u t m o s t progress of t h e i r a s t r o n o m y 5 0 3 . Dem schon bei der Sprache b e r ü h r t e n Stilideal u n d der a b l e h n e n d e n H a l t u n g z u m W o r t r e i c h t u m entspricht es, wenn bei den P f e r d e n die schon bei den Brobdingnagiern selten gepflegte K u n s t des D r u c k e n s ganz verschwindet. Das Wissen der H o u y h n h n m s b e r u h t rein auf der m ü n d l i c h e n Tradition, wobei zu berücksichtigen ist, d a ß der U m f a n g i h r e r Kenntnisse nicht groß sein k a n n : Die E i n h e i t , die Vernünftigkeit u n d die a u t a r k e Abgeschlossenheit dieses Volkes h a t n u r wenige geschichtlich bedeutende Ereignisse zur Folge, so d a ß . . . the historical p a r t is easily preserved without b u r t h e n i n g t h e i r memories504. I n der Kunst richtet sich das Interesse der H o u y h n h n m s hauptsächlich auf die Dichtung, in der sie sich w i e d e r u m durch die R e i n h e i t i h r e r Sprache vor allem auszeichnen: . . . wherein (poetry) t h e justness of t h e i r similes, and t h e minuteness, as well as exactness of t h e i r descriptions, are indeed i n i m i t a b l e 5 0 5 . Der Gehalt dieser Dichtung r u h t völlig in der K o n t e m p l a t i o n dessen, was das Bewußtsein der H o u y h n h n m s als Höchstes zu e m p f i n d e n vermag. — E r h a b e n e Begriffe von „ f r i e n d s h i p " u n d „benevolence" sind der K e r n dieser Hymnen. D a n e b e n h a b e n sie Preislieder f ü r die Sieger der sportlichen W e t t k ä m p f e . Einen Zug w a h r e r K u l t u r gibt es bei den H o u y h n h n m s , der in besonderer Weise Swift6 eigenes K u l t u r e m p f i n d e n in engster V e r b i n d u n g mit Idealen seiner Zeit zeigt: sie b e h e r r s c h e n die Kunst der Konversation in vollendeter F o r m . Es gibt in i h r e n U n t e r h a l t u n g e n weder u n h ö f l i c h e s™ Works 5U3 Works 604 Works 5U5 Works

144

VIII, VIII, VIII, VIII,

291. 284. 284. 285.

Unterbrechungen oder Langeweile noch eine Erhitzung der Gemüter über verschiedene Meinungen. Dazu findet sich bei ihnen das, was Swift als eigentliche Vollendung guter Konversation betrachtet: They have a notion, that when people are met together, a short silence doth much improve conversation: this I found to be true; for during those little intermissions of talk, new ideas would arise in their thoughts, which very much enlivened the discourse 506 . Wie in der Dichtung ist der Gegenstand der Unterhaltung hauptsächlich auf die Betrachtung der in ihrem Wesen gegründeten Vernünftigkeit und daneben auf gewisse staatliche Dinge gerichtet. Selbstverständlich wird auch das Neue und Seltsame, wie Gullivers Existenz es darstellt, zum Thema der Unterhaltung. Das menschliche Wesen und die menschliche Zivilisation wird durch den Kontrast zur vollendeten Einheit von Natur und Vernunft in der ganzen Fragwürdigkeit, die beiden innewohnt, unmittelbar erkannt. Das Erstaunen der Pferde über Gulliver selbst und das von ihm Berichtete, ihre verwunderte Verständnislosigkeit dem ganz und gar Unbegreiflichen gegenüber wertet den Menschen, da er der reinen moralischen Vernunft völlig fremd gegenübersteht. Hier sind Satire und Utopie am innigsten verbunden: das Wesen des Pferdelandes kann in seiner eindeutigen Einfachheit erst endgültig gewürdigt werden, wenn ihm in der Fülle der europäischen Zivilisation das ihm Fehlende entgegentritt, wobei die satirische Charakteristik dieser Zivilisation selbst vertieft wird. Der das menschliche Leben beherrschende Widerspruch von Sein und Schein tritt den vernünftigen Tieren in den alltäglichsten und meist als solchen hingenommenen Dingen entgegen, die sich erst aus der Perspektive der Tiere mit der Ausdrucksbedeutung dieses Gegensatzes erfüllen. Mit genial-witziger Ironie hat Swift hier die Einheit von Gedanken und fabelhafter Einkleidung erreicht. Ganz vom Tier aus gesehen wird der bekleidete Mensch zum Sonderfall innerhalb der übrigen Naturwesen. Gulliver, der, um seine Ähnlichkeit mit den Yahoos zu verbergen, ängstlich die Tatsache seiner Bekleidung verheimlicht hat, wird schließlich doch in seiner wahren Beschaffenheit von dem Diener erkannt. Die Frage des grauen Pferdes selbst enthält in ihrer klaren Gegenüberstellung das begründete Erstaunen über die ihm fremde Zweideutigkeit in Gullivers Wesen: . . . he asked me the meaning of what his servant had reported, that I was not the same thing when I slept as I appeared to be at other times.. . 5 0 7 Erst nachdem der Bericht Gullivers dem Pferd das englisch-europäische Leben ausführlich geschildert hat, erkennt es den inneren ZusammenB0 «

Works VIII, 288. Works VIII, 244. 145

hang des Scheins mit den Erfordernissen und Gewohnheiten dieses Lebens. He had therefore begun to think it not unwise in us to cover our bodies, and by that invention conceal many of our own deformities from each other, which would else be hardly supportable 5 0 8 . Diese Worte im Zusammenhang mit der Satire gesehen werfen ein neues Licht auf Gullivers Bericht vom Luxus, da sich gerade auf die Kleider die Eitelkeit und das persönliche Wertgefühl richtet 5 0 9 . Der moralischen Verkommenheit des Menschen geht die körperliche Degeneration parallel. Der Vollkommenheit der Pferde entspricht ihre wohlgestaltete Körperbeschaffenheit. Das bedeutet, daß ihnen das Wort Krankheit fehlt und ihnen der Beruf des Arztes erst nahe gebracht werden muß. Der unbedingte Glaube des optimistischen 18. Jahrhunderts an die vernünftige Natur wird von dem Pferd geteilt: . . . that nature who works all things to perfection, should suffer any pains to breed in our bodies, he thought impossible and desired to know the reason of so unaccountable an evil 5 1 0 . Dieses Beispiel zeigt besonders gut die Doppelheit des Swiftschen Naturbegriffs, die sich in Satire und Utopie gegenübersteht. Innerhalb der staatlich-kulturellen Entgegensetzung von Satire und Utopie wiesen wir schon darauf hin, daß den vielfältig gestuften sozialen Unterschieden in Gullivers Heimat, deren Ungerechtigkeit in der traurigsten Armut verglichen mit verschwenderischem Reichtum offensichtlich vor Augen tritt, die gar nicht weiter als Problem gesehene Gleichberechtigung zum auskömmlichen Leben im Pferdereich gegenübersteht. Diese vom einfachsten Menschen als natürlich einzusehenden Verhältnisse der Pferde beruhen ebenfalls auf der von jedem Affekt ungestörten Betätigung ihrer Vernunft, die das äußerlich durch den abgeschlossenen Raum gegebene autarke Verhalten dieses Staates tiefer begründet. Symbolischer Ausdruck hierfür ist, daß in diesem Lande das Geld unbekannt ist, das in Europa dagegen der Angelpunkt des Lebens ist. Locke hatte die Erfindung des Geldes als das erkannt, was als Äquivalent für die gesteigerte aber verderbliche Güterproduktion einen Dauerwert schafft, der erst die egoistische Betätigung des einzelnen ökonomisch sinnvoll macht, und der daher als Ursprung aller staatlichen und wirt» Works V I I I , 271. Die Notwendigkeit der Kleidung als natürlichen Mangel des Menschen auszulegen, findet sich auch sonst im 17. Jahrhundert. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch eine Stelle bei Mandeville: er erkennt den Zweck der Kleidung, so weit das Schamgefühl und die Unbill der Witterung sie fordert, an, aber „to these our boundless Pride has added a third, which is Ornament, for what else but an Excess of stupid Vanity could have prevail'd upon our Reason to fancy that Ornamental which must continuedly put us in Mind of our Wants and Misery beyond all other Animals that are ready clothed by Nature h e r s e l f ? " Fable I, 127. 5 1 U Works V I I I , 264. so

509

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schaftspolitischen Entwicklung anzusprechen ist 5 1 1 , ein Gedankengang, der den Symbolgehalt der Geldlosigkeit im Pferdereich nochmals besonders unterstreicht. Da also der Trieb zur Besitzerweiterung notwendig als egoistisches Machtstreben anzusehen ist, liegt die Begründung auch für die Handelsverschlossenheit des Landes wiederum tiefer rein in der von diesen Trieben ungestörten Vernunft des Houyhnhnms. Erinnern wir uns daran, daß Swift in der satirischen Darstellung den Mechanismus des Handels ganz auf das Spiel der egoistischen Affekte, einmal auf das Nützlichkeitsstreben des Gelderwerbs und zum andern auf die Eitelkeit und Erhöhung des Selbstbewußtseins, begründete, so zeigt sich hier in der Satire und ihrem utopischen Gegengedanken Ähnlichkeit und Gegensatz zu einem zeitgenössischen Denker, die geeignet sind, Swifts Stellung zu einem gewissen Problemkreis deutlich zu machen. Ausführlicher und systematischer als Swifts Satire hatte Mandeville die gesamten staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Einrichtungen als reine Ergebnisse einer auf Selbstliebe gegründeten und ausschließlich von Affekten bestimmten Vernunftbetätigung dargestellt. Diese gemeinsame Voraussetzung der Erkenntnis führt aber bei beiden zu entgegengesetzten Anschauungen. Am besten läßt sich dies an beider Stellung zum Luxus demonstrieren, dessen Problematik ohnehin als Erbschaft des 17. Jahrhunderts zur Zeit Swifts eine Rolle spielt. Mandeville, der die Definition des Luxus sehr rigoristisch faßte und vom rigoristischen Moralbegriff aus auch verdammte 512 , kam vom Standpunkte der utilitaristischen Moral dazu, ihn als Instrument des Fortschritts anzuerkennen, besonders da nach seiner Ansicht ganz allgemein die völlig sittliche Kultur mit den ganzen modernen Lebensbedingungen auf keine Weise zu vereinen ist. Swifts praktische Erfahrungen in Irland begründen zunächst seine ganz vom praktischen Problem gesehene Ablehnung des Luxus, der sich für die ökonomischen Verhältnisse des armen Irland als geradezu katastrophal erwies. Swift empört sich in den verzweifeltsten und härtesten Worten gegen die gänzliche Verarmung des Landes, das bei absolut passiver Handelsbilanz noch Luxusartikel einführt 5 1 3 . Er geißelt wie im Gulliver in seinen Irischen Traktaten die Eitelkeit der Frauen, die alles in der Heimat Hervorgebrachte und Hergestellte verachten und verabscheuen 514 . Swifts politische Forderung für Irland, die übrigens berechtigt war und auch von Berkeley geteilt wurde, lautet: Let speculative people busy their brains as much as they please, there Of Civil Government, Works vol. II, 172. Vgl. Deckeiniann, Untersuchungen zur Bienenfabel, S. 28 f. 6 l a Works VII, 124. 5 1 4 Works VII, 198: And I am convinced tliat if the virtuosi could once find out a world in the moon with a passage to it, our women would wear nothing but what came directly from thence. 511

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is no other way to prevent this kingdom from sinking forever than by ulterly renouncing ail foreign dress and luxury 5 1 5 . Aber auch hier wohnt Swifts utopischen Gedanken eines Reiches ohne Luxus noch eine über das Politische hinausgehende Bedeutung inne. Mandevilles utilitaristische Anerkennung des Luxus war bereits von SaintEvremond geteilt worden, der darin, wie Mandeville, die vom Fortschritt der Zeit notwendig geforderte moralische Anpassung sah. Als analogen Fall in der römischen Geschichte beurteilte er daher die rigoristische Tugend Catos als eine gleichsam anachronistische Bemühung, die nur verderblich sein konnte. Sa (Catos) vertu qui eût été admirable dans les commencements de la République fut ruineuse sur ses fins pour être trop pure et trop nette 5 1 6 . Hält man dem Swifts Ideal gegenüber, das an der Überwindung des Affekts und an der Eindeutigkeit der moralischen Gegensätze von Recht und Unrecht festhält, und diese Sittlichkeit gerade in Cato als Ideal verwirklicht sali 5 1 7 , so läßt sich an der Stellung zum Luxus in Swifts Satire und Utopie jene Haltung nachweisen, die sich gegen die in der Restaurationszeit allgemeiner durchdringende Lockerung der ethischen Gebote zugunsten einer utilitaristischen Betrachtung richtet. Wenden wir uns nach der Darstellung des utopischen Reiches zur abschließenden Interpretation des Vernunft- und mit ihm eng verknüpften Sprachbegriffs der Houyhnhnms, 60 können wir sie an den zuletzt berührten Begriff der ethischen Verbindlichkeit anschließen. Die Vernunft und die Sprache der Houyhnhnms drücken in ihrer völligen Reinheit und Abgelöstheit von jeder Vorstellung des Lasters einen Zustand ewig unwandelbarer Sicherheit aus. Das in der Wahrheit begründete Wissen und Handeln hat hier die Form höchster Einfachheit und Eindeutigkeit erreicht, die wir als Swifts Hauptkriterium für das wirklich Vernunftgemäße, d. h. den common sense erkannten. Dieser Glaube an die Eindeutigkeit der Wahrheit muß sich notwendig mit der Überzeugung vom absoluten Wert und absoluten Inhalt der ethischen Gesetze verbinden. Es liegen also in der Vernunft der Houyhnhnms alle Motive des Swiftschen Denkens und seines im Praktischen wirkenden Willens vereinigt. Wenn wir schon einmal Berkeley und Swift als die beiden größten Vertreter der religiös-moralischen Haltung bezeichneten, die sich gegen den in der Restaurationszeit mächtigen Skeptizismus und den sich gleichfalls ausbreitenden ethisch-relativistischen Utilitarismus, kurz gegen alles, was für Berkeley und Swift der Begriff des Freidenkertums einschloß, wandte, so läßt sich die oben ausführlich erwiesene Verwandtschaft in beider 515 516 617

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Works VII, 140. Zitiert nach Kaye, Fable Introd. S. 95 Anm. (Oeuvres, ed. 1753, I I I ; 211.) Works VIII, 205.

Denken noch nach der dort nur als Postulat gestreiften praktisch-ethischen Seite in interessanter Weise erweitern. Gleichzeitig erweist dabei die einheitliche Haltung Swifts und Berkeleys, daß Swifts Gegnerschaft gegen Hobbes trotz aller Unterschiedlichkeit im einzelnen charakteristischerweise in zeitgeschichtlich bedeutungsvoller Verbindung mit Tendenzen steht, die von der christlich-theologisch motivierten Philosophie mit systematischer Strenge verfochten werden. Worauf es bei dieser Einordnung der Utopie des Gulliver ankommt, bezieht sich im Engeren auf den gedanklichen Ausdruckswert, der in der utopischen Sprache liegt und der mit der Entwicklungslinie der Sprachtheorie von Hobbes bis Berkeley in Verbindung gebracht werden kann. Berkeleys Stellung zur Sprache hängt eng mit seinem sensualistischempiristischen Erkenntnisbegriff zusammen. Da Berkeley in der konsequenten Durchführung der Lockeschen Gedanken die materiellen Dinge in reine Vorstellungen auflöste und in ihrer einzelnen Gegebenheit die einzige Realität sah, kam er zu der Ablehnung des Allgemeinen, wie sie sich in seinem Kampf gegen die „abstract ideas" äußert. Diese Stellung Berkeleys zum Allgemeinen, das wesentlich dem sprachlichen Begriff zugehörig ist, mußte Berkeley innerhalb seiner Philosophie zu einer Kritik der Sprache führen. Um den sensualen Wirklichkeitsgehalt des Einzeldinges zu erhalten, widerspricht Berkeley der generalisierenden Funktion des Wortes und erkennt ihm nur den repräsentativen Wert für die Einzelheit der Idee zu. Da Berkeley nicht umhin kann, die im allgemeinen Sprachgebrauch im Worte dargestellte Einzelvorstellung vergessen zu sehen, polemisiert er gegen die Sprache als Ursache allen Irrtums. „Weit entfernt, einen auch nur bedingten und relativen Wahrheitsgehalt in sich zu schließen, ist die Sprache vielmehr der Zauberspiegel, der uns die wahren Formen des Seins nur in eigentümlicher Verfälschung und Verzerrung erkennen läßt 5 1 8 ." Dies gemahnt unmittelbar an Swifts Mißtrauen gegen die Sprache, der wie Berkeley in ihrer Unbestimmtheit und Unverbindlichkeit die Wurzel ihrer gefährlichen Wirkung sieht, da besonders ihre emotionelle Seite und die in der Mitteilung beschlossene Handlungsbedingung für subjektive Zwecke genutzt werden kann 5 1 9 . Diese Ablehnung des subjektiven Anteils in der Sprache ist durch den Vergleich zu Hobbes noch näher zu begründen. Der Grundgegensatz beruht darin, daß die logische Deduktion der Erkenntnismöglichkeit bei Hobbes zu einer rein nominalistischen Auffassung der Sprache führt, d. h. daß Hobbes die Sprache „nicht als Ausdruck der 6 1 8 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 78. Vgl. Berkeley, Princ. introd. § 24: We need only draw the curtain of words, to behold the fairest tree of knowledge, whose fruit is excellent, and within the reach of our hand. 61» Vgl. Berkeley, Commonplace Book, 614: Also the words Church Whig Tory &c. contribute very much to faction and dispute.

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Dinge, sondern als Ausdruck der Begriffe n i m m t 5 2 0 " und sie so zur alleinigen Trägerin der Wahrheit macht. Damit dringt in die Sprache ein wesenbestimmendes Moment von Subjektivität ein, das sich sowohl in den theoretischen wie vor allem in den ethischen Begriffen ausdrückt, die allein durch die relativierende Abhängigkeit vom Menschen Gültigkeit gewinnen, denen aber eine außermenschliche Objektivität nicht entspricht. Das Erkenntnisstreben Berkeleys ist ganz und gar darauf gerichtet, diese Objektivität der Erkenntnis zu finden. Innerhalb seiner empiristischen Philosophie kann seine Hinwendung zur konkreten Wirklichkeit und die Leugnung einer allgemeinen begrifflichen Erfassung allein der zur Täuschung führenden Wirkung der Subjektivität entgegentreten. Wenn Berkeleys Philosophie die ontologische Beziehung der Erkenntnisgegenstände zum Subjekt nicht nur nicht aufgehoben, sondern restlos in eine solche umgewandelt hat, so liegt in dieser absoluten Abhängigkeit gerade die wiederhergestellte Sicherheit objektiver Erkenntnis, da die Wahrheit der Ideen in der ursächlichen Schöpferkraft Gottes liegt 5 2 1 . Der mögliche reine Gehalt der Erkenntnis würde durch den subjektiven, fast immer affektiv bestimmten Einfluß der Sprache nur verfälscht werden. Die Folgen der Berkeley sehen Auffassung für die Ethik sind klar. Die Auffassung der Natur als ein System organisierter Zwecke bedingt die Notwendigkeit der „laws of nature", die auch die moralischen Gesetze in sich begreifen. So endet Berkeleys Natur- und Moralerkenntnis in der Hinwendung zur reinen Objektivität der in Gott gegebenen höchsten Realität. These propositions are called laws of nature because they are universal, and do not derive their obligation from any civil sanction but immediately from the Author of nature himself 5 2 2 . They are ever to be esteemed the fixed unalterable standards of moral good and evil 5 2 3 . Die mögliche Objektivität der Erkenntnis ist also nur ein anderer Ausdruck für die geforderte absolute Verbindlichkeit des Handelns. In der Begründung der ethischen Wahrheit steht Berkeley Hobbes' subjektivindividualistischem Nominalismus diametral gegenüber. Bei beiden läßt sich die Intention ihres Denkens an der Stellung zur Sprache unmittelbar erfassen. Cassirer, a. a. 0 . S. 76. Wenn Cassirer in dem obigen Zitat die „Dinge" gegen die „Begriffe" stellt, so dürfen wir diesen Gegensatz für Hobbes und Berkeley insofern in Anspruch nehmen, als die Dinge durch die restlose Auflösung in Ideen eben wieder zu „Dingen" werden. 5 2 2 Berkeley, Passive Obedience, Works IV, 108. 6 2 3 Berkeley, Passive Obedience, Works IV, 109. 520

621

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Ziehen wir n u n Swifts S p r a c h a u f f a s s u n g h e r a n , so zeigt sich in allen P u n k t e n eine wesentliche Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t Berkeley. Es f e h l t seinen A n s c h a u u n g e n n a t u r g e m ä ß die subtile p h i l o s o p h i s c h e S p e k u l a t i o n Berkeleys, die die Dinge in „ideas" u n d die N a t u r in geistige Symbole auflöst, a b e r es findet sich dieselbe, von u n s w i e d e r h o l t b e t o n t e A b l e h n u n g des Allgemeinen u n d die H i n w e n d u n g z u r k o n k r e t e n p a r t i k u l a r e n Wirklichkeit, deren Konsequenzen f ü r die B e s t i m m t h e i t des Moralischen wir ebenfalls b e t o n t h a b e n . Die gleiche T e n d e n z zur o b j e k t i v b e g r ü n d e t e n Reinheit des Urteils, u m in der w a h r e n N a t u r der Dinge das V e r n ü n f t i g e zu fassen, b e s t i m m t Swifts konservative, ja geradezu entwicklungsfeindliche Stellung zur S p r a c h e 5 2 4 . Ganz sinnfällig k l a r w i r d Swifts a m O b j e k t i v e n h ä n g e n d e r Wahrheitsbegriff i m s p r a c h l i c h e n A u s d r u c k der v o l l k o m m e n e n H o u y h n h n m s f ü r den Begriff der Lüge. I n der u r s p r ü n g l i c h wesentlichen S u b j e k t i v i t ä t bei H o b b e s ist sie der i m I n d i v i d u u m b e g r ü n d e t e , willkürliche M i ß b r a u c h der W o r t e , bei den H o u y h n h n m s die Negation des Objektiven, das Nicht-Seiende, das f ü r die w a h r e V e r n u n f t n u r als solche Negation des W i r k l i c h e n e r f a ß b a r ist: „ t h e t h i n g w h i c h is n o t " 5 2 5 . Das F e h l e n des Bösen in der S p r a c h e u n d in d e r V e r n u n f t der T i e r e ist f ü r die I n t e r p r e t a t i o n der Swiftschen U t o p i e n o c h von w e i t e r e m Interesse. Die vom o b j e k t i v e n Dasein des G u t e n völlig e r f ü l l t e V e r n u n f t der P f e r d e ist die v e r k ö r p e r t e I d e e der V o l l k o m m e n h e i t u n d der Weisheit, wie sie vom ethischen Rationalismus vertreten wird. Die V e r n i c h t u n g aller i r r a t i o n a l e n Affekte, u n d das b e d e u t e t die Ü b e r w i n d u n g des Bösen, ist das höchste Vorbild, d e m die w a h r e H u m a n i t ä t n a c h s t r e b t u n d d u r c h das sie den Zustand echter E u d ä m o n i e e r r e i c h e n k a n n . W a s dabei als „ G e f ü h l " e r h a l t e n b l e i b t , b r i c h t , da es u n g e t r ü b t e r S y m p a t h i e a u s d r u c k ist, nicht störend in die Region des R a t i o n a l e n ein, sondern k o m m t vielm e h r u n m i t t e l b a r aus d e m Wesen der V e r n u n f t selbst u n d vollendet die Einsicht in i h r e W a h r h e i t . Das Reich der Weisheit, in d e m die absolut guten T i e r e leben, ist der symbolische A u s d r u c k f ü r den rationalistischen G l a u b e n , d a ß die Existenz des Bösen n u r in der Negation besteht. 524 Y g | Proposal for Correcting, Improving and Ascertaining ( ! ) the English Tongue. Es ergibt sich aus diesem Zusammenhang die ethische Wurzel des Swiftschen Stilideals. 625 Eine Eintragung Berkeleys in sein Tagebuch zeigt in höchst interessanter Weise, daß auch er mit dem Gedanken an einen Idealzustand ganz ungetrübt objektiver und eindeutiger Erkenntnis gespielt hat, ein Gedanke, der sich an der Frage der „habitual connexion" entzündet: Were there but one and the same language in the world, and did children speak it t naturally as soon as born, and were it not in the power of men to conceal their thoughts or deceive others, but that there were an in-separable connexion between words and thoughts, so yt posito uno ponitur alterum by the laws of nature; Qu. would not men think they heard thoughts as much as they see extension. Commonplace Book 229. — Wir verweisen hier außerdem auf Butlers antinominalistische Haltung zurück.

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. . . These noble Houyhnhnms . . . have no conceptions or ideas of what is evil in a rational creature . . . 5 2 6 Es ist die Idee der völlig freien, von keinem Affekt je erfaßten, absoluten Vernunft, wie Spinoza sie auffaßt. „Wenn die Menschen als frei geboren würden, so würden sie, solange sie frei blieben, keine Begriffe von Gut und Schlecht bilden 5 2 7 ." Auch von hier gesehen heißt die Lüge des Houynhnhnms „the thing which is not", und von hier gesehen begründet sich nochmals die Ablösung von aller Subjektivität, die 6ich äußerlich im Reich der individualitätslosen Tiere darstellt. „Sofern die Menschen nach der Leitung der Vernunft leben, insofern allein stimmen sie von Natur immer notwendig überein 5 2 8 ." Mit dem Vernunftbegriff der Pferde ist der Naturbegriff zu letzter Einheit verschmolzen. Die Houyhnhnms zeigen unmittelbar, daß Natur und Vernunft unter einem Gesetz stehen, daß, wie Berkeley es formuliert hat, die Natur im höchsten Sinne vernünftig ist und daß darum besonders dem Menschen das Vernünftige natürlich werden müsse 5 2 9 . Die völlig naturhafte und unreflektierte Sittlichkeit stellt die Tiere in der engsten Bindung an die Gesetze dar, die eben in der Harmonie der Natur unmittelbar offenbar werden 5 3 0 . Mit dieser letzten Identität von Natur und Vernunft und im Bekenntnis zu ihrer reinen Objektivität sind wir an dem äußersten Punkt des Gegensatzes angelangt, in dem Swifts Utopie zu seiner Satire, d. h. in dem sein eigenes Postulat zur Philosophie Hobbes' steht. Gleichzeitig vermögen wir von hier nochmals dem Symbolgehalt des Tierreiches näherzukommen. Dem in seiner Natur verharrenden Tier hatte Hobbes im Menschen die dualistische Entzweiung von Affekt und Vernunft entgegengesetzt. Da den Menschen sogar der künftige Hunger treibt, ist er raubsüchtiger und grausamer als das Tier es sein kann 5 3 1 . Die Satire der Folgezeit, wie etwa Rochesters im Anschluß an Boileau entstandene „Satyr on Mankind" hatte in der Ablehnung des Menschen auf das stets sicher in sich ruhende und von der Unrast der durch Verstandeskräfte gehetzten Leidenschaften freie Tier gewiesen. Wenn Swift also sein Reich höchster Weisheit ein Tierreich sein läßt, prägt sich darin anschaulich das gegensätzlich ersehnte Gleichgewicht von Instinkt und Einsicht aus. Works VIII, 278. Spinoza, Ethik, Teil IV. Lehrsatz 68. 5 2 8 Spinoza, Ethik, Teil IV, Lehrsatz 35. 6 2 9 Alciphron, 2. Dialog § 14: Reason therefore being the principal part of our nature whatever is most reasonable should seem most natural to man. 6 3 0 Vgl. Berkeley, Passive obedience Works IV, 109: Homo ortus est (says Balbo in Cicero) ad mundum contemplandum et imitandum. And surely, it is not possible for free intellectual agents to propose a nobler pattern for their imitations than Nature; which is nothing else but a series of free actions produced by the best and wisest Agent. 5 3 1 Vgl. oben S. 66. 526

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Der Zustand höchster Weisheit in den Tieren, in dem die Vernunftbetätigung ein Akt natürlicher Freiheit ist und die Sicherheit und Eindeutigkeit aus der moralischen Determiniertheit dieser völlig freien Vernunft kommt, trägt tatsächlich etwas der Instinktsicherheit des Tieres Vergleichbares in sich, nur daß hier Instinkt und Bewußtheit eins werden. Die Vernunft der Pferde ist der höchste Ausdruck einer ethisch zentrierten Weltansicht. Das ist ihre Kraft und wenn man will ihre Grenze, die Kaßner in der 6ehr tiefen Metapher der Spiegellosigkeit ausgesprochen hat 5 3 2 . Vom Wesen der menschlichen Vernunft betrachtet fehlt den Tieren die Einbildungskraft. Den Gedanken der empiristischen Weltauffassung entsprechend vermögen sie ihren Erkenntnisbereich nur assoziativ und nicht aus sich selbst durchdringender Bewußtheit zu erweitern 5 3 3 . Dieser Mangel an Imagination ist mit der Form des ethischen Ideals eng verknüpft. Das Fehlen wirklich schöpferischer Kunst, das Kaßner besonders darin begründet, daß die Houyhnhnms keine Schiffe kennen 5 3 4 , ist gerade in diesem Zug moralisch begründet in dem tieferen Sinn der Autarkie des Landes. Auch der moralische Gehalt hat in dieser Vernunftidee vom Menschen betrachtet die gleiche Grenze, da eben die bewußte Bildung an einem ethischen Gesetz fehlt und das Freiheitsproblem, sofern es eine solche bewußte Auseinandersetzung voraussetzt, hier nicht mehr besteht. Das bedeutet, daß hier die Grenze sichtbar wird, die Hobbes in seiner Erkenntnis der schöpferischen Subjektivität bereits überschritten hatte. Es darf hierbei jedoch nicht vergessen werden, daß in Swifts ironischer Haltung diese höhere Bewußtheit schöpferisch wirksam wurde. Sehen wir jetzt auf Thomas Mores Utopia zurück, so finden wir dort die gleiche Kraft der sittlichen Überzeugung nur ohne den Verzicht auf die reichere und heiterere Fülle der Humanitätsidee. Swift, der vielleicht der Moreschen Ironie am verwandtesten ist und selbst in More das einzige große ethische Persönlichkeitsideal der Moderne sieht, verficht mit ihm die Idee der vernünftigen Humanität, in der Natur und Tugend eins werden, und glaubt wie er, daß „reason will in time always prevail against brutal strength" 5 3 5 . Swift kämpft wie More für den Frieden, für das wahre Recht und die dem Geistigen angemessene Einfachheit. „We might think of him as the mind of Sir Thomas More without More's patience or More's faith, wandering through desert places, seeking rest and finding none" 5 3 6 . Vgl. oben S. 139. Anm. 484. 633 Vgl. Works VIII, 289. His honour to my great admiration appeared to understand the nature of yahoos in all countries much better than myself. He went through all our vices and follies, and discovered many which I had never mentioned to him, by only supposing what qualities a yahoo of their country, with a small proportion of reason, might be capable of exerting. 6 3 4 a. a. 0 . S. 89. 5 3 5 Works VIII, 287. 6 3 8 Chambers, Sir Thomas More, S. 365. 532

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6. R E L I G I O N

UND

ETHIK.

Um die eigentliche Tiefe des Gulliver zu erkennen, aus der die Satire und die Ironie ihre Sicherheit schöpft, ist es unbedingt erforderlich, in einer kurzen Zwischenbemerkung auf Swifts Verhältnis zur Religion einzugehen. Wir können dabei auf Ausführlichkeit verzichten, indem wir auf die Arbeit von Reimers verweisen. Es seien zunächst die Anhaltspunkte, die Gulliver selbst für diese Frage bietet, betrachtet. Es gibt im Gulliver kaum gegen religiöse Überzeugungen gerichtete Satire, noch enthält die Utopie unmittelbar christliche Gedanken. Das letztere verbietet sich, soweit es das vierte Buch angeht, schon durch die äußere Form des außermenschlichen Idealstaats. Aber auch in den übrigen idealen Vorschriften findet sich nur die lilliputanische Forderung, daß die Beamten sich zum Glauben an die „divine providence" bekennen müssen. Soweit die Religion mit kirchen- und staatspolitischen Fragen verbunden ist, taucht sie auch kurz in der Satire auf, die auf die eigennützigen Absichten der kirchlichen Würdenträger und die in der menschlichen Natur begründete Zersplitterung in Sekten zielt. Satire, die die religiösen Fundamente selbst angreift, soweit sie im Dogma und Symbol liegen, findet sich nur an wenigen Stellen. Wie beim politischen Symbol wird in Lilliput eine teils komische, teils scharf satirische Entwertung auch des religiösen Symbols und der kultischen Handlungen vorgenommen dadurch, daß der jede Transzendenz ablehnende common sense die naturalistischen Bestandteile isoliert oder sie in allegorischer Umwandlung bagatellisiert, wie es das satirische Prinzip der Tale war. So stellt Swift den Streit um das Abendmahl im lilliputanischen Ritus des Ei-Aufschlagen» dar und übersetzt die gesamten politischen und kirchengeschichtlichen Ereignisse seit Heinrich VIII. in solche, die mit dem Eieressen in Verbindung gebracht werden können, wobei sogar bibelparodierende Worte eingefügt werden. Die ursprüngliche Forderung lautet: That all true believers shall break their eggs at the convenient end 5 3 7 . Es bricht aber im Nachsatz sofort der Ernst der Swiftschen Überzeugung B3T

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Works VIII, 50.

durch, indem er seine Grundansicht von der persönlichen Glaubensfreiheit und ihrer Mitteilungsgrenze um der staatskirchlichen Einheit und Sicherheit willen ausspricht. In der zweiten komischen Darstellung, die den Unsterblichkeitsglauben zum Inhalt hat, wendet sich die Satire gegen die anthropomorphen Vorstellungen, die damit verknüpft werden. Die Darstellung dieses Glaubens, von dem die „learned among them" ausdrücklich geschieden werden, ist von hinreißender Komik durch die außerordentliche Scharfsinnigkeit, mit der diese kleinen Wesen die Erkenntnisse der Wissenschaft dem Glauben nutzbar gemacht haben. They bury their dead with their heads directly downwards, because they hold an opinion, that in eleven thousand moons they are all to rise again, in which period the earth (which they conceive to be flat) will turn upside down, and by this means they shall, at their resurrection, be found ready standing on their feet. The learned among them confess the absurdity of this doctrine, but the practice still continues, in compliance to the vulgar 5 3 8 . Völlig symbolzerstörend ist die verletzend-ironische Darstellung Gullivers bei den weisen Pferden, in der vor der reinen Vernunftbetrachtung nur die jeder subjektiven Wertbestimmung entkleidete reine Dinglichkeit übrig bleibt. Swift schildert den Streit zwischen Katholiken und Protestanten um Sakramente und Dogmen: . . . whether flesh be bread, or bread be flesh; whether the juice of a certain berry be blood or wine; whether whistling be a vice or a virtue; whether it be better to kiss a post, or throw it into the fire; what is the best colour for a coat, whether black, white, red, or gray; and whether it should be long or short, narrow or wide, dirty or clean . . , 5 3 9 Swifts Satire geht von keinem blasphemischen Gedanken aus, ihre Spitze ist nicht gegen die Religon, sondern gegen ihre Vertreter und Anhänger gerichtet. Es kommt hinzu, daß Swift hier wie in allen anderen Gebieten einer durchaus vernunftgemäßen Betrachtung huldigt und auch die Religion den kritischen Fähigkeiten seiner „own impartial reason" unterwirft, deren Urteil dann die mystischen Elemente verneint. Der Schlüssel zur Interpretation, den Swifts übrige Schriften liefern, liegt ferner im praktisch-reformerischen Willen des Swiftschen common sense, der sich gegen die begriffliche Haarspalterei der Theologen und jene unselige Neigung wendet, spekulative Betrachtungen über das Nichtigste und Unwichtigste anzustellen, Bemühungen, die die Menschen nur in fanatische Kämpfe treiben, die sich aber für die tatsächliche Förderung einer christlichen Lebensweise als unfruchtbar erweisen. Von der Idee eines echten Christentums her, wie Swift es auffaßt, liegt aller religiöse Wert in der Motivierung des Sittlichen. Der positiven Er»»» Works VIII, 59. 5 3 8 Works VIII, 254.

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reichung eines christlich-sittlichen Lebensziels steht im weiteren die Bescheidung vor den Schranken der menschlichen Vernunft, die statt der Spekulation den Glauben verlangt, gegenüber. Wenn man jedoch bedenkt, welche Rolle das Ethische in der Überzeugung Swifts spielt, wird der Wert deutlich, den Swift der Religion beimißt. Und wenn er in seinen exoterischen Schriften über Religion und Kirche mit unbestechlichem Wirklichkeitssinn von der Nützlichkeit bestimmte Mittel zur Durchführung seiner ethisch-religiösen Gedanken einbezogen hat, so beweist das im Grunde nur, wie tief Swifts Glaube an sein Ziel und dessen göttliche Bestimmung war. Im Postulat der religionsgebundenen Sittlichkeit vollzieht Swift die endgültige Trennung von der anthropologischen Gegebenheit im Sinne Hobbes" und setzt den Menschen in den absolut verpflichtenden Bezug zur Ewigkeit. Wir haben gesehen, wie stark Satire und Utopie Ausdruck des Swiftschen Moralismus sind. Wenn auch die christlichen Gedanken in die Utopie nicht eindringen konnten, so ist doch der ganz im Ethischen fundierte Natur- und Vernunftbegriff der Pferde eine Erfüllung göttlicher Gebote und insofern auch als Ausdruck Swiftscher Religiosität anzusehen. So schwer es ist in die persönliche Gedankenwelt Swifts einzudringen, die er gerade, soweit sie sein Verhältnis zur Religion betrifft, ängstlich zu verbergen bemüht war, so kann man doch den überzeugenden Ausführungen Reimers' über eine echte und tiefe Beziehung Swifts zu Gott die innere Beweiskraft, die auch der Gulliver enthält, zur Seite stellen 5 4 0 . Das Nichtigkeitsgefühl des Menschen, wie es die Relativierung alles menschlichen Seins und aller menschlichen Werte anschaulich offenbart, war Swifts eigenstes Erlebnis, das die religiöse Spannung von Mensch und Gott bestimmt. Er hat es einmal ausgesprochen: Miserable Mortals! Can we contribute to the honour and glory of Gods«? Es gibt keinen besseren durch Swift selbst zu belegenden Beweis, daß seiner Satire die Bezogenheit der Endlichkeit auf die Unendlichkeit zugrunde liegt, daß dies der innerlich notwendige, absolute Punkt ist, von dem aus relativiert werden kann.

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Reimers, S. 90: der Weg zu dieser Satire führt über Religion, nicht gegen sie! Works III, 309.

7. D I E

IRONIE.

Das reine u n m i t t e l b a r vernünftige Leben der weisen P f e r d e verk ö r p e r t die Swiftsche Humanitätsidee, wie sie in i h r e r allgemeinsten Bedeutung m i t seinem persönlichsten Sein verwachsen ist. Die echte harmonische Heiterkeit u n g e t r ü b t e r V e r n u n f t war die Sehnsucht seines eigenen gehetzten Herzens, die i h m stets von d e m qualvollen Bewußtsein der Unerreichbarkeit verdunkelt blieb. Swift k o n n t e die ideale Vollendung n u r in der Gebrochenheit der I r o n i e erfassen, in der die subjektive Überlegenheit, zum unbedingten Wert e r h o b e n , i h r e d a r i n gesetzte objektive Geltung dem Anspruch des übrigen maßlosen u n d leidenschaftverwirrten Lebens entgegenstellt, u m es dabei aus der gewonnenen freien Sicherheit h e r a u s in Schein aufzulösen. D e r Ironie gehört jedoch nicht allein der vollzogene B r u c h zwischen dem eigenen Sein u n d der Welt alltäglicher Gültigkeit an, sondern es h a t sich i m satirischen I r o n i k e r von der T i e f e u n d Größe Swifts eine Scheidung i n n e r h a l b des eigenen Bewußtseins vollzogen zwischen den beiden Seiten des Menschlichen, den Mächten der V e r n u n f t u n d der Leidenschaft, die es als die K o m p o n e n t e n des eigenen Selbst u n d als Ursprung seines ewigen Zwiespalts erkennt. Aus der d a r i n begründeten T e i l h a b e des eigenen Geistes am satirischen Objekt u n d aus der gleichzeitigen schöpferischen Überlegenheit dieses Geistes n ä h r t sich die Tiefe der Swiftschen Satire. Das G e f ü h l der Geb u n d e n h e i t , das die Teilhabe h e r v o r u f t , l ä ß t i h r e zorndurchbebtesten Anklagen u n d haßvollsten Darstellungen e n t s t e h e n ; die geistige Überlegenheit, in der die Überzeugung von der echten aus der Subjektivität erzeugten Realität wirksam wird, stellt sich dieser E m p ö r u n g gegenüber u n d objektiviert sie in der ironischen H a l t u n g der Satire. D u r c h a u s entgegengesetzt zur natürlichen U n m i t t e l b a r k e i t der utopischen Welt bedeutet also Swifts Ironie eine F o r m höchster Bewußtheit, die den als tragisch e m p f u n d e n e n Zwiespalt der beiden Seiten voraussetzt u n d ihn d u r c h die in der W e r t u n g des eigenen Bewußtseins b e g r ü n d e t e W a h r h e i t u n d durch die sich darin offenbarende F r e i h e i t der geistigen K r a f t u n d Menschlichkeit zu ü b e r w i n d e n sucht. Es l ä ß t sich so in der Ironie Swifts das Allgemeinste wie das Persönlichste zugleich erfassen. 157

Um uns der besonderen Bedeutung der so greifbar scheinenden aber sich der Analyse nicht leicht ergebenden Ironie nach Antrieb und Formergebnis zu nähern, greifen wir auf die Kulturidee der Zeit zurück und grenzen Swifts Verhältnis zu ihr ab. Wir haben gesehen, wie das gesellschaftliche Ideal der Restaurationszeit in der unerschütterlichen, geistigen Überlegenheit ruht, deren antienthusiastische Kühle der Spontaneität des Gefühls mit kritisch-analysierender Distanz gegenübersteht, deren Sicherheit das gebundene Gefühl mit überlegener Komik umgibt und alle verbindlichen Werte des Lebens in freiem und witzigem Spiel auflöst. Die Unfreiheit der Gefühlsgebundenheit ist das schlechthin Lächerliche, und die Angst vor dem Lächerlichen das Korrektiv der Gesellschaft, das ihre weitere Vervollkommnung zur vernünftigen Kultur herbeiführt. Damit gehen die Begriffe „wit", „good sense" und ,, good humour" die untrennbare Verbindung der ästhetischen und ethischen Bedeutung ein, die sie bei Shaftesbury erreicht haben, der dieser Kulturidee die philosophische Begründung gibt. „The test of ridicule" ist eine Wertprobe, die schlechthin auf die Vernunft als einzigen wahren Wert weist, da nur sie von der vernichtenden Wirkung des Lächerlichen unangreifbar ist. For what ridicule can lie against reason 5 4 2 ? Diese Probe zu üben aber fordert jene innere geistige Freiheit und äußeren „freedom of wit and humour", die für Shaftesbury zur Idee der Humanität gehören. Swift ist einer der größten Vertreter dieser geistvoll-witzigen Kultur und betrachtet wie sie „raillery as the finest part of conversation" 5 4 3 . Das lebendigste Zeugnis hierfür sind die Bücherschlacht und die Tale, in der Swift zum ersten Mal die ironische Verurteilung der Gesellschaft, besonders der literarischen Figuren in ihr, mit allen Waffen des Witzes vollzieht. Noch nach dem Gulliver gelingt Swift in der „Polite Conversation" ein Meisterwerk gesellschaftlicher Parodie. Swift hat dem Shaftesburyschen Gedanken bewußt voll und ganz beigepflichtet. Als ihm Shaftesbury „Letter of Enthusiasm" zugeschrieben wird, was an sich schon aufschlußreich ist, weist er die Autorschaft zurück, beurteilt ihn aber gleichzeitig als „very well writ 5 4 4 ". In der Apologie der Tale 1709 spricht er in bezug auf den religiösen Enthusiasmus deutlich Shaftesburysche Gedanken aus 5 4 5 . Über diese sehr wesentliche Übereinstimmung hinaus gestaltet sich aber das Problem des Verhältnisses von Vernunft und Gefühl bei Swift sehr viel komplizierter, und erst die genauere Untersuchung hierüber kann Shaftesbury, Works I, 10. Works X I , 71. 5 4 4 Corr. I, 111. 545 Why should any clergyman of our church be angry to see the follies of fanaticism and superstition exposed though in the most ridiculous manner, since that is perhaps the most probable way to cure them. Works I, 13. 542

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zum Verständnis der eigentümlichen Genialität Swifts und der ihr angehörigen Tragik führen. Die Gesellschaftskritik des Gulliver wie auch die übrigen Schriften Swifts zeigen, daß Swift in seiner Einschätzung des Menschen der Skepsis der Gesellschaft sehr nahe steht. Aber der tödlichen Erbarmungslosigkeit, mit der Swift die Selbstliebe verfolgt und durchschaut hat, steht der in dieser Analyse fehlende inkommensurable Faktor menschlicher Beziehungen in Swift selbst gegenüber. Swift besaß die echte und tiefe Selbstlosigkeit des Gefühls, wie es sich in Freundesbriefen selten und sogleich wieder in den Schutz des Stolzes zurückgenommen, am freiesten dagegen im Journal für Stella zeigt. Daß er dies in das Geheimnis seiner eigenen Einsamkeit verschloß, läßt den absoluten Dualismus zwischen sich und den Menschen für Swift unauflöslich werden. Swift fand den Ausgleich nicht zwischen dem vernichtenden Ergebnis seiner Erfahrung und seines scharfen psychologischen Blicks und der auf reiner Gefühlserfahrung und Zuneigung beruhenden Verbindung zu den einzelnen Menschen, denen er nahestand, wobei sogar die eigene Zuneigung die Einsicht besiegen konnte. Sein viel zitierter Ausspruch „Oh! If the world had but a dozen Arbuthnots in it, I would burn my Travels" 5 4 6 zeigt, wie sehr seine überaus empfindliche Sensibilität ihn unter diesem Zwiespalt leiden ließ. Die menschliche Tragik dieses Widerspruchs macht das Zitat der La Rochefoucauldschen Maxime über die Freundschaft zu einem erschütternden Bekenntnis der ganz in ihrer Einsamkeit befangenen und verborgenen Gefühlsintensität, deren fast das Selbstquälerische streifende Äußerungsform zuweilen den Schein des Zynischen annimmt. Die Intensität und Empfindlichkeit des eigenen Gefühls bildet den schwer erschließbaren Hintergrund für den Affekt, der uns im Zusammenhang mit der Satire und der Ironie besonders angeht. Es gilt für alle große Satire und für die Swifts im verschärften Maße, daß sie aus dem Impuls aufs Höchste gesteigerter Leidenschaft entsteht. Das im Widerspruch zur Welt stehende persönliche Wertempfinden empört sich aus der Selbstgewißheit seines eigenen Rechtes gegen die ihm aufgedrungenen Geltungsbegriffe einer entarteten Wirklichkeit, über die es vom höchsten Zorn erfüllt das Vernichtungsurteil ausspricht 5 4 7 . Swift war bis in die Tiefen seiner Seele von diesem Zorn ergriffen. Hält man sich die schließlich zerstörende Heftigkeit des Affekts gegenwärtig, so zeigt der Gulliver die ganze Größe Swifts, die darin liegt, daß er den eigenen Affekt zu realisieren und geistig zu durchdringen vermochte. Mit ungeheurer geistiger Kraft stellt sich in Corr. I I I , 278. Etwas davon hat Bolingbroke gefühlt. Er schreibt an Swift: The truest reflection and at the same time, the bitterest satire which can be made on the present age, is this, that to think as you think, will make a man pass for romantic. Sincerity, constancy, tenderness are rarely to be found. They are so much out of use that the man of mode imagines them to be out of nature. Correspondence III, 25. &4B

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der Ironie die Überlegenheit der Vernunft wieder her, vor deren freier Betrachtung allen Widersprüchen der affektgebundenen Seiten des menschlichen Lebens, um mit Jean Paul zu reden, nur der Ernst des Scheines zugesprochen wird. Die Bedeutung dieses Prozesses ergibt sich, wenn man ihn mit dem Verhältnis der Vernunft zur Leidenschaft in den Ansichten der Gesellschaft und ihrer feinsten Sublimierung in der Komödie vergleicht. In der Komödie wird, wie wir sahen, die elementare Tatsache des praktisch unbesiegbaren Dualismus von Natur und Vernunft hingenommen und vom sich darüber erhebenden Bewußtsein in die vielfältigen Reflexe daraus sich ergebender Spannungen zerlegt, die frei aus der gefühlsleeren Sphäre der geistigen Betrachtung genossen, witzigen oder komischen Gehalt bekommen. Das Moralische hebt sich abgesehen von gewissen im Sinne Swifts humanisierten Ansätzen auf. Da bei Swift hingegen die Freiheit der Betrachtung selbst schon die Entwicklung eines aus moralischer Motivation entstandenen Affekts zur Bewußtheit voraussetzt und sich daher die Überlegenheit auf ganz feste als gültig erkannte sittliche Werte gründet, so ändert sich von vornherein das Verhältnis zur Affektbeherrschtheit des Lebens und wird satirisch. Aus dieser neuen Art sich selbst bewußter Überlegenheit bei Swift begründet sich notwendig der Schritt vom Witz und der Komik der Komödie zur Ironie der Satire. Es handelt sich dabei nicht mehr um die einfache Behauptung der vernünftigen Überlegenheit und der nur in ihr ruhenden Sicherheit der sonst schrankenlosen Individualität, sondern um die Gewinnung einer höheren Gesetzlichkeit aus dem Postulat der Vernunft, die in der im tiefsten Sinn spielenden Auflösung des Bestehenden die Grundlagen für die wirkliche Verbindlichkeit zurückerobert. Die Ironie verwandelt die gesamte Welt in die Objektivität scheinbaren Ernstes, dessen immanente Wertung in der ihm zugrunde liegenden ihrer selbst gewissen Subjektivität des moralischen Ernstes ruht. So sammelt sich in der Ironie Swifts letztlich der höchste Ausdruck der am Gegensatz zur Restauration entstandenen Humanitätsidee der moralischen Aufklärung, wie die am Vorbild der Restauration weiter entwickelte Idee einer sich selbst bewußten geistigen Freiheit. Die in dem erworbenen Wertbewußtsein unerschütterliche Freiheit der Betrachtung Swifts verbindet sich in der Ironie des Gulliver mit der Überlegenheit, in der Relativität der menschlichen Welt die ganz allgemein endliche Gebundenheit des menschlichen Seins zu erkennen. Von der höchsten Höhe des individuellen Geistes gesehen, der in sich selbst die unendliche Perspektive des Absoluten zu realisieren vermag, ist diese Befangenheit und Begrenzung die äußerste Möglichkeit des reinen Lächerlichen. In den undurchdringlichen Ernst ihrer Unfähigkeit des Sich-selbstsehen-könnens gebannt, steht die menschliche Welt in der äußersten Gegensätzlichkeit zur echten Selbsterkenntnis der Vernunft, deren freie Überlegenheit diese Spannung zunächst nur in den anschaulich-komischen 160

Widerspruch des völligen Insicheingeschlossenseins u n d des überlegenen Wissens aufzulösen beginnt. Wieder läßt sich zeigen, d a ß Swifts Ironie tiefer und allgemeiner die Widersprüche des ganzen Lebens erfaßt u n d der „test of ridicule" bei Swift weit über die Forderungen eines gesellschaftlichen Ideals hinausgeht. Die Lächerlichkeit erschöpft sich nicht mehr in der vom Rationalen gesehenen Gefühlsgebundenheit, sondern die menschliche Vernunft selbst wird in ihrer Bedingtheit und leidenschaftverwurzelten Begrenztheit f ü r die echte ratio zur lächerlich-anmaßlichen Befangenheit. Hier erhält die der Ironie eigene Doppelheit des objektiven Scheins und echten bewußten Seins ihre eigentliche satirische Schärfe, denn hier eben wächst die Überlegenheit des Ironikers aus der ganzen, ins Geistige gehobenen K r a f t des moralischen Affektes, der aus dem Wissen um die eigene Grenze das autonome Freiheitsbewußtsein mit der Gefühlsbeteiligung des Selbstbetroffenen verbindet. Hier liegt gleichzeitig die eigentliche Spannungsweite zwischen Utopie und Satire .begründet. Mit dem höchsten Impuls satirischer K r a f t und der stärksten Bewußtheit des Gedankens stellt Swift die letzte absolute Perspektive und die im Primitivsten haftende Befangenheit einander in der Objektivität des Scheins gegenüber und erreicht in diesem Spiegel der Ironie die sich immanent vollziehende endgültige Wertentscheidung. In unaufhebbarer Relation bekommt hier die Satire ihre letzte Härte aus dem unendlichen Widerspruch der Wirklichkeit zur Idee. Swifts Gulliver, sagt Jean Paul, steht hoch auf dem Tarpejischen Felsen, von welchem dieser Geist das Menschengeschlecht hinunterwirft.

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LITERATURVERZEICHNIS. Jonathan Jonathan Jonathan Jonathan Jonathan

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