Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft: Genese, Geltungsgrundlagen und Perspektiven an der Schwelle des dritten Jahrtausends. Vorwort von Dieter Wyduckel [1 ed.] 9783428506347, 9783428106349

Unter den politischen und rechtlichen Ordnungsvorstellungen, die für die menschliche Gemeinschaftsbildung grundlegend si

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Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft: Genese, Geltungsgrundlagen und Perspektiven an der Schwelle des dritten Jahrtausends. Vorwort von Dieter Wyduckel [1 ed.]
 9783428506347, 9783428106349

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Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft

RECHTSTHEORIE Zeitschrift für Juristische Methodenlehre, Rechtsinformatik, Kommunikationsforschung, Normen- und Handlungstheorie, Soziologie und Philosophie des Hechts

Beiheft 20

Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft Genese, Geltungsgrundlagen und Perspektiven an der Schwelle des dritten Jahrtausends

Herausgegeben von

Peter Blickle/Thomas O. Hiiglin/Dieter Wyduckel Vorwort von

Dieter Wyduckel

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit namhafter finanzieller Förderung der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, kirchliche Stiftung bR.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft : Genese, Geltungsgrundlagen und Perspektiven an der Schwelle des dritten Jahrtausends / Hrsg.: Peter Blickle . . . - Berlin : Duncker und Humblot 2002 (Rechtstheorie : Beiheft ; 20) ISBN 3-428-10634-2

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6933 ISBN 3-428-10634-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. V - V i l i Duncker & Humblot, 12165 Berlin

VORWORT Unter den rechtlichen und politischen Ordnungsvorstellungen, die für die menschliche Gemeinschaftsbildung grundlegend sind, gehört die Idee der Subsidiarität zu den bedeutsamsten. Sie ist auf eine Struktur unterschiedlicher Handlungsebenen angelegt, i n der der kleineren Einheit, soweit ihre Leistungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz dies zulässt, im HandlungsVollzug grundsätzlich der Vorrang gegenüber der jeweils größeren zukommt. Obwohl mit der SubsidiaritätsVorstellung vieles verbunden werden kann und ihr eine gewisse Unschärfe eignet, ist sie mehr als ein Wort oder Begriff, erschöpft sich vor allem nicht in formalen Zuständigkeitszuweisungen, sondern besitzt aufgrund ihrer rechts- und sozialphilosophischen Dimension prinzipiellen Charakter und ist damit der Auslegung und Abwägung in besonderer Weise zugänglich. Das Prinzip der Subsidiarität ist deshalb stets im Zusammenhang mit anderen, vor allem benachbarten Prinzipien zu sehen, mit denen es sich überschneidet, wie etwa dem Solidar- oder dem föderalen Prinzip, aber auch mit solchen Vorstellungen, die ihm eher entgegengesetzt sind, weil sie auf eine zentralistische oder nicht-plurale Macht- und Ordnungsstruktur zielen, von denen es der Abgrenzung bedarf. Darüber hinaus ist i m Auge zu behalten, dass das Subsidiaritätsprinzip sich nicht auf die institutionalisierten Bezüge menschlichen Zusammenlebens beschränkt, sondern auch auf die individuellen Belange durchgreift mit der Folge, dass ihm eine spezifisch personalistische Funktion zukommt, die ebenso würde- wie freiheitssichernde Wirkung entfaltet. Die mit dem Prinzip der Subsidiarität verbundene Vorstellungswelt ist tief i m europäisch-abendländischen Denken verankert. Dies erhellt bereits aus seiner Genese, die über das christliche Mittelalter i n die griechische Philosophie zurückweist und mit materialen Gehalten verknüpft ist, die aufgrund von Formalkriterien allein nicht zu erschließen sind. Seit das Subsidiaritätsprinzip auch auf der Ebene des europäischen Gemeinschaftsrechts Eingang gefunden hat, haben sich ganz neue Perspektiven eröffnet, die ihm auch positivrechtliche Bedeutung verleihen und es zu einer der Schlüsselkategorien machen, ohne die ein zureichendes Verständnis der Europäischen Union kaum mehr möglich ist. Die gleichwohl fortdauernde Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit, die dem Subsidiaritätsprinzip eigen ist, lassen es als etwas Schillerndes erscheinen, das im Umgang mit ihm eine Art Verlegenheit erzeugt, die zwi-

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Vorwort

sehen dem Bemühen um weitere Schärfung und dem Zweifel an seiner Tauglichkeit zur Problemlösung oszilliert. Der vorliegende Band w i l l auf diesem Hintergrund das Subsidiaritätsprinzip als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip auf den Prüfstand stellen und dabei der Frage nach seiner Genese, seinen Geltungsgrundlagen sowie künftigen Perspektiven i m Zeichen der Wende zu einem neuen Jahrhundert und Jahrtausend nachgehen. Er gibt die Ergebnisse eines Internationalen und Interdisziplinären Symposions wieder, das von der Johannes-AlthusiusGesellschaft i n Verbindung mit der Stiftung Johannes a Lasco Bibliothek veranstaltet worden ist und vom Ol. bis 04. November 2000 in Emden stattgefunden hat. Insgesamt 24 Referenten verschiedener Fachrichtungen aus zehn europäischen und außereuropäischen Ländern haben im Rahmen des Symposions ihre Forschungsergebnisse präsentiert und kritischer Diskussion gestellt. Peter Blickle sei dafür gedankt, mit einem öffentlichen Vortrag zum Gelingen des Symposions wesentlich beigetragen zu haben, indem er den konsozialen Zugriff des Althusius, den er in den Zusammenhang des europäischen Kommunalisierungsprozesses stellte, über den engeren Kreis der Teilnehmer hinaus auch einem größeren wissenschaftlich interessierten Publikum verdeutlichte. Es ist kein Zufall, dass gerade Emden als Tagungsort gewählt wurde. Gewöhnlich w i r d das Subsidiaritätsprinzip mit der katholischen Soziallehre und ihrem Niederschlag i n den päpstlichen Enzykliken assoziiert. Von hier ausgehend ist es in der Tat wirkmächtig geworden, hier wurde Josef Isensee folgend der modernen Welt das Thema gestellt. Jedoch reichen seine Ursprünge sehr viel weiter zurück. Bedarf dies für den Katholizismus keiner weiteren Begründung, so ist weniger bekannt, dass das Subsidiaritätsprinzip auch eine protestantisch-reformatorische Wurzel hat, wie am Beispiel der Emder Synode von 1571 deutlich wird, wo es im Rahmen des Aufbaus der reformierten Kirchen und ihrer presbyterial-synodalen Kirchenverfassung Relevanz gewinnt. Nicht von ungefähr findet das Subsidiaritätsprinzip im Umkreis des reformierten Protestantismus auch auf politisch-theoretischer Ebene Ausdruck. Johannes Althusius, Professor des römischen Rechts und Lehrer der Politik, der mehr als drei Jahrzehnte als Syndikus der Stadt Emden auch praktisch tätig war, gehört zu den bedeutendsten Vertretern einer frühen, spezifisch reformierten politisch-rechtlichen Lehre, die i n vielem an Vorstellungen anknüpft, wie sie für ein an der Subsidiarität orientiertes Denken charakteristisch sind, ja stellt seine ganze Gemeinwesenkonzeption darauf ab. Schon daraus w i r d ersichtlich, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht ohne seinen historisch-politischen Kontext zu erschließen ist. Ziel der in diesem Bande vereinigten Beiträge ist es von daher, das mit dem Sub-

Vorwort

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sidiaritätsprinzip bezeichnete Problem nicht nur aus einer, sondern aus verschiedenen Fachperspektiven anzugehen. Im Vordergrund steht dabei weniger ein begriffliches als vielmehr ein institutionelles Interesse, das, um nicht ins Uferlose zu geraten, auf die Subsidiarität i n jeweils konkreten soziokulturellen Kontexten zielt und diese als Problem menschlicher Gemeinschaftsbildung i n den Handlungs- und Problemzusammenhängen der Kirche, des Staates und der Gesellschaft rechtlich, politisch und historisch identifizieren will. Dabei geht es nicht nur um seinen verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Gehalt, weil auch nach weiteren Konnotationen des Subsidiaritätsprinzips zu fragen ist, insbesondere danach, ob ihm darüber hinaus transnationale Bedeutung im völkerrechtlichen und globalen Zusammenhang zukommt. Daraus hat sich ein Bündel von Problemkreisen ergeben, die im vorliegenden Band aus der Sicht der Rechtswissenschaft, der Politik- und Geschichtswissenschaft sowie nicht zuletzt der Theologie zusammengefasst sind. Zunächst w i r d den Grundlagen des Subsidiaritätsprinzips in der christlich-religiösen Konfessionskultur (Beiträge Klueting, Mikluscâk, Röhls, de Wall) sowie seinen politisch- und gesellschaftstheoretischen Rahmenbedingungen nachgegangen (Beiträge Black, Delsol, Lakoff, Walther), um sodann die verfassungsrechtlichen sowie die rechts- und staatstheoretischen Voraussetzungen der Subsidiarität i n den Blick zu nehmen (Beiträge Isensee, Pernthaler, Würtenberger). Den geschichtlich-gesellschaftlichen Bezügen, der regionalen und kommunalen Praxis der Subsidiarität ist ein weiterer Themenkreis gewidmet, der auch den spezifisch althusischen Kontext beleuchtet (Beiträge Blickle, Malandrino, Moorman van Kappen, Odermatt). Der Einbindung des Subsidiaritätskonzepts i n den theorie- und ideengeschichtlichen Zusammenhang gelten Überlegungen zu korporativen und föderalen Ordnungsvorstellungen unter Einbeziehung des Gerechtigkeitsaspekts (Beiträge Calise, Hüglin, Scattola). Auf dieser Grundlage w i r d sodann die Frage nach der Subsidiarität als einem rechtlichen und politischen Prinzip i n der Europäischen Union gestellt (Beiträge Calliess, Hense, Nitschke, Pieper) sowie nach weiteren Perspektiven, die sich im völkerrechtlichen und globalen Rahmen eröffnen (Beiträge Fastenrath, Wyduckel). Gewiss ist damit die vielschichtige Thematik der Subsidiarität einschließlich ihrer komplexen Sinn- und Begründungszusammenhänge nicht erschöpfend erfasst. Doch war es das Ziel des Symposions, zum einen eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, zum anderen zugleich perspektivisch darüber hinauszuweisen. Dabei sind auch überraschende Einsichten zu Tage getreten, wie etwa die, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht nur eine christlich-abendländische Domäne ist, sondern auch dem islamischen Denken nicht fremd zu sein scheint, wie Antony Black zeigen konnte.

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Vorwort

Das Symposion hätte nicht zustande kommen können ohne die Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, der die Veranstalter für ihre Förderung sehr zu Dank verpflichtet sind. Dank gilt auch dem Vorstand und Ltd. Direktor der Stiftung Johannes a Lasco Bibliothek, Herrn Walter Schulz, für die großzügige Gastfreundschaft, die es ermöglicht hat, das Symposion in so anregender Weise in den wiedererrichteten Räumen der ehemaligen Großen Kirche Emden durchzuführen, sowie dafür, den Druck des Bandes mit einem namhaften Zuschuss zu den Druckkosten zu fördern. Für ihre Mithilfe beim Korrekturlesen und Druckfertigmachen der Beiträge sowie für tatkräftige sonstige Unterstützung sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an meinem Lehrstuhl, insbesondere meiner Sekretärin Frau Sabine Ludwig, herzlich gedankt. Der Dank der Veranstalter und der Herausgeber gilt schließlich dem Verlag Duncker & Humblot und seinem Geschäftsführenden Gesellschafter, Herrn Professor Dr. h.c. Norbert Simon, dessen Förderung und Unterstützung die Publikation auch dieses Bandes ermöglicht hat. Dresden, im A p r i l 2002

Dieter Wyduckel

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. I X - X I Duncker & Humblot, 12165 Berlin

INHALTSVERZEICHNIS

I. Christlich-religiöse Konfessionskultur und Grundlagen der Subsidiarität Harm Klueting Über das Verhältnis von Familienreligion und Hausgemeinde zum kirchlichen Gottesdienst in protestantischen Kontexten der Frühen Neuzeit . . . .

3

Pavel Mikluscâk Subsidiarität in der katholischen Kirche

25

Jan Röhls Subsidiarität i n der reformierten Konfessionskultur

37

Heinrich de Wall Das Subsidiaritätsprinzip in der lutherischen Staats- und Gesellschaftslehre der frühen Neuzeit

59

Π. Politik- und gesellschaftstheoretische Rahmenbedingungen des Subsidiaritätsprinzips Antony Black Subsidiarity in the Islamic World: A n Alternative Model of Socio-Political Order?

73

Chantal Delsol La bonne étoile de la subsidiarité

85

Sanford Lakoff Symbiosis or Subordination? Althusius and the Modern Political Dilemma Manfred

91

Walther

Subsidiarität und Flexibilität. Überlegungen zum „Dezentralisierungspotential" des Subsidiaritätsprinzips i n der Europäischen Union 117

Inhaltsverzeichnis

χ

ΠΙ. Verfassungsrechtliche, rechts- und staatstheoretische Voraussetzungen der Subsidiarität Josef Isensee Subsidiarität - das Prinzip und seine Prämissen

129

Peter Pernthaler Das Subsidiaritätsprinzip und die Ausgliederung öffentlicher Aufgaben . . 179 Thomas Würtenberger Subsidiarität als verfassungsrechtliches Auslegungsprinzip

199

IV. Geschichtlich-gesellschaftliche, regionale und kommunale Praxis der Subsidiarität Peter Blickle Die „Consociatio" bei Johannes Althusius als Verarbeitung kommunaler Erfahrung

215

Corrado Malandrino Die Subsidiarität i n der „Politica" und i n der politischen Praxis des Johannes Althusius i n Emden

237

Olav Moorman van Kappen Zur Lehre von der Subsidiarität der Geldrischen Landrechte Katharina

259

Odermatt

Erst- und Drittausgabe der Politica i m Vergleich: Zu den Entstehungsbedingungen politischer Theorie

291

V. Korporative Ordnung, Föderalismus und Subsidiarität Mauro Colise Corporate Authority in a long-term Comparative Perspective - Differences in Institutional Change between Europe and the United States

307

Thomas O. Hüglin Föderalismus und Subsidiarität. Ein Beitrag zu Schnittstellen i n der politischen Ideengeschichte

325

Merio Scattola Subsidiarität und gerechte Ordnung i n der politischen Lehre des Johannes Althusius

337

Inhaltsverzeichnis

XI

VI. Subsidiarität als rechtliches und politisches Prinzip in der Europäischen Union Christian Calliess Subsidiaritätsprinzip und Solidaritätsprinzip als rechtliches Regulativ der Globalisierung von Staat und Gesellschaft - dargestellt am Beispiel von EU und WTO

371

Ansgar Hense Der staats- und europarechtliche Gehalt des Subsidiaritätsprinzips in den päpstlichen Enzykliken

401

Peter Nitschke Subnationalität versus Nationalität? Die Regionalisierung der Europäischen Union als subsidiäre Politikstrategie

431

Stefan Ulrich Pieper Das Subsidiaritätsprinzip i m Europäischen Gemeinschaftsrecht sowie i n der politisch-rechtlichen Praxis der Union

445

VII. Subsidiarität in globaler und völkerrechtlicher Perspektive Ulrich Fastenrath Subsidiarität i m Völkerrecht

475

Dieter Wyduckel Souveränität und Subsidiarität als Prinzipien globaler rechtlicher und politischer Ordnungen Mitarbeiterverzeichnis

537 563

I. Christlich-religiöse Konfessionskultur und Grundlagen der Subsidiarität

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 3 - 24 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

ÜBER DAS VERHÄLTNIS VON FAMILIENRELIGION U N D HAUSGEMEINDE Z U M KIRCHLICHEN GOTTESDIENST I N PROTESTANTISCHEN KONTEXTEN DER FRÜHEN NEUZEIT* Von Harm Klueting, Köln I. Einleitung

Subsidiarität gilt als etwas Katholisches. Richtig daran ist, dass die Sozialenzyklika „Quadragesimo anno" Papst Pius XI. von 1931 das Subsidiaritätsprinzip i n dem Sinne formulierte, dem Einzelnen dürfe das, was er selbst leisten könne, nicht entzogen und der Gesellschaft übertragen werden, die aber im Bedarfsfall zur Hilfeleistung verpflichtet sei. Daraus folgte ein antikollektivistisches Ideal von Staat und Gesellschaft, bei dem die Gesellschaft sich von unten her, von der Familie über örtliche oder funktionale Sozialgebilde bis auf die Ebene des Staates, aufbaut, während von oben her im Bedarfsfall Hilfe (subsidium) bereitgehalten wird, damit die Sozialgebilde bis hinunter zur Familie funktionsfähig bleiben. 1 Zugleich ist die katholische Kirche aber die Kirche der Hierarchie, also eine nach Rangstufen gegliederte Organisation, i n der Inhaber übergeordneter Ränge Inhabern untergeordneter Ränge gegenüber Herrschaft, etwa auch i n der Form von Weihehandlungen, ausüben. Hierarchie und Subsidiarität sind Gegensätze. Dieser Gegensatz durchzieht die Kirchengeschichte. Hierarchie w i r d dabei hier i m ekklesiologischen Sinne gebraucht, nicht im alltagssprachlichen Sinne. 2 Die Hierarchie beginnt mit dem Gegensatz zwischen Laien und Klerikern, die durch Weihen von den Laien geschieden sind. Nach dem 1918 * Vortrag auf dem Internationalen Symposion „Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip i n Kirche, Staat und Gesellschaft" der Johannes-Althusius-Gesellschaft am 2. November 2000 in der Johannes a Lasco-Bibliothek i n Emden, dort unter dem Titel: „Quidquid pater familias, quia super intendit domui, episcopus dici potest : Über das Verhältnis von Familienreligion und Hausgemeinde zum kirchlichen Gottesdienst i n protestantischen Kontexten der Frühen Neuzeit". 1 Anton Rauscher, Subsidiaritätsprinzip und berufsständische Ordnung i n Quadragesimo anno. Eine Untersuchung zur Problematik ihres gegenseitigen Verhältnisses, Münster 1958. 2 Auf diesen wichtigen Unterschied machte der juristische Kollege Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Isensee i n den Diskussionen des Emder Symposions verschiedene Diskussionsteilnehmer aufmerksam.

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Harm Klueting

k o d i f i z i e r t e n Codex I u r i s C a n o n i c i der k a t h o l i s c h e n K i r c h e (1918 CIC Can. 107) s i n d i n der K i r c h e K l e r i k e r u n d L a i e n v o n e i n a n d e r u n t e r s c h i e den ( „ i n ecclesia c l e r i c i a laicis d i s t i n c t i " ) . Seit d e m Z w e i t e n V a t i k a n i schen K o n z i l der Jahre 1964 u n d 1965 ist der Gegensatz v o n K l e r i k e r n u n d L a i e n i n der k a t h o l i s c h e n K i r c h e abgeschwächt. D i e dogmatische K o n s t i t u t i o n „ L u m e n G e n t i u m " 3 h i e l t a m K l e r u s - u n d Priesterbegriff u n d a u s d r ü c k l i c h a u c h a m „ h i e r a r c h i s c h e n P r i e s t e r t u m " ( L u m e n Gent i u m 10) 4 u n d a n der h i e r a r c h i s c h e n Verfassung der K i r c h e 5 b e i besonderer B e t o n u n g des Bischofsamtes fest ( L u m e n G e n t i u m 18-27), 6 v e r s t a n d den K l e r u s aber n i c h t m e h r „super a l i i s " , sondern „ p r o a l i i s " , 7 w i e a u c h der Gegensatz z w i s c h e n den verschiedenen Weihegraden des K l e r u s eine A b s c h w ä c h u n g e r f u h r . 8 1972 w u r d e n die niederen W e i h e n u n d die S u b 3 In deutscher Übersetzung leicht greifbar bei Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, ^ F r e i burg 2000. 4 Ebd., 134 f.: „Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach. Dennoch sind sie einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil. Der Amtspriester nämlich bildet kraft seiner heiligen Gewalt, die er innehat, das priesterliche Volk heran und leitet es; er vollzieht i n der Person Christi das eucharistische Opfer und bringt es im Namen des ganzen Volkes Gott dar". 5 Lumen Gentium 18, ebd., 143: „ U m Gottes Volk zu weiden und immerfort zu mehren, hat Christus der Herr in seiner Kirche verschiedene Dienstämter eingesetzt, die auf das Wohl des ganzen Leibes ausgerichtet sind. Denn die Amtsträger, die mit heiliger Vollmacht ausgestattet sind, stehen im Dienste ihrer Brüder, damit alle, die zum Volke Gottes gehören und sich daher der wahren Würde eines Christen erfreuen, in freier und geordneter Weise sich auf das nämliche Ziel hin ausstrecken und so zum Heile gelangen". 6 Lumen Gentium 20, ebd., 145: „Unter den verschiedenen Dienstämtern, die so von der ersten Zeit her in der Kirche ausgeübt werden, nimmt nach dem Zeugnis der Überlieferung das Amt derer einen hervorragenden Platz ein, die zum Bischofsamt bestellt sind und kraft der auf den Ursprung zurückreichenden Nachfolge Ableger apostolischer Pflanzung besitzen. [...] Die Bischöfe haben also das Dienstamt i n der Gemeinschaft zusammen mit ihren Helfern, den Priestern und den Diakonen, übernommen. A n Gottes Stelle stehen sie der Herde vor, deren Hirten sie sind". - Lumen Gentium 21, ebd., 146 f.: „ I n den Bischöfen, denen die Priester zur Seite stehen, ist also inmitten der Gläubigen der Herr Jesus Christus, der Hohepriester, anwesend. [...] U m solche Aufgaben zu erfüllen, sind die Apostel mit einer besonderen Ausgießung des herabkommenden Heiligen Geistes von Christus beschenkt worden. Sie hinwiederum übertrugen ihren Helfern durch die Auflegung der Hände die geistliche Gabe, die i n der Bischofsweihe bis auf uns gekommen ist". 7 Dazu die Zitate i n FN 4 u. 5. 8 Lumen Gentium 28, RahnerIVorgrimler (FN 3), 157 ff.: „Christus [...] hat durch seine Apostel deren Nachfolger, die Bischöfe, seiner eigenen Weihe und Sendung teilhaftig gemacht. Diese wiederum haben die Aufgabe ihres Dienstamtes in mehrfacher Abstufung verschiedenen Trägern i n der Kirche rechtmäßig weitergegeben. So w i r d das aus göttlicher Einsetzung kommende kirchliche Dienstamt in verschiedenen Ordnungen ausgeübt von jenen, die schon seit alters Bischöfe, Priester, Diakone heißen. Die Priester haben zwar nicht die höchste Stufe der priesterlichen Weihe und hängen in der Ausübung ihrer Gewalt von den Bischöfen ab;

Familienreligion und Hausgemeinde vs. kirchlicher Gottesdienst

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diakonatsweihe abgeschafft und durch die Dienstämter des Lektors und des Akolythen oder Meßners ersetzt, die auch Laien 9 übertragen werden können. 1 0 Dem entspricht der 1983 kodifizierte Codex Iuris Canonici, der „Lumen Gentium" i n das Kirchenrecht übersetzt hat: „Kraft göttlicher Weisung gibt es i n der Kirche unter den Gläubigen geistliche Amtsträger, die im Recht auch Kleriker genannt werden; die übrigen dagegen heißen auch L a i e n " 1 1 (1983 CIC Can. 207 § 1). Der Gegensatz zwischen dem Klerus - ein Stand, den man durch Empfang der Diakonen weihe erlangt (1983 CIC Can. 266 § 1) - und den Laien ist aber immer noch vorhanden - die Kernbestimmung lautet: „Allein Kleriker können Ämter erhalten, zu deren Ausübung Weihegewalt oder kirchliche Leitungsgewalt erforderlich ist" (1983 CIC Can. 274 § 1) - und für die katholische Kirche ebenso konstitutiv wie die Rolle des in der apostolischen Sukzession stehenden Episkopats und damit die geistliche Hierarchie. Noch die jüngste einschlägige Verlautbarung des Apostolischen Stuhls, die Erklärung „Dominus Iesus" der Kongregation für die Glaubenslehre vom 6. August 2000, macht den Kirchenbegriff davon abhängig. Die evangelischen Kirchen sind demnach lediglich „kirchliche Gemeinschaften" und „nicht Kirchen im eigentlichen Sinn", weil sie „den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben". 1 2 Die Ausbildung des christlichen Priestertums und eines christlichen Klerikerstandes erfolgte im 3. Jahrhundert im Zuge der kultischen Konzentration des Gemeindelebens auf die Eucharistie als „Opfer" und auf den Altar als Ort der Eucharistiefeier und mit dem Priester als der für den Altardienst und für die Vornahme der Eucharistiefeier legitimierten Person. 13 Zugleich konnte die Kirche ihre Amtsträger durch Übernahme dennoch sind sie mit ihnen in der priesterlichen Würde verbunden. [...] Als sorgsame Mitarbeiter, als Hilfe und Organ der Ordnung der Bischöfe bilden die Priester, die zum Dienst am Volke Gottes gerufen sind, i n Einheit mit ihrem Bischof ein einziges Presbyterium, das freilich mit unterschiedlichen Aufgaben betraut ist". - Zu den Diakonen Lumen Gentium 29, ebd., 160: „ I n der Hierarchie eine Stufe tiefer stehen die Diakone". 9 Nach Lumen Gentium 31, ebd., 161, alle „Christgläubigen [...] mit Ausnahme der Glieder des Weihestandes und des i n der Kirche anerkannten Ordensstandes". 10 1983 CIC Can. 230 § 1. 11 „Ex divina institutione, inter christifideles sunt Ecclesia ministri sacri, qui i n iure et clerici vocantur; ceteri autem laici nuncupantur". Siehe auch 1983 CIC Can. 208: „Unter allen Gläubigen besteht, und zwar aufgrund ihrer Wiedergeburt i n Christus, eine wahre Gleichheit i n ihrer Würde und Tätigkeit, kraft der alle je nach ihrer eigenen Stellung und Aufgabe am Aufbau des Leibes Christi mitwirken". 12 [Kongregation für die Glaubenslehre:] Erklärung „Dominus Iesus". Über die Einzigartigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 148), hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischof skonferenz, 6. August 2000, S. 27. 13 Georg Schöllgen, Die Anfänge der Professionalisierung des Klerus und das kirchliche Amt i n der Syrischen Didaskalie, München 1998.

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Harm Klueting

des Priestertitels (sacerdos, ό ιερεύς 14 ) ihrer römisch-hellenistischen Umwelt gegenüber als sakrale Personen legitimieren. Erstmals bezeugt ist die Bezeichnung der Bischöfe und mitunter auch der Presbyter als Priester (sacerdotes) bei Tertullian (t um 225) und Hippolyt (t nach 235) und somit in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts. Der Klerus ist aber nicht mit den Priestern identisch - dann wäre es keine Hierarchie. Das zeigen die traditionellen Weihegrade des Ostiars (Türhüters), Lektors, Exorzisten, Akolythen, Subdiakons, Diakons, Priesters (Presbyteriat) und Bischofs (Episkopat), von denen die vier ersten die „ordines minores" und die vier letzten - Subdiakon bis Bischof - die „ordines majores" oder „ordines sacri" bildeten. Das zeigt sich auch an der unterschiedlichen Kompetenzverteilung. Die Hierarchie findet ihren Ausdruck im Priester, dem die Sakramentsverwaltung exklusiv vorbehalten ist, und im Bischof, der auch Priester ist, aber darüber hinaus Träger der kirchlichen Weihe- und Jurisdiktionsgewalt, und schließlich im Bischof von Rom als Papst an der Spitze. Hier gibt es keine Subsidiarität, indem nur ein Bischof Priester weihen und nur ein Priester die Eucharistie verwalten kann. Die reformatorischen Kirchen kannten und kennen, jedenfalls theologisch betrachtet, keinen Klerus, wie ihnen der Priesterbegriff wegen der Ablehnung des Opfercharakters des Abendmahls fremd ist. Sie kennen keine Weihe und erst recht keine Weihegrade und somit keine Hierarchie - in der ekklesiologischen Bedeutung dieses Begriffes - , sondern nur die Ordination, die aber keinen Unterschied von Klerus und Laien begründet. Es ist deshalb falsch - oder allenfalls in funktionaler Hinsicht richtig - , von „evangelischen Geistlichen" zu sprechen, obwohl im evangelischen Kirchenrecht von „Geistlichen" die Rede ist. 1 5 Es gibt nur ein nichtklerikales - Pfarramt. Ein evangelischer Bischof ist, jedenfalls im deutschen Luthertum, ein Pfarrer mit Bischofstitel und in kirchenleitender Funktion. 1 6 Wenn sich in der sozialen Wirklichkeit auch hier Hierarchisierungstendenzen - Hierarchie i m alltagssprachlichen Sinne - ein14 Aus ό Ιερεύς (Priester) und ή άρχή (Herrschaft) Hierarchie (Priesterherrschaft). 15 So bis 1995 im Disziplinargesetz der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1955 (ABl. E K D S. 84, 288) mit den Bestimmungen über „Verfahren gegen Geistliche", dort § 1: „Geistliche sind nach dem überkommenen Sprachgebrauch und im Sinne dieses Gesetzes a) auf Lebenszeit oder auf Zeit i n einem geistlichen Amt [...] angestellte ordinierte Amtsträger, b) ordinierte Amtsträger im Wartestand oder Ruhestand, c) ordinierte Hilfsprediger". Seit der Neufassung des Disziplinargesetzes von 1995 (ABl. E K D 1995, S. 561) finden stattdessen - § 1 Abs. 1 die Bezeichnungen „Pfarrer und Pfarrerinnen sowie Pastoren und Pastorinnen" und allgemein die Bezeichnung „Amtskraft" Verwendung, aber nicht mehr die Bezeichnung „Geistliche". Reformatorischen Auffassungen gemäß ist die Nomenklatur der Lehrbeanstandungsordnung von 1963 (ABl. EKD 1963, S. 476), die die Bezeichnung „Geistliche" vermeidet und stattdessen - Grundlegung Art. I I I - den „ordinierten Diener am Wort" kennt.

Familienreligion und Hausgemeinde vs. kirchlicher Gottesdienst

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stellen, so w i d e r s p r e c h e n sie reformatorischer Theologie, T r a d i t i o n u n d Ekklesiologie. I I . Hauptteil 1. Augustinus Es g i b t eine vorreformatorische T r a d i t i o n , die n i c h t h i e r a r c h i s c h ist, sondern - n a t ü r l i c h n u r ex post - i m Sinne v o n S u b s i d i a r i t ä t i n t e r p r e t i e r t w e r d e n k a n n . I c h denke d a b e i a n k e i n e häretischen G r u p p e n , n i c h t an die M y s t i k 1 7 u n d a u c h n i c h t a n J o h n W i c l i f oder J a n H u s , sondern a n A u g u s t i n u s . Von diesem s t a m m t der Satz: „ D e r F a m i l i e n v a t e r ist

in

seinem H a u s Pfarrer, u n d gewissermaßen e r f ü l l t er das b i s c h ö f l i c h e A m t " - „ p a t e r f a m i l i a s [...] i n domo sua ecclesiasticum et q u o d a m m o d o episcopale i m p l e b i t o f f i c i u m " . 1 8 Was A u g u s t i n u s h i e r i n seinem K o m m e n t a r z u m J o h a n n e s - E v a n g e l i u m z u m A u s d r u c k b r i n g t , ist der Gedanke der F a m i l i e n r e l i g i o n u n d der Hausgemeinde als E r g ä n z u n g oder als A l t e r n a t i v e z u m k i r c h l i c h e n Gottesdienst.

2. Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt M a n m a g das m i t einem anderen G e d a n k e n i n V e r b i n d u n g b r i n g e n , m i t d e m G e d a n k e n des „ A l l g e m e i n e n Priestertums aller G l ä u b i g e n " . 1 9 D o c h h a t das eine m i t d e m anderen n u r m i t t e l b a r z u t u n . D e r Gedanke des

16 Dorothea Wendebourg, Die Reformation i n Deutschland und das bischöfliche Amt, in: dies., Die eine Christenheit auf Erden. Aufsätze zur Kirchen- und Ökumenegeschichte, Tübingen 2000, S. 195-224; Bernhard Lohse, Luthers Theologie i n ihrer historischen Entwicklung und i n ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 315 f.; Martin Brecht (Hrsg.), Martin Luther und das Bischofsamt, Stuttgart 1990; Axel Freiherr von Campenhausen, Evangelisches Bischofsamt und apostolische Sukzession i n Deutschland, in: Festschrift für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. von Karl-Hermann Kästner, Knut Wolfgang Nörr u. Klaus Schiaich, Tübingen 1999, S. 37-52; Gerhard Tröger, Das Bischofsamt i n der evangelisch-lutherischen Kirche, Tübingen 1966; Irmtraut Tempel, Bischofsamt und Kirchenleitung in den lutherischen, reformierten und unierten deutschen Landeskirchen, Tübingen 1966. 17 Franz Josef Schweitzer, Meister Eckhart und der Laie. Ein antihierarchischer Dialog des 14. Jahrhunderts aus den Niederlanden, Berlin 1997. 18 Augustinus In Iohannis euangelium tractatus CXXIV 51,13, in: Corpus Augustinianum Gissense a C. Mayer editum (CCL) 36, 445/26. 19 Hans-Martin Barth, Einander Priester sein. Allgemeines Priestertum i n ökumenischer Perspektive, Göttingen 1990; Klaus Peter Voß, Der Gedanke des allgemeinen Priester- und Prophetentums. Seine gemeindetheologische Aktualisierung in der Reformationszeit, Wuppertal/Zürich 1990; Hans Martin Müller, „Pfarramt aller Gläubigen"? Zum Verhältnis von Predigtamt und allgemeinem Priestertum, in: Theologische Beiträge 30 (1999), 125-136; Bernhard Petry, Leiten i n der Ortsgemeinde. Studien zum Verhältnis von allgemeinem Priestertum und kirchlichem Amt. Bausteine einer Theologie der Zusammenarbeit, Gütersloh 2001.

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Allgemeinen Priestertums aus der Taufe und dem Glauben, dem sich die katholische Kirche mit „Lumen Gentium" nicht nur rhetorisch geöffnet hat, 2 0 - als Gegensatz zum Weihepriestertum aus der bischöflichen Priesterweihe - war der Alten Kirche und der Kirche des Mittelalters nicht unbekannt, spielte aber eine ausgesprochene Nebenrolle. 21 Bedeutung erlangte dieser Gedanke nur bei Tertullian und bei religiösen Bewegungen wie den Waldensern und den Hussiten sowie in der Devotio Moderna und bei Augustinus. 2 2 Immerhin gab es neutestamentliche Anknüpfungsmöglichkeiten: 1 Petr 2,5.9; Apk 1,6; 5,10 oder 20,6. A m deutlichsten ist davon wohl 1 Petr 2,9. I n der Lutherbibel heißt es dort: „Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Tugenden des, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem L i c h t " . 2 3 Aber erst Martin Luther nahm diesen Gedanken - zuerst in seinem „Sermon von dem Neuen Testament" 24 grundsätzlich auf. 2 5 A n erster Stelle zu nennen ist hier seine große Programmschrift „ A n den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung" von 1520. 26 Hier verwarf er die Institution des Weihepriestertums und die Existenz eines Klerikerstandes: „Christus hat nit zwey noch zweyerley art corper, einen weltlich, den andern geistlich. [...] Gleych wie nw[n] die, szo mann itzt geystlich heyst, odder priester, bischoff odder bepst, sein von den andern Christen nit weytter noch wirdiger gescheyden, dan das sie das wort gottis unnd die sacrament sollen handeln, das ist yhr werck unnd ampt [...] Ein schuster, ein schmid, ein bawr, ein yglicher seyns handtwercks ampt unnd werck hat, unnd doch alle gleich geweyhet priester und bischoffe, unnd ein yglich sol mit seinem ampt odder werck denn andern nutzlich unnd dienstlich sein [ . . . ] " . 2 7 In diesen wenigen Sätzen haben w i r die Verwerfung des Klerus, Luthers Berufsethik und den Gedanken des Allgemeinen Priestertums nebeneinander. Der Subsidiaritätsgedanke

20 Dazu das Zitat aus Lumen Gentium 10 oben F N 4. 21 Harald Goertz/Wilfried Härle, Art. Allgemeines Priestertum, in: TRE 27 (1997), 402-410. 22 Traugott Schachtele, Das Verständnis des allgemeinen Priestertums bei Augustin, Waltrop 1990. 2 3 Textfassung von 1912. Das entspricht der ursprünglichen Textfassung Luthers, der das „genus electum regale sacerdotium", das die Vulgata hier hat, bzw. das γένος έλεκ τόν, βασίλειον, ίεράτευμα des griechischen Neuen Testamentes, mit „das ausserwelete Geschlecht, das königliche Priesterthum" (WA.DB 7, 305) wiedergab. Die revidierte Fassung von 1984 hat stattdessen: „das ausgewählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft". 24 WA 6, 349-378. 25 Lohse, Luthers Theologie (FN 16), 308-310; Harald Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997. 2 6 WA 6, 381-469. 21 WA 6, 408, Z. 33-409, Z. 8.

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ist hier jedoch nicht hinein zu interpretieren. Der Gedanke des Allgemeinen Priestertums diente bei Luther der Abwehr des altkirchlich-katholischen Priesterbegriffs. Überdies trug er metaphorische Züge: 2 8 Allgemeines Priestertum war allgemeines Christsein. Luthers Hervorhebung von Funktion und Amt unterstreicht das: „Szo folget ausz dissem, das leye, priester, fursten, bischoff, und wie sie sagen, geistlich und weltlich, keynen andern unterscheyd ym grund warlich haben, den des ampts odder wercks halben, unnd nit des stands halbenn; dan sie sein alle geystlichs stands, warhaff tig priester, bischoff und bepste, aber nit gleichs eynerley wercks". 2 9 Das wurde zur Grundlage für die Betonung des ordinierten Amtes im Luthertum. 3 0 Weil alle Gläubigen kraft ihrer Taufe die gleiche Vollmacht haben, bedarf es zur öffentlichen Ausübung dieser Vollmacht einer besonderen Beauftragung. Daher heißt es i n Art. 14 der von Melanchthon ausgearbeiteten „Confessio Augustana" von 1530: „De ordine ecclesiastico docent, quod nemo debeat i n ecclesia publice docere aut sacramenta administrare nisi rite vocatus" - „Vom Kirchenregiment w i r d gelehrt, dass niemand in der Kirchen öffentlich lehren oder predigen oder Sakrament reichen soll ohn ordentlichen B e r u f " 3 1 - gemeint ist „ohne ordentliche Berufung". So trat die evangelische Ordination an die Stelle der katholischen Priesterweihe, 32 wenn beides auch nicht dasselbe ist, weil - wie gesagt - die Ordination keinen Unterschied von Klerus und Laien begründet und weil sie von bischöflicher Weihegewalt unabhängig 28 Betont bei Goertz/Härle (FN 21), 403 u. 408. 29 WA 6, 408, Z. 26-30. Sehr wichtig ist hier die Beobachtung bei Lohse, L u thers Theologie (FN 16), 308: „ I m Lateinischen w i r d deutlicher als im Deutschen, was Luther meint. Luther gebraucht durchweg den Begriff „sacerdos"/„sacerdotes" (Priester) für das allgemeine Priestertum aller Getauften, während der Terminus „minister "/„ministri" i n der Regel für den Pfarrer verwendet wird. Luther hat offenbar niemals den Begriff „ministerium" für das allgemeine Priesterum verwendet". 30 Hellmut Lieberg, Amt und Ordination bei Luther und Melanchthon, Göttingen 1962; Lohse, Luthers Theologie (FN 16), 304-307, 310-314; Jan Aarts, Die Lehre Martin Luthers über das Amt in der Kirche. Eine genetisch-systematische Untersuchung seiner Schriften von 1512-1525, Helsinki 1972; Wolfgang Stein, Das kirchliche Amt bei Luther, Wiesbaden 1974; Jörg Baur, Das kirchliche Amt im Protestantismus, in: ders. (Hrsg.), Das Amt i m ökumenischen Kontext, Stuttgart 1980, 103-138; Heinz Brunotte, Das geistliche Amt bei Luther, Berlin 1959; ders., Das Amt der Verkündigung und das Priestertum aller Gläubigen, in: ders., Bekenntnis und Kirchenverfassung. Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte, Göttingen 1977, 210-239 (zuerst 1962); Klaus Tuchel, Luthers Auffassung vom geistlichen Amt, in: Luther-Jahrbuch 25 (1958), 61-98. Siehe auch Benedikt Peter; Der Streit um das kirchliche Amt. Die theologischen Positionen der Gegner Martin Luthers, Mainz 1997. 31 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche [BSLK], Göttingen 1930 ( 11 1992), 69, Z. 2-5. Hervorhebungen vom Verfasser. 32 Bernhard Lohse, Zur Ordination i n der Reformation, in: Reinhard Mumm (Hrsg.), Ordination und kirchliches Amt, Paderborn/Bielefeld 1976, 11-18.

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ist. Dennoch wurde mit der Ordination protestantische Amtskirchlichkeit möglich. Das war genauso bei den Reformierten. Calvins Genfer Kirchenordnung von 1541 33 sah für die Einsetzung der Pasteurs etwas mit der lutherischen Ordination vergleichbares vor, wobei der „consentement commun de la compagnie des fideles", die Zustimmung der Gemeinde, hier besonders betont wurde. 3 4 Niemand sollte ohne Prüfung vor der versammelten Gemeinde in das Hirtenamt eingesetzt werden. 3 5 Calvin ging aber noch weiter und über Luther und Melanchthon hinaus, indem er zwischen „vocatio externa" und „vocatio interna" oder „arcana vocatio", die der Heilige Geist bewirkt, unterschied und - i n seiner „Institutio Christianae Religionis" 3 6 mit der Ordination ein sakramentales Verständnis verband, während er die Priesterweihe i m Einklang mit den anderen Reformatoren verwarf. 3 7 Die reformierte Kirchenratsordnung der Kurpfalz von etwa 1593 sah vor, dass ein in das Pfarramt eintretender Kandidat, „damit er seiner vocation desto gewisser [...] i n unserm kirchenrath über ihme das gemeine gebeth gehalten und nach üblichem herbringen mit uflegung der hände zum ministerio o r d i n i r t " 3 8 werden sollte. Anders lagen die Dinge nur bei den Täufern und bei verschiedenen spiritualistischen Gruppierungen. Das protestantische Amtsverständnis mit seiner Tendenz zur „Pastorenkirche" ließ jedoch einen Ausweg in die Subsidiarität - auch hier wieder ex post so interpretiert - , und das nicht nur in der reformatorischen Ekklesiologie, in der „Kirche" die örtliche Gemeinde oder, in der Definition der „Confessio Augustana", die „Versammlung aller Glaubigen" ist, „bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden". 3 9 Artikel 14 der „Confessio Augustana" legte - vorhin zitiert - die Betonung auf „öffentlich". Nur für die öffentliche Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung bedurfte es der Ordination. Dem privaten Bereich - und das hieß in 33 Die erweiterte Fassung der Genfer Kirchenordnung von 1541 i n Gestalt der „Ordonnances ecclésiastiques de l'église de Genève" von 1561 bei Wilhelm Niesei (Hrsg.), Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, München 1938, 43-64. Siehe auch Ernst Pfisterer, Übersetzung der Genfer Kirchenordnung aus der Zeit Calvins, Neukirchen-Vluyn 1937. 34 Ebd. Art. 10, Niesei (FN 33), 43 f. 35 Hans Martin Müller, Art. Ordination IV 3, in: TRE 25 (1995), 347-356, hier 350. 36 Institutio IV, 19, 28. 37 Ebd., 350 f.; Alexandre Ganoczy, Ecclesia ministrans. Dienende Kirche und kirchlicher Dienst bei Calvin, Freiburg 1968; Brian G. Amstrong, The Pastoral Office in Calvin and Pierre du Moulin, in: Calvin. Erbe und Auftrag. Festschrift für Wilhelm Neuser zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Willem van't Spijker, Kampen 1991,157-167. 38 Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, 14: Kurpfalz, Tübingen 1969, Nr. 91, 548. 39 BSLK 61, 4-7.

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patriarchalischen Gesellschaften: dem Hausvater - legte dieses Amtsverständnis, anders als der katholische Priesterbegriff, keine Schranken auf. Im Gegenteil: Dem Hausvater stand in seinem „Haus", 4 0 was auch das Gesinde einbezog, nicht nur die religiöse Heilsvermittlung zu; sie oblag ihm als Pflicht.

3. Martin Luther

a) Hausvater und Hausmutter als Pfarrer

und Bischof

In seiner Schrift „Vom ehelichen Leben", 4 1 wohl Ende September 1522 zuerst veröffentlicht, 42 kommt Luther auch auf die geistliche Funktion des Hausvaters und - ohne einen Unterschied zwischen Mann und Frau zu machen 43 - der Hausmutter: „Das aller best aber ym ehlichen leben [...] ist, das gott frucht gibt unnd befilht auff tzutzihen tzu gottis dienst, das ist auff erden das aller edlist theurist werk, weyll gott nicht liebers geschehen mag denn seelen erlößenn". 44 Hier liegt für Luther eine Elternpflicht: „Denn gewißlich ist vater und mutter der kinder Apostel, Bisschoff, pfarrer, ynn dem sie das Euangelion yhn kundt machen. Und kurtzlich, keyn grosser, edler gewalt auff erden ist denn der elltern über yhre kinder, Syntemal sie geystlich unnd welltlich gewallt über sie haben. Wer den andern das Euangelion leret, der ist warlich seyn Apostel und bischoff. Hütte und stebe unnd grosse landt machen wol gotzen, aber Euangelion leren macht Apostel und bisschoffe". 45 Luther kann das „Haus" auch als „eine rechte Kirche" bezeichnen, so in seinen Exodus-Predigten von 1525: „Wie eine selige ehe were das, wo 40 Otto Brunner, Das „Ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik", in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 3 Göttingen 1980, 103127. Siehe auch Erich Egner, Der Verlust der alten Ökonomik. Seine Hintergründe und Wirkungen, Berlin 1985, bes. Tl. 1; Irmintraut Richarz, Oikos. Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushalts-Ökonomik, Göttingen 1991; Lars Hennings, Familien und Gemeinschaftsformen am Übergang zur Moderne. Haus, Dorf, Stadt und Sozialstruktur zum Ende des 18. Jahrhunderts am Beispiel Schleswig-Holsteins, Berlin 1995; Hans Derks, Über die Faszination des „Ganzen Hauses", in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 221-242; ferner auch Heinrich R. Schmidt, Hausväter vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert, in: Martin Dinges (Hrsg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit i n Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, 213-236. 41 WA 10,2, 275-304. 42 Ebd., 267. 43 Dazu Gerda Scharffenorth, Freunde in Christus. Die Beziehung von Mann und Frau bei Luther im Rahmen seines Kirchen Verständnisses, in: dies./Klaus Thraede, „Freunde in Christus werden ...". Die Beziehungen von Mann und Frau als Frage an Theologie und Kirche, Berlin 1977, 183-285. 44 WA 10,2, 301, Z. 16-19. 45 Ebd. Z. 23-29.

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solchs ehevolck beysamen were und stunde also yhren kindlin für, Fürwar yhr haus were eine rechte kirche, ein auserwelet Klöster, ja ein Paradiss, Denn Vatter und Mutter werden Gott hie gleich, denn sie sind Regenten, Bisschoff, Bapst, Doctor, Pfarrer, Prediger, Schulmeister, Richter und Herr, der Vatter hat alle namen und ampt Gottes über seine kinder". 4 6 In seiner zweiten Vorrede zum Großen Katechismus von 1529 spricht Luther von der Pflicht der Hausväter zur Katechese von Kindern und Gesinde: „Darumb auch ein yglicher hausvater schuldig ist, das er zum wenigsten die wochen einmal seine Kinder und gesinde umbfrage und verhöre, was sie davon wissen odder lernen, Und wo sie es nicht können, mit ernst dazu halte". 4 7

b) Luthers Vorrede zur „Deutschen Messe": „ecclesiola in ecclesia", Hausgemeinde - oder beides? Schwerwiegende Interpretationsprobleme ergeben sich bei einer anderen Lutherstelle. I n seiner Vorrede zur „Deutschen Messe" von 1525 48 unterscheidet Luther drei Arten des „Gottis diensts und der Messe" 49 : „Erstlich eyne latinsche [Messe], wilche wyr zuvor haben lassen ausgehen [...]. Dise w i l ich hie mit nicht auffgehaben [aufgehoben] odder verendert haben, sondern wie wyr sie bis her bey uns gehalten haben, so sol sie noch frey seyn, der selbigen zu gebrauchen [...]. Denn ich ynn keynen weg w i l die latinische Sprache aus dem Gottis dienst lassen gar weg komen". 5 0 Das war die von Luther schon 1523 in der „Formula missae et communionis" 5 1 neu geordnete lateinische Messe, die er vor allem wegen der Latein lernenden Schuljugend beibehalten wissen wollte. 5 2 A n zweiter Stelle nennt er die deutsche Messe und Gottesdienst, „wilche umb der eynfeltigen leyen willen geordent werden sollen". 5 3 Das sind für 46 WA 16, 490, Z. 28-33. Siehe auch Dieter Schwab, Art. Familie, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2 (1979), 253-301, hier 264; Karl-Heinrich Bieritz/Christoph Kahler, Art. Haus III, in: TRE 14 (1985), 478-492, hier 487. 47 WA 30,1, 129, Z. 20-23 = BSLK 554, Z. 11-16. 48 WA 19, 72-113. Allgemein zu Luthers Gottesdienstreform Dorothea Wendebourg, Den falschen Weg Roms zu Ende gegangen? Zur gegenwärtigen Diskussion über Martin Luthers Gottesdienstreform und ihr Verhältnis zu den Traditionen der Alten Kirche, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 94 (1997), 437-467, wieder in: dies., Die eine Christenheit auf Erden. Aufsätze zur Kirchen- und Ökumenegeschichte, Tübingen 2000, 164-194. 49 Ebd., 73, Z. 32. so Ebd., 73, Z. 32-74, Z. 5. 51 WA 12, 197-220. 52 WA 19, 74, Z. 5-9: „[...] denn es ist myr alles umb die jugent zu thun. Und wenn ichs vermocht und die Kriechsche und Ebreische sprach were uns so gemeyn als die latinische und hette so viel feyner musica und gesangs, als die latinische hat, so solte man eynen sontag umb den andern yn allen vieren sprachen, Deutsch, Latinisch, Kriechisch, Ebreisch messe halten, singen und lesen".

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Luther die beiden Formen des öffentlichen Gottesdienstes, die „wyr also gehen und geschehen lassen, das sie öffentlich ynn den kirchen 54 fur allem volck gehalten werden, darunter viel sind, die noch nicht gleuben odder Christen sind, sondern das mehrer teyl da steht und gaffet". 5 5 Die dritte Art des Gottesdienstes, „die [auch] rechte art der Euangelischen ordnunge haben solte", 5 6 also auch einer Regelung i n Form einer Gottesdienstordnung bedürfte, „muste", so Luther, „nicht so öffentlich auff dem platz geschehen unter allerley volck; sondern die ienigen, so mit ernst Christen wollen seyn 57 und das Euangelion mit hand und munde bekennen, musten mit namen sich eyn zeychen und etwo yn eym hause alleyne 58 sich versamlen zum gebet, zu lesen, zu teuffen, das sacrament zu empfahen und andere Christliche werck zu üben". 5 9 Diese dritte Art des Gottesdienstes ist die Hausgemeinde (yn eym hause) der Gläubigen (die ienigen, so mit ernst Christen wollen seyn), zu deren gottesdienstlichen Übungen auch die sakramentalen Handlungen der Taufe (zu teuffen) und des Abendmahls (das sacrament zu empfahen) gehören: „Hie kund man auch eyn kurtze feyne weyse mit der tauffe und sacrament halten und alles auff s wort und gebet und die liebe richten. Hier muste man eynen guten kurtzen Catechismum haben über den glauben, zehen gebot und vater unser". 6 0 Luther sagt jedoch, er könne für solche Gemeinden oder Versammlungen noch keine Ordnung vorlegen, 61 „denn ich habe noch nicht leute und personen dazu; so sehe ich auch nicht viel, die dazu dringen". 6 2 Tatsächlich hat Luther, wohl unter dem Eindruck der Wittenberger Wirren von 1521/22 und des Bauernkrieges, den Gedanken solcher nichtöffentlicher Gottesdienste nicht weiter verfolgt. 6 3 Die Sache klingt bei Luther bereits in der Gründonnerstagspredigt von 1523 an, 6 4 w i r d aber in der Literatur bisweilen auch als „momentaner Gedanke" 6 5 bezeichnet. Martin Brecht vermutet im Einklang mit älteren 53 Ebd., 74, Z. 23. 54 Hervorhebung vom Verfasser dieses Beitrags. 55 WA 19, 74, Z. 24-27. 56 Ebd., 75, Z. 3-4. 57 Hervorhebung vom Verfasser dieses Beitrags. 58 Hervorhebung vom Verfasser dieses Beitrags. 59 WA 19, 75, Z. 4-8. 60 Ebd., Z. 13-16. 61 Ebd., Z. 18-19: „Aber ich kan und mag noch nicht eyne solche gemeyne odder versamlunge orden odder anrichten". 62 Ebd., Z. 20-21. 63 Peter Cornehl, Öffentlicher Gottesdienst. Zum Strukturwandel der Liturgie, in: ders./Hans-Eckehard Bahr (Hrsg.), Gottesdienst und Öffentlichkeit. Zur Theorie und Didaktik neuer Kommunikation, Hamburg 1970, 118-196, hier 164, 166. 64 WA 12, 485, Z. 3-6 (unten, als „Vorrede" bez. Text): „Aber also kund man anrichten und dahyn bringen, wie ich gern wolt, das man die, so da recht gleubten, kund uff ein ort sundern. Ich wolt es wol lengst gerne thon haben, aber es hat

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Autoren 6 6 die Herkunft dieser Überlegungen aus dem Austausch mit Kaspar von Schwenckfeld, der Luther Anfang Dezember 1525 aufgesucht hatte. 6 7 Was aber hat es mit diesen Privatgottesdiensten auf sich? Man hat darin den Gedanken der ecclesiola in ecclesia 68 und den einer „Elite-Gemeinde" 6 9 gesehen, aber auch hervorgehoben, dass dieses Konzept „einer Aussonderung einer solchen Gemeinde der Vollkommenen [...] seinem [Luthers] sonstigen Kirchenbegriff diametral widerstreitet und in der Richtung des schwärmerischen oder wiedertäuferischen Kirchenbegriffs l i e g t " , 7 0 und deshalb begrüßt, dass Luther keinen Versuch gemacht hat, „diesen Gedanken zu realisieren und innerhalb der Kirche eine engere Gemeinschaft der Gereiften herzustellen": 71 „Der evangelischen Kirche wäre ihr Beruf, Volks- und Missionskirche zu sein", mit einer „wenn auch noch so hoch stehenden, doch immer mit menschlicher Sünde und Unvollkommenheit behafteten Christenthumsgesellschaft oder Gemeinde von Gläubigen höherer Stufe, wenn nicht verloren gegangen, so doch sehr erschwert worden". 7 2 Hingegen berief man sich i n der Gemeinschaftsbewegung des späten 19. Jahrhunderts mit ihren Bestrebungen nach Stärkung der Laienverantwortung auf diese Stelle in Luthers Vorrede zur Deutschen Messe, 73 wie auch heute manche hier das Modell einer Freikirche sehen. 74 Tatsächlich scheint der Gedanke von Sondergemeinden derjenigen, „die mit Ernst Christen sein wollen", nicht ohne weiteres mit Luthers von der Rechtfertigungslehre herkommendem Kirchenbegriff, 75 der ihn gleichermaßen den hierarchisch-katholischen Kirchen- wie den spiritualistischen Gemeindebegriff verwerfen lässt, 7 6 vereinbar zu sein. Wenn man aber sieht, dass die communio sanctorum sich nicht wollen ley den, denn es noch nicht genug gepredigt unnd triben ist worden". 65 Johannes Gottschick, Luther's Anschauungen vom christlichen Gottesdienst und seine thatsächliche Reform desselben, Freiburg 1887, 14. 66 Theodor Kolde, Luther's Gedanke von der ecclesiola i n ecclesia. Eine Bemerkung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 13 (1892), 552-555, hier 553 f. 67 Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532, Stuttgart 1986, 250. 68 Kolde, Luther's Gedanke (FN 66). 69 Gottschick, Luther's Anschauungen (FN 65), 14. 70 Ebd. 71 Heinrich Adolf Koestlin, Geschichte des christlichen Gottesdienstes. Ein Handbuch für Vorlesungen und Übungen i m Seminar, Freiburg 1887, 155. 72 Ebd., 156. 73 Jörg Ohlemacher, Gemeinschaftschristentum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhunderts, in: Ulrich Gäbler (Hrsg.), Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (= Geschichte des Pietismus, III), Göttingen 2000, 393-464, hier 414; Jochen Drechsel, Gemeinschaftspflege ..., in: Kurt Heimbucher (Hrsg.), Dem Auftrag verpflichtet. Die Gnadauer Gemeinschaftsbewegung. Prägungen Positionen - Perspektiven, Gießen/Basel/Dillenburg 1988, 290-307, hier 291 f. 74 Otmar Schulz, Modell für die Kirche von Morgen? Eine kritische Darstellung der evangelischen Freikirchen, Frankfurt am Main 1970, 8.

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für Luther nicht allein stand, sondern - i n seiner Auslegung des dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses im „Großen Katechismus" 7 7 - ein erläuternder Zusatz zu una sancta ecclesia 78 war, so scheint der Gedanke der „ecclesia invisibilis", der „unsichtbaren Kirche", und damit auch der Gedanke an Sondergemeinden derer, „die mit Ernst Christen sein wollen", mit Paul Althaus 7 9 und Martin Doerne vielleicht doch in das Kirchenverständnis Luthers integrierbar zu sein. 80 In dieselbe Richtung führt Luthers Unterscheidung der „zwo K i r c h e n " 8 1 in seiner Schrift „Von dem Papstum zu R o m " 8 2 von 1520. 83 Dennoch bleiben Zweifel. Probleme bereitet aber nicht nur die Frage nach der Vereinbarkeit des ecclesiola in ecclesia- Gedankens mit Luthers sonstigem Kirchenbegriff, sondern auch die Frage nach der Struktur und der Leitung dieser Versammlungen. Theodor Koldes nahm 1892 an, dass Luther selbst sich die Versammlung der wahren Christen reservieren und den öffentlichen Gottesdienst dem Kaplan zuweisen wollte. Dieser Vorschlag scheitert aber wahrscheinlich daran, dass Luther in seiner Vorrede zur Deutschen Messe über die drei Formen des Gottesdienstes allgemeine Aussagen macht, auch wenn er keineswegs der Meinung war, dass die Wittenberger Ordnung von allgemeiner Verbindlichkeit sei. 8 4 Wenn hingegen Peter Cornehl hier das Bild „einer charismatisch sich selbst organisierenden Gemeindeversammlung" 85 sieht, die als solche keines Leiters bedurfte, so geht das doch zu sehr in eine Luther fremde spiritualistische Richtung. Tatsächlich lässt Luther die Frage nach der Struktur und der Leitung der dritten Art des Gottesdienstes völlig offen. Hier liegt immerhin der durch Luthers sonstige Hochschätzung der Hausväter gestützte Gedanke nahe, in der Vorrede zur Deutschen Messe 75 Karl Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1, Tübingen 1932, 288-325. Zu Luthers Rechtfertigungslehre Lohse, Luthers Theologie (FN 16), 80-90 u. 274-283. 76 Martin Doerne, Gottes Volk und Gottes Wort. Zur Einführung i n Luthers Theologie der Kirche, in: Luther-Jahrbuch 14 (1932), 61-98, hier 63. - Bei Doerne die wichtigste ältere Literatur. 77 BSLK 545-733. 78 Ebd., 655 ff. Siehe auch Doerne, Gottes Volk (FN 76), 66. 79 Paul Althaus, Communio sanctorum. Die Gemeinde im lutherischen Kirchengedanken, Bd. 1: Luther, München 1929. 80 Doerne, Volk Gottes (FN 76), 89 ff. 81 Dazu auch Lohse, Luthers Theologie (FN 16), 302. 82 WA 6, 277-324. 83 WA 6, 296, Z. 39-297, Z. 3: „Die erste, die naturlich, grundtlich, wesentlich unnd warhafftig ist, wollen w i r heyssen ein geystliche, ynnerliche Christenheit, die andere, die gemacht und eusserlich ist, wollen w i r heyssen ein leypliche, euszerlich Christenheit". 84 Brecht, Luther I I (FN 67), 249. 85 Cornehl, Öffentlicher Gottesdienst (FN 63), 166 f.

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die Betonung nicht bei denjenigen zu sehen, „die mit ernst Christen wollen seyn", sondern bei dem Gegenüber zwischen dem Gottesdienst „öffentlich ynn den kirchen" und der Versammlung „nicht so öffentlich" - also privatim - „yn eym hause". Könnte Luthers dritte Form des Gottesdienstes nicht die Frömmigkeitspraxis der Hausgemeinde derer, die „mit ernst Christen wollen seyn", unter der Leitung des Hausvaters sein? Für diese Versammlungen hielt Luther ebenfalls eine Ordnung - die Deutsche Messe ist ja eine Gottesdienstordnung - für notwendig, 8 6 verzichtete aber darauf, weil er „noch nicht leute und personen dazu" 8 7 hatte und nicht viele sah, die darauf drängten. Die rechten Hausväter hatten sich noch nicht gefunden. Wenn diese Hypothese trägt, dann wäre das Interessante an Luthers Vorrede zur Deutschen Messe weniger der Gedanke der ecclesiola in ecclesia - war das die Hausgemeinde unter dem Hausvater als „rechte Kirche" nicht auch? - , sondern die Tatsache, dass Luther dann dem Hausvater hier auch die Sakramentsverwaltung Taufe und Abendmahl - zugestanden hätte. 4. Puritanische Familientheokratie

Besondere Bedeutung gewann die Hausgemeinde unter dem Hausvater als höchster geistlicher Autorität im englischen Puritanismus. „Die ganze puritanische Bewegung wurzelt ja letzten Endes i n der Familie und ist ohne sie nicht zu denken. Religion ist hier eben Familienreligion, Gottesdienst nicht aushilfsweise, sondern in erster Linie Familiengottesdienst". 8 8 Levin Schücking sprach sogar von „Familientheokratie als Kern der puritanischen Lebensform". 89 Das hatte eine Vorgeschichte, die bis zum Bibellesen im häuslichen Kreis in der Bewegung um den Vorreformator John Wiclif zurückgeht und auch bei englischen Katholiken wie Richard Whitford begegnet. In seinem Buch „ A Werke for householders" von 1533 90 fordert Whitford die Hausväter auf, bei jeder Mahlzeit eine Person das Vaterunser, das Ave Maria und das Apostolikum vorlesen

86 WA 19, 75, Z. 3-4: „Aber die dritte weyse, die rechte art der Euangelischen ordnunge haben solte, [...]". 87 Ebd. Z. 20. 88 Levin L. Schücking, Die puritanische Familie i n literar-soziologischer Sicht. 2 Bern 1964 (zuerst 1929), 60. Siehe auch Edmund S. Morgan, The Puritan Family. Religion and Domestic Relations in Seventeenth-Century New England, NeuaufL. New York 1987 (zuerst Boston 1944); Margo Todd, Christian Humanism and the Puritan Social Order, Cambridge 1987; Edmund Lettes, Puritanisches Gewissen und moderne Sexualität, Frankfurt am Main 1988 (zuerst engl. 1986). 89 Ebd. 90 Richard Whitford, A Werke for householders or for them that have the guydying or governaunce of any company, London 1533, 2 1537.

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zu lassen und mindestens einmal i n der Woche den ganzen Haushalt zu katechisieren. 91 a) William Perkins William Perkins, von manchen als „theologischer Vater des Puritanism u s " 9 2 apostrophiert, stellte in seinem Hauszuchtbuch, 93 der „Oeconomia Christiana" von 1609, englisch auch als „Oeconomy or housholdgovernment" zitiert, 9 4 die Hausandacht heraus. 95 Diese Schrift ist i n 18 Kapitel untergliedert. Auf das nur wenige Zeilen umfassende erste Kapitel, „Of Christian oeconomy and of the family", folgt das zentrale zweite Kapitel unter dem Titel „Of the household service of God". Hier entwickelt Perkins das Programm der puritanischen Familienreligion, während neben dem „household service" vom kirchlichen Gottesdienst, dem „divine service i n the parish church", keine Rede ist. Perkins unterscheidet für eine Familie die Wahrnehmung von zwei Pflichten: „One to God and the other to itself". 9 6 Die Pflicht gegenüber Gott ist „the private worship and service of God, which must be established and settled in every family". 9 7 Dieser Hausgottesdienst, auch „the household service of G o d " 9 8 genannt, hat zwei Formen: „The first is a conference upon the word of God for the edification of all the members thereof to eternal life. The second is invocation of the name of God, w i t h giving of thanks for his benefits". 9 9 Der Hausgottesdienst ist also einerseits Besinnung auf das „Wort Gottes" in der Bibel und dessen Auslegung zur Erbauung der Familienmitglieder und Hausbewohner, andererseits Gebet und Anrufung Gottes. Der Hausgottesdienst findet morgens und abends statt und führt die Familie zusammen: „The times of this service are these. The morning, i n which the family coming together i n one place is to call upon the name of the Lord, before they begin the works of their callings. 91 Schücking, Puritanische Familie (FN 88), 64 f. 92 Martin Schmidt, Art. William Perkins, in: 3 RGG 5 (1961), 224. 93 Siehe auch Thomas F. Merrill (Hrsg.), William Perkins 1558-1602. English Puritanist. His Pioneer Works on Casuistry: „A Siscourse of Conscience" and „The Whole Treatise of Cases of Conscience", Nieuwkoop (Niederlande) 1966. 94 William Perkins, Christian Oeconomy Or A Short Survey Of The Right Manner Of Erecting And Ordering A Family, According To The Scriptures (1609), in: The Work of William Perkins. Introduced and ed. by Ian Breward, Appleford (England) u.a. 1970, 416-439, Einleitung des Herausgebers 413 ff. 95 August Lang, Puritanismus und Pietismus. Studien zu ihrer Entwicklung von M. Butzer bis zum Methodismus, Neukirchen-Vluyn 1941, Nachdruck Darmstadt 1972, 129. 96 Perkins, Christian Oeconomy (FN 94), 416. 97 Ebd. 98 Ebd., 417. 99 Ebd.

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The evening also is another time to be used in prayer, because the family hath seen the blessing of God upon their labours the day before: and now the time of rest draweth on, in which every one is to commend his body and soul into the protection of the L o r d " . 1 0 0 Perkins nennt die Familien, in denen Hausgottesdienste gehalten werden, „little churches" oder „a kind of paradise upon e a r t h " , 1 0 1 wozu er Phlm 1-2 und 1 Kor 16, 19 zitiert, Stellen aus den paulinischen Briefen, an denen von der „Gemeinde" im „Haus" des judenchristlichen Paares Aquila und der Priscilla in K o r i n t h 1 0 2 die Rede ist, wofür die lateinische Vulgata „ecclesia domestica" gebraucht. 1 0 3 Wer aber „hält" den Gottesdienst i n der „ecclesia domestica" der puritanischen Familie? Die Antwort gibt Perkins in Kapitel 13 seiner Schrift, „Of the parent". 1 0 4 Eine Familie besteht nach Perkins aus Eltern und Kindern. „Parents are they which have power and authority over childr e n " . 1 0 5 Perkins unterscheidet zwei Pflichten der Eltern: ihre Kinder aufzuziehen und sie unterzubringen, in einer Ehe oder i n einer beruflichen Position, wenn sie aufgezogen sind. Der Mann ist der Frau vorgeordnet, wie Perkins in Kapitel 11, „Of the husband", darlegt: „The husband is he which hath authority over the w i f e " , 1 0 6 aber auch Pflichten der Frau gegenüber, nämlich erstens „to love her as himself" und zweitens „to honour his w i f e " . 1 0 7 Wegen der Autorität des Hausvaters über seine Frau, seine Kinder und das Gesinde seines Hauses, war es der Hausvater, der den Hausgottesdienst hielt. Die Elternpflichten aber oblagen beiden Elternteilen. Ihre Hauptsorge sollte „for the c h u r c h " 1 0 8 sein, „that those of their children which have the most pregnant w i t and be endued w i t h the best gifts, be consecrated unto God and brought up i n the study of the scriptures, to serve afterward in the ministry of the c h u r c h " . 1 0 9 Erst hier, bei dem Erziehungsziel, einen, und zwar den mit geistigen Gaben am besten ausgestatteten Sohn für den Dienst als „minister verbi Dei" vorzubereiten, kommt die Amtskirche ins Spiel, i n der dieser Sohn dermaleinst amtieren wird.

loo Ebd. ιοί Ebd., 418. 102 Dazu auch Act 18,2.18.26. 103 1 Kor 16,19: „salutant vos ecclesiae Asiae salutant vos in Domino multum Aquila et Prisca cum domestica sua ecclesia". 104 Hier steht bei Perkins der Singular. 105 Perkins , Christian Oeconomy (FN 94), 430. 106 Ebd., 427. 107 Ebd., 428. 108 Ebd., 430. 109 Ebd.

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b) John Bunyan und Lewis Bayly Zwei Generationen nach Perkins hob John B u n y a n 1 1 0 i n seiner 1663 erschienenen Schrift „Christian Behaviour" 1 1 1 die Pflicht der Hausväter hervor, für das geistliche Wohl der Seinen durch Gottes Wort und Gebet zu sorgen. 112 Bei B u n y a n 1 1 3 w i r d der Hausvater, „the Master of a Family", angesprochen: „If thou have under thee a Family, then thou art to consider the several relations thou standest under; and art to know, that thou in each of them hast a work to do for G o d " . 1 1 4 Der Hausvater ist verantwortlich für „the spiritual State of his F a m i l y " . 1 1 5 Zu diesem Zweck „he ought diligently and frequently to lay before his household such things of God, out of his Word, as are sutable [sic/] for each particul a r " . 1 1 6 Der Hausvater hat in seinem Haus wie ein Pastor in der Kirche zu sein: „ A man that governs his family well, hath one qualification belonging to a Pastor or Deacon of God [...] which thing considered, it giveth us light into the work of the Master of a Family, touching the governing of his house. 1. Then a Pastour must be sound and incorrupt in his Doctrine: and indeed so must the Master of a Family. [...] 2. A Pastor should be apt to teach, to reprove, and to exhort: and so should the Master of a Family. [...] 3. A Pastour must himself be exemplary in Faith and Holiness: and so also should the Master of a Family. [...] 4. The Pastor is for getting the Church together, and when they are so come together, then to pray among them, and to preach unto them: this is also commendable in Christian Masters of Families". 1 1 7 Der Hausvater hat also als Pastor seines Hauses unter den Seinen zu beten und zu predigen. Dasselbe gilt aus der Generation zwischen Perkins und Bunyan für Lewis B a y l y 1 1 8 und seine immer wieder neu aufgelegte Schrift „Practice no Gordon Rupp, Art. John Bunyan, in: TRE 7 (1981), 416-419; Richard L. Greaves , Art. John Bunyan, in: 4 RGG 1 (1998), 1880 f. m John Bunyan, Christian Behaviour, or the Fruits of true Christianity. Shewing the Ground from whence they flow, i n their Godlike order i n the Duty of Relations, as Husbands, Wives, Parents, Children, Masters, Servants etc., London 1663. Neuedition nach der 3. Aufl.: John Bunyan, Christian Behaviour. The Holy City. The Resurrection of the Dead, ed. by J. Sears McGee, Oxford 1987, 9-62. 112 Lang, Puritanismus (FN 95), S. 262. us Siehe auch Christopher Hill, A Turbulent, Seditious, and Factious People. John Bunyan and his Church, 1628-1688, Oxford 1988. 114 Bunyan, Christian Behaviour (FN 111), 22. Das Englisch des 17. Jahrhunderts bleibt hier unverändert, us Ebd. ne Ebd. i n Ebd., 23. us K. Dietrich Pfisterer, Art. Lewis Bayly, in: TRE 5 (1980), 389 f.; William L. McClelland, Art. Lewis Bayly, in: 4 RGG 1 (1998), 1193. Siehe auch Udo Sträter, Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert, Tübingen 1987.

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of Piety" von 1612, 1 1 9 dem am stärksten verbreiteten englischen Andachtsbuch vor Bunyans „Pilgerreise" von 1678. Bayly unterbreitete Vorschriften für den Hausvater, wie er seine Familienmitglieder zur Gottseligkeit anhalten sollte. 1 2 0 Hervorstechend ist Baylys Anleitung zur Sabbatfeier, für deren Ausgestaltung der Hausvater zuständig ist. A m Sabbat bzw. am Sonntag soll der Hausvater dem Gesinde ein Kapitel aus der Bibel vorlesen und Knechte und Mägde nach dem Kirchgang über den Inhalt der Predigt katechisieren. Der kirchliche Gottesdienst ist hier also nicht marginalisiert. 1 2 1 Das gilt i m 18. Jahrhundert erst recht für John Wesley, 122 den Begründer des Methodismus, der sich bei aller D i stanz gegenüber der Church of England doch immer als Diener der anglikanischen Kirche verstand und seine Anhänger verpflichtete, sonntags am kirchlichen Gottesdienst und Abendmahl teilzunehmen. 1 2 3 c) Christian Masters of Families Warum gewann die Familienkirche unter der Autorität des Hausvaters im Puritanertum ein solches Gewicht? Die Antwort lautet: „Da es nach 1590 fast unmöglich schien, puritanische Vorstellungen i n der Kirche durchzusetzen, gewann für die Reformer die Familie an Bedeutung als Stätte, wo sie ihre religiösen Ideale verwirklichen konnten. Das Haus sollte eine Kirche im Kleinen werden, die Würde und Autorität des Hausvaters sollten gestärkt werden, indem er geistliche Aufgaben wahrnahm. Er sollte seine Frau, seine Kinder und sein Gesinde in der Furcht des Herrn erziehen, sie zu einem eigenen geistlichen Leben anleiten, sie geistlich ermahnen, belehren und trösten. Morgen-, Tisch- und Abendgebet, Vorlesen aus der Bibel, gemeinsamer Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes, in vielen Fällen auch die Katechese der Kinder und Dienstboten nach der Predigt: Das waren die Formen, i n denen sich die Spiritualisierung der Familie und des Hauses vollzog". 1 2 4 Von Taufe und Abendmahl ist dabei keine Rede. Deren Ort war der öffentliche Gottesdienst. Das „Book of Common Prayer" der Church of England hält es für H9 Bibliographische Angaben bei Lang, Puritanismus (FN 95), 187. 120 Ebd., 199. 121 Ebd., 200 f. 122 Martin Schmidt, Art. John Wesley, in: 3 RGG 6 (1962), 1656-1658; ders., Der junge Wesley als Heidenmissionar und Missionstheologe, Gütersloh 1955; Patrick Streiff, Der Methodismus bis 1784/1791, in: Martin Brecht/Klaus Deppermann (Hrsg.), Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (= Geschichte des Pietismus, II), Göttingen 1995, 617-665. 123 Lang, Puritanismus (FN 95), 323 f. 124 Klaus Deppermann, Der englische Puritanismus, in: Martin Brecht (Hrsg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert (= Geschichte des Pietismus, I), Göttingen 1993, 11-55, Zitat 33 f.

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n o t w e n d i g , dass die „ c u r a t e s " - also die G e i s t l i c h e n - „ o f every P a r i s h s h a l l [...] w a r n [the people], t h a t w i t h o u t l i k e great cause a n d necessity t h e y procure n o t t h e i r c h i l d r e n t o be b a p t i z e d at home i n t h e i r houses", was also v o r g e k o m m e n sein muss. „ B u t w h e n need s h a l l c o m p e l t h e m so to do, t h e n B a p t i s m s h a l l be a d m i n i s t e r e d [by] the m i n i s t e r of the P a r i s h (or, i n his absence, any other l a w f u l M i n i s t e r [ . . . ] " 1 2 5 - d u r c h den Gem e i n d e p f a r r e r oder, i n dessen A b w e s e n h e i t , einen anderen rechtmäßigen A m t s träger der K i r c h e . 5. Pietistische Konventikel (collegium pietatis und ecclesiola in ecclesia) A n d e r s z u b e u r t e i l e n s i n d die K o n v e n t i k e l des l u t h e r i s c h e n Pietismus. P h i l i p p Jacob S p e n e r 1 2 6 sprach i n seinen „ P i a D e s i d e r i a " v o n 1675 a u c h v o m Hausvater, aber eben n i c h t als L e i t e r v o n „ c o l l e g i a p i e t a t i s " . Spener erörterte die Frage, „ o b n i c h t der K i r c h e n w o l gerathen

wäre/wann

nebens den g e w ö h n l i c h e n P r e d i g t e n ü b e r die verordnete Text n o c h auff andere weiß die leute w e i t e r i n die S c h r i f f t geführet w ü r d e n " . 1 2 7 E r u n terscheidet d r e i Weisen, die L e u t e i n v e r t r a u t e r e n U m g a n g m i t der B i b e l zu bringen: „1. M i t fleissiger lesung der H. [eiligen] Schrifft selbs[t]/sonderlich aber des N.[euen] Testaments. Das ist je nicht schwer/dass jeglicher Hausvatter seine Bibel oder auffs wenigste das Neue Testament bey handen habe/und täglich etwas i n solchem lese/oder wo er je deß lesens unerfahren/ihm von andern lesen lasse". 1 2 8 „2. Wo man es einführen köndte/dass zu gewissen zeiten i n öffentlicher Gemeinde die Biblische bûcher nach einander ohne weitere erklärung [...] verlesen würden".129 „3. Sollte auch [...] vielleicht nicht undienlich seyn/wo wir wiederum die alte Apostolische art der Kirchen versamlungen i n den gang brächten: Da neben unseren gewöhnlichen Predigten/auch andere versamlungen gehalten würden/auff die art wie Paulus 1. Corinth. 14 dieselbe beschreibet/wo nicht einer allein aufftrette zu lehren [...] sondern auch andere/welche mit gaben und erkantnuß begnadet sind [...] mit darzu reden/und ihre gottselige gedancken über die vorgelegte Materien vortragen [...]: Wo zu gewissen zeiten unterschiedliche auß dem Predig[t]ampt [...] oder doch unter dirigirung deß Predigers andere mehrere auß

125 The Book of Common Prayer, The Ministration of Private Baptism of Children i n Houses, Preface [272]. 126 Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, 2 Tübingen 1986. 127 Philipp Jacob Spener, Pia Desideria. Hrsg. von Kurt Aland, 2 Berlin 1964, 54, Z. 26-28. 128 Ebd., Z. 29-33. Hervorhebung vom Verfasser dieses Beitrags. 129 Ebd., 55, Z. 7-10.

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der Gemeinde/welche von Gott mit ziemlicher erkantnuß begabet/oder i n derselben zu zunehmen begierig sind/zusammen kämen/die Heilige Schrifft vor sich nehmen/daraus öffentlich lesen/und über jegliche stelle [...] brüderlich sich unterredet e n " . 1 3 0

Die erste Weise, die Bibellektüre des Hausvaters, ist die einzige A k t i v i tät des Hausvaters bei Spener. Die dritte Weise sind die berühmten pietistischen „collegia pietatis" oder Konventikel. Diese mit 1 Kor 14 begründeten halböffentlichen Versammlungen stehen unter der „Dirigierung" des Predigers bzw. Pfarrers, geben aber denen, die „von Gott mit ziemlicher Erkenntnis begabt" sind, die Möglichkeit, ihre Gedanken vorzutragen und sich mit anderen über biblische Perikopen zu unterreden. Mit Familienreligion unter der geistlichen Autorität des Hausvaters hat das nichts zu tun. Bald rückte Spener jedoch von dem halböffentlichen Modell der „collegia pietatis" im Sinne von Gemeindeversammlungen als Ergänzung zum Predigtgottesdienst ab und förderte das Programm der „ecclesiola in ecclesia" im Sinne privater Zusammenkünfte geistlich Fortgeschrittener. 1 3 1 Auch diese Zusammenkünfte stehen unter der Leitung und Aufsicht des Pfarrers und gehen von der Initiative des Pfarrers aus, der diejenigen in seiner Gemeinde sammelt, „bei denen er einen besonders großen Eifer für die Gottseligkeit (pietas) erkenne und die vor anderen geschickt seien zum Reiche Gottes. [...] Diese Kreise von Kernchristen strahlen dann nach außen weiter, werden zu Mitarbeitern des Pfarrers bei der Erweckung. Die Erweckung von Frommen [...] ist das Ziel; der Weg führt über hauskirchliche Strukturen". 1 3 2 Dennoch hat auch Speners ecclesiola-Modell nichts mit Familienreligion unter der Autorität der Hausväter zu tun. Der Zusammenhang liegt woanders. Die Formel „ecclesiola i n ecclesia" gilt als Schöpfung Speners, bei dem sie in einem Brief an Samuel Benedikt Carpzov vom 23. Juli 1675 erscheint. 1 3 3 Speners Begriff der ecclesiola hat aber eine Vorgeschichte, die auf die puritanische Familienreligion verweist, „ecclesiola", „kleine Kirche", erscheint - wie w i r bei Perkins gesehen haben 1 3 4 - bei puritanischen Autoren als „little church" im Sinne der Hauskirche nach 1 Kor 16,19 („Aquila und Priscilla samt der Gemeinde i n ihrem Hause") und Phlm 1 f. bzw. der Hausandacht von Familie und Gesinde unter der Leitung des Hausvaters. 135 Markus Matthias 130 Ebd., Z. 13-29. 131 Markus Matthias, Collegium pietatis und ecclesiola. Philipp Jakob Speners Reformprogramm zwischen Wirklichkeit und Anspruch, in: Pietismus und Neuzeit 19 (1993), 46-59. 132 Ebd., 53 f. 133 Ebd., 52 f. 134 Oben bei F N 101.

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nimmt an, daß der puritanische „ecclesiola"-Begriff Spener 1674 durch die Lektüre von Theodor Undereycks Buch „Christi Braut/Unter den Töchtern zu Laodicaea" von 1670 vermittelt w u r d e . 1 3 6 Der „Begründer reformierten pietistischen Konventikelwesens in Deutschland" 1 3 7 schreibt in diesem Werk: „Es gibt uns aber die höchstbeklägliche Kaltsinnigkeit dieser letzten und gefährlichen Zeiten/daß [...] das öffentliche Predig[t]-Ampt vor sich allein seinen gewünschten Nachdruck/vielweniger/als zu der Aposteln/und der ersten KirchenZeit erhalten w i r d " . 1 3 8 Deshalb „sol sich [...] ein jedes Haußgesinde absonderlich/als eine kleine Kirche und der grossen Versamlung außgedrückte Abbildung/mit Lesen/ Beten/Lobsingen/Unterrichten/und Vermahnen/bey und neben dem irrdischen Beruff/verhalten und erzeigen". 1 3 9 M i t dem „Hausgesinde" ist bei Undereyck, dem Vermittler puritanischer Literatur nach Deutschland, der Hausvater angesprochen. Hier scheint mir ein deutlicher Unterschied zwischen Theodor Undereyck und seiner „kleinen Kirche" des Hausgesindes und Philipp Jacob Spener und seinem pfarrerzentrierten ecclesiola-Modell zu liegen. 1 4 0 Nimmt man die Sache vom Subsidiaritätsgedanken her in den Blick, so gehört Undereyck hierher, Spener aber nicht. 6. Schleiermacher

Werfen w i r zum Abschluss einen Blick auf Schleiermacher und auf die Beilagen zu seiner „Christlichen Sitte" von 1843. 1 4 1 Der Hausgottesdienst w i r d hier im Kapitel „Hauszucht" behandelt. „Hauszucht" ist für Schleiermacher analog zur Gemeindezucht. 142 Hauszucht setzt „häuslichen Gottesdienst" voraus. 1 4 3 Der Hausgottesdienst ist Teil des christlichen Lebens und dessen Erweiterung. 1 4 4 Zugleich ist das ganze pädagogisch geprägt und auf heranwachsende Kinder bezogen: „Von christlicher Hauszucht kann nur die Rede sein, sofern die Kinder schon 135 Matthias, Collegium pietatis (FN 131), 54. 136 Ebd., 54. 137 Erwin Mülhaupt, Art. Theodor Undereyck, in: 3 RGG 6 (1962), 1121. 138 Theodor Undereyck, Christi Braut/Unter den Töchtern zu Laodicaea, Hanau 1670, hier zit. nach Matthias, Collegium pietatis (FN 131), 54. 139 Zit. ebd., 55. 140 Hingegen meint Matthias, Collegium pietatis (FN 131), 55, bei Undereyck springe „die Ähnlichkeit mit Speners ecclesiola-Modell" ins Auge. 141 Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammengang dargestellt. [Nachdruck der 2. Aufl. Berl i n 1884] Neu hrsg. u. eingel. von Wolfgang Erich Müller, 2 Tie., Waltrop 1999. Die Beilagen i n Bd. 2, S. 1-192 (eigene Paginierung). 142 Ebd., Bd. 2, 114. 143 Ebd., 115. 144 Ebd., 116.

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unvollkommene Glieder der Gemeinde sind, a) Denn sind sie es nicht, so findet nur vorbereitendes Handeln statt, b) Sind sie es men, so ist sie nichts besonderes mehr, sondern fällt in die z u c h t " . 1 4 5 Deshalb hört „die religiöse Hauszucht [...] mit der Mündigkeit" a u f . 1 4 6

noch gar vollkomKirchenreligiösen

I I I . Schluss

I n den christlichen Kirchen der Gegenwart - katholisch wie evangelisch - einer durch Säkularisierung und Entkirchlichung veränderten Gesellschaft gibt es eine Debatte über „die Hauskirche als volkskirchliche Gestalt der Z u k u n f t " . 1 4 7 Im katholischen Raum spricht man vom Modell der Basiskirche. 1 4 8 Vieles in dieser Diskussion erinnert an das, was in protestantischen Kontexten der Frühen Neuzeit - wie bei Luther - konzipiert oder - i n der Familienreligion des Puritanismus - praktiziert wurde. Ein Element fehlt heute, weil es das unter heutigen Bedingungen nicht mehr geben kann: die patriarchalische Figur des Hausvaters. Aber ein auf die Eltern, also Vater und Mutter, ausgeweiteter Rest davon ist noch präsent, wenn etwa die Erteilung von Konfirmandenunterricht durch Eltern vorgeschlagen und realisiert w i r d . 1 4 9 Aber hatte nicht Luther auch schon von Hausvätern und Hausmüttern gesprochen? Wenn es heißt: „Die Hauskirchen sollen dem Allgemeinen Priestertum endlich zum Durchbruch helfen und die Pfarrerzentriertheit überwinden", 1 5 0 so entspricht das zwar nicht Luthers Verständnis vom Allgemeinen Priestertum, doch zeigen sich hier die Strukturen einer subsidiarischen Kirche - oder besser: einer der Not gehorchend subsidiarischen Kirche.

145 Ebd., 114. 146 Ebd., 118. 147 Klaus Eickhoff, Gemeinde entwickeln für die Volkskirche der Zukunft. Anregungen zur Praxis, Göttingen 1992. 148 Hubert Frankemölle (Hrsg.), Kirche von unten. Alternative Gemeinden, München/Mainz 1981; Elmar Klinger/Rolf Zerfaß (Hrsg.), Die Basisgemeinden ein Schritt auf dem Weg zur Kirche des Konzils, Würzburg 1984. Siehe auch Thomas A. Amann, Laien als Träger von Leitungsgewalt? Eine Untersuchung aufgrund des Codex Iuris Canonici, St. Ottilien 1996. 149 Eberhard Winkler, Tore zum Leben. Taufe - Konfirmation - Trauung - Bestattung, Neukirchen-Vluyn 1995, 112-114. 150 Ders., Gemeinde zwischen Volkskirche und Diaspora. Eine Einführung in die praktisch-theologische Kybernetik. Neukirchen-Vluyn 1998, 79.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 25 - 36 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBSIDIARITÄT I N DER KATHOLISCHEN KIRCHE Von Pavel Mikluscâk, Bratislava I. Worum es bei Subsidiarität geht

Der tiefere Sinn der Subsidiarität besteht darin, die Menschen untereinander durch die Bande der Freundschaft zu verknüpfen. 1 Diese anfängliche Feststellung w i l l zum Ausdruck bringen, dass es bei der Subsidiarität i n der Kirche nicht lediglich um eine subtile innertheologische Frage geht, auch nicht nur um kirchliche Strukturfragen, sondern um die Wesensbestimmung der Kirche selbst, weil im Hintergrund letztlich die Frage steht, welcher Respekt der je einmaligen und unvertretbaren menschlichen Person gebührt. 2 Ein solches Verständnis führte Pius XI. i m Jahre 1931 zur expliziten Formulierung des Subsidiaritätsprinzips in der Enzyklika Quadragesimo anno. Der Papst war von der Lage der damaligen staatlichen Gesellschaft motiviert, in der seiner Überzeugung nach kaum wahrgenommen wurde, dass der Mensch selbst durch Freiheit und Vernunft die Richtung seines Lebens bestimmen kann und soll und dass er nur durch solche Selbsttätigkeit und Offenheit die Werte seiner Persönlichkeit entfaltet und sich selbst gewinnt. Wenn das aber gilt, dann kann dem gesellschaftlichen Zusammenschluss nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine subsidiäre Funktion zukommen. Diese besteht darin, dass die Gesellschaft das Recht zur freien Selbstentscheidung und Selbstbestimmung des Menschen schützen und ihm bei seiner Persönlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung als Hilfe und Stütze beistehen soll. In diesem Sinne betonte Pius XI., dass jedwede Gesellschaftstätigkeit ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär ist. 3 Das Subsidiaritätsprinzip betrifft aber nicht nur das Verhältnis von einzelnem Menschen und Gesellschaft, son1 Vgl. W. Kasper, Der Geheimnischarakter hebt den Sozialcharakter nicht auf. Zur Geltung des Subsidiaritätsprinzips i n der Kirche, in: HerKorr 41 (1987) 236. 2 Vgl. W. Kasper, Zum Subsidiaritätsprinzip in der Kirche, in: IKaZ 18 (1989) 156. 3 Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno, Nr. 79: „Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" (zit. nach: Texte zur katholischen Soziallehre, hrsg. vom Bundesverband der katholischen Arbeitnehmerbewegung Deutschlands - KAB, Köln 71979).

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dern auch das Verhältnis von einem untergeordneten Gemeinwesen und der ihm übergeordneten Gesellschaft. Es heißt ja bei Pius XI., dass das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, die weitere und übergeordnete Gemeinschaft nicht in Anspruch nehmen kann ohne Verletzung der Gerechtigkeit. 4 Das eigentliche Anliegen des Subsidiaritätsprinzips bleibt auch in diesem Fall derselbe. Auch in diesem Fall geht es um den einzelnen Menschen und um sein Recht auf freie, selbstverantwortliche Gestaltung seines Lebens, weil das, was die höhere Gemeinschaft an sich zieht, entzieht sie unmittelbar den Gliedgemeinschaften, damit zugleich aber mittelbar auch den physischen Personen, die deren Glieder sind. 5 Das Subsidiaritätsprinzip soll demnach zur Verteidigung des Wertes und der Unantastbarkeit des Menschen und zur Hervorhebung seiner Daseinsverfassung als Person gegenüber der Gesellschaft beitragen. 6 II. „Analoge" Subsidiarität in der Kirche Der Mensch bewahrt und entwickelt seine Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft der Kirche. Deshalb gibt es i m Leben der Kirche ähnlich wie i n der profanen Gesellschaft ein spannungsvolles Verhältnis von Einzelnem und Ganzem, von Eigenständigkeit und Abhängigkeit. Auch in der Kirche besteht eine wechselseitige Bezogenheit von kleineren und diesen übergeordneten Gemeinschaften zueinander. Daraus sollte sich als logische Folgerung nahezu von selbst ergeben, dass das Subsidiaritätsprinzip auch i n der Kirche bei der Regelung komplexer Verhältnisse seine Anwendung finden müsste. Dagegen w i r d jedoch eingewendet, dass es i m Fall der Kirche nicht um eine rein vom Menschen ausgestaltete gesellschaftliche Wirklichkeit geht, sondern um eine Stiftung Gottes. Die Zugehörigkeit zur Kirche w i r d dem Menschen gnadenhaft geschenkt. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. F. Klüber, Katholische Soziallehre und demokratischer Sozialismus, Bonn-Bad Godesberg 1974, 23. 6 Vgl. Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno, Nr. 118: „Nach christlicher Auffassung ist der Mensch mit seiner gesellschaftlichen Anlage von Gott geschaffen, um i n der Gesellschaft und i n Unterordnung unter die gottgesetzte gesellschaftliche Autorität sich zur ganzen Fülle und zum ganzen Reichtum dessen, was Gott an Anlagen i n ihn hineingelegt hat, zur Ehre Gottes zu entfalten und durch treue Erfüllung seines irdischen Lebensberufs sein zeitliches und zugleich ewiges Glück zu wirken." Das Subsidiaritätsprinzip war seinem Inhalt und seiner Zielsetzung nach nicht neu. Neu war jedoch seine explizite Formulierung. Es kann sich nicht um ein rein katholisches Prinzip handeln. So wird zum Beispiel Johannes Althusius zu den Vordenkern des Subsidiaritätsprinzips gezählt (vgl. T. O. Hüglin, Althusius - Vordenker des Subsidiaritätsprinzips, in: A. Riklin, G. Batliner (Hrsg.), Subsidiarität - Ein interdisziplinäres Symposium; Symposium des Lichtenstein-Instituts, 2 3 25. September 1993, Vaduz 1994, 97-118).

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Das bedeutet, dass das Verständnis dafür, was die Kirche ist, nicht von einem wie auch immer gearteten sozialen Gemeinschaftsprinzip oder einer Gesinnungsgemeinschaft erschlossen werden kann. 7 Infolgedessen erscheint die Fragestellung der außerordentlichen Bischofssynode vom Jahre 1985 begründet, ob das Subsidiaritätsprinzip auch im Bereich der Kirche angewandt werden kann und - wenn ja - bis zu welchem Grade und in welchem Sinne seine Anwendung möglich bzw. nötig sei. 8 Die erste offizielle und ausdrückliche Aussage zur Anwendung der Subsidiarität in der katholischen Kirche stammt von Pius X I I . 9 Der Papst betonte jedoch zugleich, dass dies nur ohne Nachteil für die hierarchische Struktur der Kirche möglich ist. Diese Klausel nimmt aber nicht mit einer Hand, was die andere gibt, sondern bringt zum Ausdruck, dass das einseitige Verständnis vom hierarchischen Charakter der Kirche durch die für die Kirche konstitutive sozialethische Perspektive ergänzt werden muss, oder - anders ausgedrückt - dass sich die hierarchische Struktur der Kirche und Subsidiarität miteinander vertragen. 10 Ja, noch mehr, dass das Subsidiaritätsprinzip eine der Grundlagen des gesamten Gebäudes der Kirche darstellt. 1 1 Diese grundlegende Sicht wurde auch auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil bekräftigt. Vor allem i n der dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium" ist die Kirche durch eine ausgewogene Spannungseinheit zwischen der Ecclesia ut societas und Ecclesia ut mysterium beschrieben. 12 Die Kirche ist demnach nicht nur y aber auch als

7 Vgl. R. Schulte, Erneuertes Kirchen- und Priesterverständnis als aktueller Auftrag. Zur Wegweisung der Dogmatischen Konstitution „Lumen gentium" Über die Kirche, in: J. Kremer (Hrsg.), Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils heute, Innsbruck 1993, 79. 8 Zukunft aus der Kraft des Konzils. Die außerordentliche Bischofssynode '85. Die Dokumente mit einem Kommentar von W. Kasper, Freiburg i.Br. 1986, 26. 9 Vgl. Pius XII., Ansprache an die neuernannten Kardinäle am 20.2.1946, in: A. F. Utz, J. F. Groner, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius' XII., Bd. 2, Freiburg i.d. Schw. 1954, 4094; Ansprache am zweiten Weltkongress des Laienapostolates am 5.10.1957, in: ebd. 5987. 10 Vgl. W. Kasper; Der Geheimnischarakter hebt den Sozialcharakter nicht auf, 236; O. von Nell-Breuning: Subsidiarität in der Kirche, in: StZ 111 (1986) 150. 11 Vgl. M. Krebs, Subsidiarität und kirchliches Leben. Das Subsidiaritätsprinzip i n Anwendung an die Kirche nach Pius XII. Excerpta ex dissertatione ad Doctorandum in Facultate Iuris Canonici Pontificiae Universitatis Gregorianae, Rom 1992, 71 u. 81 f. 12 L G 8: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft [societas] und der geheimnisvolle Leib Christi [mysterium], die sichtbare Versammlung [societas] und die geistliche Gemeinschaft [mysterium], die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst." Dieses Ineinander des irdischen und himmlischen Gemeinwesens ist und bleibt ein Geheimnis der menschlichen Geschichte und kann nur im Glauben begriffen werden (vgl. L G 20).

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menschliche Gesellschaft verfasst und geordnet. Sie kann sich ihrer gesellschaftlichen Dimension nicht entziehen und den geschichtlichen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen gar nicht entgehen. Daraus folgt, dass die i n der Gesellschaft geltenden Prinzipien für die Kirche nicht belanglos sind, sodass auch das allgemein gültige sozialpolitische Prinzip der Subsidiarität in der Kirche seine Gültigkeit zu beanspruchen hat. Trotz dieser angeblichen Eindeutigkeit entbrannte i n den achtziger Jahren anlässlich der bereits erwähnten außerordentlichen Bischofssynode 1985 eine theologische Diskussion über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in der Kirche. 1 3 Die Argumentation gegen die Subsidiarität i n der Kirche stützte sich jedoch oft auf eine verengte Vorstellung von der Subsidiarität. Es konnte geklärt werden, dass es beim Subsidiaritätsprinzip nicht lediglich um den Aufbau der Gemeinschaft von dem individualistisch verstandenen Einzelnen her geht. Das Subsidiaritätsprinzip vertritt vielmehr einen Standpunkt, nach dem der Einzelne weder vor noch über die Gemeinschaft gestellt, sondern in der Gemeinschaft eingeordnet w i r d . 1 4 Weiter wurde geklärt, dass die wesentlichen, in der profanen Gesellschaft geltenden Prinzipien i n der Kirche in spezifischer bzw. analoger Weise Geltung haben. 15 Die Analogie bei der Übertragung der allgemein gültigen sozialpolitischen Prinzipien auf die Kirche heißt, dass es nur in Entsprechung zu der der Kirche eigenen Wesensstruktur geschehen soll. Dabei ist nicht das weltliche Recht Maßstab für die Kirche, vielmehr ist die Wesensstruktur der Kirche Maßstab für die rechte Anwendung weltlicher Ordnungen und Institutionen i n der Kirche. Das bedeutet nicht, dass das mit dem Subsidiaritätsprinzip sachlich Gemeinte i n der Kirche weniger als in der profanen Gesellschaft gilt. Eher umgekehrt, es muss i n der Kirche vielmehr in ganz besonderer und geradezu exemplarischer Weise verwirklicht werden. 1 6 Der bei der Diskussion maßgeblich beteiligte Walter Kasper meinte letztendlich dazu, dass bei der Frage um die Geltung und um die Reichweite des sachlichen Anliegens des Subsidiaritätsprinzips i n der Kirche eine einseitig supernaturalistische Sicht der Kirche zur Debatte steht. Wenn diese nicht ergänzt würde, käme es zu einem religiösen Totalitarismus

!3 Vgl. die Zusammenfassung dieser Diskussion bei P. Mikluscâk, Einheit in Freiheit. Subsidiarität in der Kirche als Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils, Würzburg 1985, 40-50. 14 Vgl. J. A. Komonchak, Le principe de subsidiarité et sa pertinence ecclésiologique, in: H. Legrand, J. Manzanares, A. Garcia y Garcia, Les conférences épiscopales. Théologie, statut canonique, venir, Paris 1988, 440. is Vgl. W. Kasper, Der Geheimnischarakter hebt den Sozialcharakter nicht auf, 235. 16 Vgl. W. Kasper, Zum Subsidiaritätsprinzip in der Kirche, 157 f.

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und zu einer Neuauflage des durch das Zweite Vatikanische Konzil grundsätzlich überwundenen Integralismus und Klerikalismus. 1 7 Es ist deutlich, dass es bei Subsidiarität i n der katholischen Kirche nicht um eine Vorordnung des Menschen vor die Kirche geht, sondern um die Würde und Freiheit des Menschen in der kirchlichen Gemeinschaft, um das Gültigmachen der daraus erfolgenden Rechte gegenüber denen, die i n der Kirche Träger der Autorität sind, und nicht zuletzt um die Gestaltung des Verhältnisses zwischen der Gesamtkirche und den Teilkirchen. III. Subsidiarität als Garant der Freiheit in der Kirche Die Würde und Freiheit des Menschen stützt sich nach der christlichen gläubigen Überzeugung darauf, dass der einzelne Mensch von Gott als freier Partner angesehen wird. Deshalb muss er als unvertretbar einmalig, frei und verantwortungsbewusst in der Kirche anerkannt werden, die somit als Raum der „Freiheit der Kinder Gottes" (Rom 8,21) zu sein gilt. Auch eine andere Sicht ist hier aufschlussreich. Die Zugehörigkeit zur Kirche bedeutet, dass der Mensch ein lebendiges Glied des geheimnisvollen Leibes Christi ist. Demnach soll die Kirche vordergründig als Erfahrungsraum erlebt werden, in dem die Autorität des Heils, Jesus Christus, zu bezeugen und zu erfahren ist. Unter diesem Aspekt müssen die Institution Kirche und die formal legitimierte kirchliche Autorität relativiert und geschätzt werden. Die kirchliche Gemeinschaft bietet dem einzelnen Christen und Christinnen Halt und Hilfe, die aber nicht an die Stelle der freien Entscheidung treten und die Individualität des Gläubigen löschen dürfen. Wenn diese allgemeinen theologischen Ausführungen stimmen, müssen sie sich konkret im alltäglichen Leben der Christen und Christinnen in den kirchlichen Gemeinschaften widerspiegeln. Es geht demnach um die Freiheit in der Kirche, die sicher nichts mit Willkür oder religiösem Indiferentismus zu tun hat, sondern dass die Beziehungen der Kirchenglieder untereinander und zu den kirchlichen Autoritäten nur nach Grundsätzen und Methoden geregelt werden können, die ihrer Würde als Person entsprechen. Zu diesen Grundsätzen zählt gerade die Subsidiarität. 1. Gewissensfreiheit als möglicher Fall für die Subsidiarität

Die Subsidiarität zeigt sich als wichtiger Maßstab i m Zusammenhang mit dem Anspruch auf Gewissensfreiheit, der auch gegenüber der kirch17 Vgl. ebd. 160.

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liehen Obrigkeit gilt. Das Gewissen kann als Inbegriff der sittlichen Kompetenzfähigkeit der Person, als jene zentrale Instanz verstanden werden, die über die Kontinuität der eigenen Lebensgeschichte, der Treue zur eigenen Lebensentscheidung und über die eigene Identität und Reifung wacht. 1 8 Die Anerkennung der Autorität des Gewissens heißt aber nicht die Vertuschung der Möglichkeit, dass das Gewissen irren, dass dieses Richtmaß selbst aus der Richtung geraten kann. Die Kirche bietet deshalb ihren Gliedern i n der Gewissensbildung und bei Gewissensentscheidungen Halt, Unterstützung, Hilfe und Orientierung, die aber im Sinne der Subsidiarität nicht an die Stelle der freien Entscheidung treten soll. Die Unterweisung in der Kirche ist jedoch für den einzelnen Christen und Christinnen mehr als nur unverbindliche Orientierungshilfe. Sie soll den einzelnen Christen und Christinnen, der in die Kirche eingebunden ist, dazu befähigen, das eigene Handeln am Anspruch einer glaubwürdigen Lebenspraxis der Kirche auszurichten, doch darf sie nicht seine eigene Gewissensorientierung ersetzen, sondern soll diese ermöglichen, indem sie ihm die Implikationen seiner ursprünglichen Glaubensentscheidung und seiner Zugehörigkeit zur Kirche bewusst macht. 1 9 Man kann deshalb nicht vom Glaubensvollzug der Christen und Christinnen als isolierter einzelner Individuen sprechen. Die christliche Glaubensgemeinschaft besteht im Miteinander geteilten Glaubens und darin, dass die Christen und Christinnen sich auf den gemeinsamen Weg des Glaubens und des Vertrauens auf Gott einlassen. Weil der Christ ein Glied der kirchlichen Gemeinschaft ist, geht er auf deren geschichtlichem Weg des Glaubens seinen eigenen Lebensweg mit und trägt mit seinem Mitgehen zum Zeugnis für das Evangelium bei. Sogar auch so, dass das, was heute heterodox erscheint und von der kirchlichen Autorität zurückgewiesen wird, in der Zukunft als ein Stück authentischen Glaubenszeugnisses erkannt werden kann. 2 0 Die Individualität des Christen w i r d durch seine Einbindung in die kirchliche Gemeinschaft nicht gelöscht !8 Vgl. J. Ratzinger, Kommentar zu „Gaudium et spes", in: LThK 2 , Erg.-Bd. 3, 328 f.: „Über dem Papst als Ausdruck für den bindenden Anspruch der kirchlichen Autorität steht noch das eigene Gewissen, dem zuallererst zu gehorchen ist, notfalls auch gegen die Forderung der kirchlichen Autorität. M i t dieser Herausarbeitung des Einzelnen, der im Gewissen vor einer höchsten und letzten Instanz steht, die dem Anspruch der äußeren Gemeinschaften, auch der amtlichen Kirche, letztlich entzogen ist, ist zugleich das Gegenprinzip zum heraufziehenden Totalitarismus gesetzt und der wahrhaft kirchliche Gehorsam vom totalitären Anspruch abgehoben, der eine solche Letztverbindlichkeit, die seinem Machtwillen entgegensteht, nicht akzeptieren kann." 19 Vgl. E. Schockenhoff, Das umstrittene Gewissen. Eine theologische Grundlegung, Mainz 1990, 141. 20 Vgl. M. Seckler, Theologie als Glaubenswissenschaft, in: W. Kern, H. J. Pottmeyer, M. Seckler (Hrsg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 4, Freiburg/ Basel/Wien 1988, 225.

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und seine Freiheit w i r d auch bei Anerkennung der kirchlichen Autorität realisiert. Wenn das gelingt, dann kommt die Subsidiarität im Verhältnis von einzelnem Christen und von einzelner Christin und kirchlicher Gemeinschaft mehr und vollkommener als i n der profanen Gesellschaft zur Auswirkung. 2. Glaubensfreiheit als konkrete Anwendung der Subsidiarität

Einbindung in die Kirche heißt ferner in konkreten Umständen auch gehorsame Unterordnung der kirchlichen Hierarchie gegenüber, weil ihr von Jesus Christus die Lehre der Kirche anvertraut und die verbindliche Verkündigung aufgetragen i s t . 2 1 Das hierarchische Prinzip verlangt, dass im Konfliktfall i n Glaubensfragen jeweils die höhere Ebene zuständig ist. Das steht aber nicht im Widerspruch zum Prinzip der Subsidiarität, sondern bestimmt i n diesem Fall die Verschiebung der Kompetenz nach oben. Andererseits w i r d gerade angesichts dieser den religiösen Gehorsam fordernden Aussagen das Subsidiaritätsprinzip in der Kirche als Verteidigung gegen überzogene Gehorsamsansprüche seitens der Träger der kirchlichen Autorität aktuell. Wenn es dem Einzelnen trotz ehrlicher Überprüfung und nachdem er sich in selbstkritischer Überlegung und aufrichtigem Gebet Gewissheit verschafft hat, unmöglich erscheint, die Entscheidung kirchlicher Autorität gehorsam anzunehmen, kann und darf er nichts anderes tun, als seinem eigenen Gewissensurteil zu folgen. Gerade und besonders hinsichtlich der lehrenden Autorität der Hierarchie und der unbedingten Freiheit des Glaubens ist die Verträglichkeit und die gegenseitige Ergänzung von hierarchischem und subsidiären Prinzip gefragt. Die Glaubensfreiheit beinhaltet bereits das Subsidiaritätsprinzip, führt zur Freiheit i n der Kirche, die wiederum auch mit dem Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip untermauert wird, und hebt den durch das hierarchische Prinzip begründeten Gehorsamsanspruch nicht auf. 2 2 Eine Zusammenfassung dieser Sich bietet der Text der Erklärung über die Religionsfreiheit, der auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil abgestimmt wurde, wonach sich das Konzil für die Mündigkeit der Menschen aussprach, „die der sittlichen Ordnung gemäß der gesetzlichen Autorität gehorchen und zugleich Liebhaber der echten Freiheit sind; Menschen, die die Dinge nach eigener Entscheidung i m Licht der Wahrheit beurtei21 Vgl. die Formulierungen der Konzilsdokumente wie L G 8, 20, 21, 25; SC 7; PO 12. 22 Das Subsidiaritätsprinzip kann zum Beispiel zur Begrenzung autoritativer Entscheidungen und zur größeren Vorsicht bei kirchenamtlichen Formulierungen führen. Ein konkretes Beispiel dafür lieferte selbst das Zweite Vatikanische Konzil, das auf die anathema-Formulierungen gänzlich verzichtete.

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len, ihr Handeln verantwortungsbewusst ausrichten und bemüht sind, was immer wahr und gerecht ist, zu erstreben, wobei sie zum gemeinsamen Handeln sich gern mit anderen zusammenschließen" (DH 8). Diese Aussage fasst eigentlich auch das Ziel und die Wirkung der Subsidiarität zusammen, die die Mündigkeit der Menschen fordert und fördert. Konkrete Anwendung der Subsidiarität führt auch i n der Kirche zur Mündigkeit der Christen und Christinnen, zu ihrer freien, selbständigen, verantwortungsbewussten Betätigung sowohl innerhalb der Kirche als auch in der Welt. 2 3

IV. Subsidiarität als Garant des Gleichgewichts Wie eingangs gesagt gestaltet das Subsidiaritätsprinzip auf der zweiten Ebene das Verhältnis zwischen den untergeordneten Gemeinschaften und der ihnen übergeordneten Gesellschaft mit. I n der katholischen Kirche handelt es sich um das gegenseitige Verhältnis von Gesamtkirche und den Teilkirchen. Die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils beschreibt dieses Verhältnis mit dem Schlüsselsatz; „ I n ihnen und aus ihnen [den Teilkirchen, A.d.V.] besteht die eine und einzige katholische Kirche" (LG 23). 24 Das „ i n ihnen" bedeutet, dass die Teilkirche nicht nur ein Teil der Universalkirche ist und somit auch nicht Verwaltungsstelle eines großen Apparates. Die Teilkirche ist konkreter Ort, wo die Gesamtkirche realisiert und greifbar wird. So ist jede Teilkirche eigenständig und selbstständig. Das „aus ihnen" sagt weiter aus, dass die Einfügung der Teilkirche in die Gesamtkirche wesensnotwendig bleibt. Beide, das „ i n ihnen" und „aus ihnen", dürfen nicht voneinander getrennt und gegeneinander ausgespielt werden, sonst käme es entweder zum übersteigerten römischen Zentralismus oder zu partikularistischen Tendenzen der Teilkirchen. Die konkrete Gestalt des kirchlichen Lebens in der je einmaligen geschichtlichen Situation ist somit aber nicht von vorneherein klar. Das Subsidiaritätsprinzip ist der Weg, wie das Gleichgewicht konkret und 23 Vgl. Pius XII., Ansprache an das Kardinalskollegium und den Episkopat am 2.11.1954 anlässlich der feierlichen Verkündigung des Festes „Maria Königin", in: A. F. Utz, J. F. Groner, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Bd. III, 4319. 24 Vgl. weiter LG 26: „Diese Kirche Christi ist wahrhaft i n allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend, die i n der Verbundenheit mit ihren Hirten im Neuen Testament auch selbst Kirchen heißen. Sie sind nämlich je an ihrem Ort, im Heiligen Geist und mit großer Zuversicht, das von Gott gerufene neue Volk. In ihnen werden durch die Verkündigung der Frohbotschaft Christi die Gläubigen versammelt, i n ihnen w i r d das Mysterium des Herrenmahls begangen ..."

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sachgerecht zu erreichen wäre, ähnlich wie es sich in der profanen Gesellschaft als aufschluss- und hilfreich erwiesen hat. Man muss aber wiederum betonen, dass eine direkte Übertragung der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips von der profanen Gesellschaft auf die Kirche nicht erlaubt ist. Die Gesamtkirche ist nicht lediglich ein gesellschaftliches Gebilde, das viele Teilkirchen in sich lediglich äußerlich einen würde und ihnen rein äußerlich übergeordnet wäre. Die Gesamtkirche ist in der Teilkirche immanent schon anwesend. Man kann der Gesamtkirche deshalb nicht eine lediglich subsidiäre Funktion im Sinne des Ersatzes bzw. der Aushilfe in Bezug auf die Teilkirchen zuweisen. Subsidiarität heißt aber im letzten nicht rein äußerliche Hilfe oder Ersatz durch Eingreifen der höheren Instanz. Es geht bei ihr vielmehr um eine Gesamtverantwortung für das Ganze und diese Verantwortung muss so ausgeübt werden, dass dabei die Rechte und Freiheit der Einzelnen gewahrt werden. Nach dem Subsidiaritätsprinzip soll sich die Teilkirche selbständig entwickeln, wobei sie auf das Gemeinwohl der Gesamtkirche achten muss, ja noch mehr, sie trägt gerade dann zum Reichtum der Gesamtkirche bei, wenn sie eigene Traditionen pflegt und entwickelt. Von diesem Verständnis her muss man zu der Schlussfolgerung kommen, dass das Subsidiaritätsprinzip durchaus die Immanenz der Universalkirche i n jeder Partikularkirche voll und ganz wahren kann. Ja noch mehr, das perichoretische Verhältnis von Gesamtkirche und Teilkirchen erhält einen konkreten Inhalt, wenn es als überbietende Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips verstanden w i r d . 2 5 Die Lehre von der einen Kirche als der Gemeinschaft der Kirchen findet ihre unmittelbare Fortsetzung in der Lehre vom kollegialen Charakter des Amtes in der Kirche, besonders von der Kollegialität aller Bischöfe untereinander. Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips findet hier somit ihre logische Fortsetzung. Als eine Konsequenz der Einsicht, dass die Teilkirche nicht lediglich eine Verwaltungsstelle der Gesamtkirche ist, sondern die Gesamtkirche darstellt und sie in sich trägt, ergibt sich, dass der Vorsteher der Teilkirche mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet werden muss, um die Leitung der relativ selbständigen und eigenständigen Teilkirche angemessen ausüben zu können. Deshalb sind die Bischöfe eigenständig und selbständig, jedoch zugleich in das Bischofskollegium eingebunden. Diese Einbindung bedeutet nicht lediglich in negativer Hinsicht eine gewisse Begrenzung ihrer Vollmacht, sondern verweist positiv darauf, dass jeder Bischof zur Sorge für die Gesamtkirche verpflichtet ist. Hieran w i r d deutlich, dass die Subsidiarität eine der Grundlagen der Kollegialität ist. Beide sind gleich strukturiert: Sie ver25

235 f.

Vgl. W. Kasper, Der Geheimnischarakter hebt den Sozialcharakter nicht auf,

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langen Eigenständigkeit zur Förderung des Eigencharakters unter gleichzeitiger Einbindung in das Gemeinsame und gegenseitige Ergänzung, Bereicherung und Hilfe i n gleichzeitiger Verantwortung für das Ganze. Die Subsidiarität eröffnet auf diese Weise den Zugang zum Verständnis des kollegialen Charakters des Amtes i n der Kirche. Das Subsidiaritätsprinzip erschließt ähnlich die Sonderstellung des Petrusamtes i n der Gesamtkirche und i m Bischofskollegium. Die eigentlichste Aufgabe des Papstes ist es, die Einheit der vielen Teilkirchen i n der einen Gesamtkirche zu repräsentieren und die Verschiedenheit zu schützen. 2 6 Da der Papst für die Einheit des Bischofskollegiums 27 und die Einheit aller Gläubigen 2 8 zuständig ist, ist ihm auch von der Natur der Sache her eine besondere Stellung und Vollmacht innerhalb der Kirche und ihrer hierarchischen Struktur gegeben. Er muss durch Jurisdiktionsprimat und seine potestas immediata in jeder kirchlichen Gemeinschaft der communio der Kirche wegen präsent sein und kann nicht nur ausnahmsweise oder aushilfsweise intervenieren. Nur so können notwendige, die ganze Gemeinschaft betreffende Entscheidungen von ihm getroffen werden. Die Anerkennung des einheitsstiftenden Petrusamtes und seiner konstitutiven Wichtigkeit für die Teilkirchen wird durch die Subsidiarität nicht i n Frage gestellt. Das Subsidiaritätsprinzip rechnet auch mit der Machtvollkommenheit im Hinblick auf das Gemeinwohl. 29 Man kann aber auch umgekehrt die Folgerung ziehen, dass der Papst verpflichtet ist, im Sinne des Subsidiaritätsprinzips zu handeln, weil es ihn in die Lage versetzt als Haupt und Repräsentant der Gesamtkirche zu handeln. Die verpflichtende Grundausrichtung gemäß dem Subsidiaritätsprinzip heißt dann: „Soviel Eigenleben der Teilkirche wie möglich, soviel Eingriff der päpstlichen Zentralgewalt in die Teilkirche wie im Dienste der Einheit der Kirche und des allgemeinen Wohles nötig i s t . " 3 0 Dann wird die Bezeichnung des Papstes als des Vorstehers der Liebesgemeinschaft (vgl. L G 13; AG 22) wahrhaftig, weil er im wahrsten Sinn des Wortes servus servorum Dei sein wird, der deshalb Petrus ist (vgl. Mt 16,18), weil er den Auftrag erhielt: „Stärke Deine Brüder!" (Lk 22,32). Die Führungsrolle des Papstes bestünde dann im Sinne der Subsidiarität im gelegentlichen Eingreifen, wenn die Glaubenseinheit und Glaubensreinheit i n Gefahr gerät oder es zu einer Krise in der Kirchenordnung kommt. 26 Vgl. Dogmatische Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche „Lumen Gentium" Nr. 13. 27 Vgl. ebd. Nr. 18. 28 Vgl. ebd. Nr. 23. 29 Vgl. O. von Nell-Breuning, Subsidiarität i n der Kirche, 155 f. 30 Vgl. M. Kaiser, Das Prinzip der Subsidiarität in der Verfassung der Kirche, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 133 (1964) 9.

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Der Papst übt dann eine subsidiäre Funktion aus, die aktuell wird, wenn die Tätigkeit der anderen kirchlichen Organe nicht ausreicht. 31 Die Subsidiarität in der katholischen Kirche w i r k t sich weiterhin in Richtung der gestuften Realisierung der kollegialen kirchlichen Gewalt in der Form von Bischofskonferenzen und Bischofssynoden, vom Metropolitan- und Patriarchatssystem aus. Das Subsidiaritätsprinzip begünstigt dabei eine Kompetenzverteilung, die den jeweils niedrigeren Instanzen den Vorzug gibt und die dennoch die jeweils höhere Instanz mit einschließt. Freilich, bei der Kompetenzverteilung i n der Kirche müssen die sachlich administrativen Argumente zusammen mit den theologischen Argumenten zur Begründung dafür herangezogen werden, warum die höhere Instanz das Recht hat, eine Entscheidung an sich zu ziehen. Sowohl aus theologischen als auch aus soziologischen Gründen liegt die Rechts Vermutung zunächst bei niedrigeren Instanzen, dass sie die Fähigkeit besitzen, i n Selbstverantwortung ihre Angelegenheit zu regeln. 32 Dezentrale, personnähere Lösungen sind gegenüber zentralisierenden und damit fast notwendigerweise stärker anonymisierenden Verfahren und Lösungen vorzuziehen. Das Subsidiaritätsprinzip reicht nicht aus, um Fragen der Ökumene zu lösen. Solange nicht klar ist, wie die geeinte Kirche aussehen wird, solange ist auch das Subsidiaritätsprinzip i n seiner Konkretisierungsaufgabe behindert, wenn nicht paralysiert. Jedoch kann und soll es als richtungsweisend und gültig mitbedacht werden, wenn es um die Umschreibung der künftigen Gestalt der geeinten Kirche geht. Konkretes Beispiel bietet die Überlegung zur künftigen Gestalt des Jurisdiktionsprimates des Papstes, die ganz i m Sinne der Subsidiarität wäre: Alle Teilkirchen erkennen Sinn und Recht des Petrusdienstes des römischen Papstes als konkreten Garanten der Einheit der Kirche i n Wahrheit und Liebe an. Der Papst seinerseits verpflichtet sich ausdrücklich, die damit vereinbarte Eigenständigkeit der Kirchen anzuerkennen und zu respektieren, und erklärt, dass er von seiner obersten Lehrautorität in einer Weise Gebrauch machen werde, die juristisch oder sachlich einem allgemeinen Konzil der ganzen Kirche entspricht. 3 3

31 Diese Sicht wurde auf dem weiten Vatikanischen Konzil im Dekret über Ökumenismus „Unitatis redintegratio" Nr. 14 präsentiert. 32 Vgl. W. Kerber, Die Geltung des Subsidiaritätsprinzips i n der Kirche, in: StZ 109 (1984) 671 f. 33 Vgl. H. Fries, Κ Rahner, Einigung der Kirchen - reale Möglichkeit. Mit einer Bilanz „Zustimmung und K r i t i k " von Heinrich Fries, Freiburg/Basel/Wien 3 1987, 18 und 85.

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V. „Nichts" ohne Subsidiarität Die Subsidiarität i n der katholischen Kirche stellt also den verbindlichen Maßstab für die Gestaltung der innerkirchlichen Beziehungen dar und ist einer der Baugesetze der kirchlichen Struktur. Das andere Baugesetz stellt das hierarchische Prinzip dar, das eine analoge bzw. originäre, der Kirche eigene Anwendung der Subsidiarität i n der Kirche begründet. Deshalb kann man nicht erwarten, dass das Subsidiaritätsprinzip alleine alles lösen könnte oder dass durch dieses Prinzip alles einfach und einsehbar wird. Man muss immer auch theologische Gesichtspunkte heranziehen. Doch liefert die Subsidiarität als ein formales, kritisches und heuristisches Prinzip Kriterien und stellt Fragen, ohne die man bei der Orientierung i n den immer komplexer werdenden Verhältnissen nicht mehr auskommen kann.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 37 - 58 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBSIDIARITÄT I N DER REFORMIERTEN KONFESSIONSKULTUR Von Jan Röhls, München Im „Evangelischen Staatslexikon" erklärt Roman Herzog kurz und bündig: „Seiner Entstehungsgeschichte nach ist das Subsidiaritätsprinzip eindeutig katholischer Herkunft" 1 . Er denkt dabei vor allem an die Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno", in der Pius XI. 1931 das Subsidiaritätsprinzip als neben dem Solidaritätsprinzip grundlegendes Prinzip der katholischen Soziallehre formulierte. Der entsprechende Passus der Enzyklika lautet: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaft zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft i n Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" 2 . Im Anschluss an Gustav Gundlach fordert die Enzyklika eine subsidiäre Struktur der Gesellschaft, in der zwischen der einzelnen Person und dem Staat Zwischenglieder mit eigener Verantwortung und eigenem Aufgabenbereich eingeschaltet sind. Das Subsidiaritätsprinzip ist auf dem Hintergrund der Zwischenkriegszeit zu verstehen, insofern es sich gegen eine auf alle Lebensbereiche übergreifende Zuständigkeit und Aktivität des Staates wendet und stattdessen die Selbständigkeit der gesellschaftlichen Zwischeninstanzen herausstellt. Es bezieht sich aber nicht nur auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, sondern hat generelle Bedeutung für die gesellschaftliche Ordnung im Ganzen. In der Gesellschaft und in den Teilsystemen der Gesellschaft soll die Eigenständigkeit der kleineren gegenüber den größeren sozialen Einheiten gewahrt werden. Nur für den Fall, dass Aufgaben durch eine kleinere soziale Einheit nicht gelöst werden können, soll die größere Einheit unterstützend eingreifen, um durch solche Hilfeleistung, ein sub1 R. Herzog, Art. Subsidiaritätsprinzip, in: Evangelisches Staatslexikon, ed. R. Herzog u.a., Bd. 2, 3. neu bearbeitete Aufl., Stuttgart 1987, 3570. 2 Quadragesimo Anno Nr. 79.

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sidium, die Funktionsfähigkeit der kleineren Einheit zu restituieren. In seiner Enzyklika „Centesimus annus" von 1991 hat Papst Johannes Paul II. die Autonomie der kleineren sozialen Einheiten gegenüber den größeren noch einmal nachdrücklich betont. Wenngleich das Subsidiaritätsprinzip in der Form, wie es in der Enzyklika von 1931 formuliert wird, eindeutig katholischen Charakter trägt es ist auf dem Boden der neuthomistischen Konzeption von Person und Gesellschaft formuliert - , lässt es sich, sieht man einmal von dieser spezifischen Form ab, nicht als genuin katholisch charakterisieren. Denn seine grundsätzliche Funktion, die Eigenständigkeit und Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen zu fördern, w i r d schließlich von allen Gesellschaftsmodellen anerkannt, die sich gegen einen Etatismus und Kollektivismus wenden. In diesem Sinne hat der Subsidiaritätsgedanke schließlich auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und i n den Maastrichter Verträgen der Europäischen Union seinen Platz gefunden. Ich werde mich i m Folgenden mit der Frage befassen, welche Rolle der Gedanke der Subsidiarität in der reformiert geprägten Kultur spielt. Dabei werde ich mich dabei auf vier Themenbereiche konzentrieren. Zunächst werde ich das Verhältnis von staatlicher Souveränität und Subsidiarität behandeln. Zweitens werde ich mich dem Verhältnis von Staat und Kirche widmen, um dann drittens zur Subsidiarität i n der Kirche überzugehen. Schließlich werde ich mich viertens der Diakonie als einem Spezialfall von Subsidiarität im Spannungsfeld von Kirche und Staat zuwenden. I. Souveränität und Ständestaat I n seinen 1899 im amerikanischen Princeton gehaltenen Vorlesungen über den Calvinismus erklärt der damalige niederländische Premierminister Abraham Kuyper: „das Recht der Bürgerschaft über ihren eigenen Beutel muss der Machtüberschreitung der Obrigkeit entgegentreten. Hier liegt also der Ausgangspunkt für das Zusammenwirken der Souveränität der Obrigkeit mit der Souveränität i n den gesellschaftlichen Kreisen, das in der Konstitution seine Regelung findet. Nach der Lage der Dinge in seiner Zeit wurde daraus für Calvin die Lehre von den ,magistratus inferiores'. Ritterstand, Städterecht, Zunftrecht und soviel mehr führte damals noch zum Auftreten sozialer , Staaten' mit eigner Regierung, und aus dem Zusammenwirken dieser mit der hohen Obrigkeit ließ er die Gesetzgebung entstehen und durch diese dem Missbrauch der Macht der Obrigkeit widerstehen" 3 . Kuyper verweist zwar auf die gesellschaftli-

3 A. Kuyper; Reformation wider Revolution, Groß Lichterfelde 1904, 89.

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chen Veränderungen, die seit Calvins Zeiten stattgefunden haben, auf die Beseitigung der Korporationen, Zünfte und Stände, an deren Stelle eine allgemeine parlamentarische Repräsentation getreten sei, die die Volksrechte und -freiheiten gegenüber der staatlichen Obrigkeit geltend mache. Aber darin lebe nur der alte calvinistische Gedanke fort, dem Volk i n all seinen Rängen und Ständen, Korporationen und selbständigen Instituten in demokratischem Sinn gesetzlich geregelten Einfluss auf die Gesetzgebung zu gewähren. Kuyper sieht i m Calvinismus ein Bollwerk gegen den Absolutismus und einen Streiter für die Rechte und Freiheiten der bürgerlichen Gesellschaft. Der staatlichen Souveränität stellt er die Souveränität in den verschiedenen Kreisen des Volkslebens gegenüber, die weder ihre Existenz noch ihr Lebensgesetz dem Staat verdanken. Diesen Kreisen oder Sphären als den organischen Teilen der Gesellschaft eignet also eine Selbständigkeit, die der Staat respektieren muss. Gemeint sind die personale, die korporative, die häusliche und die gemeindliche Sphäre, deren Autonomie nicht angetastet werden darf. Denn der Staat darf keine Wucherpflanze sein, die alles Leben aufsaugt. Allerdings heißt das umgekehrt nicht, dass der staatlichen Obrigkeit jedes Recht der Einmischung in diese autonomen Lebenssphären abgeht. „Sie hat und behält den dreifachen Beruf: 1. bei Konflikten zwischen Kreis und Kreis da wie dort Achtung vor den beidseitigen Grenzen zu erzwingen; 2. einzelne Individuen und das Schwache i n diesen Kreisen gegen den Missbrauch der Übermacht zu schützen, und 3. alle zusammen zu zwingen, die persönlichen und geldlichen Lasten zu tragen zur Instandhaltung der natürlichen Einheit im Staat" 4 . Die dabei entstehenden Konflikte werden nicht einseitig von der staatlichen Obrigkeit, sondern im Zusammenwirken mit der parlamentarischen Repräsentation gelöst, die ihre Wurzeln i n den magistratus inferiores hat. M i r geht es nicht um eine Überprüfung des Wahrheitsgehalts der historischen Konstruktion von Verbindungen, die der damalige niederländische Premierminister und überzeugte Calvinist Kuyper zwischen dem Calvinismus und den Errungenschaften der Moderne herstellt, sondern allein darum, dass er die alte calvinistische Auffassung von der Selbständigkeit der magistratus inferiores gegenüber der staatlichen Obrigkeit i n Beziehung setzt zum Subsidiaritätsgedanken. Tatsächlich betrachtet Calvin ja die Stände als eine Instanz, die mit eigenen Rechten auch gegenüber der obersten Gewalt ausgestattet ist. Er kommt auf diese Rechte und Pflichten im Zusammenhang seiner Diskussion des Widerstands gegen tyrannische Herrscher zu sprechen. Bekanntlich lehnt er ein Widerstandsrecht von Privatpersonen gegen eine tyrannische Obrigkeit ab. Gegenüber Tyrannen gibt es außer der Privatpersonen allein möglichen 4 Ebd.

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Duldung nur drei Möglichkeiten. Entweder Gott selbst beruft öffentliche Retter, wie es Mose oder die großen Richter waren. Da sie rechtmäßig von Gott berufen sind, verletzen sie in keiner Weise die Majestät, die den Königen von Gott verliehen ist, wenn sie gegen sie vorgehen. Oder die Prinzen von Geblüt - Calvin denkt an die damalige französische Situation - können i m Einvernehmen mit den Ständen gegen den Monarchen vorgehen. Oder aber - und dies ist der für uns relevante Fall - diese Aufgabe w i r d von populäres wahrgenommen. Calvin hatte dabei die Ephoren vor Augen, die den spartanischen Königen, oder die Volkstribunen, die den römischen Konsuln gegenübergestellt waren. Und diese Gewalt besitzen - so Calvin - vielleicht auch die drei Stände in den einzelnen Königreichen, wenn die ihre wichtigsten Versammlungen halten. Wo das also so ist, da w i l l er diesen Männern nicht verbieten, der wilden Ungebundenheit der Könige pflichtgemäß entgegenzutreten, vielmehr behauptet er: wenn sie Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, nicht entgegentreten, so ist solch ein Verhalten treulos, denn sie verraten die Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie durch Gottes Anordnung eingesetzt sind 5 . Calvin räumt also den Ständen ein Widerstandsrecht und eine Widerstandspflicht ein, wenn in der Monarchie der Herrscher zum Tyrannen entartet. Wie der Monarch selbst sind auch die Stände von Gott eingesetzt, und ihre Aufgabe besteht darin, die Freiheit des Volkes zu schützen. Sie haben also eine eigene Aufgabe und sind mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattet. Calvins Ausführungen bilden den Ausgangspunkt für eine Reihe von Traktaten zum Widerstandsrecht, die nach der Pariser Bartholomäusnacht entstanden und die auf Publikationen von Gnesiolutheanern zum selben Thema zurückgreifen konnten, die während des Interim in Magdeburg erschienen waren. Denn auch i n Magdeburg stellte man sich angesichts der zwangsweisen Durchsetzung des die Protestanten benachteiligenden kaiserlichen Interim die Frage, was die Pflicht der Untertanen gegen die in Tyrannei gefallene rechtmäßige höchste Obrigkeit sei. Und auch hier w i r d unterschieden zwischen den an öffentlichen Angelegenheiten nicht beteiligten bloßen Privatpersonen, der niederen Obrigkeit, und derjenigen, die zwar nicht die oberste Verwaltung innehat, der aber die Pflicht übertragen ist, die höchste Obrigkeit zu überwachen und einzuschränken. Es w i r d also unterschieden zwischen der höchsten Obrigkeit, der höheren Obrigkeit und der niederen Obrigkeit 6 . M i t der höheren Obrigkeit sind die Stände des Reichs gemeint, aber wenn die Stände versagen, können sich die Untertanen an die zwischen ihnen und 5 J. Calvin, Institutio christianae religionis, IV, 20, 31. 6 G. von Polenz, Geschichte des französischen Calvinismus, Bd. 3, Gotha 1860, Neudruck Aalen 1964, 95.

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der höchsten Obrigkeit stehenden Obrigkeiten, ad intermedios Magistratus, wenden, deren Aufgabe es unterem anderem sei, die Ständeversammlung einzuberufen 7 . In seiner 1574 anonym erschienenen Schrift „De iure magistratuum" greift Theodor Beza diese Argumentation auf. Denn im Falle der Entartung eines Herrschers zum Tyrannen, hält er nicht nur die Stände, sondern auch die niedere Obrigkeit für zum Widerstand verpflichtet 8 . Die Stände teilen sich mit der höchsten Obrigkeit, dem summus magistratus, die Herrschaftsgewalt, fungieren aber zugleich als Kontrollinstanz. Die niedere Obrigkeit, die inferiores magistratus, setzen sich hingegen zusammen aus den dem Königreich Dienenden, den regni ministri, die im Falle eines Versagens der Stände das Recht und die Pflicht zum Widerstand haben. Es ist für die monarchomachische Literatur insgesamt charakteristisch, dass sie entscheidendes Gewicht auf die zwischen der höchsten Obrigkeit und dem Volk stehenden Instanzen legt. So versucht der Jurist Franz Hotman i n seiner „Franco-Gallia" von 1573 zu zeigen, dass die französischen Könige ursprünglich nicht nach dem Erbrecht, sondern nach dem Willen der Stände eingesetzt worden sind. Die Stände fungieren dabei als Repräsentanten des Volks, und Könige, die die Freiheit, eine Ständeversammlung, ein Parlament zu halten, unterdrücken, haben als Tyrannen zu gelten. Die Ständeversammlung - so Hotman - hatte in Frankreich früher das Recht, den König zu wählen und abzusetzen, über Krieg und Frieden, Finanzangelegenheiten und ähnliches mehr zu entscheiden. Erst die Verwandlung der Reichsversammlungen in stehende Parlamente habe allmählich zu einer Schmälerung und schließlich zum Verlust der ständischen Rechte und Freiheiten geführt 9 . Die Monarchomachen wenden sich so entschieden gegen die Ausschaltung der Stände im Zuge des Ausbaus der absoluten Monarchie in Frankreich. In diesem Zusammenhang geht auch die anonyme Schrift „Le Réveille-matin des Francois" auf die Legitimität des Widerstandes gegen eine tyrannische Obrigkeit ein. Danach kann niemand i n der Weise die höchste Obrigkeit sein, dass er nur Gott über sich habe. Denn die höchste Obrigkeit sei vom Volk eingesetzt, das sich bei der Übertragung der Gewalt selbst die höchste Gewalt vorbehalten habe. Damit die höchste Obrigkeit nicht zur Tyrannei ausarte, habe man ihr Kontrollinstanzen zur Seite gestellt, die Ephoren in Sparta, die Kurfürsten im Römischen Reich, in Frankreich die Stände, in England das Parlament. Da aber i n Frankreich die Macht der Stände auf dem Weg zum Absolutismus aufgehoben worden sei, falle jetzt der niederen Obrigkeit die Aufgabe zu, die alte Ordnung wiederher7 Ebd. 101. 8 Th. Beza, De iure magistratuum, ed. K. Sturm, Neukirchen 1965, 85 ff. 9 G. von Polenz (FN 6), 194 ff.

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zustellen 10 . Eine ähnliche Argumentation begegnet in den 1576 publizierten „Vindiciae contra tyrannos", einem Traktat, der unter dem Pseudonym Junius Brutus erschien und vermutlich von Du Plessis-Mornay verfasst wurde. Danach w i r d das Volk durch die Magistratspersonen und Parlamentsmitglieder vertreten, die zwar als einzelne unter, in ihrer Gesamtheit aber als Repräsentanten des Volkes über dem König stehen und im Fall tyrannischer Herrschaft das Recht und die Pflicht zum Widerstand haben 1 1 . In seiner gegen den ehemaligen Genfer Juraprofessor Pierre Charpentier gerichteten Abhandlung „ A d Carpenterii saevum consilium responsio" spricht auch Lambertus Danaeus außer den Ständen den inferiores magistratus beides zu, und er baut diese Argumentation in seiner postum 1596 erschienenen „Politica", i n der er sich kritisch mit der Souveränitätslehre Jean Bodins auseinandersetzt, aus. Allerdings bleibt das Widerstandsrecht der niederen Obrigkeit beschränkt auf das von ihr verwaltete Territorium 1 2 . Es ist also die Tendenz der monarchomachischen Literatur, gegenläufig zur Entwicklung des absolutistischen Staates, der seine theoretische Grundlage durch Bodins Souveränitätslehre erhält, das Recht der Stände und der niederen Obrigkeit zu stärken. Die Monarchomachen entwickeln einen ständestaatlichen Gegenentwurf zu dem fürstlichen Absolutismus. Es liegt hier ein Modell zugrunde, dass sich den Staat von unten nach oben aufgebaut denkt und das den unteren Repräsentativorganen eine relative Autonomie und Souveränität gegenüber den oberen belässt. Dieses Modell war allerdings nicht das reformierte Standardmodell. Vielmehr hatte ja Zwingli und in seiner Nachfolge Thomas Erastus eine staatskirchliche Konzeption vertreten, die den Staat zum Herrn der Kirche erhebt 1 3 . Da i n Deutschland der Calvinismus im Zuge der sogenannten Zweiten Reformation von der weltlichen Obrigkeit eingeführt wurde, stärkte er hier eher die absolutistischen Tendenzen der Territorialherrscher. Die Durchsetzung des Calvinismus in den Territorien bedeutete, dass der frühmoderne Staat sich gegen den Widerstand der unteren Instanzen durchsetzen musste. Die Städte, aber auch die Dörfer wehrten sich gegen die Zwangsmaßnahmen der fürstlichen Zentrale, teilweise mit Erfolg 1 4 . Doch auch der umgekehrte Fall existiert. Denn in Emden war

io Ebd. 261 ff. h Ebd. 318 ff. 12 Chr. Strohm, Ethik im frühen Calvinismus, Berlin/New York 1996, 372 ff. 13 Vgl. R. Wesel-Roth, Thomas Erastus. Ein Beitrag zur Geschichte der reformierten Kirche und zur Lehre von der Staatssouveränität, Lahr/Baden 1954. ι * Vgl. H. Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung. Eine Fallstudie über das Verhältnis von religiösem und sozialem Wandel in der Frühneuzeit am Beispiel der Grafschaft Lippe, Gütersloh 1981; V. Press, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559-1619, Stuttgart 1970.

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es die Stadt, die sich gegen die Konfessionspolitik des lutherischen Fürstenhauses zur Wehr setzt und schließlich den Calvinismus durchsetzte, ebenso wie Lemgo sein lutherisches Bekenntnis gegenüber den Calvinisierungsmaßnahmen des lippischen Landesherrn erfolgreich verteidigte. II. Kirche und Staat So wie Calvin und der monarchomachische Calvinismus in seiner Staatslehre die Selbständigkeit der Stände und niederen Obrigkeit gegenüber dem summus magistratus verteidigen, so in seiner Ekklesiologie die Selbständigkeit der Kirche gegenüber der weltlichen Obrigkeit. Die Kirche ist danach eine autonome Größe. Es handelt sich um ein Modell der Zuordnung von Kirche und Staat, wie es in der neueren reformierten Theologie von Schleiermacher vertreten wurde. Schleiermacher unterscheidet strikt zwischen der Funktion des Staates und derjenigen der Kirche. Die eigentliche Aufgabe des Staates liegt im Bereich der Ökonomie und Verwaltung, so dass der Staat als liberaler Verwaltungsstaat gefasst wird, dessen Schwerpunkt in der Arbeitsregulierung zu sehen ist. Der Staat w i r d dabei als selbständige sittliche Gesellschaftsform und Institution verstanden, die neben anderen selbständigen Sozialformen steht und in diese nicht eingreifen darf. So kann der Staat zwar zur Stärkung des Gemeingeistes die Wirtschaft befördern und auch auf den Unterricht und die Bildung Einfluss nehmen, aber er kann nicht i n gleicher Weise für die Religion zuständig sein. Die Religion ist vielmehr eine Angelegenheit, die ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich der Kirche fällt. Das landesherrliche Kirchenregiment w i l l Schleiermacher i m Sinne der Theorie der Staatskirchenhoheit beschränkt wissen auf die Aufsicht über die Kirchengüter. Die innere Verwaltung der Kirche soll demgegenüber von unabhängigen Organen durchgeführt werden. Dementsprechend hält Schleiermacher die herrschende Konsistorialverfassung, i n der der Landesherr die Personen ernennt, die in seinem Namen das Kirchenregiment ausüben, für eine unzulässige Vermischung der staatlichen und kirchlichen Sphäre 15 . Aus diesem Grund plädiert Schleiermacher für die Einführung einer presbyterial-synodalen Verfassung der Kirche, in der das Kirchenregiment bei selbständigen Presbyterien und Synoden liegt. Die enge Verbindung von Staat und Kirche ergab sich i n Deutschland daraus, dass hier i n den protestantischen Kirchen der Landesherr nicht nur die Aufsicht über die äußeren Angelegenheiten der Kirchen innehatte, sondern auch i n inneren Angelegenheiten das Kirchenregiment besaß. Ursprünglich wurde dies mit Hilfe der Episkopaltheorie begrün15 F. Schleiermacher; Kleine Schriften und Predigten, ed. H. Gerdes/E. Hirsch, Bd. 2, 209 ff.

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det, wonach durch den Augsburger Religionsfrieden die bischöfliche Gewalt auf die protestantischen Landesherren übergegangen war. M i t der Ausbildung der absolutistischen Souveränitätslehre wurde das K i r chenregiment des Landesherrn dann nicht mehr durch diesen Übertragungsgedanken begründet. Vielmehr eignet dem Landesherrn dem Territorialsystem zufolge kraft seiner uneingeschränkten Souveränität die Herrschaft auch über die Kirche. Wenn Schleiermacher das Kirchenregiment in die Hände von kirchlichen Instanzen gelegt wissen will, so kann er dabei auf die Kollegialtheorie zurückgreifen, wie sie von Christoph Matthäus Pf äff entwickelt worden war. Danach liegt das Kirchenregiment i n innerkirchlichen Angelegenheiten ursprünglich bei der Kirchengemeinde, die es zwar dem Landesherrn übertragen hat, es aber jederzeit wieder zurückfordern kann 1 6 . Indem Schleiermacher für eine presbyterial-synodale Verfassung eintritt, legt er das Kirchenregiment, die iura i n sacra, i n die Hände der Kirche zurück. Die Kirche erhält damit das Recht der Selbstverwaltung, und dem Staat verbleiben nur die Rechte zu Schutz und Aufsicht über die äußeren Kirchenangelegenheiten, die iura circa sacra. Diesem Modell zufolge unterstützt der Staat zwar die Kirche, die somit eine privilegierte Stellung im Staat einnimmt. Zugleich aber w i r d der Kirche das Recht auf Selbstverwaltung zuerkannt. Schleiermacher selbst beruft sich für die konsequente Durchführung einer presbyterial-synodalen Verfassung auf das Beispiel Frankreichs 17 . Tatsächlich bildete sich dieses Modell, das größtes Gewicht auf die Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat legt, ansatzweise zunächst in Genf aus, und zwar als Gegenmodell zu einem Staatskirchentum, wie es etwa in Zürich errichtet wurde. In Zürich war die Kirchengemeinde keine Körperschaft eigenen Rechts, sondern Teil der vom Rat regierten Stadtgemeinde. Dies zeigt sich in der Entwicklung des dortigen Eheund Sittengerichts, dessen Ordnung 1525 vom Rat angenommen wurde 1 8 . Im Gefolge der Reformation trat an die Stelle des Konstanzer bischöflichen Ehegerichts ein solches, das vom Rat, also der städtischen Obrigkeit, eingesetzt worden war. Die Kompetenz des Ehegerichts wurde dadurch erweitert, dass es auch die Funktion einer Sittenpolizei übernahm. Das Ehegericht wurde so zugleich zum Sittengericht. Der Stadtstaat Zürich wurde damit einer rigorosen moralischen Kontrolle unterworfen, die von einem Gremium ausgeübt wurde, das zwar einerseits weltlichstädtischer, aber andererseits zugleich geistlich-kirchlicher Natur war. Es war Teil der Zürcher Theokratie. Zwar musste einerseits das Sitten-

16 R. Zippelius, Staat und Kirche, München 1997, 104 ff. ι? F. Schleiermacher (FN 15), 217. is Vgl. W. Köhler, Zürcher Ehegericht und Genfer Konsistorium, Bd. 1, Leipzig 1932, 1 ff.

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gericht auf alle strafrechtlichen Maßnahmen verzichten und sich mit der Rüge begnügen. Aber andererseits erstreckte sich über das Sittengericht die Macht der weltlichen Obrigkeit auch auf einen Bereich, der eigentlich der Aufsicht der Kirche unterstand. Das Ehe- und Sittengericht war zwar eine geistliche Behörde, aber sie war der weltlichen Obrigkeit unterstellt. Diese delegierte Fragen, die Ehe und Sitte betrafen, an das Ehe- und Sittengericht, das jedoch als Organ der Rechtssprechung nicht über die Strafgewalt verfügte. Vielmehr übergab es die von ihm Verurteilten zur Verhängung und Exekution der Strafe an die weltliche Obrigkeit. Das Ehe- und Sittengericht als eine geistliche Institution arbeitete so aufs engste mit der weltlichen Obrigkeit zusammen. Es besaß keine eigentliche Selbständigkeit gegenüber dem städtischen Rat. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Handhabung des Banns. Denn der Rat war nicht willens, der Kirche ein eigenes Bannrecht zuzugestehen, wie es in Mt. 18,16 und l.Kor.5 biblisch begründet und von Zwingli ursprünglich vorgesehen war. Die in Ehe- und Sittenangelegenheiten verhängten Strafen waren weltlicher und nicht geistlicher Natur. Das Ehe- und Sittengericht wurde so zu einem Bestandteil des sich theokratisch verstehenden Staates, der der Kirche keine Selbständigkeit ließ. Die bereits im Spätmittelalter einsetzende Zurückdrängung der bischöflichen Jurisdiktion zugunsten der weltlichen Obrigkeit setzte sich damit i n der Zürcher Reformation vollends durch. Dieser Prozess wurde in Bern, wo man sich ansonsten an dem Zürcher Modell orientierte, noch dadurch verstärkt, dass hier dem 1528 gegründeten Chorgericht für Ehe- und Sittenangelegenheiten nicht nur die Rechtssprechung, sondern auch die Strafgewalt vom Rat verliehen wurde 1 9 . Allerdings blieb dem Berner Reformator Berchtold Haller das Bewusstsein dafür, dass geistliche und weltliche Strafen zwei verschiedene Dinge seien, auch wenn das Berner Chorgericht beide verhängen konnte. Denn es besaß die weltliche Strafgewalt im Namen der weltlichen Obrigkeit, die geistliche Mahn- und Banngewalt hingegen i m Namen der Kirche 2 0 . Demgegenüber wollte Bullinger in seiner Korrespondenz mit Haller von einer selbständigen kirchlichen Strafe neben der weltlichen nichts wissen. Für ihn war vielmehr die von der weltlichen Obrigkeit verhängte Strafe i n Ehe- und Sittenangelegenheiten aufgrund der theokratischen Verfassung Zürichs eine von der christlichen Obrigkeit verhängte geistliche Strafe. Die Entwicklung hin zu einem eigenständigen kirchlichen Gremium, das mit der Ermahnung und Verhängung der geistlichen Strafe i n Sittenangelegenheiten betraut ist, ging allerdings nicht von Bern, sondern von Basel aus. Hier setzte die 19 Ebd. 321. 20 Ebd. 354 ff.

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Stadt Basel in der Reformationsordnung von 1529 ein Ehegericht ein, dessen Ordnung ganz am Zürcher Vorbild orientiert w a r 2 1 . Die Eherichter, die auch Sittenrichter waren, hatten dabei nicht nur die Gerichts-, sondern auch die Strafgewalt inne. Neben diese weltliche Instanz trat jedoch eine kirchliche, die der Bannherren, die den kirchlichen Bann, den Ausschluss vom Abendmahl, verhängten. Damit wurde eine gegenüber Zürich neue Institution geschaffen. Der Baseler Reformator Oekolampad begründete dies in einer 1530 vor dem Rat gehaltenen Rede mit der Notwendigkeit der Kirchenzucht, die er einem eigenständigen kirchlichen Gremium anvertraut wissen wollte. Unter Berufung auf die apostolische Frühzeit der Kirche sollten Älteste, seniores oder presbyteroi, eingesetzt werden, und zwar vier aus dem Rat und vier aus dem Volk, die zusammen mit den vier Stadtpfarrern als zwölf Zensoren die Kirchenzucht ausübten. Die eigenständige Kirchenzucht, wie sie i n Mt. 18,15 ff. begründet ist, verlangt Oekolampad zufolge ein gegenüber der weltlichen Obrigkeit eigenständiges kirchliches Gremium. Die Sünde als Sünde zieht nämlich eine geistliche Strafe nach sich, so sehr sie als Verstoß gegen bürgerliche Gesetze auch eine weltliche Strafe nach sich ziehen mag. M i t der Etablierung eines eigenständigen Ältestengremiums aus der Notwendigkeit der Kirchenzucht heraus begründete Oekolampad die Eigenständigkeit der Kirchengemeinde gegenüber der Stadtgemeinde. Allerdings wurde auch in Basel die völlige Eigenständigkeit der kirchlichen gegenüber der weltlichen Direktion nicht erreicht, da sich der Rat bestimmte Überwachungsrechte vorbehielt. Doch das ändert nichts daran, dass in Basel ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Erreichung der Eigenständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat erreicht war. In Straßburg, wo Martin Bucer eine ähnliche Regelung der Kirchenzucht und der Handhabung des kirchlichen Banns wünschte wie in Basel, ließ sie sich nicht durchsetzen. Dabei stand Bucer das Zürcher Beispiel als Vorbild vor Augen. Wie Zürich sollte auch Straßburg mit obrigkeitlichen Zuchtmaßnahmen zu einer christlichen Theokratie werden, nur mit dem Unterschied, dass Bucer wie Ökolampad an der Unterscheidung von weltlichen und geistlichen Strafen festhielt. M i t seiner 1531 von Jakob Sturm verfassten Verordnung von Kirchspielpflegern griff der Straßburger Rat denn auch auf die Basler Bannherrenordnung zurück 2 2 . Aber die Kirchspielpfleger waren keine spezifisch kirchlichen Amtsträger, sondern Sprachrohr der weltlichen Obrigkeit, bei denen sich die Kirchenzucht auf die seelsorgerliche Ermahnung reduzierte. Zwar plädierte Bucer i n seiner Schrift „Von der wahren Seelsorge und dem rechten Hir21 Ebd. 269 ff. 22 W. Köhler, Zürcher Ehegericht und Genfer Konsistorium, Bd. 2, Leipzig 1942, 408 ff.

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tendienst" 1538, also zu jener Zeit, als Calvin sich in Straßburg aufhielt, für eine von Ältesten gehandhabte Kirchenzucht und Banngewalt. Das kirchliche Zuchtorgan sollte allerdings mit der weltlichen Obrigkeit so zusammenwirken, dass die von der Kirche Gebannten auch durch den Rat vom bürgerlichen Leben ausgeschlossen werden. Als dieser Plan am Widerstand des Rats scheiterte, entwickelte Bucer den völlig neuen Plan einer durch Älteste kontrollierten Gemeinschaft ernster Christen innerhalb des größeren Kirchenverbandes, ein Plan, der gleichfalls den Widerstand der weltlichen Obrigkeit hervorrief. In der städtischen Zuchtordnung von 1548 taucht der Gedanke des Ältestenamtes als eines spezifisch kirchlichen Zuchtorgans nicht mehr auf, sondern die Regelung der Eheund Sittenzuchtangelegenheiten w i r d hier als eine Aufgabe der weltlichen Obrigkeit angesehen. Bucers Programm einer selbständigen Kirchenzucht durch Kirchenälteste wurde erst i n Genf realisiert, wo Calvin an seine Straßburger Erfahrungen anknüpfen konnte. Gegenüber dem Zürcher Modell insistierte Calvin im Anschluss an Bucer i n Straßburg und Oekolampad i n Basel auf der Selbständigkeit der Kirchenzucht, wobei der weltlichen Obrigkeit allerdings die Aufgabe zufiel, der Kirchenzucht Nachdruck zu verleihen. Die Genfer Kirchenordnung spiegelt in ihrer Entstehungsgeschichte das zähe Ringen Calvins mit dem städtischen Rat um die Autonomie der Kirchenzucht, die an das kirchliche Sittengericht, das Consistoire, und das Ältestenamt gebunden war. Denn zunächst war der Genfer Rat ebenso wie der Straßburger entschiedener Gegner eines selbständigen kirchlichen Zuchtorgangs. Die 1541 vom Rat genehmigte Kirchenordnung gestand dem Consistoire denn auch keinerlei Jurisdiktionsgewalt, sondern nur das Recht der Ermahnung zu und behielt sich selbst die Verurteilung und Strafe vor. Den Vorsitz i m Konsistorium führte zudem der Bürgermeister, der als Zeichen seiner Hoheit seinen Amtsstab trug. Als es 1553 zu einem Konflikt zwischen Rat und Konsistorium kam, wurde für die Behandlung von Verstößen gegen die Sitte folgendes Vorgehen vorgeschrieben. Zunächst findet eine private Ermahnung statt, und sofern diese keinen Erfolg hat, eine Ermahnung durch einzelne Mitglieder des Konsistoriums. Bleibt auch diese erfolglos, so w i r d die angeklagte Person vor den Rat geladen, der ein endgültiges Urteil trifft. Der Rat ist es auch, der über die Zulassung oder Nichtzulassung zum Abendmahl entscheidet. In der letzten Fassung der „Ordonnances ecclésiastiques" von 1561 kam der Rat Calvin allerdings weitgehend entgegen. Der Kirchenordnung zufolge sollen die Ältesten aus dem Kleinen, Mittleren und Großen Rat gewählt werden 2 3 . Bei der Wahl soll 23 R Jacobs (Hrsg.), Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen, Neukirchen 1949, 81.

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aber die Vorschlagsliste mit den Pastoren besprochen werden. Zudem soll deutlich sein, dass die gewählten Mitglieder des Kirchengerichts in ihm als Älteste und nicht als weltliche Amtspersonen fungieren. Der zum Ältesten gewählte Bürgermeister soll daher i m Kirchengericht ohne Amtsstab, das Symbol der staatlichen Gerichtsbarkeit, erscheinen 24 . Denn es muss scharf unterschieden werden zwischen der Schwertgewalt und Macht der weltlichen Obrigkeit und der Aufsichtsbefugnis der Kirche. Das mit der Kirchenzucht betraute Konsistorium nimmt also eine Aufgabe wahr, die in den autonomen Zuständigkeitsbereich der Kirche fällt und nicht von der weltlichen Obrigkeit wahrgenommen werden kann. Eine völlige Selbständigkeit des Konsistoriums von der weltlichen Obrigkeit wurde allerdings auch i n Genf nicht erreicht. Denn die Genfer Kirche war Staatskirche, und das Konsistorium blieb für die Durchführung der Kirchenzucht auf die Hilfe des Magistrats angewiesen und nahm sie auch dankbar in Anspruch. Doch es wurde das Staatskirchentum an einer Stelle durchbrochen. Bürgerliche und kirchliche Zucht wurden voneinander getrennt, und es wurde mit dem consistoire eine selbständige zentrale kirchliche Behörde und mit dem ancien ein selbständiges kirchliches Amt zur Wahrnehmung der Kirchenzucht geschaffen 25 .

III. Presbyterial-synodale Verfassung Calvins Ämterlehre war für den Genfer Stadtstaat entworfen worden, und sie bedurfte, wenn man sie auf Kirchen übertrug, die sich über ein größeres Territorium erstreckten und zahlreiche Gemeinden umfassten, einer Ergänzung. Auf diese Weise erweiterte sich erstmals in der der hugenottischen Confessio Gallica angefügten Discipline ecclésiastique von 1559 die Genfer Presbyterial Verfassung zur Synodal Verfassung. Die Ordnung der französischen Kirche nimmt ihren Ausgang bei der einzelnen Gemeinde, wobei alle Gemeinden gleichberechtigt sind. Die Ortsgemeinde selbst w i r d regiert von dem consistoire, dem Kirchensenat. Den Ortsgemeinden übergeordnet ist das colloque, über dem dann Provinzialund General- oder Nationalsynoden stehen. Die Kolloquien und Synoden werden von einem aus ihrer Mitte gewählten Präsidenten für die Dauer der Zusammenkunft geleitet. Während die Kolloquien reine Predigerkonvente sind, sollen auf jeder Synode nicht nur die Prediger, sondern auch Älteste und Diakone der Gemeinde vertreten sein. Die Provinzialsynoden 24 Ebd. 103 f. 25 Vgl. H. Schilling, Sündenzucht und frühneuzeitliche Sozialdisziplinierung. Die calvinistische, presbyteriale Kirchenzucht i n Emden vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: G. Schmidt (Hrsg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989, 265 ff.

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sollen zweimal jährlich stattfinden. Ihre Aufgabe besteht darin, Probleme zu lösen, die die Ortgemeinde selbst nicht lösen kann. Wo sich etwa Widerstand von Seiten der Gemeinde gegen einen von den Ältesten und Diakonen gewählten Pfarrer regt, soll der Fall vor das Provinzialkonzil gebracht werden. Auch Verfehlungen des Pfarrers sollen auf Provinzialsynoden behandelt werden. Ebenso soll eine Gemeinde nichts tun, was entweder positive oder negative Folgen für andere Gemeinden nach sich ziehen könnte, ohne zuvor die Weisung der Provinzialsynode eingeholt zu haben. Wenn es in einem konkreten Fall nicht möglich ist, eine Provinzialsynode einzuberufen, muss zumindest die Zustimmung der anderen Gemeinden der Provinz eingeholt werden. Alle Änderungen der Discipline ecclésiastique erfordern hingegen die Zustimmung der Generalsynode 26 . Die hugenottische Kirchenordnung geht also davon aus, dass die vom consistoire regierten Ortsgemeinden sich selbst verwalten, während alle Probleme, die von ihnen selbst nicht gelöst werden können wie auch alle Angelegenheiten, die alle Gemeinden einer Provinz oder der Nation insgesamt betreffen, von Provinzial- oder Generalsynoden zu entscheiden sind. Die französische Presbyterial- und Synodalverfassung wurde in Ansätzen von den reformierten Gemeinden i n den Niederlanden übernommen und dann von den niederländischen Flüchtlingsgemeinden im Nordwesten und Südwesten Deutschlands ausgebaut. Am Anfang standen die Beschlüsse des Weseler Konvents von 1568, die für die Niederlande ein dreistufiges Synodalsystem vorsehen. Alle zwei bis drei Monate sollten die Classes tagen, halbjährlich die Provinzialsynoden und jährlich die Synode der Niederlande. Zur tatsächlichen Einführung dieses dreistufigen Synodalsystems kam es dann auf der Synode, die die niederländischen Gemeinden, sowohl die Untergrundgemeinden in den Niederlanden als auch die niederländischen Flüchtlingsgemeinden im Nord- und Südwesten Deutschlands, 1571 in Emden abhielten. Dabei spielten als Vorlage die hugenottische Discipline ecclésiastique ebenso eine Rolle wie die Beschlüsse des Weseler Konvents, aber auch die soeben erst eingeführte presbyterial-synodale Kirchenverfassung der Kurpfalz. Der entscheidende Beitrag der Emder Synode zur Ausgestaltung des presbyterial-synodalen Systems liegt in der Einführung einer Zwischeninstanz zwischen Einzelgemeinde und Provinzialsynode. Die bereits in Wesel ins Auge gefassten Classes werden i n Emden zu einem festen Bestandteil der niederländischen Kirchenverfassung. Die Classis entsteht durch die Erweiterung der Kolloquien durch Älteste und Diakone der Einzelgemeinden, die sie zu einer eigenen Synodalstufe macht. Dadurch dass die Gemeinden Vertreter aller kirchlichen Ämter in die Classis entsenden, re26 A.a.O. F N 23, 122 ff.

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präsentiert diese die einzelnen Gemeinden. Dass aber Repräsentanten aller Ämter in ihr vertreten sind, erklärt sich aus ihrer Funktion. Denn die Classis soll über Kirchenzuchtsfragen entscheiden, die von der lokalen Gemeinde nicht gelöst werden können, und eine solche Entscheidung ist nach calvinistischem Verständnis ohne Älteste nicht möglich. Die Classis stellt somit die zweite Instanz für alle Kirchenzuchtsfragen dar, die zunächst im Konsistorium, Presbyterium oder Kirchenrat der Ortsgemeinde verhandelt werden. So entscheidet die Classicalversammlung, die alle drei oder sechs Monate stattfinden soll, über die Absetzung und Wiederzulassung von Pastoren, die schwere Verfehlungen begangen haben 2 7 . Die Classis nimmt so das Recht der Aufsicht über die Gemeindeleitung wahr. Außerdem sorgt sie für den Aufbau und die Betreuung von Gemeinden insbesondere dort, wo die politische und finanzielle Situation prekär ist. Zum Aufsichtsrecht der Classis zählt auch die Aufsicht über den Druck von theologischer Literatur. Schließlich fällt es i n das Aufgabengebiet der Classis, die Pfarramtskanditaten zu examinieren und zu ordinieren und gemeinsam mit dem örtlichen Kirchenrat die Pfarrwahl durchzuführen 28 . Die Classicalversammlungen, den classicus conventus denkt sich die Emder Kirchenordnung so, dass der Präses sich der ordnungsgemäßen Amtsführung in den einzelnen Gemeinden versichert, um dann jene Probleme zu behandeln, die entweder auf der Ebene der Ortsgemeine nicht gelöst werden konnten oder alle Gemeinden der Classis gemeinsam betreffen 29 . Die Classicalversammlung wählt dann gewöhnlich zwei Pastoren und zwei Älteste oder Diakone als Delegierte der Provinzialsynoden, auf denen nur solche Fragen behandelt werden, die nicht bereits i n den unteren Instanzen entschieden wurden, es sei denn, ein früherer Beschluss w i r d i n Frage gestellt. Was in den einzelnen Gemeinden an Problemen auftritt und weder von den Konsistorien noch von der Classicalversammlung gelöst werden kann, soll ebenso wie das, was an Fragen die ganze Provinz betrifft, der Synode rechtzeitig mitgeteilt werden. Die einmal jährlich stattfindenden Provinzialsynoden in Deutschland, den Niederlanden und England entsenden wiederum Deligierte an die alle zwei Jahre stattfindende Generalsynode aller niederländischen Gemeinden. M i t der Einführung der Classis in die presbyterial-synodale Verfassung w i r d die Selbständigkeit der Ortsgemeinde nicht aufgegeben. Die Classis übernimmt keine Aufgaben, die die Ortsgemeinde selbst wahrnehmen kann. Doch wo dies in konkreten Fällen nicht möglich ist, greift die 27 A.a.O. FN 23, 256. Vgl. J. F. G. Goeters, Die Emder Synode von 1571, Neukirchen 1973, 183 ff. 28 R Jacobs (FN 23), 253. 29 Ebd. 259 f.

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Classis unterstützend ein. Sie ist es auch, die die enge Verbindung der zu ihr gehörenden Gemeinden herstellt. Mit alledem w i l l sie die Funktionstüchtigkeit der Einzelgemeinde nur stärken, ohne sie genuiner Funktionen zu berauben. Das i n Emden entwickelte Modell einer presbyterialsynodalen Verfassung fand relativ schnell Aufnahme auch in deutschen Territorien, teilweise sogar dort, wo bereits landesherrliche Konsistorien bestanden. So schufen vier der Grafschaften der Wetterau - Nassau, Wittgenstein, Solms und Wied - auf der 1586 unter dem Vorsitz Kaspar Olevians tagenden Generalsynode von Herborn eine Kirchenordnung, die die Unterscheidung von Classicalversammlung, Provinzialsynode und Generalsynode kennt 3 0 . Auch hier herrscht das Prinzip, dass alles, was von den niederen Instanzen geleistet werden kann, von ihnen geleistet werden soll, so dass i n den höheren Instanzen nur das verhandelt werden soll, was sich vorher i n den kleinen nicht erledigen ließ oder was sich auf eine ganze Kirche oder mehrere bezieht. Beschwerden über ungerechte Behandlung durch eine niedere Instanz sollen im Berufungsverfahren an die höhere Instanz gebracht werden und dort durch Mehrheitsbeschluss entschieden werden. Dabei besteht zwischen niederen und höheren Instanzen eine gegenseitige Aufsichtspflicht. Es ist also nicht nur so, dass die höheren die niederen, sondern auch umgekehrt so, dass die niederen die höheren kontrollieren sollen. Was die Kontrolle der unteren Instanzen durch die höheren betrifft, so fällt den Classical Versammlungen die Aufsicht darüber zu, ob die Presbyterien in allen Gemeinden zusammenkommen, die Kirchenzucht beachtet, für die Armen gesorgt und der Schulunterricht ordentlich gehalten wird. Außer der Kontrollfunktion steht die Classis den Einzelgemeinden aber auch mit Rat und Tat beiseite. Am Ende der Classicalversammlungen findet regelmäßige Zensur über diejenigen statt, die die Ermahnungen der Synoden nicht beachtet haben. Auch i n der Herborner Kirchenordnung w i r d übrigens festgehalten, dass i n die höheren Instanzen nur solche Anträge eingebracht werden sollen, die früher noch nicht behandelt und entschieden wurden, es sei denn, es besteht dazu aufgrund der Besonderheit des Falls die dringende Notwendigkeit. Weitgehend unabhängig vom landesherrlichen Kirchenregiment und damit anders als in den wetterauischen Grafschaften entwickelte sich das i n Emden verabschiedete presbyterial-synodale Kirchenmodell am Niederrhein weiter. Die Rückkehr der niederländischen Exulanten führte hier dazu, dass sich die deutschen reformierten Gemeinden 1610 auf der Duisburger Generalsynode von dem niederländischen Synodalverband, zu dem sie bisher gehört hatten, lösten und einen eigenen Generalsynodalverband bildeten. Dessen Selbständigkeit blieb auch gewahrt, als 30 Ebd. 274 ff.

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nach der Teilung der niederrheinischen Territorien in Jülich-Berg ein zunächst lutherischer und später katholischer Pfälzer und in Kleve und Mark der zunächst lutherische, dann reformierte brandenburgische Kurfürst Landesherr wurde. Es entstanden hier vier Provinzialsynoden, in denen jeweils mehrere Classes zusammengefasst waren. Dabei wurde die Aktivität der höheren Instanzen durch eine Subsidiaritätsklausel begrenzt. Nur solche Probleme sollten von der höheren Instanz behandelt werden, die auf der unteren Ebene nicht hatten gelöst werden können. Die eigentliche Rechtshoheit der Kirche liegt also bei den Ortsgemeinden, die, falls erforderlich, von den Classes durch Ausgleichzahlungen finanziell unterstützt werden sollen. Die 1671 in Hamm verabschiedete Kirchenordnung für Jülich und Berg, die auch für Kleve und Mark galt, stellt i n gewissem Sinn einen Endpunkt der Entwicklung der presbyterial-synodalen Verfassung dar. Danach ist die niederrheinisch-westfälische reformierte Kirche von unten, also von der Ortsgemeinde aus aufgebaut und hat ihre Spitze in der Generalsynode. Auch hier wieder sind die Zuständigkeiten der Instanzen so geordnet, dass dasjenige, was in den unteren Instanzen nicht behandelt werden kann, i n der übergeordneten Instanz erörtert werden soll. Ebenso ist hier zwischen das Presbyterium und die Provinzialsynode als Zwischeninstanz die Classis gerückt. Abgesehen davon, dass auf den Classicalversammlungen die ordnungsgemäße Wahrnehmung der Ämter in den einzelnen Gemeinden überprüft wird, wird den bedürftigen Gemeinden auch die Hilfe der Classis bei ihrer Arbeit angeboten. Was die Classis nicht behandeln kann, soll Gegenstand der Provinzialsynode werden, und Aufgabe der Generalsynode ist es schließlich, Missverständnisse zwischen den einzelnen Provinzialsynoden zu beseitigen 31 . IV. Diakonie Zu den Auseinandersetzungen, die die schottische Staatskirche im 19. Jahrhundert erschütterten, gehört der Streit um die Verteilung von Kompetenzen und Funktionen zwischen Staat und Kirche. I n diesem Streit, der schließlich zur Spaltung der schottischen Kirche führte, wandte sich Thomas Chalmers entschieden gegen die Wahrnehmung der Patronatsrechte durch den Adel bei der Besetzung von Pfarrstellen. Er erblickte darin einen unzulässigen Eingriff der weltlichen Macht in innerkirchliche Angelegenheiten und verteidigte demgegenüber das Prinzip der Selbstorganisation der Kirche und das Mitspracherecht der Gemeinde bei der Besetzung von Pfarrstellen. Damit wollte Chalmers keineswegs einer Freiwilligkeitskirche das Wort reden. Vielmehr hat die Kirche für 3i W. Niesei (Hrsg.), Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, München 1938, 315 ff.

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ihn eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, deren Wahrnehmung trotz der Selbständigkeit der Kirche ihm gegenüber der Staat unterstützen muss. Und zwar hat die Kirche die Aufgabe, das Volk moralisch zu erziehen, die vom Staat selbst nicht wahrgenommen werden kann, an der er selbst aber ein unmittelbares Interesse haben sollte. Als einen Teil dieser von der Kirche wahrzunehmenden gesamtgesellschaftlichen Erziehungsaufgabe sieht Chalmers die Diakonie. Daher wendet er sich entschieden gegen die Konzeption einer staatlichen Armenfürsorge, die den Armen Arbeit und Unterhalt i n staatlichen Arbeitshäusern zuweist. Abgesehen von dem Faktum, dass die Armen hier unter schlechteren Bedingungen leben als die schlechtestbezahlten Arbeiter, kritisiert Chalmers die soziale Reformpolitik deshalb, weil er darin eine Kompetenzüberschreitung des Staates erblickt. Die Armenpflege ist für ihn nicht eine staatliche, sondern eine i n der christlichen Liebespflicht begründete Aufgabe der Kirche, die der Staat unterstützen muss. Aus diesem Grund plädiert Chalmers für eine Erneuerung des alten calvinistischen Diakonenamts. Die kirchlichen Diakone sollen, gestützt auf freiwillige Spenden, den Armen praktische Hilfe leisten und zugleich eine erzieherische Aufgabe ihnen gegenüber wahrnehmen. Tatsächlich wurde die Armenpflege in den calvinistischen Städten und Territorien einem bestimmten kirchlichen Amt, dem des Diakons, zugewiesen. In der Genfer Kirchenordnung ist im Rückgriff auf die alte Kirche von zwei Arten von Diakonen die Rede, denen verschiedene Aufgaben obliegen. Die eine Aufgabe besteht darin, das Armengut, das aus den täglichen Almosen, dem Grundbesitz, den Zinsen und Renten besteht, zu sammeln, zu verwalten und zu verteilen. Die andere Aufgabe besteht in der Krankenpflege und der Armenspeisung. Man hat daher zwischen Kastenpflegern und Spitalmeistern zu unterscheiden. Die Kastenpfleger verwalten alle Gaben und sonstigen Einnahmen des Spitals und bekommen ein Gehalt, das ihnen die Ausübung des Amtes ermöglicht. Die Kasse soll dabei so verwaltet werden, dass die Vorräte zu möglichst günstiger Zeit beschafft werden können und die Spender die Gewähr haben, dass ihre finanzielle Unterstützung der Armen ihrem Willen gemäß verwendet wird. Die Sozialhilfe in Gestalt der Armenversorgung w i r d so als genuine Aufgabe der Kirche betrachtet und aus Spenden der Kirchenmitglieder finanziert. Sollten allerdings die Spenden aufgrund eines außerordentlichen Notstands nicht ausreichen, dann soll der Genfer Rat zusätzliche Mittel bereitstellen. Das bedeutet, dass die Armenfürsorge als eine Aufgabe angesehen wird, die zwar im Interesse der Obrigkeit liegt, die aber von der Kirche wahrgenommen und von der Obrigkeit unterstützt wird. Die Ämter des Kastenpflegers und Spitalmeisters sind beide dem Spital zugeordnet, in dem außer Kranken auch arbeitsunfähige Alte, Witwen, Waisen und andere Arme aufgenom-

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men werden, wobei die Kranken in einem gesonderten Gebäude untergebracht werden. Das Spital organisiert aber auch die Fürsorge für die Stadtarmen gemäß den Anordnungen der Kastenpfleger. Die Zusammenarbeit von Rat und Kirche bei der Armenfürsorge und Krankenpflege w i r d nicht nur daran deutlich, dass die Ämter des Spitalmeisters und Kastenpflegers mit Ratsmitgliedern besetzt werden. Vielmehr sollen Vertreter des Konsistoriums gemeinsam mit den Kastenpflegern vierteljährlich das Spital visitieren, dem Rat Bericht erstatten und ihn gegebenenfalls darum bitten, für Ordnung zu sorgen. Zudem muss die Stadt Ärzte für die im Spital untergebrachten und die außerhalb lebenden Armen finanzieren. Diese Ärzte dürfen zwar auch in der Stadt praktizieren, sind aber in erster Linie dazu verpflichtet, die kranken Insassen des Spitals zu betreuen und Krankenbesuche bei den Stadtarmen durchzuführen. Außer Alten und Kranken sind i m Spital auch arme Kinder untergebracht, für die die Stadt einen Lehrer stellen muss, der für ihre Erziehung sowie den Unterricht in den Elementarfächern und im Katechismus zuständig i s t 3 2 . Calvins Auffassung vom Diakonat als eines kirchlichen Amts, das mit Unterstützung des Rats für die Armenfürsorge und Krankenpflege zuständig ist, hat in abgewandelter Form in die calvinistisch geprägten Bekenntnisse und Kirchenordnungen Aufnahme gefunden. I n der Confessio gallicana von 1559 begegnet sie ebenso wie i n der Confessio belgica von 1561 33 . Abgewandelt deshalb, weil sowohl die französische als auch die niederländische Kirche keine Staatskirche waren und die kirchliche Diakonie daher hier völlig unabhängig von der weltlichen Obrigkeit betrieben wurde. Einen Vorläufer hat diese Form der Diakonie in der von Johannes a Lasco entworfenen Kirchenordnung der niederländischen Fremdengemeinde in London. Denn hier werden die Diakone als rein kirchliche Amtsträger verstanden, und dieses Modell einer eigenständigen kirchlichen Diakonie, die zum Wesen der Kirche hinzugehört, fand dann rasch Aufnahme in den reformiert geprägten deutschen Gemeinden. Es handelt sich um ein Modell, das sich radikal von dem Zürcher unterscheidet. Denn Zwingli betrachtete die Armen- und Krankenpflege als eine Sache nicht der Kirche, sondern des Stadtstaates. Es ist daher der Rat, der die Mittel zur Unterstützung der Armen und Kranken zur Verfügung stellt und nicht die Gemeinde. In den durch a Lasco oder Calvin geprägten Gemeinden i n Frankreich, Deutschland und den Niederlanden ist das völlig anders. Der hugenottischen Kirchenordnung zufolge ist die Diakonie eine von Gott geordnete kirchliche Aufgabe. Die Diakone werden von den Ältesten für eine bestimmte Zeit gewählt; ihre 32 A.a.O. F N 23, 82 ff. 33 A.a.O. F N 23, 118, 124, 169.

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Aufgabe ist es, die Armen, Gefangenen und Kranken zu besuchen und in den Häusern zu katechisieren 34 . Die Pariser Armenordnung von 1562 sieht ein eigenes Büro für die Armenpflege vor, das sich aus den Diakonen, vier Ältesten und acht vom Konsistorium gewählten Bürgern zusammensetzt. Die finanzielle Unterstützung der Armen w i r d durch Kollekten der Gemeinde ermöglicht, deren Verwaltung genau geregelt ist. Die Armen müssen bei den Ältesten ihres Quartiers vorstellig werden, und den Diakonen obliegt es, sie regelmäßig aufzusuchen, um in den wöchentlichen Sitzungen des Armenbüros über sie informieren zu können. Einen guten Einblick in die Ausgestaltung der eigenständigen kirchlichen Diakonie liefert die Entwicklung i n Emden. Hier gab es schon i n den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts eine Diakonie, die 1576 eine neue Struktur erhielt, als eine neue von Pastoren, Ältesten und Diakonen entworfene Armenordnung von den Bürgermeistern, dem Rat und dem gräflichen Drosten bestätigt wurde. Man hatte die Stadt in Bezirke, sogenannte Kluften, aufgeteilt, was eine effizientere Kirchenzucht und Armenfürsorge ermöglichen sollte 3 5 . Die endgültige Regelung der Diakonie fand schließlich Aufnahme in die Emder Kirchenordnung von 1594 36 . Die Armenpflege w i r d dabei als biblisches Gebot ausgegeben, das Gott erlassen hat. Denn als der Schöpfer von Leib und Seele habe er jedem Teil seine nötige Ordnung verschafft, weshalb es neben dem Predigtamt auch die diaconiae pauperum oder den Armendienst gebe. Die Armen sollen von der Kirche versorgt werden, wodurch zugleich der Bettel beseitigt werde. Die Diakonie ist in Emden in verschiedene Bereiche gegliedert. Zum einen gibt es die Diakonie des Gasthauses, des diesem Zweck zugeführten ehemaligen Barfüßerklosters, das die Bürgerschaft erworben hatte. Es diente nunmehr der Beherbergung von alten und schwachen Personen, Waisenkindern, durchreisenden Armen und solchen, die auf der Reise erkranken. Die verschiedenen Gruppen wurden in verschiedenen Abteilungen untergebracht. Die Verwaltung der Gasthausdiakonie lag bei sechs Vorstehern, von denen zwei um der Kontinuität der Amtsführung willen ihre Ämter lebenslang innehatten, während von den anderen jährlich einer ausschied und durch einen neugewählten Bürger ersetzt wurde. Gewählt wurde er von den Vorstehern unter Mitwirkung der Prediger, und bestätigt wurde er vom Rat der Stadt. Dreimal jährlich fand eine Hausversammlung der Vorsteher statt. Die nähere Verwaltung des Gasthauses lag bei einem Ehepaar, dem auch die Küche und das Personal unterstand. Außerdem wurden vier

34 A.a.O. FN 23, 124. 35 E. Sehlig (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 7, Tübingen 1963, 455 ff. 36 Ebd. 505 ff.

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Witwen gewählt, die für die Wäsche zuständig waren. Sie trafen sich dreimal wöchentlich und sammelten einmal i m Jahr in allen Häusern für den Unterhalt des Gasthauses. Daneben sammelten die Vorsteher jeden Sonntag i n der Gasthauskirche Almosen ein. A m Anfang jeden neuen Jahres muss der Vorstand öffentliche Rechenschaft über Einnahmen und Ausgaben vor den Mitgliedern des Rats, den Predigern, Ältesten und ausgewählten Bürgern ablegen, die vom Sekretär der Stadt unterschrieben wird. Neben der Diakonie des Gasthauses existierte eine Diakonie der sogenannten haussitzenden Armen, für die die Stadt in sechs Kluften eingeteilt war und acht Hauptdiakone und 32 Unterdiakone mit jeweils begrenzter Amtszeit im Turnus von den Ältesten und Diakonen gewählt wurden. Den Hauptdiakonen obliegt dabei die Aufsicht über die gesamte Armenpflege, während die Unterdiakone den Kontakt zu den einzelnen Armen unterhalten. Die Höhe der jeweiligen Unterstützung w i r d auf einer jeden Sonntagnachmittag stattfinden Sitzung der Diakone unter dem Vorsitz eines Predigers in der Konsistorienkammer der Großen Kirche festgelegt. Mindestens einmal im Monat findet ein gemeinsamer Besuch von Haupt- und Unterdiakonen bei den Armen statt, bei dem man sich nach ihren Anliegen erkundigt, sie zum Gottesdienst sowie zur Ehrbarkeit und gegebenenfalls zur Arbeit anhält. Im Einverständnis mit der weltlichen Obrigkeit stellen die Diakone zwei Armenvögte an, die in der Stadt dafür sorgen, dass der Bettel unterbleibt und arme Durchreisende ins Gasthaus geleitet werden. Alle Bürger sind angewiesen, Armen nichts zu geben, sondern sie stattdessen an die Diakone zu verweisen. Finanziert w i r d die Diakonie der haussitzenden Armen durch die Kollekten. Eine zusätzliche Unterstützung erfuhr sie wie auch das Gasthaus durch die Geld- und Naturalienspende der Schiffergilde, die seit dem Mittelalter ihre eigene Almosenordnung hatte. Schließlich gab es in Emden bereits seit 1558 eine selbständige Diakonie der Fremden, gemeint sind die wegen ihres Glaubens vertriebenen Niederländer, die die Armen mit Kollekten unterstützte. Nicht nur gegenüber dem lutherischen, sondern auch gegenüber dem reformierten Züricher Modell besteht die Besonderheit der von a Lasco und Calvin herkommenden Diakonie darin, dass sie als Funktion eines kirchlichen Amtes angesehen w i r d und nicht in den Händen des Staates liegt. Es sind kirchliche Diakone, die in Verbindung auch mit weiblichen Helfern die Armenpflege durchführen. Die finanzielle Unterstützung dazu bringt die Kirchengemeinde mit ihren Kollekten auf. Die weltliche Obrigkeit kommt nur an zwei Stellen ins Spiel, einmal bei dem Rechenschaftsbericht der Vorsteher des Gasthauses und dann bei der Anstellung der Armenvögte, also der Armenpolizei. Ansonsten ist die Diakonie nur der Kirchengemeinde Rechenschaft schuldig.

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Diese selbständige kirchliche Diakonie gelangte im 17. Jahrhundert in den Niederlanden zur vollsten Blüte 3 7 . Jede Gemeinde unterhielt hier eine Diakonie, deren Aufgabe darin bestand, die Armen nicht durch A l mosen an den Bettel zu gewöhnen, sondern sie, wo möglich, wieder der Arbeit zuzuführen. Die aus Sammlungen i n der Kirche und in Häusern erbrachten Mittel stiegen in Amsterdam, wo die reformierte Gemeinde seit 1578 eine Diakonie unterhielt, von 1663 Gulden im Jahre 1578 auf 137471 Gulden im Jahre 1625. Die Zusammenarbeit mit den städtischen Behörden war eng. In den größeren Städten verfügte die Diakonie auch über Waisenhäuser, Altersheime, Hospitäler und Irrenanstalten, die großenteils nicht von der Stadt, sondern von der Kirche begründet worden waren. So gibt es i n Amsterdam neben dem 1579 errichteten Bürgerwaisenhaus noch die Waisenhäuser der einzelnen Kirchengemeinden. Die finanziellen Mittel zum Unterhalt der kirchlichen Einrichtungen wurden durch regelmäßige Haussammlungen aufgebracht, bei Bauvorhaben bewilligt die Regierung sogar Lotterien. Die Einrichtungen werden von Diakonen und Diakonissen geleitet, die Haushalt, Küche und Wäsche überwachen, aber auch sonst für die Armen und Kranken zuständig sind. Die Amsterdamer Diakonie verfügte selbst über eine eigene Bäckerei und Brauerei. In den Waisenhäusern richtet die Diakonie auch Schulen ein, damit die Kinder eine allgemeine und religiöse Erziehung erhalten, um sie so auf ihr späteres Berufsleben vorzubereiten. In seinem 1698 erschienenen und dem brandenburgischen Kurfürsten gewidmeten Werk „Holländischer Kirch- und Schulen-Staat" fasst der lutherische Pfarrer Benthem seine Erfahrungen in der Republik der Niederlande mit den Worten zusammen, es sei ihm gewesen, als wandle er auf den Gassen des alten Jerusalem, wo keine Bettler zu sehen waren. Man habe den Eindruck, als lebten die Eltern der Waisen hier noch und als erhielten die armen Witwen durch den Verlust ihrer Männer noch einen Gewinn. Auch fehle es den schwachen Alten nicht an Kräften, da ihnen die Starken helfend zur Seite stünden 3 8 . Und in der Aktivität der reformierten Diakonie erblickt Benthem eine Hauptursache für den blühenden Zustand der Republik. V. Schluss

Der Subsidiaritätsgedanke fand also im reformierten Kontext unterschiedliche Anwendung. Erstens sprach man ausgehend von Überlegungen zum Widerstandstandsrecht bei Calvin den Ständen und der niederen Obrigkeit eine Selbständigkeit zu, die deren Widerstand gegen 37 Vgl. G. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Bd. 3, Stuttgart 1890, 158 ff. 38 Ebd. 162.

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eine zur Tyrannei entartete Obrigkeit legitimieren sollte. Die Verteidigung der ständischen Verfassung geschah auf dem Hintergrund der Entwicklung i n Frankreich, wo sich die Krone dem Calvinismus verschloss und daher keine Reformation von oben stattfand. Zugleich waren hier die Stände und die niedere Obrigkeit mit Hugenotten durchsetzt. Hier setzte man sich also aus konfessionspolitischem Interesse dem Ausgriff des frühabsolutistischen Staates zur Wehr. Zweitens insistierte Calvin im Rahmen der Kirchenzuchtsdiskussion i n Genf auf einer Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat. Nicht die weltliche Obrigkeit sollte die Kirchenzucht durchführen, sondern ein eigenes kirchliches Organ. Dies wurde biblizistisch mit der Einrichtung des Ältestenamtes begründet, dem die Kirchenstrafe der Exkommunikation anvertraut war. Allerdings sollte die weltliche Obrigkeit die Kirche bei der Ausübung der Kirchenzucht unterstützen. Drittens erhielt die calvinistische Kirche dort, wo sie nicht von oben etabliert, sondern unabhängig von der weltlichen Obrigkeit aufgebaut wurde, eine presbyterial-synodale Verfassung. I n diesem Fall war die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber der weltlichen Obrigkeit weitgehend gesichert. Die hugenottische Kirche geht von der Selbstverwaltung der Ortgemeinden mit den Ämtern von Pfarrer, Ältestem und Diakon aus, die alle von ihr nicht lösbaren Probleme weiterleitet an die übergeordneten Provinzial- und Generalsynoden. I n der niederländischen Kirche wurde dabei zwischen Ortgemeinde und Provinzialsynode die Classicalversammlung eingeschoben, die alle Kirchenzuchtsfragen behandeln soll, die auf der Ebene der Ortsgemeinde strittig sind. Viertens wurde im Calvinismus wie die Kirchenzucht auch die Diakonie unter Verweis auf die biblische Ämterstruktur als eine Aufgabe der Kirche betrachtet. Ähnliches ließe sich i m Hinblick auf den schulischen Unterricht sagen. Neben dem Ältestenamt, das für die Sündenzucht zuständig ist, musste es daher ein Diakonenamt geben, das mit der Armen- und Krankenpflege betraut ist. Ebenso wie die Ältesten erwarten die Diakone dabei die Unterstützung der weltlichen Obrigkeit für ihre Tätigkeit, die ansonsten der Staat wahrnehmen müsste. Es zeigt sich somit deutlich, dass der Subsidiaritätsgedanke keineswegs ein genuin katholischer Gedanke ist. Allerdings wäre es ebenso verfehlt, ihn nunmehr als ein Spezifikum der reformierten Konfessionskultur auszugeben. Vielmehr lässt sich nur soviel sagen, dass er speziell im Calvinismus ausgeprägt ist, aber sich rein nur dort entwickeln konnte, wo der Kirche eine relative Selbständigkeit gegenüber dem Staat zugestanden wurde.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 59 - 70 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

DAS SUBSIDIARITÄTSPRINZIP I N DER LUTHERISCHEN STAATS- U N D GESELLSCHAFTSLEHRE DER FRÜHEN NEUZEIT Von Heinrich de Wall, Halle I. Einleitung Das Subsidiaritätsprinzip kommt in der aktuellen Diskussion vor allem i n zwei Zusammenhängen vor: Als Maßstab der Verteilung der Kompetenzen zwischen der E U und ihren Mitgliedstaaten sowie als allgemeiner Grundsatz der katholischen Soziallehre, der inzwischen auch außerhalb des Katholizismus Karriere gemacht hat. Ein Zusammenhang mit der Staats- und Rechtslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts - und dabei insbesondere der von Johannes Althusius - ist von Thomas O. Hüglin hergestellt worden. Er hat auf die Parallelen der Föderaltheorie des Gesellschaftsaufbaus bei Althusius und dem Gedanken der Subsidiarität hingewiesen 1 . Die Föderaltheorie Althusius' w i r d als Ausdruck reformierten Denkens bei Althusius angesehen. Insofern liegt es nahe, nach Spuren des Subsidiaritätsprinzips auch i n den lutherischen Staatslehren der frühen Neuzeit zu suchen. Ganz abgesehen von der Frage, ob tatsächlich auf eine Gesellschaftslehre des 16. Jahrhunderts Grundgedanken eines Prinzips des 20. und 21. Jahrhunderts mit seinerseits sehr heterogenen Inhalten projiziert werden dürfen, liegt darin aber eine zusätzliche Gefahr - nämlich in dem Wunsch, Hinweise auf das Subsidiaritätsprinzip zu finden, in lutherische Lehren etwas hineinzulesen. Beim ersten Hinsehen ergibt sich nämlich der Verdacht, daß föderalistische Gedanken oder gar das Subsidiaritätsprinzip i n der lutherischen Staatslehre sehr wenig geläufig sind. Dies auch deshalb, weil das Thema bisher soweit ersichtlich noch nicht behandelt worden ist. Auch bei näherem Hinsehen erweist sich dieser Verdacht als begründet, wie zu zeigen sein wird - allerdings cum grano salis. Daher kann der katholischen Soziallehre oder der reformiert geprägten Föderaltheorie von lutherischer Seite nicht der Anspruch streitig gemacht werden, Urheberin oder Ahnherrin des Subsidiaritätsprinzips zu sein. Im folgenden soll dar1 Thomas O. Hüglin, Althusius - Vordenker des Subsidiaritätsprinzips, in: Riklin, Alois/Batliner, Gerard (Hrsg.), Subsidiarität, Baden-Baden 1994, S. 97-117.

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gestellt werden, inwiefern und warum die Prinzipien von Föderalismus und Subsidiarität i n der lutherischen Staatslehre wenig ausgeprägt sind. Dabei bedarf es zunächst der Einschränkung und der Erläuterung des Themas. Die Themenstellung arbeitet mit der problematischen Prämisse, daß es so etwas wie eine spezifisch lutherische Staatslehre gebe. Dies ist aus verschiedenen Gründen zu hinterfragen. Die Grundlehren der lutherischen Reformation sind keine Staatslehren. Hier geht es um das Verständnis des christlichen Glaubens, wobei der Staat, sofern man in der frühen Neuzeit überhaupt von Staat reden kann, zwar nicht ignoriert wird, aber jedenfalls nicht im Zentrum steht. Wenn von lutherischer Staatslehre die Rede ist, dann ist hier also die Staatslehre von Lutheranern, vor allem von lutherischen Autoren im Umfeld der Disziplinen der Politica und des Jus publicum universale gemeint. Da viele dieser Lehren nicht allein den Staat, sondern auch die kleineren und vorstaatlichen Verbände behandeln, ist die Bezeichnung als Staats- und Gesellschaftslehre zutreffender. Die hier zu untersuchende zeitliche Epoche ist freilich so lang, daß naturgemäß nur ein sehr grober Überblick gegeben werden kann. Diese umfaßt nun einen ebenso zeitlich wie personell großen Anteil der deutschen Staatslehre überhaupt. Er deckt eine große Bandbreite von Lehren und Meinungen ab und es ist sehr zweifelhaft, ob hier überhaupt aufgrund der Zugehörigkeit zur lutherischen Konfession zu differenzieren ist. Lutheraner sind in vielen der unterschiedlichen wissenschaftlichen Richtungen zu finden 2 . Die Problematik solcher konfessioneller Zuweisungen gilt insbesondere im Verhältnis zu reformierten Lehren. Immerhin ist aber doch festzuhalten, daß eine föderale Lehre wie die des Althusius bei den lutherischen Staatslehrern selten vorkommt. Dieser Befund verliert an Aussagekraft, wenn man die Gesamttendenz der Staatslehren der frühen Neuzeit in Rechnung stellt. Wir haben es hier, bei allen Unterschieden im wissenschaftlichen Ansatz und in den Einzelheiten, vielfach mit Lehren zu tun, die die Herleitung einer einheitlichen Staatsgewalt mit der Erklärung und Legitimation der Territorialherrschaft und damit ganz überwiegend der fürstlichen Monarchie verbanden. Die damit verbundene Tendenz zu einem Gewaltenmonismus und zu Gewaltenkonzentration ist nun dem Gedanken der Subsidiarität eher abträglich als ein föderales Modell nach Art Althusius'.

2 Dazu mag ein Blick i n die Darstellungen der unterschiedlichen Lehren im von Michael Stolleis herausgegebenen Band „Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert" (2. Aufl. Frankfurt a.M. 1987 - textidentisch mit der 3. Aufl. München 1995) ausreichen. Die dort behandelten sind ganz überwiegend Lutheraner, auch wissenschaftliche Antipoden wie Bogislav v. Chemnitz und Dietrich Reinking.

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Dies ist allerdings nicht zwingend, wäre es doch auch denkbar, unter dem Dach der Fürstensouveränität ein Modell weitgehender Delegation von Aufgaben nach unten, das heißt auf niedere Einheiten und Verbände vorzusehen. So hat es durchaus Lehren gegeben, die einerseits die Gewalteneinheit beim Souverän betonen, andererseits aber auch die Vorzüge der kleineren collegia, corpora et universitates hervorheben. Entsprechende Gedanken finden sich sogar bei Jean Bodin, der freilich Katholik war 3 . Dennoch scheint mir die Aussage gerechtfertigt, daß die Betonung fürstlicher Souveränität in den meisten Staatslehren dem Gedanken von Föderalismus und Subsidiarität nicht günstig waren. II. Lehren bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts Wenn man die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation bedenkt, scheint dies doch überraschend. Das Gegenüber und Miteinander von Reich und Territorien, von Kaiser und Reichsständen hätte an sich ein föderales Modell nahe gelegt, das ja auch von einigen durchaus vertreten wurde. Allerdings ist es demgegenüber auch bezeichnend, daß sich „Cäsariner" und „Fürstenerianer" darum stritten, ob das Reich als echte Monarchie aufzufassen war 4 . Einer der wenigen, die das Reich konsequent als (Einheits)monarchie verstanden war der gleichzeitig dezidiert lutherische Dietrich Reinkingk 5 . Aufschlußreich ist es auch, daß der Lutheraner Pufendorf mit seinem berühmten Ausspruch das Reich als ein „irreguläre aliquod et monstro simile" bezeichnet. Beides zeigt, daß eine Orientierung am Bodinschen Souveränitätsbegriffs, die einen konkreten Träger der Herrschaftsgewalt, einen Monarchen oder eine Notabelnversammlung, als Kennzeichen regulärer Staatlichkeit verstand und ihrer Verteilung auf eine Vielzahl von Instanzen skeptisch gegenüber stand, nicht weiter führte und auch der Ausarbeitung einer Theorie föderaler Staatlichkeit z.T. entgegenstand. Immerhin: Selbst wenn Cäsariner wie Reinkingk als Verteidiger des Reiches gegen die Souveränitätsbestrebungen der Territorialfürsten auftraten, so setzte das eine gegliederte politische Ordnung voraus, die die Voraussetzung für Subsidiaritätsvorstellungen i n sich birgt. Das Gefüge von Reich und Territorien ist eine Wurzel des deutschen Föderalismus, der seinerseits - jedenfalls im Verhältnis zum Gesamtstaat - ein Verhältnis der Subsidiari3 Jean Bodin, De Republica l i b r i sex, 5. Ed. Frankfurt 1609, Lib. I I I cap. V I I (S. 514, 539); s. dazu auch Gierke , Otto v., Johannes Althusius, 7. Aufl., Neudr. Aalen 1981, S. 241. 4 s. dazu Link, Christoph, Herrschaftsordnung und Bürgerliche Freiheit, Wien, Köln, Graz 1979, S. 67 ff. m.Nachw. 5 Zu ihm Link, Christoph, Dietrich Reinkingk, in: Stolleis, Staatsdenker (FN 2), S. 78 ff. (89, 91).

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tät begünstigt. Gleichwohl kann man Lehren, die die Realität des Reiches und den Begriff der einheitlichen Souveränität in Einklang zu bringen suchten, kaum als Urahnen des Subsidiaritätsgedankens bezeichnen. Dies schon deshalb, weil sich i n diesen Lehren das Verhältnis von Reich und Ständen nicht nach einem Schema abgestufter Gemeinschaftsaufgaben ergibt - die „Auf gaben Verteilung" zwischen Reichs- und Territorialgewalt erfolgte nicht nach dem Subsidiaritätsgedanken - und weil sich diese Ansätze für einen gestuften Staatsaufbau im wesentlichen auf dieses Verhältnis beschränken. Von einem übergreifenden sozialen Prinzip ist hier noch nicht die Rede. Wie auch immer man das Verhältnis zwischen Reich und Territorien beschreiben w i l l und unter dem Vorbehalt, daß das Bodinsche Souveränitätskonzept mit der Realität der Reichsverfassung nicht in Einklang zu bringen war und daher durch die Reichspublizistik nicht unverändert rezipiert werden konnte: Eine wesentliche Tendenz i n der frühneuzeitlichen Staatslehre ist der Versuch der Zusammenfassung unterschiedlicher Herrschaftstitel zu einer einheitlichen Staatsgewalt und der Legitimierung eines von ständischen Bindungen befreiten einheitlichen und schlagkräftigen Territorialstaates. In einer deutlichen Spannung zu dieser Betonung der staatlichen Souveränität bzw. der Territorialhoheit stand freilich häufig die Herrschaftspraxis und -intensität. Tatsächlich wurden viele Herrschaftsaufgaben nicht durch die entstehenden staatlichen bzw. fürstlichen Behörden durchgeführt, sondern durch ständische Einrichungen, im Rahmen von Landgemeindeordnungen etc. Hierfür konnten sich die Gemeinden und andere Kooperationen ja auch auf das positive, überkommene Recht berufen. Daher ist es auch wenig verwunderlich, daß die positive Jurisprudenz, auch Lutheraner, als Verteidiger solcher Rechte gegenüber dem erstarkenden Staat auftrat 6 . Auch ein Vertreter des Fürstenstaates und dezidiert lutherischer Staatslehrer wie Veit Ludwig von Seckendorff gehört zu ihren Verteidigern 7 . Allerdings wurden diese Rechte zunehmend als Privilegien aufgefaßt. Die davon Begünstigten wurden nicht selbst als Träger eigenständiger Herrschaftsrechte verstanden, sondern als Inhaber eines landesherrlichen Privilegs und mußten ihre Stellung damit vom Souverän ableiten. I n der Staatslehre wurde diese Tendenz durch die Konzentration aller Herrschaftsrechte i n der Souveränität theoretisch abgesichert. Da die Souveränität alle Herrschaftsrechte umfaßte, mußte auch jede Herr6 Zu Wesembeck und Donellus s. Gierke, Althusius (FN 6), S. 239, 255. 7 Seckendorff, Veit Ludwig v., Teutscher Fürsten Stat, ed. 3 Frankfurt a.M. 1665, Nachdr. Glashütten 1976, 1. Theil cap. IV (S. 51), 2. Theil cap. IV (S. 77 ff.); cap. I X (239 ff.); s.a. Stolleis, Michael, Veit Ludwig von Seckendorff, in: Stolleis, Staatsdenker (FN 2), S. 155; Dreitzel, Horst, Monarchiebegriffe i n der Fürstengestellschaft, Bd. 2, Köln, Weimar, Wien 1991, S. 493 ff.

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schaftsgewalt im Staat auf einen vom Souverän verliehenen Titel zurückgeführt werden können. Die Souveränität absorbiert somit alle Z w i schengewalten. Konsequenterweise sind dann Gemeinden und Korporationen nichts anderes als staatliche Abteilungen für Verwaltungszwecke wie etwa bei Henning Arnisaeus 8 . Daran änderte auch das den Theorien des 16. Und 17. Jahrhunderts meist zugrundeliegende aristotelische Erbe nichts. Zwar war im Aristotelismus für niedere Gemeinschaftsstufen als den Staat durchaus Raum. Dieser wurde ja als Vollendung einer Reihe vorstaatlicher Gemeinschaften begriffen. Allerdings wurden hier neben den einfachen Herrschaftsbeziehungen von Mann über Frau, Vater über Kinder und Herr über Diener als zusammengesetzte Gemeinschaften nur die Familie bzw. Hausgemeinschaft für „natürliche" Vergemeinschaftungsstufen gehalten. Gemeinden oder sonstige unterstaatliche Sozialgebilde waren dagegen nicht als notwendige Stufe vorausgesetzt. Insofern war der von den aristotelischen Theorien vorausgesetzte natürliche Gemeinschaftstrieb des Menschen als Grundlage für eine umfassendere föderale Struktur und für den Subsidiaritätsgedanken ungeeignet. Zudem betrachten die aristotelischen Politiken die vorstaatlichen Gemeinschaften und auch die ci vitas selbst lediglich als „Materie" des Staates, die erst durch die Staatgewalt - imperium bzw. maiestas - zur Respublica, zum Staat geformt w i r d 9 . Indes kamen auch Lehren vor, die einem Föderalismus einen gewissen Raum ließen. Hier sind insbesondere Christoph Besold und Ludolf Hugo 1 0 zu nennen. Letzerer gilt ja z.T. als Ahnherr des deutschen Föderalismus. Indessen beschränkt sich auch der bei diesen ausgeführte Ge8 Arnisaeus, Henning, De Jure Maiestatis l i b r i très, Frankfurt 1689, Lib. I I cap. 2 und 4, Lib. I I I cap. 7 § 10; Doctrina Politica in genuinam Methodum quae est Aristotelis Reducta, Ed. Nova, Straßburg 1648, cap. 11 (S. 104 ff.) und cap. XV. s.a. Gierke, Althusius (FN 6), S. 240 m.Nachw. Zu Arnisaeus s. Dreitzel, Horst, Protestantischer Aristotelismus und Absoluter Staat, Wiebaden 1970. S.a. Horn, Johann Friedrich, Politicorum pars architectonica, de civitate (1663), Frankfurt 1672), Lib. I I cap. I I § XIV, wonach jede Versammlung der Sanktion des Souveräns bedarf. Allerdings bezieht sich Horn hier allein auf Ständeversammlungen (Comitia) und Rats Versammlungen (Concilia). Gierke, Althusius (FN 6), S. 252 dürfte diese Stelle überinterpretieren, wenn er sie auf alle außerstaatlichen Korporationen bezieht. Diese werden an anderer Stelle, nämlich als „Materie" des Staates behandelt. Dieses Schema findet sich auch bei anderen der aristotelischen Politiken, etwa Arnisaeus. Insofern ist aber Horns Theorie wegen der Leugnung jeder Verbandspersönlichkeit auch alles andere als subsidiaritätsfreundlich; s. dazu de Wall, Heinrich, Die Staatslehre Johann Friedrich Horns, Aalen 1992, S. 163 ff. 9 s. etwa Arnisaeus, Doctrina Politica (FN 8), Lib. I cap. VI, Horn, Politica Architectonica (FN 8), Lib. I I cap. I § 1 (S. 155 f.). s. dazu auch de Wall, Die Staatslehre Johann Friedrich Horns (FN 8), S. 52 ff. m.Nachw. 10 Henricus Binnius (Praes./Ludolphus Hogo (Resp.), De statu regionum Germaniae, Helmstedt 1671, Einl. und cap. 1; Besold, Christoph, Juridicae-Politicae Dissertationes, Straßburg 1624, Diss. 6: De Jure Territorium, I I I (S. 277 f.).

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danke, es könne einen aus verschiedenen staatsähnlichen Körpern zusammengesetzten Staat, eine respublica composita geben, auf die oberste politische Ebene. Man hatte hier das Verhältnis von Reichsständen und Reich im Blick. Eine umfassendere föderale Struktur und ein dementsprechend umfassenderer Subisidiaritätsgedanke ist hier nicht angelegt. III. Vertragslehren des Absolutismus bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Auch in den naturrechtlichen Theorien einer vertraglichen Entstehung des Staates, wie sie etwa von Samuel Pufendorf und von Christian Thomasius vertreten w i r d 1 1 - um nur zwei der wichtigsten Exponenten dieser zur herrschenden Lehre des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts werdenden Theorie zu nennen - , ändert sich an der ungünstigen Situation für Föderalismus und Subsidiarität nichts. Dies läßt sich unter anderem darauf zurückführen, „daß den im Staate enthaltenen engeren Gemeinschaften der naturrechtliche Geburtsschein versagt blieb", wie Otto von Gierke im vierten Bande seines Deutschen Genossenschaftsrechtes formuliert h a t 1 2 . Für eine Lehre wie die des Thomas Hobbes versteht sich das von selbst. Gehen sowohl Staat als auch Staatsgewalt unmittelbar aus einem Vertrag der Individuen hervor, in dem diese auf ihr natürliches Recht auf alles zu Gunsten des Herrschers verzichteten, ist für eine Selbständigkeit vor- und unterstaatlicher Gemeinschaftsbildungen kein Raum. Aber bekanntlich sind die deutschen Theoretiker diesem Modell nicht gefolgt. Vielmehr unterscheidet man hier zwischen dem Gesellschafts- und dem Herrschaf tsvertrag 1 3 . Das änderte allerdings nichts daran, daß mit dem Herrschaftsvertrag auch die gesamte Herrschaftsgewalt an den einen Träger der Staatsgewalt überging. Auch hier absorbiert damit die Souveränität alle Herrschaftsrechte etwaiger intermediärer Gewalten. Allerdings war dieses Vertragsmodell an sich nicht von vornherein auf die staatliche Gemeinschaft beschränkt. Es war ja durchaus denkbar, auch vorstaatliche bzw. kleinere Verbände ebenso wie den Staat als Er11 Samuel Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium l i b r i octo, cum annot. Ioannis Nicolai Hertii, Ed. Nova, Frankfurt 1706, Lib. V I I cap. I I §§ 6 ff. (S. 922 ff.); Thomasius, Christian, Institutionum Jurisprudentiae Divinae l i b r i très, ed. 7, Halle 1730, Lib. I I I cap. I §§ 62 ff (S. 294). Zu ihnen und weiteren (Boehmer, Wolff), S. Stolleis, Michael, Geschichte des Öffentlichen Rechts i n Deutschland, Bd. 1 (1988), S. 282 ff. m.Nachw. 12 Gierke, Otto v., Das Deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. IV (1913), Neudr. Darmstadt 1954, S. 333. 13 s. z.B. Pufendorf, De Jure Naturae (FN 11), Lib. V I I cap. I I §§ 7 ff. (S. 922 ff.); s. dazu Kersting, Wolfgang, Die politische Philosophie des Gesellschafts Vertrags, Darmstadt 1994, S. 225 ff.

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gebnis vertraglicher Vereinbarungen anzusehen. Indes erscheinen derlei kleinere Verbände in der Vertragslehre keineswegs wie der Staat als notwendige, sondern lediglich als willkürliche Gemeinschaften, deren Daseinsberechtigung von staatlicher Sanktion abhing. Allein die Familie wurde als naturrechtlich notwendige Gemeinschaft mit einer gewissen Eigenständigkeit ausgestattet. Insofern führte die Naturrechtslehre zunächst nur die aristotelische Tradition fort 1 4 . Ein solches Konzept findet sich etwa bei Pufendorf, bei dem i n der naturrechtlichen Abfolge der Gemeinschaften der Staat unmittelbar auf die Hausgemeinschaft folgt. Ähnlich äußert sich Thomasius, demzufolge die Gemeinden als bloße partes reipublicae keine besondere Verbandsstufe seien und daher auch bei Aristoteles nicht gesondert behandelt würden 1 5 . Ungeachtet der an sich staatsabsolutistischen und zentralistischen Konstruktion der Souveränität enthalten aber z.B. auch die Lehren Pufendorf s und diejenige des Thomasius - Schülers Justus Henning Böhmer Ansätze, aus denen später eine stärkere Stellung der vorstaatlichen bzw. kleineren Gemeinschaften entwickelt werden konnte. Diese Lehren sahen nämlich in unterschiedlich gründlicher Ausarbeitung immerhin eine allgemeine Theorie menschlicher Zusammenschlüsse bzw. juristischer Personen vor. So entwickelt etwa Pufendorf eine allgemeine Lehre der „personae morales compositae" und stellt Justus Henning Böhmer seinem jus publicum universale eine Theorie nichtstaatlicher Korporationen voran 1 6 . Dies konnte nur einen Sinn haben, wenn diesen Gemeinschaften auch Funktionen und bestimmte Rechte zukommen konnten. Allerdings blieben sie fundamental vom Staat unterschieden. A l l diese Gemeinschaften - außer dem Staat - wurden nämlich als societates aequales bezeichnet und verstanden, deren Kennzeichen die interne Gleichheit der Mitglieder ist. Die jeweiligen Befugnisse und Rechte der Gemeinschaften konnten nur begriffen werden als gegenseitige Abmachungen der jeweiligen Mitglieder. Eigenständige Herrschaftsbefugnisse im Sinne einer einseitigen Regelungsmacht hatte dagegen allein der Staat. Dieser bildete somit die einzige societas inaequalis, i n der der Souverän durch den Herrschaftsvertrag mit einseitiger Regelungsbefugnis begabt worden i s t 1 7 . Damit waren die Gemeinschaften unterhalb des 14 Es paßt insofern durchaus ins Bild, daß gerade der Hausgemeinde und dem Hausvater eine besondere Rolle zugedacht wurde, s. dazu den Beitrag von Harm Klueting in diesem Band. is Pufendorf, De Jure Naturae (FN 11), Lib. V I cap. I - I I I (S. 793 ff.) und Lib. V I I cap. I § 1 (897 ff.); Thomasius, Institutiones Jurisprudentiae Divinae (FN 11), Lib. I cap. 1 §§ 91, 93; Lib. I l l cap. I §§ 15 ff. (S. 31 f.); s. dazu Gierke, Althusius (Fußn. 6), S. 253 f.). 16 Pufendorf, De Jure Naturae (FN 11), Lib. I cap. I §§ 13 ff. (S. 10 ff.), Lib. V I I cap. 2 §§ 1 ff.; Böhmer, Justus Henning, Introductio i n lus Publicum Universale, ed. 2, Halle 1726, pars spec. Lib. I cap. 2 §§ 1 ff. (S. 154 ff.).

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Staates sozusagen in den rein privatrechtlichen Bereich abgedrängt. Überdies standen sie unter einer sehr umfangreichen Korporationsaufsicht und Korporationshoheit des Staates. Jede Befugnis beruhte danach auf einer Konzession des Souveräns 18 . Der Aufbau des Staates erfolgte mit anderen Worten allein von oben nach unten. Ungeachtet dieser an sich rein staatsabsolutistischen Grundanschauung mußte allerdings etwa Justus Henning Böhmer der Tatsache Rechnung tragen, daß die kleineren Korporationen auch i n seinem System eine gewisse Eigenständigkeit auf sozusagen privatrechtlicher Grundlage entwickeln konnten. So räumte er - allerdings mit Bezug auf die frühe Kirche - ein, daß aufgrund der vertraglichen Abmachungen der Mitglieder durchaus etwas ähnliches entstehen könne, wie eine eigene Herrschaftsmacht. In den ersten drei Jahrhunderten ihrer Existenz sei die Kirche „quasi sui juris", beinahe wie nach eigenem Recht geordnet gewesen. Diese Aussage schwächt er allerdings sogleich ab, indem er den Zustand der Kirche in der ihr feindlichen Umwelt der ersten drei Jahrhunderte als status extraordinarius ex necessitate bezeichnet 19 . Auch die naturrechtlichen Vertragstheorien kannten aber so etwas wie Zwischenstufen zwischen den Individuen bzw. den Familien und dem Staat, auch wenn diese zunächst dem Staat vollständig unterworfen waren, der eben als Organisation souveräner, ungeteilter Herrschaft konzipiert war. IV. Ansätze korporativer Eigenständigkeit im 18. Jahrhundert Es war daher im Grunde nur ein kleiner Schritt, auf der Grundlage solcher Vertragslehren auch den kleineren Gemeinschaften eine eigenständige und eigenberechtigte Sphäre einzuräumen. Dies zeigt das Beispiel Daniel Nettelbladts. Dieser faßt nämlich auch die in einer societas aequalis vorhandenen Rechte als ursprüngliche Rechte gerade der Gemeinschaft, als jura socialia sive collegialia, „quae ex natura societatis f l u u n t " 2 0 auf und sieht hieran eine „potestas" der Gesamtheit über die Böhmer, Justus Henning, lus parochiale, ed. 6, Halle 1760, Sect. I Cap. I § X V I (S. 8); Böhmer erkennt zwar auch andere societates inaequales unterhalb des Staates an. Diese können aber ihre Kompetenzen allein vom Staat ableiten, s. lus Publicum Universale (o. Anm. 16), pars spec. Lib. I I cap. IV § X (S. 449); Christian Thomasius, Vollständige Erläuterung der Kirchen-Rechts-Gelahrtheit (1738), Nachdr. d. 2. Aufl. Frankfurt und Leipzig 1740, Aalen 1981, 1. Teil. (= Erläuterung zu Pufendorfs „De habitu Religionis Christianae ad vitam civilem", 1687), zu § 30, (S. 225 ff.), zu § 41 (S. 301 f.) 18 Zu Thomasius Luig, Klaus, Christian Thomasius, in: Stolleis, Staatsdenker (FN 2), S. 237, 252 f. 19 Böhmer, Justus Henning, X I I Dissertationes Iuris Ecclesiastici Antiqui, ed. 2, Halle 1729, Diss. X I I § X X V (S. 557 f.). 20 Nettelbladt, Daniel, Systema Elementare Jurisprudentiae Naturais, Ed. V, Halle 1785, Lib. I I sect. I Tit. I I § 335 (S. 142 f.).

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Mitglieder. Von der societas inaequalis, dem Staat, unterscheiden sich diese Gemeinschaften dadurch, daß diese potestas der Gemeinschaft selbst zugerechnet w i r d und nicht einem davon unterschiedenen Herrschaftsträger, einem imperans. Der persönlichen Souveränität des Herrschers über den Staat steht die Verbandsmacht der Gemeinschaften gegenüber 21 . Da den Gemeinschaften ursprüngliche Kollegialrechte zustehen können, die einer potestas gleichen, w i r d die Vorstellung, daß die Gemeinschaften vollständig von der Konzession durch den jeweiligen Souverän abhängig sind, jedenfalls z.T. überwunden. Ein solches Konzept taucht außer bei Nettelbladt z.B. bei Gottfried Achenwall auf 2 2 . Hier wäre ein Ansatz gewesen, den Staat als einen von unten nach oben konstruierten Verband anzusehen. Indes blieb es zunächst dabei, daß der Schlußstein dieses Gesellschaftsaufbaus, der Staat, kraft seiner Souveränitätsrechte und der damit verbundenen Aufsicht über alle vorstaatlichen Gesellschaften 23 die zentrale und durch die Vorstellung der Kollegialrechte kaum eingeschränkte, alles überwölbende Machtfülle eingeräumt bekommt, so daß hier von Subsidiaritätsprinzip oder einem echten Föderalismus kaum die Rede sein kann. Daß dennoch eine Trendwende eingetreten war, erweist sich darin, daß am Ende des 18. Jahrhunderts August Ludwig Schlözer formulieren konnte: „die große Gemeinde muß sie (die Gesellschaften) nicht nur entstehen lassen, sie muß sie sogar schützen: die Ideen und Handlungen der einzelnen Gilde gehen jene nicht weiter an, als daß sie nur dem Bürgervertrag nicht zu wider sein dürfen" 2 4 . Allerdings sind damit - nach heutigem Verständnis - gesellschaftliche Vereinigungen, hier namentlich die Kirche, gemeint. Es geht Schlözer um (religiöse) Vereinigungsfreiheit im liberalen Sinn. Föderalismus, ein gegliederter Staatsaufbau oder ein allgemeines Prinzip der Aufgab en Verteilung nach Subsidiarität ist damit nicht gemeint 2 5 . Indes zeigen auch andere Lehren aus anderer Perspektive besondere Vorlieben für die gegliederte Gesellschaft. Dazu gehört etwa Johann Jacob Moser mit seiner umfangreichen Darstellung und Summe des positiven Rechtes auf Reichs- und Territorialebene 26 . Dazu gehört aber auch Justus Moser mit seiner Vorliebe für die ständische Gliederung der Gesellschaft, die nicht nur als konservativer Versuch der 21 s. dazu auch Gierke , Genossenschaftsrecht IV (FN 12), S. 428. 22 Achenwall, Gottfried, Prolegomena Juris Naturalis, Göttingen 1768, Lib. I I Tit. I I §§ 24 ff. (S. 17 ff.). 23 Nettelbladt, Systema elementare (FN 20), I I Pars. I Lib. I Cap. I I Tit. V § 1249 (S. 511); s.a. Daries, Joachim Georg, Discours über sein Natur- und Völkerrecht, 2 Bde., Jena 1762 f., Pars. Spec. Sect. V Cap. I i Tit. I (S. 981). 24 Schlözer, August Ludwig, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, Göttingen 1793, Nachdr. 1970, § 19 (S. 71), siehe Gierke, Althusius (FN 3), S. 262. 25 Dies verkennt m.E. Gierke, Althusius, S. 262. 26 Dazu s. Laufs, Adolf, in: Stolleis, Staatsdenker (FN 2), S. 284 ff. (289).

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Rekonstruktion altständischer Ordnung zu verstehen ist, sondern auch gerade den modernen Gedanken der genossenschaftlichen Autonomie hervorhebt 27 . So kann man am Ende des 18. Jahrhunderts Tendenzen beobachten, die dem Gedanken der Subsidiarität des Staates deutlich näher stehen als die naturrechtlichen Vertragstheorien des fürstlichen Absolutismus. Auch bei Wilhelm von Humboldt taucht der Gedanke auf, „daß die freiwillige, gemeinschaftliche Veranstaltung der Bürger dem Staate vorzuziehen" sei, so fern sie ausreicht 28 . Hier ist der Subsidiaritätsgedanke ähnlich wie bei Schlözer i n seiner freiheitlichen, liberalen Variante formuliert. Allerdings war Humboldt kein besonders überzeugter Lutheraner 2 9 . V. Die Staatslehren und die staatskirchenrechtlichen Theorien der frühen Neuzeit Dies führt zurück zur Frage der Beziehung der hier vorgestellten Theorien zu genuin konfessionellem Gedankengut. Steht die weitgehende Konzentration der lutherischen Staats- und Gesellschaftslehren auf den souveränen Fürstenstaat ebenso in Zusammenhang mit lutherischem Grundverständnis wie die Föderaltheorie bei Althusius Ausdruck reformierten Denkens ist? Insofern ist zunächst jedenfalls zu konstatieren, daß die typischen, von Lutheranern vertretenen Lehren über das Staat Kirche Verhältnis i n deren allgemeine Staats- und Verbandslehre eingefügt werden können. Dabei sind diese Lehren durchweg vor dem Hintergrund des landesherrlichen Kirchenregiments zu verstehen. Hier kann erinnert werden an die Theorien des Episkopalismus, des Territorialismus und des Kollegialismus. Ersterer gründete die Befugnisse des Landesherren gegenüber der Kirche auf einem reichsrechtlichen Titel, nämlich der Suspension der geistlichen Jurisdiktion der katholischen Bischöfe über Angehörige der Augsburgischen Konfession durch den Augsburger Religionsfrieden. Diese Theorie hat ihre Grundlage im positiven Reichsstaatsrecht und behält eine gewisse Eigenständigkeit der Kirche gegenüber dem Landesherren bei. Man kann hier eine gewisse Parallele zu denjenigen ziehen, die die hergekommenen Rechte auch der Gemeinden und anderen Kooperationen betonten. Deutlicher ist der Zusammenhang beim Territorialismus als der Theorie derjenigen, die die 27 Schröder, Jan, Justus Moser, in: Stolleis, Staatsdenker (FN 2), Staatsdenker, S. 294 ff. (299). 28 Humboldt, Wilhelm von, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit der Staaten zu bestimmen (1792), in: Werke, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel, Bd. 1, 3. Aufl. Darmstadt 1980, S. 56 ff. (207, 225). 29 Dazu F. Schaffstein, in: Die Religion i n Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., hrsg. v. K. Galling, Bd. 3, Tübingen 1959, Studienausgabe 1988, Sp. 487.

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Staatsgewalt als absorptive Gewalt gegenüber allen Untergliederungen auffaßten. Christian Thomasius und Justus Henning Böhmer sind nicht nur führende Vertreter dieser allgemeinen Staatstheorien, sondern auch die führenden Theoretiker des Territorialismus 30 . Ihnen ist die Kirche nichts anderes als beliebige andere Verbände. Sie sind wie diese societates aequales und unterscheiden sich insofern fundamental vom Staat. Wie jeder Verband unterstehen die Kirchen völlig dem Staat. Demgemäß beruht auch das Kirchenregiment des Landesherren auf seiner Souveränität. Umgekehrt sind alle äußeren Befugnisse der Kirchen jenseits von Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung zurückzuführen auf die landesherrliche Konzession 31 . Staat und Kirche sind hier weitgehend verschmolzen oder besser gesagt, die Kirche als sichtbarer Sozialverband geht im Staat auf. Den Ausgangspunkt des Territorialismus, daß die Kirchen ebenso wie die anderen Vereinigungen societates aequales sind, teilen auch die Kollegialisten 32 . Allerdings billigen sie den Kirchen eine gewisse Eigenständigkeit darin zu, daß sie sie wie jeden Verband mit bestimmten ursprünglichen Rechten ausstatten wollen. Für sie gibt es ein aus dem Wesen der jeweiligen Gemeinschaft folgendes Minimum an Eigenrechten jeder Gemeinschaft, die Kollegialrechte. Wenn der Landesherr solche über seine allgemeine Verbandsaufsicht hinausgehenden inneren Kirchenbefugnisse ausübt, dann aufgrund eines innerkirchlichen Rechtstitels, nicht seiner staatlichen Souveränität. Dies entspricht einer Verbandstheorie wie der Nettelbladts, der auch zu den Kollegialisten zu zählen i s t 3 3 . Wie seine allgemeine Verbandstheorie bietet der Kollegialis-

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Zum Territorialismus allgemein Schiaich, Klaus, Der rationale Territorialismus, ZRG 85 Kan. Abt. 54 (1968), 269-340, jetzt in: ders., Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1997, S. 204-266; Link, Christoph, Herrschaftsordnung (FN 4), S. 292 ff.; Heckel, Martin, Staat und Kirche, München 1968, S. 109 ff.; ders., Religionsbann und Landesherrliches Kirchenregiment, in: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, hrsg. v. Hans Christoph Rublack, 1992, S. 130 ff. 31 Thomasius, Christian, Höchstnötige Cautelen .... der Kirchen-Rechts-Gelahrtheit, 1713, 18. Hauptstück § 2.; Böhmer, Justus Henning, lus Ecclesiasticum Protestantium, 5. Ed. Halle 1756,), Lib. I Tit X X X I I I § 8 (S. 849); ders., lus parochiale, ed. 6, Halle 1760, Sect. I Cap. I. s. dazu auch de Wall, Heinrich, Die Reformuniversitäten der Aufklärungszeit und das Kirchenrecht, ZRG 117 Kan. Abt. 86 (2000), S. 433 ff.; ders., Zum kirchenrechtlichen Werk Justus Henning Böhmers, ZRG 118 Kan. Abt. 87 (2001). Zu Thomasius jetzt auch Dreitzel, Horst, Christliche Aufklärung durch fürstlichen Absolutismus, in: Christian Thomasius (1655-1728), hrsg. v. F. Vollhardt, Tübingen 1997, S. 17 ff. (23 ff.). 32 Zum Kollegialismus grundlegend Schiaich, Klaus, Kollegialtheorie, München 1969; ders., Kirchenrecht und Vernunftrecht, ZevKR 14 (1968), S. 125, jetzt in: ders., Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1997, S. 179-203. s.a. Link, Herrschaftsordnung (Anm. 30), S. 322 ff. 33 Nettelbladt, Systema Elementare (FN 20), I. pars I Lib. I I I Tit. I I §§ 895 ff. (S. 371 ff.).

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mus auch für die Kirche einen Ansatz zu eigenständiger staatsunabhängiger Autonomie und Rechtsbildung. Allen diesen Theorien, Episkopalismus, Territorialismus und Kollegialismus, ist ihre Funktion gemeinsam, eine Rechtfertigung und juristische Absicherung des landesherrlichen Kirchenregiments zu liefern. Damit ist ein Bezug zum Luthertum hergestellt. Die politischen Rahmenbedingungen in Deutschland brachten es mit sich, daß die Reformation nur durch Unterstützung und Vermittlung durch die ihr anhängenden Territorialherren bzw. Reichsstädte überleben konnten. Dementsprechend fielen die wesentlichen Ordnungsaufgaben bei der Errichtung eines protestantischen Kirchenwesens dem Landesherrn zu bzw. waren unter seiner Kontrolle. Ungeachtet der Fragen, ob dies der theologische Wunschzustand ist und inwiefern das landesherrliche Kirchenregiment theologisch zu rechtfertigen ist, geriet das protestantische Kirchenwesen, das in Deutschland überwiegend lutherisch war, weitgehend i n die Hand der Territorialfürsten. Anders als die reformierte Kirche, die ζ. T. Traditionen einer ausgeprägten Gemeinde- und Presbyterialstruktur entwickeln konnte, ist die territoriale Landeskirche unter dem Regiment des Landesherrn alleiniger Mittelpunkt der lutherischen Kirchenverfassungsbildung. Darin lag aber zugleich auch ein wesentliches Element der Konzentration sämtlicher Herrschaftsgewalten i n der staatlichen Souveränität. Staatspraxis und Staatslehre und das Staat-Kirche Verhältnis in Theorie und Wirklichkeit standen i n enger Beziehung zueinander. Es ist daher nicht überraschend, daß sowohl in der Staatslehre als auch im Staatskirchenrecht und beides sehr gut miteinander harmonierend der „Deutsche Fürstenstaat" mit seiner Verbindung von landesherrlicher Territorialhoheit oder Souveränität und Kirchenregiment sich besonderer Aufmerksamkeit erfreute. Auch daher ist der Mangel an Ansatzpunkten für Subsidiarität im lutherischen Denken erklärbar. Indes ist auch hier wiederum an die bereits eingangs erwähnten Einschränkungen zu erinnern. Die Konzentration auf die staatliche Souveränität oder landesherrliche Territorialgewalt war keine rein lutherische Spezialität. Umgekehrt wurde die Staatslehre ganz allgemein wesentlich von Lutheranern mitbestimmt. Diese waren aber nicht die Einzigen. Auch gab es unter den Lutheranern Lehren, die eher föderales Gedankengut enthielten als andere. Ebenso wenig wie man eine einheitliche lutherische Staatslehre formulieren und diese zur Ahnherrin des Subsidiaritätprinzips erklären kann, kann man umgekehrt sagen, daß die gesamte lutherische Lehre oder spezifisch lutherisches Gedankengut unvermeidlich der Entwicklung föderaler Gemeinschaftsstruktur oder gar des Subsidiaritätsgrundsatzes entgegengestanden hätte.

I I . Politik- und gesellschaftstheoretische Rahmenbedingungen des Subsidiaritätsprinzips

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 73 - 84 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBSIDIARITY I N THE ISLAMIC WORLD: A N ALTERNATIVE MODEL OF SOCIO-POLITICAL ORDER? By Antony Black, Dundee A comparison between the phenomena of subsidiarity i n the Islamic and European worlds is worth making for two reasons. First, if, as is widely and surely rightly held, subsidiarity is a moral norm, then it must (at least for a post-Christian Kantian humanist) be universally applicable; even if it has hitherto been more developed in one place than in another. Secondly, the Islamic world seems, at first sight at any rate, to provide the closest historical parallel to Euro-Christian society; both because i t was geographically connected, and because the ideal worlds of each stemmed in part from Abrahamic monotheism and neoplatonic philosophy. Subsidiarity of one kind or another probably existed i n most, if not all, early societies. It disappeared only in societies which developed strong states, especially the more intrusive modern European state w i t h its claim to omnicompetence. The movement towards subsidiarity in modern Western society was, as is well known, precisely a reaction against overcentralisation. It may date back to Althusius, but it only became widespread i n the early USA and i n Europe since the later 19th century. This was a self-conscious constitutional programme, designed on rational principles: to reduce the danger of tyranny, ensure that decisions are made by those qualified to make them, and give more real power to more people. I n some cultures, states in the intrusive modern sense did not develop t i l l much later than i n Europe. In the Islamic world there were effective centres of political power from the late 7th century onwards, but these only claimed omnicompetence and became intrusive Western-style states in the 20th century, and especially since the 1950's. This was partly in response to Western ideas or threats. 1 In some cultures the state did not develop at all. The later 20th century saw notorious cases of regression

1 For Islamic history ton 1981, Nagel 1981. I tensively in my Islamic burgh University Press,

and political thought i n general see Hodgson 1974, Lambhave explored some of the topics discussed here more exPolitical Thought from the Prophet to the Present (Edin2001).

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from superficial statehood back into tribalism (much of sub-Saharan Africa, and Afghanistan). Here people are faced w i t h the opposite, and certainly no less serious, problem to that of modern Europe. They suffer, one could say, from an excess of subsidiarity. What kinds of group in the Islamic world historically had the kind of legal and political powers which we associate w i t h subsidiarity? What, in other words, were the counterparts to the religious organizations, guilds and so on which are found in pre-modern Europe? Unlike the monarchical-feudal states of Christian Europe, the Islamic Umma (People) linked segmental groups without destroying their internal structures. From the 7th century onwards, tribal identity continued to have meaning w i t h i n mainstream Islamic society. Clan connections continued despite some new social and political relationships. For example, the early non-Arab converts to Islam had to be attached to an Arab tribe as clients (mawali) of one of its tribesmen. 2 This space Islam left for clans and tribes may help explain why it spread w i t h such ease i n Central Asia and sub-Saharan Africa, absorbing newcomers, for example the Turco-Mongol peoples. Observation of these phenomena inspired the greatest Islamic social theorist, Ibn Khaldun (Mahdi 1957), just as observation of the Gaelic highland clans - the only remaining tribal society i n Europe after about 1000 - inspired the Scottish historical school of the Enlightenment and, through them, modern sociology. Certain new variations on the theme of Tribalism, which I w i l l call Neotribalism, were evident i n the new Islamic society. First, early Islamic society was characterised by informality and egalitarianism (Marlow 1997: 4-5). Sacred texts were transmitted and the Shari'a (the legal, moral and ritual Code) came into being, by means of an informal process, through personal contacts among individuals and groups, rather than through institutions. I n its formative period, the Shari'a depended upon oral transmission. It developed (like a language) by accretion from different sources spread by word of mouth - the Hadiths (Reports) (Schacht 1953). The primary function of the religious leaders, the 'ulama (lit. Learned, Experts) was the transmission and application of this Code; and among the 'ulama, the relationship between teacher and pupil was personal. In contrast to the Christian clergy, they were not a hierarchy; there was no formal organisation or formal test of membership. They owed their position to a mutual acknowledgment of (religious) Learning ('ilm) and piety (Mottahedeh 1980: 137-40). The 'ulama, as they developed from the 8th to the 10th century, were 'a vaguely defined body of men'. As time went 2

On early Islam see especially Crone and Cook 1977, Crone 1980.

Subsidiarity i n the Islamic World

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on, they became embedded in society at large, to such an extent that their 'other identities - as landlords, members of city factions, and so on - often overrode their common identification as ulama' (Mottahedeh 1980: 137); religious expertise was one, but only one, aspect of being a local notable. They often led, or expressed, public opinion. A second feature of Neotribalism was the division of human beings into believers and infidels (also found in Christianity); a division of the world into the House of Peace (dar al-Islam) and the House of War. On the other hand, many Islamic values had a universalist meaning. Muhammad set out to replace both the tribe and the state w i t h a religious community and a world-wide moral and legal order. The People, it was said, were bound together by faith and justice, not, like the Arab tribes, by kinship. Islam revolutionised tribal society by making the individual the focus of moral responsibility; no longer could one shelter from God behind the group. Concern for justice ought to override clan ties. 'Asabiyya (clannishness; group spirit; Gemeinschaft, almost in Toennies' sense) in the tribal spirit of helping 'your own people in an unjust cause' was to be condemned (Izutsu 1966: 64, 155-6; Othman 1960: 100). The Quran explicitly declared that what ultimately matters is not tribe, race or gender, but godliness: Ό mankind, we have created you male and female and appointed you races and tribes that you may know one another. Surely the noblest among you i n the sight of God is the most God-fearing of you' (Q. 49: 8-13).

Ethnic diversity was legitimised by the Islamic emphasis upon creed rather than race. But in practice 'asabiyya flourished i n Islamic societies. Ibn Khaldun saw it as one of the motor forces of history: a leader needs an 'asabiyya to come to power. 'Asabiyya is non-individualist but i t is also nonauthoritarian. It rests on de facto adherence and consent, for example on charisma or tradition. Even so Muhammad and his followers did succeed in creating a society that was trans-tribal and trans-national. The norms of the Shari'a provided a basis on which persons of different lineages, tribes and nations could interact, on a relatively equal footing; they could recognise one another as members of the same People, but without actually abandoning lineage, tribe or nationality. It was a new version of the monotheistic ideal of universal brotherhood. Muhammad founded a unique type of community, both face-to-face and worldwide, relating individual to group through a unique combination of rites and ethics which, in retrospect, could have been deliberately designed - as Durkheim (1912) might have predicted - to forge inter-per-

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sonai bonds on a global scale. As Nasir ai-Din Tusi would say, the reason why everyone should make the pilgrimage once in their lives is so that 'the inhabitants of distant lands might come together, acquiring some share of that felicity which the inhabitants of cities (receive) ... and (display) that natural fellowship to be found in their innate disposition'. Tusi saw all Muslims as comprising a single association (koinonia) in Aristotle's sense. Mutual help and co-operation point towards a community of the human species 'in order to attain perfection', a 'synthesis' which leads to a oneness of all i n the so-called 'Perfect Man' (Ethics, pp. 199-200). Tusi seems here to have achieved a deep integration between Aristotle and Shi'ite thought. So Islam provided a specific path, different to that taken in Egyptian or Chinese culture, by the Greek poleis or the feudal monarchies, from tribalism to a wider and more structured society. The space occupied in Roman and European culture by relatively impersonal state officials, was here occupied by the Shari'a and charismatic individuals. On the other hand, all these societies had dynasties in common. Thus I would suggest that the specific nature of Islamic society may be identified by observing that those who moulded the Islamic religion opted for a Community based on a common Law and ritual, not on political institutions. And they were in fact successful in perpetuating their socio-religious identity, despite political instability, changes of dynasty and invasions, by these means. Institutions other than those specifically devoted to promoting Islamic Right were on the margins of thought. Thus statehood was relatively weak, and pre-modern subsidiarity was relatively strong. The types of subsidiarity that existed in traditional Islamic society were, first, real or artificial kinship groups, the tribe and clan. Secondly, Islamic society involved the incorporation of quasi-autonomous religious sects or associations, such as Shi'ites and sufis, including non-Muslim monotheists: Jews, Christians, Zoroastrians (Ye'or 1985; E I s v Dhimmi). These were legal and organisational subdivisions w i t h i n the 'Umma, and w i t h i n the domains of various dynastic states, such as the Fatimids, Saljuks and Ottomans. The sultan was i n practice their direct overlord, functioning here not as Caliph but as Emperor (padishah). In practice such groups owed their security to the sultan. Christians often attained prominent positions in his service. Although people were well aware of cultural and other differences between nations, Islamic states were based on dynastic clans or tribes, such as the Saljuks, but specifically not on nations. A similar situation obtained in early medieval Europe. Races intermingled; members of ethnic

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minorities often gained political prominence, or were commercially successful (such as the Armenians). A sultan's army, on the other hand, was not uncommonly based on ethnos, for example the Turks under the 'AbAbbasids, the Saljuks and, most of all, the Mamluks. Thirdly, there were status groups. These attained special prominence i n Islamic social and political thought. This was derived from pre-Islamic Iran, and perhaps also Hinduism. I n Islam the occupational basis of status groups was especially emphasised. Once again Muslims were predisciples of Durkheim. The Indo-Iranian notion of four distinct social groups entered the Islamic world in the 9th century. It became widely accepted. When the Ottoman empire began to decline, one of the principal remedies suggested was a restoration of the ideal traditional social order focussed upon the four 'pillars' of society. Ibn Qutaiba, writing in the 9th century, listed: '(1) the learned who are the bearers of religion, (2) the horsemen who are the guards of the seat of power, (3) the writers who are the ornament of the kingdom, (4) the agriculturalists who make the lands prosperous'. This emphasised the functional nature of the classification: each group has its own contribution to make. Cultivators, although the last in the sequence, get a category of their own. The importance of agriculture is recognised: 'act kindly towards the farmers, you w i l l remain fat as long as they are fat' (in Horovitz 1930: 190-3). This functional view of the social and political structure was reinforced by another ancient-Iranian concept, which now made its appearance in Islamic literature: the 'circle of power'. 'There is no rule except through men, and men do not subsist except through property, and (there is) no property except through cultivation, and no cultivation except through justice and good government' (in Horovitz 1930: 193).3

Ibn Qutaiba quoted a hadith which stated: 'The relation between Islam, the ruler and the people is like that between tent, pole, ropes and pegs. The tent is Islam, the pole the ruler, the ropes and pegs the people. Every one ... of the(se) is dependent on the others for (its) well-being' (in Horovitz 1930: 185).

Both these statements asserted interdependence and prescribed reciprocity. They were among the classic statements of agrarian patrimonialism.

3 See also J. R. Perry , Justice for the Underprivileged: the Ombudsman Tradition in Iran, Journal of Near Eastern Studies 37 (1978), pp. 204-15.

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Ibn Khaldun gave the most elaborate version of the Circle of Power. '"The world is a garden the fence of which is the dynasty (al-dawla). The dynasty is an authority (sultan) through which life is given to good conduct (alSunna). Good conduct is a policy (or government: siyasa) directed by the ruler (al-malik). The ruler is an institution (nizam) supported by the soldiers. The soldiers are helpers who are maintained by money Money is sustenance brought together by the subjects (al-ra'iyya). The subjects are servants who are protected by justice. Justice is something familiar and through it the world (al'alam) persists. The world is a garden (in Lambton 1981: 137).

His statement, 'profit is the value realised from labour', suggests both the labour theory of value and surplus value. 4 According to Farabi, writing in the mid-10th century, the division of labour and the consequent division of society into occupational groups are dictated by nature; these have to be organised by the legislator. 'Everyone i n the ideal city must have assigned to him a single art w i t h which he busies himself solely' (Farabi , Aphorisms, 55).5 The argument that human beings depend on the division of labour and a variety of crafts was a special favourite of the 10th-century Isma'ili Brethren of Purity (Marquet 1973; E I sv Ikhwan al-Safa). They had a pro-artisan mentality: i n shaping matter into form, the craftsman mirrors the Creator's work; the humblest occupations, such as refuse-collection, are innately noble. In fact craftsmen could rise to the top of the Isma'ili hierarchy. Thus political economy was, as i n Adam Smith, based on moral considerations. Marsiglio of Padua (writing in 1324) was the first EuroChristian thinker to base the state on the division of labour. He might have got the idea from Ibn Rushd (Averroes), whose Commentary on Plato's Republic was translated into Hebrew at Beaucaire in 1320 (now the earliest surviving version). In another passage, Farabi divided the virtuous city into ranks (ajza', sing, juz'; or aqsam) derived from people's functions i n society. These were: (1) the most virtuous, those w i t h speculative and practical wisdom; (2) those who transmit such wisdom - religious teachers, poets and secretaries; (3) those who measure, thereby applying the teachings of (1) and (2) - accountants, doctors, astrologers; (4) warriors; (5) property owners farmers, herdsmen, merchants. This looks like Plato's threefold division of society, w i t h the first group of philosophers sub-divided into (l)-(3). It was an interesting way of classifying intellectual activities (Aphorisms,

4 Muqaddima , trans. Franz Rosenthal (Princeton University Press, 1957), abridged by N. Dawood (London: Routledge and Kegan Paul, 1967), pp. 231, 234, 273, 297. 5 Compare Marsiglio of Padua, Defensor Pacis, I. vii; Black 1984, 89.

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50; and ed. Walzer 1985: 437). The more usual classification was: scholars, warriors, merchants, cultivators. The general view of Farabi and the Brethren thus appears to have been that one's profession (which European thinkers from Luther to Weber would call vocation: Beruf) is part of the good life. I n these thinkers for the first time the division of society into occupational groups is actually made a requirement of Religious Law. There was no explicit ranking, and classes in the hierarchical sense may not have been intended. But the division of the ideal state into different epistemological categories was clearly based (as in Plato and pre-Islamic Iran) on the assumption that people are unequal in their mental capacities, which, especially for a Shi'ite, were all-important. Presumably (though Farabi is not explicit) his categories 1-4 comprise the elite, and the fifth the common people. Plato was, however, Islamicized in that the parts 'are united and bound together by love' (Aphorisms 53; see Marlow 1997: 53-64). Again, Nasir al-Din Tusi, writing in the 13th century, began his explanation of human co-operation and social organisation w i t h political economy, especially the crafts. The necessities of life are provided by 'the organisation of techniques (tadbir-i sina'i) such as sowing, harvesting, cleaning, pounding, kneading and cooking' (p. 153). 'For this reason Divine Wisdom has required that there should be disparity of aspirations and opinions, so that each desires a different occupation, some noble and others base, i n the practice of which they are cheerful and contented' (Ethics, 189; compare Marsiglio , Defensor I.vii). Money is 'the lesser law', 'a just mediator between men, but ... silently just'. For 'the just man is the one who gives proportion and equivalence to disproportionate and non-equivalent things' without which 'association and negotiation i n ... taking and giving could not be determined' (pp. 97-8, 157). Money is the means of measurement, equating χ amount of labour by a surveyor w i t h y amount of labour by a bricklayer. The result is equilibrium (i'tidal) and civic (or as we would say social) justice ('adl-i madani). Within the virtuous city, Tusi also graded people according to their intellectual and spiritual ability. Thus we have (a) 'the most virtuous philosophers (afadil-i hukama)', who alone have true knowledge, and are very few; (b) 'people of faith (ahl-i iman)', who take on trust what the wise say: this seems to refer to the 'ulama and Religious Judges; it may also refer to the Shi'ite community as a whole; (c) those whose knowledge is based on imagination and rhetoric; (d) image-worshippers. He also gave another grading of five status groups (rukhn: pillars), following Farabi: (1) the virtuous philosophers; (2) 'the community who bring the common people ... to degrees of relative perfection' by transmitting the teaching of the philosophers through theology, Jurisprudence and poetry - the

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'ulama again, presumably; (3) those who maintain justice and correct measurements by the crafts of accountancy, medicine and astrology; (4) warriors; (5) cultivators and tax collectors (Ethics, pp. 212-6, 230). Both Farabi and Nasir al-Din Tusi also divided society into different levels of territorial association (groupings or combinations: sing, ijtima') among individuals. According to Tusi, territorial groupings are the following: (1) household, (2) locality (street, quarter), (3) city, (4) 'great communities (umam-i kibar)' - people, nation, and (5) 'the inhabitants of the world'. Among these, household and locality corresponded to actual experience in Islamic societies. But there was no political community of the city. I n practice the only 'great community' was the dynastic state. Since, due to the inevitable division of labour (according to Tusi), each person does not produce his or her own food and other necessities on a daily basis, storage (accumulation) is required; for this we need households. Household management, Tusi noted w i t h a brush of Islamic egalitarianism, is a branch of philosophy (hikmat) which everyone requires, because 'each person, i n his own degree, is charged w i t h assuming responsibility for the affairs of a community (sc. a household), so that he is their pastor (ra'i) and they are his flock (ra'iyyat)'. One may compare this w i t h the role of the Hausvater i n Protestant thinking. Each type of group has its own chief (ra'is); the head of the household is subordinate to the head of the locality and so on, all being subordinate to 'the head of the world' or 'head of heads', who is the Absolute King or Leader. The survival and perfection of every human individual depends upon this ultimate community (p. 155). A similar five-fold classification of territorial associations is found i n Engelbert von Admont (writing 1307-10) (Black 1992: 93-4). It is not known whether he took it from a source also used by Farabi and Tusi (a pseudo-Aristotelian work?), or from Tusi or, more probably, Farabi. These passages might also be anticipations of Althusius (Black 1984: 131-41). But it is perfectly possible that Althusius thought up his distinction between household, city, province and kingdom independently. In Ottoman society, contrary to the received image of absolutism, i n practice self-management and diversity flourished. I n town and countryside, the central 'despotism' was locked into symbiosis w i t h secular and religious notables (ayan ve eshraf: the great and the good). There was a patchwork of local autonomies. By integrating the 'ulama and the kadis into the politico-legal system, 'the Ottomans in effect agreed to share power' (Gerber 1994: 179, 181).6 6 On the Ottomans i n general, see EI sv Osmanli; Inalcik Shaw and Shaw 1977.

1973; Shaw 1976;

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Self-government was widely exercised by ethnic and religious minorities. The incorporation of southern and eastern Europe, the Black-Sea and Caucasus regions gave the Ottoman domains a greater mix of ethnic groups than any other pre-modern polity. I n outlying areas, the Ottomans favoured indirect rule through existing lords or tribal chiefs: Dubrovnik had its city council, Mecca its sharif, Kurdistan and the Tatar khanate of the Crimea their tribal chiefs. In the Danube basin, the Balkan mountains, eastern Anatolia and the southern Caucasus, nomads were grouped together under clan or tribal leadership and called a 'people (ulus)'. It was partly thanks to this that the Ottomans succeeded in bringing together such a remarkable variety of peoples w i t h fundamentally different life-styles, social structures and economies. Such diversity was facilitated by the fact that this was a dynastic and not a racial regime: the rulers were conceived as members of the Ottoman dynastic clan, and emphatically not as Turks ('Turk' was a name given especially to the less cultivated semi-nomadic peoples of Anatolia). In this the Ottomans were closer to the Roman empire than to a modern polity. This phenomenon was carried into the very heart of government. The devshirme (forced levy) brought successive generations of foreigners from all over south-eastern Europe into the army and the administration, where they could attain the highest positions. Men of the Levy and of European birth were prominent as reformers; some emphasised their ethnic background as a strength of the regime. The historian Mustafa ' A l i (writing in the 1590's) remarked that this mixture of races provided the regime w i t h a wide range of talents. The reformer Katib Celebi (c.1650) ascribed the diversity of creeds and law-codes to an 'inner purpose' i n God's plan. These are the only references I have come across to ethnic diversity as a principle. There was a remarkable religious diversity, and a degree of religious toleration not found in Christian Europe. I n commerce and manufacture, there was even some cultural assimilation: 'Muslim and non-Muslim merchants and craftsmen belonged to the same class and enjoyed the same rights, while rich Jewish, Greek and Armenian merchants dressed and acted like Muslims' (Inalcik 1973: 151). The Ottomans developed the traditional system of self-management for non-Muslim monotheists by their own religious authorities w i t h i n their confessional Community (millet). Jewish and Christian religious authorities, like tribal rulers, were given jurisdiction over their own people. The millet 'maintained its own institutions to care for ... education, religious justice and social security, (with) separate schools, hospitals and hotels, along w i t h hospices for the poor and aged' (Shaw 1976: 151). The religious minorities were

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ruled by their own laws and were not subject to the 'ulama or kadis (though they could choose to go to a kadi court). The authority of the Patriarch of Constantinople was enhanced by making him religious superior of Orthodox Slavs as well as Greeks, and giving him some civil powers as well. European merchants were slotted into the system via their consular representatives (Shaw 1976: 29). Such ethnic and credal diversity was a continuation of the 'tribal' policy of the first Muslims, under which outsiders could acquire membership and its advantages. The Ottoman state (devlet) could accomodate ethnic diversity precisely because ethnicity was not the determinant of political status. It went relatively unremarked. The Ottomans tacitly encouraged peaceful co-habitation of races and creeds as never before or since, testifying to political skills which 20th-century politicians might still admire, if they wished to emulate them. Within the Muslim community in the Ottoman empire, there were also socio-religious brotherhoods (akhi), influenced by sufism, especially in the army and among urban craft workers. City districts had their own leaders, an imam, priest or rabbi, and a kethuda ('warden') as their contact w i t h government. He acted for all the guilds and, together w i t h the leading 'ulama and merchants, 'represented the town to the government' (Inalcik 1973: 153, 161). But he did not take part in the actual government of the city. Self-management was most developed i n the craft guilds, which, as in Europe, originated partly as religious brotherhoods. Master-craftsmen elected from among themselves a council of 'the six'; this was headed by a shaykh (spiritual leader) and warden, whose job i t was to implement guild rules and maintain good relations w i t h the government. The guild's officials were confirmed by the kadi, its regulations were inspected by the sultan. Craftsmen could remove their warden; and they resisted government intervention i n their elections (Inalcik 1973: 152). Here then there was symbiosis between a spontaneous social movement and the authorities, in that the government tended to cooperate w i t h the guilds in support of traditional working practices. But none of these phenomena of subsidiarity were expressed i n political theory; they had no ideological basis. This made their survival dependent upon their convenience. It looks as if subordinate groupings based on religious adherence and ethnos have been squeezed out from modern Islamic society by modern pressures. The same is broadly true of occupational groupings. Yet kinship groups, clans and occasionally tribes, have survived. Looking at pre-modern Islamic history, I would suggest that we find here a kind of traditional, or spontaneous subsidiarity. This was perhaps

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n o t u n r e l a t e d t o the most often m e n t i o n e d I s l a m i c social ideals: h a r m o n y or balance (mizan). T h i s c o u l d be d e r i v e d f r o m the Q u r a n , b u t i t p r o b a b l y o w e d s o m e t h i n g t o Plato's v i e w of j u s t i c e as harmonia ,

a n d also t o

A r i s t o t l e ' s p r i n c i p l e of t h e m i d d l e way. I s l a m i c society does p r o v i d e a n a l t e r n a t i v e p a r a d i g m for the r e l a t i o n ship b e t w e e n the state a n d o t h e r groups t o w h a t w e f i n d i n E u r o p e a n society. B u t i t m a y n o t be an a l t e r n a t i v e w h i c h can be f i t t e d i n t o a m o d e r n state. To m y k n o w l e d g e there is no c o u n t e r p a r t , i n earlier or m o d e r n times, t o the l e g a l - r a t i o n a l t y p e of s u b s i d i a r i t y w h i c h is n o w b e i n g developed i n Europe.

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RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 85 - 89 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

L A BONNE ÉTOILE DE L A SUBSIDIARITÉ Par Chantal Delsol, Paris Dans le deuxième livre de sa «Politique», Aristote critiquait avec ironie le communisme de Platon. Sous ce type d'organisation, disait-il, personne ne travaillera plus, car les hommes ont besoin de tirer des bénéfices personnels de leurs efforts. Constat d'égoïsme? En partie seulement. Car Aristote n'est pas un pessimiste. I l s'empresse d'ajouter que les humains ressentent un besoin instinctif de partage. Contradiction? Peut-être. Mais le Stagirite, sans la résoudre, la dépasse aussitôt: la propriété doit être privée, mais l'usage, d'une certaine manière, doit en être commun. Voici donc les deux maîtres-mots: autonomie et solidarité. Où donc passe la limite entre les deux? Qui sont les instances dépositaires d'autonomie? A quel niveau s'organise la solidarité? Aristote le dit ailleurs: la cité est formée de plusieurs villages, le village est formé de plusieurs familles. Chaque groupe gouverne et administre ce qui est à sa mesure et à sa portée: la famille s'occupe «des besoins quotidiens»; le village «des besoins qui ne sont pas purement quotidiens»; la cité s'occupe, non pas seulement du vivre, mais du bien-vivre: elle ajoute, autrement dit, le supplément pour lequel les communautés sont insuffisantes. Le principe de subsidiarité a été énoncé formellement i l n'y a pas un siècle. Le mot même, utilisé sous l'acception que nous l u i conférons aujourd'hui, date de la seconde moitié du XIX°, sous la plume de Monseigneur de Ketteler. Et pourtant, quand on recherche la trace de cette idée, ses origines, on aperçoit ceci: le concept de subsidiarité est aussi ancien que l'Europe elle-même. I l apparaît pratiquement avec nous. I l nous suit comme une ombre tout au long de notre histoire. La subsidiarité ne traduit pas une technique neutre. Elle s'enracine dans une anthropologie: elle suppose une certaine idée de l'homme, de ses capacités, de ses besoins; une certaine idée de son bonheur. Cette idée est la suivante: l'homme est cet animal qui trouve son bonheur dans un accomplissement propre, du à son action dans le monde; i l est aussi cet animal social (politique, au sens d'intégré dans la cité), qui doit son bonheur à la relation avec autrui, et notamment, à ce que les plus forts apportent aux plus faibles.

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Or cette certitude anthropologique, qui peut paraître évidente et universelle, est européenne. Elle apparaît avec les Grecs. D'où l'importance d'Aristote. Suivis par les Chrétiens, les Grecs établissent déjà ce postulat: l'homme est heureux par son acte qui le grandit - i l ne l u i suffit pas de recevoir, comme un enfant, l'aide de sa communauté. Pourtant i l ne se suffit pas à lui-même: i l l u i faut recevoir secours de ses communautés le subsidium - en cas de besoin, et dans le cadre d'une relation - non pas seulement de façon anonyme et désincarnée. D'où suit toute une vision de la société «bonne»: des groupes emboîtés les uns dans les autres, chacun, à commencer par le plus faible et le plus petit, déployant ses capacités au maximum de ses forces, puis recevant l'appui d'un groupe à peine plus puissant, afin de parfaire son bien-être dans le cadre d'une véritable relation. Et ainsi de suite jusqu'à l'instance la plus complète, dotée d'auto-suffisance, qu'on appelle autarcie ou souveraineté. La subsidiarité s'énonce dès lors comme suit: autonomie autant que possible, solidarité autant que nécessaire. Principe politico-social fondé sur une anthropologie, et que nous retrouvons chez Thomas d'Aquin, pour lequel la personne se définit par son acte: si le pouvoir prive l'homme de son action, i l le détruit. Le rôle du prince chez Thomas d'Aquin est d'inciter, de garantir, de parfaire (De Regno), non pas d'agir à la place de ses sujets, et encore moins «de vouloir produire des hommes nouveaux». Plus tard, Althusius décrira la société des contrats: le tyran, dit-il, ce n'est pas le mauvais prince (vision despotique), mais celui qui brise l'autonomie des groupes, qui attente au droit de propriété, qui empêche les sujets d'agir. On retrouvera ces idées tout au long du courant de pensée qui passe chez Montesquieu, Hegel, Tocqueville, Taine, puis dans la doctrine sociale chrétienne. L'idée de subsidiarité représente l'architecture d'une vision spécifique du rôle de l'Etat, vision fondée sur une valorisation de l'être humain. L'Europe n'a jamais produit d'empire centralisé. Elle a engendré partout des Parlements et produit des municipes. Elle a vécu sous le régime des contrats politiques par lesquels la liberté d'autonomie s'établit et se garantit. Elle a développé, plus que partout ailleurs, le régime de la propriété privé. Elle a grandi, disait Proudhon, dans une obsession permanente: comment gouverner ses gouvernements? Qu'en est-il de la subsidiarité à l'époque moderne? Les pays fédéraux en font la racine de leurs systèmes politiques. Par ailleurs, un autre type d'organisation apparaît, du type de la république unitaire française. Dans ce dernier système, les groupes sont soupçonnés d'aliéner l'individu à travers leurs hiérarchies internes; et par ailleurs, la valeur de solidarité est remplacée par la valeur d'égalité. L'Etat centralisé réduit ou confisque l'autonomie des groupes sociaux, et distribue à tous les indivi-

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dus un secours égal, non pas à travers une relation, mais de façon anonyme et technique, par l'intermédiaire des fonctionnaires et de la recette fiscale. I l s'agit là d'un modèle absolument différent du modèle subsidiaire, et fondé sur une anthropologie asiatique davantage qu'européenne. L'influence de la Chine est avérée dans le destin du centralisme français. Le modèle socialiste-léniniste trouve en partie ses racines dans l'organisation de type asiatique, comme l'écrit lui-même Lénine juste avant sa mort. A la fin du X X ° siècle, les peuples européens se trouvent dans une situation nouvelle. Le «socialisme réel» a avoué son échec politique, économique et moral. L'horreur des deux guerres mondiales a rendu la construction européenne nécessaire. L'Europe politique exige une organisation souple, garantissant aux nations à la fois l'autonomie et la solidarité. L'Europe ne saurait devenir un empire centralisé, défendant l'uniformité et l'égalité, faute de perdre ses cultures diverses et sa culture tout court, fondée sur la notion de «personne». Tous les projets européens depuis Podiebrad réclament une souveraineté relative et partagée. Depuis la fin de la seconde guerre, les projets d'une Europe fédérale (Spinelli), se heurtent cependant à la tradition centraliste française et au concept bodinien de la souveraineté, en vigueur depuis l'époque Westphalienne. L'Europe qui émerge du traité de Maastricht se réclame du principe de subsidiarité, mais a tendance à le tourner en principe jacobin, c'est à dire à le dénaturer, comme i l apparaît clairement dans l'article 3 Β du Traité (l'instance supérieure est censée intervenir si elle doit s'avérer plus efficace que l'instance inférieure; le principe de subsidiarité dit: si l'instance inférieure est insuffisante , ce qui est absolument différent). L'Europe de Bruxelles, par la normalisation des directives, tend à laisser à l'administration gouvernante les prérogatives dont les pays pourraient se charger, tandis que les charges régaliennes, devenues trop lourdes pour les Etats-nations, demeurent encore entre leurs mains. L'Europe réglemente la taille des armes de chasse, pendant qu'elle ne peut envoyer une armée commune en Serbie. Elle réduit l'autonomie des pays sur les détails, pendant que sur l'essentiel, sa faiblesse la contraint de compter sur les Etats-Unis. C'est le contraire de la subsidiarité, dont pourtant on parle sans cesse. Je prétends cependant que l'évolution des temps nous renvoie à nos traditions et à nos fondements. L'élargissement, qui s'impose comme un devoir moral et par conséquent souffre à peine le débat, rendra impossible toute extension de la normalisation commencée. U n empire à quinze aurait été à la rigueur possible, quoique si peu conforme à nos valeurs. Mais à vingt ou à vingt-cinq, avec des peuples si différents, sortis exsangues du communisme, et dont la plupart rêvent depuis des

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siècles de l'autonomie perdue, aucune construction centralisée ne sera possible. Ou bien l'Europe ne sera qu'un grand marché, ou bien, si elle veut se construire politiquement, ce sera sur le modèle fédéral. Mais un autre facteur, non négligeable, entre en ligne de compte: le phénomène de démantèlement du monde, par lequel partout les provinces se détachent des centres, tandis que les Etats voient leur souveraineté s'effriter. Fatigue de la rationalité, épuisement des Etats-providence devenus des colosses maladroits, crise de l'autorité, regain identitaire des provinces devant la globalisation: une série de facteurs divers et additionnés concourt à ce morcellement, qui exigera des constructions politiques nouvelles et adaptées. Même la France, le pays de Jean Bodin parce que jacobin avant les Jacobins (voir Tocqueville), organise pour la Corse, en s'étonnant elle-même, un statut qui légitime le girondinisme. Proudhon avait tort de penser que le fédéralisme écrirait la fin de l'histoire croire à la fin de l'histoire serait demeurer dans le giron des idéologies messianiques. Mais i l avait raison d'écrire que le fédéralisme était l'avenir de l'Europe. Les Etats-providence, les républiques unifiées, les pouvoirs centralisés sont à présent le Vaterland de l'Europe; le fédéralisme en est le kinderland. C'est pourquoi l'idée de subsidiarité n'a jamais été aussi prometteuse qu'aujourd'hui. D'autant qu'un autre phénomène, du probablement au matérialisme ambiant, vient s'ajouter aux autres: les provinces qui se détachent des ensembles nationaux ne réclament pas l'indépendance, mais l'autonomie. Elles souhaitent bénéficier de statuts spécifiques, adaptés à leur culture et à leurs besoins propres, mais elles ne veulent pas perdre les avantages matériels auxquels les a habitués l'appartenance aux vieilles nations. L'éclatement du monde pourrait engendrer une multitude de petites souverainetés, prêtes à entrer dans un processus de guerres incessantes, rappelant l'époque pré-westphalienne. Mais on peut parier qu'il n'en sera pas ainsi, car les provinces dissidentes ne sont pas prêtes à acheter leur indépendance au prix de leur bien-être. Elles réclameront plutôt aux Etats de leur abandonner certaines prérogatives, mais de continuer à soutenir leur développement. Autrement dit, nous entrons dans une ère où le couple autonomie/solidarité sera valorisé. Ce qui est très exactement le programme de la subsidiarité. Faut-il s'étonner de la pérennité de cette idée sur l'aire du Vieux Continent? Non, car i l porte avec l u i la conception de l'homme qui est la nôtre. Si au siècle prochain, l'Europe ressemble à quelque chose comme l'ancien empire germanique, ce ne sera pas affaire de hasard. Dans une société libre, disait Aristote, c'est à dire dans une société véritablement politique, le pouvoir n'est ni domestique ni despotique - les deux signifiant en réalité la même chose - : i l s'occupe de la défense, de la police,

La bonne étoile de la subsidiarité

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de la justice et des finances communes, et pour les affaires des particuliers, i l doit seulement «surveiller les contrats et assurer le bon ordre» (Politique, VI, 8 et III, 14). La subsidiarité est la bonne étoile qui garantit la sauvegarde des valeurs européennes. Bibliographie L'Etat subsidiaire. Ingérence et non-ingérence de l'Etat: Le principe de subsidiarité aux fondements de l'histoire européenne, Paris 1992. Le principe de subsidiarité, Paris 1993 (Que sais-je?, 2793).

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 91 - 115 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

S Y M B I O S I S OR S U B O R D I N A T I O N ? A l t h u s i u s a n d the M o d e r n P o l i t i c a l D i l e m m a B y Sanford L a k o f f , San Diego

Johannes A l t h u s i u s stood at the i n t e r s e c t i o n of several h i s t o r i c a l t r a n sitions: f r o m m e d i e v a l c o r p o r a t i s m to the m o d e r n state system; f r o m ecclesiastical u n i t y t o schism b e t w e e n the R o m a n a n d Reformed churches; f r o m f e u d a l i s m t o c o v e n a n t a l i s m ; 1 and, i n p o l i t i c a l theory, f r o m t r a d i t i o n a l to m o d e r n t h i n k i n g .

"Althusius,"

Carl Joachim Friedrich

ob-

served, "offers us a s u m m a r y a n d a forecast, a n o b i t u a r y a n d a p r o phecy."2 The p r o p h e t i c aspects of A l t h u s i u s ' s t h i n k i n g deserve renewed e x a m i n a t i o n , especially i n v i e w of c u r r e n t tensions b e t w e e n social i n t e g r a t i o n a n d subsidiarity. " O v e r the past t w o decades," G r â i n n e de B ù r c a has o b served, "... two separate and apparently opposite trends in government and governance have been the subject of considerable analysis. The first reflects the internationalization or globalisation of government in certain spheres, w i t h an increasing number of issues being allocated to or addressed by international and supranational levels of authority. This pattern has generally been explained on the basis that the capacity of individual nation states to address the issues i n question is no longer adequate or accepted (in economic language, for example, that there are negative externalities which cannot satisfactorily be internalized within the nation state) or because there are perceived to be advantages of scale, influence and increased effectiveness in action beyond the level of the state. A second trend at least w i t h i n western political systems is that of localization, in the sense of the emergence of stronger local and regional politics, w i t h a renewed interest i n more direct democratic participation under the influence of republican and communitarian political theories." 3 ι For the influence of Althusius's idea of covenant on both "federal theology" and political federalism see Charles S. McCoy , "Covenant in the Political Philosophy of Althusius," Karl-Wilhelm Dahm, Werner Krawietz, and Dieter Wyduckel, eds., Politische Theorie des Johannes Althusius (Berlin: Duncker & Humblot, 1988), pp. 187-198. 2 Carl Joachim Friedrich, Introduction to the Politica Methodice Digesta of Johannes Althusius (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1932), xix. 3 Grâinne de Burca, "Reappraising Subsidiarity's Significance After Amsterdam," Jean Monnet Papers (San Domenico di Fiesole: Robert Schuman Centre for Advanced Studies, European University Institute, 1999), p. 1.

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Indeed, in recent times, pressures for integration have increased along a variety of dimensions. Modern means of communication and travel have attenuated, and in certain respects annihilated, the barriers of geographical distance that once separated regions, countries, and continents. The economic benefits of unfettered exchanges of capital, labor, and technology have encouraged the creation of regional and global trading regimes. Economic and security considerations have fostered new political unions, i n Western Europe, 4 and, to a lesser degree, i n Africa, Asia, and the Americas. Pressures due to overpopulation in relatively poor countries and demand for labor, skilled as well as unskilled, in industrially advanced countries have transformed once largely homogeneous societies into social mosaics — in which, however, minorities are not readily assimilated. The spread of a single mass culture through recorded music, film, and television, has also produced a considerable degree of cultural homogenization, for better and for worse. These tendencies toward integration have produced countervailing reactions, driven by a concern to maintain separate identities, languages, and customs, as well as to assure local accountability. Sometimes, the resulting contretemps can be less than earth-shaking, as, for example, when Italian villagers demand that the "Eurocrats" of Brussels allow them to continue to market traditional local cheeses despite their methods of manufacture, or when British butchers defy the same authorities to appease their older customers by selling meat by the pound rather than the kilo. Preoccupation w i t h national identity sometimes produces anomalies that can only amuse a foreign onlooker, as when the whole of France erupts i n nationalistic euphoria after its football team wins the World Cup, and it turns out that some of the players are foreigners who know not a word of the Marseillaise. But there are many other much more serious tensions. Demands for regional devolution can sometimes be met by federal arrangements, but secessionist movements continue to threaten to dissolve nation-states, sometimes resorting to terrorism to achieve their ends. British "Eurosceptics" are reluctant to cede monetary and other controls to the European Union. Danes fear that "harmonization" w i l l compel them to reduce welfare expenditures they have come to 4 The character of which remains uncertain. Larry Siedentop, Democracy in Europe (London: Allen Lane, 2000) points out that European Union is being shaped by a competition among three models - the French bureaucratic model, the German federal model, and the looser, informal British model, w i t h the result that the enterprise suffers from a lack of political cohesion. Somewhat similarly, Werner Krawietz distinguishes three perspectives on European unity: an association of independent states, communal/European, and regionalist. See his "Assoziationen versus Staat? Normative Strukturelemente Föderaler Politisch-Rechtlicher Gemeinschaftsbildung," Giuseppe Duso, Werner Krawietz, and Dieter Wyduckel, eds., Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus (Berlin: Duncker & Humblot, 1997), p. 323.

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think valuable and distinctive. What to do about immigration is proving to be an especially vexing issue, as countries i n need of imported labor wonder whether immigrants of diverse religious and ethnic backgrounds can be culturally assimilated. Efforts by the World Trade Organization to promote freer exchange of goods and services are resisted because they are said to promote the hegemony of the economically advanced states over those less advanced, exacerbating the gap between rich and poor, and because the organization is accused of substituting closed and unaccountable decision-making for open debate and democratic choice. The United Nations organization, although i t is expected to conduct peacekeeping operations under often highly dangerous conditions, must depend on member states to supply the military units because these states are reluctant to allow the U N to develop its own armed forces, lest it eventually become a global super-state. Caught between these conflicting pressures, political systems and ways of thinking about them are again i n the throes of great change. Althusius sought to resolve the political controversies of his time by proposing a formula for social cooperation in which all the constituent units of society could be integrated without being subordinated. After so many centuries i n which it was taken for granted that a "great chain of being" made order synonymous w i t h hierarchy and subordination, this was a truly revolutionary notion. To be sure, Althusius did not have in mind the liberation of the individual from subordination to duly constituted authority, i n the family or the community; in this respect his thinking was quite conventional. "The idea of the natural rights of man," Friedrich notes, "does not appear in Althusius." 5 Nor does Althusius think of the overall political order as a modern-style representative democracy i n which all citizens have a direct electoral role. "Individual citizens, families, and collegia," he wrote, "are not members of a realm, just as boards, nails, and pegs are not considered parts of ships, nor rocks, beams, and cement parts of a house. On the other hand, cities, urban communities, and provinces are members of a realm, just as prow, stern and keel are members of a ship, and roof, walls and floor are essential parts of a house. . . . " 6 With respect to these political associations, he was a champion - avant la lettre - of the movement that came to be known in the twentieth century as pluralism. 7 This movement sought to curb the expanding powers

5 Friedrich (note 2), l x x x i i i . 6 The Politics of Johannes Althusius, abridged and translated by Frederick S. Carney (Boston: Beacon Press, 1964), IX, p. 62. Hereafter cited as Politics. By collegia Althusius meant such private associations as guilds, corporations, and estates.

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of what was called the "omnicompetent state." Some pluralists believed that the state should be replaced by a parliament of groups, a notion Althusius might well have endorsed. Like these successors, he envisioned a social order in which there would be unity w i t h diversity, central authority w i t h subsidiarity, and power w i t h accountability. Contemporaries like Jean Bodin and Thomas Hobbes argued that the only alternative to anarchy was a unitary sovereign w i t h unchallenged authority and power over his subjects - a " w i l l that legally commands and is not commanded by others." 8 Althusius disagreed, contending that a society in which authority was shared would be less susceptible to tyranny and more in keeping w i t h the voluntaristic and symbiotic character of human life. Families, cities, and provinces, he thought, existed prior to realms and gave birth to them; it was only proper therefore that the social order should involve mutuality rather than subordination. 9 Because he put so much stress on political jurisdictions rather than individuals as the units of the polity, Althusius was content to rest central authority upon the consent of these constituent political groups rather than of a general electorate. In that respect, Althusius's view needs to be distinguished from the argument for popular government that emerged not from pluralism but from the convergence of egalitarian beliefs w i t h natural rights/social contract thinking. A t the time Althusius wrote, only a few countries, notably the Netherlands and Switzerland, exemplified the federalism and pluralism he had in mind. No doubt he was also influenced by the example of the independent German cities, such as Nürnberg, Strassburg, and Frankfurt am Main, and by that of Calvin's Geneva. Intellectually, he was mindful of the philosophic tradition, stretching back to Aristotle, which held that people are destined by nature to congregate w i t h each other and therefore that social organization should respect the integrity of component groups. Like Aristotle, Althusius began from the premise that human beings are social animals. Like Aristotle, too, and like Rousseau later, he thought they would experience citizenship most actively in their immediate communities, which Althusius referred to as "particular" symbiotic associations. 10 Although he did not use the term "general w i l l , " he had in mind an ideal very much like it when he observed that in such com? Advocated among others by Hermann Heller in Germany, by Léon Duguit in France, and in England by J. N. Figgis, G. D. H. Cole, and, for a time, Harold J. Laski. See Thomas O. Hueglin, Early Modern Concepts for a Late Modern World: Althusius on Community and Federalism (Waterloo, Ontario: Wilfrid Laurier Press, 1999), pp. 204-208. 8 Alexander Passerin d'Entrèves, "The State," Dictionary of the History of Ideas (New York: Scribner's, 1968) vol. IV, p. 314. 9 Politics (note 6), I X p. 61. 10 Ibid., V, p. 34.

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munities, citizens would enjoy the same laws, religion, language, etc., "not i n such manner that each is like himself alone, but that all are like each other." 1 1 Unlike Rousseau, to be sure, Althusius saw all social systems as integrated combinations of communities and associations, 12 but Rousseau conceded that i n order to conserve the integrity of communities associated w i t h larger provinces or realms, confederation was required. 1 3 Today, many nations larger and more heterogeneous than the German empire Althusius had in mind have adopted various forms of federalism. After the precedent of the United States of America, federalism has often come to be allied w i t h constitutional democracy, 14 as in the Netherlands, Switzerland, Germany, Canada, Australia, Belgium, India, Mexico, and, most recently, Spain and Russia. The United Kingdom has lately devolved legislative authority from Westminster to Scottish and Welsh parliaments, and, in cooperation w i t h the Republic of Ireland, has adopted a plan allowing a significant measure of autonomy for Northern Ireland. The government of France is contemplating a constitutional grant of autonomy to Corsica, despite fears that this concession could lead to similar demands in other regions and possibly eventually to a breakup of the republic. Democracies marked by a high degree of power sharing are described as "consociational," the term popularized by Althusius, or as "consensual," in the latest variation on the term. 1 5 On the international plane, the member states of the European Union have embarked on an effort to balance the benefits of integration w i t h respect for cultural identity and differentiation, taking account of local circumstances and customs. International unions similar i n aspiration though not yet endowed w i t h as much power have been formed in the Americas, Africa, and Asia. If the ethnic conflicts that plague so many of these regions are to be resolved peacefully, similar forms of federalism, powersharing, and provisions for local autonomy such as Althusius contemplated, may also need to be adopted. But even if modern efforts to blend integration w i t h differentiation come to be accepted on pragmatic grounds, that is, as arrangements h Ibid., VI, p. 43. 12 See Dieter Wyduckel, "Althusius - ein deutscher Rousseau?," Dahm et al, eds. (note 1), p. 469. 13 Rousseau, Considerations on the Government of Poland i n Œuvres complètes de Jean-Jacques Rousseau (Paris: Bibliothèque de la Pléiade, 1959-95), vol. III, p. 971. ι * See Thomas Fleiner-Gerster, "Föderalismus und Demokratie," Duso et al. (note 4), p. 312, and Sanford Lakoff, Between Either/Or and More or Less: Sovereignty Versus Autonomy Under Federalism, Publius (24, 1: Winter 1994), pp. 70, 72. is See Ar end Lijphart, Patterns of Democracy: Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries (New Haven: Yale University Press, 1999).

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likely on the whole to promote civil harmony and a net balance of advantage, they may not enlist enough fervent support to prevent these arrangements from becoming unraveled. Federalism and other power-sharing arrangements require a w i l l to cooperate which runs counter to the notion that people and groups are basically self-interested and competitive and that social relationships amount to a zero-sum game i n which there must always be winners and losers. Passionately held and invidious ideologies like integral nationalism and racism may seem more compelling than universalistic values requiring mutual respect. If extraordinary "civil courage" is required to maintain pluralistic societies, is i t something that can be relied upon to protect the constitutional order? If not, could societies marked by intense cleavages succumb to internal divisions or to demands for conformity and homogeneity, even to the point of accepting dictatorship and the expulsion of minorities, using such euphemisms as "ethnic cleansing?" Can rich nations be expected to share some of their wealth w i t h poorer nations, or at least to help them escape poverty by aiding their economic development? Can relatively weak members of international federations keep their identity or w i l l they effectively be transformed into cultural and economic satellites of stronger countries? Unless it can be shown i n the form of social and political theory that such pragmatic arrangements are best because they take account of underlying human motivations and values, rather than run counter to them, they may well prove hard to implement or maintain. Althusius posed the right challenge for himself and for later generations when he observed at the outset of the Politics that each of us must "begin to think by what means such symbiosis, from which he expects so many useful and enjoyable things, can be instituted, cultivated, and conserved." 16 Especially in the light of modern developments, both intellectual and political, Althusius's insights may well deserve new attention. One of these developments concerns the concept of symbiosis itself, which is coming in for increased attention among biologists, even though they are apparently unaware that a political theorist first introduced the term. 1 7 16 Politics (note 6), I, p. 12. I? Althusius understood symbiosis to apply to human communities, referring to the individual members of these communities as symbiotes. In biology the concept is understood differently, to mean the living together in physical contact of different organisms. Lynn Margulis contends that animal and plant cells originated i n symbiosis and that it continues to be a necessary condition of all life - contrary to those who emphasize conflict among species. She attributes the introduction of the term to the German botanist Anton de Bary i n 1873. Lynn Margulis, Symbiotic Planet: A New Look at Evolution (New York: Basic Books 1998), pp. 1, 33. Friedrich noted that his philological investigation had found that Althusius "had no predecessors in the systematic use of symbiosis and its Greek and Latin derivatives." Friedrich (note 2), l x v i i n.

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Social scientists too are discovering that under the pressure of modernization hierarchical social structures are breaking down and being replaced by more open and more egalitarian forms, and that under the pressure of globalization, the centralized state is no longer the locus of all effective power it once was. As alternative structures are adopted, the concern for sub-systemic diversity has led to growing concerns w i t h the principle of subsidiarity, or the right of sub-groups to maintain distinct identities and a measure of autonomy w i t h i n larger forms of association. The modern political dilemma is how to reconcile claims for personal and group autonomy w i t h the efficiencies of more and more inclusive systems of political and economic integration. In addressing this dilemma, Althusius may be as helpful to us now as he was to the burghers of Emden four centuries ago, not necessarily because all of his prescriptions remain useful and well-founded but rather because he identified issues still vexing and salient.

Creating a Civil Science: Comparing Althusius with Machiavelli and Hobbes Friedrich's remark that Althusius offers an obituary and a prophecy can be understood in two senses, substantive and methodological. Substantively, the Politics serves as both a summary and an obituary because it reflects the maturation of the medieval city-state, i n the volatile context of feudal corporatism, before the rise of the centralized sovereign state. At the same time, it is a forecast and a prophecy because it foreshadows the eventual transition to constitutional democracy and federalism. I n the short run, Jean Bodin's theory of sovereignty triumphed over Althusius's pluralism, as the nation-state replaced the Ständestaat. Before long, however, Althusius's ideas proved prescient. His objections to the over-centralization of the Bodinian concept of sovereignty, coupled w i t h his Calvinist justification of the right of resistance, were to be echoed i n many struggles, increasingly successful, to overthrow absolutism and establish systems of government in which legitimacy rests upon continuous popular consent and authority is disaggregated rather than concentrated. As Friedrich was well aware, to say that Althusius was prophetic was not to say that his prophecy was immediately fulfilled, but had Althusius lived only another decade longer, he would have w i t nessed the first effort to establish a constitutional society in Puritan England. Nor was this was the last such campaign. The road to the American constitutional convention in Philadelphia, Friedrich strongly suggested, began in Emden and went through Cromwell's England. It is the very same road, Hueglin has suggested, that has lately led to Maas-

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t r i c h t . 1 8 Althusius was especially prophetic in outlining the form of government now being followed in consociational or consensual democracies, systems characterized by power-sharing rather than simple majority rule, but his central concept of society as an association of associations applies to all forms of modern democracy (via federalism, interest-group pluralism, civil society, etc.), as Lijphart and Hueglin in particular have lately shown. 1 9 Methodologically, Althusius's Politics sums up an antecedent style of political theorizing drawing upon Scriptural authority, historical precedents, Roman Law, and the wisdom of the ancients; it points forward to a style of analysis claiming to rely more upon reasoning, both inductive and deductive, in emulation of scientific method. Quentin Skinner agrees w i t h Otto von Gierke (and Friedrich) that Althusius was perhaps the first forcefully to dissociate politics from theology and law to create a secular, "recognizably modern" science of politics. 2 0 This should not be understood to mean that Althusius divorced the study of politics from ethical judgment or that he thought it either possible or desirable to set Scriptural injunctions altogether apart from the inquiry into political justice. On the contrary, although he criticized theologians who "sprinkled teachings on Christian piety" into the instruction for statesmen, 2 1 thereby only confusing theology and political science, he contended that inclusion of the Decalogue is proper to political science because its precepts "infuse a vital spirit into the association and symbiotic life that we teach" 2 2 By treating politics systematically, Althusius hoped to show how Scriptural guidance could be made appropriate to it and at the same time to examine actual experience i n order to arrive at a rational understanding (in accordance w i t h the categorical boundarymarking of Ramist logic) of how society could best be organized. His aim was to show that "association, human society, and social life may be established and conserved for our good by useful, appropriate, and necessary means." In the process he would seek to "skillfully derive and infer right (jus) from fact (factum) . . . " 2 3 In other words, he sought to blend rather than separate normative and empirical inquiry. What is most novel about Althusius's approach, however, is that he aimed to develop a civil science. In this respect, as Friedrich observed, is Hueglin (note 7), pp. 155-158. 19 See Lijphart (note 15), and Hueglin (note 7), especially chapter 12, pp. 197229. 20 Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought (Cambridge: Cambridge University Press), Vol. II, pp. 341-342. 21 Politics (note 6), Preface to the first edition, p. 2. 22 Ibid., Preface to the third edition, p. 9. 23 Ibid., Preface to the first edition, p. 3.

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Althusius stood along w i t h Machiavelli, Bodin, Grotius, and Hobbes as the leading precursors of modern political science. 24 Machiavelli and Hobbes are often singled out as the pioneers of the effort to extend to the study of society the objectivity and the methods of inquiry used by such investigators of nature as Galileo, Harvey, and Boyle. As the natural scientists sought to discover the laws of physical nature, in order, as Francis Bacon said, that knowledge of nature might be used to promote human welfare, so the social theorists sought to identify the sources and patterns of social behavior so as to alleviate the causes of instability and promote peace and harmony. Althusius had a similar aim, but he was unique among these early modern theorists i n thinking mainly in organic or biological terms rather than according to the physical or mechanistic model that became the standard for emulation until the nineteenth century. Machiavelli is often considered to have been the first modern political scientist because he was a realist who rejected the Christian idealism of the "mirror of princes" writers i n favor of the view that interests rather than ideals governed the political universe and that authority could best be achieved and maintained by force and cunning. As a typical Renaissance humanist, he was devoted to the belief that to succeed in politics it was advisable to study the past and recover the wisdom of the ancients. Ambitious princes, he taught, should imitate the heroic virtù embodied in the deeds of great men; republicans should emulate the civic virtù (or virtù ordinata) that had brought liberty to Rome and learn from the ancient republic's mistakes. According to Machiavelli, the study of history and of the contemporary struggles for power showed that only virtù could conquer fate and necessity. Although he himself admired the Roman Republic's balance of liberty and dignity, he recognized that it would be unrealistic not to take account of princely ambition. It was this very realism, w i t h its insistence on the taking the world as it is and on the centrality of force and cunning - symbolized by the lion and the fox - that won him the accolade of "scientist," even as it brought him notoriety for seeming not to condemn "natural" behavior that violated moral norms. Machiavelli, however, was more a commentator than a scientific thinker, as Plamenatz has correctly noted. 2 5 And he was less than realistic 24 Friedrich (note 2), xv. 25 " I think it misleading to call Machiavelli a political scientist ... A writer on politics is not scientific merely because he is interested in facts rather than ideals, and rests his advice on what he takes to be the facts. An account ... is scientific only if it uses suitable methods to establish what the facts are, what men actually do want and what experience has shown to be the most effective way of getting it." John Plamenatz, Man and Society (London: Longmans, 1963), vol. I., p. 3.

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insofar as he believed that human events were often affected not just by fate but also by occult "signs and portents." Machiavelli, then, helped paved the way toward a more scientific study of politics but was not himself to any great degree a scientific observer or theorist, if science is understood as the effort to construct a body of knowledge using rigorous methods of observation and analysis - methods which at best admit of testing, "falsiflability," and replication. By this rigorous standard, Hobbes too is not an unambiguously scientific inquirer (as Plamenatz also noted), but he is a better candidate than Machiavelli for the role of pioneer political scientist. Hobbes did his intellectual apprenticeship under Sir Francis Bacon, whom he served for a time as secretary. Bacon is often credited w i t h introducing the inductive method and is universally agreed to have been the foremost advocate of the effort to separate science from superstition and pseudo-science. Hobbes too became a champion of the new learning, although his association w i t h the mathematician Marin Mersenne and his affinity for René Descartes gave him more of an affinity for the deductive than the inductive method. (To his dying day, at the ripe old age of 91, he was still hoping to square the circle.) Philosophically, he was a materialist, who denied the existence of spiritual being and mocked the Scholastics for what he saw as their patently absurd belief in "incorporeal corporealities." With this materialism i n mind, Karl Marx called Hobbes "the father of us all." In his political writings, moreover, Hobbes deliberately set out to create a "civil science," in the belief that the old myths of rule could no longer be counted upon to shore up authority. The Reformation had undermined the Scriptural basis of obedience, he thought, w i t h its invocation of passages justifying resistance to tyranny. Some of the Puritans active in the Revolution of the 1640s even maintained that the priesthood of all believers could be translated into the equality of all citizens, and demanded an agreement of the people as the basis of all legitimate government. Hobbes devoted the second half of his Leviathan to a refutation of the Puritans' reading of Scripture, claiming that Christian teachings support the authority of the sovereign, God's earthly lieutenant. Even more audaciously, he claimed that the Scriptural statement, "My Kingdom is not of this world" was not to be understood to mean that Christ's kingdom belonged to another world or was to be installed w i t h a second coming, but that it could be said to exist wherever there was a sovereign power - God's lieutenant on earth. 2 6 The first part of Leviathan was more original and proved to be more influential. There he spelled out his attempt to construct an understanding of human nature 26 Leviathan, ed. C. B. Macpherson (Harmondsworth: Penguin, 1968), Part III, 35, pp. 444-448.

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and social order more geometrico (by the method of geometry). A t the age of 40, Hobbes is reported to have been thrilled to discover Euclid's Elements, and thereafter set out to follow the same rigorous approach in thinking about man and society. "Geometry," he claimed, "was the only science that it hath pleased God hitherto to bestow on mankind." 2 7 By the method of geometry he meant that by intuiting the character of human nature by self-examination and the observation of others, and defining philosophic terms exactly, it would be possible to use rigorous deductive reasoning to reach irrefutable conclusions about the human condition and political obligation. In propounding this new, supposedly scientific approach, Hobbes sometimes used old terminology, but this was very much a case of new wine in old bottles, notably in his reinterpretation of natural law. Hobbes accepted the traditional view that the law of nature, accessible through reason, provided moral guidance, but he saw this law not as the w i l l of God imposed upon the w i l l of man, but rather as a codification of what is in the interest of all, given human nature. Thus the first of law of nature is to pursue peace, because the desire for self-preservation, coupled w i t h the fear of violent death, is the principal human impulse. The state of nature became for him an abstract geometric model of what life must be like i n the absence of civil government - that is, a state of "war of all against all." By contrast, the state of civil society promised peace because it was the alternative geometric model in which authority was conferred upon a single sovereign, either an individual or a body such as a parliament. It was the supposedly iron logic of Hobbes's argument that commended it, even though he drew the wrath of religious people both in the Puritan and Anglican camp, and displeased many royalists because he justified any authority, not just monarchical rule. Insofar as Hobbes may be considered a scientific analyst, it is i n the manner of seventeenth century mechanics and physics. Although he was a friend of William Harvey, and invoked Harvey's discovery of the circulation of the blood metaphorically - in describing the Leviathan state as an artificial man (in which money was blood, the head the sovereign, the limbs the people, etc.) - the structure and the assumptions of his work are mechanistic rather than organicist. He thought of all reality as matter in motion. The passions are defined as "motions of the soul." The state, he observed, in a mechanistic metaphor, "hath springs and wheels, as doth a watch." 2 8 The analyst, like a clockmaker, can take the parts apart (the analytical method) and assemble them (the resolutive-compo27 Ibid, Part I, 4, p. 105. 28 Ibid., Introduction, p. 81.

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siti ve method). The parts consist of individuals, the basic unit of society. A l l groupings other than civil society are to be condemned as potential sources of dissolution - "worms in the entrails of a natural m a n . " 2 9 Thus, the analytical format of Hobbes's thought, which was to exert a strong influence upon Locke and Rousseau, emphasized the importance of the individual self as the basic unit of society and the risks to the individual of life in a "state of nature." For Hobbes, as for the other social contract theorists, the establishment of a community was problematic, both because it had to be established artificially and because it could pose a threat if i t were not so constituted as to protect rather than threaten the individual. The community would either be imposed by the strong over the weak, or created by voluntary agreement. It could not be counted upon to emerge spontaneously as a feature of nature itself. The Hobbesian contract required subjection. A l l individuals who joined the social contract to escape the state of war surrendered their claim to use whatever means they might need to defend themselves. They relinquished all the means of physical force to the common sovereign, on condition that he guarantee their self-preservation. This was the essential bargain that made society possible, and the one that required absolute subjection. The psychological assumption upon which the Hobbesian contract is based is that human beings are deterministic beings governed by their passions or desires, above all by the desire to remain alive and escape violent death, but also to achieve pleasure and avoid pain. Reason is the instrument of desire, the calculating tool that enables us to see what our interests are and to act accordingly. I n the absence of a civil society, reasoning would show that we must take all necessary steps to protect ourselves. Each of us would therefore seek to gain mastery over the rest hence the war of all against all that Hobbes famously argued would arise in the state of nature. Reasoning would also lead all to understand that in order to avoid the perils of a state of war, a compact would be advisable by which everyone would agree to give up the right of self-protection to a sovereign. Although the very existence of reason and the faculty for speech distinguishes men from the rest of physical nature, both faculties are reduced in significance by being made instruments of the natural impulses, a means by which their possessors can find security and happiness. I n effect Hobbes dethroned reason from the lofty position i n which Plato had put i t i n describing it as the rider on the horse. Now reason became the means whereby horse and man alike calculate the obstacles in their path and seek to fulfill their natural impulses.

29

Ibid.,

Part

II, 39,

p.

375.

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Locke and Rousseau borrowed heavily from Hobbes but they made critically different assumptions about human values and human nature. From these assumptions they constructed the social contract so as to allow individuals to remain free at the same time as they became subjects - something that Hobbes would have thought a contradiction in terms. Locke broadened Hobbes's notion of natural law to include the right not only to life but also to liberty and property. Rousseau substituted the general w i l l for natural law, seeing the general w i l l as the formula whereby a common humanity would overcome the selfish side of human nature. Both contended that human beings had impulses leading either toward conflict or cooperation, and that the task for philosophers and statesmen was to educate people to understand the consequences that would follow from a failure to respect the basic rights of all. Although republicans preferred to cite Locke and Rousseau rather than the absolutist Hobbes, the mechanistic approach of Hobbes to social theory remained influential in the eighteenth century and into the early nineteenth century. Under the influence of the discoveries of Newton, social theorists conceived of the social universe, just as Hobbes had, as matter in motion. They sought for the laws that would explain human interaction and enable equilibrium. Montesquieu sought to explain variations i n government and character on the basis of climate. The Physiocrats thought they had discovered the secret to prosperity i n the laws of laissez-faire economics. Charles Fourier claimed to have found in the "law of attraction" an analogue for the Newtonian law of gravitation, one that would explain why human affinities were more intense the closer the relationship and less intense the more distant. Karl Marx located the laws of history i n the conflicts engendered by the advance of technology, or the mode of production. Henri St. Simon would have set up Council of Newton composed of savants to rule society. Auguste Comte called his doctrine "social physics." This physics model also helped engender nineteenth century utilitarianism and the contemporary game-theoretical, input-output, and "rational choice" schools of social thought. Mediated by economics, it became the basis for the "economic theory of democracy," 30 the view that social interaction can be conceived of as a process of exchange whereby individuals seek to satisfy their desires by following rules set by authorities they choose to elect (in democratic systems) because these candidates and parties offer to serve their interests. When these individuals form sub-groups to press their interests (via lobbying) they create collective instruments of rational choice. So long as their interests are 30 See especially Anthony York: Harper, 1957).

Downs , A n Economic Theory of Democracy (New

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served, they adhere to the collectivity and accept its regulations; otherwise they may choose to "defect." I n effect the social order is a kind of Hobbesian social contract in which individuals agree to accept authority insofar as it provides them w i t h security and enables them to receive the benefits of public goods while pursuing their private ends. The big difference between economic democracy and the Hobbesian model is that thanks to the economic market, the need for a paternalistic, mercantilist state can be eliminated. The state's function is reduced to that of establishing and enforcing basic rules to enforce private contracts and prevent fraud and monopoly, and of providing public goods not as efficiently provided by the market. Althusius took a very different approach than either Machiavelli or Hobbes or for that matter modern rational choice theorists. As a result, his social theory promotes a cooperative rather than a competitive view of society. As Friedrich observes, " I n thus emphasizing a biological basis of political life which precedes all thinking and willing, Althusius seems rather far removed from the trends of political speculation which became dominant after the middle of the seventeenth century.. . " 3 1 Especially in his emphasis on the biological foundation of society, Althusius differs strikingly from Machiavelli and Hobbes. While Hobbes used organicist rhetoric in comparing the natural body to the body politic, and i n listing factors that made for health and illness, survival and dissolution, he saw civil society as an un-natural artifact. Althusius approached politics from an expressly organicist perspective, one that expresses a religious conception of the harmony of the universe. "Politics is the science of linking human beings to each other for a social life:" so begins the Politics. What follows is a vision of humanity created i n the image of God, bound by divine moral injunctions to obey just laws but empowered to resist tyranny; living i n communities formed by voluntary covenant and regulated by councils and protective Ephors; occupied w i t h peaceful pursuits but trained i n the arts of war so as preserve the community or defend the larger realm. Machiavelli and Hobbes would find such a vision utterly naïve, in its very conception, because it takes no account of the tendency of nature to dissociate people, to drive them apart from each other, out of inborn egocentricity and a social order from which God and law are absent. Althusius's civil science assumes that human beings live i n conditions of civility - that is, of mutual respect and friendship, inspired and regulated by their common faith in God and the laws of God. As he put it, in an oft-repeated phrase, "Quod Deus est in mundo, lex est in societate." 32 Althusius's concept of symbio-

31 Friedrich (note 2), lxviii.

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sis is undoubtedly influenced by his absorption w i t h Biblical teachings especially the Pauline doctrine of spiritual equality. 33 Between Althusius and Machiavelli, the divide is especially deep. While Althusius shared Machiavelli's appreciation of the Roman republic, for example, he did not praise its division of power between patricians and plebs, much less its factionalism, as the secret source of its liberty, as Machiavelli did. Instead, he praised the wisdom of the Romans in giving the Senate care of the commonwealth, out of a recognition that it could not be governed well by popular assemblies. 34 Unlike Machiavelli, he saw no need or justification to extol the potential benevolence of heroic princes. On the contrary: "The less the power of those who rule, the more lasting and stable the imperium is and remains. For power circumscribed by definite laws does not exalt itself to the ruin of subjects, is not dissolute, and does not degenerate into tyranny." 3 5 Whereas Machiavelli deliberately "transvalued" Christian virtue by returning to its origin i n Roman virtù, Althusius reinstated the religious meaning of the term. With Hobbes, Althusius shared the ambition to create a civil science, thinking of politics is a descriptive science of facts. But Althusius goes about creating this civil science in a very different way. The object of jurisprudence, he notes, is to apply law to facts; similarly, the object of political science is to show how the actual units of society, the family, the guild, the community, and the realm, can be arranged so that they fit together and function both independently and cooperatively. A l l sciences, he contends, come from the immutable principles of nature. Politics is concerned w i t h human relations. Every living community is an essential, genuine, and homogeneous part of politics. The state is the community organized for cooperation toward the attainment of common purposes. Although it involves a covenant, the consociatio symbiotica is a natural phenomenon. Justice means being willing to subordinate one's own interest to the welfare of the group and to accept the decisions of the group as binding on the individual.

32 See for example Politics (note 6) X, 8. The importance of this phrase is discussed i n Friedrich (note 2), xcvii-xcix. 33 Heinrich Janssen, following Friedrich, notes Althusius' thirty citations of 1 Corinthians 12, in which the apostle Paul emphasizes that all human beings are members of "one body." See Janssen, "Das Paulinische Gleichnis vom Leibe als Paradigma für die Symbiotische Gesellschaft bei Althusius," i n Duso, et al. (note 4), p. 108. For an examination of the ambivalent view of social equality in Christian teachings see Sanford Lakoff, Christianity and Equality, J. Roland Pennock and John Chapman, eds., Nomos IX: Equality (New York: Atherton Press, 1967), pp. 115-133, and Lakoff, Equality i n Political Philosophy (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1964). 34 Politics (note 6), XVIII, p. 88. 35 Ibid, p. 92.

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I n these propositions, Althusius laid out a view of human nature and society starkly contrasting w i t h the misanthropic and atheistic view of Hobbes. Where Hobbes saw human beings as atomistic individuals who, i n a state of nature, would be rivals and enemies to each other, and the social compact as a desperate remedy for desperate conditions, Althusius began from the premise that individuals naturally band together for mutual benefit, and that this natural affiliation could become the basis for a series of social covenants. The same principles - principles of justice and reciprocity - would apply at every level and i n the relations among the units. Althusius very deliberately sought a synthesis of social groups rather than their eradication i n favor of a unitary state. In this respect too he was very different from Hobbes, whose idea of the sovereign was captured i n the original frontispiece of the Leviathan showing the figure of the all-encompassing, omnipotent king containing his people - as if they were homunculi - wielding both sword and staff, unlike his subjects "made so not to be afraid." I n the tradition of classical writers, Althusius sought to blend the various forms of government so as to achieve the practical ideal of the mixed constitution. As an organicist, he saw the social order by analogy w i t h the human body: "For what administration of a commonwealth can exist or endure that lacks either intermediate magistrates or estates or counselors or a definite head. Moreover, the states, as I have said, represent the aristocratic element, the councils the democratic, and the head - whether it be one person or many i n the place of one - the monarchic. This is similar to the human body i n which the head has the likeness of the ruling king, the heart w i t h its five external senses has the likeness of the estates, and the remaining members of the body together have the likeness of the entire people or populace." 3 6

But unlike Hobbes and Locke he did not understand "the people" as a collection of isolated individuals. His political system is a kind of co-sovereignty among partially autonomous collectivities. As Hueglin has remarked, this comes close to describing the European Union, 3 7 whose supranational powers ultimately rest on negotiated agreement among the representatives of the member-state governments in the Council of Ministers. The tensions between unity and subsidiarity that arise i n the European Union are just those that would be expected in an organic, Althusian model, and their smooth resolution would depend on the w i l l to cooperate and achieve consensus on overall norms that he posited. What is missing from the Althusian model is the belief, grounded on the individualism he rejected, that social unions must respect individual rights 36 Politics (note 6), X X X I X , p. 197. 37 Hueglin (note 7), p. 4.

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and must be accountable electorally to these same individuals. The European Union has sought to address these deficiencies through the adoption of the European Convention on Human Rights and by elections to the European Parliament, though the weakness of the Parliament vis a vis the Commission has given rise to complaints over a "democratic deficit." The underlying structure of the European Union, as indeed of all federal systems, reflects the organicism that is at the heart of Althusius's view of the social universe. Since Althusius: Organicism and Social Conflict from Social Darwinism to Sociobiology and the "Selfish Gene" In modern times, the organicist approach has been heavily influenced by developments in biological science. The overall result, however, has been to shift the focus from harmony to conflict. In place of Althusius's emphasis on symbiosis, modern organicists stress struggle among species, organisms, and genes. Convinced of the role of natural selection in evolution, as discovered by Darwin, they see selfishness as the strategy adopted by nature for the survival of species, and altruism either as a survival strategy or as contrary to nature. Especially in recent times, advances i n the natural sciences and allied fields are beginning to invade ground once occupied exclusively by the humanities and social sciences. Hybrid disciplines such as cognitive science, neural networking, and "neurophilosophy," 38 w i t h roots i n the neurosciences or tentacles touching this complex of related sub-disciplines, are challenging the hold of traditional philosophy on such subjects as logic and epistemology. New modes of study variously called ethology, "biopolitics," and "sociobiology" boldly aim to ground the social sciences and moral inquiry as well in biological science. Entomologists, evolutionary biologists, and primatologists are debating questions formerly left to ethicists and political theorists, tracing the origins of competitiveness and altruism to evolutionary strategies shared by all animals, discerning the "territorial imperative" behind nationalism and imperialism, and pronouncing upon such politically sensitive subjects as gender equality, family planning and eugenics, and the role of equality and hierarchy in social organization. The popularizer Robert Ardrey has even written a book entitled The Social Contract - based on studies of animal behavior. 39 The ethologists contend that species survive because individuals sacrifice themselves for the benefit of the group. Richard 38 See especially Patricia Churchland, Neurophilosophy: Toward a Unified Science of the Mind/Brain (Cambridge, Mass.: MIT Press, 1986). 39 Ardrey , The Social Contract (New York: Athenaeum, 1970).

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Dawkins, a leading modern Darwinist, disagrees. He argues that because the selfishness of genes is implicit i n natural evolution, if human beings are to achieve altruism they must somehow overcome the natural forces at work in them. 4 0 Individuals, as carriers of the genes, seek their own survival. When altruistic sacrifice occurs it is because the individuals are protecting k i n who carry the same genes. Thus, "a predominant quality to be expected in a successful gene is ruthless selfishness." 41 Dawkins argues w i t h unnerving logic that evolution can be understood as a process in which genes use us as survival machines, discarding each of us through death when we have done their bidding by reproducing or when certain of our traits do not serve their "purpose." He notes that individual genes which cooperate w i t h other genes have an advantage, and that in some cases, different species (like ants and aphids) can develop relationships of mutual benefit or symbiosis because they bring different "skills" to the partnership, enhancing their common prospect i n the evolutionary struggle for survival. But the basic pattern of evolution remains primarily competitive. 42 E. O. Wilson, an entomologist and the principal exponent of sociobiology, notes that in the social insects natural selection allows for " k i n selection": "The self-sacrificing termite soldier protects the rest of its colony, including the queen and king, its parents. As a result, the soldier's more fertile brothers and sisters flourish, and through them the altruistic genes are multiplied by a greater production of nephews and nieces." Wilson suggests that the same mechanism is at work in human beings, who, in this respect at least, resemble the social insects, though he acknowledges that among humans the "form and intensity of altruistic acts are to a large extent culturally determined." 4 3 Wilson believes that a grand intellectual synthesis is now possible, which he calls "consilience." The term itself was introduced i n 1840 by the philosopher William Whewell, who used it to refer to the "jumping together of knowledge by the linking of facts and fact-based theory across disciplines to create a common groundwork of explanation." 4 4 Wilson admits that the possibility of consilience is not yet science but a metaphysical world view shared by only a few scientists and philosophers and one incapable of being proved w i t h logic from first principles 40 Richard Dawkins, The Selfish Gene (New York: Oxford University Press, 1976). 41 Ibid., p. 2. 42 Ibid., p. 195. 43 Edward O. Wilson, On Human Nature (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1978), p. 153. 44 Edward O. Wilson, Consilience: the Unity of Knowledge (New York: Knopf, 1998), pp. 8-9.

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or by empirical tests. For others, the social sciences are destined to be subsumed under the study of ecology - the biological term for the environment in which all organisms find themselves. But given the trend of biological thinking, the likelihood is that such a synthesis would stress conflict and dominance rather than cooperation and equality as norms of nature, leaving open the question of whether human society can be successfully organized on "unnatural" grounds. This emphasis on conflict and dominance i n evolutionary biology has had parallels i n the social sciences. Students of animal behavior and organization have identified patterns of dominance and submission as necessary to social order, among humans no less than animals. Sociologists, following early twentieth century writers like Mosca, Pareto, and M i chels, have found that all societies developed elites and followers, and that even the most politically radical groups follow the so-called "iron law of oligarchy." Economists have shown that prosperity results from market competition, guided by the laws of supply and demand and comparative advantage, rather than from stultifying efforts to establish just prices and wages and control outcomes. As biological science continues to advance at breathtaking speed, the implications of the new findings, especially those involving genetics and mental functioning, could revolutionize the study of social behavior. U n t i l now, social theory has remained largely autonomous. Except for the use of mathematics and statistical probability by empirical theorists, and for partial integration i n certain subfields (such as the psychology of perception and physiological anthropology), advances in the natural sciences have promoted analogous thinking and rhetorical borrowings rather than actual cross-linkage w i t h the social sciences. Herbert Spencer's "Social Darwinism" and Karl Marx's "scientific socialism" claimed the mantle of science but neither of them used scientific methods or integrated findings of natural science, other than by analogy. What cross-fertilization has occurred has come w i t h i n the social sciences, as in the development of political economy and the "rational choice" perspective, political anthropology, and political sociology, but the barrier to osmosis between the natural and social sciences has so far not been breached. Whether further advances support or undermine efforts to achieve political cooperation remains to be seen. But there is good reason to be cautious about incorporating or subsuming human behavior w i t h i n a general biological framework. Even if genetically human beings are close to the higher species of animals, there remain critical differences between animal and human mental capacities and the challenges and opportunities that human beings alone confront. It may well be that humans must adopt strategies contrary to those found in nature, precisely to

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avoid the turmoil and risks of extinction that other species endure. Wilson contends that evolution manifests a spectrum of self-serving behavior, and that the degree to which the functions of individual protect the species varies from completely selfish sharks, monkeys, and apes at one extreme to jellyfish colonies or honeybee hives at the other. Human beings, he contends, occupy a position somewhere between the two extremes, closer to the selfish pole, in the sense that human altruism is most intense when directed at close relatives. This is said to explain why human beings w i l l sacrifice themselves for their families, ethnic groups, or nations, but are likely to be much less empathetic toward others and even antagonistic to them. Wilson warns that human beings cannot simply defy the laws of nature: "To the extent that principles are chosen by knowledge and reason remote from biology, they can at least i n theory be non-Darwinian ... Can the cultural evolution of higher ethical values gain a direction and momentum of its own and completely replace genetic evolution? I think not. The genes hold culture on a leash. The leash is very long, but inevitably values w i l l be constrained i n accordance w i t h their effects on the human gene pool." 4 5

For his part Dawkins is careful to note that human beings need not follow the dictates of their genes because we have conscious foresight which can enable us to combat the selfishness "intended" by nature and promote cooperation. As human beings learn to understand and manipulate the genetic code, this opportunity is all the more important. He only cautions that if we wish to pursue an altruistic course, we ought not to suppose that i t has natural grounding. As he puts it: "Be warned that if you wish, as I do, to build a society i n which individuals cooperate generously and unselfishly toward a common good, you can expect little help from biological nature." 4 6

Althusius's organicism was grounded on his understanding of biological realities, but it does not require support from biological science. It is a formula designed for human welfare which can be understood and defended w i t h reference to human values and human needs. Whatever may be necessary or useful for natural evolution, human beings surely require and benefit from cooperation, whereas we do not necessarily benefit from all forms of competition. Consciousness enables us to understand the workings of genetics, but i t also enables us to make of our lives something more than an instrument of genetic survival. It is w i t h this task i n mind that modern peoples find themselves i n a situation similar to that confronting Althusius four hundred years ago. Methodologically as well as substantively, the major task confronting 45 Wilson, On Human Nature (note 43), p. 167. 46 Ibid., pp. 2-3.

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contemporary social and political theory is to identify the possible grounds for human cooperation i n what may be described as a post-Enlightenment era. Whereas the theorists of the Enlightenment had assumed that the human world could be understood as a single coherent universe, intellectuals in succeeding generations rejected this holism i n favor of an essentially relativistic view in which ethical truths, behavioral styles, and social structures were considered to be particularistic and even arbitrary. Political movements reflected this intellectual relativism. A variety of social causes, many in contradiction w i t h each other, attracted large and persistent followings. Reason came to serve as an agent of propaganda, criticism, and dissolution rather than of synthesis. Homogeneity of belief, values, and ways of life could no longer be assumed. " I t was not just that something seemed to be wrong w i t h social theory in connection w i t h the facts," Geoffrey Hawthorn has observed. "Something seemed more seriously to be wrong w i t h what had for so long been taken in that theory to be the symmetry between theoretical and practical reason." 47 When Althusius wrote, it was taken for granted that moral judgment should be anchored in Christian precepts, as they were understood w i t h i n the Reformed Church. His empirical findings, both biological and social-scientific, conformed w i t h Christian teachings, as then understood. He assumed that there would be completely religious homogeneity and that the civil authorities would have the right of "expelling from the territory those alien to uncorrupted religion," and to compel the citizens and inhabitants of the realm, by public ordinances and even by external force, to worship God . . . " 4 8 Recalcitrant Roman Catholics would not be tolerated, and Unitarians would presumably be dealt w i t h as harshly as Michael Servetus had been in Calvin's Geneva. Jews were altogether beyond the pale; Althusius, in this respect faithful to the church's "teaching of contempt" for Judaism and Jews, thought they should continue to be kept apart from Christians and treated as dangerous pariahs. After decades of bloodshed, the wars of religion that followed the schism w i t h i n the church eventually ended w i t h what amounted to a truce rather than a reconciliation. The philosophers of the Enlightenment sought to capitalize on the patent evidence of the dangers of fanaticism in offering an alternate, secularist basis for social unity and toleration, one grounded not on Scripture but on the truths revealed by a Deistic creator in the book of nature and available to reason alone. Their gospel according to nature, however, did not f i l l the void the critique of Geoffrey Hartmann, Enlightenment and Despair: A History of Social Theory (Cambridge: Cambridge University Press, 1976), p. 270. 48 Politics (note 6), I X , p. 71.

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religion had helped create. The "dreams of reason" were replaced by the realities of w i l l and passion, as armies of the night marched against each other, w i t h ever more devastating weapons, under the banners of a variety of secular religions, some of them amounting to nihilistic crusades masked by idealistic misrepresentation. I n the wake of the devastation brought by these conflicts, intellectuals and statesmen alike have sought to discover new grounds for social peace such as the principles of religious toleration and equal treatment, without regard to social class or gender. Few today would agree w i t h Althusius's proposition, once universally accepted, that " i n every association ... some persons are rulers (heads, overseers, prefects) or superiors, others are subjects or inferiors" 4 9 unless it were made quite clear that subjection in any association can only be voluntary and that in political associations only rulers elected for limited terms can legitimately claim authority. What is true for the political order holds also i n the matrix of society, the family. It would be a bold husband indeed who would proclaim w i t h Althusius the patriarchalist notion that because Adam was made "master and monarch of his w i f e " 5 0 , it follows that "the male, because the more outstanding, rules the female, who as the weaker obeys" 51 ), or that i n a marriage the husband is the director, "the wife and family are obedient, and do what is commanded." Modern husbands can only smile or perhaps sigh wistfully, when they read that a wife "accommodates herself to his customs, and without his counsel and consent she does nothing," thus rendering to him "a peaceful and agreeable l i f e . " 5 2 Indeed, the egalitarianism that is now so pervasive in society is an outgrowth of the very reform of the church wrought by Protestants like Althusius. By insisting on the equality of believers in the government of the church, and for an end to the distinction between clergy and laity, they established a precedent for the challenge to hierarchy i n society. If pastors could be elected, why not civil officials as well? Democracy, w i t h its emphasis on the social contract, is also to some extent an outgrowth of the covenantalism so much i n evidence in Calvinism and i n the teachings of Althusius. Friedrich and Elazar have emphasized the link between Calvinist covenantalism and the rise of modern democracy. It was in Holland, Geneva, and New England that modern democracy was first reborn. 5 3

49 Ibid., I, pp. 14-15. 50 Ibid. 51 Ibid. 52 Ibid., II, p. 24. 53 For Elazar see his "Althusius and Federalism as Grand Design," Duso et al. (note 4), pp. 209-218.

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The individualism implicit in Protestant teachings was no less influential in producing social individualism, not just, as Max Weber pointed out, i n the development of entrepreneurial capitalism, but also i n promoting the belief in equal rights. As a result, individuals rather than groups are thought to be the bearers of universal rights. Today, it is widely assumed that all individuals may claim certain basic human rights, not necessarily grounded upon Revelation. But the grounds for claiming these rights are not universally agreed to. Philosophic schools differ as to whether Kantian rational justice, utilitarianism, Habermasian dialogue, or anti-foundationalism, w i t h its emphasis on procedural democracy, should be the basis of social unity. A l l of these dilemmas need not be resolved to permit the conclusion that a social order which allows for a balance of integration and differentiation is more likely to serve human needs than one which is either tightly controlled from some center or virtually anarchic. Bodininian sovereignty, having been modified from w i t h i n by federalism, has now also been put in question by inter-state compacts, international regimes, and systems of international political integration, such as the United Nations and the European Union. I n this process, the authority and actual control exercised by sovereign states has been eroded, if not altogether superseded, by transnational, multinational, and even global forms of integration. These efforts of integration have arisen for good reasons, not the least of them the desire to rule out resort to force in conflicts among nation-states and to reduce and contain the chauvinistic tendencies in the various forms of nationalism. Economic globalization promotes efficiency and makes valuable goods and services more widely accessible. Immigration, although it is usually allowed to maintain the supply of labor, has the effect of modifying the demographic homogeneity which i n the past has helped promote hostility to outsiders. Cultural integration helps mute parochialism, promotes appreciation of unfamiliar ways of life, and inspires a sense of belonging that goes beyond traditional geographic and linguistic boundaries. If problems of economic disparity and global ecology are to be successfully addressed, the cooperation that these forces of integration promote and make possible w i l l be essential. The costs and tensions of integration are best dealt w i t h by assuring the relative autonomy of constituent groups w i t h i n their own domains. Althusius believed that such a cooperative society could be held together only by a commonly held set of values. A pluralistic, cooperative commonwealth, he thought, would be maintained because those who belonged to it would share religious values. Does the disappearance or weakening of these moral foundations threaten the viability of social

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symbiosis? As modern societies become increasingly integrated, i t is imperative that they strive to accommodate differences among groups by allowing the adherents of such groups a degree of corporate autonomy and differential identity. Otherwise, the world w i l l continue to be plagued by separatist and nationalist movements claiming that they can only achieve freedom if they have separate sovereignty. While this may sometimes be an inevitable solution, i n such cases as the breakup of India and Yugoslavia, the division of Cyprus into Greek and Turkish enclaves, the partition of mandatory Palestine, and the still unfulfilled promise of Kurdish autonomy, it is a solution fraught w i t h difficulty and danger. Population transfers have proven to be wrenching and costly in lives as well as property. Antagonistic and sometimes irredentist ministates cannot easily live together in peace even after a breakup. And in the face of the all but irresistible tendency toward globalization, such separatism is in many respects anomalous and self-defeating. Far better are compromise formulas like the devolution achieved in the reform of the Spanish constitution, whereby the provinces receive autonomy, and the arrangements by which Belgium and Switzerland accommodate different language groups, while preserving a sense of national unity. The same may be said for the European Union. Although its rulings may sometimes ruffle or override the sensibilities of member states, its very existence confers the immeasurable benefit of peace, not to mention economic and cultural benefits, at minimal cost to national autonomy. The balance of integration and differentiation allows for cooperation as well as for independence, the preservation of national cultures, and local accountability. As the world enters a phase in which regional and global federalism is on the rise, Althusius's emphasis on symbiosis as the foundation of social order seems especially prophetic. The integration of national economies and markets promises to promote international interdependence to a degree never before experienced. As a result, "beggar thy neighbor" policies are becoming obsolete. Similarly, as more and more modern societies become multiracial and multiethnic, international solidarity should eventually gain ground, even though i n the short run the immigration of people w i t h different backgrounds produces considerable tension. Cultural tensions remain volatile. They could too easily revive the hatreds that i n the past produced pogroms and plunged Europeans into war w i t h each other. It is also possible that federal solutions like devolution may tempt those newly empowered to go for more. The Scottish Nationalist Party has hardly given up its struggle for full independence now that it is ensconced i n a Scottish parliament in Edinburgh. The same danger is inherent i n consociational arrangements which perpetuate ethnic, regional, or linguistic identities. Parties formed on such lines acquire an incen-

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tive to maintain themselves and are bound to resist efforts of integration which might promote greater social harmony. But progress is never w i t h out risks, and the question which must remain in the forefront when social relations are considered, is exactly the one that preoccupied Althusius: how to create an association that w i l l enable people to pursue their personal goals while enabling them to act together for common purposes. Althusius understood better than more individualistic theorists that people would naturally form groupings, and that all these groupings needed a degree of autonomy in order to serve their purposes and to offset the danger of tyranny inherent in overcentralized authority. How to maintain that balance between integration and subsidiarity, i n an even more diversified setting than Althusius could foresee, may well be the most pressing political question of modern times.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 117 - 125 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBSIDIARITÄT UND FLEXIBILITÄT Überlegungen zum „Dezentralisierungspotential" des Subsidiaritätsprinzips in der Europäischen Union Von Manfred Walther, Hannover I. Struktur und situativ veranlasste Fortbildung des Subsidiaritätsprinzips 1 1. Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Artikel 5 des EGV 2 hat vielfach die Erwartung geweckt, dass dadurch ein Gegengewicht gegen den bürokratisch forcierten Zentralismus geschaffen worden ist, ja dass auch dem vielfach beklagten Demokratiedefizit im Bildungsprozess der Europäischen Union wirksam gegengesteuert werden kann, weil dieses Prinzip, nunmehr positiv-rechtlich fixiert, den Vorrang der M i t gliedsstaaten vor der Gemeinschaft und damit der (jeweils) kleineren rechtlich verfassten sozialen Einheit(en)/Gruppe(n) bezüglich adäquater Problemlösung i m Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit festlegt. Die Absicht des folgenden Beitrages ist es, diese Erwartungen durch eine Analyse wichtiger Stationen der Herausbildung dieses Prinzips und durch den Hinweis auf den prozeduralen Aspekt im Umgang mit diesem Prinzip zumindest zu ermäßigen, indem gezeigt wird, was man über den begriffsgeschichtlichen Hintergrund und über die Funktionsweise dieses Prinzips i n der Entscheidungspraxis wissen kann. 2. Das Subsidiaritätsprinzip ist zwar nicht alleine der katholischen Soziallehre eigen - man findet entsprechende Gedanken auch i n der amerikanischen Tradition, z.B. bei Abraham Lincoln 3 - , es hat aber seine für 1 In den folgenden Überlegungen lehne ich mich, ohne das im Einzelnen nachzuweisen, stark an die Ausführungen von Hartmut Kliemt, Subsidiarity as a guidung principle of constitutional design and of constitutional adjudication, in: Normative Systems i n Legal and Moral Theory. Festschrift for Carlos E. Alchourrón and Egenio Bulygin, Ernesto Garzòn Valdez (Hrsg.), Berlin 1997, 183-196, an. 2 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft v. 25. März 1957 (dort Art. 3) i.d.F. des Amsterdamer Vertrages v. 2.10.1997. 3 „The legitimate object of government is to do for a community of people whatever they need to have done but cannot do at all, or cannot do so well for themselves i n their separate and individual capacities. I n all that people can do individually as well for themselves, government ought not to interfere" (Lincoln 1984, zit. nach Oswald von Nell-Breuning, Subsidiaritätsprinzip, in: Staatslexikon

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die Gegenwart maßgebliche Ausbildung i n der katholischen Soziallehre der letzen beiden Jahrhunderte gefunden und ist in der katholischen Literatur am prägnantesten und in größter Breite entfaltet. Daher lassen sich aus dem Umgang mit diesem Prinzip in den entsprechenden vatikanischen Verlautbarungen und teilweise in der dadurch angeleiteten oder zumindest mitbedingten politischen Praxis Hinweise darauf entnehmen, inwiefern dieses Prinzip per se geeignet ist, Zentralisierungsbestrebungen im Rahmen des europäischen (Ver-)Einigungsprozesses zu bremsen bzw. ihnen gegenzusteuern. Außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass die einschlägigen Texte dieser Traditionslinie auch einigen Einfluss auf seine Handhabung in den heute relevanten Kontexten haben. Es empfiehlt sich daher, sich den Theorierahmen, innerhalb dessen es seinen Ort hat, sowie die Situationen, denen es seine Ausbildung i n der modernen Gestalt verdankt, zunächst zu vergegenwärtigen. 3. Das Subsidiaritätsprinzip w i r d in seiner ersten terminologisch fixierten Gestalt innerhalb der Lehrpraxis der katholischen Kirche, in der Enzyklika „Quadragesimo Anno" Pius XI. aus dem Jahre 1931, als „ i n philosophia sociali gravissumum ... principium quod neque moveri neque mutari potest" bezeichnet und inhaltlich so gefasst: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und aus eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaft zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen ... Jede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär. Sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber nicht zerschlagen oder aufsaugen". 4 Die katholische Soziallehre i n jener Gestalt, i n der das Subsidiaritätsprinzip seinen Ort hat, gründet i n der teleologisch angelegten Lehre vom Menschen als Person, als ens morale , wie sie zuerst i n der spanischen Spätscholastik entwickelt wurde, 5 einer Person, die objektiv, d.h. kraft göttlicher Schöpfungs- wie Erlösungsordnung, auf ein Ziel hin angelegt ist. Daraus folgt, dass alle sozialen Gebilde i n dem Maße legitim sind, i n Recht Wirtschaft Gesellschaft, Bd. 7, Freiburg 6 1962: Sp. 828; auch zitiert von Kliemt 1997 (FN 1), 185. Zu der sehr viel älteren Tradition, i n der das Subsidiaritätsprinzip steht, vgl. den Beitrag von Delsol i n diesem Band. 4 Pius XI., Quadragesimo Anno (1931), in: Die sozialen Rundschreiben Leos XIII. und Pius XI., Text u. Übers, samt systematischer Inhaltsübersichten hrsg. v. Gustav Gundlach, Paderborn 2 1933, 64-157 (112/113). Die einschlägigen Textauszüge auch in: Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Henricus Denziger (Hrsg.), editio X X X I V emendata (Schönmetzler), Barcinone 1967, Randnote 3738, 732. 5 Vgl. die Darstellung bei Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 2 1997.

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dem sie als notwendig für das Erreichen dieses Telos erweisbar sind. 6 Der Personalismus der katholischen Soziallehre betont so spätestens seit dem 19. Jahrhundert den ontologischen Vorrang der Person vor allen sozialen Gebilden: Soziale Gebilde bis hin zum Staat als der innerweltlichen societas perfecta sind teleologisch auf den Personstatus des Menschen bezogen. Sie haben i n dieser Finalität aber selber den Status von entia moralia und sind daher auch dazu bestimmt, alles das zum Erreichen des Telos der einzelnen Menschen beizutragen, was diese aus eigener Kraft als einzelne nicht oder nicht gleich gut vermögen. Sie haben diese bzw. die jeweils weniger komplexen societates also ggf. auch zu subventionieren (Solidaritätsprinzip). Der Vorrang des Einzelnen bezüglich der telosförderlichen Tätigkeiten, wie er im Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben ist, gründet nun aber seinerseits alleine darin, dass selbstvollzogene Prozesse sich als nachhaltiger bezüglich der Ausbildung solch vollkommenen Lebens erweisen 7 - ganz so, wie schon bei Thomas von Aquin das Privateigentum an Produktionsmitteln und deren Ertrag rein funktional mit der größeren Sorgfalt und Effizienz der Produktion begründet wird, während die societas perfecta in Zeiten lebensbedrohender Knappheit selbstverständlich das Recht und die Pflicht hat, über das privat Erwirtschaftete im Sinne des Gemeinwohls aller zu verfügen. 8 Zugleich ist damit die größere Zuständigkeit der Kirche als gnadengewirkter göttlicher Stiftung für das volle Personsein des Menschen gegenüber allen sozialen Gebilden und damit auch dem Staat begründet. 9 Daher sind für diesen theologisch-telelologischen Personbegriff alle sozialen Gebilde, soweit es um die Möglichkeitsbedingungen der vollen Ausbildung des Personseins geht, anders als die Kirche nur von sekundärer, eben funktional zu fassender Bedeutung. 10 Der Einfluss auf diesen ontologischen Personalismus durch den modernen liberalen Individualismus und die Übereinstimmung mit diesem sind 6 Zu der von Suàrez daraus gezogenen Konsequenz, dass die Demokratie die einzig natürliche Herrschaftsform ist, und zu den Mitteln, diese Konsequenz nicht durchschlagen zu lassen, vgl. Manfred Walther, Potestas multitudinis bei Suârez und potentia multitudinis bei Spinoza: Zur Transformation der Demokratietheorie zu Beginn der Neuzeit, in: Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur spanischen Spätscholastik, Kurt Seelmann (Hrsg.), Tübingen 2001 (im Druck). 7 Vgl. die Ausführungen zum „pädagogische(n) Charakter des Subsidiaritätsprinzips" bei Franz Klüber, Katholische Gesellschaftslehre, 1. Band: Geschichte und System, Osnabrück 1968, 872-875. 8 Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologiae, 18. Bd. (= II-II: 57-79): Recht und Gerechtigkeit, kommentiert v. A.-F. Utz, Heidelberg 1953, quaestio 66.2: S. 196/ 197-198/199. 9 Dass der das Subsidiaritätsprinzip fundierende „sozialphilosophische Personbegriff ... theologisch nicht in einer Bestimmung der Person, sondern ekklesioloKritische Erwägungen zum gisch verankert" ist, darauf macht Trutz Rendtorff, Subsidiaritätsprinzip, Der Staat 1 (1962), 405-430 (424), aufmerksam. 10 Darauf weist eindringlich auch Rendtorff 1962 (wie FN 9) hin.

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insofern gegeben, als auch dieser den Staat nur i n seiner instrumentellen Funktion für das Individuum thematisiert und daher stets zu begrenzen sucht. Jedoch handelt es sich, abgesehen von der gemeinsamen Gegnerschaft gegen einen (zentralistischen) Etatismus, nur um eine scheinbare Übereinstimmung. Scheinbar ist die Übereinstimmung 1 1 insofern, als es i n der katholischen Soziallehre nicht um Selbstbestimmung des Individuums geht, sondern darum, dass dieses ein objektives, ihm auch per inclinationes naturales i n der Schöpfungsordnung eingestiftetes bzw. gnadengewirktes Telos erreicht bzw. in seinem dann vollkommenen Leben realisiert. Wo es sein Wesen als Person zu verlieren oder zu verspielen droht, ist die jeweils funktional nächste societas vielmehr verpflichtet, dies zu verhindern. Die Strafbarkeit des Selbstmordversuches, wie sie noch i n europäischen Rechtsordnungen des 20. Jahrhunderts anzutreffen ist, mag ebenso als Beleg dienen wie die Haltung des Vatikans zur Geburtenregelung, hier freilich bezogen auf das Telos der Erhaltung der Gattung. 4. Es sind vor allem zwei sozialpolitische Konstellationen, in denen das Subsidiaritätsprinzip, zunächst freilich noch nicht terminologisch fixiert, ausgearbeitet und ins Spiel gebracht worden ist: a) Im protestantisch geprägten Deutschen Reich hat der Katholizismus im 19. Jahrhundert, um seinen Einfluss auf das Schulwesen und um die Erhaltung seiner Armen- und Sozialarbeit staatlichem Handeln gegenüber besorgt, dieses Prinzip geltend gemacht, um der Gefahr zu begegnen, dass der Staat, der seinerseits nicht weltanschaulich neutral agierte, die alleinige Definitions- bzw. Organisationshoheit über beide Bereiche erhielt bzw. behielt; er berief sich dabei auf die Differenz von Staat und Gesellschaft und den Vorrang gesellschaftlicher Selbstorganisationsprozesse in einem pluralistisch verstandenen liberalen Staat und konnte so zugleich wegen der beanspruchten, ekklesiologisch begründeten größeren Sachnähe zum Ziel der Vervollkommnung der Person seinen Einfluss auf Person und Familie stärken. I m Nachkriegsdeutschland hat dies, was das Schulwesen betrifft, in praktischer Konkordanz mit ganz anders motivierten Initiativen, i n Form der Stärkung des Elternrechts im Schulwesen und des Rechts nichtstaatlicher Organisationen auf Betreiben eines eigenen Schulwesens seinen Niederschlag gefunden, und im Jugend- und Sozialrecht wurde i n der einzigen Legislaturperiode, i n der die CDU/ CSU die absolute Mehrheit der Parlamentssitze hatte, das Subsidiaritätsprinzip gesetzlich verankert. 1 2

11 Anders Roman Herzog, Subsidiaritätsprinzip, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Darmstadt 1998, 482-486 (483).

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Es ist daher für das hinter dem Subsidiaritätsprinzip stehende Interesse besonders aufschlussreich, die Reaktionen zu analysieren, welche die Inanspruchnahme dieses Prinzips z.B. für islamische Schulen i n Deutschland hervorgerufen hat. b) Seine terminologische Fixierung als „gravissimum ... principium", gegen das zu verstoßen „Frevel" und „Unrecht wie schwerste Einbuße" ist, hat das Subsidiaritätsprinzip aber erst i n derjenigen Phase des 20. Jahrhunderts gefunden, i n der der Vatikan sich der totalitären kommunistischen Doktrin sowie dem Faschismus und zugleich verstärkter Staatstätigkeit auf dem Feld der Sozialarbeit etc. gegenüber sah, nämlich i n der Enzyclika Pius XI. „Quadragesimo anno" von 1931. In dieser Konstellation verfolgte der Vatikan generell eine Politik der engen Verbindung mit den westlich-liberal verfassten Gesellschaften, während er nach dem Ende des Staatssozialismus sehr viel stärker die kapitalismuskritischen Aspekte seiner Soziallehre betont und dabei auch Konflikte mit den USA nicht scheut. 13 II. Die Mehrdeutigkeiten des Subsidiaritätsprinzips Es dürfte schon deutlich geworden sein, dass das Subsidiaritätsprinzip, wenn man seine Einbettung in den oben skizzierten Zusammenhang beachtet, sehr verschiedener Interpretationen fähig ist, von denen ich zwei hervorheben möchte: 1. Das Subsidiaritätsprinzip als höchstes oder als eines von mehreren obersten Prinzipien? Die durch die spezifische Konfliktlage von 1931 bedingte Bezeichnung des Subsidiaritätsprinzips als eines „gravissimum ... principium" hat i n der offiziösen Übersetzung als „oberster sozialphilosophischer Grundsatz" einen zeitadäquaten Ausdruck gefunden. Diese Übersetzung ist jedoch unter veränderten Bedingungen schon in der innerkatholischen Diskussion späterer Jahre bestritten worden, und man übersetzte jetzt „besonders gewichtiger Grundsatz", unter Hinweis auf das Solidaritätsprinzip. 1 4 Gibt es aber mehrere erste Prinzipien, so verliert das Subsidiaritätsprinzip seine Eindeutigkeit. Dass eine Naturrechtslehre mit einer 12 Vgl. dazu, mit positiver Bewertung, Anton Rauscher, Subsidiarität, 1. Sozialethik, in: Staatslexikon Recht - Wirtschaft - Gesellschaft, 5. Bd., Freiburg 7 1995, Sp. 306-307. 13 Vgl. dazu Michael Hochgeschwender, Waffenbrüderschaft auf Zeit. Der Vatikan, der US-amerikanische Katholizismus und die NATO, in: Religion und Zivilreligion im atlantischen Bündnis, Herbert Kremp (Hrsg.), Trier 2001 (Atlantische Texte, 14), 292-306. 14 Vgl. Nell-Breuning 6 1962 (wie F N 3), Sp. 828 f.

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Mehrzahl oberster, d.h. irreduzibler und zugleich nicht in eine Präferenzordnung gebrachter Prinzipien in der Konsequenz nicht weit entfernt ist von einem „anything goes", hat der gescheiterte Versuch einer Erneuerung der thomasischen Naturrechtslehre gezeigt, wie er vor allem von John Finnis unternommen wurde. 1 5 Welche Flexibilität ein System gleichrangiger oberster Prinzipien für die Lösung konkreter Probleme bietet, ist aus der Spannungs- und Abwägungs„methodik" der Grundrechtsdogmatik bekannt. 2. Die „negative" und die „positive" Interpretation des Subsidiaritätsprinzips. Als noch bedeutsamer erscheint mir aber, dass das Subsidiaritätsprinzip zwar den Vorrang der Einzelperson vor den sozialen Gebilden und hier der jeweils weniger umfassenden vor den umfassenderer vorschreibt - man kann das die „negative" Interpretation des Prinzips nennen - , dass es aber zugleich die Notwendigkeit des Eingreifens der umfassenderen societas gebietet, wenn die niedrigere oder der Einzelne nicht oder nicht gleich gut in der Lage ist, das jeweilige Problem zu lösen - das wäre dann die „positive" Interpretation des Prinzips. 1 6 3. Diese mehrfache Mehrdeutigkeit ist so lange für die Handhabbarkeit des Prinzips ungefährlich, als die Interpretationsherrschaft darüber, was an Kompetenzverteilung zwischen verschiedenen Ebenen dem Prinzip entspricht oder widerspricht, einer Institution zusteht, die, wie das katholische Lehramt, jedenfalls dem säkularen Bereich selber nicht zugehört, 1 7 sondern einer insofern überlegenen, prinzipiell für diesen Bereich unerreichbaren Instanz zukommt, welcher die authentische Interpretation sowohl über das dem Telos Zuträgliche als auch über die daraus sich ergebende adäquate Kompetenzverteilung gibt - auch wenn sie gemäß der Konzeption von der potestas indirecta der Kirche bezüglich des säkular-politischen Bereichs zu direkten Eingriffen nicht befugt ist, sondern die betroffenen Organe nur anweisen bzw. auffordern kann, wenn auch das übernatürliche Telos von deren Maßnahmen stark be15 Vgl. den Nachweis anhand des Hauptwerkes von John Finnis, Natural Law and Natural Rights, Oxford 4 1986 (Clarendon Law Series), durch Pauline C. Westerman, The Disintegration of Natural Law Theory. Aquinas to Finnis, Leiden 1998 (Brill's Studies i n Intellectual History, 84), Chap. X, sowie meine Stellungnahme in: Folgeprobleme der Selbstauflösung der Naturgesetzlehre zu Beginn der Neuzeit, Nederlands Tijdschrift voor Rechtsfilosofie & Rechtstheorie 29 (2000), 150-163 (158 f.). 16 Zu dieser Terminologie vgl., mit verschiedener Bedeutung, Nell-Breuning 6 1962, Sp. 828, und Kliemt 1997 (wie F N 1), 183 u.ö. Vgl. auch die Ausführungen bei Klüber 1968 (wie F N 7), 884-885. ι? Zur Frage, welche Konsequenzen sich aus dem Subsidiaritätsprinzip für die Kompetenzverteilung innerhalb der Kirche selber ergeben, vgl. die umfangreichen Erörterungen bei Klüber 1968 (wie F N 7), 895-911.

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rührt ist. Es wird aber deutlich, welche Relevanz i n der Handhabung des Subsidiaritätsprinzips der Antwort auf die Frage „Quis judicabit" zukommt. ΙΠ. Prozedurale Aspekte und Probleme der Funktion des Subsidiaritätsprinzips im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Europäischen Union Art. 5 EGV bestimmt, dass „(i)n den Bereichen, die nicht in ihre [der Gemeinschaft] ausschließliche Zuständigkeit fallen, ... die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig (wird), sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher ... besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden". Was die Erwartung betrifft, dadurch werde der Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozess innerhalb der Europäischen Union wirksam gebremst, so stehen zwei prozedurale Aspekte im Zentrum der Problematik: 1. Zunächst enthält das Prinzip eine Beweislastregel 18 dergestalt, dass die höhere Ebene dartun muss, dass das Ziel entweder durch ihr Tätigwerden allererst oder jedenfalls besser (s.o.) erreicht werden kann. 1 9 Diese durch Berichtspflichten der Gemeinschaftsorgane konkretisierte Beweislastregel kann von den Organen der Mitgliedsstaaten genutzt werden, um den Begründungsdruck hoch zu halten. 2 0 Was die Erwartung betrifft, damit Zentralisierungs- und Bürokratisierungstendenzen erfolgreich gegensteuern zu können, ist jedoch zu bedenken: Angesichts der prima facie-Plausibilität „organisierter" Problemlösungen gegenüber sich i n Konkurrenz qua invisible hand erreichten, also von keinem Akteur direkt intendierten Problemlösungen spricht viel dafür, dass die professionellen Eliten wie der gemeine Mann ceteris paribus zu zentralistischen Arrangements tendieren. I n dem Maße nun, i n dem gesellschaftliche Prozesse komplexer werden, durch vielfältige Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen Akteuren aufgrund ihnen oft verborgener Strukturen charakterisiert sind, und i n dem Maße, in dem Zweckprogramme rechtliche Konditionalprogramme ablösen, aber auch weil nationale Poli18 Vgl. dazu die Ausführungen für die katholische Soziallehre bei Klüber 1968 (wie F N 7), 872. 19 In diesem Kontext ist darauf aufmerksam zu machen, dass zwischen „nicht ausreichend" und „besser" bezüglich der Fähigkeit der jeweiligen Organisationsebene zum Erreichen der Ziele insofern ein Unterschied besteht, als „nicht ausreichend" auf Defizite verweist, während „besser" auf ein Optimierungsgebot verweist. 20 Vgl. dazu den Beitrag von Pieper i n diesem Band.

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tiken bekanntlich je unterschiedlichen inneren Machtlagen Rechnung tragen und damit für Optimierungsprobleme vielfach unempfindlich sind, sind die Hoffnungen, welche die auf möglichst große nationalstaatliche oder gar regionale Selbständigkeit ausgehenden Propagierer auf das Subsidiaritätsprinzips richten, als problematisch, wenn nicht trügerisch zu bezeichnen. 2. Wenn ferner für die praktischen Auswirkungen des Subsidiaritätsprinzips nicht die Intention derer, die es in zentralismuskritischer Absicht propagieren, sondern die Antwort auf die Frage entscheidend ist, ob die kleineren Einheiten überhaupt das jeweilige Problem zu lösen vermögen, ob sie es gar mindestens ebenso gut lösen können wie die größeren Einheiten, dann ist der prozedurale Aspekt, die Antwort auf die Frage „Quis iudicabit?" von entscheidender Bedeutung. Wer interpretiert authentisch die Ziele und legt die Mittel zum Erreichen dieser Ziele fest? Sind dies die Organe der höheren Ebene, und sind die Ziel, wie kaum anders möglich, in Form von Zweckprogrammen fixiert, so folgt daraus, ungeachtet des zuvor über die Beweislastverteilung Ausgeführten, eine quasi naturwüchsige Tendenz zur Favorisierung eben dieser Ebene, besonders wenn es um Optimierungsfragen geht. 2 1 Zumindest sind auf diesem Feld Organstreitigkeiten zwischen den beiden Ebenen (oder zwischen einzelnen Organen der niederen und der höheren Ebene), bei Einbeziehen der Regionen in verstärktem Ausmaß, zu erwarten - mit der vorhersehbaren Folge, dass die europäische Verfassungsgerichtsbarkeit viel zu tun bekommen wird. Das stärkt den Zug zum Justizstaat auf gesamteuropäischer Ebene und dürfte zudem - hier ist die zweite Mehrdeutigkeit des Prinzips entscheidend - aufgrund der oben begründeten Vermutung, dass diese Gerichtsbarkeit eher zu „handfesten" Lösungen tendieren dürfte, die zentrale Kompetenz stärken. 3. Zu überlegen wäre also, w i l l man das dezentrale Moment stärken die positiven Effekte sind ja in vielen Bereichen offensichtlich - , wie statt zentraler Zuständigkeiten die Konkurrenz dezentraler Lösungskompetenzen verfassungsrechtlich besser gefördert werden kann. Hier wäre zu bedenken, ob nicht ein taugliches Mittel sein könnte, jedem bisherigen Nationalstaat auf Dauer ein Austrittsrecht und auch den Regionen gegenüber dem jeweiligen Nationalstaat das Recht sowohl zur Separierung als auch zum Übertritt in einen anderen Nationalstaat einzuräumen, um so der Konkurrenz um die bessere Problemlösung Raum zu geben, statt sie zentralistisch zu unterdrücken. 2 2 Die Risiken könnten 21 Im Falle von Defizitfeststellungen ist diese Gefahr geringer, da auch die unteren Einheiten, gleichsam per definitionem, diese Defizite selber wahrnehmen dürften. 22 Dafür votiert Kliemt 1997 (wie F N 1), 190-193.

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gegenüber den pekuniären wie sozialen Kosten einer voll ausgebauten weiteren Zentralebene durchaus geringer sein. Auf jeden Fall dürfte die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in einer gesamteuropäischen Verfassung per se keineswegs den Effekt haben, dass der Zentralisierungstendenz wirksam entgegengewirkt wird. Das etwas ausführlicher zu begründen, war das Telos meiner kurzen Bemerkungen.

I I I . Verfassungsrechtliche, rechts- und staatstheoretische Voraussetzungen der Subsidiarität

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 129 - 177 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBSIDIARITÄT - DAS PRINZIP U N D SEINE PRÄMISSEN Von Josef Isensee, Bonn I. Die vielen Bedeutungen und der authentische Text Wie kann es sein, daß ein und dasselbe Prinzip so unterschiedliche und widerstrebende Erwartungen auf sich zieht? Es soll staatliches wie kirchliches, nationales wie supranationales Handeln steuern, das Verhältnis des Marktes zu staatlicher Regulierung und das der freien zur öffentlichen Wohlfahrtspflege bestimmen, Föderalismus wie Selbstverwaltung schützen, die europäische Einung zugleich fördern und begrenzen. Das alles und mehr soll das Subsidiaritätsprinzip leisten. I n Deutschland wurde es erstmals Thema der Staatsrechtslehre und der Politik, als nach dem zweiten Weltkrieg die Neubesinnung auf die Grenzen der Wirksamkeit des Staates einsetzte, wie sie die naturrechtliche Tradition vorzeichnete, als sich das Bedürfnis nach rechtlichen Vorkehrungen regte, den Tendenzen zu totaler Expansion der Staatlichkeit zu wehren und die Freiräume der nichtstaatlichen Potenzen zu sichern. Als der Gesetzgeber im Jahre 1961 unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip den Vorrang der freien Träger der Jugendhilfe und Sozialhilfe vor den öffentlichen statuierte, entbrannte ein weltanschaulicher Grundsatzstreit, der, nachdem das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1967 i n positivrechtlicher Argumentation die Verfassungsmäßigkeit der Regelung i m wesentlichen bestätigt hatte, 1 abflaute, wie überhaupt das Interesse am Thema Subsidiarität zurückging. Es erwachte jäh von neuem, nun aber nicht nur in Deutschland, sondern europaweit, als i m Jahre 1992 die Maastrichter Verträge über die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union sich das Subsidiaritätsprinzip zu eigen machten. Die Initiative dazu war von Deutschland ausgegangen; die Länder, zumal Bayern, hatten darauf gedrängt, daß die supranationalen Einrichtungen vertraglich an das Subsidiaritätsprinzip gebunden werden sollten. Damit flössen deutsche Rechtsvorstellungen in das Europarecht ein. 2 Dort mit supranationaler Reputation im-

1 BVerfGE 22, 180. - Zu den Gründen und Hintergründen der Diskussion über das Subsidiaritätsprinzip Joxef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 108 ff., 143 ff. (Nachw.).

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prägniert, kehren sie nunmehr in das deutsche Hecht zurück. Als Reimport gewinnen sie neue Beachtung. Der verfassungsändernde Gesetzgeber macht sich i m Jahre 1993 ausdrücklich den „Grundsatz der Subsidiarität" zu eigen, indem er ihn i n die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG n.F. aufnimmt. Auf supranationaler Ebene stößt das Prinzip auf kein anderes Prinzip, mit dem es zu konkurrieren oder gegen das es anzukämpfen hätte. Seine Alternative ist kein anderes Prinzip, sondern die Prinzipienlosigkeit: Integration ohne Ziel und rechtliches Maß. Immerhin: seit es ausdrücklich in den europäischen Gründungsverträgen und i n der deutschen Verfassung verankert ist, steht seine positivrechtliche Geltung als solche außer Frage. Streitig ist dagegen, ob es hinlänglich inhaltliche Substanz und Konsistenz besitzt, um überhaupt normative Direktivkraft zu entwikkeln; ob es nicht lediglich soft law darstellt, einen Appell, dem sowohl die Befehlsklarheit als auch die Befehlsverbindlichkeit abgehen; einen Gemeinplatz, auf den sich alle verständigen, Europhoriker wie Europhobe; eine Leerformel, die ein jeder nach seinen Bedürfnissen füllen kann, ein semantisches Placebo. 3 Noch verwirrender als i m Europarecht w i r d das B i l d des Subsidiaritätsprinzips, wo ihm der Ausweis positivrechtlicher Geltung fehlt, i n seinen Deutungen, die es als Schlagwort der Interessenpolitik oder als Leitbegriff der Ordnungspolitik erfährt, vollends als Maxime der Philosophie, der Sozialethik, der Staatstheorie. Gleichwohl lassen sich die unübersehbar vielen Deutungen letztlich alle auf einen Ursprungstext zurückführen, von dem Wort und Begriff ihren Ausgang genommen haben, auf eine Passage i n Papst Pius' XI. Enzyklika „Quadragesimo anno" aus dem Jahre 1931: „Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt 2 Der Erfolg des von Deutschland eingeführten Subsidiaritätsprinzips als Begriff hängt auch damit zusammen, daß der konkurrierende Begriff Föderalismus für Großbritannien negativ besetzt war durch Assoziationen mit bürokratischem Zentralismus. Zur Entstehungsgeschichte mit Nachw. Christian Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip i n der Europäischen Union, 2 1999, S. 35 ff. (56 ff.). Dokumente der bayerischen Position im Vorfelde von Maastricht: Kurt Schelter, Subsidiarität - Handlungsprinzip für das Europa der Zukunft, in: EuZW 1990, S. 217 f.; Bay. Staatsministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten (Hg.), Europa der Regionen, in: Euro-Aktuell Nr. 9/28, August 1990. 3 Repräsentativ für die Positionen in der heutigen Diskussion Sammelbände: Detlef Merten (Hg.), Die Subsidiarität Europas, 1993; Alois Riklin/Gerald Batliner (Hg.), Subsidiarität, 1994; Rudolf Hrbek (Hg.), Das Subsidiaritätsprinzip i n der europäischen Union - Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche, 1995; Knut Wolfgang Nörr/Thomas Oppermann (Hg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, 1997.

Subsidiarität - Das Prinzip und seine Prämissen

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werden können, so muß doch allzeit unverrückbar jener oberste sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft i n Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär. Sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen." 4 N a c h dieser a b s t r a k t e n D a r s t e l l u n g des P r i n z i p s f o l g t seine A n w e n d u n g auf die Staatsgewalt: „Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müßten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch nur um so freier, stärker und schlagfertiger da für diejenigen Aufgaben, die i n ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, weil sie allein ihnen gewachsen ist: durch Leitung, Überwachung, Nachdruck und Zügelung, je nach Umständen und Erfordernis. Darum mögen die staatlichen Machthaber sich überzeugt halten: je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftungen innegehalten wird, um so stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkkraft da, um so besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt." 5 I n dieser Fassung h a t das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p b e g r i f f l i c h e Gestalt gew o n n e n . Das heißt n i c h t , daß die F o r m u l i e r u n g des P r i n z i p s abschließend, a u c h n i c h t , daß sie o r i g i n e l l wäre. D o c h sie v e r b i n d e t

erstmals

W o r t u n d B e d e u t u n g z u einem b e s t i m m t e n B e g r i f f u n d sichert so, i n der V i e l z a h l der k u r s i e r e n d e n Vorstellungen, S i n n i d e n t i t ä t . Es h a n d e l t s i c h s o m i t u m den a u t h e n t i s c h e n Text. Von i h m aus läßt sich b e s t i m m e n , ob der G e b r a u c h des Wortes die Sache t r i f f t oder v e r f e h l t oder i h m einen anderen S i n n u n t e r l e g t , w i e es g ä n g i g ist i n der p o l i t i s c h e n R h e t o r i k , die gern die R e p u t a t i o n eines Begriffs erborgt u n d f ü r heterogene Z w e c k e ausnutzt. Vollends e r m ö g l i c h t der Rekurs auf die Urfassung, das P r i n z i p als solches z u u n t e r s c h e i d e n v o n seinen D e u t u n g e n , die es k o n k r e t i s i e r e n u n d anreichern, u m es den r a u m z e i t l i c h e n Gegebenheiten anzupassen u n d f ü r die P r a x i s aufzubereiten. Just d a r a u f aber ist das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p angewiesen. H e u t e ist es n o c h theorielastig, aber a u c h theoriebe-

4 Quadragesimo anno, n. 79 (amtliche römische Übersetzung), zitiert nach: Die sozialen Rundschreiben (erläutert von Paul Jostock), 3 1961, S. 82 (133 f.). Die Formulierung des Subsidiaritätsprinzips geht zurück auf Gustav Gundlach S.J. (vgl. den Bericht des Hauptautors des Entwurfs der Enzyklika, Oswald von Nell-Breuning, Der Königswinterer Kreis und sein Anteil an „Quadragesimo anno", in: Festschrift für Götz Briefs, 1968, S. 571 [582]). 5 Quadragesimo anno, n. 80.

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dürftig. Es geht auf eine Doktrin zurück, und es ist zum Thema von Doktrinen geworden. Bislang hat sich noch keine politische Praxis entwikkelt, die das Subsidiaritätsprinzip ähnlich repräsentiert wie die Praxis der Rechtsstaaten die Gewaltenteilung und die der Bundesstaaten den Föderalismus. M i t h i n ergibt die Praxis noch keine hinlängliche Basis für das Verständnis des Prinzips. Das bedeutet jedoch nicht, daß es unablösbar der Gedankenwelt des päpstlichen Lehrschreibens verhaftet wäre. I m Gegenteil: es hat sich aus dem Kontext der Enzyklika gelöst, manche seiner Implikationen abgeworfen und sich zum eigenständigen Maßstab entwickelt. Darin gleicht es dem Prinzip der Gewaltenteilung, das, von Montesquieu im „Esprit des lois" über ein schöpferisches Mißverständnis der Verfassung Englands kreiert, sich von seinem Urheber abgelöst und Eigenleben gewonnen hat. Man muß nicht Montesquieu oder Locke studiert haben, um zu verstehen, was Gewaltenteilung bedeutet. Freilich ist es bei dem Prinzip der Gewaltenteilung wie dem der Subsidiarität hin und wieder lehrreich, ad fontes zu gehen; unerläßlich ist es nicht. Das eine wie das andere Prinzip versteht sich weitgehend von selbst. Es ist nicht angewiesen auf historische Mittler und auf literarische Exegeten. Vielmehr bietet es seinen Interpreten freien und unmittelbaren Zugang. Das „gravissimum principium" des päpstlichen Lehrschreibens 6 stützt sich auf die allgemeine Vernunfteinsicht über das Naturrecht jenseits des Offenbarungsglaubens. Doch das Naturrecht ist seinerseits Gegenstand des Streites. M i t dem Naturrecht verknüpft, w i r d das Subsidiaritätsprinzip in fundamentale Kontroversen hineingezogen, die mit der Sache selbst nichts zu tun haben. Bemühungen der katholischen Soziallehre, das Subsidiaritätsprinzip aus der neuscholastischen Naturrechtslehre abzuleiten und in diese einzubinden, 7 haben extra muros eher Mißverständnisse und Mißtrauen erzeugt als Klarheit und Zustimmung, wie es auch sonst vorkommt, wenn Philosophen und Theologen das, was vorab jedermann schon praktisch akzeptiert hat (etwa die Menschenrechte), auf ihre Weise nachträglich begründen wollen. Die alte Erfahrung bestätigt sich: wer begründet, sät Zweifel. Das Subsidiaritätsprinzip hat scharfsinnige K r i t i k auf sich gezogen, die seine innere Plausibilität, die Möglichkeit seiner praktischen Umset6 Die Wendung „Gravissimum principium" ist nicht als Superlativ zu verstehen, sondern als Elativ. Es handelt sich nicht um den wichtigsten, sondern um einen besonders wichtigen Grundsatz. Das ergibt sich schon aus dem Kontext, i n dem dieses Prinzip seinerseits auf ein höheres gestützt wird, nämlich auf die Gerechtigkeit. Zur Formel „gravissimum": Anton Rauscher, Subsidiaritätsprinzip und berufsständische Ordnung in „Quadragesimo anno", 1958, S. 54; von Nell-Breuning (FN 4), S. 583. 7 Dazu mit Nachw. Isensee (FN 1), S. 18 ff.

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zung, seine Vereinbarkeit mit den Strukturen des modernen Staates und der freiheitlichen Gesellschaft in Frage stellt. Die K r i t i k entzündet sich an überzogenen Hoffnungen, die sich an das Subsidiaritätsprinzip klammern. Aber sie erhebt auch fundamentale Einwände, die sich gegen jedwede rechtliche Bindung und Beschränkung der Staatsgewalt richten könnten, auch gegen Grundrechte, Föderalismus, Gewaltenteilung. Atavistische Vorstellungen von staatlicher Souveränität, eigentlich seit langem abgelegt im Archiv der Verfassungsgeschichte, werden reaktiviert, wenn es gilt, das Subsidiaritätsprinzip abzuwehren. Der Grund liegt weniger in der Sache als in dem i n Deutschland tief verwurzelten antipapistischen Ressentiment, das nicht erträgt, sich ultramontan belehren zu lassen, und das im Subsidiaritätsprinzip den liberalen Köder an der Angel des römischen Menschenfischers argwöhnt. 8 Vor allem während der fünfziger und sechziger Jahre, als das Subsidiaritätsprinzip im Zuge der Naturrechtsrenaissance auf die Tagesordnung der deutschen Staatsrechtslehre und Sozialpolitik gelangt war, hatten unterschwelliger Konfessionsneid und Konfessionsargwohn sich in die Diskussion gemischt. 9 Diese Affekte sind freilich i n der zweiten Subsidiaritätsdebatte, die seit einem Jahrzehnt durch die Europapolitik ausgelöst worden ist, nahezu erloschen. Im positivrechtlichen Kontext des supranationalen Vertrags- und des nationalen Verfassungsrechts weckt das Subsidiaritätsprinzip keine religiösen und keine spezifisch konfessionellen Assoziationen mehr. Heute gehört es zum gemeinsamen europäischen Erbe der politischen Ideen. Der Weg zu unbefangener, sachlicher Betrachtung ist frei. II. Nur Klugheitsregel oder auch ethisches Prinzip? Wenn das Subsidiaritätsprinzip als sozialphilosophischer Grundsatz allem historischen Wandel der Verhältnisse zum Trotz „allzeit unverrückbar" gelten soll („fixum tarnen immotumque manet"), 1 0 so muß es in der philosophischen Tradition aufzuweisen sein. Das früheste Zeugnis des Subsidiaritätsprinzips, so heißt es i m Schrifttum, 1 1 finde sich im 8 Exemplarisch etwa Roman Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, in: Der Staat 2 (1963), S. 399 ff.; Knut Wolfgang Nörr, Subsidiarität, privatrechtstheoretisch betrachtet, in: Nörr/Oppermann (FN 3), S. 239 ff. 9 Vgl. etwa Axel Freiherr von Campenhausen, Erziehungsauftrag und staatliche Schulträgerschaft, 1967, S. 212 ff.; Herzog (FN 8), S. 399 ff.; ders., Subsidiaritätsprinzip, in: Hermann Kunst/Siegfried Grundmann (Hg.), Evangelisches Staatslexikon, 1 1966, Sp. 2264 ff.; Trutz Rendtorff, Kritische Erwägungen zum Subsidiaritätsprinzip, in: Der Staat 1 (1962), S. 405 ff.; Helmut Simon, Katholisierung des Rechts?, 1962, S. 43 ff. Weit. Nachw. der Kritik, aber auch der affirmativen Bestrebungen: Isensee (FN 1), S. 127 f. 10 Quadragesimo anno, η. 79.

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zweiten Buch Mosis, Exodus 18, 18-22: Moses, überlastet durch die Aufgabe, die er um seines Volkes willen, das er aus Ägypten in das Gelobte Land führen will, auf sich genommen hat, erhält von seinem Schwiegervater Jetro folgenden Rat: „ D u reibst dich ja vollständig auf, dich selbst und das Volk, das bei dir ist; denn die Aufgabe überschreitet deine Kräfte, du kannst sie allein nicht bewältigen. Höre jetzt auf mich! Ich w i l l dir einen Rat geben und Gott w i r d mit dir sein. Vertritt du das Volk vor Gott und bringe ihr Anliegen vor Gott! Erkläre ihnen die Gesetze und Weisungen! Zeig ihnen den Weg, den sie gehen, und das Werk, das sie tun sollen! Du aber suche dir aus allen Leuten tüchtige, gottesfürchtige und zuverlässige Männer aus, die der Bestechung nicht zugänglich sind, setze sie über jene als Vorsteher über je eintausend, über je einhundert, über je fünfzig und über je zehn! Sie sollen jederzeit das Volk richten. Nur alle wichtigen Sachen sollen sie vor dich bringen, alles Geringfügige aber sollen sie selbst entscheiden! Entlaste also dich selber und laß jene mit dir die Verantwortung tragen! Wenn du es so machst, so kannst du ausrichten, was dir Gott gebietet, und auch dies ganze Volk w i r d zufrieden heimgehen." 12

In der Tat entspricht der Aufbau der Herrschaftsorganisation, die Jetro empfiehlt, in ihrer formalen Struktur dem Subsidiaritätsprinzip. Sie dient der Entlastung Mosis, dem bisher die ganze Last der Führung oblag. Sie gibt einen Impuls, charismatische Herrschaft in rationale überzuleiten, Effizienz durch Arbeitsteilung zu steigern. Die Verheißung Jetros, daß das Volk auf diese Weise zufriedengestellt werde, berührt sich mit den Erwartungen, die die Enzyklika „Quadragesimo anno" an das Subsidiaritätsprinzip knüpft: der Staat solle Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung kleineren Gemeinschaften überlassen, damit er die ihm verbleibenden notwendigen Zuständigkeiten um so ungehinderter, machtvoller und wirksamer wahrnehmen könne. Je sorgfältiger das Subsidiaritätsprinzip eingehalten werde, um so stärker stünden gesellschaftliche Autorität und Wirkkraft da, um so glücklicher sei es auch um den Staat bestellt. 1 3 Der Rat Jetros entspringt administrativer Klugheit. Er ist längst Gemeingut geworden. Ihm folgt heute die Verteilung der sachlichen Zuständigkeit im Stufenbau der Behörden und Gerichte. Ein pragmatisches Ziel n Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre (Neuausgabe von Lothar Roos), 1997, S. 60; Lothar Schneider, Subsidiäre Gesellschaft, 2 1985, S. 19. 12 Exodus 18, 18-22. 13 Quadragesimo anno, n. 80. - Eine Gegenprognose gibt Ernst Forsthoff: „Die Ausdehnung der staatlichen Kompetenzen in den gesellschaftlichen Bereich kann ebensowohl Symptom der Stärke wie der Schwäche sein. Sie ist dann ein Symptom der Schwäche, wenn der Staat lediglich als Nothelfer in Situationen gerufen und akzeptiert wird, welche die Gesellschaft mit eigenen Kräften nicht bewältigen kann. Und dieser Nothelfer ist umso willkommener, je mehr er von den gesellschaftlichen Kräften beherrscht w i r d " (Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 24).

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von Privatisierungsmaßnahmen ist die Entlastung des staatlichen Systems. Jedes Management-Seminar macht ihn sich zu eigen, wenn es die Kunst propagiert, Verantwortung zu delegieren. Die Verwaltungslehre hat längst erkannt, daß „Gouvernanzoptimierung" in der Industriegesellschaft der dezentralen Handlungsebenen bedarf, daß dezentrale Lösungen die Komplexität des Entscheidungsprozesses mindern und Tansparenz ermöglichen. 14 Der Rat Jetros erweist sich als Gebot der Klugheit, die Effizienz der Herrschaft wie Akzeptanz der Beherrschten verbürgt. Doch Effizienz und Akzeptanz sind nicht das eigentliche Ziel des Subsidiaritätsprinzips, sondern seine erwünschten Folgen. Ziel ist es letztlich, der menschlichen Person das Tätigkeitsfeld zu sichern, dessen sie bedarf, um sich ihren Fähigkeiten gemäß zu entfalten. Das ist, in Goethes Worten, „der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt! Nichts drunter und nichts drüber!" Das Fundament des Stufenbaus ist die Person als der selbstzweckhafte Ursprung und die Bezugsgröße aller sozialen Organisationen. Diese partizipieren ihrerseits am Handlungsvorrang der Person nach dem Maß ihrer Personnähe, d.h. danach, wie konkret und wie wenig vermittelt sich in ihnen personale Werte verkörpern. So kommt der Familie und der privaten Sphäre, den gesellschaftlichen Einrichtungen, die als Medien der Privatautonomie fungieren, das Prä zu vor dem Staat, i n dem die Allgemeinheit der Bürger in höchster Abstraktheit und Distanz organisiert ist. Das Bild des Stufenbaus w i r d ergänzt durch das B i l d der konzentrischen Kreise, die sich um die Person als ihr Zentrum fügen. 15 Ob und wie sich dieses abstrakte Bild auf die Wirklichkeit der modernen Gesellschaft transponieren läßt und ob das Kriterium der Personnähe operationabel ist, das sei vorerst dahingestellt. Das Subsidiaritätsprinzip ist also seiner Intention nach keine bloß organisationstechnische, sondern eine ethische Maxime. Es w i l l mehr sein als eine Klugheitsregel. 16 Das schließt nicht aus, daß es sich auch als Klugheitsregel verwenden läßt und eine Organisation gut beraten ist, dem Rat Jetros gemäß Verantwortung zu delegieren, Kompetenzen zu dekonzentrieren und zu dezentralisieren. Doch es macht einen wesentli14 Zum europarechtlichen Subsidiaritätsprinzip Christian Calliess, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hg.), EUV/EGV, 1999, Art. 1 EUV Rn. 32. is Die Metaphorik der Lebenskreise, deren Zentrum der einzelne Mensch ist, findet sich bereits i n der Staatstheorie des Liberalismus. Robert von Mohl entwirft ein solches Konzept der Lebenskreise des Individuums, der Familie, des Stammes, der Gesellschaft, des Staates und der Staatenverbindungen. Die Aufgabenverteilung, die diesem Konzept entspricht, nimmt in der Sache das Subsidiaritätsprinzip vorweg. Vgl. Robert von Mohl, Enzyklopädie der Staatswissenschaften, 4859, S. 3 ff. ι 6 Vgl. Otfried Höffe, Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, in: Nörr/ Oppermann (FN 3), S. 49 (55). Vgl. auch Alois Baumgartner, „Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär", ebd., S. 13 (15 ff.).

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chen Unterschied, ob eine solche Verteilung der Aufgaben dazu bestimmt ist, eine Organisation von innen her zu optimieren, oder dazu, die Organisation i n den Dienst eines externen Wertes zu stellen, nämlich in den Dienst der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Das aber bedeutet, daß die Verwaltungsreform, die Jetro vorschlägt, trotz Übereinstimmung in technischer Hinsicht den Geist des Subsidiaritätsprinzips nicht erkennen läßt, ebensowenig wie die heute geltenden Regelungen über die sachliche Zuständigkeit der Behörden und Gerichte in ihren jeweiligen Instanzenzügen. Wenn eine Gemeinde Aufgaben der Daseins Vorsorge, die ihr obliegen, etwa Wasserversorgung und Nahverkehr, auf die Stadtwerke GmbH überträgt, so dient dieses rechtlich verselbständigte Unternehmen ausschließlich den öffentlichen Interessen der Stadt; es kann sich nicht dem Muttergemeinwesen gegenüber auf das Subsidiaritätsprinzip berufen, um dieses auf eine dienende Funktion zurückzudrängen. Dagegen kann die Gemeinde ihrerseits kraft ihrer verfassungsrechtlich verbürgten Autonomie dem Staat gegenüber das Subsidiaritätsprinzip geltend machen. Wenn das geltende Recht bestimmte Ansprüche, Verfahren, Kompetenzen im Kollisionsfall für subsidiär erklärt, die Amtshaftung, die Verfassungsbeschwerde oder den polizeilichen Schutz privater Rechte (im Verhältnis zum gerichtlichen Schutz, „polizeiliches Subsidiaritätsprinzip"), so haben derartige technische Regeln nichts zu tun mit dem ethischen Subsidiaritätsprinzip. 1 7 ΙΠ. Grund der Subsidiarität 1. Rechtfertigung des Staates aus seinem Zweck

Spuren des Subsidiaritätsprinzips führen zurück zu Piaton. Die Ursache, weshalb es Staaten gibt, liegt, so heißt es in seiner „Politeia", darin, daß der einzelne Mensch sich nicht selbst genug, sondern angewiesen ist auf die Hilfe anderer. Ihrer bedarf es, damit er Nahrung, Kleidung, Wohnung erhält. Um die Bedingungen herzustellen, die zum physischen Überleben und zum zivilisatorisch guten Leben erforderlich sind, finden die Menschen an einem Wohnplatz zusammen, von dem Willen geleitet, einander beizustehen, jeder auf seine Weise, in wechselseitiger Ergänzung. Eine solche arbeitsteilige Siedlungsgemeinschaft gilt nach Piaton als Staat. 1 8 Der Zweck des Staates, das Tun der Individuen zu organisie17 Näher Isensee (FN 1), S. 86 ff. (Nachw.). Dagegen deutet Alexander Hollerbach rechtstechnische Regelungen als „rechtliche Aspekte" des Subsidiaritätsprinzips (Subsidiaritätsprinzip II, in: Staatslexikon, hg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. V, 7 1989, Sp. 389). 18 Piaton, Politeia, II, 369-374.

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ren, enthält in der Tat ein Moment des Subsidiaritätsprinzips. Die Aufgabenverteilung stimmt überein mit der Aussage, daß jedwede Gesellschaftstätigkeit ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär ist („cum socialis quaevis opera vi naturaque sua subsidium afferre membris corporis socialis debeat"). 19 Platon geht es nicht darum, die Verteilung der Aufgaben zwischen der staatlichen Gemeinschaft und ihren Mitgliedern zu rechtfertigen, sondern die Existenz des Staates als Aufgabenträger. Die Rechtfertigung ergibt sich aus seiner Zweckbestimmung, für seine Zugehörigen die Leistungen zu erbringen, deren sie bedürfen, die sie aber, auf sich gestellt, selber nicht erbringen könnten: Legitimation aus Subsidiarität. Die Rechtfertigung des Staates aus seinem Zweck geht allen Kompetenzfragen voraus. Sie rührt an den Grund des Subsidiaritätsprinzips. Wenn der Staat die Form der Daseinsbewältigung und -Verbesserung ist, so läge die Folgerung nahe, daß er sich mit ergänzenden Diensten begnügen müsse und nicht übernehmen dürfe, was seine Zugehörigen aus eigener Kraft leisten könnten. Doch ein solcher Gedanke ist Piaton fremd. 2. Aristotelischer Universalismus

Piaton scheidet nicht den Wirkungskreis des Staates von dem der Individuen, die sich zu ihm vereinigt haben. Ihm geht es um die Vollendung des Staates, nicht um das Eigenrecht seiner Teile. Alle Elemente des philosophischen Konstrukts folgen dem Leitgedanken, „daß die höchste denkbare Vollkommenheit des Staats der einzige Zweck desselben, der einzelne Bürger nur insofern für etwas zu rechnen sei, als er bloß für das Ganze lebt, und immer bereit ist, diesem seine natürlichsten Triebe und gerechtesten Ansprüche aufzuopfern. Ob der Staat solche Opfer zu fordern berechtigt sei, ist bei ihm keine Frage." 2 0 Freilich ist der ideale Staat, den der Philosoph in der „Politeia" als Wirklichkeit der Gerechtigkeitsidee entwirft, hierarchisch gegliedert i n drei Stände, die je eigene Leistungen zu erbringen haben (Ernährung, Wächterdienst, Staatsführung). Doch die Stände sind nicht um ihrer selbst, sondern nur um des Ganzen willen da; innerhalb dessen haben sie ihre jeweils ausschließlichen und unverrückbaren Zuständigkeiten. Ihnen kommt nicht jene relative Autonomie zu, die durch ein Kompetenzregulativ gehegt werden könnte. Piatons Ideal ist nicht die Differenzierung des Gemeinwesens, sondern die größtmögliche Verbundenheit seiner Glieder. Die Gesetze sind darauf auszurichten, daß sie Zusammenhalt und Homogenität f oris Quadragesimo anno, η. 79. So die treffende Charakteristik durch Christoph Martin Wieland, Aristipp, 3. Bd. (1800/01), in: ders., Sämtliche Werke, 23. Bd., 1856, S. 140, s. auch S. 90. 20

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dern und der Gefahr von Spaltung und Zerfall wehren. 2 1 Die staatstragende Schicht der Wächter hat sich zu einer Gemeinschaft zu fügen, in der ein jeder sein Selbst aufzugeben, auf Eigenständigkeit und Privatheit, auf Eigennutz und Eigentum, auf ausschließlich persönliche Beziehungen zu verzichten, sich vorbehaltlos den Zwecken des Ganzen zu unterwerfen hat. Jedoch höchstmögliche Verdichtung der Einheit des Staates, so k r i t i siert Aristoteles, richtet den Staat zugrunde. „Es gibt einen Grad der Einheit, bei dem der Staat nicht mehr bestehen würde, und es gibt einen Grad, bei dem er zwar noch Staat bliebe, aber an die Grenze seiner Existenzfähigkeit geriete, ähnlich, wie wenn man die Symphonie auf Monotonie reduzierte und den Rhythmus auf einen einzigen Schlag." 2 2

Der idealkommunistischen Güter- und Kindergemeinschaft, die Piaton für die Wächter vorsieht, hält Aristoteles entgegen: was sehr vielen gemeinsam gehöre, für das werde am wenigsten gesorgt. A m meisten denke man an seine eigenen Angelegenheiten, an die gemeinsamen weniger oder doch nur, soweit sie einen als Einzelnen berührten. Man nehme hier die Sache leichter, weil man daran denke, ein anderer werde schon dafür sorgen, ähnlich wie im Haushalt viele Diener mitunter schlechter aufwarteten als wenige. 23 Bei Aristoteles sind Anklänge an das Subsidiaritätsprinzip als Klugheitsregel unüberhörbar. Die Übereinstimmung reicht sogar tiefer. Auf ihn zurück geht die Vorstellung der engeren und weiteren Gemeinschaften, die das Individuum umgeben. Seiner Natur nach dazu bestimmt, mit anderen zu leben, findet der Einzelne i n der Familie und in der Gemeinde nur Teilerfüllung seiner Anlagen und Ziele. Die vollkommene und ganzheitliche Erfüllung bietet erst die politische Gemeinschaft als societas perfecta et completa. Diese absorbiert aber nicht die engeren Gemeinschaften, vielmehr umschließt und ergänzt sie diese und sichert so als Einheit i n der Vielheit das gute Leben. Der Staat erscheint als lebender, differenziert gegliederter Organismus. Vom aristotelischen Bild des Gemeinwesens geht die Enzyklika „Quadragesimo anno" aus, dem B i l d des Sozialkörpers und seinen Gliedern („membris corporis social i s " 2 4 ) , wie i n der Beschreibung des Gemeinwesens, wie es einst gewesen und wie es wieder sein sollte: „blühend und reich gegliedert, in einer Fülle verschiedenartiger Vergemeinschaftungen entfaltet." Doch diese heile Welt ist nicht mehr die wirkliche. So heißt es denn auch, sie sei durch den modernen Individualismus derart zerschlagen und nahezu er21 Platon , Politela, V, 462 a, b. 22 Aristoteles, Politik, II, 5 (1263 b). 23 Aristoteles, Politik, II, 3 (1261b). 24 Quadragesimo anno, n. 79.

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tötet, daß schließlich fast nur noch die Einzelmenschen und der Staat übrig geblieben seien. 25 Für diese gegenwärtige Gesellschaft aber w i r d das Subsidiaritätsprinzip formuliert, nicht für das aristotelische Ideal. Aristotelisches Erbe findet sich in dem Modell berufsständischer Körperschaften (ordines), die den Antagonismus von Kapital und Arbeit in organisierte Kooperation überführen und so das klassische Ordnungsideal der „Einheit i n wohlgegliederter Vielheit" (Thomas von Aquin) wiederherstellen sollten. 2 6 Das Modell, das heterogene Deutungen erfuhr, markierte auf der einen Seite Widerspruch zur Marktgesellschaft, auf der anderen Seite Widerspruch zum faschistischen Korporationensystem; 27 es proklamierte auch nicht den Aufbau eines Ständestaates neuer A r t . 2 8 Die ordines bilden keine Staatsform, sondern intermediäre Verbände. Am ehesten finden sie aktuelle Entsprechungen in Körperschaften wirtschaftlicher wie sozialer Selbstverwaltung, vor allem in den Berufskammern, aber auch in Koalitionen, die sich die Maxime sozialer Partnerschaft zu eigen machen. Das Modell der berufsständischen Ordnungen ist kein inhaltlicher Bestandteil des Subsidiaritätsprinzips. 29 Es soll die Bedingungen seiner Anwendbarkeit verbessern. Eine notwendige Bedingung bildet es aber nicht. Die Genese des Subsidiaritätsprinzips wurde beeinflußt von aristotelischem Denken. Doch i n der aristotelischen Philosophie selbst ist es nicht auszumachen. Sie entwirft das Bild der Polis, wie sie der Wesens Verfassung des Menschen gemäß organisiert ist und funktioniert. Der Bau- und Funktionsplan liegt a priori fest. Es bedarf keines Regulativs, das die Aufgaben a posteriori zuweist oder verändert. Überhaupt verträgt sich das Subsidiaritätsprinzip nicht mit dem Verständnis des Staates als Organismus, der gewachsen ist, nicht gemacht und nicht machbar. Er folgt seiner eigenen, naturgegebenen Gesetzlichkeit. Organe im biologischen, aber auch im rechtlichen - metaphorischen - Sinne können einander nicht substituieren, das Herz nicht die Niere, das H i r n nicht die Lunge. 25

Quadragesimo anno, n. 78. 6 Quadragesimo anno, n. 81-87 - unter Berufung auf Thomas, s. c. g. 3, 71; S. th. 1, q. 65, a. 2 i.e. Dazu Adolf Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika „Quadragesimo anno", in: Zeitschrift für öffentliches Recht X I V (1934), S. 208 ff.; Johannes Messner, Die berufsständische Ordnung, 1936; Rauscher (FN 6), passim; von Nell-Breuning (FN 4), S. 580 ff. Quadragesimo anno, n. 91-95. - Zur Relevanz für autoritär-korporativistische Systeme Peter-Cornelius Mayer-Tasch, Korporativismus und Autoritarismus, 1971, S. 61 ff. 2 8 Zu dieser Frage, die für den autoritären Ständestaat Österreichs von 1934 bedeutsam war, Merkl (FN 26), S. 208 ff.; ders., Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, 1935, S. IV, 15, 20, 27 ff.; Ludwig Adamovich, Grundriß des österreichischen Staatsrechts, 3 1935, S. 26, 39 ff. 2 9 Kritische Distanz zu dieser Passage der Enzyklika Quadragesimo anno: von Nell-Breuning (FN 4), S. 580 ff. 2

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Sie haben eine je eigene, unersetzliche Funktion für das Ganze. Das Subsidiaritätsprinzip aber t r i t t nur dort auf den Plan, wo die Ordnung problematisch, die Verteilung der Kompetenzen beweglich und situationsoffen ist. Der Organismus ist angewiesen auf funktionstüchtige Organe und Glieder. Diese aber sind nicht um ihrer selbst willen da, sondern um des Organismus willen. Ihre Bestimmung ist es, diesem zu dienen. Die aristotelische Teleologie ist universalistisch. „Darum ist denn auch der Staat der Natur nach früher als die Familie und als der einzelne Mensch, weil das Ganze früher sein muß als der Teil. Hebt man das ganze menschliche Kompositum auf, so kann es keinen Fuß und keine Hand mehr geben, außer nur dem Namen nach, wie man etwa auch eine steinerne Hand Hand nennt; denn nach dem Tod ist sie nur mehr eine solche." 30

Individuen und kleinere Gemeinschaften sind Teile des Ganzen der Polis und haben sich als Teile i n das Ganze zu fügen. Das Ganze aber kann gegenüber seinen Teilen nicht subsidiär sein. Die societas perfecta et completa bildet keine selbständige, handlungsfähige Größe im Verhältnis zu ihren Gliedern. Wäre sie es, so hätte sie selber nur den Charakter einer Teileinheit (wie es dem modernen Begriff des anstaltlichen Staates entspräche). Im universalistischen Konzept geht es auch nicht um die Autonomie der Teile gegenüber dem Ganzen, sondern um deren Integration, nicht um deren Selbstbehauptung, sondern um deren Ausrichtung auf das Gemeinwohl. Darin liegt für den Menschen nicht die Beschränkung seiner Freiheit, sondern die Entfaltung seines Selbst als auf die staatliche Gemeinschaft hin angelegtes Wesen (zóon politikón). Der Zweck des Staates ist für Aristoteles, daß der Mensch gut, d.h. glücklich und tugendhaft, lebe. 3 1 Doch geht es nicht um den Menschen als einzelne Person, sondern um den Menschen als Gattungswesen, auch nicht um seine subjektiven Bedürfnisse, sondern um seine objektiven Wesensziele. Freilich bringt der Staat praktische Vorteile der Daseinsbewältigung, Schutz vor gegenseitigen Übergriffen und Rechtsschutz im privaten Tauschverkehr. Doch seiner eigentlichen und letztlichen Bestimmung nach bildet er „die Gemeinschaft i n einem guten Leben unter Häusern und Geschlechtern zum Zwecke eines vollkommenen und sich selbst genügenden Daseins." 3 2 Der Universalismus des Aristoteles bietet dem Subsidiaritätsprinzip ebensowenig Raum wie der Universalismus Thomas von Aquins oder der Hegels. 33 30 Aristoteles, Politik, I, 2 (1253 a). 31 Aristoteles, Politik, III, 9 (1280b, 1281a). 32 Aristoteles, Politik, III, 9 (1280 b).

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Subsidiarität setzt an bei der Initiative und dem Leistungsvermögen der einzelnen Menschen („a singularibus hominibus"). 3 4 Darin liegt nicht nur der Ansatz für die diskursive Beschreibung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern vor allem der Ansatz zu ihrer Rechtfertigung, zum Entwurf ihres richtigen Aufbaus und der richtigen Verteilung der Aufgaben. Ausgangsgröße ist nicht, wie bei Aristoteles, der Mensch als philosophische Abstraktion, sondern als Individuum i n der Wirklichkeit des sozialen Lebens; nicht das Gattungswesen, sondern der singularis homo als Person. 35 Die Person t r i t t als Inhaber ursprunghafter Autonomie in Erscheinung, indes die theonome Deutung der irdischen Ordnung, die der scholastischen Tradition entsprach, i n den Hintergrund rückt.

3. Wende zum Individualismus der Moderne

Das Subsidiaritätsprinzip soll Abhilfe schaffen gegen die zerstörerischen Folgen des Individualismus; doch es ist selbst Ausdruck des Individualismus. Das mag erstaunen. Denn die katholische Soziallehre beteuerte im 20. Jahrhundert, solange der West-Ost-Gegensatz der Staatenwelt währte, sie halte Distanz zum Kapitalismus wie zum Kommunismus; jenseits von Liberalismus und Kollektivismus sei sie der dritte Weg. 36 Doch die praktische Philosophie kann der Entscheidung, vor die sie die grundsätzliche Alternative Universalismus oder Individualismus stellt, nicht ausweichen. Tertium non datur. Das Subsidiaritätsprinzip baut auf der Entscheidung für den Individualismus, indem es das Recht der Person und der kleineren Lebenskreise sichert und Widerstand leistet gegen grenzenlose Ausdehnung und Intensivierung staatlicher Wirksamkeit, gegen maßlosen Interventionismus, gegen die Tendenz zum totalen Staat. Individualistischem Denken entspricht das Bedürfnis, die Handlungsbereiche der Individuen und der Gemeinschaften, vor allem den des Staates, kompetenziell zu definieren. Damit wandelt sich unversehens der Staatsbegriff. Ein Staat mit begrenztem Wirkungskreis ist nicht mehr das Ganze des Gemeinwesens, sondern selber nur noch dessen Teil. Im Kontext des Subsidiaritätsprinzips ist denn auch nur vom engeren, anstaltlichen Staatsbegriff als „Staatsgewalt" („suprema rei publicae auc33 Versuche, das Subsidiaritätsprinzip bei Thomas zu verorten: Höffner (FN 11), S. 60, oder bei Hegel: Jacob Barion, Hegels Staatslehre und das Prinzip der Subsidiarität, in: Die Neue Ordnung 7 (1953), S. 193 ff., 279 ff. 34 Quadragesimo anno, n. 79. 35 Zutreffend Otfried Höffe (FN 16), S. 53 f. 36 Zum dritten Weg des Solidarismus oder Personalismus: Franz Klüber, Grundlagen der katholischen Gesellschaftslehre, 1960, S. 115 ff.; Höffner (FN 11), S. 47 f.

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toritas") die Rede. 37 Der Staat stellt sich in diesem Zusammenhang nicht mehr als societas perfecta et completa dar, sondern nur noch als sektorale, wenngleich i n ihrem Bereich höchste Gemeinschaft, genauer: als Hoheits- und Leistungsträger. Mit dem engeren Staatsbegriff, von dem auch das moderne Verfassungsrecht, zumal in den Grundrechten, ausgeht, rückt auch sein Gegenüber in das Blickfeld, die Gesellschaft als die Gesamtheit der dem Staat im engeren Sinne zugeordneten Individuen und Organisationen. 38 Unter den gegebenen Verhältnissen erscheint das Verhältnis von Staat und Gesellschaft geradezu als das eigentliche Feld des Subsidiaritätsprinzips. Die Legitimation des Gemeinwesens von unten nach oben vollzieht die kopernikanische Wende vom Universalismus zum Individualismus. 3 9 Die Wende ereignet sich freilich nicht expressis verbis, sondern unmerklich, unter möglichster Wahrung der Tradition i n Sprachgebrauch wie Inhalt. So paßt sich über das Subsidiaritätsprinzip das durch Thomas vermittelte aristotelische Erbe den modernen Gegebenheiten an. Auch die singulares homines sind nicht die hobbesianischen Einzelgänger, die i n natürlicher Freiheit für sich und in natürlicher Feindschaft widereinander leben und sich erst a posteriori auf eine Form des staatlichen Daseins verständigen, sondern von vornherein auf Gemeinschaft bezogene Wesen. Freiheit erscheint auch in diesem Licht vornehmlich im positiven Sinn, als Freiheit zum gemeinwohldienlichen Handeln. Doch die Realisierung des Gemeinwohlbezugs ist heute prekär geworden. Die Ordnung von Staat und Gesellschaft ist aus den Fugen geraten. Sie w i r d nicht mehr als prästabilierte Harmonie erfahren, noch nicht einmal mehr als solche gedacht. Die Verfassung muß überhaupt erst hergestellt werden. Sie ist aber auch machbar. Das Leitbild der richtigen Verfassung ist in seinen abstrakten Strukturen, zu denen das Subsidiaritätsprinzip gehört, der Vernunft erkennbar. Sache der Vernunft ist es, das Leitbild unter den gegebenen Umständen zu realisieren. Das Subsidiaritätsprinzip zeigt sich offen für die raumzeitlichen Gegebenheiten, für Mannigfaltigkeit und Wandel. Es vermag sich der modernen Gesellschaft anzupassen.

37 Quadragesimo anno, n. 79. Zur Unterscheidung des engeren und des weiteren Staatsbegriffs Josef Isensee, Staat, in: Staatslexikon, hg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. V, 7 1989, Sp. 133 (144 f.). 38 Vgl. Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. I, έ 1995, § 13 Rn. 52 ff.; Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, ebd., § 28 Rn. 29 ff., 44 ff. 39 Näher Isensee (FN 1), S. 23 ff. Am Beispiel der Menschenrechte auch ders., Keine Freiheit für den Irrtum, in: ZGR, kan. Abt. L X X I I I (1987), S. 296 ff. (Nachw.). Zum Individualismus des Subsidiaritätsprinzips Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, S. 126 ff.

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4. Konvergenz mit dem Liberalismus

Wenn das Subsidiaritätsprinzip die Eierschalen seiner aristotelischthomasischen Herkunft gänzlich abstreift, stimmt es überein mit der Staatszwecklehre des Liberalismus. Diesem erscheint der Staat nicht unter dem ganzheitlichen Aspekt des Gemeinwesens, sondern dem engeren der Herrschafts- und Leistungsorganisation, die sich legitimiert aus den Diensten, die sie den Individuen erbringt. Das neuzeitliche Verständnis des Staatszweckes, das individualistisch und utilitaristisch geprägt ist, kommt literarisch zu Wort in Christoph Martin Wielands K r i t i k am organischen Staatsdenken Piatons. Dieser irre darin, daß er die Bürger als organische Teile eines politischen Ganzen, als Gliedmaß eines Leibes betrachte, welche nur durch ihre Einfügung in denselben lebten und bestünden, keinen Zweck für sich hätten, sondern bloß da seien zum Dienst für das Ganze. „Da dies bei den Gliedmaßen eines jeden organischen Körpers wirklich der Fall ist, so kann man freilich mit Grund behaupten: daß die Glieder um des Leibes willen da sind, nicht der Leib um der Glieder willen. Allein mit einer bürgerlichen Gesellschaft, die aus lauter für sich bestehenden Gliedern zusammengesetzt ist, hat es eben deswegen eine ganz andere Bewandtnis. Die Menschen, woraus sie besteht, haben sich (wie Plato selbst anfangs voraussetzt) bloß in der Absicht vereinigt, ihre natürlichen, d. i. ihre weltbürgerlichen Rechte, in die möglichste Sicherheit zu bringen und sich durch diesen Verein desto besser zu befinden. Hier ist es also gerade umgekehrt: der Staat ist um des Bürgers willen da, nicht der Bürger um des Staats willen. Die Erhaltung des Staats ist nur insofern das höchste Gesetz, als sie eine notwendige Bedingung der Erhaltung und der Wohlfahrt seiner sämtlichen Glieder ist; nur, wenn es allen Bürgern, insofern jeder nach Verhältnis und Vermögen zum allgemeinen Wohlstand mitwirkt, verhältnismäßig auch wohl ergeht, kann man sagen, daß der Staat sich wohl befinde; und damit dies möglich werde, darf der Einzelne in freier Anwendung und Ausbildung seiner Anlagen und Kräfte nur so wenig als möglich, d.i. nicht mehr eingeschränkt werden, als es der letzte Zweck des Staats, mit Rücksicht auf die äußern von unsrer Willkür unabhängigen Umstände, unumgänglich möglich macht." 4 0 Die Definition des Staatszwecks bildet zugleich seine Begrenzung, und zwar in zwiefacher Hinsicht: i n der Zuweisung des Zwecks an den Staat wie i n der Ausübung des Zwecks durch den Staat. 40 Wieland (FN 20), S. 131 f. - Eine weitere Gegenüberstellung universalistischer und individualistischer Staatsauffassung gibt Friedrich Schillers Essai „Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon" (1789), in ders., Sämtliche Werke, 1825, 16. Bd., S. 94 ff. Die individualistische Staatszwecklehre entspricht den Entwürfen Immanuel Kants und Wilhelm von Humboldts (dazu mit Nachw. Isensee [FN 1], S. 48 ff.).

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Das erste Legitimationsmuster liefert Thomas Hobbes, der den Staat rechtfertigt als Nützlichkeitsveranstaltung zu dem Zweck, einen Gesamtzustand der Sicherheit zu gewährleisten, den die Menschen als einzelne nicht hervorzubringen imstande sind. John Locke verfeinert die Legitimation dadurch, daß er Einsatz, Auswahl und Umfang der Machtmittel, die der Verwirklichung des Staatszweckes zur Verfügung stehen, an das Übermaßverbot knüpft. Der Staat darf Freiheit und Eigentum nicht weiter einschränken, als es zu deren Sicherstellung geboten ist. Die individualistische Lehre von den Staatsaufgaben bleibt nicht bei dem Staatszweck Sicherheit stehen. Adam Smith weist dem Staat drei Aufgaben zu: - das Land gegen Gewalttätigkeit und Angriffe anderer Staaten zu schützen, - jeden Bürger soweit wie möglich vor Ungerechtigkeit oder Unterdrükkung durch andere Bürger zu bewahren oder ein zuverlässiges Justizwesen einzurichten und - „bestimmte öffentliche Anstalten und Einrichtungen zu gründen und zu unterhalten, die ein Einzelner oder eine kleine Gruppe aus eigenem Interesse nicht betreiben kann, weil der Gewinn ihre Kosten niemals decken könnte." Neben die beiden genannten Aufgaben der äußeren und der inneren Sicherheit t r i t t also eine offene dritte, die generalklauselhaft nach dem Subsidiaritätsprinzip definiert wird. Unter dieser Aufgabe versteht Smith Einrichtungen, die den Handel erleichtern und die Erziehung der Jugend sowie die Ausbildung der gesamten Bevölkerung fördern. 4 1 Gleichwohl hat der Staat das Eigenleben der Wirtschaft und der Kultur zu respektieren. Der Eingriff des Staates, so Benjamin Constant, w i r k t „fast immer" als Störung und Behinderung. „Jedesmal wenn sich die gemeinschaftliche Macht um die privaten Unternehmungen kümmern will, bedrückt sie die Unternehmer. Jedesmal wenn die Regierungen unsere Angelegenheiten zu besorgen vorgeben, besorgen sie sie viel schlechter als wir." Der Staat hat keinen eigenen Erziehungsauftrag. Vielmehr hat er nur die äußeren Voraussetzungen des Bildungswesens bereitzustellen. „Wir brauchen die Regierung nur, um von ihr die allgemeinen Unterrichtsmittel entgegenzunehmen, ... gleich wie die Reisenden die durch sie erstellten Landstraßen benutzen, ohne sich von ihr den Weg vorschreiben zu lassen, den sie wählen." 4 2

41 Adam Smith, A n inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, ( 5 1789), IV, 9, V, 1; dt. Ausgabe hg. von Horst Claus Recktenwald, 1978, S. 582, 612.

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Die Wirksamkeit des modernen Staates weitet sich über den Sicherheitszweck hinaus zu virtueller Allzuständigkeit. Deren Gegenprinzip ist die Freiheit des Individuums und die der Gesellschaft überhaupt. Die Freiheit wird als unbegrenzt und ursprunghaft gedacht. Sie konstituiert die primäre Handlungsebene. Die Staatsgewalt ist dazu bestimmt, die rechtlichen und realen Voraussetzungen der Freiheitsausübung zu gewährleisten. Staatliche Einschränkungen der Freiheit bedürfen der Rechtfertigung durch den Nachweis, daß Belange des Gemeinwohls nicht hinlänglich durch gesellschaftliche Selbstregulierung gesichert werden und daher die ordnende oder die leistende Macht des Staates gefordert ist. In den Worten Georg Jellineks: „Nur soweit die freie individuelle oder genossenschaftliche Tat unvermögend ist, den vorgesetzten Zweck zu erreichen, kann und muß ihn der Staat übernehmen; soweit reine Individualinteressen vorliegen, bleibt ihre Erringung auch dem Individuum überlassen." 43 In liberaler Version lautet das Subsidiaritätsprinzip: „So viel private und gesellschaftliche Autonomie wie möglich, so wenig staatliche Heteronomie wie nötig." Die negative, abgrenzende Funktion dominiert. Der Freiheitsbegriff zeigt nun vornehmlich seine negative, emanzipatorische Seite: als Abwesenheit von staatlicher Regulierung, indes die positive, gemeinwohlbezogene Kehrseite zumeist verdeckt bleibt. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie verschwände.

IV. Formale Bedingungen der Anwendbarkeit 1. Stufenbau der Gesellschaft - status quo oder Neubegründung?

I n seiner abstrakten Fassung verweist das Subsidiaritätsprinzip auf das formale Sozialmodell eines Stufenbaus, das Bild eines vertikal i n mehrere Handlungsebenen gegliederten Gemeinwesens: „hierarchicus inter diversas consociationes ordo". 4 4 Er setzt also mehrere Ebenen voraus. In einer zentralistischen, undifferenzierten Organisation wäre 42 Benjamin Constant, Von der Freiheit des Altertums, verglichen mit der Freiheit der Gegenwart (1820), dt. Ausgabe in: ders., Über die Freiheit, 1946, S. 27 (37, 51). 43 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3 1914, S. 259. - Die Begründung staatlicher Subsidiarität auf der Grundlage der virtuellen Allzuständigkeit hatte vor Jellinek bereits Robert von Mohl konzipiert. Zur liberalen Genese des Subsidiaritätsprinzips mit Nachw. Isensee (FN 1), S. 44 ff., 137 ff.; Detlef Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, in: ders. (FN 3), S. 77 (90 f.); Georgios Kassimatis, Peri tis archis epikurikotitos t u kratus, Athen 1974. - Zur Rechtfertigung des Staates aus seinem Zweck Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, in: Petra Kolmer/Harald Korten (Hg.), Recht - Staat - Gesellschaft, 1999, S. 21 (37 ff.), s. auch oben III, 1. 44 Quadragesimo anno, n. 80.

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das Prinzip unanwendbar. Der Begriff der Hierarchie ist nicht in seiner ursprünglichen, theologischen Bedeutung zu verstehen, sondern in einem analogen, formal-organisatorischen Sinn: als Überordnung, die auf einem rechtlichen Vorranganspruch oder auch nur auf überlegener realer Macht beruht. Der Stufenbau ist die Bedingung der Anwendbarkeit des Prinzips. Es knüpft also an den status quo der Handlungsebenen an. Was aber, wenn es an diesen fehlt oder wenn die vorhandenen Einrichtungen den Erfordernissen des Gemeinwohls nicht gewachsen sind? Das ist keine bloß akademische Frage. Nach dem Zusammenbruch der totalitären Systeme fehlten die einer freiheitlichen Gesellschaft gemäßen Institutionen zur Selbstregulierung. Unter dem Druck der Globalisierung zeigen sich die nationalen, sogar die kontinentalen Verbände zunehmend als unzulänglich, um vor den Herausforderungen der Wirtschaft, der Technik, der Kommunikation, der Umweltsicherung zu bestehen, so daß weltweite Lösungen notwendig werden. Die Organisation folgt der Aufgabe, nicht umgekehrt. M i t h i n begnügt sich das Subsidiaritätsprinzip nicht damit, die Tätigkeit der bestehenden Handlungseinheiten zu regulieren. Vielmehr prüft es die Handlungseinheiten darauf, ob sie den Aufgaben und der personalen ratio essendi jedweder Organisation gerecht werden. Je nach Ausgang der Prüfung legitimiert oder kritisiert es den status quo. In letzterem Fall weist es die Richtung zu Änderung und Neuaufbau. So erweisen sich denn aus der Sicht der Subsidiarität die Kompetenzordnung wie auch die Kompetenzträger als variabel. Seiner unmittelbaren Bedeutung nach bezieht sich das Subsidiaritätsprinzip auf die Kompetenzordnung, mittelbar jedoch auch auf die Kompetenzträger selbst. Deren ratio essendi liegt in der Erfüllung bestimmter Aufgaben. Also entscheiden die Zuteilung und die Inanspruchnahme der Aufgaben auch über die Rechtfertigung der Existenz der jeweiligen Handlungsebenen. So legitimiert sich der Staat gegenüber der Gesellschaft dadurch, daß er, und nur er, fähig ist, bestimmte, für das gedeihliche Leben aller notwendige Bedingungen zu gewährleisten. Auf der anderen Seite vermag das Subsidiaritätsprinzip auch das Lebensrecht der kleineren Handlungseinheiten als Medien der Freiheit zu begründen: das der Gliedstaaten gegenüber den Nationalstaaten, das der regionalen, kommunalen, beruflichen Selbstverwaltung gegenüber staatlicher Administration. Die Subsidiarität bildet einen legitimatorischen Baustein für den Aufbau und den Ausbau des supranationalen Zweckverbandes der Europäischen Gemeinschaft, die den gemeinsamen Markt herstellt als Raum wirtschaftlicher Freiheit und Gleichheit, wie ihn die Staaten als einzelne nicht bieten können. Auch spekulative Entwürfe einer föderalen Weltrepublik bedienen sich des Arguments der Subsidiarität. 4 5

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2. Rechtfertigungszwang der höheren Einheit

Die über- und untergeordneten Handlungsebenen können einander ersetzen oder zumindest ergänzen. Sie sind auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet und durch virtuell gleiche Aufgaben verbunden. Indes liegt die aktuelle Zuständigkeit nicht ein für allemal fest. Je „nach Umständen und Erfordernis" 4 6 kann sie sich von oben nach unten verlagern, aber auch von unten nach oben. Im Prinzip jedoch kommt der unteren Ebene der Vorrang i m Handeln zu, wenn und soweit sie i n ihrer Leistungsfähigkeit der Aufgabe gewachsen ist und sie diese auch tatsächlich angemessen erfüllt. Die höhere Ebene kann sie an sich ziehen, wenn und soweit sie dieser besser und wirksamer Genüge tun kann. Darin liegt ein Modus der Legitimation. Die höhere steht unter Rechtfertigungszwang, wenn sie auf Kosten der unteren das Tätigkeitsfeld ausweiten will. Gelingt ihr die Legitimation nicht, so bleibt der Wirkungskreis der unteren Ebene unangetastet. I n dieser Hinsicht w i r k t das Subsidiaritätsprinzip als Funktionssperre zugunsten der niederrangigen Handlungseinheiten. Die Sperre aber greift nicht absolut. Sie ist überwindbar, wenn die höhere Ebene nachweist, daß die untere überfordert w i r d und den Erwartungen des Gemeinwohls nicht gewachsen ist. Der Rechtfertigungszwang lebt nicht nur dann auf, wenn die bestehende Kompetenzordnung verändert werden soll. Vielmehr gilt er permanent. Die jeweilige Verteilung der öffentlichen Aufgaben muß sich jederzeit darauf prüfen lassen, ob sie subsidiaritätsgerecht ist. Das Prinzip führt dem status quo Legitimation zu, falls Aufgab enverteilung und Leistungsfähigkeit des Aufgabenträgers einander entsprechen, und es entzieht Legitimation, falls die Balance gestört ist. So bildet es, je „nach Umständen und Erfordernis", den Grund zu einer dezentralen oder einer zentralen Lösung, zu Privatisierung oder Vergesellschaftung. Das Subsidiaritätsprinzip läßt also Kompetenzbewegungen in beiden Richtungen zu. Doch verhält es sich dabei nicht indifferent. Im Zweifel, also immer wenn die Rechtfertigungsfrage nicht klar zu beantworten ist, kommt die Kompetenz der unteren Ebene zu. Diese hat den Vorrang i m Handeln, den ersten Zugriff. Das Gemeinwesen konstituiert sich von unten nach oben. Der Vorrang im Handeln korreliert dem Nachrang im Stufenbau. 3. Verteilung und Ausübung der Kompetenzen

Das Subsidiaritätsprinzip hat eine zwiefache Funktion: primär verteilt es die Kompetenzen auf die Handlungsebenen, sekundär regelt es deren 45 Vgl. Höffe (FN 39), S. 229 ff., 318. 46 „Prout casus fert et nécessitas postulat": Quadragesimo anno, η. 80.

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Ausübung. Dort liegt es der Kompetenzordnung voraus, hier bildet es deren Bestandteil. In seiner ersten Bedeutung richtet es sich an den Verfassungs- und Gesetzgeber, der die Kompetenzen zuteilt, und wird so politisch bedeutsam für die Rechtsetzung. Rechtliche Relevanz vermittelt die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 GG, kraft deren das Subsidiaritätsprinzip eine der verfassungsrechtlichen Vorgaben für weitere Integrationsschritte Deutschlands bildet. Es ergibt so einen verfassungsrechtlichen Prüfstein für die Übertragung nationaler Hoheitsbefugnisse auf die Europäische Union. 4 7 Neben seiner handlungsrelevanten hat das Subsidiaritätsprinzip auch legitimatorische Bedeutung: es vermag, die bestehende Kompetenzordnung als sachgerecht auszuweisen oder als sachwidrig zu delegitimieren. In seiner zweiten Funktion als Kompetenzausübungsmaßstab setzt es eine gegebene Kompetenzordnung voraus. Anwendbar ist es auf solche Zuständigkeiten, die wenigstens virtuell mehreren Ebenen zustehen, indes offen ist, welche von diesen es unter den gegebenen Umständen aktuell wahrnimmt, wie es für die konkurrierenden Kompetenzen im Bundesstaat der Fall ist. Für diese offene Entscheidung bietet sich das Subsidiaritätsprinzip als Regulativ an. Insoweit ist es auf praktische Anwendung angelegt und kann so rechtliche Geltung erlangen. Dagegen bezieht es sich nicht auf Tätigkeitsbereiche und Handlungsformen, die allein der höheren oder der niederen Stufe vorbehalten sind, bei denen die eine nicht für die andere einzutreten vermag. Die Ausübungsdirektive setzt gemeinsame Zuständigkeiten einer höheren und niederen Ebene voraus. Muster einer solchen sind die konkurrierenden Zuständigkeiten des deutschen Bundesstaatsrechts. Unanwendbar ist es auf ausschließliche Zuständigkeiten. 4. Gemeinsamer Zielhorizont

Die Ebenen müssen auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sein, von dem aus sich beurteilen läßt, welche von ihnen geeignet ist, eine Aufgabe zu erfüllen, welche eher und welche minder leistungsfähig ist. Im einzelnen können sie verschiedenen Zwecken dienen und unterschiedliche Interessen verfolgen. Doch bedarf es des gemeinsamen Zielhorizontes, innerhalb dessen sie sich bewegen, eines ebenen-übergreifenden Gemeinwohls, auf das ein System vertikaler Arbeitsteilung ausgerichtet wird. 47 In diesem Sinne Rupert Scholz, Grundgesetz und die Europäische Einigung, in: NJW 1992, S. 2593 (2599); Merten (FN 43), S. 84 ff.; Ondolf Rojahn, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, ^1995, Art. 23 Rn. 23.

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Diese Gemeinsamkeit im Ziel w i r d von der katholischen Soziallehre thematisiert i n dem Prinzip der Solidarität, das mit dem der Subsidiarität korreliert als Kehrseite derselben Medaille. 4 8 5. Anpassungsfähigkeit

Die formalen Strukturen gewinnen Inhalt durch den jeweiligen Kontext. Das Subsidiaritätsprinzip erweist sich als flexibel. Es vermag sich unterschiedlichen rechtlichen und realen Gegebenheiten anzupassen. 49 Es macht einen Unterschied, ob es auf supranationale oder auf innerstaatliche Verbände bezogen w i r d oder auf die Hierarchie der katholischen Kirche. Notabene: die Räterepublik, wie Karl Marx sie am Beispiel der Pariser Kommune schildert, machte sich das Subsidiaritätsprinzip der Sache (wenn auch nicht dem Namen) nach zu eigen: ein staatliches System, das sich von den Kommunen her, insofern von unten nach oben, aufbaute. Legitimationsbasis sei die sich selbst regierende Gemeinde gewesen, von der her über weisungsgebundene, „d.h. streng verantwortliche" Delegierte, die regionale wie die nationale Verwaltung habe gesteuert werden sollen. Aus den örtlichen Räten hätten die der Bezirke für die gemeinsamen Angelegenheiten der Gemeinden hervorgehen sollen, aus diesen der Rat der Nation, dem „die wenigen, aber wichtigen Funktionen" zugekommen seien, „welche dann noch für die Zentralregierung übrigblieben". 5 0 Auf das Subsidiaritätsprinzip beriefen sich auch Vertreter des autoritären Korporativismus. 5 1 Weder das eine noch das andere System gründet auf dem Recht der Person und ihrem Handlungsvorrang. Allenfalls lassen sich formale Übereinstimmungen mit dem Subsidiaritätsprinzip nachweisen. Das Subsidiaritätsprinzip ist aber nicht formal, sondern Ausdruck einer materialen Teleologie. Daher gibt es Grenzen seiner Mutabilität. Zunehmend w i r d das Subsidiaritätsprinzip auch (rück)bezogen auf die katholische Kirche 5 2 . A n sich ist es entworfen für das weltliche Gemeines Dazu Gustav Gundlach, Solidaritätsprinzip, in: Staatslexikon, hg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. VII, 6 1962, Sp. 119; Rauscher (FN 6), S. 53 ff. (Nachw.); Höffner (FN 11), S. 47 f. Zur Geschichte: Jürgen Schmelter, Solidarität, Diss. München 1991, S. 83 ff. - Zum Konnex von Subsidiarität und Solidarität im Europarecht: Calliess (FN 2), S. 185 ff., 207 ff. 49 Vgl. Matthias Jestaedt, Die Relativität des Subsidiaritätsprinzips, in: Arbeitgeber 1993, S. 725 („kontextabhängiges Chamäleon"). 50 So Karl Marx, Der Bürgerkrieg i n Frankreich (1871), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, 1962, S. 313 (340). Als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips gedeutet von Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 5 1994, S. 302. si Dazu Mayer-Tasch (FN 27), S. 167 ff. (Nachw.).

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wesen. Die Anwendung auf das geistliche bedeutet ein Novum. Nun wird dem Prinzip die Funktion zugesprochen, die Kompetenzverteilung und -ausübung zu steuern i m Verhältnis der Laien zur „Amtskirche" wie innerhalb der Hierarchie, nicht zuletzt zwischen nationalkirchlichen und weltkirchlichen Strukturen. Die Hierarchie erscheint als optimales Anwendungsfeld der Subsidiarität, weil eine klare Stufenordnung vorgegeben ist wie auch der identische Zielhorizont. Der Jurisdiktionsprimat des Papstes fordert geradezu die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips heraus, weil er die Kompetenzkompetenz einschließt und der Papst auch auf unteren Ebenen der Kirche ohne Ermächtigung der partikularen Zuständigkeitsträger eingreifen und sich jederzeit unmittelbar an die Gläubigen wenden kann. Gleichwohl hat das Subsidiaritätsprinzip im Codex Iuris Canonici, auch i n seiner Neufassung von 1983, relativ wenige Spuren hinterlassen 53 . Im innerkirchlichen Diskurs fungiert es eher als naturrechtliches, ethisches oder rechtspolitisches Gebot denn als positivrechtliche Norm des Kirchenrechts. Die Anwendbarkeit stößt auf eine Schwierigkeit, die sich im säkularen Raum so nicht stellt: daß sich die Kirche als Einheit des Glaubens und der Sitte versteht und auf vorgegebener Wahrheit gründet. I n der Frage der Wahrheit aber waltet in der Kirche als Institution nicht Subsidiarität, sondern Hierarchie (ungeachtet der subjektiven Verbindlichkeit des Individualgewissens). Dagegen klammert das säkulare Gemeinwesen die Frage der Wahrheit aus, so daß ihm nur innerweltliche Aufgaben handlungsrelevant werden, die der Verteilung auf verschiedene Handlungsebenen zugänglich sind. Auch im kirchlichen Raum kommt die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips nur für die Agenden i n Betracht, mit denen sich die Wahrheitsfrage nicht stellt, genauer: i n denen die kirchliche Antwort bereits gegeben oder vorausgesetzt wird: i n den geistlichen und karitativen Diensten sowie in den Angelegenheiten kirchlicher Ordnung.

52 Oswald von Nell-Breuning, Subsidiarität i n der Kirche, in: Stimmen der Zeit 204 (1986), S. 147 ff.; Walter Kasper, Der Geheimnischarakter hebt den Sozialcharakter nicht auf. Zur Geltung des Subsidiaritätsprinzips in der Kirche, in: Herderkorrespondenz 41 (1987), S. 232 ff.; ders. Zum Subsidiaritätsprinzip in der Kirche, in: Internationale katholische Zeitschrift 19 (1989), S. 155 ff.; Karl Lehmann, Anmerkungen zu Sinn und Gebrauch des Subsidiaritätsprinzips, in: Caritas 91 (1990), S. 112 ff.; Franz Furger, Subsidiaritätsprinzip. Gestaltungsprinzip nur für die weltliche Gesellschaft oder auch für die Kirche?, in: Theologie der Gegenwart, 1990, S. 327-335; Pavel Mikluëcak , Einheit i n Freiheit: Subsidiarität i n der Kirche als Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzeis, 1995; Ad Leys, Ecclesiological Impacts of the Principle of Subsidiarity, Kampen (NL) 1995. 53 Vorsichtige Bilanz Paul-Stefan Freiling, Das Subsidiaritätsprinzip im kirchlichen Recht, 1995, S. 123 ff., 208 ff. (Nachw.).

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V. Subsidiaritäts-Konstellationen im geltenden Recht Im folgenden sollen die Möglichkeiten der Anwendung i m positiven Recht an exemplarischen Konstellationen überprüft werden. Das Augenmerk gilt gleichermaßen der Kontextabhängigkeit des Subsidiaritätsprinzips wie seiner Sinnidentität. 1. Europäische Gemeinschaft und Mitgliedstaaten

Das Subsidiaritätsprinzip findet i n den Gründungsverträgen der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft ausdrückliche Anerkennung und gelangt unbestreitbar zu positivrechtlicher Geltung i n der Gestalt, die es i n diesen Verträgen erhält. 5 4 Prämisse ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungen: der Wirkungskreis der Gemeinschaft w i r d auf die ihr im Gründungsvertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele begrenzt (Art. 5 Abs. 1 EGV). Soweit das Primärrecht der Gemeinschaft keine Zuständigkeit zuweist, verbleibt die Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten. Die Gemeinschaft darf auch die ihr zugewiesenen Kompetenzen, soweit es sich nicht um ausschließliche handelt, nicht vorbehaltlos ausüben. Vielmehr w i r d sie hier durch das Subsidiaritätsprinzip unter Rechtfertigungszwang gesetzt zu dem Zweck, die Integration rechtlich zu steuern, den Kompetenzbestand der Mitgliedstaaten tunlichst zu schonen und so ihre nationale Identität zu schützen. Das Subsidiaritätsprinzip w i r d für diesen Zweck in Art. 5 Abs. 2 EGV definiert: „ I n den Bereichen, die nicht i n ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, w i r d die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der i n Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können." 5 5

54 Zum Subsidiaritätsprinzip im Europarecht: Helmut hecheler, Das Subsidiaritätsprinzip, 1993, S. 12 ff., 70 ff.; Wolfgang Kahl, Möglichkeiten und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 3b EG-Vertrag, in: AöR 118 (1993), S. 414 ff.; Torsten Stein, Subsidiarität als Rechtsprinzip, in: Merten (FN 3), S. 23 ff.; ders., Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, in: W D S t R L 53 (1994), S. 26 (38 ff.); Meinhard Hilf, ebd., S. 8 (12 ff.); Brigitte Gutknecht, Das Subsidiaritätsprinzip als Grundsatz des Europarechts, in: Festschrift für Herbert Schambeck, 1994, S. 921 ff.; Günter Hirsch, Das Subsidiaritätsprinzip, in: Festschrift für Walter Odersky, 1996, S. 197 ff.; Calliess (FN 2), S. 76 ff.; Georg Lienbacher, in: Jürgen Schwarze (Hg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 5 EGV (Nachw.). 55 Art. 5 Abs. 2 EGV (Amsterdamer Zählung). Zu den speziellen Subsidiaritätsklauseln für einzelne Ermächtigungen: Calliess (FN 2), S. 127 ff. - Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union vom 7. Dezember 2000 stellt ihre Geltung für die Organe und Einrichtungen der Union unter den Vorbehalt der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 50 Abs. 1 S. 1).

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Das europarechtliche Subsidiaritätsprinzip rührt nicht an die ausschließlichen Zuständigkeiten der Gemeinschaft, wie sie etwa in der gemeinsamen Außenhandels-, Landwirtschafts- und Fischereipolitik sowie im Rahmen der Währungsunion bestehen. Es bezieht sich auf die Aufgaben, die sowohl der Gemeinschaft als auch den Mitgliedstaaten zugänglich sind. Das sind die konkurrierenden Zuständigkeiten, die entweder von der Gemeinschaft oder von den Mitgliedstaaten ausgeübt werden (etwa Befugnisse in der Beschäftigungs- oder Umweltpolitik) sowie die parallelen Kompetenzen, deren Substrat zugleich supranationalen wie nationalen Regelungen zugänglich ist, unter dem Vorbehalt, daß diese aufeinander abgestimmt sind (etwa Materien der Kartell-, der Forschungs- und der Regionalpolitik). 5 6 Die europäischen Kompetenzen sind jedoch anders zugeschnitten als die bundesstaatlichen i n Deutschland. Diese bestimmen sich nach Bereichen, jene, wenn auch nicht insgesamt, so doch i n hohem Maße, nach Zielen. 5 7 Dort ein statisches, rechtlich verfestigtes Gefüge, hier ein dynamischer Fluß, eine Kompetenzordnung im Werden. Wo nur die Ziele festgeschrieben sind, aber nicht die Wege, und wo das Terrain noch keine Grenzmarkierungen aufweist, bedeutet jeder weitere Integrationsschritt zunächst Kompetenznahme. Das kommt zur Sprache i m Vertrag über die Europäische Union, der vorsieht, daß die Ziele der Union „unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, wie es in Artikel 5 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft bestimmt ist", verwirklicht werden (Art. 2 S. 2 EUV). Die strenge Unterscheidung zwischen dem Kompetenzverteilungs- und dem Kompetenzausübungsregulativ läßt sich in der fließenden Materie des Europarechts nicht auf ganzer Linie durchführen. Die Reduktion auf die Ausübung ist nur i n den Teilbereichen möglich, wo die Kompetenzen nach Tätigkeitsfeldern definiert und den Gemeinschaftsorganen unverrückbar vorgegeben sind. Der Idee nach ist diese Bedingung im Gemeinschaftsrecht erfüllt; das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bestätigt es. Insofern ist es folgerichtig, dem Subsidiaritätsprinzip allein Relevanz für die Kompetenzausübung, nicht aber für die Kompetenzverteilung zuzuerkennen. 58 Die Kompetenzordnung ist jedoch unfertig, so daß sich der wirkliche 56 Dazu Calliess (FN 2), S. 98 ff. Kritisch zu den Kompetenzkriterien Roland Bieber, Subsidiarität im Sinne des Vertrages über die Europäische Union, in: Nörr/Oppermann (FN 3), S. 165 (173 ff.). Vgl. Markus Heintzen, Subsidiaritätsprinzip und Europäische Gemeinschaft, in: JZ 1991, S. 317 (319). 58 So Bieber (FN 56), S. 175; Hirsch (FN 54), S. 200 f., 207; Lecheler (FN 54), S. 144 und auch BVerfGE 89, 155 (211). Dagegen auch für die Geltung als Verteilungsprinzip Merten (FN 43), S. 81. Zu den rechtspolitischen Möglichkeiten als Kompetenz Verteilungsprinzip: Lecheler (FN 54), S. 96 ff.; Merten (FN 43), S. 77

(81).

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Umfang der Zuständigkeiten erst aus der Praxis ergibt. Die Gemeinschaftsorgane schneiden sich auf der Grundlage der Verträge und in deren Rahmen Kompetenzen zurecht und disponieren so über Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips. Dieses ist mehr Produkt ihres politischen Willens als dessen Vorgabe. Die vertraglichen Ermächtigungen werden nach dynamischen Maximen gehandhabt, dem Ziel des „effet utile", dem Rückgriff auf ungeschriebene Zuständigkeiten (implied powers), einem großzügigen Gebrauch von einer „Vertragsabrundungskompetenz" aus Art. 308 EGV. 5 9 Wie immer diese Praxis i n der Grauzone zwischen Rechtsanwendung und Rechtsschöpfung zu beurteilen ist, das Subsidiaritätsprinzip i m Sinne des Art. 5 Abs. 2 EGV setzt Kompetenzen voraus und begründet von sich aus keine weiteren. 6 0 Der Europäischen Gemeinschaft korrespondiert die regulative Idee eines europäischen Gemeinwohls, das, mehr als die bloße Resultante der Interessen der Mitgliedstaaten, eigenständige Bedeutung h a t . 6 1 In ihm sind die supranationalen wie die nationalen Akteure zu wechselseitiger Solidarität verbunden und einander zu gemeinschaftsfreundlichem Verhalten verpflichtet. 6 2 Das supranationale Anwendungsfeld des Subsidiaritätsprinzips ist also ähnlich ethisch fundiert wie das bundesstaatliche. Auch sonst zeigen sich analoge Züge. Gleichartig ist die Regelungstechnik. Die überstaatlichen wie die innerstaatlichen Subsidiaritätsnormen folgen einem binären Konzept. 6 3 Sie beschränken sich auf zwei Organisationsstufen: dort die supranationale und die nationale, hier Bund und Länder. Dritte Ebenen passen nicht i n die Dichotomie. 6 4 Die unteren Einheiten, obwohl i n sich dezentral organisiert, erscheinen der höheren sub specie der Subsidiarität als impermeabel. Die Vorschrift des Art. 5 Abs. 2 EGV blendet die Länder und die Regionen aus, 65 wie die des Art. 72 Abs. 2 GG die Kommunen. Beide Subsidiaritätsklauseln lassen die Individuen und die gesellschaftlichen Potenzen außen vor. Freilich heftet sich an relativierte Subsidiarität die 59 Kritisch dazu BVerfGE 89, 155 (210). 60 Zutreffend BVerfGE 89, 155 (211). 61 Dazu mit Nachw. Calliess (FN 14), Rn. 45. 62 Dazu Christian Tomuschat, Solidarität i n Europa, in: Liber Amicorum Pierre Pescatore, 1987, S. 729 (730 ff. [Nachw.]); Calliess (FN 2), S. 187 ff.; ders. (FN 14), Art. 1 EUV Rn. 44 ff. 63 Kritisch zum binären Konzept von Art. 5 Abs. 2 EGV Bieber (FN 56), S. 6183. Vgl. auch Heintzen (FN 57), S. 319 ff.; Stein (FN 54), S. 38. 64 Zur bundesstaatlichen Dichotomie als Struktur des Grundgesetzes und zum Ausschluß einer dritten Ebene zwischen Bund und Ländern, die i n sich jeweils dezentral organisiert sind: Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR IV, 2 1999, § 98 Rn. 161 ff. (Nachw.). 65 Zu den politischen Erwartungen der deutschen Länder und der europäischen Regionen an das Subsidiaritätsprinzip Heintzen (FN 57), S. 317 (320 ff.).

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Erwartung, daß die richtige kompetenzrechtliche Ordnung der höheren Verbände mittelbar auch den unteren, letztlich auch den Bürgern, zugute kommt. 6 6 Doch die institutionellen Fundamente der europarechtlichen und der verfassungsrechtlichen Subsidiarität sind verschieden. Bund und Länder sind Teile des gesamtstaatlichen Gemeinwesens, das eine identische Rechtsordnung begründet, innerhalb deren die Entscheidungs- und Rechtseinheit durch den Bund gewährleistet wird. Dagegen beruhen das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht auf verschiedenen Grundnormen. Sie bilden je eigene Rechtssysteme. Anders als i m Bundesstaat gewährleistet keine Institution, daß sich das Gemeinschaftsrecht, das den (Anwendungs-)Vorrang vor dem nationalen Recht beansprucht, diesen im Kollisionsfalle auch tatsächlich durchsetzt. 67 Die Souveränitätsfrage bleibt i n der Schwebe. Den wirklichen Machtverhältnissen gemäß sind jedoch die Mitgliedstaaten Herren der Verträge geblieben. Unter ihnen herrscht politischer Dissens über das Endziel der Integration. Den einen dient sie dazu, die hergebrachten Nationalstaaten den neuen Herausforderungen anzupassen, indem sie - dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend - die Aufgaben, denen sie für sich nicht mehr gerecht werden können, auf supranationale Einrichtungen übertragen und im Staatenverbund ausüben. Den anderen dient sie dazu, die Nationalstaaten überzuleiten in einen supranationalen Bundesstaat. Die europäische Einheit w i r d angestrebt als Erfüllung einer kontinentalen oder als Zwischenstufe einer kosmopolitischen Vision. Jede dieser Tendenzen benutzt auf ihre Weise das Argument der Subsidiarität. 2. Bund und Länder

a) Kompetenzregulativ

des Art. 72 Abs. 2 GG

Als Prototyp einer positivrechtlichen Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips gilt die Direktive der Kompetenzausübung in Art. 72 Abs. 2 GG. 6 8 Diese Direktive bezieht sich auf die Ausübung der konkurrierende Hoffnungen auf „Bürgernähe" sowie auf vorrangige Berücksichtigung von Kommunen und Regionen: Hilf (FN 54), S. 12 f.; Stein (FN 54), S. 38 ff.; Rojahn (FN 47), Art. 23 Rn. 31; Calliess (FN 14), Art. 1 EUV Rn. 27 ff. Deutung des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 5 EGV als „Grundsatz der größtmöglichen Berück67 Dazu mit Nachw. Josef Isensee, des sichtigung der Regionen" Calliess (FNVorrang 2), S. 155 ff. Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte - offener Dissens, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 1239 ff. 68 Deutung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips: Hans D. Jarass, Regelungsspielräume des Landesgesetzgebers im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und i n anderen Bereichen, in: NVwZ 1996, S. 1041 (1042); Benedikt P. Kuttenkeuler, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz, 1998, S. 67, 77 f.;

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den Gesetzgebung, jene Kompetenzen also, die den Ländern zustehen, solange und soweit der Bund von ihnen nicht Gebrauch gemacht hat. Der Bund darf sie an sich ziehen, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht" (Art. 72 Abs. 2 GG n.F.). Der grundgesetzliche Terminus „konkurrierend" ist allerdings mißverständlich, weil echte Konkurrenz zwischen den Gesetzgebern auf unterschiedlichem Niveau der Normenpyramide nicht stattfindet, vielmehr in derselben Materie nur einer tätig wird. Wenn der Bund die Materie an sich zieht, ist sie für die Länder gesperrt. Treffend wäre es, von Vorranggesetzgebung zu sprechen, wie es der Herrenchiemseer Verfassungsentwurf denn auch vorgeschlagen hatte. 6 9 Die grundgesetzlichen Kautelen gewährleisten den Ländern den Vorrang i n der Gesetzgebung, indes sie den Bund unter Rechtfertigungszwang stellen, falls er die Kompetenz für sich i n Anspruch nehmen will. Das Ausübungsregulativ w i r k t als Sperre der Bundesgesetzgebung zugunsten der Länder. Die Sperre erfaßt nicht jene Zuständigkeiten, die von Verfassungs wegen ausschließlich dem Bund zugewiesen sind (wie auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung) oder ausschließlich den Ländern (wie Schulwesen und Landespolizei). Die einzelnen Kompetenzbereiche des Bundes werden im Grundgesetz definiert, so daß (der Idee nach) parzellenscharfe Unterscheidungen für die Tätigkeitsfelder des Bundes und der Länder bereitstehen. Beide Handlungsebenen werden durch die gemeinsame Bundesverfassung begründet, zur Handlungseinheit zusammengeführt und zu bündischer Solidarität für das gesamtstaatliche Gemeinwohl verpflichtet. Die Kompetenzsperre des Art. 72 Abs. 2 GG ist unbestimmt gefaßt und daher i n ihrer rechtspraktischen Bedeutung prekär. 70 Gleichwohl enthält sie eine Grundaussage zur bundesstaatlichen Ordnung: daß die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse i m Bundesgebiet", eine Umschreibung des sozialen Verfassungszieles, nicht ausschließlich Aufgabe Thomas Oppermann, Subsidiarität i m Deutschen Grundgesetz, in: Nörr/Oppermann (FN 3), S. 215 (221); Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 406, 501, 578, passim; ders., in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2, 4 2000, Art. 72 Rn. 2, 28, 89 f. Ablehnend: Edzard Schmidt-Jortzig, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz, in: ders./Alexander Schink (Hg.), Subsidiaritätsprinzip und Kommunalordnung, 1982, S. 1 (8 ff.); Edin èarcevic, Das Bundesstaatsprinzip, 2000, S. 187 ff. Zu der ursprünglichen Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG: Isensee (FN 1), S. 227 ff. (Nachw.). 69 Art. 38 Herrenchiemseer Entwurf. 70 Dazu mit Nachw. Merten (FN 43), S. 93 ff.; Oeter (FN 68), S. 411 ff.; Christian Calliess, Die Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG vor dem Hintergrund von kooperativem und kompetitivem Föderalismus, in: DÖV 1997, S. 889 (893 ff.).

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des Bundes, sie vielmehr auch und sogar primär Aufgabe der Länder ist (soweit die Lebensverhältnisse überhaupt Gegenstand staatlicher A k t i v i täten sind und sich nicht autonom auf dem Markt entwickeln). Die Länder können spontane Leistungen erbringen, um dieses Ziel zu erreichen: durch wechselseitige Anpassung ihrer Rechts- und Leistungsstandards, durch Wettbewerb um die besseren Entwürfe des Gemeinwohls durch konzertiertes Verhalten. 71 Überdies setzt die Kompetenzdirektive voraus, daß die Rechts- und Wirtschaftseinheit im Bundesgebiet grundsätzlich vereinbar ist mit unterschiedlichem Landesrecht und nur unter besonderen Umständen die einheitliche Regelung gefordert ist. Diese muß auch nicht notwendig durch den Bund erfolgen. Die Länder können sie auch im Wege allseitig abgestimmter Gesetzgebung erreichen. Die inhaltliche Angleichung des Landesrechts bildet eine legitime Alternative zur unitarischen Regelung. 72 Letztere steht aufgrund der Kompetenzsperre des Art. 72 Abs. 2 GG unter Rechtfertigungszwang, indes das gesetzgeberische Handeln (oder Nichthandeln) der Länder als die nicht rechtfertigungsbedürftige Normalität des Kompetenzsystems gilt. Sub specie des Art. 72 Abs. 2 GG erscheinen die Länder nicht als vereinzelte Größen, sondern als eine einzige staatliche Handlungsebene, auf deren Gesamtleistung es ankommt. Die Bestimmung folgt, wie auch die des Art. 5 Abs. 2 EGV, einem binären Code: daß entweder die Länder die Gesetzgebung ausüben oder der Bund. Weitere Größen sind irrelevant, so die kommunale Selbstverwaltung, die Selbstregulierung der Gesellschaft, desgleichen die supranationale Rechtsetzung. Gegen die Deutung des Art. 72 Abs. 2 GG als Ausfluß des Subsidiaritätsprinzips stellt sich der Einwand, daß bei späterem Wegfall der Erforderlichkeit der Bundesgesetzgeber nicht von Verfassungs wegen verpflichtet sei, den Ländern die Kompetenz wieder freizugeben; er vielmehr gemäß Art. 72 Abs. 3 GG ein Ermessen habe, ob er den Ländern ein Rückholrecht einräume. 73 I n der Tat käme eine verfassungsrechtliche Verpflichtung dem Prinzip der Subsidiarität näher als die geltende Ermessensregelung. Die Frage ist jedoch, ob das Ermessen im Rahmen des Art. 72 Abs. 3 GG durch die verfassungsrechtliche Direktive der Subsidiarität gesteuert und reduziert wird, wenn die Voraussetzung der Inanspruchnahme der Kompetenz durch den Bundesgesetzgeber entfallen ist. Die Frage ist zu bejahen, weil sie dem Bestreben des historischen Verfas71 Theorie der Relevanz spontaner Ordnungen für den Bundesstaat Oeter (FN 68), S. 545 ff. 72 Zum kooperativen Föderalismus Walter Rudolf, Kooperation im Bundesstaat, in: HStR IV, 2 1999, § 105; Oeter (FN 68), S. 259 ff., 318 ff., 461 ff. (Nachw.). Relevanz für das Subsidiaritätsprinzip Isensee (FN 1), S. 232 ff.; ders. (FN 64), § 98 Rn. 175. 73 èarcevic (FN 68), S. 192 f.

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sunggesetzgebers entspricht, die Kautelen des Art. 72 GG zugunsten der Länder rechtlich wirksamer zu machen. 74 Aus einem vorpositiven Verständnis des Subsidiaritätsprinzips könnte jedoch kein Argument dagegen abgeleitet werden, daß bei Wegfall der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG das Bundesgesetz nicht ipso iure außer Kraft tritt, es vielmehr weiter gilt, bis der Bund das Gesetz aufhebt oder das Rückholrecht einführt. Die förmliche Entscheidung des Bundesgesetzgebers ist um der Rechtssicherheit willen unverzichtbar. 75 Dieser Rechtswert hat die gemeinrechtliche Regel „Cessante ratione legis cessât ipsa lex" zurückgedrängt. Die Verfassung gibt Impulse, sie zu reaktivieren. 7 6 Doch das Subsidiaritätsprinzip trägt nichts zur Lösung des Konflikts zwischen der alten Regel und der Rechtssicherheit bei, weil es, auf höherer Abstraktionsebene verortet, weder das eine noch das andere Thema erfaßt. b) Subsidiarität als Struktur und als Legitimationsfaktor des Bundesstaates Jedweder Ansatz der Verfassungsdogmatik und der Verfassungstheorie, eine bundesstaatliche Norm oder den Bundesstaat als Verfassungsprinzip in eine Beziehung zu stellen zum Subsidiaritätsprinzip, stößt auf fundamentalen Widerspruch: der Bundesstaat des Grundgesetzes folge keiner Philosophie und verwirkliche kein vorgegebenes System, seine Regelungen lebten allein aus dem Diktum des Verfassunggebers, seien technischer, nicht ethischer Natur, und das bundesstaatliche Prinzip im Sinne des Art. 20 Abs. 1 GG sei weiter nichts als die Summe der positivrechtlichen Einzelbestimmungen. 77 Doch wenn der Bundesstaat des Grundgesetzes nicht nach dem Plan einer apriorischen Theorie gebaut ist, bedarf er gerade der aposteriorischen Gründe, um sich als sinnhaft und zustimmungsfähig zu erweisen. Er ist sogar mehr auf Legitimation angewiesen als das demokratische und das rechtsstaatliche Verfassungsprinzip, weil er sich gegen eine

74 Motive: Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission in: BT-Drs. 12/ 6000, S. 33 f. - Nach der apodiktischen Auffassung von Bruno Schmidt-Bleibtreu/ Franz Klein soll jedoch Art. 72 Abs. 3 GG dem Bund „einen breiten politischen Ermessensspielraum" gewähren, der inhaltlich einer gerichtlichen Nachprüfung „nahezu" entzogen sei, wenn auch „formal" die abstrakte Normenkontrolle statthaft sei (Kommentar zum Grundgesetz, 8 1995, Art. 72 Rn. 8). 75 Zu der Debatte zwischen Ländern und Bund s. Bericht (FN 74), S. 34. 76 Dazu Wolfgang Löwer, Cessante ratione legis cessât ipsa lex, 1989. 77 So die dezidierte Position von èarcevic I (FN 68), S. 179 ff., 187 ff. Kritisch auch Peter Lerche, Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, in: W D S t R L 21 (1962), S. 66 (74 ff.); Schmidt- Jortzig (FN 68), S. 8 ff.

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nichtdiskreditierte Alternative, den Einheitsstaat, zu behaupten hat. 7 8 Als mögliches Legitimationstheorem bietet sich das Subsidiaritätsprinzip an. Es w i r d daran nicht durch seine philosophischen Voraussetzungen gehindert. I n den Kontroversen über die rechtliche Relevanz des Subsidiaritätsprinzips ist es freilich die konventionelle Argumentationstaktik, das Prinzip mit metarechtlichem Ballast zu befrachten und ihm geheimnisvolle Implikationen nachzusagen, um es auf Distanz zum geltenden Recht zu halten. Doch das Subsidiaritätsprinzip erweist sich nicht minder elastisch als das Prinzip der Gewaltenteilung. Es vermag sich, wie gezeigt, von seinen Voraussetzungen zu lösen und sich den Gegebenheiten des Anwendungsbereichs anzupassen. Als Prinzip steht seine rechtliche Bedeutsamkeit nicht unter dem Gesetz des Alles-oder-Nichts. Es verträgt Modifikationen und Durchbrechungen. Es findet ein hinlängliches Maß an Übereinstimmung. Diese ist nicht nur in der speziellen D i rektive zur Ausübung der Kompetenzen (Art. 72 Abs. 2 GG) erkennbar, sondern vor allem in der Verteilung der Kompetenzen, darüber hinaus in der Gewähr eines eigenen Handlungsraums der Länder, in dem der Bund nur aufgrund ausdrücklicher grundgesetzlicher Ermächtigung eindringen kann. Daher läßt sich der Bundesstaat als Erscheinungsform der Subsidiarität deuten und rechtfertigen. 79 Freilich w i r d dadurch nicht das Spezifische der Bundesstaatlichkeit und auch nicht die Gesamtheit ihrer Facetten erklärt. Gleichwohl treten im Lichte der Subsidiarität wesentliche Züge hervor: die kompetenzteilige Erfüllung des (gesamtstaatlichen) Gemeinwohls durch Bund und Länder und die Verteilung der Kompetenzen nach dem Kriterium, ob die Aufgaben eine Erledigung auf regionaler Ebene vertragen oder einer auf zentraler Ebene bedürfen. 80 Der bundesstaatliche Verfassungsbegriff öffnet sich dem Deutungsmuster der Subsidiarität besonders weit, wenn man ihn nicht lediglich als Summe der einschlägigen Vorschriften des Grundgesetzes (summativer Begriff) versteht, dessen Bedeutung im Kontext des Art. 79 Abs. 3 GG sich darin erschöpft, die „Gliederung des Bundes in Länder" und die „Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung" sicherzustellen, sondern ihn als einen Staatstypus begreift, i n dem sich geschriebene wie unge78 Näher Josef Isensee, Föderalismus und Verfassungsstaat der Gegenwart, in: AöR 115 (1990), S. 248 ff. 79 Vgl. Isensee (FN 1), S. 224 ff.; ders. (FN 64), § 98 Rn. 242, 301; Oeter (FN 68), S. 542 ff., 565 ff.; Kuttenkeuler (FN 68), S. 49 ff., 225 ff., 229 ff. Zum Schweizer und zum österreichischen Recht: Hans Stadler, Subsidiaritätsprinzip und Föderalismus, 1951, S. 93 ff., 138 ff.; Edwin Loebenstein, Der Föderalismus - ein Instrument im Dienste der Demokratie, in: Gedächtnisschrift für René Marcie, Bd. II, 1974, S. 827 (828). Allgemein Ernst Deuerlein, Föderalismus, 1972, S. 660 ff. 80 Das Kriterium ist bereits erkennbar i n der klassischen Studie von Georg Waitz, Das Wesen des Bundesstaates, in: Wissenschaft und Literatur, 1853, S. 494 (510, 512 ff.).

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schriebene Strukturen zu einem Gesamtbild verbinden (integraler Begriff). 8 1 Im integralen Verständnis kommt dem Subsidiaritätsprinzip Bedeutung zu als einem Regulativ der Kompetenzverteilung für den verfassungsändernden Gesetzgeber. 82 I m Kontext des Art. 79 Abs. 3 GG schützt das Subsidiaritätsprinzip den Bund wie die Länder vor dem Verlust von Kompetenzen, die für ihre Wirksamkeit unerläßlich sind; vor allem w i r k t es sich zugunsten der Länder aus, die ihrer verfassungsrechtlichen Position nach in erster Linie des Schutzes bedürfen, umhegt ihren Handlungsraum, vor allem auf dem primär ihnen zukommenden Felde der Kultur, und gewährleistet ihr „Hausgut" an Kompetenzen, auf die sie angewiesen sind, um sich in ihrer Eigenstaatlichkeit zu behaupten. 8 3 3. Staat und Kommunen

In eigentümlicher Weise verkörpert sich Subsidiarität in der institutionellen Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, die das Grundgesetz enthält. 8 4 Den Gemeinden w i r d das Recht gewährleistet, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln" (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG). Ihnen kommt die A l l zuständigkeit für alle ortsgebundenen und ortsbegrenzten Verwaltungsaufgaben zu. Ihnen ist nicht nur der Wirkungskreis von Verfassungs wegen gesichert, sondern auch die Eigenverantwortung in der Wahl und Wahrnehmung der Aufgaben, die innerhalb des Wirkungskreises liegen. Doch w i r d die Gewähr relativiert durch den „Rahmen der Gesetze", der sowohl die Zuordnung der Kompetenzen als auch die Unabhängigkeit ihrer Ausübung betrifft. Die gemeindlichen Kompetenzen lassen sich nicht reinlich aufteilen i n ausschließliche und konkurrierende, auch nicht im einzelnen aufzählen, definieren und rechtlich fixieren, weil sie von der Entwicklung der Realität abhängen; so manche Angelegenheit, die gestern noch örtlicher Natur war, kann heute nur noch auf überörtlicher Ebene bewältigt werden. Staatliche und kommunale Regelungen lassen sich nicht scharf voneinander scheiden. Das staatliche Recht prägt 81 Zur Kontroverse mit Nachw. Josef Isensee, Der Bundesstaat, Bestand und Entwicklung, in: Festschrift für das Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 719 (730 ff.). 82 In diesem Sinne Oeter (FN 68), S. 565 ff. (568 f.). A. A. Sarcevic (FN 68), S. 193 f. 83 Dagegen mit Nachw. Markus Heintzen, Die Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im Bundesstaat, in: DVB1. 1997, S. 689 (692); Isensee (FN 81), S. 746 f., 748 f. 84 Näher mit Nachw. Isensee (FN 1), S. 224 ff.; Winfried Kluth, République Fédérale D'Allemagne, in: Centre D'Études Constitutionnelles et Administratives (Hg.), Droit administratif et Subsidiarité, Bruxelles 2000, S. 247 (258). Abweichende Sicht Schmidt-Jortzig (FN 68), S. 18 ff.).

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auch die kommunalen Agenden und determiniert die Selbstverwaltung. Wichtige ihrer Befugnisse, wie Satzungs- und Planungshoheit, bedürfen der gesetzlichen Grundlage und der gesetzlichen Ausgestaltung. 85 Hinter der institutionellen Garantie zeichnet sich das Leitbild der Subsidiarität ab: daß die Gebietskörperschaft Gemeinde die Angelegenheiten, die in ihrer örtlichen Gemeinschaft wurzeln und auf sie einen spezifischen Bezug haben, 86 selbst und eigenverantwortlich verwaltet, soweit sie ihnen mit ihren administrativen Mitteln gewachsen ist und sie dem Erfordernis des staatlich definierten Gemeinwohls zu genügen vermag. Anders gewendet: öffentliche Aufgaben werden vorrangig durch rechtlich verselbständigte, eigenverantwortliche Träger wahrgenommen, die besondere Orts-, Personen- und Sachnähe ermöglichen sollen, indes der Staat letztverantwortlich die Belange des Gemeinwohls zu gewährleisten hat und deshalb unter bestimmten Kautelen die Wahrnehmung der Aufgaben regulieren und sie als ultima ratio in eigene Regie übernehmen kann. Das Subsidiaritätsprinzip sichert den Vorrang der kommunalen Autonomie vor staatlicher Heteronomie. Es steuert die Verteilung der Kompetenzen zwischen Gemeinde und Staat, und es steuert deren Ausübung. Auf diese Weise trägt es dazu bei, den wandelbaren Gegenstand der kommunalen Selbstverwaltung, den Schutzbereich der Verfassungsgarantie, zu bestimmen. Darüber hinaus w i r k t es dadurch auf seinen Schutz hin, daß es staatliche Ingerenzen unter Rechtfertigungszwang stellt. Dieser ist danach abgestuft, ob eine Angelegenheit zum Kern oder zum Rand des Schutzbereichs gehört. 87 Die Ingerenzen unterliegen der Prüfung am Üb ermaß verbot. 8 8 Die institutionelle Garantie umschließt das Subsidiaritätsprinzip auch in seiner positiven Funktion, indem sie der Gemeinde angemessene Ausstattung mit finanziellen und sonstigen Verwaltungsmitteln verbürgt, die sie befähigt, ihre Aufgaben zu erfüllen. 8 9 Die Garantie richtet sich an den Staat, damit gleichermaßen an Land und Bund (nicht jedoch an die Europäische Union, die nicht an die deutsche Verfassung gebunden ist). Sie wehrt auch dem Entzug von Aufgaben zugunsten der Kreise. 90 Dagegen bietet sie nicht Schutz „nach 85 Zur Planungshoheit Janbernd Oebbecke, Die verfassungsrechtlich gewährleistete Planungshoheit der Gemeinden, in: Festschrift für Werner Hoppe, 2000, S. 239 (243 f.). 86 Vgl. BVerfGE 8, 122 (134); 50, 195 (201); 52, 95 (120); 79, 127 (151 ff.). 87 Vgl. BVerfGE 91, 228 (238 ff.). Nachw von skeptischen Stimmen Oebbecke (FN 85), S. 241. 88 Zur problematischen Anwendbarkeit Oebbecke (FN 85), S. 250 f. 89 Dieser Aspekt kommt teilweise zum Ausdruck i n der seit 1994 geltenden Vorschrift des Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG, daß die Gewährleistung der Selbstverwaltung auch die Grundlagen der finanziellen EigenVerantwortung umfaßt.

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unten": gegenüber den Grundrechtsträgern, etwa privaten Unternehmen, die zu kommunalen Einrichtungen i n Wettbewerb treten. 9 1 Die Garantie des Art. 28 Abs. 2 GG bezieht sich auf die Institution der Gemeinde innerhalb der Staatsorganisation im ganzen. Sie bildet deren integralen Bestandteil als Erscheinung mittelbarer Staatsgewalt. Wie die Träger unmittelbarer Staatsgewalt ist sie angewiesen auf demokratische Legitimation. 9 2 Wie diese ist sie rechtsstaatlich gebunden: grundrechtspflichtig, nicht grundrechtsberechtigt. Der Wirkungskreis der Gemeinde beschränkt sich auf jene Aufgaben, die im Rahmen der Verfassung dem Staat überhaupt zugänglich sind. 9 3 Die Aufgaben von Staat und Gemeinden sowie die Art ihrer Wahrnehmung sind also homogen. 4. Staat und Gesellschaft

Diese Homogenität besteht nicht im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. 94 Hier waltet Polarität zwischen demokratischer Herrschaft und grundrechtlicher Freiheit, zwischen Verfaßtheit und Selbstbestimmung, zwischen gemachter Ordnung und spontaner Ordnung, zwischen Neutralität und Pluralismus, zwischen ausschließlicher Bindung an das Gemeinwohl und legitimem Eigennutz. 9 5 Den staatlichen Organisationseinheiten sind die Aufgaben rechtlich vorgegeben, nach Kompetenzen aufgeteilt und abgesteckt. Die Grundrechtsträger dagegen suchen sich ihre Aufgaben selbst und entscheiden frei über ihr Tun und Lassen. Wenn sie sich im gesellschaftlichen Leben engagieren, müssen sie sich im Wettbewerb mit anderen Grundrechtsträgern behaupten. Die Grundrechte sind denn auch nicht als Kompetenzordnung formuliert, sondern als subjektive Rechte. So scheinen sie keinen Ansatz für die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips zu bieten, das auf objektive Handlungsbereiche abstellt. Die ihm entsprechende Verfassungskonstruktion enthielte einen Katalog von Staatsaufgaben, solchen ausschließlicher und 90 BVerfGE 79, 127 (150 ff.). Zur umstrittenen Frage, ob das Subsidiaritätsprinzip relevant ist für das Verhältnis der Kreise zu den Gemeinden Alexander S chink, Gesetzliche Kreiszuständigkeiten und Subsidiaritätsprinzip, in: SchmidtJortzig/Schink (FN 68), S. 25 ff. 91 Vgl. Isensee (FN 1), S. 248 ff.; Markus Heintzen, Rechtliche Grenzen und Vorgaben für eine wirtschaftliche Betätigung von Kommunen im Bereich der gewerblichen Gebäudereinigung, 1999, S. 37 ff. (Nachw.). Α. A. Janbernd Oebbecke, Der Schutz der kommunalen Aufgabenwahrnehmung durch die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 I I GG, in: Hans-Günter Henneke (Hg.), Kommunale Aufgabenerfüllung in Anstaltsform, 2000, S. 11 ff. 92 Vgl. BVerfGE 83, 37 (53 ff.). 93 Zutreffend Heintzen (FN 91), S. 39 ff. 94 Zum Theorem von Staat und Gesellschaft Rupp (FN 38), § 28 Rn. 29 ff., 44 ff. 95 Aus Unterschieden solcher Art folgert Nörr, daß das Subsidiaritätsprinzip hier unanwendbar sei (FN 8, S. 241 ff.).

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konkurrierender Art; für letztere böte sich das Subsidiaritätsprinzip als Regulativ der Ausübung an. Doch das Grundgesetz geht den umgekehrten Weg: es gewährleistet die Grundrechte der gesellschaftlichen Akteure und beschränkt dadurch die Möglichkeiten staatlichen Handelns. Dennoch sind Staatsaufgaben und Grundrechte nicht inkompatibel. Den Grundrechten stehen geschriebene oder ungeschriebene Normen über Staatsauf gaben gegenüber, 96 darunter die grundrechtlichen Schutzpflichten und die Pflicht des Staates, für die rechtlichen und die sozialen Bedingungen der Grundrechtsausübung zu sorgen. Die Grundrechte haben ihre objektivrechtliche Dimension. I n dieser erweisen sie sich als Gewähr von Freiheit für das kulturelle, das wirtschaftliche, das politische Leben der Gesellschaft. Sie bieten ihm flächendeckend die verfassungsrechtliche Grundlage. Ihr Schutz kommt nicht nur den natürlichen Personen zugute, sondern auch den juristischen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind, also auch Unternehmen, Koalitionen, Parteien, Medien, Kirchen, gesellschaftlichen Potenzen aller Art. Durch Organisation vermittelt und erweitert, konstituieren die Grundrechte die Gesellschaft als Raum öffentlichen Wirkens. Die Grundrechte bauen Hindernisse auf für staatliche Eingriffe i n die Schutzbereiche der Freiheit. Ein Eingriff liegt nicht nur vor, wenn der Staat sein obrigkeitliches Befehls- und Zwangsinstrumentarium gebraucht, sondern auch, wenn er sich schlichter Formen der Ingerenz bedient, er etwa mit eigenen Leistungsangeboten auf den Feldern der Daseinsvorsorge oder der Wohlfahrtspflege oder durch erwerbswirtschaftliche Aktivität i n den Wettbewerb zu Grundrechtsträgern t r i t t . 9 7 Der grundrechtliche Rechtfertigungszwang konvergiert mit dem Subsidiaritätsprinzip. Er sichert den Vorrang des privaten vor dem staatlichen Handeln. Freilich fallen die Anforderungen der Grundrechte durchwegs konkreter und differenzierter aus als das allgemeine Prinzip. Das Subsidiaritätsprinzip gewinnt jedoch eigenständige Bedeutung darin, der

96 Zur Lehre von den Staatsaufgaben unter der Ägide der Grundrechtsverfassung: Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR III, 1996, § 57 Rn. 132 ff., 156 ff., 170; Georg Ress/Christoph Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, in: W D S t R L 48 (1990), S. 7 ff., 56 ff. 97 Exemplarisch die Deutung des Koalitionsgrundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG i m Sinne des Subsidiaritätsprinzips als Schutz der Gewerkschaften vor der Konkurrenz öffentlichrechtlicher Arbeitnehmerkammern: BVerfGE 38, 281 (303). A l l gemein für eine solche Deutung der Abwehrgrundrechte im Sinne des „Eingriffs durch Konkurrenz": Isensee (FN 1), S. 286 ff.; Heintzen (FN 91), S. 23 ff.; Peter Selmer, Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand und Unternehmergrundrechte, in: Rolf Stober/Hanspeter Vogel (Hg.), Wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand, 2000, S. 75 (82 ff., 96 ff.). A. A. Oebbecke (FN 91), S. 23 f. - A l l gemein zur Ausweitung und Verfeinerung des Grundrechtseingriffs Herbert Bethge, Der Grundrechtseingriff, in: W D S t R L 57 (1998), S. 7 ff. (Nachw.).

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Wirksamkeit des Staates Grenzen zu setzen, wo dieser nicht durch Befehl und Zwang in Grundrechte eingreift, sondern nur durch schlichte A k t i vitäten - etwa öffentliche Appelle, Leistungsofferten, Konkurrenz Veranstaltungen - den Handlungsraum der Grundrechtsträger einschränkt und damit grundrechtliche Freiheitspotentiale, wenn nicht i n ihrem Schutzbereich, so doch von ihren realen Voraussetzungen her mindert. Wenn und soweit die öffentliche Hand ihre Agenden nicht mehr vor dem grundrechtlich fundierten Subsidiaritätsprinzip zu rechtfertigen vermag, hat sie sich aus diesen zurückzuziehen und sie den Privaten zu überlassen. 98 Ob und wie die Freiheitsrechte der elterlichen Erziehung, der Religion und Weltanschauung, der Meinungsäußerung und der Medien, des Berufs und der Tarifautonomie ausgeübt werden, ist nicht nur von privatem, sondern auch von öffentlichem Belang. Im freiheitlichen Gemeinwesen geht das Gemeinwohl aus arbeitsteiligem Wirken der Grundrechtsträger und der Staatsorgane hervor. I m Rahmen der Grundrechte hat die private Initiative den Vorrang vor der öffentlichen, die gesellschaftliche Selbstregulierung vor dem Gesetz. Die Herstellung des Gemeinwohls ist also nicht ausschließlich Sache des Staates. Im Gegenteil: die Grundrechte enthalten die Freiheit zum gemeinwohldienlichen Handeln. Darum mutiert die grundrechtliche Freiheit nicht zur Rechtspflicht. Vielmehr liegt darin nur der Grund zu einer vorrechtlichen Verfassungserwartung, daß die Träger grundrechtlicher Freiheit, Individuen wie Organisationen, die an dieser Freiheit partizipieren, grundsätzlich von sich aus den Belangen des Gemeinwohls Genüge tun; dabei kommt es nicht darauf an, daß sie - wie der Staat - für die öffentlichen Belange bewußt und planmäßig eintreten; es genügt, daß sie diese im objektiven Effekt fördern. Dabei müssen sie auch nicht vorbehaltlos ihre privaten Belange dem Gemeinwohl opfern. 99 Dem Staat obliegt jedoch die unentrinnbare Letztverantwortung für das Gemeinwohl. Er ist auf dieses Ziel ausschließlich ausgerichtet. Das Streben nach wirtschaftlichem Erwerb ist für ihn illegitim. Er ist dessen enthoben, weil er seinen Finanzbedarf einseitig-hoheitlich kraft seiner Abgabengewalt sättigen kann. Das unterscheidet ihn vom Privaten, der i n der Regel auf Erwerb angewiesen ist. Die Grundrechte legitimieren das eigennützige Handeln, aber auch die freiwillige Selbstlosigkeit. Der Verzicht auf den Eigennutz ist keine notwendige Bedingung für die Förderung des Gemeinwohls. Die Erfahrung zeigt, daß die Freisetzung des Erwerbsstre98 So bereits Günter Dürig, in: Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetz, Stand 1958, Art. 2 Abs. 1 Rn. 52. Ebenso Selmer (FN 97), S. 90. Zur heutigen Privatisierungsdebatte im Verfassungsrecht: Johannes Hengstschläger u.a., Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, in: W D S t R L 54 (1995), S. 165 ff. 99 Näher Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 2 2000, § 115 Rn. 222 ff.

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bens am Markt am Ende mehr Ertrag für das Gemeinwohl abwerfen kann als die allseitige Vergatterung zum unmittelbaren Dienst für öffentliche Zwecke und die Inpflichtnahme aller nach zentralem Plan. Die Grundrechte weisen dem (Rechts-)Staat also subsidiäre Verantwortung für das Gemeinwohl zu, soweit auch die Grundrechtsträger zum Handeln befugt sind: im Bereich der „konkurrierenden Staatsauf gaben" i m Sinne Georg Jellineks. 1 0 0 Dazu gehören Erziehung und Bildung, Versorgung mit lebenswichtigen Gütern, Volksgesundheit. Außen vor bleiben die ausschließlichen Befugnisse des Staates, vor allem jene, die sein Gewaltmonopol aktivieren. Auf der anderen Seite entziehen die Grundrechte dem staatlichen Zugriff Bereiche der Privatheit und der Religion. So waltet zwischen dem säkularen Staat und der Kirche nicht Subsidiarität in Fragen der Glaubenswahrheit, der Sakramente, der Liturgie, wohl aber i n den res mixtae wie Diakonie, Schulunterricht, Denkmalpflege. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates rechtfertigt nicht, daß er alle religiös-weltanschaulich bedeutsamen Angelegenheiten der öffentlichen Erziehung, Bildung, Information an sich zieht, um zu verhindern, daß einzelne gesellschaftliche Potenzen übermäßigen Einfluß gewinnen und sich private Monopole etablieren. Vielmehr hat er die Pflicht, durch Regelungen wie durch gezielte Förderung darauf einzuwirken, daß die Bedingungen innergesellschaftlicher Toleranz aufrechterhalten werden, daß tunlichst Pluralität der freien Leistungsangebote besteht und, wo sich private Monopole etablieren, ein Mindestmaß an Toleranz gesichert wird. Die subsidiäre Verantwortung des Staates kommt zur Geltung im sozialen Verfassungsziel, einen Mindeststandard an menschenwürdiger Existenz und sozialer Sicherheit für alle Bürger zu gewährleisten, für die er Verantwortung trägt. Die soziale Verantwortung des Staates aktualisiert sich, wenn und soweit der Markt den Mindeststandard nicht hervorbringt. Der Vorrang des Handelns kommt dem Markt zu, genauer: den Grundrechtssubjekten, die am Markt agieren. Staatliche Maßnahmen zu dem Zwecke, die Marktergebnisse sozial zu korrigieren, bedürfen, soweit sie in grundrechtliche Positionen, etwa die des Eigentums, eingreifen, der Rechtfertigung. 1 0 1 Doch auch i n den Sektoren, in denen der Markt 100 Jellinek (FN 43), S. 263 ff. ιοί Die Geltung des Subsidiaritätsprinzips nach Maßgabe der Grundrechte für den sozialen Rechtsstaat nehmen an: Kurt Ballerstedt, Wirtschaftsverfassung, in: Karl August Bettermann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner (Hg.), Die Grundrechte, Bd. III/1, 1958, S. 1 (39, 55, 57); Günter Dürig, Verfassung und Verwaltung im Wohlfahrtsstaat, in: JZ 1953, S. 193 (198); Klaus Stern, Gedanken über den wirtschaftslenkenden Staat i n verfassungsrechtlicher Sicht, in: DÖV 1961, S. 325 (328); Isensee (FN 1), S. 268 ff. (weit. Nachw.); Rupp (FN 38), § 28 Rn. 51 ff.; Kluth

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den Erfordernissen der sozialen Sicherheit nicht Genüge tut, kommt dem Staat kein Monopol für soziale Dienste z u . 1 0 2 Vielmehr steht dieses Feld auch den Privaten offen, den Individuen wie auch den Organisationen, die aus freien Stücken dem Nächsten und der Allgemeinheit Leistungen erbringen. Grundrechtliche Freiheit legitimiert den eigennützigen wie den uneigennützigen Gebrauch. Hier wie dort hat privates Handeln den Vorrang vor dem öffentlichen. Der Staat hat den privaten Einsatz für soziale wie sonstige öffentliche Aufgaben, der ihn entlastet oder ergänzt, nicht nur zu schonen, sondern anzuregen und zu fördern, um mit den ethischen Ressourcen der Freiheit seine eigenen Fundamente zu sichern. 1 0 3 5. Innergesellschaftliche Beziehungen

Der Gedanke liegt nahe, die grundrechtliche Subsidiaritätskonstellation auf innergesellschaftliche Beziehungen zu übertragen zwischen sozial Mächtigen und sozial Schwachen und dabei die Doktrin der D r i t t wirkung der Grundrechte zu Hilfe zu nehmen. Doch diese Doktrin ist unvereinbar mit dem dualen grundrechtlichen Verteilungsprinzip von gebundener Staatsgewalt und Freiheit des Privaten. 1 0 4 Die Träger der Grundrechte stehen, unabhängig von ihrer sozialen Mächtigkeit, auf gleicher horizontaler Ebene, die es nicht gestattet, zwischen über- und untergeordneten, weiteren und kleineren Trägern grundrechtlich zu unterscheiden. Eine derartige Unterscheidung ist auch nicht danach möglich, ob die Grundrechtsträger natürliche oder juristische Personen sind. I n ihrer Grundrechtsfähigkeit sind sie einander gleich. Die Grundrechte regeln nicht das Verhältnis der einzelnen Grundrechtsträger untereinan-

(FN 84), S. 249 ff. - Ablehnend: Ulrich Scheuner, Die staatliche Intervention im Bereich der Wirtschaft, in: W D S t R L 11 (1954), S. 1 (38); Wolfgang Rüfner, Formen öffentlicher Verwaltung i m Bereich der Wirtschaft, 1967, S. 212; Hans Hugo Klein, Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968, S. 161 ff.; Rupert Scholz, Das Wesen und die Entwicklung der gemeindlichen öffentlichen Einrichtungen, 1967, S. 49; Reiner Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Allgemeiner Teil, 1990, S. 520; Michael Ronellenfitsch, Wirtschaftliche Betätigung des Staates, in: HStR Bd. III, 2 1996, § 84 Rn. 33; nominell auch Selmer (FN 97), S. 77 (in der Sache jedoch anders, S. 78 ff.). - Unentschieden zum Verfassungsrang des Subsidiaritätsprinzips im Bereich der Tarif autonomie BVerfGE 58, 233 (253). Doch in der Sache bejahend BVerfGE 38, 281 (303 f.). 102 Vgl. BVerfGE 22, 180 (204). Nationalökonomische Sicht Dirk Pohmer, Umverteilung und Subsidiarität, in: Nörr/Oppermann (FN 3), S. 131 ff. 103 Dazu Josef Isensee, Gemeinwohl und Bürgersinn im Steuerstaat des Grundgesetzes, in: Festschrift für Günter Dürig, München 1990, S. 33 ff. 104 Zum Stand der Drittwirkungslehre Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: HStR V, 2 2000, § 117 Rn. 54 ff. (Nachw.). Zur Relevanz der Verfassung für das Privatrecht Isensee, Vertragsfreiheit im Griff der Grundrechte, in: Festschrift für Bernhard Großfeld, 1999, S. 485 (490 ff.), mit Nachw

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der. Vielmehr ist es diesen überlassen, ihre Beziehungen zueinander privatautonom zu ordnen, miteinander zu kooperieren oder in Wettbewerb einzutreten. Das Subsidiaritätsprinzip ist auf horizontale Rechtsbeziehungen nicht anwendbar. Der Staat w i r d jedoch gefordert, wenn die gesellschaftliche Selbstregulierung gestört ist, wenn die Fähigkeit der Zugehörigen, für sich selbst zu sorgen und sich unter den Bedingungen der Privatautonomie zu behaupten, ausfällt, wenn der Rechtsfrieden verletzt wird. Hier leben die sozialen und die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates auf.

VI. Ebenen-übergreifendes Prinzip Auf unterschiedlichen Ebenen kehrt das eine Prinzip wieder, daß der unteren Ebene, die auf eigener Legitimation gründet, der HandlungsVorrang vor der höheren zukommt; daß diese sich rechtfertigen muß, wenn sie ihren Wirkungskreis auf Kosten jener erweitern will. Das Prinzip nimmt der jeweiligen Konstellation gemäß besondere Gestalt an. Die Kompetenz- wie Grundrechtsnormen unterscheiden sich nach Inhalt und Geltungsqualität. Doch ist ihnen im Subsidiaritätsprinzip eine ratio legis gemeinsam. Diese bildet so etwas wie einen roten Faden, der sich durch verschiedene Normen und Normenkomplexe hindurchzieht.

1. Schlüsselfunktion der Klausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG

Er zieht sich sogar durch zwei Rechtsordnungen hindurch, die deutsche und die europäische, und bildet so etwas wie ein geistiges Band, das beide verknüpft. Das Gemeinschaftsrecht ist dem Recht der Mitgliedstaaten gegenüber selbständig, es hat seinen eigenen Geltungsgrund. 1 0 5 Doch das deutsche Verfassungsrecht leistet mit seiner eigenen Garantie des Grundsatzes der Subsidiarität einen Brückenschlag zu der entsprechenden Garantie des europäischen Vertragsrechts. Die verfassungsrechtliche Gewähr i n Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist multivalent: - Sie rechnet das Subsidiaritätsprinzip zu den Grundstrukturen, die es für das vereinte Europa anstrebt, und nimmt es so zum Leitbild der supranationalen Verfassung. 106 Es soll Faktor europäischer Verfas105 Vgl. EuGH Slg. 1964, 1251 (1269 ff.) - Costa/E.N.E.L.; Wolf-Dietrich Grussmann, Grundnorm und Supranationalität - Rechtsstrukturelle Sichtweisen der europäischen Integration, in: Thomas von Danwitz u.a. (Hg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 47 (58 ff.); Rudolf Streinz. Europarecht, 4 1999, S. 60 ff.; Christian Koenig/Andreas Haratsch, Europarecht, 3 2000, S. 45 ff.; Matthias Herdegen, Europarecht, 2 2000, S. 161 ff. 106 Dazu Rojahn (FN 47), Art. 23 Rn. 17 f., 30.

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sungshomogenität sein. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG erweist sich als Weiterführung der Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG. Was diese „nach unten" den Ländern gewährleistet, soll jene „nach oben" in den supranationalen Einrichtungen erreichen. - Die Klausel des Art. 23 GG bildet die Direktive für die deutsche Integrationspolitik; als solche bezieht sie sich auf die Kompetenzverteilung zwischen der nationalen und der supranationalen Ebene. 1 0 7 - Die europarechtliche Maxime der Kompetenzausübung wird vom Grundgesetz unterfangen dadurch, daß es die deutschen Vertreter in den supranationalen Gremien verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß diese ihre Zuständigkeiten dem Subsidiaritätsprinzip gemäß ausüben und sich etwaigen Verstößen mit geeigneten Mitteln widersetzen. 108 - Schließlich enthält die Struktursicherungsklausel das Selbstbild des deutschen Verfassungsstaates. Deutschland soll sich i m vereinten Europa verfassungsrechtlich wiederfinden können. Die Vorgaben für die Verfassungshomogenität Europas entsprechen den eigenen Verfassungsstrukturen, die es für wesentlich und - mutatis mutandis - für vorbildhaft hält. Die Vorgaben enthalten mittelbar also eine Selbstcharakteristik. Wenn das Grundgesetz neben den demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderalen Grundsätzen auch den der Subsidiarität anführt, erkennt es diesen als genuinen Bestandteil der deutschen Verfassungsordnung a n . 1 0 9 Die letztgenannte Funktion des Art. 23 GG hat Bedeutung für die Verfassungsauslegung. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat mittelbar eingegriffen in die alte Kontroverse darüber, ob das Subsidiaritätsprinzip dem Grundgesetz einschlußweise zugrunde liege, und bestätigt, daß dem so sei. 1 1 0 Damit t r i t t keine grundstürzende Veränderung im Verfas-

107 N a c h w . o b e n F N 4 7 .

108 BVerfGE 89, 155 (210 f., 212). 109 Zutreffend Oppermann (FN 68), S. 222. Ablehnend Volkmar Götz/Michael Hecker, I l principio di Sussidiarietà nel diritto costituzionale tedesco ..., in: A. Rinella/L. Coen IR. Scarciglia (Hg.), Sussidiarietà e ordinamenti costituzionali, Padua 1999, S. 45 (56 ff., 59 f.). no Für die durchgängige Geltung des Subsidiaritätsprinzips exemplarisch Dürig (FN 101), S. 193 (198); ders., in: Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetz, Stand 1958, Art. 1 Rn. 53 f.; Theodor Maunz, ebd., Stand 1966, Art. 28 Rn. 1; ders., Deutsches Staatsrecht, 1 1951, S. 48 (nunmehr in der Neubearbeitung durch Reinhold Zippelius, 30 1998, S. 69); Adolf Süsterhenn, Das Subsidiaritätsprinzip als Grundlage der vertikalen Gewaltenteilung, in: Festschrift für Hans Nawiasky, 1956, S. 141 (142 ff.); Oppermann (FN 68), S. 218 ff.; Merten (FN 43), S. 92 ff.; Kluth (FN 84), S. 249 ff., 269 f. Differenzierend Isensee (FN 1), S. 223 ff.; 253 ff. (weit. Nachw.). Exemplarisch für die Gegenposition: Herzog (FN 8), S. 411 ff.; ders. (FN 9), Sp. 2267 f. (in der 3. Aufl. 1987 Sp. 3564 [3566 ff.]); Peter Lerche, Verfassungsfragen um Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt, 1963, S. 26 ff.; Hans F. Zacher, Freiheit und

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sungsrecht ein. Vielmehr w i r d nur ein Leitgedanke verdeutlicht, der in verschiedenen verfassungsrechtlichen Relationen auf je eigene Weise zur Geltung gelangt. 2. Subsidiarität des Staates als ratio constitutionis

Das Subsidiaritätsprinzip findet seinen Grund in dem individualistischen Legitimationskonzept des Grundgesetzes, daß der Staat nicht um seiner selbst, sondern „um des Menschen willen" da i s t , 1 1 1 als sozialer Rechtsstaat dazu bestimmt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Freiheit zu gewährleisten, für die sozialen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens, soweit erforderlich, einzustehen und zu diesen Zwecken ein Mindestmaß an gesamtgesellschaftlicher Solidarität zu vermitteln. 1 1 2 In dieser Sicht erscheint der Staat als subsidiärer Verband, der im Dienste seiner Angehörigen die Leistungen zu erbringen hat, deren sie selbst nicht fähig sind, die sie aber ihrerseits befähigen, ein selbstbestimmtes Dasein zu führen. Die Subsidiarität bedeutet sowohl Aufgabe des Staates als auch Grenze seiner Wirksamkeit. Die Grundrechte bilden die - zumeist bewegliche - Grenze zwischen dem Aktionsfeld der Grundrechtsträger und dem der öffentlichen Gewalt. Grundrechtsträger aber sind nicht allein die Individuen, sondern grundsätzlich auch die privaten Organisationen, die ihnen als Medien der Freiheit dienen und so mehr oder weniger dicht an der personalen Legitimation der Grundrechte teilhaben. Was für die Außenbeziehungen des Staates zur Gesellschaft gilt, läßt sich nicht ohne weiteres übertragen auf die Binnenbeziehungen von Bund und Ländern, Staat und Selbstverwaltung. Hier findet sich der a priori verfaßte Stufenbau des Ämterwesens, dort die sich in grundrechtlicher Freiheit selbst verfassende pluralistische Gesellschaft. Grundrechte und Kompetenznormen sind nicht gleichartig. Dennoch verbindet sie das tertium comparationis, daß jeweils ein bestimmter TätigkeitsbeGleichheit i n der Wohlfahrtspflege, 1964, S. 80 f.; Scholz (FN 101), S. 46 ff.; Hans Peter Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2 1977, S. 190 ff.; SchmidtJortzig (FN 68), S. 8 ff.; Sarcevic ( FN 68), S. 194. m Art. 1 Abs. 1 Herrenchiemseer Entwurf. Vorwegnahme der Sentenz durch Wieland (FN 20), S. 131 f. 112 Das individualistische Legitimationskonzept ist nicht verwiesen, aber in bestimmtem Maße empfänglich für Elemente des aristotelischen Konzepts sowie für solche des aus den USA importieren Kommunitarismus und vermag, sich mit diesen zu verbinden. Eine Verwandtschaft von Subsidiaritätsdenken und Kommunitarismus stellt Höffe fest (FN 39, S. 133). Zur Kompatibilität des Kommunitarismus mit der grundgesetzlichen Ordnung Winfried Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes, in: AöR 123 (1998), S. 337 ff. Kritische Analyse des Kommunitarismus Wolfgang Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, 1997, S. 397 ff.

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reich einem Handlungssubjekt unter Ausschluß eines anderen zugewiesen ist, und daß das Eigenrecht einer unteren Einheit von der höheren zu achten ist. Die personale Begründung, die dem Subsidiaritätsprinzip aus den Grundrechten zufließt, paßt nicht oder jedenfalls nicht unvermittelt auf die Organisationseinheiten des Staates. Die „Personnähe", so sie denn beschworen werden sollte, wäre im bundesstaatlichen Kompetenzgefüge bis auf einen infinitesimalen Rest ausgedünnt. Vollends gilt das für den Topos der „Bürgernähe", die, neben dem Subsidiaritätsprinzip, von der Europäischen Union zur Entscheidungsmaxime erhoben w i r d . 1 1 3 Wenn der wegen seiner Größe, Höhe und institutionalisierten Abgehobenheit bürgerfernste aller politischen Verbände des Kontinents „möglichst bürgernahe" Entscheidungen verspricht, ist das warmschnäuziger Zynismus. Organisationsstrukturen rechtfertigen sich zuvörderst aus der Effizienz der Leistungen. Doch darum sind ihnen ethische Gründe nicht fremd. Das duplex regimen des Bundesstaates führt zur rechtlichen Definition der Staatsgewalt und zu deren verstärkter Bindung an das Recht, zu vertikaler Gewaltenteilung, letztlich zur Hebung des Schutzniveaus individueller und gesellschaftlicher Freiheit. Es verdoppelt die Integrationschancen und ermöglicht, regionale Unterschiede zu verarbeiten. 1 1 4 Wie jedwede Form der Dezentralisation vermag der Föderalismus, Einheit aus Vielfalt herzustellen, ohne die Vielfalt zu nivellieren; vielmehr läßt er Vielfalt in Einheit bestehen. Insoweit konvergiert der Föderalismus mit dem Subsidiaritätsprinzip. 3. Sinnzusammenhang und Deutungsmuster

In seiner verfassungsrechtlichen Geltung bildet die Subsidiarität keinen Rechtssatz, sondern ein Rechtsprinzip, keine lex, sondern eine ratio legis. 1 1 5 Wie das verwandte Prinzip der Gewaltenteilung macht sie einen Sinnzusammenhang hinter einzelnen Verfassungsnormen erkennbar, ohne daß sie diese entbehrlich machte, inhaltlich veränderte oder gar korrigierte. Das Prinzip der Dreiteilung der Gewalten in der Tradition Montesq u i e u beansprucht verfassungsrechtliche Geltung, obwohl das Grundgesetz nicht wenige und nicht unwichtige Exempel der Gewaltenkombi113 Art. 1 Abs. 2 EUV („möglichst offen und möglichst bürgernah") und Art. 2 Abs. 2 („unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips"). Um eine juristische Interpretation beider Maximen bemüht sich Calliess (FN 14), Art. 1 EUV Rn. 27 ff. (Nachw.). 114 Dazu mit Nachw. Isensee (FN 64), § 98 Rn. 240 ff. us Näher Isensee (FN 1), S. 313 ff.

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nation aufzuweisen hat, so daß die Anerkennung als Verfassungsprinzip notwendig die Feststellung seiner verfassungsimmanenten Durchbrechungen nach sich zieht. Eine Durchbrechung der Subsidiarität bildet etwa die Präponderanz der öffentlichen Schule gegenüber der privaten Ersatzschule; die öffentliche Grundschule beansprucht sogar ein prinzipielles Monopol, in Fortsetzung der Weimarer Verfassungstradition, daß sich auf „einer für alle gemeinsamen öffentlichen Grundschule" das mittlere und das höhere Schulwesen aufbaut. 1 1 6 Die Grundschule dient dem demokratischen, nationalen und sozialen Staat als wirksamstes Instrument der Integration. Aus diesem Grunde läßt er aus Sorge vor Segregationsgefahr private Grundschulen nur unter engen Voraussetzungen zu. Die Regel der Subsidiarität w i r d also auf den Kopf gestellt. Die Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip verschiebt nicht die bundesstaatlichen Kompetenzen. Die Aufgaben und Ausgaben, die den Ländern zustehen, haben vielfach überregionale, gesamtstaatliche Bedeutung. Sie dürfen nicht durch Interpretation auf den Umfang ihrer regionalen Belange reduziert werden. Das Subsidiaritätsprinzip verdeutlicht den Sinn einer strikten Kompetenzordnung zumal im Bereich der Fondswirtschaft; es weckt rechtlichen Widerstand, wenn der Bund praeter aut contra constitutionem unter Berufung auf apokryphe, ungeschriebene Zuständigkeiten die Macht des größeren Etats nutzt, um durch willkürliche Finanzzuwendungen politische Zugeständnisse der Länder zu erkaufen und Beifall der Mediengesellschaft einzuwerben. Das Subsidiaritätsprinzip sichert die Kompetenzen der unteren Einheit auch dort, wo diese lästig w i r k e n . 1 1 7 Es vermag, den vertikalen Finanzausgleich als Hilfe zur Selbsthilfe der leistungsschwachen Länder zu legitimieren, wenn die primäre Steuerverteilung sich als unangemessen erweist und nach Korrektur verlangt. Der Finanzausgleich bewegt sich i m Spannungsverhältnis zwischen Eigenverantwortung der Länder und gesamtstaatlicher Solidarität. 1 1 8 Die Praxis neigt dazu, das unterschiedliche Finanzaufkommen zu nivellieren. Dem Subsidiaritätsprinzip entspräche es, der Eigenverantwortung den Vorrang zu geben und Chancen wie Risiken ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik stärker wirken zu lassen.

ne Vgl. Art. 146 Abs. 1 S. 2 WRV. Die Fortgeltung im Rahmen des Art. 7 Abs. 5 GG nimmt an BVerfGE 88, 40 (49 f.). Vgl. auch: BVerwGE 104, 1 (9 ff.); Hans Hekkel, Privatschulrecht, 1955, S. 290. 117 Zu Finanzkompetenzen im Bereich der gesetzesfreien Verwaltung und zu den ungeschriebenen Bundeskompetenzen Hans Herbert von Arnim, Finanzzuständigkeit, in: HStR IV, 2 1999, § 103 Rn. 41 ff., 52 ff. us Dazu BVerfGE 72, 330 (383 ff.); 83, 148 (264 ff.); 101, 158 (221 f.). - Finanzwissenschaftliche Sicht Rolf Peffekoven/Ulrike Kirchhoff, Deutscher und europäischer Finanzausgleich im Lichte des Subsidiaritätsprinzips, in: Nörr/Oppermann (FN 3), S. 105 ff.

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Im Lichte des Subsidiaritätsprinzips w i r d die Rechtfertigungslast deutlich, die dem Staat schon dann zufällt, wenn er durch Teilnahme am Wettbewerb die grundrechtlich geschützten Chancen Privater schmälert. Die rein erwerbswirtschaftliche Staatstätigkeit ist schon deshalb unzulässig, weil sie sich auf kein öffentliches (also außerfiskalisches) Interesse stützen k a n n . 1 1 9 Doch auch das öffentliche Interesse allein, etwa das der Daseinsvorsorge, rechtfertigt noch nicht den Eintritt des Staates oder der Gemeinde i n den Wettbewerb zu Privaten, die ihre grundrechtliche Freiheit ausüben; vielmehr muß er darlegen, daß die Privaten dem öffentlichen Interesse nicht Genüge tun und deshalb die Intervention der öffentlichen Hand geboten i s t . 1 2 0 Das Deutungsmuster des Subsidiaritätsprinzips führt auf eine Voraussetzung der Freiheitsrechte hin: daß i n der Regel jeder erwerbstätige Bürger den Unterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen bestreiten kann und auch tatsächlich bestreitet. 1 2 1 Das Einkommen, das für den eigenen Unterhalt und den der Familie erforderlich ist, unterliegt nicht dem legitimen Zugriff der Steuer. Hier leistet die Eigentumsgarantie Widerstand, unter deren Schutz das Einkommen steht. Der Sozialstaat hat von Verfassungs wegen nur ein subsidiäres Mandat. Seine Transferleistungen, wie das Kindergeld, sind nur legitim, soweit die eigenen Ressourcen des Empfängers für den Unterhalt nicht ausreichen. Sozialleistungen sind dazu da, den Mangel an Leistungsfähigkeit zu kompensieren. Der Steuerstaat darf aber nicht dazu beitragen, diesen Mangel dadurch herbeizuführen, daß er den Unterhaltsbedarf ignoriert und auf das gebundene Einkommen zugreift. Unter der Ägide der Freiheitsrechte hat die Steuerverschonung den Vorrang vor der Sozialleistung. Das grundrechtsimmanente Subsidiaritätsprinzip w i r d in sein Gegenteil verkehrt, wenn das steuerrechtliche Existenzminimum niedriger angesetzt w i r d als das sozialrechtliche, so daß der Staat den Bürger durch die Steuer zunächst bedürftig macht, um sodann der Bedürftigkeit durch Sozialleistungen abzuhelfen. 122 Steuerstaatliches Nehmen und sozialstaatli119 Zutreffend Selmer (FN 97), S. 84 ff., bes. S. 90. Allgemein zu den Schranken erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit von Staat und Kommunen mit Nachw. Ronellenfitsch (FN 101), § 84 Rn. 31 ff., 45 ff.; Heintzen (FN 91), S. 18 ff. 120 Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen Heintzen (FN 83), S. 23 ff., 47 ff.; Selmer (FN 97), S. 82 ff. 121 Dazu Wolfgang Löwer,; Steuerpflicht trotz verfassungswidriger Steuernorm, in: StVj 1991, S. 97 (103 f.); Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStR V, 2000, § 115 Rn. 192, 244 ff. 122 Dazu BVerfGE 87, 153 (169 ff.); Paul Kirchhof, Steuergerechtigkeit und sozialstaatliche Geldleistungen, in: JZ 1982, S. 304 (309 ff.); Josef Isensee, Empfiehlt es sich, das Einkommensteuerrecht zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen und zur Vereinfachung neu zu ordnen?, in: Verh. 57. DJT 1990, Bd. II, Ν 32 (42 ff.); Klaus Tipke/Joachim Lang, Steuerrecht, 16 1998, Rn. 69 ff., 81 ff. - Aus sozialrecht-

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ches Geben sind nach dem Subsidiaritätsprinzip aufeinander abzustimmen. Es macht, verfassungsrechtlich gesehen, einen erheblichen Unterschied, ob der Einzelne seinen Lebensunterhalt der eigenen Tätigkeit verdankt oder der staatlichen Zuwendung. Die übermäßige Belastung des Erworbenen mindert den Anreiz zur Arbeit ebenso wie die Staatsleistungen, die, nicht durch soziale Bedürftigkeit gerechtfertigt, den Einzelnen der Notwendigkeit eigener Anstrengung entheben. Der Sozialstaat zehrt aber vom Erfolg der Erwerbsgesellschaft, damit also von der Leistungsbereitschaft der Bürger. Wenn er dem Subsidiaritätsprinzip gemäß dem Erwerbsstreben Raum gibt und die Eigengesetzlichkeit des Marktes respektiert, sichert er die Quelle seiner eigenen Finanzkraft. Das Prinzip bietet ein Richtmaß, wie im Gesundheits- und Sozialwesen die unterschiedlichen Grundrechtspositionen der Leistungsempfänger, der Leistungserbringer und der Leistungsmittler unter sich und im Verhältnis zum Staat auszugleichen sind. Subsidiarität bedeutet Präferenz der privatautonomen Vorsorge vor der staatlichen, der freiwilligen Versicherung vor der Pflichtversicherung, der freien Leistungsträger vor den öffentlichen, der marktwirtschaftlichen Lösung vor der Staatsregie. Die Präferenzen sind nicht starr, doch kann sie der Sozialstaat nur durch Gründe, deren Gewicht den jeweiligen Grundrechtsbelangen entspricht, überwinden. 1 2 3 VII. Subsidiarität und Übermaßverbot Das Subsidiaritätsprinzip w i r d ergänzt durch das Übermaßverbot (Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne) in seiner Bedeutung als Grundsatz des schonendsten Eingriffs, aber auch in seinen Facetten der Zwecktauglichkeit und der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne). Aus gutem Grund rückt die Vorschrift des Art. 5 EGV das Übermaßverbot in den Kontext mit der Subsidiarität. „Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrages erforderliche Maß hinaus" (Art. 5 Abs. 3 EGV). 1 2 4

licher Sicht: Meinhard Heinze, Grund und Mißbrauch der Subsidiarität i m System der sozialen Gerechtigkeit, in: Josef Isensee (Hg.), Solidarität i n Knappheit, 1998, S. 67 (70 ff.); Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 46 ff. (Nachw.). !23 Näher Meinhard Heinze, Möglichkeiten der Fortentwicklung des Rechts der sozialen Sicherheit zwischen Anpassungszwang und Bestandsschutz, Gutachten E für den 55. DJT, Bd. I, 1984, E 12 ff., 83 ff.; Josef Isensee, Empfiehlt es sich, die Zuweisung von Risiken und Lasten im Sozialrecht neu zu ordnen?, in: Verh. 59. DJT, 1992, Q 35 (44 ff.); Friedhelm Hase, Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich, 2000, S. 43 ff. passim (Rechtfertigung der Freiheitseinschränkungen und Belastungen aus der Schutzbedürftigkeit).

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Die Grundsätze hängen zusammen, decken sich jedoch nicht. Das Subsidiaritätsprinzip bezieht sich auf das Ob des Handelns, das Übermaßverbot auf das Wie. Das Übermaßverbot regelt die Auswahl eines Mittels zu einem vorgegebenen Zweck. Das Subsidiaritätsprinzip bestimmt diesen Zweck: den Handlungsvorrang der niederen Einheit. Das letztere Prinzip statuiert den Rechtfertigungszwang und bildet einen Rechtfertigungsgrund; das erstere ergibt einen Maßstab, der in der Prozedur der Rechtfertigung anzulegen i s t . 1 2 5 Das Subsidiaritätsprinzip ist nicht auf die starre Alternative angelegt, daß entweder die untere oder die obere Ebene eine Aufgabe wahrnimmt. Es hält sich differenzierenden Regelungen offen. Die höhere Ebene darf eine Aufgabe nur an sich ziehen, soweit ihr die Rechtfertigung aus der besonderen Aufgabenerfüllung gelingt. Sie hat die Autonomie der unteren Ebene tunlichst zu schonen. Wenn der höheren Einheit mehrere zwecktaugliche Mittel zur Verfügung stehen, um öffentliche Belange durchzusetzen, hat sie dasjenige zu wählen, das die Wirkungsmöglichkeit und die Eigenverantwortung der unteren Ebene am wenigsten beeinträchtigt. Wo Anregung ausreicht, kommt Regulierung nicht in Betracht; wo Regulierung, nicht Intervention; wo Intervention, nicht Verbot. Für die Europäische Gemeinschaft gilt, daß, wo eine Richtlinie dem Ziel Genüge tut, die Verordnung ausscheidet. Der Staat darf der gemeindlichen Selbstverwaltung nicht ein Aufgabenfeld entziehen, wenn er defizitären öffentlichen Belangen schon durch aufsichtliche Maßnahmen Rechnung tragen kann. Ehe die höhere Einheit eine Kompetenz an sich zieht, weil der unteren die zu ihrer Wahrnehmung erforderlichen Mittel fehlen, hat sie zu prüfen, ob sie nicht durch Rat und Tat Hilfe zur Selbsthilfe bieten kann durch rechtliche, organisatorische, finanzielle Vorkehrungen. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie zur Subvention in Permanenz verpflichtet wäre und moribunde Einrichtungen auf Dauer künstlich am Leben zu halten hätte. Im juristischen Diskurs herrscht weithin Scheu, das Subsidiaritätsprinzip, dessen Implikationen als undurchschaubar gelten, anzuwenden. Dagegen regen sich selten Hemmungen, unvermittelt auf das Übermaßverbot zuzugreifen. Die Folge ist ein unkritischer und unkontrollierter Gebrauch dieses Prinzips, ein Übermaß der Berufung auf das Übermaßverbot. 1 2 6 Dessen formale Maßstäbe dienen dazu, einen vorgegebenen 124 Zum Übermaßverbot nach Art. 5 Abs. 3 EGV: Günter Hirsch, Das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Gemeinschaftsrecht, in: Scritti in onore di Guiseppe Frederico Mancini, Bd. II, 1998, S. 459 ff.; Calliess (FN 2), S. 116 ff.; Lienbacher (FN 54), Art. 5 EGV Rn. 34 ff. 125 Näher Isensee (FN 1), S. 88 ff., 314. 126 Dazu Fritz Ossenbühl, Maßhalten mit dem Übermaßverbot, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 151 ff.

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materialen Rechtsbestand so gut wie möglich zu schützen und Beschränkungen durch äußere Eingriffe tunlichst zu minimieren. Das Übermaßverbot setzt den schutzwürdigen Rechtsbestand voraus; es bringt ihn nicht aus sich selbst hervor. Der Rechtsbestand kann in den Grundrechten, in Kompetenzen, i n garantierter Autonomie liegen, i n Regelungen also, i n denen sich das Subsidiaritätsprinzip verkörpert. Auf der anderen Seite öffnet das Argument der Subsidiarität dem Übermaßverbot nicht solche Räume der Verfassung, die einer ZweckMittel-Argumentation verschlossen sind. Das gilt für die bundesstaatliche Kompetenzordnung, deren starre Elemente und strenge Grenzen sich der Abwägung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erweh-

VIII. Aufgabenverteilung und Partizipation Thema des Subsidiaritätsprinzips sind Verteilung wie Wahrnehmung der Aufgaben, nicht aber die Willensbildung im Gemeinwesen. Im System des Verfassungsrechts findet das Prinzip seinen Platz i n den Sektoren des sozialen Rechtsstaates sowie des Bundesstaates, nicht aber in denen der Demokratie. 1 2 8 Seine Anwendung ist in demokratischen wie in autokratischen Ordnungen möglich; entscheidend ist die dezentrale Organisation des Gemeinwesens. Die zentralistische Organisation, auch die zentralistische Demokratie, verschließt sich dem Subsidiaritätsprinzip. Gleichwohl ist das Ideal einer „von unten nach oben" erfolgenden Konstitution des Gemeinwesens auch demokratisches Gedankengut. Hier muß freilich unterschieden werden: die Metapher des „Unten" kann sich auf das Volk beziehen, den Trägerverband der Demokratie im Verhältnis zu seinen Repräsentationsorganen; insoweit zeigt sich kein Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip. Dagegen gibt sich ein solcher zu erkennen, wenn es sich um orts- und sachnahe kleinere Entscheidungseinheiten handelt und Demokratie als Partizipation i n Erscheinung tritt. I n dem Maße, wie das Gemeinwesen sich in verschiedene Entscheidungsebenen und Entscheidungsträger ausdifferenziert, nehmen die Möglichkeiten der Partizipation zu. Unter dieser Bedingung öffnen sich in den ortsund sachnahen Entscheidungseinheiten, etwa denen der kommunalen, der sozialen, der beruflichen Selbstverwaltung, den jeweils Beteiligten reiche Chancen, um die Art und Weise der Aufgabenerfüllung zu beeinflussen. Die Partizipation ist Lebenselexier der Eigenverantwortlichkeit 127 BVerfGE 81, 310 (338). Allgemein Ossenbühl (FN 126), S. 162. Zur Unanwendbarkeit der Argumentationsfigur des „milderen Mittels" auf die Kompetenzordnung BVerfGE 67, 256 (289). 128 Vgl. Isensee (FN 1), S. 264 f.

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der kleineren Einheiten. Das Subsidiaritätsprinzip aber sichert deren Wirkungskreis, in diesem das Substrat der Partizipation. 1 2 9 Ohne angemessene Kompetenzen einer Körperschaft wie ihrer Organe läuft Demokratie leer. So ersetzen aufwendige Sozialwahlen zu den Gremien der gesetzlichen Rentenversicherung nicht deren Mangel an Aufgaben. Das Bundesverfassungsgericht bekundet Sorge, daß die Verlagerung nationaler Aufgaben und Befugnisse auf supranationale Einrichtungen die parlamentarische Demokratie in Deutschland entleeren könne. 1 3 0 IX. Quis iudicabit? Dem Subsidiaritätsprinzip folgt wie ein Schatten der Zweifel an der Möglichkeit seiner effektiven rechtlichen Geltung. Die positivrechtliche Gewährleistung durch die europäischen Verträge haben den Zweifel nicht zum Erlöschen gebracht, sondern erneut entfacht. Der stereotype Einwand lautet, daß das Subsidiaritätsprinzip wegen seiner Abstraktheit und Kontextabhängigkeit i n besonderem Maße angewiesen sei auf Interpretation, daß diese aber der jeweils höheren Einheit zufalle, so daß der Adressat des Prinzips über seinen Inhalt entscheide, der am Kompetenzzuwachs Interessierte über dessen Zulässigkeit. 1 3 1 Der Einwand ist begründet. Doch er trifft nicht allein und nicht spezifisch das Subsidiaritätsprinzip, sondern jedwede Norm, die den Staat i m Verhältnis zu seinen Normunterworfenen binden will. Sie trifft also auch die Grundrechte, die den Freiraum der Bürger sichern. Diese befinden als Einzelne, ob und wie sie ihre Freiheit ausüben. Aber sie befinden nicht über die für alle geltenden Normen, die den Umfang des Schutzbereichs und die Schranken bestimmen. Die Entscheidung darüber liegt beim Staat, der die Rechtseinheit auch hinsichtlich der Grundrechte gewährleistet. 1 3 2 Entsprechend liegt beim Bund der Letztentscheid über Kompetenzstreitigkeiten mit den Ländern. Das Recht des letzten Wortes beansprucht auch die Europäische Gemeinschaft gegenüber ihren M i t gliedstaaten. Wenn dieser Anspruch noch nicht auf ganzer Linie einlösbar ist und auf Widerspruch stößt, so liegt das daran, daß die Souveränitätsfrage noch nicht zugunsten des supranationalen Verbandes entschieden ist.

129 Vgl. die Auslegung des europarechtlichen Subsidiaritätsprinzips durch Calliess (FN 14), Art. 1 EUV Rn. 32 f. 130 BVerfGE 89, 155 (171 ff., 207 ff.); 101, 158 (219 ff.). 131 Repräsentativ Nörr (FN 8), S. 244. 132 Zur Kontroverse über die Relevanz des Selbstverständnisses Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997 (Nachw.).

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Das Dilemma, daß die höhere Einheit als Richterin i n eigener Sache entscheidet, ist lösbar. Die Lösung, die der Verfassungsstaat gefunden hat, ist die Gewaltenteilung, die sicherstellt, daß neben dem handelnden, streitbefangenen Organ ein kontrollierendes Organ bereitsteht, das unbeteiligt ist und institutionelle Distanz zu der Sache wahrt, über die es letztverbindlich zu urteilen hat. Im Verfassungsprozeß aber kommt dem streitbefangenen Organ der „höheren" Einheit die gleiche prozessuale Parteistellung zu wie der „unteren" Einheit: dem Gesetzgeber gegenüber dem beschwerdeführenden Bürger, dem Bund gegenüber dem Land. Die juridische Anwendung des Subsidiaritätsprinzips stellt schwierige Aufgaben der Tatsachenfeststellung und -Würdigung sowie der Prognose. Das Bundesverfassungsgericht ist diesen Schwierigkeiten, die sich bei der Handhabung des Art. 72 Abs. 2 GG stellen, ausgewichen dadurch, daß es der Verfassungsvorschrift von vornherein die normative Verbindlichkeit abgesprochen h a t . 1 3 3 Dagegen hat es sich den analogen Schwierigkeiten bei der Auslegung der Grundrechte gestellt und alles in allem plausible Lösungen gefunden. Die Europäische Gemeinschaft hat Prüfkriterien entwickelt, nach denen ihre Rechtsakte auf ihre Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip untersucht werden. Daraus ergeben sich Verfahrensregeln, Darlegungs- und Begründungslasten. 134 Die amtliche Begründung bedeutet eine rechtliche Selbstbindung, die, wenn es zum Rechtsstreit kommt, nicht durch eine andere ersetzt oder wesentlich verändert werden kann. Der Ansatz ist sachgerecht. Wenn die materielle Norm inhaltsarm ist, können in bestimmtem Maße formelle Vorkehrungen für Kompensation sorgen. Unausweichlich ist aber, daß alle Akteure den Willen haben, die Subsidiarität beim Wort zu nehmen, und zwar nicht nur als generelle Regel, sondern vorab schon in der strikten Interpretation der einzelnen Ermächtigungen. 13 5 Juristen neigen dazu, den normativen Wert des Subsidiaritätsprinzips allein nach seiner Judiziabilität zu beurteilen. Sie streiten darüber, ob und in welchem Grad das Prinzip i m Europarecht als Maßstab der Rechtsprechung geeignet i s t . 1 3 6 Doch die Sichtweise ist zu eng. Sie ver-

133 Nachw. oben F N 70. 134 Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über das Verfahren zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips vom 25. Oktober 1993. Dokumentation der verschiedenen Texte bei Merten (FN 3), S. 99 ff.; Calliess (FN 2), S. 389 ff. 135 Ein Zeichen der Hoffnung setzt die nicht ausdrücklich auf das Subsidiaritätsprinzip bezogene Urteil des EuGH vom 5. Oktober 2000 über die Richtlinie 98/ 43/EG (Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen), Bundesrepublik Deutschland ./. Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union, in: JZ 2001, S. 32 ff.

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kürzt den Geltungs- und Anwendungsbereich der Norm auf die gerichtliche Kontrolle und ignoriert die primären Adressaten der Subsidiarität: den Verfassunggeber, der die Zuständigkeiten auf die Ebenen verteilt, den Rechtsetzer wie den Rechtsanwender der jeweils höheren Ebene, die ihre Kompetenzausübung zu rechtfertigen haben. Abstrakte Prinzipien werden im Zuge der gewaltenteiligen Rechtsetzung und Rechtsanwendung konkretisiert, also inhaltlich abgesichert und operationabel gemacht. Die Gewaltenteilung schafft eine Rangfolge der tätigen Interpretation: daß dem Gesetzgeber das erste, der Verwaltung das zweite, der Gerichtsbarkeit aber das letzte Wort zukommt. 1 3 7 Im Ergebnis reicht die Handlungsrelevanz des Subsidiaritätsprinzips weit hinaus über seine Relevanz für die gerichtliche Kontrolle. 1 3 8 Vollends läßt sich der legitimatorische Effekt, den das Subsidiaritätsprinzip für das dezentrale Gemeinwesen erzielen kann, nicht nach forensischen Erfolgen oder Mißerfolgen messen. 139 Im übrigen w i r d die genuin ethische Bedeutung, die dem Subsidiaritätsprinzip eignet, sich nicht völlig verrechtlichen lassen. Das bedeutet, auch aus der Sicht des Juristen, keinen Nachteil. Vielmehr liegt hier der Grund für die permanente Faszination, die vom Subsidiaritätsprinzip ausgeht.

136 Zur Judiziabilität Hermann-Josef Blanke, Normativer Gehalt und Judiziabilität des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 3b EGV, in: Hrbek (FN 3), S. 95 ff.; Kahl (FN 54), S. 439 ff.; Manfred Zuleeg, Judiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, in: Nörr/Oppermann (FN 3), S. 185 ff.; Calliess (FN 2), S. 297 ff.; Gutknecht (FN 54), S. 935 ff.; Hirsch (FN 54), S. 210 ff.; Lienbacher (FN 54), Art. 5 EGV Rn. 25 ff. Skeptisch Thomas Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 490 f. 137 Dazu Paul Kirchhof, Gleichheit in der Funktionenordnung, in: HStR V, 2 2000, § 125 Rn. 100, 106. 138 Zu der gängigen Unterscheidung zwischen Handlungs- und Kontrollmaßstab kritisch Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 186 ff. (Nachw.). 139 Zur Legitimationswirkung für die Europäische Union Frank Ronge, Legitimität durch Subsidiarität, 1998, S. 131 ff.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 179 - 198 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

DAS SUBSIDIARITÄTSPRINZIP U N D DIE AUSGLIEDERUNG ÖFFENTLICHER AUFGABEN* Von Peter Pernthaler, Innsbruck I. Einleitung Der Hintergrund meines Referates ist der sogenannte „integrale Föderalismus", die Vorstellung also, dass Staat, Selbstverwaltungen, die Wirtschaft und ihre Organisationen, aber auch die Privaten in einem umfassenden Systemzusammenhang zueinander stehen, der eben durch das Subsidiaritätsprinzip i n wesentlichem Maße mitbestimmt werden soll. Diese Vorstellung scheint vor dem Hintergrund der heutigen Skepsis gegenüber allen übergreifenden Gesellschaftsmodellen und dem angeblichen Versagen zentraler Steuerungen, ja sogar der Kommunikationsfähigkeit autonomer Subsysteme untereinander 1 , etwas hausbacken und altertümlich. Wenn man aber die Eigenständigkeit und Eigensinnigkeit der Autonomien ernst genug nimmt, mündet ein solches, konsequent subsidiäres gesellschaftstheoretisches Paradigma meines Erachtens in eine sehr zeitgemäße und realistische Konzeption des Staates und der öffentlichen Ordnung: Es entsteht daraus ein Kooperationsmodell der öffentlichen Aufgabenerfüllung in einem vielgliedrigen unter- und überstaatlichen „Gemeinwesen" 2, in dem der nationale Verfassungsstaat zwar in der Mitte steht, aber eben dadurch „mediatisiert" 3 und eingebunden erscheint in einen übergreifenden Organisations- und Funktionszusammenhang, den das Subsidiaritätsprinzip bestimmt. Darum müssen w i r auch für unser Thema zunächst kurz über dessen Begriffsinhalt reflektieren. II. Die dreifache Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips Ich beschreibe den heutigen Stand des Subsidiaritätsverständnisses in Staats- und Gesellschaftswissenschaften, aber auch in rechtlicher Aus* A n der Ausarbeitung der Fußnoten hat mit großer Umsicht und Sachkunde Mag. Christian Ranacher mitgewirkt, ι H. Willke, Supervision des Staates (1997), 128 ff. 2 P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre 2 (1996), 38 ff. 3 P. Saladin, Wozu noch Staaten? (1995), 119, 216 ff.

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formulierung und judikativer Konkretisierung durch eine dreifache Begriff sentfaltung ein und desselben Grundsatzes 4 . 1. Der Gerechtigkeitsgrundsatz

Das Subsidiaritätsprinzip ist i n der katholischen Gesellschaftslehre zunächst sehr klar als wertendes Gerechtigkeitsprinzip formuliert worden: Es ist ungerecht, wenn man den kleineren Gemeinschaften ihren Wirkungsbereich, den sie gut mit eigenen Kräften erfüllen können, wegnimmt oder diesen unnötig beeinträchtigt; es ist aber genauso ungerecht, diesen Gemeinschaften nicht durch Intervention oder Aufgabenübernahme „zu Hilfe zu kommen", wenn sie i n der Aufgabenerfüllung versagen 5 . Die österreichische Finanzverfassung hat exakt nach diesem Vorbild die sogenannte „Finanzausgleichsgerechtigkeit" formuliert: Jede Gebietskörperschaft hat grundsätzlich die finanzielle Belastung aus ihren eigenen Aufgaben selbst zu tragen; der Finanzausgleich hat dafür zu sorgen, dass die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Gebietskörperschaften nicht überschritten werden 6 . Die nach dem Subsidiaritätsprinzip „gerechte" Auf gaben Verteilung zwischen dem Staat und anderen Trägern öffentlicher Aufgaben lässt sich - wie immer wieder betont wurde - nicht abstrakt und überzeitlich formulieren: Sie ergibt sich aus einer wertenden Analyse der konkreten geschichtlichen Lebensumstände der Menschen und Gemeinschaften in einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Wie vor allem die Judikatur, welche positivierte Subsidiaritätsformeln anzuwenden hatte, mit gutem Gespür erkannte, hat die Gerechtigkeit des Subsidiaritätsprinzips zwei Bezugspunkte: Die „Sachgerechtigkeit u der Lebensordnung der betreffenden Gemeinschaft und die Stellung der Menschen in dieser Gemeinschaft und in der Gesamtgesellschaft. I n der Regel leitet die Rechtsprechung ein ganzes Bündel an Wertungen und Gerechtigkeitsvorstellungen, welche diese beiden Aspekte konkretisieren, aus dem Gleichheitsgrundsatz ab 7 ; mitunter werden aber auch 4 Zum Folgenden vgl. P. Pernthaler,; (Kon-)Föderalismus und Regionalismus als Bewegungsgesetze der europäischen Integration, JRP 1999, 48 ff. (56 ff.). Allgemein zum Subsidiaritätsprinzip vgl. etwa A. Riklin/G. Batliner (Hrsg.), Subsidiarität: Ein interdisziplinäres Symposium (1994); A. Waschkuhn, Was ist Subsidiarität? (1995) sowie K. W Nörr/Th. Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit (1997). 5 „Quadragesimo anno" (Pius XL - 1931), Punkt 5, Abs. 79 und 80 (Acta Apostolicae Sedis 23 [1931], 203). 6 §§ 2 und 4 Finanz-Verfassungsgesetz 1948, BGBl 1948/45 i.d.F. BGBl I 1999/ 194. 7 Paradigmatisch die Judikatur des VfGH zur Selbstverwaltung; grundlegend VfSlg 8215/1977 (dazu Ρ Pernthaler, Entscheidungsbesprechung, ÖZW 1978, 126);

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die Menschenwürde, andere Grundrechte, Organisationsprinzipien und Staatszielbestimmungen dafür bemüht, während ausdrückliche Bezugnahmen auf das Subsidiaritätsprinzip kaum je vorkommen 8 . Wenn man also das Subsidiaritätsprinzip als Gerechtigkeitsgrundsatz letztlich anthropozentrisch begründet sieht - wofür gewiss vieles spricht 9 - so darf man darüber den ordnungspolitischen Ansatz der Sachgerechtigkeit nicht vernachlässigen. Es geht dem Subsidiaritätsprinzip nicht nur um Gerechtigkeit für Individuen, sondern auch um Gerechtigkeit für Gemeinschaften und andere überindividuelle Sachordnungen, die nicht „verwirrt" werden sollen. Daher lässt sich aus dem Subsidiaritätsprinzip sehr wohl eine Wertentscheidung für den Pluralismus, nicht aber für den Primat der Privatheit des Menschen, den Vorrang des Marktes und seiner Ordnungsgrundsätze und das Konzept des „Minimalstaates" ableiten. Im Gegenteil! Quadragesimo anno sieht das Subsidiaritätsprinzip sogar ausdrücklich als Instrument der Stärkung der Autorität und Schlagkraft des Staates durch Entlastung von gesellschaftlichen Aufgaben. 10 Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass nach der ursprünglichen Konzeption des Subsidiaritätsprinzips der Staat die Letztentscheidung über die gerechte Sozialordnung wertend zu treffen hat. Ich möchte in der Folge noch darlegen, dass dies zu einem inneren Widerspruch des Prinzips führen kann, wenn dabei nicht ein bestimmtes Verfahren eingehalten wird. Davon abgesehen, erscheint es als eine selbstverständliche Voraussetzung des „Modernen Staates", dass er die Abgrenzung zwischen seinen Kompetenzen und denen der autonomen Gemeinschaften der Sachordnungen „souverän" regelt 1 1 . Nach dem Grundsatz der Volkssouveränität ist dafür die Grundlage das im demokratischen Prozess erzeugte Gesetz und die parlamentarische Steuerund Budgethoheit.

vgl. ferner VfSlg 8539/1979; 8644/1979; 12.021/1989 oder 13.877/1994; für einen Überblick über diese Rechtsprechung vgl. H. Stolzlechner,; Der Gedanke der Selbstverwaltung in der Bundesverfassung, in: Österreichische Parlamentarische Gesellschaft (Hrsg.), FS 75 Jahre Bundesverfassung (1995), 361 ff. (370 ff.). 8 Vgl. Th. Oppermann, Subsidiarität im Sinne des deutschen Grundgesetzes, in: Nörr/Oppermann (FN 4), 215 ff. 9 Vgl. A. Baumgartner, „Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär". Zur anthropologischen und theologischen Begründung der Subsidiarität, in: Nörr/Oppermann (FN 4), 13 ff. 10 „Quadragesimo annou (FN 5), Punkt 5, Abs. 80. 11 Vgl. Ρ Pernthaler, Staats- und verfassungstheoretische Grundlagen der Dezentralisation und der Selbstorganisation, in: Pernthaler (Hrsg.), Dezentralisation und Selbstorganisation. Theoretische Probleme und praktische Erfahrungen (1982), 19 ff. (34).

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Allerdings entspricht es dem heutigen Standard europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, dass der Richter Exzesse der Wertungen des Gesetzgebers im Lichte der in der Verfassung verankerten Wertungen - und dazu gehört auch das Subsidiaritätsprinzip - korrigieren kann. In der gemeineuropäischen „rule of law" - der Weiterentwicklung des Rechtsstaatskonzepts - sind also der Volkssouveränität und dem demokratischen Prozess auch i m Hinblick auf die durch das Subsidiaritätsprinzip gebotenen Wertungen autonomer Sach- und Lebensordnungen sehr klare rechtliche Grenzen gesetzt, die in einem offenen Kommunikationsprozess aller Gerechten und Vernünftigen in einer „demokratischen Gesellschaft" zu konkretisieren sind 1 2 . Keiner weiteren Erörterung bedarf es, dass den nach dem Subsidiaritätsprinzip zu treffenden Wertentscheidungen selbst wiederum bestimmte gesellschaftliche Höchstwerte vorgegeben sind. Auch das Subsidiaritätsprinzip kann also nicht von der Geltung der Menschenrechte, von Toleranz und Minderheitenschutz, sozialen Ausgleichs- und Schutzverpflichtungen des Staates sowie von ökologischen Standards des Überlebens zugunsten kommender Generationen dispensieren. Dies scheint mir angesichts der gesteigerten Nahebeziehungen und des legitimen Eigennutzes kleinerer Gemeinschaften und Sachordnungen nicht ganz überflüssig hervorzuheben.

2. Funktionalistisches Verteilungsprinzip

Das Subsidiaritätsprinzip kann aber auch rein sachrational als funktionalistisches Optimierungsgebot eines i n Ebenen gegliederten Gemeinwesens verstanden werden 1 3 . Danach soll eine Aufgabe jener Ebene zukommen, welche die bestmögliche (effizienteste) Aufgabenerfüllung gewährleistet. Ursprünglich hatte der ökonomische Föderalismus angenommen, dass man aus der Eigenart der jeweiligen öffentlichen Aufgabe und den räumlich-funktionellen Bedingungen der verschiedenen Ebenen objektive Kriterien der Aufgabenzuordnung rational ableiten könne („Economies of Scale", Spillover-Effekte u.Ä.). Bald musste man aber erkennen, dass es daneben noch föderalismuspolitische Kriterien der Aufgabenzuordnung gab, wie Traditionen, Wünsche der Bürger, opti12 Zur Formulierung „demokratische Gesellschaft" vgl. die Gesetzes vorbehalte in Art. 8 bis 11 EMRK (Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl 1958/210 i.d.F. BGBl I I I 1998/30); dazu W. Berka, Die Gesetzesvorbehalte der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZÖR 37 (1986), 71 ff. 13 Vgl. Ch. Millon-Delsol, L'état subsidiaire (1992); R Pernthaler, Der differenzierte Bundesstaat (1992), 18 f.; ders. (FN 4), 57 f.; P. Richli, Zweck und Aufgaben der Eidgenossenschaft im Lichte des Subsidiaritätsprinzips. Referat zum Schweizerischen Juristentag 1998, ZSR 1998, 139 ff.

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male Akzeptanz u.Ä., die sich jeder Objektivierung entzogen und mitunter ökonomischen Erwägungen geradezu widersprachen. Die moderne ökonomische Föderalismustheorie zieht daher für die Aufgabenzuordnung zu den Ebenen neben Effizienzkriterien auch das politische Interesse der betreffenden Ebene an ihren autonomen Aufgaben als Beurteilungsmaßstab heran 1 4 . Die österreichische Bundesverfassung hat diesen doppelten Bezugsmaßstab des funktionalistischen Subsidiaritätsprinzips ausdrücklich in der Formulierung des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinden verankert (Art. 118 Abs. 2 B - V G ) 1 5 , und die österreichische Verfassungsrechtsprechung hat ein rein technokratisches Verständnis der Sachrationalität von Gemeindezusammenlegungen dann für verfassungswidrig gehalten, wenn trotz der ökonomisch idealen Gemeindegröße der Widerstand der Bevölkerung dagegen so intensiv und nachhaltig war, dass eine optimale Aufgabenerfüllung i n Selbstverwaltung aus diesem Grunde nicht zu erwarten w a r 1 6 . Auch das Subsidiaritätsprinzip als funktionalistisches Verteilungsprinzip kann daher wohl Berechnungen über die Effizienz dezentralisierter Aufgabenerfüllung beibringen; eine verbindliche Entscheidung über die Aufgabenzuordnung darf man sich aber auch von dieser Betrachtungsweise nicht erwarten, weil sie die politische Wertentscheidung des Interesses an der Aufgabenerfüllung nicht ausschalten kann und soll. 3. Verfahrensgarantie

Sowohl nach dem Gerechtigkeitsprinzip als auch nach dem funktionalistischen Verteilungsprinzip muss über die Zuordnung der Aufgaben zu den Ebenen letztlich wertend entschieden werden; dabei bleibt aber die Frage offen, wer wie und nach welchem Verfahren über die Zuordnung entscheidet. Die katholische Gesellschaftslehre dürfte ursprünglich der Auffassung gewesen sein, dass dies selbstverständlich dem Staat zukomme, wobei man sich über Mitwirkungsrechte damals keine Gedanken machte. 14 Vgl. P. Pernthaler; Österreichische Finanz Verfassung (1984), 38 ff. und E. Thöni, Politökonomische Theorie des Föderalismus (1986), 35 ff. und 62 ff. is Danach umfasst dieser „alle Angelegenheiten, die im ausschließlichen oder im überwiegenden Interesse der i n der Gemeinde verkörperten örtlichen Gemeinschaft gelegen und geeignet sind, durch die Gemeinschaft innerhalb ihrer örtlichen Grenzen besorgt zu werden." Dazu H. Neuhof er, Gemeinderecht 2 (1998) 225 ff.; Ρ Pernthaler, Raumordnung und Verfassung 3 (1990) 177 ff. sowie K. Weber, Art 118/1-7 B-VG, in: Korinek/Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Rz. 6 ff. (1999). 16 Ständige Rechtsprechung; vgl. VfSlg 8108/1977; 9793/1983; 11.372/1987; 11.543/1993 u.a.

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Seitdem hat es eine innerkirchliche Entwicklung gegeben, die zumindest für den gesellschaftlichen Raum Demokratie und Partizipation durchaus für naturrechtlich begründbar anerkennt 1 7 . Ich glaube, dass bis jetzt nur die ökonomische Föderalismustheorie die denknotwendige Verknüpfung von Subsidiarität und Partizipation der unteren Ebenen bei der Kompetenzverteilung in all ihren Konsequenzen erkannt hat und daraus die spezifische Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips als Verfahrensgrundsatz begründete. Ihre Prämissen sind folgende: Entscheidet die zentrale Ebene allein über die Dezentralisierung von öffentlichen Aufgaben und die Dimensionierung von Autonomien - wie dies im aufgeklärten Absolutismus und technokratischen Planungsdenken üblich war - , so entsteht daraus der sogenannte „Zirkelschluss des Föderalismus" („Föderalismus dilem18 ma") : Auf diese Weise fehlt der zentralen Ebene die notwendige und ausreichende Information über die optimale Aufgabenzuordnung, weil sie weder das politische Interesse noch die spezifische Leistungsfähigkeit der unteren Ebenen kennt, welche nach dem Subsidiaritätsprinzip für die Aufgabenzuordnung maßgebend sein sollen. Sie muss also - nach ihren eigenen Vorstellungen - beides für die untere Ebene formulieren, was aber dem Grundgedanken der Autonomie (des Föderalismus) und ihrer eigentlichen Leistungsfähigkeit widerspricht. Dass die untere Ebene nicht unabhängig von der oberen ihre eigenen Zuständigkeiten formulieren kann, ergibt sich aus ähnlichen Erwägungen und dürfte noch einleuchtender sein. Subsidiaritätsprinzip als Verfahrensgrundsatz heißt daher: Nicht die obere oder die untere Ebene soll einseitig über die Abgrenzung der autonomen Wirkungsbereiche entscheiden, sondern diese Abgrenzung soll das Ergebnis eines wechselseitigen Informations- und Mitwirkungsverfahrens sein. Damit werden Kooperation und Partizipation der Autonomien und der zentralen Ebene nicht nur zu einem Wesensmerkmal des funktionierenden Föderalismus, sondern auch schon i n seinem Wurzelgrund, in der Kompetenzverteilung, organisatorisch und verfahrensmäßig verankert. Wiederum hat die österreichische Verfassungsrechtsprechung diese Zusammenhänge zwischen dem Verfahren der politischen Entscheidung und 17 Vgl. „Gaudium et SpesPastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965 sowie die Enzykliken „Populorum Progressio" (Paul VI. - 1967) und „Laborem Exercens" (Johannes Paul II. - 1981); s. dazu auch P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre (1986), 224 f. 18 Vgl. zu diesem Begriff R. Mittendorfer, Gemeindeautonomie, Versuch einer Neuinterpretation aus finanz- und rechtswissenschaftlicher Sicht (1990), 94 ff.; P. Pernthaler (FN 15), 182; ders. (FN 13), 20 sowie J. Theiler, Föderalismus: Voraussetzung oder Ergebnis rationaler Politik? (1977), 98.

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der Gerechtigkeit i m Subsidiaritätsprinzip unreflektiert, aber sehr treffsicher formuliert: Seit einiger Zeit ist es ständige Rechtsprechung, dass ein kooperativ - also unter Zustimmung aller Partner - erarbeiteter und „paktierter" 1 9 Finanzausgleich die Vermutung der Sachgerechtigkeit für sich hat, weil jede der Gebietskörperschaften über ihren eigenen sachlich, d.h. zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Finanzbedarf am besten Bescheid weiß und diese Information bzw. autonome politische Willensbildung in den kooperativen Entscheidungsvorgang über den Finanzausgleich eingebracht h a t 2 0 . Dieses Beispiel und die Verfahren der Kompetenzordnung in föderalistischen und hochentwickelten regionalistischen Systemen zeigen, dass das Subsidiaritätsprinzip als Verfahrensgrundsatz durchaus praktisch handhabbar ist und als die entscheidende Bedingung der Realisierung und Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips angesprochen werden kann. Ist dies so, muss diese verfahrensmäßige Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips grundsätzlich auch für die Ausgliederung von öffentlichen Aufgaben gelten. Das erscheint dann überraschend und undurchführbar, wenn noch keine Autonomie vorliegt, an die delegiert werden soll. Doch auch in diesem Fall gibt es von der Ausgliederung der öffentlichen Aufgabe Betroffene, deren Interesse und Leistungsfähigkeit nach dem Subsidiaritätsprinzip nicht nur „von oben", sondern eben unter ihrer M i t w i r kung, also partizipativ, bei der Kreation von Autonomie, aber auch bei der Entstaatlichung (Privatisierung) zu ermitteln und berücksichtigen sind. III. Die Unterscheidung von öffentlichen Aufgaben und Staatsaufgaben Diese Unterscheidung ist die Voraussetzung dafür, dass man auf den Vorgang der Ausgliederung überhaupt den Maßstab des Subsidiaritätsprinzips anwenden kann.

19 Im jüngst ergangenen Erkenntnis v. 28.9.2000, A 10/00, ist der VfGH allerdings vom bisherigen Erfordernis eines förmlich ausformulierten und unterfertigten Paktums abgegangen und hat bereits eine „bloße Akkordierung durch Verhandlung" als hinreichend angesehen. 20 Vgl. etwa VfSlg 12.505/1990; 12.784/1991; 14.262/1995; 15.039/1997; VfGH 4.12.1999, G 481/97 sowie jüngst VfGH 28.9.2000, A 10/00. Eingehend zu dieser Judikatur Ρ Pernthaler/A. Gamper, Der abgestufte Bevölkerungsschlüssel als verfassungswidriges Element des Finanzausgleichs (2000), 8 ff.; vgl. auch T. Öhlinger,; Verfassungsrecht 4 (1999), Rz. 262 sowie H. G. Ruppe, Modell einer föderalistischen Finanz Verfassung für Österreich, in: Pernthaler (Hrsg.), Neue Wege der Föderalismusreform (1992), 105 ff. (112 f.).

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Peter Pernthaler 1. Die öffentliche Aufgabe

Der umfassendere „Mutterbegriff" ist der der öffentlichen Aufgabe 21. Er bezeichnet eine Tätigkeit, die im Allgemeininteresse liegt, Gemeinwohlziele verwirklicht und daher nicht - entsprechend den Grundsätzen der Privatautonomie - nach Belieben erbracht w i r d oder nicht erbracht werden kann, sondern eine öffentliche Leistungsverpflichtung darstellt, die eine ganz konkrete Erfüllung gebietet. Wesentlich beim Begriff der öffentlichen Aufgabe ist also vor allem eine Inhaltsbetrachtung, der danach geforderten Leistung, aber auch bestimmter Kriterien der Erfüllung wie Nachhaltigkeit der Leistungserbringung, Zurücktreten des Gewinninteresses, Allgemeinzugänglichkeit, Anwendung öffentlicher Hoheitsbefugnisse u.Ä. Keine Rolle spielen bei dieser Begriffsbildung organisatorische Erwägungen: Wer auch immer diese Aufgabe - gleichgültig in welcher Rechtsform - erbringt, erfüllt die betreffende öffentliche Aufgabe. Daher erfüllen nicht nur alle Gebietskörperschaften, sondern auch Selbstverwaltungen, Einrichtungen der gesellschaftlichen Selbstorganisation, Kirchen (Religionsgesellschaft) und Private öffentliche Aufgaben, wenn die entsprechenden materiellen Kriterien und Modalitäten der Leistungserbringung darauf zutreffen. Es ist klar, dass nach dieser Begriffsbildung alles davon abhängt, wie man den Begriff „Allgemeininteresse" oder „Gemeinwohlerfüllung" definiert. Eine abstrakte, überzeitlich gültige Definition gibt es nicht; vielmehr hängt es von der Verfassung, dem Gesetz und dem politischen Prozess ab, welche Gemeinwohlziele in den verschiedenen Lebensbereichen und gesellschaftlichen oder privaten Aktivitäten in einem konkreten Gemeinwesen als solche qualifiziert werden. Auch das Europarecht hat hier einen bestimmten Einfluss, weil insbesondere die Zulässigkeit von öffentlichen Förderungen und anderen Wettbewerbsverzerrungen an der Qualität einer Tätigkeit als Gemeinwohlerfüllung zu messen i s t 2 2 . 21 Vgl. dazu die klassische Unterscheidung von H. Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, in: Dietz/Hübner (Hrsg.), FS Nipperdey (1965), 877 ff., die heute wohl als unbestritten gelten dürfte; s. auch K. Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung (1970), 101 f. und B. Raschauer, Allgemeines Verwaltungsrecht (1998), Rz. 722. 22 Das kommt i n mehreren Bestimmungen des EGV deutlich zum Ausdruck, so va i n Art. 16 EGV, der die Bedeutung gemeinwohlorientierter „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" (zum Begriff s. F N 23) für die Sozial- und Wirtschaftsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten nunmehr ausdrücklich anerkennt (dazu Ch. Jung, in: Calliess/Ruffert [Hrsg.], EUV/EGV-Kommentar [1999], Art. 16 EGV m.w.N.), aber auch i n Art. 73 EGV (begrenzte Zulässigkeit von Beihilfen für Transportunternehmen; dazu Ch. Jung, in: Calliess/Ruffert [Hrsg.], EUV/EGV, Art 73 EGV m.w.N.), in Art. 86 Abs. 2 EGV (s. F N 23) und den Ermessensausnahmen vom Beihilfenverbot nach Art. 87 Abs. 3 lit. c und d EGV, welche die Kommission durch zahlreiche Gemeinschaftsrahmen und Leitlinien konkretisiert hat (eingehend und m.w.N. W. Cremer, in: Calliess/Ruffert [Hrsg.], EUV/EGV,

Subsidiaritätsprinzip und Ausgliederung öffentlicher Aufgaben

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Nicht selten definiert der Staat das Allgemeininteresse an einer bestimmten Aufgabenerfüllung nicht direkt, sondern durch die Erbringung von Subventionen oder durch die Vorschreibung von Qualitätsstandards, LeistungsVerpflichtungen, Kontrahierungszwang u.Ä. Wenn der Staat selbst - in welcher Rechtsform oder Organisationstype auch immer - eine Aufgabe übernimmt, ist dadurch noch keineswegs die Qualität „öffentliche Aufgabe" unter allen Umständen gegeben: Es ist auch hier nach materiellen Kriterien zu differenzieren, ob Gemeinwohlziele erfüllt werden oder nicht, worauf die Wettbewerbskontrolle der E U i n besonderer Weise achtet 2 3 .

2. Die Staatsauf gaben

Trotz der zuvor genannten Einschränkung w i r d man im Allgemeinen davon ausgehen können, dass der Staat grundsätzlich nur öffentliche Aufgaben erfüllen soll, weil er die dafür eigens geschaffene und besonders qualifizierte Institution der Gesellschaft i s t 2 4 . Welche Aufgaben aber dies im Einzelnen sind, lässt sich weder theoretisch noch praktisch abschließend beantworten, weil die staatliche Souveränität und der sie konkretisierende politische Prozess Inhalt und Umfang der Staatstätigkeit bestimmen. Seit der Entstehung des Modernen Staates i m Absolutismus hat es eine kontinuierliche Wellenbewegung des Wachstums und der Reduktion von Staatsaufgaben gegeben, deren letzte Auf- und Abschwungphasen w i r selbst noch hautnah erlebt haben. Auch die Themen-

Art. 87 EGV Rz. 35 ff. sowie W. Mederer, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann [Hrsg.], Kommentar zum EU-/EG-Vertrag 5 [1997], Art. 92 EGV Rz. 101 ff.). 23 So normiert Art. 86 Abs. 2 EGV eine - zwar abwägungsabhängige und eng begrenzte - Bereichsausnahme für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben insoweit, als die Sicherung der Infrastruktur und Daseinsvorsorge betroffen ist. Die Anwendung der Bestimmungen des Vertrags, insbesondere der Wettbewerbs Vorschriften, kann danach auf Unternehmen, die „Dienstleistungen von allgemeinem w i r t schaftlichen Interesse" (z.B. Arbeitsvermittlung, Basispostdienst, Telekommunikation, Wasserversorgung etc.) erbringen, ausgeschlossen sein, wenn andernfalls die Erfüllung der besonderen Leistungsverpflichtung tatsächlich und rechtlich gefährSlg 1997 1-5815). det würde (vgl. Rs. C-159/94 [Korn/Frankreich] Zum maßgeblich durch die Rechtsprechung des EuGH (vgl. etwa EuGH Rs. 66/ 86 [Ahmed Saaed] Slg 1989, 803 oder Rs. C-320/91 [Corbeau ] Slg 1993 1-2533) geprägten Begriff der „Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" s. nunmehr grundlegend die Mitteilung der Kommission v. 20.9.2000 über Leistungen der Daseinsvorsorge i n Europa, KOM (2000), 580 endg.; aus dem Schrifttum vgl. nur V. Emmerich, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Losebl.) H.II. Rz. 149 ff.; Ch. Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 86 EGV Rz. 36 ff. sowie A. Kahl, Neue Bedeutung der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" durch den Vertrag von Amsterdam, w b l 1999, 189 ff.; alle m.w.N. 24 Vgl. R. Herzog, Allgemeine Staatslehre (1971), 136 ff.; P. Pernthaler, (FN 2) 123.

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Stellung meines Referates ist aus dieser Dynamik der Ver- und Entstaatlichung öffentlicher Aufgaben zu verstehen. In einem konkreten Staat, heute auch i n der europäischen Staatengemeinschaft, lassen sich die Staatsaufgaben in der Regel zunächst aus der Verfassung ableiten 2 5 : Es gibt hier Staatszielbestimmungen, Staatsstrukturnormen (sozialer Rechtsstaat), Kompetenzverteilungen, Grundrechte und schließlich den demokratischen Prozess, der legitime Staatsauf gaben rechtlich und budgetmäßig definiert. Aus den i n der EU verbundenen Staatsverfassungen lässt sich unschwer ein europäischer Standard an Aufgaben des Rechts-, Kultur-, Sozial- und Umweltschutzstaates ableiten, der immer weitgehender durch europäische Rechtsvorschriften präformiert wird. Die heute neu entdeckte normative Staats auf g abenlehre 26 sucht nach Kriterien, wie dieses weitgehend außer Streit stehende Bündel „klassischer" und moderner Staatsauf gaben den einzelnen Ebenen - und dabei insbesondere dem vielfach als überholt angesprochenen Nationalstaat - zugeordnet werden kann. Solche Versuche stehen in einer doppelten Dynamik der Abwanderung von Staatsaufgaben nach oben und nach unten und münden konsequenterweise in die im Folgenden behandelte Fragestellung. 3. Genuine Staatsauf gaben

Gibt es öffentliche Aufgaben, die entweder überhaupt nicht oder nur unter besonderen Voraussetzungen ausgegliedert werden können, weil sie mit dem modernen Staat wesenhaft („begrifflich") verknüpft sind? 27 Ich glaube, dass man diese Frage schon vom Völkerrecht her bejahen muss, weil dieses als „Staat" nur eine effiziente Rechts- und Friedensordnung anerkennt, daher ein Minimum an staatlicher Verfassung, Organisation und wirksamer Staatsgewalt (Exekutive) voraussetzt, die auch i n der Lage ist, bestimmte völkerrechtliche Pflichten zu erfüllen 2 8 . 25 Vgl. P. Pernthaler (FN 15), 452 ff.; ders. (FN 2), 112 sowie P. Saladin (FN 3), 51 ff. 26 Vgl. P. Pernthaler (FN 2), 115 f.; Ρ Saladin (FN 3), 88 ff., 118 ff. und 164 ff. 27 Dazu auch H. Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, W D S t R L 54 (1995), 243 ff. (255); J. Hengstschläger, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, W D S t R L 54 (1995), 163 ff. (174 f.); J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben i m Verfassungsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III: Das Handeln des Staates (1988), § 57, insbesondere Rz. 150 ff. sowie G. Kucsko-Stadlmayer, Verfassungsrechtliche Schranken der Reduzierung und Ausgliederung von Staatsaufgaben, in: Österreichische Juristenkommission (Hrsg.), Rechtsstaat - Liberalisierung und Strukturreform (1998), 171 ff. (192 f.); alle m.w.N. 28 Vgl. Ρ Pernthaler (FN 2), 34; eingehend zum völkerrechtlichen Begriff des Staates 7. Seidl-Hohenveldern, Die Staaten, in: Neuhold/Hummer/Schreuer (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts 3 (1997), 134 ff. m.w.N.

Subsidiaritätsprinzip und Ausgliederung öffentlicher A u f g a b e n 1 8 9

Auch unter europäischen Aspekten w i r d man jedenfalls den Menschenrechtsschutz, aber auch die Gewährleistung von wirksamem Rechtsschutz, demokratischen Institutionen, Minderheitenschutz u.Ä. zu den verfassungsstaatlichen Mindestaufgaben des Staates zählen (europäische Verfassungshomogenität) 29 . Außer der Gerichtsbarkeit dürfte es auch Kernbereiche der öffentlichen Verwaltung geben, wie Landesverteidigung, Sicherheitsverwaltung, Verwaltungspolizei, Wettbewerbskontrolle u.Ä., welche jedenfalls nur beschränkt und unter besonderen Voraussetzungen entstaatlicht werden können. Allerdings kommt es auch hier letztlich auf die konkrete Verfassungs- und Rechtslage an, sodass ich diesen „staatlichen Vorbehaltsbereich" am Beispiel Österreichs noch näher erläutern möchte (Punkt IV). Dass es aber unter dem Gesichtswinkel des Subsidiaritätsprinzips - also abstrakt gesehen - notwendigerweise einen solchen Bereich notwendiger Staatsaufgaben geben muss, erscheint selbstverständlich und w i r d auch von der Enzyklika Quadragesimo anno mit besonderem Nachdruck geradezu als Konsequenz dieses Grundsatzes betont. 3 0 IV. Ausgliederung und Privatisierung Relativ kurz möchte ich auf die Organisationsformen und Verfahren der Ausgliederung abstrakt eingehen, weil ich hier begriffliche Differenzierungen - ohne Bezugnahme auf die konkrete Rechtsordnung - für besonders schwierig und wenig fruchtbar halte. Auch unter dem Blickwinkel des Subsidiaritätsprinzips spielen die hier gepflegten Einteilungen eine eher untergeordnete Rolle. 1. Die Ausgliederung

Im engeren Sinn versteht man unter Ausgliederung die organisatorische Abschichtung von bisherigen Staatsaufgaben an selbständige (öffentlich- oder privatrechtliche) Rechtsträger 31 . Derartige organisatori29 Zum Begriff „Europäische Verfassungshomogenität" vgl. Art. 6 und 7 EUV sowie aus der Literatur M. Heintzen, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht i n der Europäischen Union, EuR 1997, 1 ff. (5 ff.); H. Ρ Ipsen, Über Verfassungshomogenität in der Europäischen Gemeinschaft, in: Maurer (Hrsg.), FS Dürig (1990) 159 ff. und eingehend jüngst F. Schorkopf, Homogenität i n der Europäischen Union - Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV

(2000).

30 „Quadragesimo anno" (FN 5), Punkt 5, Abs. 80. 31 Zum Begriff der „Ausgliederung", der als sog „Organisationsprivatisierung" (auch: „formelle Privatisierung") regelmäßig jenem der „Aufgabenprivatisierung" (auch: „materielle Privatisierung") gegenübergestellt wird, vgl. m.w.N. B.-Ch. Funk, Allgemeine verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, in: Amt der Kärntner Landesregierung (Hrsg.), Ausgliederungen im Landesbereich (1997) 11

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sehe Abschichtungen kommen auch bei Kommunal Verwaltungen, Sozialversicherungsträgern oder bereits verselbständigten Trägern öffentlicher Verwaltung vor. In einem weiteren Sinne könnte man von „Ausgliederung" auch sprechen, wenn neue öffentliche Aufgaben von vorneherein organisatorisch verselbständigt werden und dies durch staatliche Anordnung (Gesetz, Verwaltungsakt) und nicht durch gesellschaftliche Initiative erfolgt. 2. Die Privatisierung 32

Privatisierung liegt vor, wenn öffentliche Aufgaben entweder überhaupt aus dem staatlichen Einflussbereich ausgeschieden werden (materielle Privatisierung) oder durch Privatrechtsträger erfüllt werden (formelle Privatisierung). In einem weiteren Sinne spricht man auch von „ Vermögensprivatisierung" wenn staatliches Eigentum an Private (zur Gänze oder teilweise) verlagert wird; Finanzierungsprivatisierung heißt dagegen, dass die öffentliche Aufgabe weiterhin vom Staat oder öffentlich-rechtlichen Rechtsträgern erfüllt wird, die Finanzierung dagegen auf Private verlagert w i r d (z.B. Einhebung der Rundfunkbeiträge). Als „funktionelle Privatisierung" bezeichnet man die Unterstützung der öffentlichen Verwaltung (Gerichtsbarkeit) durch Private als „Verwaltungshelfer" (z.B. Abschleppunternehmer im Dienste der Straßenaufsicht) oder als „Gerichtskommissäre" (Notare). 3. Rechtsformen der Ausgliederung (Privatisierung) 33

Neben der Gründung neuer Gesellschaften oder anderer Privatrechtsträger durch Gesetz oder Vertrag, können öffentliche Aufgaben auch bestehenden privatrechtlichen Einrichtungen, Kirchen (Religionsgesellschaften), Fonds u.Ä. übertragen werden. Es ist auch denkbar, dass der (14 ff.); J. Hengstschläger (FN 27), 170 bei F N 17; M. Holoubek, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Konsequenzen der Ausgliederung, Privatisierung und Beleihung, ÖZW 2000, 33 (33 f.); M. Potacs, Öffentliche Unternehmen, in: Raschauer (Hrsg.), Grundriss des österreichischen Wirtschaftsrechts (1998), 355 ff. (363 f.) sowie B. Raschauer (FN 21), Rz. 377. 32 Zum Begriff der „Privatisierung" und seinen im Folgenden differenzierten Ausprägungen vgl. m.w.N. H. Bauer (FN 27), 250 ff.; B.-Ch. Funk (FN 31), 16 f.; ders., Entscheidungsbesprechung zu VfSlg 14473/1996 (Austro Control ), ÖZW 1997, 60 f. (60); J. Hengstschläger (FN 27), 169 ff.; M. Potacs (FN 31), 362 ff. sowie G. Kucsko-Stadlmayer (FN 27), 173 ff. 33 Allgemein dazu B.-Ch. Funk (FN 31), 15 f. et passim; J. Hengstschläger (FN 27) 178 ff.; M. Potacs (FN 31), 363 f. sowie Η. P. Rill, Grenzen der Ausgliederung behördlicher Aufgaben aus der unmittelbaren Staatsverwaltung - Überlegungen anlässlich der geplanten Betrauung eines eigenen Rechtsträgers mit der Wertpapieraufsicht, ÖBA 1996, 748 (753 ff.).

Subsidiaritätsprinzip und Ausgliederung öffentlicher Aufgaben

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Staat private Erfüllung öffentlicher Aufgaben, die sich in gesellschaftlicher Selbstorganisation gebildet hat, durch Subventionen anerkennt oder sogar organisatorisch in eine gemischt staatlich-private Aufgabenerfüllung einbaut (Kindergärten, Privatschulen, Krankenhäuser u.Ä.). Die öffentlich-rechtlichen Ausgliederungsformen - wie mittelbare Staatsverwaltung, Selbstverwaltung, Fonds, Monopole, Anstalten, öffentliche Genossenschaften u.Ä. - gehen teilweise auf sehr alte Traditionen zurück und sind durch bestimmte Organisationsmerkmale und staatliche Aufsichtsbefugnisse rechtlich weitgehend determiniert. Manche Staaten kennen auch ein eigenes öffentliches Unternehmensrecht und besondere Organisationsformen für gemeinnützige Einrichtungen, die eher dem öffentlichen Recht zuzurechnen sind (Service public u.Ä.) 3 4 . 4. Schranken und Konsequenzen der Ausgliederung (Privatisierung)

Man nimmt heute überwiegend an, dass die Verfassung keine grundsätzlichen Schranken der Ausgliederung (Privatisierung) enthält, sondern dass dieser Vorgang eher der liberalen Grundstruktur des heutigen europäischen Verfassungs- und Europarechtsstandards entspricht 3 5 . In Wahrheit gilt aber auch für die öffentlich-rechtlichen Schranken der Ausgliederung und Privatisierung das Subsidiaritätsprinzip: Die Ausgliederung muss Aspekten der Gerechtigkeit, der Effizienz und der Gemeinwohlverwirklichung entsprechen. Diese Kriterien sind sowohl an der jeweiligen Aufgabe als auch an der Konstruktion der ausgegliederten Organisationseinheit, dem Verfahren der Ausgliederung und der möglichen Pflicht einer staatlichen Ingerenz auf die ausgegliederten Aufgabenträger zu konkretisieren. Auch die öffentlich-rechtlichen Konsequenzen der Ausgliederung - insbesondere Rechtsschutz, finanzielle und demokratische Kontrolle - sind an den drei oben dargelegten Bedeutungen des Subsidiaritätsprinzips zu messen. Wie dies im konkreten durchzu34 Eingehend N. Wimmer, „Service Public" in Österreich. Öffentliche Aufgabenbesorgung im Spannungsfeld zwischen staatlicher Verantwortung und Marktmechanismus, in: Fremuth (Hrsg.), Wirtschaft und öffentliches Interesse (1998), 31 ff.; vgl. ebenso P. Celestine/M. Felsner, Öffentliche Unternehmen, Privatisierung und service public in Frankreich, RIW 1997, 105 ff.; H. Lecheler, Die Versorgung mit Strom und Gas als „service public" und die Bedeutung der „service public-Doktrin" für Art. 90 Abs. 2 EGV, RdE 1996, 212 ff.; Ch. Le Nestour/B.-M. Zinow, Rechtsfragen des „Service Public", RdE 1994, 129 ff. und 170 ff. sowie R J. Tettinger, Vorüberlegungen zu einer „Charte européenne de service public", RdE 1995, 175 ff. 35 Vgl. H. Bauer (FN 27), 259 ff.; G. Kucsko-Stadlmayer (FN 27) 180 f. und 200 f.; B.-Ch. Funk ( FN 31), 18 f.; s. auch VfSlg 14.075/1995, wo der VfGH zur Ausgliederung der ÖBB festgehalten hat, dass einem solchen Vorgang „keine verfassungsrechtlichen Hindernisse" entgegenstehen.

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führen ist, möchte ich an Hand der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion in Österreich kurz erläutern. V. Rechtliche Konkretisierung am Beispiel Österreichs Während die Tiroler und Vorarlberger Landesverfassung das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich verankern (jeweils Art 7) und in Verbindung zu „Selbstverwaltung" und „Selbstorganisation" - aber auch zur freien Persönlichkeitsentfaltung - bringen 3 6 , enthält die Bundesverfassung zur Ausgliederung keine ausdrückliche Regelung, wenngleich auch hier das Subsidiaritätsprinzip i m Zusammenhang mit der Gemeindeautonomie verfassungsrechtlich als Maßstab angeordnet w i r d 3 7 . Lehre und Rechtsprechung haben aber seit einiger Zeit ein System verfassungsrechtlicher Bedingungen und Schranken der Ausgliederung entwickelt, das inhaltlich sehr weitgehend einer Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips entspricht. 1. Die Ausgangslage

Österreich hatte bis i n die 80er Jahre einen für ein westliches Land ungewöhnlich hohen Staatsanteil an der Wirtschaft, der Kultur, dem Sozialbereich und eine stark korporatistisch beeinflusste Sozial- und Wirtschaftsplanung („Paritätische Preis-Lohn-Kommission" u.a.). Dieser starke Staatsanteil war einerseits ein Erbe des monarchischen Absolutismus 3 8 ; andererseits brachte schon die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg 36 Art. 7 Abs. 1 TirLO: „Das Land Tirol hat unter Wahrung des Gemeinwohles die freie Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen zu sichern, die Selbsthilfe der Landesbewohner und den Zusammenhalt aller gesellschaftlichen Gruppen zu fördern und den kleineren Gemeinschaften jene Angelegenheiten zur Besorgung zu überlassen, die i n ihrem ausschließlichen oder überwiegenden Interesse gelegen und geeignet sind, von ihnen mit eigenen Kräften besorgt zu werden." (dazu S. Morscher, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer: Tirol [1991] 42). Art. 7 Abs. 1 VlbgLV: „Das Land hat die Aufgabe, die freie Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen sowie die Gestaltung des Gemeinschaftslebens nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der Solidarität aller gesellschaftlichen Gruppen zu sichern. Selbstverwaltung und Selbsthilfe der Landesbürger sind zu fördern." (dazu P. Pernthaler IG. Lukasser, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer: Vorarlberg [1995], 48 ff., insbesondere 55 ff.). 3? s. die Hinweise in F N 15. 38 So z.B. die staatlichen Monopole (Salz-, Tabak-, Branntwein-, und Glücksspielmonopol) und Regale (z.B. Post- und Telegraphenregal), die nunmehrigen Österreichischen Bundesforste, Bundesmuseen und Bundestheater, die Spanische Hofreitschule u. a. oder im Bereich der Länder die Landes-Hypothekenbanken und die Landes-Versicherungsanstalten; eingehend dazu H. Mayer, Staatsmonopole (1976) und K. Wenger, Öffentliche Unternehmungen, in: ders. (Hrsg.), Grundriss des österreichischen Wirtschaftsrechts I I (1990), 245 ff.; vgl. ebenso ders., Grundriss des österreichischen Wirtschaftsrechts I (1989), 22.

Subsidiaritätsprinzip und Ausgliederung öffentlicher A u f g a b e n 1 9 3

die ersten Sozialisierungen, insbesondere im „roten Wien", die nie mehr rückgängig gemacht wurden. Wie Deutschland erbte auch Österreich aus dem Nationalsozialismus die „Leistende Verwaltung", welche weite Bereiche der Daseinsvorsorge der öffentlichen Hand übertrug 3 9 , aber auch Planungsverwaltungen verschiedener Art, die auch nach der Kriegswirtschaft beibehalten wurden 4 0 . Schließlich verstaatlichte die Republik nach 1945 weite Teile des Bergbaues, der Grundstoffindustrie und fast den gesamten Bankensektor ebenso wie die Elektrizitätswirtschaft 4 1 . Dies geschah teilweise, um ehemals deutsches Eigentum den Alliierten zu entziehen, teilweise aber auch aus einem parteiübergreifenden w i r t schaftspolitischen Konzept der Nationalisierung von wirtschaftlichen Schlüsselpositionen, um politischen Einfluss zu gewinnen. Zu all dem kam noch die ständige Expansion der Staatsaufgaben und der Planungselemente in allen Verwaltungsbereichen, welche eine langjährige sozialdemokratische Alleinregierung aus ideologischen Gründen betrieb. Erst seit der Annäherung Österreichs an die EG und der zunehmenden Finanznot des Staates wuchs das Bewusstsein der „Grenzen des Wachstums" 42 auch in der Politik und brachte die Wende in Richtung Privatisierung und Ausgliederung. Seit dem finanzpolitischen Druck der Konvergenzkriterien der Währungsunion und dem Druck der EU auf Marktöffnung und Wettbewerb kam es auch in Österreich zu immer hektischeren Aktionen der Ausgliederung 43 und einem wachsenden Bewusstsein der verfassungsrechtlichen Probleme, die damit verknüpft sind 4 4 .

39 Vgl. Ρ Pernthaler, Über Begriff und Standort der Leistenden Verwaltung in der österreichischen Rechtsordnung, JB1 1965, 57 ff. m.w.N. 40 Typisches Beispiel dafür sind die Kompetenzdeckungsklauseln in Form von Verfassungsbestimmungen in den einzelnen Wirtschaftslenkungsgesetzen; vgl. dazu die Übersicht bei H. R. Klecatsky/S. Morscher, Bundes-Verfassungsgesetz mit Nebenverfassungsgesetzen 9 (1999), 33 f. (FN 33 zu Art. 10 Abs. 1 Ζ 15 B-VG). 41 Vgl. das Erste Verstaatlichungsgesetz (Bundesgesetz vom 26. Juli 1946 über die Verstaatlichung von Unternehmungen, BGBl 1946/168 i.d.F. BGBl 1987/298) und das Zweite Verstaatlichungsgesetz (Bundesgesetz vom 26. März 1947 über die Verstaatlichung der Elektrizitätswirtschaft, BGBl 1947/81, mittlerweile außer Kraft getreten durch das Bundes Verfassungsgesetz, mit dem die Eigentumsverhältnisse an den Unternehmen der österreichischen Elektrizitätswirtschaft geregelt werden, BGBl I 1998/143). 42 Vgl. P. Pernthaler, Der moderne Staat an den Grenzen des Wachstums, ZÖR 35 (1984), 115 ff. 43 Neben den i n F N 48 genannten Beispielen vgl. dazu die detaillierten Übersichten bei B. Binder, Wirtschaftsrecht 2 (1999), Rz. 0866 ff.; B.-Ch. Funk (FN 32), 60 und G. Kucsko-Stadlmayer (FN 27), 175 ff. 44 Aus dem reichhaltigen Schrifttum vgl. neben der in F N 31 bis 33 zitierten Literatur B.-Ch. Funk (Hrsg.), Die Besorgung öffentlicher Aufgaben durch Privatrechtssubjekte (1981); B. Raschauer, Keine Grenzen für Privatisierungen?, ecolex 1994, 434 ff.; H. Resch, Die Austro Control GmbH, ZfV 1998, 272 ff.; M. Winner, Öffentlich-rechtliche Anforderungen und gesellschaftsrechtliche Probleme bei

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Peter Pernthaler 2. Organisatorische Schranken

Entsprechend der in Österreich vorherrschenden Verwaltungsdogmatik waren es zunächst die auffälligen organisatorischen Folgen der Ausgliederung, welche ihre kritische Verfassungsprüfung veranlassten. Wenn die Bundesverfassung normiert, dass die (gesamte) Verwaltung „unter der Leitung der obersten Organe des Bundes und der Länder zu führen" sei (Art 20 B-VG) und dass die „Geschäfte der Bundesverwaltung" durch die Bundesministerien und die ihnen „unterstellten Ämter" zu führen seien (Art 77 B-VG - für die Länder gilt Ähnliches), so scheint Ausgliederung damit zunächst völlig unvereinbar. Zieht man nicht die kurzschlüssige Konsequenz, dass diese Bestimmung von vorneherein nur auf die Staatsverwaltung anwendbar sei, so bleibt nur die Auslegung, dass damit ein institutionelles Grundgefüge der Verwaltung verfassungsrechtlich vorgegeben sei, dass aber die Organisationsgewalt des Bundes und der Länder davon punktuelle und begrenzte Ausnahmen schaffen kann, wenn dies aus anderen verfassungsrechtlichen Erwägungen gerechtfertigt erscheint 45 . Ein abschließendes starres System derartiger Rechtfertigungsgründe für Ausgliederung kann es nicht geben, weil die Formen und Anlassfälle zu vielfältig sind. Lehre und Verfassungsrechtsprechung haben ursprünglich eher auf historisch vorgefundene Ausnahmen - wie die Selbstverwaltung oder Beleihung, aber auch traditionelle Formen der wirtschaftlichen Ausgliederung - abgestellt 46 . Seit den Kaskaden neuartiger Ausgliederungen in den 90er Jahren hat man aber ein bewegliches System an Beurteilungsmaßstäben entwickelt, die an die jeweiligen Sonderformen der Ausgliederung angelegt werden, um eine Verfassungsprüfung durchzuführen. Es sind i m Wesentlichen drei Kriterien, welche dabei geprüft werden 4 7 : Ausgliederungen, ZfV 1998, 104 ff. sowie jüngst K. Korinek, Staatsrechtliche Bedingungen und Grenzen der Ausgliederung und Beleihung, ÖZW 2000, 46 ff. 45 Vgl. B.-Ch. Funk (FN 31), 18 ff.; K. Korinek (FN 44), 49 ff. sowie H. P. Rill (FN 33), 751 ff. 46 Vgl. m. w.N. B. Raschauer (FN 44), 434 f.; H. P. Rill (FN 33), 751 f. sowie E. Puck, Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch juristische Personen des Privatrechts, die von der öffentlichen Hand beherrscht werden, in: Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Privatrechtssubjekte, Schriftenreihe der Bundeswirtschaftskammer, Bd. 22 (1974), 9 ff. (34 ff.); neben den Hinweisen auf Literatur und Judikatur zur Selbstverwaltung in F N 7 s. auch W. Antonioiii/F. Ko ja, Allgemeines Verwaltungsrecht 3 (1996), 399 ff.; B.-Ch. Funk (Hrsg.) (FN 44); F. Koja, Die Erfüllung hoheitlicher Verwaltungsaufgaben durch Private, in: Ermacora et al. (Hrsg.), FS Antonioiii (1979) 439 ff.; H. Schäffer, Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private - Beleihung und Inpflichtnahme, in: Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Privatrechtssubjekte, Schriftenreihe der Bundeswirtschaftskammer, Bd. 22 (1974), 58 ff.; aus der Rechtsprechung vgl. VfSlg 1455/1932; 3685/ 1960; 6570/1071; 8457/1978; 10.213/1984; 11.369/1987 sowie 14.473/1996.

Subsidiaritätsprinzip und Ausgliederung öffentlicher A u f g a b e n 1 9 5

(a)Sind es „vereinzelte Aufgabend.h. begrenzte Teilbereiche waltungszweiges, die ausgegliedert werden?

eines Ver-

(b) Betrifft die Ausgliederung Randaufgaben oder „Kernbereiche der staatlichen Verwaltung"? Bis jetzt ist noch nicht abgeklärt, welche Bereiche außer der Landesverteidigung, der Sicherheitsverwaltung und der Verwaltungs-Strafgewalt dazu gehören und ob in diesen Bereichen eine Ausgliederung überhaupt für zulässig erachtet wird. (c) Ist durch die Ausgliederung noch jenes Minimum an „ Unterstellung unter ein oberstes Organ" gewährleistet, das dessen parlamentarische und staatsrechtliche Verantwortlichkeit für die ausgegliederte Aufgabenerfüllung grundsätzlich noch ermöglicht? Nach diesen Kriterien haben Lehre und Verfassungsrechtsprechung bis jetzt eine Reihe von Ausgliederungen eingehend geprüft 4 8 und dem Ausgliederungs-Gesetzgeber dadurch verfassungsrechtliche Organisationselemente vorgegeben, die in verblüffender Weise konkretisierten Maßstäben des Subsidiaritätsprinzips entsprechen.

3. Inhaltliche Maßstäbe

Schon im Zusammenhang mit der Judikatur zur (verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen) personalen Selbstverwaltung hat der Verfassungsgerichtshof Argumente einer inhaltlichen Verfassungskontrolle entwickelt, die er auch bei der Ausgliederung anwandte und erweiterte: Die Selbstverwaltung muss danach dem aus dem Gleichheitsgrundsatz abgeleiteten Sachlichkeitsgebot entsprechen und in ihrem Wirkungsbereich auf Aufgaben beschränkt sein, die im Interesse der i n der Selbstverwaltung zusammengeschlossenen Personen gelegen sind 4 9 . Dies kann bei der Ausgliederung nicht schlechthin geboten sein, wohl aber muss ein besonderer Sachgrund für Ausgliederung sprechen und dabei das i n der Verfassung verankerte „Effizienzgebot" (Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit) 50 beachtet werden 5 1 . Danach w i r d sowohl der Auf47 Grundlegend VfSlg 14.473/1996 (Austro Control ); aus der Literatur vgl. B.-Ch. Funk (FN 31), 19 ff.; ders. (FN 32), 60 f.; K. Korinek (FN 44), 51 ff.; G.Kucsko-Stadlmayer (FN 27), 181 f.; H.P. Rill (FN 33), 754. 48 Hier seien nur einige Beispiele genannt: Schönbrunner Tiergarten-Gesellschaft mbH (BGBl 1991/420), Osterreichische Bundesbahnen (BGBl 1992/825), Austro Control GmbH (BGBl 1993/898), Post und Telekom Austria AG (BGBl 1995/95), Bundes-Wertpapieraufsicht (BGBl 1996/753). 49 s. die Hinweise in F N 7. so Verankert i n Art. 51a Abs. 1, Art. 126b Abs. 5, Art. 127 Abs. 1 und Art. 127a Abs. 1 B-VG; zum verfassungsrechtlichen Effizienzgebot vgl. L. K. Adamovich/ B.-Ch. Funk/G. Holzinger,; Österreichisches Staatsrecht, Bd. 2: Staatliche Organisation (1998), Rz. 27.108 ff. sowie eingehend K. Korinek/M. Holoubek, Grundlagen staatlicher Privatwirtschaftsverwaltung (1993), 173 ff.

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gabenbereich als auch die spezielle Organisationsform der Ausgliederung zu überprüfen sein, wobei das beliebte Argument der Ineffizienz der Staatsverwaltung als allgemeingültiger Ausgliederungsgrund wohl kaum tauglich sein dürfte. Schranken der Ausgliederung ergeben sich unter Umständen auch aus Grundrechten der von der Ausgliederung betroffenen Bediensteten, die auf Grund der Judikatur einen verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz ihrer bisherigen dienstrechtlichen Stellung genießen 5 2 . Ähnliches dürfte auch für den Vertrauensschutz der von der Ausgliederung betroffenen Benützer oder Leistungsempfänger gelten. 4. Ingerenzbefugnisse des Staates

Verfassungsrechtsprechung und Lehre halten daran fest, dass dem Staat auch bei Ausgliederung öffentlicher Aufgaben nicht nur sachangemessene Aufsichts- und Leitungsbefugnisse vorbehalten bleiben müssen, sondern auch bestimmte Wirkungsbereiche hinsichtlich dieser übertragenen Aufgaben 53 . Dazu gehören die schon erwähnten Verwaltungsstrafbefugnisse, vor allem aber der Rechtsschutz im Allgemeinen und der Grundrechtsschutz im Besonderen gegenüber ausgegliederter Aufgabenerfüllung. Mögliche soziale Vorgaben, Vorhalteverpflichtungen öffentlicher Leistungen, Versorgungsansprüche und Bezugsmodalitäten der „Daseinsvorsorge" müssen vom Staat vorgegeben werden, wenn dies nach Art der ausgegliederten öffentlichen Aufgabe erforderlich erscheint. Auch Marktordnungseingriffe können aus verschiedensten Gründen notwendig sein und müssen gleichfalls dem Staat vorbehalten bleiben. Werden öffentliche Mittel beansprucht oder staatliche Vermögensteile vorbehalten, bleibt auch die Rechnungshofkontrolle insoweit aufrecht 5 4 , 51 VfSlg 14.473/1996; bestätigend jüngst VfGH 2.3.2000, Β 1383/98; aus der L i teratur vgl. K. Korinek (FN 44), 48 f.; H.-P. Rill (FN 33), 754 f.; B.-Ch. Funk (FN 31), 28; G. Kucsko-Stadlmayer (FN 27), 181 f. und 190; kritisch zum Effizienzgebot als Maßstab für Ausgliederungen B.-Ch. Funk (FN 32), 61. 52 Vgl. VfSlg 14.075/1995, wo der VfGH i m Zusammenhang mit der Ausgliederung der ÖBB festgestellt hat, dass eine Ausgliederung eine Grundrechtsverletzung bewirken kann, wenn „auch die bloße Haftung" des Bundes für dienstrechtliche Ansprüche zum neuen (privaten) Dienstgeber ausgeschlossen wird und somit für deren Durchsetzung kein „praktisch unbegrenzter Deckungsfonds" des Bundes mehr besteht; näher dazu B.-Ch. Funk (FN 31), 23 f. und G. Kucsko-Stadlmayer (FN 27), 196 ff. 53 Dazu und zum Folgenden vgl. insbesondere H. Bauer (FN 27), 268 ff. und 277 ff.; J. Hengstschläger (FN 27), 184 ff. und 188 ff.; M. Holoubek (FN 31) passim; s. ebenso die Hinweise in F N 47; aus der Rechtsprechung vgl. neben VfSlg 14.473/ 1996 die in F N 46 am Ende zitierte Judikatur. 54 Art. 126b Abs. 2, 127 Abs. 3 und 127 a Abs. 3 B-VG; eingehend dazu J. Hengstschläger, Die Kontrolle des Rechnungshofes über öffentliche Unternehmungen, in: Korinek (Hrsg.), Die Kontrolle wirtschaftlicher Unternehmungen durch den Rechnungshof (1986) 1 ff. sowie K. Korinek, Kontrollprobleme, in: Funk (Hrsg.), Die Besorgung öffentlicher Aufgaben durch Privatrechtssubjekte (1981) 101

Subsidiaritätsprinzip und Ausgliederung öffentlicher A u f g a b e n 1 9 7

die im Übrigen durch die Ausgliederung ebenso erlischt wie die Budgethoheit der Bundes- und Landesparlamente. Nur die Selbstverwaltung bietet - wegen der verfassungsrechtlich gebotenen Binnendemokratisierung 55 - hierfür einen gewissen Ausgleich an demokratischer Legitimation, während alle anderen Formen der Ausgliederung (und insbesondere der Privatisierung) einen einseitigen Prozess der Reduktion und Marginalisierung der Staatsdemokratie - trotz der dargestellten verfassungsrechtlichen Kautelen - nicht ganz verhindern können. Ich möchte daher abschließend noch auf dieses Problem kurz eingehen.

VI. Schluss Die letzten Abschnitte haben klargemacht, dass die Verfassung eine Ausgliederung öffentlicher Aufgaben nicht als einseitigen Prozess der Verselbständigung und Entstaatlichung zulässt, sondern ihre Einbindung in ein staatsübergreifendes System der öffentlichen Aufgabenerfüllung nach dem Grundmuster des „integralen Föderalismus" und damit eines sachbezogen konkretisierten Subsidiaritätsprinzips voraussetzt 56 . Um dieses verfassungsrechtliche Einbindungsgebot in den einzelnen Bereichen der Ausgliederung (Privatisierung) wirksam werden zu lassen, bedarf es aber vielfach neuer Mechanismen der Koordination und Integration, des Rechtsschutzes und der Kontrolle. Diese Mechanismen müssen durchaus nicht hierarchischen Charakter tragen oder zentrale Planung und Steuerung wie bei Zentralverwaltungswirtschaft und Planifikation mit sich bringen. Selbst die klassische „Staatsaufsicht" ist nicht überall erforderlich, wenn marktkonform Steuerungs- und Selbstkontrollsysteme nach dem Modell des Ökoaudit 5 7 oder der Überwachungsvereine und Normierungsinstitute denselben Effekt haben. Man w i r d (131 ff.); vgl. ebenso B.-Ch. Funk (FN 31) 26; M. Holoubek (FN 31), 42; T. Öhlinger (FN 20), Rz. 332; aus der Judikatur vgl. z.B. VfSlg 13.346/1993; 13.798/1994 und 14.096/1995. 55 Vgl. VfSlg 8215/1977; 8644/1979; 10.306/1984; eingehend H. Stolzlechner (FN 7) 379 ff. 56 Vgl. R Pernthaler, Föderalismus - Bundesstaat - Europäische Union - 25 Grundsätze (2000), 79 f. 57 „ Ökoaudit" ist eine private ökologische Selbstkontrolle der Unternehmen, die staatlich angeordnet oder subventioniert werden kann. Rechtsgrundlage ist die sog Öko-Audit-Verordnung (VO Nr. 1836/93/EWG [Rat] v. 29. Juni 1993 über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung, A B l 1993 Nr. L 168/1); dazu M. Kind, Umwelt-Audit - ein Beitrag zur ökologischen Kontrolle i n Unternehmen?, RdU 1995, 14 ff.; E. Schäfer, Öko-Audit (1995); Ch. Schmelz, Öko-Audit - ein neuer Ansatz im Umweltrecht?, ÖZW 1996, 65 ff. sowie M. Kind, Umfassender Umweltschutz und Europarecht, ÖJZ 1997, 41 ff. (46 f.); aus der umfangreichen deutschen Literatur vgl. K. Fichter (Hrsg.), Die EG-Öko-Audit-Verordnung (1995); L. Schimmelpfeng (Hrsg.), Öko-Audit: Umweltmanagement und Umweltbe-

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sich im Bereich der Ausgliederung (Privatisierung) daran gewöhnen müssen, dass der Staat sich immer mehr auf eine Art „Supervision " und „Kontextsteuerung" unabhängiger Systeme zurückzieht 5 8 . Ohne derartige sachbezogene Integrations- und Koordinationsverfahren hat aber die Autonomie i n der Erfüllung öffentlicher Aufgaben keine angemessene Funktion. Dies frühzeitig erkannt zu haben, ist das eigentliche Verdienst der Lehre vom Subsidiaritätsprinzip.

triebsprüfung nach der EG-Verordnung 1836/93 (1995) sowie J. Ensthaler et al. (Hrsg.), Umweltauditgesetz - EG-Öko-Audit-Verordnung (1996). 58 Dazu H. Willke (FN 1).

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 199 - 212 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBSIDIARITÄT ALS VERFASSUNGSRECHTLICHES AUSLEGUNGSPRINZIP Von Thomas Würtenberger, Freiburg i. Br. Durch Art. 23 Abs. 1 S. 1 n.F. GG, eingeführt durch Verfassungsänderung vom 21.12.19 92 wurde der Grundsatz der Subsidiarität zu einem Prinzip des deutschen Verfassungsrechts. Hiernach w i r k t die Bundesrepublik Deutschland an der Verwirklichung eines vereinten Europas mit, das sich nicht nur den überkommenen Staatsstrukturprinzipien des Grundgesetzes, sondern auch dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet weiß. Grundgedanke des Subsidiaritätsprinzips ist, von der übergeordneten politischen Einheit nur jene Aufgaben erfüllen zu lassen, die von der nachgeordneten nicht oder schlecht erfüllt werden können. Dieser nach Europa wirkenden Staatszielbestimmung entsprechen die Regelungen des Unions Vertrages, der die Fortentwicklung der Europäischen Union ebenfalls am Prinzip der Subsidiarität 2 orientiert 3 . Wenn auch das Grundgesetz für den innerstaatlichen Bereich das Subsidiaritätsprinzip nicht als Verfassungsprinzip nennt, so decken doch einige Regelungen des Grundgesetzes Teilbereiche des Subsidiaritätsprinzips ab. So findet man in den liberalen Freiheitsrechten des Grundgesetzes mit dem Vorrang privater Autonomie 4 vor staatlicher Reglementierung 5 ebenso wie in dem besonderen Schutz von Ehe und Familie 6 ι BGBl. 1992 I, S. 2086. Zu den Schwierigkeiten bei der Interpretation des europarechtlichen Subsidiaritätsprinzips: Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 516 ff.; Pechstein/ Koenig, Die Europäische Union, 2. Aufl. 1998, Rn. 161; Stein, Subsidiarität als Rechtsprinzip?, in: Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 1993, S. 23 ff.; Cornu, Compétences culturelles en Europe et principe de Subsidiarité, 1993, S. 117 ff.; Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 345 ff., 393 ff. 3 Zum deutschen Beitrag zur Formulierung des europarechtlichen Subsidiaritätsprinzips: Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip. Strukturprinzip einer europäischen Union, 1993, S. 12 ff., 43 ff.; Hrbek, Das Subsidiaritätsprinzip i n der EU, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus, 2000, S. 510 ff. m.Nw. 4 Lecheler (FN 3), S. 33 ff. m.Nw. 5 Hier dient das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Prinzip der Grundrechtsinterpretation dazu, dass grundrechtlicher Freiheit vor staatlichem Eingriff Vorrang gebührt, soweit nicht schwerer wiegende öffentliche Belange, insbesondere aber der Schutz Dritter, den Eingriff wiederum zu rechtfertigen vermögen. Derartige Abwägungen finden nicht erst „unter dem Grundgesetz" statt, sondern sind Ge2

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oder in der Verbürgung der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit mit ihrem Vorrang der kleineren Gemeinschaft Ausprägungen des Subsidiaritätsprinzips. Gleichfalls sieht man in der Garantie der Selbstverwaltung von Gemeinden und Gemeindeverbänden, i n der bundesstaatlichen Ordnung oder in dem neu gefassten Artikel 72 Abs. 2 GG staatsorganisationsrechtliche Konkretisierungen des Subsidiaritätsprinzips 7 . Ob und inwieweit das Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsprinzip begründet werden kann 8 , soll allerdings nicht nochmals vertieft werden. Hier interessiert eine andere Fragestellung: Lassen sich Kriterien entwickeln, die als „Subprinzipien" oder als Argumentationstopoi der Konkretisierung des in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG genannten Subsidiaritätsprinzips dienen können 9 ? Gibt es zudem einen Kanon von „Subkriterien" oder Auslegungstopoi, die sich bei der Interpretation jener Verfassungsbestimmungen heranziehen lassen, die i n Teilbereichen dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet sind? Die Beantwortung dieser Fragen erfordert in einem ersten Abschnitt zunächst einen Blick auf die Methoden der Auslegung und Konkretisierung des Grundgesetzes. Die im Verfassungsrecht gebotene Abwägung fordert ein Aufgreifen und Gewichten von Gesichtspunkten, die i n unserem Zusammenhang dem Subsidiaritätsprinzip entnommen werden können. In einem zweiten Abschnitt w i r d das Subsidiaritätsprinzip zu operationalisieren versucht. Dabei werden jene für die Beurteilung des Staatsorganisationsrechts und der Aufgabenverteilung relevanten Gesichtspunkte entwickelt, die sich mit dem Subsidiaritätsprinzip verbinden lassen. Zugleich w i r d gefragt, ob diese Gesichtspunkte ihrerseits eine verfassungsrechtliche Grundlage haben. Ein dritter abschließender Abschnitt versucht, das operationalisierte Subsidiaritätsprinzip für die Verfassungsauslegung fruchtbar zu machen 10 . Zielsetzung ist hier insbemeingut der sich seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbildenden Lehre des grundrechtlichen Schutzes von Eigentum und Freiheit (vgl. Würtenberger, Der Schutz von Eigentum und Freiheit im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Gose/ Würtenberger (Hrsg.), Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen A l l gemeinen Landrechts, 1999, S. 55, 60 ff. m.Nw.). 6 BVerfGE 10, 60, 83. 7 Würtenberger, The Principle of Subsidiarity as a Constitutional Principle, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Bd. 7, 1994, S. 65 ff. m.Nw.; zu den Verbindungslinien von Föderalismus und Subsidiarität: Lecheler (FN 3), S. 39 ff. m.Nw. 8 Hierzu Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968; Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, in: ders. (FN 2), S. 77, 89 ff. 9 Vgl. Sommermann, Staatsziel „Europäische Union", DÖV 1994, 596, 601 zur Erhöhung der Kontrolldichte durch Entwicklung von Subprinzipien, über die Konsens herrscht. 10 Zum Ansatz, das Subsidiaritätsprinzip als verfassungsrechtlichen Argumentationenrahmen zu begreifen, erstmals Oppermann, Subsidiarität als Bestandteil des Grundgesetzes, JuS 1996, 569, 570.

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sondere, den verfassungsrechtlichen Auslegungs- und Abwägungsdiskurs transparent zu machen.

I. Abwägung als unverzichtbares Element der Verfassungsauslegung und Verfassungskonkretisierung Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, dass eine Abwägung 1 1 bei der Bestimmung von Grundrechtsschranken sowie bei der Auflösung von Kollisionen zwischen verfassungsrechtlich geschützten Gütern und zwischen Verfassungsprinzipien ein unverzichtbares Element der Verfassungsauslegung und Verfassungskonkretisierung ist. Dabei wird nicht übersehen, dass die Abwägungs-Dogmatik ernst zu nehmenden Einwänden ausgesetzt i s t 1 2 . Bei aller K r i t i k an der Methode lässt sich jedoch realistischerweise davon ausgehen, dass ein abwägendes Argumentieren der Praxis des Bundesverfassungsgerichts bei der Auslegung und Konkretisierung des Grundgesetzes entspricht 1 3 . Bestandteil einer Abwägung im Verfassungsrecht ist zunächst die Bestimmung der Bedeutung und des Ranges von Grundrechten, von verfassungsrechtlich geschützten Gütern oder von Verfassungsprinzipien, die gegeneinander abzuwägen sind. Dabei lassen sich gewisse Vorrangregeln bilden: Grundrechte oder Verfassungsprinzipien von höherer Gewichtigkeit sind weitergehend als Grundrechte oder Verfassungsprinzipien von geringerer Gewichtigkeit zu verwirklichen. Grundrechte oder Verfassungsprinzipien, auch von höherer Gewichtigkeit, die nur i n ihrem Randbereich betroffen werden, können eher zurücktreten als Grundrechte oder Verfassungsprinzipien, die im Kern betroffen sind. Hier geht es um die Relation von Bedeutung und Betroffenheit. Bei der Abwägung ist die bekannte Je-desto-Formel hilfreich. Je tiefer i n den Schutzbereich eines Grundrechts eingegriffen w i r d oder je weiter die Beachtung eines Verfassungsprinzips zurücktreten muß, desto gewichtiger muß jenes verfassungsrechtliche Rechtsgut sein, dessen Schutz eine solche Beeinträchtigung gebietet 14 .

n Zur Methode der Abwägung: Hubman, Wertung und Abwägung im Recht, 1977; Erbguth u.a. (Hrsg.), Abwägung im Recht, 1996; Leisner, Der Abwägungsstaat. Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit?, 1997. 12 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 72 ff., 206 ff. 13 Zum hier nicht weiter zu vertiefenden diskursiven Bewerten und Abwägen als Merkmalen der Verfassungsauslegung und der Fortbildung des Verfassungsrechts: Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht - realistisch betrachtet, in: FS für Hollerbach, 2001, S. 223, 230 ff. m.Nw. 14 Würtenberger, Rechtliche Optimierungsgebote oder Rahmensetzungen für das Verwaltungshandeln?, W D S t R L 58 (1999), S. 139, 155.

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Das abwägende Argumentieren ist der topischen Methode verpflichtet, die von Theodor Viehweg 1 5 wiederentdeckt wurde und von Horst Ehmke in seinem Staatsrechtslehrerreferat 16 für die Verfassungsauslegung fruchtbar gemacht worden ist. Will man das Gewicht von Grundrechten oder von Verfassungsprinzipien bestimmen, so müssen Gesichtspunkte (Topoi) entwickelt werden, die hilfreich für eine Maßstabsbildung sein können. Wird etwa die Rundfunkordnung am Maßstab des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gemessen, so lassen sich u.a. die Pluralität und Meinungsvielfalt, die Staatsferne oder der Auftrag zur Grundversorgung 17 als Gesichtspunkte aufgreifen, mit denen ein wertendes Urteil darüber abgegeben werden kann, ob den Funktionserfordernissen eines pluralistischen und demokratischen Staates entsprochen wird. Die vorgenannten Argumente lassen sich, sind sie richtig gewählt, als „Unterprinzipien" jenes freiheitlichen Rundfunksystems entwickeln, das die Zielsetzung der institutionellen Garantie des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ist. Aufgabe der Dogmatik ist es dann, die verschiedenen Unterprinzipien in ein System zu integrieren, das einerseits die notwendige Offenheit und Flexibilität aufweist, um auch neuen Fragestellungen gerecht zu werden, andererseits aber die gebotene Stabilität und Berechenbarkeit der Rechtsanwendung verbürgt 1 8 . Auf der Linie einer derartigen Argumentations weise liegt, wenn man fragt: Lassen sich dem Subsidiaritätsprinzip Argumente (Topoi) entnehmen, die bei der abwägenden Verfassungsauslegung und Verfassungskonkretisierung hilfreich sind? Dies anzunehmen liegt daher nahe, weil die mit dem Subsidiaritätsprinzip verbundene Gestaltungsidee ihrerseits, wie eingangs bemerkt, einer Reihe von grundgesetzlichen Regelungen vorausliegt. Insofern würde ein an verfassungsrechtlichen Teilregelungen des Subsidiaritätsprinzips orientierter Kriterienkatalog der allgemeinen Forderung, bei der Auslegung die Einheit der Verfassung zu achten, entgegenkommen. Aber auch soweit Ausprägungen des Subsidiaritätsprinzips keinen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Niederschlag gefunden haben, mag man sie doch als Argumentationstopoi aufgreifen, und bei der abwägenden Lösung von Grundrechtskollisionen oder von widerstreitenden Verfassungsprinzipien heranziehen. Es werden also nicht allein, wie von Oppermann unternommen, aus dem Demokratie-, dem Rechtsstaats-, dem Sozialstaats- und dem Föderalismusprinzip sowie aus Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1953. 16 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963), S. 53 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudr. der 20. Aufl. 1999, Rn. 67. π BVerfGE 73, 118, 158 f.; 83, 238, 296 f.; 97, 228, 257 f. 18 Zu diesem Ansatz vgl. Esser, Grundsatz und Norm, 2. Aufl. 1964; ders., Vorverständnis und Methodenwahl i n der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972.

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dem Grundrechtsschutz Kriterien entnommen, mit denen sich das dem Grundgesetz zugrundeliegende Subsidiaritätsprinzip induktiv erfassen lässt. Es w i r d vielmehr in einem weiter ausholenden Zugriff der allgemeine Bedeutungsgehalt des Subsidiaritätsprinzips entwickelt, um es sodann für die Verfassungsauslegung fruchtbar zu machen. Ein solcher Ansatz ist rechtfertigungsbedürftig. Er ist nicht allein der bereits genannten, freilich sehr umstrittenen topischen Methode der Verfassungsauslegung verpflichtet. Auch der neue Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG fordert eine Konkretisierung und Präzisierung des Subsidiaritätsprinzips. Wenn das Grundgesetz für die Verwirklichung der Europäischen Union die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips einfordert 1 9 , dann muß dieses Prinzip (mit seinen „Subprinzipien") zur Bewirkung einer organisationsrechtlichen Homogenität als Auslegungshilfe dienen, wenn die vom Grundgesetz geregelte föderale und freiheitliche Ordnung zu konkretisieren ist. Insofern kann man mit Oppermann 20 Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als „umgekehrtes Homogenitätsgebot" bezeichnen oder mit Isensee das Subsidiaritätsprinzip als „Selbstbild des Grundgesetzes von seiner inneren Struktur" ansehen. II. Die sich mit dem Subsidiaritätsprinzip verbindenden Gesichtspunkte Mit dem Subsidiaritätsprinzip verbinden sich eine Reihe unterschiedlicher Gesichtspunkte bzw. „Subprinzipien" politischer Gestaltung und rechtlicher Ordnung 2 1 . Auf sechs Aspekte sei besonders hingewiesen: 1. Demokratische Dezentralisation durch Subsidiarität

Subsidiarität fordert eine dezentrale staatliche Organisation. Auf lokaler und regionaler Ebene w i r d das Recht zur demokratisch legitimierten Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung, also zur Selbstregierung, gewährt. Durch solche demokratische Dezentralisation werden ein Höchstmaß an politischer Mitwirkung der betroffenen Bevölkerung und damit auch an Konsens und Akzeptanz für politische Entscheidungen gewährleistet. Die Bürger können sich i n einem für sie überschaubaren Lebensbereich politisch engagieren. Sie können über Wahlen, über Inte19 Der Einwand, der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee habe 1948 bewußt das Subsidiaritätsprinzip nicht zum Verfassungsprinzip erhoben, verfängt daher heute nicht mehr (Oppermann, JuS 1996, 569, 572). 20 Oppermann, JuS 1996, 569, 573. 21 Ähnliche Kriterienkataloge bei Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 117 ff.; zum Folgenden ausführlich: Würtenberger, Auf dem Weg zu lokaler und regionaler Autonomie i n Europa, in: FS für Maurer, 2001, S. 745, 746 ff.

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ressengruppen oder durch Beeinflussung der lokalen öffentlichen Meinung mit eigenem politischen Engagement auf die lokale und regionale politische Gestaltung Einfluß nehmen. Dies maximiert die demokratische Bilanz 2 2 . Damit w i r d deutlich, dass die mit dem Subsidiaritätsprinzip verbundene demokratische Dezentralisation nicht allein Bezüge zur repräsentativen Demokratie aufweist. Demokratische Dezentralisation zielt auch auf Formen der partizipativen Demokratie, die zwar vom Grundgesetz nicht direkt geregelt ist, sich aber doch mit dem Prinzip eines demokratischen Staates verbunden weiß (hierzu III, 3.).

2. Optimierung der Freiheit in einer demokratischen dezentralen Staatsorganisation

Eine am Subsidiaritätsprinzip orientierte demokratische dezentrale Staatsorganisation optimiert nicht allein demokratische politische Teilhabe, sondern auch die Freiheitlichkeit der politischen Ordnung insgesamt 2 3 . Im lokalen und politischen Bereich kann mehrheitlich für bestimmte politische Präferenzen votiert werden. Eine derartige demokratisch legitimierte Präferenzautonomie schafft ein Optimum an lokaler und regionaler Freiheit. Die lokale und regionale Daseinsvorsorge, die entsprechenden Dienstleistungen, die ökonomische Entwicklung u.a.m. gestalten sich nach dem Mehrheitsprinzip und unterliegen der Kontrolle der lokalen und regionalen öffentlichen Meinung, so dass sich die Gestaltung der Lebensbedingungen und des Bereichs persönlicher Entfaltungsfreiheit an den politischen Präferenzen der Mehrheit orientiert 2 4 . In seiner Funktion, grundrechtliche Freiheit zu fördern und zu optimieren, beeinflusst das Subsidiaritätsprinzip maßgeblich die Abwägung zwischen einer Aufgabenerfüllung in staatlicher Hand oder in Selbstkoordination der Gesellschaft: Welche Agenden sich besser durch die Sozialpartner, durch private Wohlfahrtseinrichtungen oder durch Selbstkoordination der Wirtschaft erfüllen lassen als durch staatliche Gestaltung, entscheidet sich in einer Abwägung zwischen der unbestreitbaren, aber auch begrenzten Effektivität staatlicher Aufgabenerfüllung und den Vorzügen autonomer Gestaltung 25 .

22 Hierzu Zippelius, Allgemeine Staatslehre (Politikwissenschaft), 13. Aufl. 1999, § 23 I I I m.Nw. 23 Zum Verhältnis von Freiheit und Mitwirkung an der Erledigung öffentlicher Aufgaben bereits Althusius, Politica methodice digesta, 3. Aufl. 1614, VIII, 4. 24 Zippelius (FN 22), § 39 IV 2. 25 Lecheler (FN 3), S. 65.

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3. Gewaltenteilige Freiheit durch Subsidiarität

Ein am Subsidiaritätsprinzip orientierte Staatsorganisationsrecht verteilt politische Macht auf unterschiedliche politische Ebenen und Institutionen. Hier kann die lokale und regionale Ebene einer Art von Gegengewalt gegen den Zentralstaat darstellen. Bereits bei Montesquieu findet sich der Gedanke, dass die intermediären Gewalten auch der Freiheitssicherung dienen können 2 6 . Kommunale Selbstverwaltung, bundesstaatliche Ordnung und die Verselbständigung von Staatsfunktionen, etwa durch Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts, haben immer auch eine gewaltenteilige und damit rechtsstaatliche Funktion. 4. Sachgerechte Aufgabenerfüllung durch Subsidiarität

Eine am Subsidiaritätsprinzip orientierte Staatsorganisation schafft überschaubare Lebensbereiche und zielt auf eine bürgernahe Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Auf diese Weise können die Sachkunde der Bürger und der gesellschaftlichen Gruppen bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben im lokalen und regionalen Bereich unmittelbar berücksichtigt werden. Nach einer alten Erkenntnis der Entscheidungstheorie sind Entscheidung und Maßnahmen der Verwaltung immer nur so gut, wie die Informationen, die ihnen zugrunde liegen. Die erforderlichen Informationen können im lokalen und regionalen Bereich direkt und umfassend gesammelt werden, um Basis „richtiger" Verwaltungsentscheidungen bzw. politische Entscheidungen zu sein. Eine sachlich richtige Entscheidung ist ein wichtiges Postulat des Rechtsstaates. Die Rechtmäßigkeit staatlicher Entscheidungen hängt ganz wesentlich von ihrer Informationsbasis ab. Gewiß können auch Entscheidungen in weiter räumlicher Distanz von den Entscheidungsbetroffenen so vorbereitet werden, dass die wesentlichen entscheidungsleitenden Gesichtspunkte zum Tragen kommen. Gleichwohl entspricht es verwaltungswissenschaftlicher Erkenntnis, dass die in Kenntnis der örtlichen Verhältnisse und im Diskurs mit der lokalen und regionalen Öffentlichkeit getroffenen Entscheidungen eine bessere Entscheidungsgrundlage als die distanziert getroffenen Entscheidungen haben 2 7 . Subsidiarität trägt damit zur sachlichen Angemessenheit von Verwaltungsentscheidungen und auf diese Weise zur Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips bei.

26 Montesquieu, De l'esprit des lois, 1748, Buch XI, Kap. 6. 27 Würtenberger, Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996, S. 80 und passim.

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Thomas Würtenberger 5. Sicherung kultureller, sprachlicher und ethnischer Vielfalt durch das Subsidiaritätsprinzip

Eine am Subsidiaritätsprinzip orientierte Staatsorganisation ermöglicht die Verwirklichung kultureller, sprachlicher und ethnischer Vielfalt. Der von den Grundrechten geschützte Bereich individueller Selbstverwirklichung w i r d insofern durch das Subsidiaritätsprinzip staatsorganisationsrechtlich mitgeschützt. 6. Wettbewerb durch Subsidiarität

Eine am Subsidiaritätsprinzip orientierte Staatsorganisation führt zu einem ökonomischen und kulturellen Wettbewerb zwischen allen Ebenen des Staates. Dies wiederum kann ein wichtiges Stimulans für die politische und ökonomische Entwicklung insgesamt sein. I n diesem Sinne gibt es zwischen den deutschen Bundesländern einen deutlich ausgeprägten Wettbewerb um die beste Politik. Subsidiarität fördert hier Innovation. Auf lokaler und regionaler Ebene besteht zudem ein wichtiger Anreiz dahin, durch Verbesserung der Infrastruktur und der Lebensbedingungen attraktiv für Industrieansiedlungen, Tourismus etc. zu sein. Gemäß der ökonomischen Theorie des Föderalismus treten die Städte und Regionen miteinander i n Konkurrenz bei ihrer Suche nach einer bestmöglichen ökonomischen Entwicklung. Dies fordert aber auch dazu auf, ein Umfeld zu schaffen, das die Stadt oder Region attraktiv macht, so dass sich mit ökonomischer Konkurrenz zugleich auch kulturelle Konkurrenz und damit kulturelle Vielfalt verbindet 2 8 . Eine solche ökonomische Theorie des Föderalismus bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Finanz verfassungsrecht. Sie kann Argumente für die Beantwortung der Frage liefern, ob finanzielle Transferleistungen aus Gründen regionaler Solidarität und zur Angleichung der Lebensverhältnisse in den armen und reichen Regionen einem Konzept des Wettbewerbsföderalismus entgegenstehen. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist ein Finanzausgleich verfassungsgemäß, der den finanzschwachen Ländern 95 % der durchschnittlichen Länderfinanzkraft zukommen lässt. Dies soll eine „vertretbare Balance zwischen Landesautonomie und bundesstaatlicher Solidargemeinschaft" sein 2 9 . Welche Marge des Ausgleichs dem Gesetzgeber zur Verfügung steht, lässt sich den knappen Worten des Bundesverfassungsgerichts nicht entnehmen. 28 Zur hier nicht zu vertiefenden Theorie des Wettbewerbsföderalismus: Frey, Ein neuer Föderalismus für Europa, 1997; Apolte, Die ökonomische Konstitution eines föderalen Systems, 1999, S. 170 ff.; Sturm, in: Europäisches Zentrum für Föderalismusforschung (Hrsg.), Jahrbuch für Föderalismus, 2000, S. 29, 32. 29 BVerfGE 101, 158, 232.

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Die Relation zwischen Landesautonomie, bundesstaatlicher Solidargemeinschaft und Finanzausgleich ist zumindest erklärungsbedürftig, sollen konkrete Prozentzahlen i n plausibler Weise begründet werden. Würde man z.B. auf den Aspekt des Wettbewerbsföderalismus zurückreifen, so wäre zu fragen: Wie groß sollen trotz Finanzausgleich die Unterschiede i n der Finanzkraft bleiben können, damit ein Stimulans zu w i r t schaftspolitischer Akzentsetzung der Politik besteht? III. Zur Argumentation mit dem Subsidiaritätsprinzip bei der Verfassungslegung Bei der Verfassungsauslegung w i r d vielfach mit dem Subsidiaritätsprinzip argumentiert, ohne die mit ihm verbundenen Argumente zu vertiefen. Im folgenden sollen einige Präzisierungen versucht werden, indem auf die vorstehend skizzierten „Subprinzipien" zurückgegriffen wird. 1. Präzisierung des Subsidiaritätsprinzips in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG

Ein erster Versuch der Präzisierung gilt dem in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG genannten Subsidiaritätsprinzip. Hiernach sollen Aktivitäten auf Gemeinschaftsebene in Anlehnung an Art. 5 Abs. 2 EGV nur zulässig sein, „wenn und soweit die damit verfolgten Ziele von den Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können oder die Zielverfolgung auf Gemeinschaftsebene deutlich leistungsfähiger i s t " 3 0 . Daß diese Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips wenig griffig ist und einen leerformelhaften Charakter hat, ist allgemeine Meinung 3 1 . Es fehlen Kriterien und Argumente dafür, wann Gemeinschaftsziele von den Mitgliedsstaaten nicht erreicht oder wann sie auf Gemeinschaftsebene deutlich leistungsfähiger erreicht werden können. Geht es um die Frage, ob Gemeinschaftsziele von den Mitgliedsstaaten erreicht werden können, lässt sich differenzieren: Soweit einzelne M i t gliedsstaaten durch Kooperation Gemeinschaftsziele erreichen können, ist die Erlaubnis zu der erforderlichen flexiblen Koordination vom Subsidiaritätsprinzip nahegelegt. Derartige Mechanismen sind aus der Theorie und Praxis des asymetrischen Föderalismus bekannt. Ein solches Regelungsmodell w i r d bedacht werden müssen, wenn die Erweiterung der Europäischen Union zur Aufnahme von Staaten führt, die anders als die „alten" Mitgliedsstaaten Gemeinschaftsziele nicht aus

30 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 5. Aufl. 2000, Art. 23 GG Rn. 12. 31 Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 1998, Art. 23 GG Rn. 72: Dem Grundgesetz lassen sich keine Kriterien der Subsidiarität entnehmen.

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eigener Kraft zu erfüllen vermögen 32 (Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten) . Für die Beurteilung der Frage, ob Gemeinschaftsziele auf Gemeinschaftsebene deutlich leistungsfähiger erfüllt werden können, ist auf den ersten Blick allein das Effizienzkriterium entscheidend. In einem eher technokratischen Sinn lassen sich Argumente diskutieren, die eine Prärogative der Europäischen Union für die Erfüllung von Gemeinschaftsaufgaben begründen 33 . Jenseits der technokratischen Effizienz zentralistischer Aufgabenerfüllung spielen aber auch andere Gesichtspunkte bei der erforderlichen Abwägung eine wichtige Rolle: Gerade die bereits genannte Sachkunde im lokalen und regionalen Bereich streitet für eine dezentrale Erfüllung auch von Gemeinschaftsaufgaben. In diesem Sinn ist die im Gemeinschaftsrecht genannte Bürgernähe 34 zugleich auch ein Kriterium für die Kompetenz vert eilung. Davon abgesehen sollte die Beurteilung der Leistungsfähigkeit der supranationalen Aufgabenerfüllung auch von weiteren Kriterien bestimmt werden: Eine supranationale Aufgabenerfüllung ist nicht leistungsfähig, wenn sie das demokratische Potential und die Freiheit in Selbstbestimmung der lokalen und regionalen Ebene zu stark einschnürt. Eine Verschlechterung der demokratischen Bilanz und damit verbunden eine mangelnde Akzeptanz der supranationalen Aufgabenerfüllung sind gewichtige Kriterien der gebotenen Abwägung zwischen der Effizienz der nationalen und der supranationalen Tätigkeit 3 5 . Eine andere höchst umstrittene Frage betrifft die Zielrichtung des Subsidiaritätsprinzips in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG: Betrifft es lediglich das Verhältnis der Europäischen Union zu ihren Mitgliedsstaaten oder schützt es auch die Regionen und Kommunen vor einer subsidiaritätsfeindlichen Politik der Europäischen Union? In der Literatur w i r d wohl überwiegend die Ansicht vertreten: Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist die „ge32 Zu einer derartigen Flexibilisierung der Zusammenarbeit bestimmter M i t gliedsstaaten: Art. 43-45 EUV und Art. 11 EGV; hierzu Oppermann, Europarecht, Rn. 531 ff.; zu der schwer überschaubaren „dritten Ebene" im Gemeinschaftsrecht: Lecheler (FN 3), S. 63; vgl. weiter Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Bonner Grundgesetz, 4. Aufl. 2000, Art. 23 GG Rn. 48 m. F N 212. 33 So jüngst i n Sachen Werbeverbot für Tabakprodukte EuGH EuGRZ 2000, 436 ff.; zur Gefahr einer Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips bei alleiniger Gewichtung der Leistungsfähigkeit der Aufgabenerfüllung: Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 23 GG Rn. 74. 34 Vgl. Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, 11. Aufl. 1999, S. 183. 35 Zur das Subsidiaritätsprinzip konkretisierenden Gesamtabwägung, die die Vertragsziele, die Interessen der Mitgliedstaaten an Wahrung nationaler Identität und der Unionsbürger berücksichtigt: Oppermann, Europarecht, Rn. 519; Grabitz/ Hilf/vonBogdandy/Nettesheim, Kommentar zur Europäischen Union, Art. 3 b EGV, Rn. 34; kritisch: Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, 2000, Art. 5 EGV, Rn. 19 ff.

Subsidiarität als verfassungsrechtliches Auslegungsprinzip

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radezu maßgeschneiderte Übereinstimmung zwischen Maastricht und dem Grundgesetz" 36 , ein daneben „überschießendes deutsches Verfassungsrecht" soll es nicht geben 37 . Diese Argumentation findet in der Entstehungsgeschichte des Art. 23 Abs. 1 G G 3 8 keine Stütze. Hier war deutlich geäußert worden, dass auch der Schutz der kommunalen Selbstverwaltung vom Subsidiaritätsprinzip des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG mitbezweckt war. Davon abgesehen spricht vieles dafür, Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG als „Homogenitätsklausel" nach oben zu verstehen, die von der Europäischen Union Achtung und Förderung der innerstaatlichen Subsidiarität verlangt. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verlangt damit eine Fortentwicklung des am Subsidiaritätsprinzip orientierten gemeineuropäischen Verfassungsrechts, das bereits in der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung und i n dem Projekt der Europäischen Charta der regionalen Selbstverwaltung des Europarates, aber auch in der Politik eines „Europa der Regionen" der Europäischen Union Konturen gewonnen h a t 3 9 . Das Subsidiaritätsprinzip des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist ein zukunftsweisendes und politikgestaltendes Prinzip, das die Entwicklung eines gemeineuropäischen Verfassungsrechts zum Ziel hat, das auf allen Ebenen staatlicher und supranationaler Organisation näher zu bestimmende Bereiche der Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung garantiert 4 0 . Um die Bereiche politischer Gestaltung auf allen diesen Ebenen zu diskutieren und rechtlich zu regeln, lässt sich auf die im zweiten Abschnitt zusammengestellten Legitimationsgründe für eine dezentrale Organisation des Staates zurückgreifen. In diesem Sinn lassen sich dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG bzw. aus dessen Unterprinzipien Kompetenzausübungs- und Kompetenzverteilungsregeln entnehmen 41 . 2. Präzisierungen des Art. 72 Abs. 2 GG durch das Subsidiaritätsprinzip

Ähnlich wie Art. 23 Abs. 1 S. 1 G für das Verhältnis von Europäischen Union zu ihren Mitgliedsstaaten ist Art. 72 Abs. 2 GG eine wenig präzise 36 Oppermann/Claasen, Aus Politik und Zeitgeschichte, 28/1993, S. 11, 17. 37 Hirsch, NJW 1986, 2457; ähnlich Merten, in: ders. (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 1993, S. 77; Badura, Das Staatsziel „europäische Integration" im Grundgesetz, in: FS Schambeck, 1994, S. 887, 889. 38 Hübner, Normative Auswirkungen des Grundsatzes der Subsidiarität gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG auf die Verfassungsposition der Gemeinden, 2000, S. 86 ff., 150 ff. 39 Würtenberger, in: FS für Maurer, 2001, S. 750 ff.; Lecheler (FN 3), S. 87 ff. 40 Ob das Subsidiaritätsprinzip auch die regionale Ebene erfasst, ist freilich streitig; ablehnend Pernice (FN 31), Art. 23 GG Rn. 74; bejahend: Calliess, AöR 121 (1996), 509 ff. 41 Hübner (FN 38), S. 166 ff.; Lecheler (FN 3), S. 96 ff.

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gefasste Kompetenz Verteilungsregel zwischen Bund und Ländern. Hiernach hat der Bund die konkurrierende und die Rahmengesetzgebungskompetenz zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse. Unter welchen Voraussetzungen die Ausübung dieser Kompetenzen „erforderlich" ist, w i r d nur im Ansatz 4 2 diskutiert. Als Grundsatz steht lediglich fest: Aufgabenbewältigung durch Selbstkoordination der Länder oder Ermöglichung ungleicher Lebensverhältnisse zur Wahrung der föderalen Vielfalt schließen die Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus 4 3 . Hier w i r d mit Recht bezweifelt, ob eine solche vage Umschreibung eine verfassungsgerichtliche Überprüfung, wie sie nunmehr i n Art. 93 Abs. 2 Nr. 2a GG vorgesehen ist, ermöglichen kann 4 4 . Bemüht man zur Konkretisierung des Art. 72 Abs. 2 GG die oben genannten Kriterien für eine dezentrale staatliche Organisation, so lassen sich weitere Präzisierungen erhoffen. Ob und inwieweit eine Gesetzgebung des Bundes z.B. zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse i m Bundesgebiet „erforderlich" ist, ist eine Abwägungsfrage, bei deren Lösung Subprinzipien des Subsidiaritätsprinzips eine Rolle spielen. So kann der Erforderlichkeit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse die Ermöglichung ökonomischer und kultureller Konkurrenz zwischen den Bundesländern entgegenstehen. Dies gilt ebenso für die Autonomie der Bundesländer, ihrer landsmannschaftlichen Vielfalt entsprechend regionale Vielfalt zu ermöglichen. Beurteilt man die Erforderlichkeit auch an Kriterien wie Optimierung der demokratischen Bilanz oder von Freiheit in Selbstbestimmung, so verlagert sich die Argumentationslast für die Inanspruchnahme der Gesetzgebungskompetenzen auf den Bund 4 5 . 3. Von der repräsentativen zur partizipativen Demokratie

Das Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG steht i n systematischem Zusammenhang mit den Regelungen der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie. Ob dem Demokratieprinzip 42 Zu den gegenläufigen Positionen „Prüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit" oder „Prüfung am Maßstab der Subsidiarität": Oeter, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 72 Abs. 2 GG, Rn. 89 m.Nw., wobei kritisch bemerkt wird, dass bislang keine Wertungsgesichtspunkte entwickelt worden sind, die diese Prüfungsmaßstäbe inhaltlich anreichern und der Präzisierung des Normtextes dienen können. 43 Pieroth, in: Jarass/Pieroth (FN 30), Art. 72 GG Rn. 9 ff. m.Nw. 44 Pieroth, in: Jarass/Pieroth (FN 30), Art. 72 GG Rn. 11 m.Nw. 45 Stettner, in: Dreier (FN 31), Art. 72 GG Rn. 17.

Subsidiarität als verfassungsrechtliches Auslegungsprinzip

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des Grundgesetzes zudem eine am Subsidiaritätsprinzip orientierte partizipative Demokratie zugrundegelegt werden kann, ist äußerst umstritten. Die Trennung von repräsentativer und partizipatorischer Demokratie wird von Schmidt-Aßmann deutlich formuliert: „Selbstverwaltung und Demokratie haben im Grundgesetz zwar gemeinsame ideelle Wurzeln; sie lassen sich aber in ihren dogmatischen Ausformungen nicht ineinssetzen. Das mitgliedschaftlich-partizipatorische Element w i r d folglich zu einer neben die Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG tretenden Form autonomer Legitimation" 4 6 . Diese duale Konzeption der Demokratie knüpft zum einen an die demokratische Legitimation durch das Volk, zum anderen an die demokratische Legitimation in Selbstverwaltungskörperschaften, wie etwa Gemeinden oder berufsständische Organisationen, oder durch Partizipationsverfahren an. Dem sei die These entgegengesetzt, dass repräsentative und partizipative Demokratie zwei Varianten des i n Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG geregelten Demokratieprinzips sind. Ein Staat, i n dem es lediglich repräsentative Demokratie gibt, aber keine Formen demokratischer Entscheidung und Partizipation in den unteren Ebenen des Staatsaufbaus würde nicht nur in einem soziologischen, sondern auch i n einem staatsrechtlichen Sinn an einem Demokratiedefizit leiden. So w i r d denn auch nicht nur für die politischen Partein von der Verfassung gefordert, sondern auch für die anderen sozial mächtigen gesellschaftlichen Gruppierungen begründet, ihre Organisation müsse sich an einem Minimum demokratischer Organisation orientieren 47 . Im Bereich von Art. 5 Abs. 3 GG und überall dort, wo das Grundgesetz körperschaftliche Organisation vorsieht oder zulässt, sind i m Sinne einer Demokratie von unten Repräsentations- und Kontrollverfahren vorgesehen 48 . So schöpft denn auch, um ein Beispiel zu nennen, die Deutsche Forschungsgemeinschaft ihre Legitimation bei der Verteilung der staatlichen Förderungsmittel aus einem Wahlverfahren der beteiligten Wissenschaften und Wissenschaftler 49 .

46 Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 88. 47 Zippelius (FN 22), § 26 VI, 3; Schelter, Demokratisierung der Verbände?, 1976; Teubner, Organisationsdemokratie und Verbands Verfassung, 1978. 48 Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 1998, Art. 20 GG Rn. 86, 120 ff. zur funktionalen Selbstverwaltung und autonomen Legitimation; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2000, §23 Rn. 40 zur verbandsinternen Demokratie. 49 Allgemein zur Repräsentationsfunktion und zur „binnendemokratischen" Struktur der DFG: Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 670 ff.

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Greift man auf die Argumente für eine am Subsidiaritätsprinzip orientierte Staatsorganisation zurück, so erscheinen repräsentative und partizipative Demokratie nicht als duale Ordnungen, sondern eher als die jeweiligen Endpunkte eines gestuften Systems demokratischer staatlicher Gestaltung. Dafür streitet insbesondere die enge Verbindung von Demokratie mit Selbstbestimmung in Freiheit. Ebenso wie die repräsentative Demokratie ermöglicht auch die partizipative Demokratie jeweils ein Optimum an Selbstbestimmung und damit an politischer Freiheit. Derartige Konzeptionen bleiben nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung von Verwaltungsverfahren und auf deren verwaltungsgerichtliche Überprüfung. Soweit sich in Verwaltungsverfahren ein Höchstmaß an partizipativem Diskurs und Akzeptanz entfalten konnte, mag die Entscheidung Ausdruck lokaler oder regionaler Autonomie sein. Diese Verwirklichung einer am Subsidiaritätsprinzip orientierten Staatsorganisation und politisch-rechtlichen Gestaltung sollte die verwaltungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeiten deutlich begrenzen 50 . IV. Zusammenfassung Um zusammenzufassen: Das Subsidiaritätsprinzip ist nicht lediglich ein Prinzip, das im Grundgesetz genannt und in verschiedenen Verfassungsbereichen Teilregelungen gefunden hat. Es lässt sich durch Teilund Unterprinzipien operationalisieren, die für die Verfassungsauslegung fruchtbar gemacht werden können. Für die Anwendung von Subprinzipien des Subsidiaritätsprinzips auf die Auslegung des Staatsorganisationsrechts sprechen unterschiedliche Argumente, die ihrerseits im Demokratieprinzip, im Rechtsstaatsprinzip und im Föderalismusprinzip wurzeln. Auf diese Argumente lässt sich zurückgreifen, um das Verständnis von Staatsstrukturbestimmungen des Grundgesetzes zu vertiefen und Zweifelsfragen bei der Auslegung verfassungsrechtlicher Begriffe zu klären.

so Zur weiteren Begründung vgl. Würtenberger, 168 ff.

in: W D S t R L 58 (1999), S. 133,

IV. Geschichtlich-gesellschaftliche, regionale und kommunale Praxis der Subsidiarität

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 215 - 235 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

DIE „CONSOCIATIO" BEI JOHANNES ALTHUSIUS ALS VERARBEITUNG KOMMUNALER ERFAHRUNG* Von Peter Blickle, Bern Der Historiker ist zufrieden, wenn er aus den verschiedenen Handlungs- und Sprachebenen unterschiedlicher Personen und gesellschaftlicher Gruppen den Charakter von Epochen einigermaßen plausibel herausarbeiten kann. Die Relevanz für die Gegenwart auszumachen, bleibt ein zwar immer spannendes Unternehmen, ist aber keineswegs ein geschichtstheoretisch unabdingbares Erfordernis. Das ist für die Politologie, die Philosophie und die Jurisprudenz anders. Wenn ich die Arbeiten, die aus dem Kreis der Johannes-Althusius-Gesellschaft herausgewachsen sind, richtig verstanden habe, geht es in der Auseinandersetzung mit Politiktheorien der Vergangenheit immer auch darum, ihr kreatives Potential für die Gegenwart und die Lösung aktueller politischer Probleme zu ermitteln. Als Historiker bescheide ich mich damit, ein Strukturelement des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ans Licht zu heben, von dem ich glaube, dass es durch Johannes Althusius seine theoretische Durcharbeitung erfahren hat. Ob sich daraus Weiterungen für die Aktualisierbarkeit von Althusius' Theorie ergeben, w i l l ich nicht entscheiden, vielmehr jene entscheiden lassen, die das zum Geschäft ihrer Disziplin rechnen. Das Thema und die in ihm eingeschlossene These sollen so abgehandelt werden, dass ich durch Einzelbeispiele und deren Verallgemeinerung zuerst erläutere, was unter „kommunal" zu verstehen ist (I.). Davon getrennt skizziere ich, i n repetierender Absicht, die Consociatio in Althusius' Politica i n ihrer theoretischen Grundform und ihren verschiedenen Konkretisierungen (II.). Zuletzt sollen die Ergebnisse beider Teile verknüpft werden mit dem Ziel, gleichermaßen Althusius als Theoretiker einer geschichtlichen Wirklichkeit zu würdigen und seine Theorie als Bestätigung für eine angemessen rekonstruierte geschichtliche Wirklichkeit zu lesen (III.).

* Öffentlicher Vortrag gehalten in Emden am 3. November 2000. Die Vortragsform wurde beibehalten, der Text mit Belegen ausgestattet.

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Peter Blickle I.

A m 31. Mai 15491 erließen „amann, gericht und ganze gemaind" in Ingenried, einem Dorf im Allgäu, das zur Herrschaft des Klosters Irsee gehörte, folgende „Ordnung und sazung". Der Bader soll jährlich durch die „ganze gemaind zu Ingenried" bestellt werden 2 . Zu seinen Aufgaben gehört es, jeden Samstag das Bad und alle vier Wochen ein „Kopf bad" zu bereiten, die Badstube ordentlich i n Stand zu halten und sie wöchentlich zu reinigen. Sollten „presthaft leut", also Kranke, das Bad besuchen wollen, muss er „aman und Vierern" Bericht erstatten, die zu entscheiden haben, ob den Kranken der Zutritt zur Badstube gestattet werden kann. Entlohnt w i r d der Bader in der Weise, dass ihm jeder Bauer und jeder Seidner (Inhaber eines Gewerbebetriebs mit kleiner Landwirtschaft) jährlich einen Metzen Roggen und einen Metzen Hafer liefert. Darüber hinaus ist ihm jeder Bauer vier „Fahrten" schuldig, offenbar handelt es sich um das Anfahren von Holz, das von den Seidnern gescheitet wird, was jeden einen Arbeitstag kostet. Das Holz selbst stellt „die gemaind". Zu den Naturalleistungen kommt ein „hochzeyt gelt" von je einem Kreuzer hinzu, das ihm „yeder man" im Dorf an den hohen kirchlichen Festen, an Weihnachten, Ostern und Pfingsten auszufertigen hat. Knechte und „Ehalten" zahlen für jede Benutzung des Bades 3 eine unterschiedlich hohe Geldsumme. Der Bader ist weiter verpflichtet, warmes Wasser in einem Kessel, „so ain gmaind kaufft hat", bereitzuhalten und ihn ordentlich zu versorgen. Als Gegenleistung gibt ihm „ain gemaind ain bletzen", gemeint ist ein Stück Wiese, die etwa ein Fuder Heu abwirft. Die Satzung w i r d ausgefertigt wie eine Urkunde. „Zuwissen und khund sey allermenigklich mit disem offen zedel", lautet der erste Satz. Vom Kloster Ingenried oder von sonst einer Obrigkeit oder Herrschaft ist nirgends die Rede. Was macht die Gemeinde Ingenried aus? Es gibt eine Gemeindeversammlung, die jährlich zusammentritt, um den Bader zu bestellen, zu deren Rechten es aber auch gehört, Satzungen wie die vorliegende zu erlassen. Wer die Gemeindeversammlung besucht, w i r d nicht gesagt, aber es sind vermutlich nur die „Bauern" und die „Seidner", die sich dadurch unterscheiden, dass erstere Zugvieh haben, letztere nicht. Von ihnen

1 Quelle nach Staatsarchiv Augsburg, Klosterliteralien Irsee 46, ediert bei Peter Blickle - Renate Blickle, Schwaben von 1268 bis 1803 (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern II, 4), München 1979, S. 367 f. Von dort alle nachfolgenden Zitate zu Ingenried. 2 In der Satzung w i r d auch die Bestellung des Mesners geregelt. Der kirchenrechtlich komplizierte Komplex bleibt hier unberücksichtigt. 3 Es handelt sich bei den „knecht" und „eehalt" um zwei rechtlich unterschiedene Gruppen, wie sich aus der Art der Bezahlung ergibt.

Die „Consociatici" bei Johannes Althusius

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deutlich abgegrenzt sind die Knechte und Dienstboten (Ehalten), die jede Dienstleistung des Baders eigens bezahlen müssen. Die Gemeinde hat ihre eigenen Organe - neben der Gemeindeversammlung sind das Ammann, Gericht und Vierer. Amann und Vierer nehmen Verwaltungsaufgaben wahr, hier i n Form der Gesundheitspolizei. Die Gemeinde selbst verfügt über Vermögen, dazu gehören Wald und Wiesenland, aber auch Teile des Inventars der Badstube. Wenige Wegstunden von Ingenried entfernt liegt die Stadt Leutkirch im Allgäu. Deren Stadtrecht soll dazu dienen, i n einem gegenüber Ingenried gewissermaßen abgekürzten Verfahren den Charakter der Stadt zu beschreiben. Von den insgesamt 279 Artikeln des Stadtrechts lassen sich 69 hinsichtlich des redaktionellen Vorgangs näher bestimmen 4 . Unter der Wendung „es ist och gesetzet" erscheinen als Normgeber die „burger gemainlich" 5 , „der rat und die gemaind" 6 , „der rat und die zwaintzig" 7 und „der burgermaister, der rat und die zwaintzig und die gemaind" 8 . Wie in Ingenried gibt es in Leutkirch Gemeindeversammlungen, aber auch eigene Organe, Bürgermeister, Rat und Zwanziger. Das Gericht t r i t t als Normgeber nicht in Erscheinung, w i r d aber vielfach genannt. Hinsichtlich der Kompetenzbereiche der rechtssetzenden Gremien lassen sich zumindest Tendenzen ausmachen. „Rat und Zwanzig" regeln mehrheitlich Fragen der Ämterbesetzung und der Amtsführung, die „Gemeinde" selbst befindet über Steuern, Ungeld und Abgaben. Was von größerer Wichtigkeit ist, verabschieden offensichtlich „Rat und Gemeinde". Dazu gehören friedensichernde Maßnahmen 9 , Aufnahmen ins Bürgerrecht 10 , Ordnung des Zunftwesens 11 und Stabilisierung der rechtlichen Autarkie durch das Verbot der Appellation 1 2 . Über die Satzungen schafft sich die Stadt selbst ihr eigenes Recht jedenfalls tritt ein Stadtherr nirgends i n Erscheinung - , über eigene Organe w i r d sie verwaltet, über kommunale Vermögen und Steuern 4 Ediert bei Karl Otto Müller; Oberschwäbische Stadtrechte, 1. Bd.: Die älteren Stadtrechte von Leutkirch und Isny (Württembergische Rechtsquellen 18), Stuttgart 1914. 5 Ebd., Nrn. 1, 35, 57, 61, 68, 87, 174, 180. 6 Ebd., Nrn. 82, 85, 97, 129, 150, 152, 193, 208, 219. Zusätze Nrn. 3, 4, 5, 6, 9, 13, 20, 22, 23, 25, 26, 27, 28, 30, 31, 32, 33. 7 Ebd., Nrn. 86, 96, 99, 104, 107, 108, 112, 115, 131, 132, 135, 136, 138, 139, 154, 179, 195, 205, 207, 210, Zusätze Nrn. 1, 2, 7, 8, 11, 12, Statuten aus Anhang Nrn. 3, 4, 5, 6, 11, 15. 8 Ebd., Nr. 211. 9 Ebd., Nrn. 85, 152 (S. 67 f.), Zusätze Nr. 5 (S. 97). 10 Ebd., Zusätze Nrn. 26, 27 (S. 104 f.). h Ebd., Zusätze Nr. 27 (S. 104 f.). 12 Ebd., Zusätze Nr. 20 (S. 102 f.). Der Artikel verbietet den Bürgern die Appellation nach Lindau, mit dessen Stadtrecht Leutkirch begabt war.

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werden diese finanziert. „Der Gewalt", wie süddeutsche Quellen der Zeit für den später gebräuchlich werdenden Begriff Souveränität sagen, sitzt i n der Gemeinde. In sie muss man durch Verleihung des Bürgerrechts förmlich aufgenommen werden, sofern man es nicht ererbt. Dass dem Dorf Ingenried und der Stadt Leutkirch, einer Reichsstadt nebenbei gesagt, gleiche Bauprinzipien zugrunde liegen, ist offenkundig. Auf deren Ver allgemeinerb arkeit ist später nochmals zurückzukommen. Nun sind solche Kommunen nicht einfach gegeben, sondern haben mehr oder weniger deutlich nachweisbare Anfänge. Sie sind i n der Regel für die Städte leichter zu belegen als für die Dörfer. Dennoch soll für den städtischen und ländlichen Bereich je ein Beispiel vorgestellt werden. „Wir die gemainde der antwerk ze Ulme", beginnt ein Eintrag im Stadtrecht (Rote Buch) von U l m zum Jahr 1376, bekennen, dass „die burger hie ze Ulme, die nit der antwerk sint", eingesehen hätten, „daz unfrid und unzuht ane der gemaind gebott und gesetzt" nicht beizukommen sei. Folglich hätten die Burger ohne Zwang und mit freiem Willen eidlich den Handwerkern versprochen, alle Gebote, die „frùntschaft zucht und fride" fördern, zu halten 1 3 . Hier verpflichten sich die beiden großen gesellschaftlichen Gruppen der Stadt, die „Burger", was im Ulm 1376 soviel heißt wie Patrizier 1 4 , und die „Handwerker", wechselseitig eidlich, einen dauerhaften Frieden in der Stadt zu schaffen und zwar mittels geeigneter Gesetze der Gemeinde. Wer künftig der Stadt schaden würde, sollte mit „lib und gût [...] der gemaind verfallen s i n " 1 5 . Die Ulmer Gemeinde entsteht also aus einem willentlichen A k t der Bürger und Handwerker, gestiftet durch den A k t der „coniuratio". In U l m steht die Herausbildung einer autonomen Gemeinde mit der Bekämpfung der Fehde in Zusammenhang. Die Bürger genannten Patrizier, die selbst adelig waren und mit den Rittern auf dem Land versippt, hatten sich deren kriegerischer Hilfe zu Durchsetzung ihrer Rechtsansprüche bedient und damit offenbar die Fehden auch in die Stadt gezogen. Die Ulmer „Gemeinde" entsteht folglich aus dem Bedürfnis der arbeitenden handwerklichen Bevölkerung nach Frieden. Nicht umsonst stellen friedensichernde Maßnahmen die erste Kohorte der Satzungen des Ulmer Stadtrechts dar 1 6 . Stadtrecht ist zunächst Strafrecht. Auf den Absprachen zwischen Patriziern und Handwerkern wurde schließlich !3 Carl Mollwo (Hrsg.), Das rote Buch der Stadt U l m (Württembergische Geschichtsquellen 8), Stuttgart 1904, S. 24. - Die Begriffe Unzucht und Friedbruch werden auch anderwärts gleichgesetzt. 14 Vgl. Eberhard Isenmann, Die städtische Gemeinde im oberdeutsch-schweizerischen Raum (1300-1800), in: Peter Blickle (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde. Ein struktureller Vergleich, München 1991, S. 191-261, hier 243. is C. Mollwo, Das rote Buch (wie FN 13), S. 27. 16 Ebd., S. 24-33.

Die „Consociatio" bei Johannes Althusius

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1397 der Ulmer Schwörbrief aufgebaut, der mit der Konstituierung und Funktionsabgrenzung von Bürgermeister, Großem Rat, Kleinem Rat und Gemeinde eine Art geschriebene Verfassung der Stadt darstellt 1 7 . Das Ereignis, die coniuratio, hat sich i m Leben der Stadt als jährlich wiederkehrendes Ereignis tief eingegraben, noch heute stellt der „Schwörmontag" im Juli das herausragende gesellschaftliche Ereignis im Jahresrhythmus der Stadt dar, zum dem die patriotischen Ulmer aus aller Welt zu kommen pflegen. Zehn Jahre nach der Schaffung der coniuratio in U l m wurde eine solche jenseits des Bodensees i n Glarus geschlossen 18 . Bei Glarus handelt es sich um eine bäuerliche Talschaft, die ihren Namen dem Mittelpunktsdorf verdankt. Hintergrund der coniuratio waren die politischen Turbulenzen zwischen Habsburg und den - Glarus benachbarten - Schweizer Orten, die in der Schlacht bei Sempach 1386 ihren kriegerischen Ausdruck fanden. A m 11. März 1387 beurkunden „der ammann und die landlüt gemeinlich ze Glarus", dass sie sich „mit gemeinem einhelligem rat aller unser gemeinde" wegen „kumber und gebresten" auf Artikel geeinigt hätten und „öch mit gueten trüwen gelopt und des offenlich ze den heiligen gesworn haben nu und hienach eweklich war und stät ze halten und zue volfüren" 1 9 . Die nachfolgenden 21 Artikel regeln Fragen der Gerichtsverfassung (Art. 1-4, 10, 16) und der Friedenssicherung (13-15, 17, 19), des Erbrechts (4-9) und des Eherechts (12), sowie die Satzungskompetenz der „landlüt gemeinlich" nach Mehrheitsprinzip (20). Von einer Beteiligung der i n Glarus Herrschaftsberechtigten, der Klöster Säckingen und Schänis als Grund- und Leibherren und der Herzöge von Österreich als Vögten, ist nirgends die Rede, obwohl die Respektierung der Herrschaftsrechte Auswärtiger ausdrücklich als eigener Artikel (11) i n die vorliegende Einung aufgenommen ist. U l m und Glarus sind Beispiele für willentliche Zusammenschlüsse lokaler Gruppen i m städtischen und ländlichen Bereich, die i m A k t der „Verschwörung" (coniuratio) den Punkt genau fixieren lassen, an dem eine Ansammlung von Menschen zu einer moralischen Person w i r d und damit auch zu einer juristischen. Dieser einmalige A k t konnte auch durch prozessuale Formen zeitlich gestreckt werden. Durch Statuten und 17 Druck ebd., S. 258-264. - Zur Kontextualisierung jüngst [mit detaillierter L i teratur] Peter Johanek, Bürgerkämpfe und Verfassung in den mittelalterlichen deutschen Städten, in: Hans Eugen Specker (Hrsg.), Einwohner und Bürger auf dem Weg zur Demokratie. Von den antiken Stadtrepubliken zur modernen Kommunalverfassung (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 28), Stuttgart 1997, S. 45-73. is Fritz Stucki (Hrsg.), Die Rechtsquellen des Kantons Glarus, 1. Bd.: Urkunden, Vereinbarungen und Gerichtsordnungen (Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen 7), Aarau 1983, S. 93-97 Nr. 47. 19 Ebd., S. 93.

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Einungen konnten lokale Gruppen, die meist einen gemeinsamen herrschaftlichen Bezugspunkt hatten, sei es dass sie am Fuß einer Burg angesiedelt waren, sei es, dass sie zu einem adeligen oder klösterlichen Hofverband gehörten, zu - modern gesprochen - autonomen Gebietskörperschaften werden. Juristen haben solchen Verbänden den Namen „universitas" zugeschrieben. „Die Landleute gemeinglich" der deutschsprachigen Urkunden aus Glarus figurieren in den lateinischsprachigen als „universitas". Ingenried, Leutkirch, U l m und Glarus sind in Grenzen generalisierbare Fälle, jedenfalls für den oberdeutschen Raum. Er durchläuft im Spätmittelalter und zu Beginn der Neuzeit einen Prozess der Kommunalisierung, dessen Ergebnis sich abkürzend und verallgemeinernd auch graphisch darstellen lässt (Abb. 1). Alle Formen von Gemeinde kannten „Gemeindeversammlungen", zu denen Einwohner mit gesichertem Gemeinderecht, das an Hof oder Haus hing, Zugang hatten. Für sie wurde zunehmend die Bezeichnung Bürger gebräuchlich, auch für die Bauern in den Dörfern. Für die Gemeindeversammlung definitorisch ist ihr periodisches, in der Regel jährliches Zusammentreten, verbunden mit dem Recht, zu statuieren, und zwar vornehmlich im Bereich alltäglicher Ordnungsprobleme (die herrschaftliche Interessen nicht notwendigerweise berühren mussten), und die eigenen Repräsentanten zu bestellen, also Ämter zu besetzen. Es gibt einen politischen Ordnungsbereich neben oder unter der Herrschaft, über den die Gemeindeversammlung „den Gewalt" hat. „Der Gewalt" der Gemeinde konnte delegiert werden. Daraus entstanden einerseits die „Räte" und „Vierer", andererseits die „Gerichte". Räte und Vierer repräsentierten die Gemeindeversammlung hinsichtlich ihrer statutarischen Kompetenzen, folglich verfügten sie auch über ein i n der Regel begrenztes Gebots- und Verbotsrecht und nahmen Ordnungsfunktionen wahr. Gerichte, die durchgängig mit „Urteilern" (Schöffen) aus der Gemeinde besetzt waren, für die sie amteten, repräsentierten die Gemeindeversammlung hinsichtlich ihrer gerichtlichen Zuständigkeiten. Bis um 1500 gibt es eine Reihe Belege dafür, dass die Gebote der Vierer und Räte sowie die Urteile der Gerichte appellationsfähig waren und an die Gemeindeversammlung zurückverwiesen werden konnten. Für Schweizer Gemeinden ist das durch die überlieferten Rechtsquellen der Landbücher und Stadtrechte hinreichend gesichert 20 .

20 Peter Blickle, Friede und Verfassung. Voraussetzungen und Folgen der Eidgenossenschaft von 1291, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft, 1. Bd., Ölten 1991, S. 102 ff.

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Die „Consociatici" bei Johannes Althusius

Gemeinde

Rat / Vierer

Gericht

Zusammensetzung Inhaber des Gemeinderechts (Haushaltsvorstände)

Zusammensetzung Vertreter der Gemeinde / Untergliederungen der Gemeinde

Zusammensetzung Vertreter der Gemeinde / Untergliederungen der Gemeinde

Funktionen Satzungen - Frieden - Allmende und Wald - Gerichtsverfassung Steuer / Umlagen Ämterbesetzung Appellationsinstanz für Gerichtsurteile

Funktionen Satzungen konkurrierend mit / delegiert von Gemeinde Polizeisachen

Funktionen Zivil- und Strafsachen im Bereich kommunaler Satzung und (teilweise) des Landrechts

Bürgermeister / Ammann

Funktionen Vorsitz im Gericht und / oder Gemeinde Exekutive Annahme von Klagen Einzug von Bußen

Häufigkeit der Versammlungen jährlich oder auf Anfordern

Vorlage Peter Blickle, Kommunalismus. Bd. 1: Oberdeutschland, München 2000, S. 68.

Abbildung 1: Strukturelle Gemeinsamkeiten von Stadt- und Landgemeinden

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Es gab Mischzonen gemeindlicher und herrschaftlicher Zuständigkeiten, die sich vornehmlich in den Urteilern und dem lokalen politischen Spitzenamt des Ammanns personalisierten. Als Institutionen sind Gerichte und Ammänner älter als Kommunen, es sind Organe zur Gewährleistung herrschaftlicher Interessen. Deswegen ist die Beteiligung der Obrigkeit bei ihrer Bestellung in der Regel unstrittig. Mit der Kommunalisierung indessen inkorporierten sie ihrem Amt zusätzliche Aufgaben die Richter die Urteile über die strittige Verletzung kommunaler Normen, die Ammänner die organisatorische Führung von Versammlungen der Gemeinde und solche von Räten und Vierern. Die Beispiele für die Konstituierung eines Typus Kommune, der die städtische und ländliche Welt gleichermaßen prägte, stammten aus dem süddeutschen Raum. Die Gemeinde i n diesem Sinn ist indessen eine europäische Erscheinung 21 . Althusius musste somit nicht die oberdeutschschweizerischen Verhältnisse kennen, um Gemeinden i n seine Politiktheorie einzubauen, obschon sie ihm aufgrund seiner Studien i n Basel und Genf auch nicht ganz fremd gewesen sein dürften. Der Kommunalisierungsprozess erfolgte, nach ersten Anfängen i m 11. und 12. Jahrhundert in Italien, im Spätmittelalter in vielen europäischen Ländern geradezu stürmisch. Aufgrund der Siedlungskonzentration und der dadurch bedingten Verstädterung und Verdorfung einerseits und durch Emanzipation der bäuerlichen und handwerklichen Arbeit von den adeligen und kirchlichen Hofverbänden (Villikationen) andererseits wurde der Alltag auf der lokalen Ebene neu organisiert, eben i n kommunaler Verantwortung. Das i m Mittelalter mehr oder weniger durchgängig lehnsrechtlich, landrechtlich oder hofrechtlich organisierte Europa wurde auf der lokalen Ebene durch kommunale Strukturen, basierend auf Statutarrecht, überlagert. Lehnsrecht, Landrecht und Hofrecht normierten die Rechtsbeziehungen unter Adeligen beziehungsweise zwischen Adeligen und ihren Grundholden. Kommunales Statutarrecht hingegen war Einungsrecht von Nachbarschaften. Ober- und Mittelitalien sind schon im Hochmittelalter durch die kommunale Bewegung gänzlich entfeudalisiert worden. Stadtstaat reihte sich an Stadtstaat, im Contado, dem städtischen Hinterland, verdrängten Dörfer mit eigenen Statuten und Verwaltungen die adeligen und kirchlichen Grundherrschaften. I n Spanien erlangten von 1400 bis 1700 nicht weniger als 15000 Dörfer auf Ansuchen der Einwohner dank königlicher Privilegierung den Rang von Munizipalstädten mit weitgehender Selbstverwaltung. Noch um 1500 waren 60% der Siedlungen Dörfer, um 1700 hatten hingegen hatten 75%

2i Vgl. den graphischen Überblick bei Peter Blickle, Kommunalismus, 2. Bd.: Europa, München 2000, S. 100 ff. - Die folgenden im Text gemachten Angaben über Kommunalisierungsprozesse i n Europa sind ebd. im einzelnen nachgewiesen.

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aller Siedlungen den Status einer Stadt erreicht. 40000 Gemeinden zählte Frankreich. Skandinavien hatte teils über die Pfarreien, die oft auf die Gründung von Nachbarschaftsverbänden zurückgingen und deswegen auch ungewöhnlich weitgehende politische Rechte besaßen, teils über Hundertschaften, gewissermaßen auf das Land gesetzte Verbände von (4 mal 25) Ruderern, die Organisation des politischen Alltags auf die Ebene der lokalen Gemeinde gezogen 22 . Europa war jedoch keineswegs durchgängig kommunalisiert, es gibt Ausnahmen. Zu ihnen gehört England. Dort blieb die Zahl der Städte im Vergleich mit den Ländern auf dem Kontinent gering, und selbst diesen hat Frederic William Maitland, der gegenüber genossenschaftlichen Formationen i n hohem Maße sensibel war, die definitorischen Merkmale kommunaler Verbände abgesprochen. „The township as such has no court nor assembly" 23 , sie wächst also nicht wie die kontinentale Kommune aus der Gemeindeversammlung heraus. Das gilt erst recht für das Dorf. Zwar hat es Versammlungen der Dorfbewohner gegeben, um Statuten zu erlassen, um Umlagen für den Unterhalt der Kirche einzuziehen oder um Steuereinheber zu bestellen. Untersucht man jedoch genauer, was das Zusammentreten der Dörfler veranlasst hat, dann handelt es sich im ersten Fall um eine Veranstaltung des „manor", also der englischen Grundherrschaft, im zweiten Fall um eine solche der Pfarrei und im dritten um eine solche des Staates. Die Dörfler konnten gewissermaßen in drei unterschiedlichen Aggregatzuständen in Erscheinung treten, als Grundholden, als Parochianen und als Untertanen des Königs, doch offenbar waren sie genau das nicht, was eine kontinentale Gemeinde ausmacht - ein willentlich entstandener Verband von Bauern an einem Ort, der seine Angelegenheiten durch Statuten regelt und sich die zu deren Durchsetzung nötigen Organe in Form von Rat und Gericht schafft. Die Gemeinde in England war eine Gewährleistungsgemeinde - für den Grundherrn, für die Kirche oder für den Staat, aber sie war keine Korporation im Sinne der Lehre von der „universitas" der Juristen. Dafür war erforderlich, rechtsfähig, vermögensfähig und repräsentationsfähig zu sein. Man darf den Höhepunkt des europäischen Kommunalisierungsprozesses vielleicht in das frühe 16. Jahrhundert legen. 1514, 1520 und 1525 erschütterten große nationale Revolten Ungarn, das Reich und Spanien, die alle eine Stärkung kommunaler Autonomie in Zusammenarbeit mit den 22 Für die Nachweise statt umfassender bibliographischer Angaben die Literatur ebd. 23 Zitiert bei Warren O. Ault , Villages Assemblies in medieval England, in: Album Helen Maud Cam (Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions 23), Louvain 1960, S. 11-31, hier 13.

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Königen anstrebten. Nicht umsonst w i r d die Revolte i n Kastilien schon i m Namen mit ihren Trägern, den „Comuneros", verküpft. Toledo, Segovia, Salamanca, Valladolid und viele andere Städte warfen die königlichen Beamten aus der Stadt, organisierten sich konföderiert, nannten sich in politischer Absicht „Cortes" (Parlament) und entwarfen eine Art neuer Verfassung, die i n stramm republikanischer Manier mit Freiheit, „liberta", und Gemeinwohl, „utilidad de la Repùblica", legitimiert wurde. Würde der junge König Karl I. sie angenommen haben, hätte Spanien zweifellos England an politischer Modernität zügig überholt. Dorf- und Stadtgemeinden zur Grundlage jeder politischen Organisation zu machen, war auch das Ziel des Gemeinen Mannes i m Bauernkrieg 1525, und der Aufstand in Ungarn hätte im Erfolgsfall den 800 Märkten, i n denen 20% der Bevölkerung lebten, einen starken Autonomiezuwachs gebracht. Für die Stärke der kommunalen Bewegung im 16. Jahrhundert spricht aber auch die Beobachtung, dass jetzt i n viele europäische Parlamente Bürger und Bauern beziehungsweise, um präziser zu sein, Vertreter von Kommunitäten einziehen. Das gilt für Frankreich und die Versammlungen seiner états généraux seit 1486, für viele Territorien im Reich vom Erzstift Salzburg, über Tirol und Württemberg bis ins Erzstift Trier und in besonderem Maße für den Reichstag i n Schweden, der in der Reformationszeit je eigene Kurien für die Bauern und die Bürger ausbildete. Dieses politische Klima hat die politische Theorie von Johannes Althusius nachhaltig geprägt. II. Althusius' Hauptwerk „ P o l i t i c a " 2 4 verarbeitet die kommunale Erfahrung Europas i n einer radikal neuen Weise. Gemeinden spielten allerdings schon zuvor in der Theorie eine Rolle. Das gilt für die mittelalterliche Rechtstheorie, die sie im Rahmen der „universitas" würdigte. Das gilt für die Reformatoren, die ihre Ekklesiologie nicht am Leitbild einer hierarchisch organisierten Bischofskirche konzeptualisierten, sondern an dem der Gemeinde, nicht nur Jean Calvin in Genf und Huldrich Zwingli in Zürich, sondern ursprünglich auch Martin Luther. Das gilt auch für den vielleicht wirksamsten Staatstheoriker des 16. Jahrhunderts, Jean Bodin, in dessen Werk Korporationen in 24 Die Belege im folgenden nach der dritten Auflage. Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, Herborn 3 1614 [Nachdruck Aalen 1981]. Die Zusätze der 3. Auflage gegenüber der ersten herausgearbeitet bei Katrin Odermatt, Historische Erfahrung und Politische Theorie. Entwicklungsstufen der Politica des Johannes Althusius [Masch. Liz. phil. Bern 1995].

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Gestalt von Gebietskörperschaften zwar i n ihrer politischen Bedeutung minimalisiert werden, aber als Produzenten von Nachbarschaft, Gemeinsinn und Opferbereitschaft für den Staat unverzichtbar sind. Nicht nur in Städten, sondern selbst i m kleinsten Dorf i n der Schweiz und Süddeutschland gebe es dafür eigens ein diesem Zeck dienendes „Gemeinschaftshaus". Ein solches existierte in der Tat unter der Bezeichnung „Stube". Heute zählen diese Stuben zu den schönsten Wirtshäusern i m Elsaß, in der Nordschweiz und im Breisgau. Johannes Althusius' originärer Beitrag zur europäischen Politiktheorie besteht nach meiner Einschätzung darin, dass er die kommunale Erfahrung zu einem apriorischen Ausgangspunkt seines Denkens macht. Das hatte es, sieht man von Ansätzen bei italienischen Scholastikern und Humanisten ab, bislang nicht gegeben und ist, nimmt man Jean-Jacques Rousseaus „Contrat social" aus, auch nicht weiterentwickelt worden. Hat man sich mit Althusius' Werk auch nur oberflächlich vertraut gemacht, treten die Schwierigkeiten sofort zu Tage, die dieser Ansatz mit sich bringen musste. Althusius konzipiert Vergesellschaftung und Staatsbildung als willentliche Akte des Zusammenschlusses von Menschen, was sich mit der Realität der europäischen Machtverhältnisse, ausgedrückt i n Königreichen und Fürstentümern, schwer harmonisieren ließ. Die Organisation politischer Macht fußte in Europa nicht auf durchgängig gleichen Prinzipien namentlich sind es die Herrschaft des Adels aufgrund dynastischer Qualitäten und lehnsrechtlicher Klientelverhältnisse und das kommunale Ratsregiment, basierend auf Delegation und Repräsentation, die sich w i derstreiten. Diesen Gegensatz auszubalancieren ist Althusius nicht ganz gelungen 25 . Nicolette Mout hat am Beispiel der Niederlande für die gleiche Zeit in einer sublimen Untersuchung gezeigt, wie schwer es war, Verfassungsrealität in widerspruchsfreie Theorie umzusetzen 26 . Der Eingangssatz und gleichzeitig ein Schlüsselsatz der Politik von Althusius lautet, „Politica est ars homines ad vitam socialem inter se constituendam, colendam & conservandam consociandi" 27 . Der Mensch 25 Vgl. dazu Heinz Antholz, Johannes Althusius als Syndicus Reipublicae Embdanae. Ein kritisches Repetitorium, in: Karl-Wilhelm Dahm - Werner Krawietz Dieter Wyduckel (Hrsg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (Rechtstheorie Beihefte 7), Berlin 1988, S. 67-88. - Den detailliertesten Vergleich beider Auflagen bei K. Odermatt, Erfahrung (wie F N 24). Dort Synopse der Veränderungen von der 1. zur 3. Auflage. 26 Nicolette Mout, Ideales Muster oder erfundene Eigenart. Republikanische Theorien während des niederländischen Aufstands, in: Helmut G. Koenigsberger (Hrsg.), Republiken und Republikanismus im Europa der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 11), München 1988, S. 169-194. 27 J. Althusius, Politica (wie F N 24), [I, 1], S. 2. Eine vorzüglich knappe Zusammenfassung des tausendseitigen Werkes bietet Otto von Gierke, Johannes Althu-

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muss sich aufgrund seiner Natur vergesellschaften, daraus entsteht die „consociatio". Consociatio ist der Schlüsselbegriff des ganzen Buches, jede Art von Vergesellschaftung und jede Art von politischem Verband w i r d von Althusius darin untergebracht (Abb. 2). Die Frage, was eine Consociatio sei 2 8 , w i r d gewissermaßen dreifach beantwort, nach Herkunft, Zweck und Aufbau. Die Consociatio ensteht durch einen „ausdrücklichen" oder einen „stillschweigenden" Vertrag (pacto expresso , vel tacito) unter Menschen 29 . Ihr Zweck ist das gute Leben. Dafür sind drei Grundbedingungen erforderlich, nämlich gemeinsames Vermögen (res), gemeinsame Verwaltung (opera) und ein gemeinsames Recht (iura) 30; eine vierte mentale oder religiöse Übereinstimmung (concordia) w i r d mehrfach erwähnt 3 1 , aber nicht i n der gleichen systematischen Strenge behandelt. Schließlich hat jede Consociatio den gleichen Grundriss, bestehend i n Obrigkeit (imperantes) und Untertanen (obsequentes, s eu inferiores) 32. Die Consociatio auf diese Weise über Vermögen, Verwaltung und Recht (und mentale Übereinstimmung) zu konstituieren und ihr eine feste Struktur zu geben, w i r d für meinen Argumentationszusammenhang später noch von Bedeutung werden, deswegen möchte ich diesen Aspekt nochmals eigens herausheben. Althusius stellt später ausführlicher an den einzelnen konkreten Formen von Consociationes dar, wie Vermögen in Alllmenden, Wäldern, Flüssen und Häusern bestehen konnte, Verwaltung sich in viele Ämter vom Bürgermeister bis zum Nachtwächter aufsius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik [1880], Aalen 5 1959, S. 18-36. - Breit referierend Peter Jochen Winters, Die „Politik" des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Zur Grundlegung der politischen Wissenschaft im 16. und im beginnenden 17. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 1963, S. 131-262. - Unter stärkerer Berücksichtigung der kommunalen Elemente Manfred Walther, Kommunalismus und Vertragstheorie. Althusius - Hobbes - Spinoza - Rousseau oder Tradition und Gestaltwand einer politischen Erfahrung, in: Peter Blickle - Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Theorien kommunaler Ordnung i n Europa (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 36), München 1996, S. 127-162, hier 131-137. 28 j. Althusius, Politica (wie F N 24), S. 1. 29 „Proposita igitur Politicae est consociatio, quâ pacto expresso, vel tacitio, symbiotici inter se invicem ad communicationem mutuam eorum, quae ad vitae socialis usum & consortium sunt utilia & necessaria, se obligant". Ebd., [I, 2], S. 2. 30 „Cömunicatio illa mutua [...], quam dixi, fit rebus, operis, juribus communibus, quibus indigentia varia & multiplex singulorum & universorum symbioticorum suppletur [...] & societatis humane perficitur, seu vita socialis constituitur & conservatur". Ebd., [I, 7], S. 3 f. Was res, opera und jura seien, wird i n I, 8-10 recht formal beschrieben, später aber ausführlich entwickelt. 31 Ebd., [IV, 22], S. 52; [VI, 46, 47], S. 101. - Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Althusius' politische Theologie, in: K.-W. Dahm - W. Krawietz - D. Wyduckel, Politische Theorie (wie F N 25), S. 213-231. 32 „Communis & perpetua lex est, ut in quavis consociatione & symbiosi specie sint quidam imperantes, praestites, praepositi, praefecti seu superiores: quidam vero obsequentes, seu inferiores". J. Althusius, Politica (wie F N 24), [I, 11], S. 4.

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Bauprinzip Consociatio

Aufgebaut nach den apriorischen Annahmen der 1. Auflage.

Abbildung 2: Althusius Politica Modell

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fächern konnte und Recht in Gewohnheiten und Satzungen als partikulares Recht, freilich in Übereinstimmung mit dem Naturrecht, existierte 3 3 . Nachdem Althusius das Grundschema der Consociatio klargelegt hat, erörtert er ihren Formenreichtum. Prinzipiell sind zwei Kategorien von Consociationes zu unterscheiden, „private" und „öffentliche" 3 4 . Die private Consociatio (consociatio simplex , privata) kommt durch einen Vertrag zustande, den Individuen zu ihrem Nutzen unter für sie gleichen rechtlichen Bedingungen schließen. Sie werden auf diese Weise eine juristische Person 35 . Die private Consociatio ist entweder eine „natürliche" (naturalis), also Familie oder Verwandtschaft, ausgestattet mit den herkömmlichen Attributen des europäischen Hauses (individua , naturalis, necessaria , oeconomica, domestica 36), wodurch eine strenge Korrelation von Familie und Haus hergestellt wird, oder sie ist eine „bürgerliche" (civilis). M i t der consociatio privata civilis beginnt die Politica unter einem kommunalen Aspekt interessant zu werden. Im Unterschied zur natürlichen Consociatio der Familie w i r d sie in stärkerem Maße durch aktive Zustimmung und freien Willen (placito & voluntate) geschaffen 37 . Das w i r d nochmals eigens unterstrichen. Man nennt sie deshalb, sagt Althusius, eine spontane und willentliche Vereinigung 38 . Konkret erweist sich die consociatio privata civilis als Zunft, kirchliche Institution, Kollegium, Universität oder Handelskompanie 39 , mit je eigenen Statuten, eigenem Vermögen und eigenen Organen. Zu diesem Typus von Consociatio rechnet Althusius auch, meines Erachtens in seiner Systematik nicht zwingend, die Stände. Ich möchte diesen für die weitere Argumentation wichtigen Punkt herausheben. Die 33 Hendrik J. van Eikema Hommes, Naturrecht und positives Recht bei Johannes Althusis, in: K.-W. Dahm - W. Krawietz - D. Wyduckel, Politische Theorie (wie F N 25), S. 371-390, besonders 380 f., 385. 34 J. Althusius, Politica (wie F N 24), [II, 1], S. 13. 35 „Ob jus hoc symbioticum [...] fit, ut consociatio haec saepe unam personam repraesentet, & pro una persona reputetur". Ebd., [II, 12], S. 16. 36 Ebd., [II, 13, 14], S. 16. - Unter dem Rubrum Familie - Verwandtschaft Haus bringt Althusius dann umständlich die Fülle beruflicher Tätigkeiten unter. Ebd., [II, 16-36], S. 17-23. - Generell sind zum Konstruktionszwang bei Althusius die Bemerkungen von Hasso Hofmann, Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit. Zur Frage des Repräsentativprinzips i n der „Politik" des Johannes Althusius, in: K.-W. Dahm - W. Krawietz - D. Wyduckel, Politische Theorie (wie F N 25), S. 513-542, besonders 514 f., nützlich. 37 J. Althusius, Politica (wie F N 24), [III, 1], S. 29. 38 „Quamobrem spontanea, mereque voluntaria societas dicitur". Ebd., [IV, 3], S. 45. 39 „Species collegiorum secundùm personarum, artificiorum & munerum conditionem variae esse possunt". - Ebd., [IV, 24], S. 52.

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Bevölkerung (populus) von Städten, Provinzen, Reichen und Staaten lassen sich in drei Stände unterteilen, sagt Althusius i n Übereinstimmung mit der geläufigen Gesellschaftstheorie seiner Zeit. Es sei üblich, die Menschen „ i n très ordines, status, sive generalia majora collegia [Hervorhebung P. Β.]" zu unterteilen. Stände werden so zu Kollegien, nämlich zu dem der Geistlichkeit (collegium ecclesiasticorum), dem des Adels (collegium nobilium) und dem des Volkes (collegium populi, seu plebis). Letzteres bilden Bauern, Handwerker und Kaufleute 4 0 . Am Ende der Erörterungen der consociatio privata steht die kollegial verfasste Bauern- und Bürgerschaft. Die zweite Grundform der Consociatio ist die „öffentliche" (consociatio publica). Sie entsteht aus dem Zusammenschluss mehrerer privater Consociationes 41 . Wie bei der privaten Consociatio gibt es bei der öffentlichen zwei Ausprägungen, von Althusis „partikular" (particularis) und „universal" (universalis) geheißen. Die partikulare Consociatio erweist sich als eine orts- oder raumbezogene Rechtsgemeinschaft 42 . Wollte man zur Verständigung Analogien i n der Moderne suchen, könnte man von einer Gebietskörperschaft sprechen. Wo sich Familien - solche die auf eigenen Häusern gründen, soll nochmals zur Präzisierung hinzugefügt werden - , Zünfte und Kollegien unter einem Recht an einem Ort (in eodem loco) zusammenschließen, entsteht eine partikulare öffentliche Consociatio, führt Althusius aus. Sie hat entweder ländlichen oder städtischen Charakter. (Porrò universitas illa est rustica , vel urbana 43). Jetzt marschieren die Formen von Gebietskörperschaften auf, und zwar in einer Klarheit, wie das i n der juristischen Lehre von der universitas bislang nicht der Fall gewesen war: der „vicus" als Zusammenschluss mehrere Landwirtschaft treibender Häuser (domus) am selben O r t 4 4 mit der administrativen Binnenstruktur von Ammann und Gemeinde. Kein adeliger oder kirchlicher Grundherr (oder Ortsherr) w i r d erwähnt. Der Ortsvorsteher oder an seiner Stelle ein mehrköpfiges Gremium ist immer mit Zustimmung aller Dorfbewohner bestellt (ex consensu vicinorum electus 45). Analog organisiert sind die anderen Gebietskörperschaften, das „oppidum" mit seinen charakteristischen Merkmalen von Mauer und Graben und die „Stadt" (universitas urbana) mit ihrem handwerklichen Gepräge.

40 Ebd., [IV, 30], S. 56. 41 Ebd., [V, 1], S. 59. 42 „Particularis est, quae certis definitisque locis est comprehensa, intra quae jura illius communicantur". Ebd., [V, 7], S. 60. 43 Ebd., [V, 28], S. 67. - Ergänzend O. v. Gierke, Althusius (wie F N 27), S. 23 f. 44 J. Althusius, Politica (wie F N 24), [V, 30-34], S. 67 f. 45 Ebd., [V, 34], S. 68.

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Wechselt man mit Althusius auf die Provinzebene, treten Bauern und Bürger in der korporierten Form von Ständen nochmals in Erscheinung. Im Rahmen der Provinz agiert der „ordo civitatum & agrariorum plebeiorum" (der Ν ehr stand 46) politisch durch Vertreter (deputati), die mit Instruktionen ausgestattet werden und zum Nutzen der Provinz ihre Interessen zur Darstellung bringen, nachdem sie diese gemeinsam mit ihren Auftraggebern beraten haben 4 7 . Aus dem Zusammenschluss von Provinzen (und freien Städten) entsteht schließlich der Staat (consociatio publica universalis), in dem das Modell der Consociatio auf die höchste politische Ebene gebracht wird. Unter der Fragestellung, inwieweit Althusius kommunale Erfahrungen verarbeitet, wirft dieser Teil der Politica keine neuen Erkenntnisse ab. III. Althusius' Politica, so möchte ich meinen, wäre ohne die kommunale Erfahrung, die ein Zeitgenosse des 16. und frühen 17. Jahrhunderts machen konnte, so nicht geschrieben worden. Insofern Althusius seine Theorie räumlich nicht beschränkt, liegt es nahe anzunehmen, seine Erfahrung sei eine solche, die ein wacher und mit analytischer Kraft ausgestatteter Zeitgenosse i m Blick auf Europa gemacht haben konnte. Dafür spricht allein schon der Umstand, dass die kommunalen Elemente in der Erstaufläge der Politica erheblich klarer zur Darstellung kommen als in der dritten von 1614, die den politischen Realitäten Emdens, Frieslands und des Reiches vielfach Reverenz erweist, mit anderen Worten, die herrschaftlichen und lehnsrechtlichen Traditionen Europas i n sehr viel höherem Maße berücksichtigt, zweifellos nicht zum Vorteil der intellektuellen Stringenz seines Traktates. Ich möchte die unterstellte Abhängigkeit befestigen, indem ich auf verfügbare reale Vorbilder verweise. Es geht abschließend folglich darum, den ersten und zweiten Teil der bisherigen Überlegungen zusammenzuführen. Der Realitätsbezug ist zu belegen erstens für die Definition der Consociatio nach Herkunft, Zweck und Aufbau sowie ihre verschiedenen Formen (1), zweitens für den freiwilligen und willentlichen Charakter der Sozialbildungen (Consociationes) (2) und drittens für die Definition des Dritten Standes, von Althusius „Hausmannsstand" genannt, als Kollegium mit politischen Repräsentationsfunktionen auf der Ebene der Provinz und des Reiches (3). 46 Ebd., [VIII, 45], S. 148. - Dort weitere Differenzierung zwischen weltlichen und geistlichen Ständen. Unter den weltlichen gibt es drei, nämlich „der Ritterstand, der Stättestand/vnd der Hausmans oder Baurenstand". Ebd., [VIII, 40], S. 146. 47 Ebd., [VIII, 49], S. 149.

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(1) Althusius beschreibt die Consociatio als eine Gemeinschaft (communicatio), die durch Besitz und Vermögen, durch eigene Verwaltung, sowie durch eigenes Recht definiert ist. Genau die nämlichen Merkmale waren konstitutiv für reale kommunale Verbände, für Ingenried oder Leutkirch. Allmenden, Wälder, Badstuben, Backstuben, Tavernen, Rathäuser und Amthäuser gehörten zu einer Gemeinde, verwaltet wurden sie durch Räte oder Vierer, gelegentlich auch eigens bestellte Hirten und Nachtwächter, Feuerschauer und Turmwächter. Rechtsgemeinschaft schließlich war jede Kommune. Das konnte sich ausdrücken i n Statuten wie sie i n Ingenried für den Bader erlassen wurden und in den Kommunen im Mittelmeerraum generell als Ordnungsinstrument gebräuchlich waren, es konnte sich aber auch ausdrücken in Gebräuchen, Gewohnheiten und coutumes, die in der Regel im gerichtlichen Verfahren realisiert und weiterentwickelt wurden, wie in Skandinavien, gelegentlich auch i n Frankreich und Deutschland. Solange der universitär ausgebildete Jurist als Einzelrichter nicht dominierte, sondern auf der lokalen Ebene Gerichte mit ortsansässigen Urteilern besetzt wurden, ließ sich Recht mündlich fortbilden, legitimiert durch Gewissen, Vernunft und Eid, auf die sich die Urteiler selbst verpflichteten. Das blieb gelegentlich bis weit in die Neuzeit hinein so. Im schwäbischen Ertringen beschwerte sich noch am Ende des 17. Jahrhunderts der Ortsherr darüber, dass seine Bauern „ihre schlaghändel und frävel nicht für die obrigkeit [bringen], sondern wellen alles vor ihrem groben bisselhirnigen paurengericht urtailen und aussprechen" 48 . Man könnte einwenden, schon die Juristen des Spätmittelalters hätten Korporationen über Vermögen, Verwaltung und Satzungsrecht definiert und Althusius stünde folglich in einer gelehrten Tradition. Das ist zweifellos richtig. In der älteren Rechtstheorie fehlt aber ein entscheidendes Merkmal, das bei Althusius für die „öffentliche" Consociatio unentbehrlich ist. Sie nämlich kommt zustande durch den Zusammenschluss von Häusern beziehungsweise Korporationen an einem gegebenen Ort, nicht durch einen solchen von Individuen. In Ingenried hing das Bürgerrecht an den Höfen, kam also nur den Bauern und Seidnern zu, in U l m schufen den kommunalen Verband die i n Zünften organisierten Handwerker, die ihrerseits auf der Grundlage hausbezogener handwerkliche Betriebe ruhten. Für die Korporationslehre hingegen sind der lokale Bezug und namentlich das Haus irrelevant. (2) Consociationes sind bei Althusius freiwillige Zusammenschlüsse. Geradezu repetitiv w i r d das pactum expressum oder zumindest die stillschweigende Zustimmung für ihr Zustandekommmen betont. Kein Kö48 Paul Gehring (Hrsg.), Nördliches Oberschwaben (Württembergische ländliche Rechtsquellen 3), Stuttgart 1941. S. 547.

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nigreich oder Fürstentum, keine Grafschaft oder Grundherrschaft sind durch freiwilligen Zusammenschluss der i n ihnen lebenden Menschen konstituiert worden 4 9 , gemeindliche Verbände in der Stadt und auf dem Land hingegen schon. Das sollte die Heraushebung der Entstehung der Ulmer und der Glarner Gemeinde über die coniuratio zeigen. Der Einwand, dass damit Einzelfälle unzulässigerweise generalisiert würden, lässt sich mit Verweis auf die deutschen Reichsstädte, die Kommunen Mittel- und Oberitaliens, viele französische Städte und größere ländliche Regionen i m Nordwesten Frankreichs abwehren, wo überall coniurationes an der Gemeindebildung beteiligt waren. Als willentliche Akte der Vergesellschaftung erweisen sich solche coniurationes durchaus, denn es gibt hinreichend Beispiele aus süddeutschen Städten, die belegen, dass kleinere Teile der Bürgerschaft die Stadt genau i n diesem Augenblick verließen. Auch wurden solche coniurationes jährlich immer wieder bestätigt - in Leutkirch bis 1714 jeweils am 29. Dezember. Dann wurde der Tag auf den 21. September verlegt, weil, wie es im Ratsprotokoll heißt, es „zu dieser kalten Winterszeit denen alten Herren sehr beschwerlich falle, dem Huldigungsactus", so hieß jetzt die Eidleistung der Bürgerschaft, „auf dem offenstehenden Rathaus nun so lange Zeit aufzuwart e n " 5 0 . Aus der Revoltenforschung hat man lernen können, dass Bürgeraufstände, die verschiedentlich geradezu Periodizität erlangten (wie in Braunschweig), die bestehende eidlich beschworene Ordnung zwischen Rat und Bürgerschaft immer aufkündigten und sie durch eine neue coniuratio wiederum neu stifteten. Der freiwillige Zusammenschluss w i r d auf diese Weise häufig repetiert, gelegentlich von jeder Generation. Aber wichtiger ist es, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass die kommunale Gesetzgebung, das gesamte Einungs- und Statutarrecht, als eine verflüssigte Coniuratio gedeutet werden kann. (3) Althusius stattet Bauern und Bürger als Stände mit einer Verfasstheit aus, indem er sie zu Kollegien macht. Damit begründet er ihre politischen Rechte auf der Ebene der Provinz. Stände werden mit anderen Worten auf eine gleiche Stufe wie Häuser beziehungsweise Familien und Zünfte gestellt. Das ist theoretisch eine eher schlechte Lösung, weil Stände zweifellos keine willentlichen Hervorbringungen waren und äußerst selten einem vorgängigen korporativen Zusammenschluss ihre politische Repräsentation in den Reichs- und Landtagen verdankten, sondern in der Regel aus der „curia regis" als einem Lehns- und Gerichts49 André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800) (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 36), Stuttgart-New York 1991. so Beleg bei Emil Hösch, „Wir Bürgermeister, Rat und Gemeind", in: Ders. (Hrsg.), In und um Leutkirch. Bilder aus zwölf Jahrhunderten, Leutkirch 1993, S. 57.

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hof des Königs oder Fürsten hervorgingen 51 . Folglich dürfte es Althusius darum gegangen sein, eine praktische Form der politischen Repräsentation theoretisch herzuleiten, die bislang keine besonders gute Begründung erfahren hatte. Das war bei der Vertretung der Bürger und Bauern, des „Tiers état" und des „Gemeinen Mannes" wie man i n Frankreich und Deutschland sagte, gegeben. Ständische Repräsentation war im Rahmen der theoretischen Durcharbeitung des Lehnswesen eine solche, die als Recht dem Adel und den Vasallen des Königs oder Fürsten zukam. Die Vertretung der Städte und ländlichen Gemeinden in den Cortes auf der iberischen Halbinsel, in den états généraux und états provinciaux Frankreichs, den Landtagen süddeutscher Territorien und im schwedischen Reichstag war indessen im 16. Jahrhundert nicht mehr zu übersehen und verlangte eine theoretische Verarbeitung, sofern man den Staat nicht völlig einseitig von der Monarchie und der in ihr eingeschlossenen Souveränität her konzipierte. IV. Althusius hat - um zu einer Bilanz und einem kursorischen Ausblick zu kommen - i n seiner „Politica" die Zonen hoher kommunaler Verdichtung in Europa, wo Dörfer und Städte in der Tat öffentlichen Charakter hatten und deswegen die Ständeversammlungen beschickten, Universalien gemacht. Das geht i n seinem Werk theoretisch nicht glatt auf. Doch zweifellos liegt der apriorische Ansatz der Politica i n höherem Maße i n „dem Gewalt" der Kommune als in der „angeborenen Herrschaft" des Fürsten. Ich möchte nochmals unterstreichen, dass ich darin zwei nicht harmonisierbare Ansätze politischer Machtorganisation in Europa sehe, die sich folglich auch i n der Theorie nicht haben aufheben lassen. Gewiss arbeitet Althusius mit herkömmlichen Bauelementen der Staatstheorie, aber er löst sie aus ihrer bisherigen Verankerung und setzt sie neu zusammen. Politische Macht legitimiert sich nicht durch ein Konzept personaler, an adelige Qualität gebundener Herrschaft, die in Verbindung mit der göttlichen Stiftung von „Herrschaft aus dem Haus" zunehmend die Monarchie begünstigte. Politische Macht legitimiert sich für Althusius durch Vertrag 5 2 , wie jede Form der Vergesellschaftung, auch si Otto Brunner; Land und Herrschaft. Grundlagen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Darmstadt 6 1970, S. 433-437. Kersten Krüger; Versuch einer Typologie ständischer Repräsentation im Reich, in: Peter Blickle (Hrsg.), Landschaften und Landstände in Oberschwaben. Bäuerliche und bürgerliche Repräsentation im Rahmen des frühen europäischen Parlamentarismus (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 5), Tübingen 2000, S. 35-56. 52 Vgl. Werner Krawietz, Kontraktualismus oder Konsozialismus? Grundlagen und Grenzen des Gemeinschaftsdenkens i n der politischen Theorie des Johannes Althusius, in: K.-W. Dahm - W. Krawietz - D. Wyduckel, Politische Theorie (wie FN 25), S. 391-423.

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die Familie. Dass Vergesellschaftung aufgrund der Ungleichheit von Menschen (Geschlecht, Fähigkeiten, Kräfte) notwendig ist, schließt weder die Wahlfreiheit des Individuums noch die der Consociatio aus 5 3 . Die Kategorien Vertrag und Freiwilligkeit, die allem Politischen zugrunde liegen, erlauben und erfordern darüber hinaus zusätzlich vielfache Rücksichtnahmen gegenüber der Basis politischer Consociationen die Vergabe der Ämter durch Wahlen und Bestätigung von Gesetzen durch Vollversammlungen. Althusius leistet so auch einen bemerkenswerten theoretischen Beitrag zum Prozess der Modernisierung, falls man diese Perspektive abschließend doch noch einnehmen will. Denn er löst Ständewesen und Parlamentarismus i n Europa aus ihrer lehns- und landrechtlichen Tradition und schreibt ihnen einen moderneren Repräsentationscharakter z u 5 4 . Politische Repräsentation von Bürgern und Bauern kann keine lehnrechtliche Fundierung haben, wo Städte und Dörfer als „consociationes publicae particulares" den Staat mit konstituieren. Die lokalen Gebietskörperschaften ihrerseits haben nichts mehr zu tun mit herkömmlichen Grundherrschaften. Damit ist auch die zweite Ebene mittelalterliche Herrschaftsorganisation theoretisch obsolet geworden. Die Modernität Althusius' ist allerdings keine solche, die den Staat unmittelbar aus dem Vertrag von Individuen hervorgehen lässt. In der Regel w i r d das Althusius als Mangel angerechnet, weil es an den späteren politischen Liberalismus angelsächsischer Prägung nicht anschlussfähig i s t 5 5 . Dieser Mangel ist erklärlich, weil Althusius eine kontinentale Erfahrung verarbeitet, den Prozess der Kommunalisierung nämlich, den es i n England nicht gegeben hat. Das theoretische Instrumentarium, mit dem er arbeitet, war die dem Juristen geläufige Korporationslehre, die wegen ihrer starken Verwurzelung im römischen Recht gleichfalls England fremd war. Ob Althusius prinzipiell für die Moderne nicht gewonnen werden kann, ist vermutlich noch nicht entschieden. Seine geringe Wirkung im 17. und 18. Jahrhunderte dürfte weniger dem Umstand geschuldet sein, 53 Der Vertrags- und Freiwilligkeitsgedanke w i r d in der Interpretation von P. J. Winters, Die „Politik" des Johannes Althusius (wie FN 27), stark überlagert durch die Hauptthese, „Lebensgemeinschaft [consociatio P.B.] beruht nicht auf Vertrag, sondern auf der göttlichen Prädestination". Ebd., S. 267. Insgesamt hat sich in der Literatur der willentliche Akt, der in Consociationes waltet, durchgesetzt. Vgl. Thomas O. Hüglin, Sozietaler Föderalismus. Die politische Theorie des Johannes Althusius (European University Institute C 13), Berlin-New York 1991, S. 247 f. 54 Das Thema w i r d im Reich erst wieder gründlich im ausgehenden 18. Jahrhundert aufgenommen. Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger; Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation i n der Spätphase des Alten Reiches (Historische Forschungen 64), Berlin 1999. 55 M. Walther, Vertragstheorie (wie FN 27), S. 157 f.

Die „Consociati" bei Johannes Althusius

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dass sich von ihm keine Brücken nach England bauen ließen, sondern der Tatsache, dass die sich im 17. Jahrhundert durchsetzende absolute Monarchie und die ihr gleichgerichtete Fürstenherrschaft seiner Theorie den Resonanzboden entzogen. Was Otto Gierke an Althusius fasziniert hat, war die von ihm unterstellte Modernität im Blick auf das 19. Jahrhundert. Gierke hatte die Politica insofern „von epochemachender Bedeutung" gehalten, als Althusius die kleinkammerigen Genossenschaftsbildungen logisch mit großen Staaten hatte verbinden können oder, um wissenschaftsgeschichtlich zu sprechen, weil er die Politica als das staatstheoretische Gegenstück zur Korporationslehre der europäischen Juristen gelesen hatte 5 6 . In der Tat hat Deutschland (und auch die Schweiz und Österreich) einen großen Reichtum von Consociationes - um mit Althusius zu sprechen - in Form von Gemeinden, Innungen, Handelskammern, Gewerkschaften und Kirchen in seine Staatsverfassung eingebaut. Der Historiker Gerhard A. Ritter hat das sorgfältig beschrieben 57 und als strukturelle Besonderheit des deutschen „Sozialstaats" ausgemacht 58 . Demetrio Neri rühmte vor einigen Jahren an Althusius dessen Nähe zu Aristoteles und gleichzeitig seine Fähigkeit, ihn zu überwinden. Denn ihm sei es gelungen, „den großen Raum der modernen Politik", den w i r heute Staat nennen, mit erweiterten, lokalisierten „Ursprungsgemeinschaften" und ihren autonom geschaffenen Werten, was bei Aristoteles Polis heißt, zu verknüpfen 5 9 . Die Theorie bewegt sich von Aristoteles zu Althusius, historisch gesprochen, auf kommunalem Pflaster. Aristoteles wurde zuerst im spätmittelalterlichen Italien heimisch, weil er auf der politiktheoretischen Ebene die einzig mögliche Reverenz war, der sich Kommunen zu ihrer Legitimation bedienen konnten. Liest man Althusius als eine Theoretiker kommunaler Erfahrung, hat man - um auf ein heute in der politischen Rhetorik prominentes Feld zu wechseln - ein durchgearbeitetes Modell für eine „Bürgergesellschaft" vor sich, das um so mehr Beachtung verdient, als es sich auf eine gegebene Realität berufen kann.

56 O. v. Gierke, Althusius (wie F N 27), S. 324 f. [das Zitat 76]. 57 Erstmals und konzeptionell Gerhard A. Ritter, Entstehung und Entwicklung des Sozialstaates in vergleichender Perspektive, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 1-90. 58 Ebd., S. 76-81. 59 Demetrio Neri, Das Gemeinschaftsprinzip und das Friedensproblem i n föderalistischer Sicht, in: Giuseppe Duso - Werner Krawietz - Dieter Wyduckel (Hrsg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus (Rechtstheorie, Beiheft 16), Berlin 1997, S. 119-136 [Zitat 130].

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 237 - 258 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

DIE SUBSIDIARITÄT I N DER „POLITICA" U N D I N DER POLITISCHEN PRAXIS DES JOHANNES ALTHUSIUS I N EMDEN* Von Corrado Malandrino, Alessandria I. Einleitung Die geschichtliche Darstellung des politischen Denkens des Johannes Althusius i n Verbindung mit seiner Tätigkeit als Syndikus in Emden von 1604 bis 1638 wurde bis zum Anfang der 90er Jahre i m wesentlichen durch das bekannte, dichte Werk von Heinz Antholz repräsentiert 1 . Des weiteren durch die Hinweise in der fundierten, von Harm Wiemann besorgten Rekonstruktion der „Grundlagen der Landständischen Verfassung Ostfrieslands" sowie in der von Heinrich Schmidt vorgelegten „Politischen Geschichte Ostfrieslands" im Rahmen der verdienstvollen, durch die Initiative der Deichacht Krummhörn zustande gekommenen Edition unter dem Obertitel „Ostfriesland im Schutze des Deiches" 2 . In dieser Reihe sind auch die Werke von Walter Deeters, der i n seiner „Geschichte der Stadt Emden" die Tätigkeit des Althusius i n Emden von 1604 bis 1611 einer Prüfung unterzogen hat, und von Bernd Kappelhoff erschienen, der in seiner tiefschürfenden und umfassenden Untersuchung unter dem Titel „Emden als quasiautonome Stadtrepublik 1611 bis 1749" die anschließende Zeit von 1611 bis 1638 behandelt hat 3 . Hinsichtlich der Resultate des Werks von Antholz, die jedenfalls in der Gesamtinterpretation von Deeters und teilweise auch von Kappelhoff bestätigt werden, möchte ich auf den von mir 1995 veröffentlichten kritischen * Übersetzt von Claudia Schlosser und Dieter Wyduckel. Vgl. H. Antholz, Die politische Wirksamkeit des J. Althusius i n Emden, Aurich 1955 (im folgenden zitiert als „Die politische Wirksamkeit"). Siehe auch die früheren Beiträge: J. Althusius und die Emder Publizistik zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Ostfriesland, 1949, Heft 7, S. 29-32 und ebd. 1950, Heft 1, S. 11-15. Im zuletzt erschienenen Beitrag: J. Althusius als Syndicus Reipublicae Embdanae. Ein kritisches Repetitorium, in Politische Theorie des J. Althusius, hrsg. von K.-W. Dahm, W. Krawietz, D. Wyduckel, Berlin 1988, S.67-88, w i r d dem nichts substanziell Neues hinzugefügt. 2 Vgl. H. Wiemann, Grundlagen der landständischen Verfassung Ostfrieslands. Die Verträge von 1595 bis 1611, Aurich 1974; H. Schmidt, Politische Geschichte Ostfrieslands, in Ostfriesland im Schutze des Deiches, Bd. V, Leer 1975, S. 230 ff. 3 Vgl. W Deeters, Geschichte der Stadt Emden von 1576 bis 1611, ebd., Bd. X, S. 317 ff.; B. Kappelhoff, Geschichte der Stadt Emden von 1611 bis 1749: Emden als quasiautonome Stadtrepublik, ebd., Bd. XI, passim. 1

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Beitrag verweisen, von dem ich hier einige Schlussfolgerungen wieder aufgreifen werde, die das Problem des Antiabsolutismus des Althusius betreffen 4 . In den 90er Jahren sind darüber hinaus auch andere spezifische Aspekte der althusischen Erfahrung in Emden, vor allem in dem Band „Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus" - ich beziehe mich insbesondere auf den Beitrag von Michael Behnen 5 - und in dem Werk von Thomas O. Hüglin unter dem Titel „Sozietaler Föderalismus" zur Vertiefung der politischen Theorie des Althusius untersucht worden 6 . Wie Dieter Wyduckel in einem seiner neueren und systematischen Beiträge zu Althusius, was dessen doppelte Eigenschaft als politischer Denker und Jurist betrifft, zusammenfassend hervorhebt, ist „die Beurteilung seiner Leistung für Emden und Ostfriesland ... freilich umstritten" 7 . Ich möchte dem hinzufügen, dass, um hinsichtlich des zu untersuchenden Gegenstandes überhaupt zu notwendigen neuen Anregungen und Forschungsüberlegungen zu gelangen, neben der Beurteilung der produktiven Schaffenskraft des Althusius für sein ,Adoptivvaterland\ eine umfassendere Interpretation seiner bis jetzt bekannten persönlichen Eigenschaften und Beweggründe erforderlich ist. In dem schon genannten Beitrag von 1995 zog ich im Hinblick auf die antholz'sehe Rekonstruktion in der Tat die Schlussfolgerung, dass diese zwar „historisch-politisch unersetzliche Grundlage des Wissens und auch ein sehr nützliches Instrument zum Zweck der Untersuchung der althusischen Tätigkeit" bleibe, aber gleichwohl einige Zeichen der Zeitgebundenheit trage, weil sie Kategorien benutze, wie z.B. „Staatsräson" oder „Ständestaat", die nur zum Teil als zentraler Erklärungshintergrund für ihr Verständnis dienen können. Ich erinnerte daran, dass wenigstens drei wesentliche Punkte von Antholz übersehen oder nicht hinreichend berücksichtigt worden sind: 1. das Verhältnis zu den bedeutsamen Aktivitäten der Calvinisten und niederländischen Republikaner, auch im Hinblick auf die kontroversen Lehrauseinandersetzungen zwischen radikalen Gomarianern und gemäßigten Arminianern, 4 Vgl. C. Malandrino, I I Syndikat di J. Althusius a Emden. La ricerca, in: I l Pensiero politico X X V I I I , η. 3 (1995), S. 359-383. s Vgl. M. Behnen, „Status regiminis provinciae". Althusius und die „freie Republik Emden" i n Ostfriesland, in Konsens und Konsoziation i n der politischen Theorie des frühen Föderalismus, hrsg. von G. Duso, W. Krawietz, D. Wyduckel, Berlin 1997 (Rechtstheorie, Beih. 16), S. 139-158. 6 Vgl. Th. O. Hüglin, Sozietaler Föderalismus, Berlin/New York 1991. 7 Vgl. D. Wyduckel, Johannes Althusius, in: Westfälische Jurisprudenz, hrsg. von B. Großfeld (u.a.), Münster/New York 2000, S. 95 ff. (100).

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2. die Beziehung zu den Repräsentanten der Dynastien Nassau und Oranien und ihren Plänen eines föderativen Bündnisses zwischen den reformierten calvinistischen Gemeinden, schließlich, 3. unter theoretischem Aspekt am bedeutsamsten, der Bezug zur Föderaltheologie, was Herborn und die Gebiete mit calvinistischer Mehrheit betrifft. Aufgrund all dieser Fragen ist, wie ich versuchen werde darzulegen, die Verflechtung zwischen Denken und Handeln des Althusius mit dem politischen Calvinismus und dem Föderalismus i n die Überlegungen einzubeziehen. Damit werden Kategorien bedeutsam, die bis vor einigen Jahren noch als zu wenig brauchbar für die historische Interpretation der Tätigkeit des Althusius betrachtet wurden. Deshalb beendete ich meinen schon genannten kritischen Beitrag unter Hinweis darauf, dass eine Geringschätzung dieser bedeutsamen Tatsache - die vielmehr als Problem erkannt, i n ihren Kontext eingefügt und im Licht der Erfahrung seiner Tätigkeit als Syndikus vertieft werden müsste - zu einer Verzeichnung des umfassenden althusischen politischen Projekts und der ihm zugrunde liegenden theoretischen Vision führe. Ich sagte weiter: Man könne jedoch die Auffassung teilen, „dass der Ständestaat mit all seinen notwendigen konstitutionellen Begrenzungen den praktisch-politischen Horizont der Existenz des Althusius bildet, und, was die Verbreitung des konsoziativen Ansatzes angeht, auch seiner theoretischen Konzeption. Aber man muss das Problem sehen, ob die Zielrichtung des politischen Denkens des Althusius wirklich i m Rahmen der Grenzen des Ständestaats beschrieben werden kann, auch wenn sie mit diesem zweifelsfrei historisch verbunden ist. Man muss vielleicht auch der Hypothese nachgehen, dass Althusius im Verlauf des epochalen Kampfes, der die calvinistischen Strömungen zu mehr Widerstand gegenüber dem gegenreformatorischen und lutherischen Absolutismus nötigte, den Forderungen nach sozialer Ordnung bis zur theoretischen Ausarbeitung der konstitutionellen Hauptelemente des Ständestaates (über den die Untersuchung von Antholz ein noch immer gültiges Wissen bereit hält) tatsächlich einen sehr hohen Rang zugebilligt hatte und so in Übereinstimmung nicht nur mit der sozialen Vision der calvinistischen Umwelt blieb, sondern auch und vor allem mit dem taktischen Ziel der Schaffung einer städtestaatlichen Gemeinschaft i m Rahmen eines umfassenderen provinzialen Bereichs, in dem alle durch föderative Bande geleitet und vereint und dem Sieg der „wahren Verehrung" Gottes verpflichtet sind. Einer solchen Vision - die sowohl von der Politica als auch allgemeiner von der Tätigkeit des Althusius ihren Ausgang nimmt - hätte aus seiner Sicht in letzter Konsequenz nicht so sehr die Reichsverfassung entgegengestanden, als vielmehr die absolutistische Ausrichtung der deutschen lutherischen

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Fürsten, die schließlich i n den Ausbau starker Territorialstaaten einmündete und die universalistische habsburgisch-katholische Politik der kaiserlichen Dynastie, die aufgrund des Sieges der nationalen Monarchien nach dem 30jährigen Krieg i n eine untergeordnete Lage geriet" 8 . Meines Erachtens w i r d den angezeigten Defiziten auch durch die genannten neueren Untersuchungen nicht hinreichend abgeholfen, so dass der Forschung ein offenes Feld verbleibt. Dies betrifft, wie ich hinzufügen möchte, nicht zuletzt den zwingenden, wenngleich unausgesprochenen Bezug zum Problem der Subsidiarität, das bei der Betrachtung des inneren föderalistischen Aufbaus der althusischen politischen Konsoziationen nicht in der gebotenen Weise in die entsprechenden Überlegungen einbezogen worden ist 9 . Ich werde im folgenden deshalb in experimenteller und zugleich hermeneutischer Absicht, die methodisch auf die Einheit von Textdiskurs und Rekonstruktion des historisch-politischen Zusammenhangs abzielt, in der Politica nach Argumentationslinien zu suchen, die auf die Subsidiarität verweisen. Dabei ist selbstverständlich nicht beabsichtigt, bei Althusius die Existenz einer Definition des „Prinzips der Subsidiarität" nachzuweisen, wie es sich den berühmt gewordenen Formulierungen am Ende des 19. und im 20. Jahrhundert entsprechend im Anschluss an die päpstlichen Enzykliken Rerum novarum und Quadragesimo anno darstellt, von denen sich im Werk des Althusius begreiflicherweise keine Spur findet. Die Rede ist vielmehr von der althusischen Konzeption einer Politik, die sich wesentlich im Zeichen der Kategorie der Subsidiarität bewegt, sei es, was die Verfassung der partikularen und allgemeinen Konsoziationen betrifft, sei es, was ihre Kompetenzen und die Beziehungen zwischen den größeren universalen und den kleineren weniger umfassenderen Konsoziationen angeht. Ich beabsichtige nach allem nachzuweisen, dass eine solche Konzeption von A l thusius zum großen Teil selbständig entwickelt worden ist, die von der antiabsolutistischen Opposition des ersten Jahrzehnts der Emder Zeit ausgeht und sich i n den umfangreichen Zusätzen der zweiten und dritten Auflage der Politica widerspiegelt. Um diese These zu belegen, w i r d es sich als notwendig erweisen, auf einige ausgewählte Stellen der Politica zurückzugreifen, um diese darauf zu den geschichtlichen Fakten aus der Lebenswelt des Althusius als Syndikus in Emden in Beziehung zu setzen. 8 Vgl. Malandrino , I I Syndikat di J. Althusius a Emden (FN 4), S. 383. 9 Eine Ausnahme bildet Th. O. Hüglin, Althusius - Vordenker des Subsidiaritätsprinzips, in: Subsidiarität, hrsg. von Alois Riklin und Gerard Batliner, Vaduz 1994, S. 97-117; ders., Early Modern Concepts for a Late Modem World. Althusius on Community and Federalism, Waterloo, Ontario 1999, S. 152-168. Ich bin mit Hüglins Betrachtungen im Allgemeinen einverstanden. Aber meine Interpretation geht sowohl von einer anderen Analyse als auch von einem anderen methodischen Ansatz aus und zielt darauf ab, die spezifischen Beziehungen zwischen Althusius' Theorie und seiner praktischen Tätigkeit als Emder Syndikus hervorzuheben.

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Zuvor aber scheint es nützlich, einige kurze allgemeine Überlegungen zum Konzept der Subsidiarität und sein Verhältnis zum Naturrecht zu geben, d.h. über eine philosophisch-politische Vorstellung, die von A l thusius im großen und ganzen geteilt wird. II. Philosophisch-politische Voraussetzungen der Subsidiarität Es ist, allerdings ohne Bezug auf die begrifflich-philologische Ebene, behauptet worden, dass das Konzept der Subsidiarität mit dem des Föderalismus seit der Formulierung des althusischen Protoföderalismus verbunden ist. In der Tat sagt man, auch wenn das Wort der Subsidiarität bei Althusius selbst nicht erscheint, er begreife „den politischen Körper als aus fünf Bestandteilen bestehend: zwei privaten (die Familie und das Kollegium) und drei öffentlichen (die Stadt, die Provinz und das Gemeinwesen). ... Weil er jeder dieser Gliederungen auf der Grundlage dessen, was ihm erfüllbar schien, Verpflichtungen zuordnete, wird ihm ein früher Beitrag zum Verständnis des Konzepts [der Subsidiarität, Zusatz vom Verf.] zugeschrieben" 10 . Dem kann zugestimmt werden. Es ist jedoch allgemeiner mit dem Ziel der Überprüfung danach zu fragen, ob und i n welcher Form sich ein derartiges Konzept, von dem Fehlen des Terminus einmal abgesehen, wirklich im Denken des Althusius wiederfindet, welche Eigenart es hat und ob es, über seine kategoriale Erfassung als eines präzisen „Prinzips" der sozialen und politischinstitutionellen Organisation hinaus, wie es im katholischen Denken des 19. Jahrhunderts hervortritt, tatsächlich seiner Substanz nach schon in der Frühmoderne nachweisbar ist. Für eine Formulierung des geläufigen politischen Konzepts der Subsidiarität ist es nützlich, zum Beispiel auf den einleitenden Teil des Buchs von Clemens Stewing „Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union" Bezug zu nehmen 11 , der gerade der theoretischen Rekonstruktion des Konzepts und seiner Grenzen gewidmet ist. Hier wird, obwohl das Subsidiaritätsdenken auch zur liberalen Tradition gehört, richtigerweise bemerkt, dass es vor allem das Erscheinen der Enzykliken von Papst Leo X I I I . (1891, Rerum Novarum) und Papst Pius XI. (1931, Quadragesimo Anno) gewesen ist, das i n folgenden Worten zu einer theoretischen Formulierung des Subsidiaritätsprinzips führte: io Vgl. A. Breton, A. Cassone, A. Fraschini, Decentralization and subsidiarity: toward a theoretical reconciliation, in: Journal of International Economic Law, University of Pennsylvania X I X (1998), Nr. 1, S. 21 f. Breton, Cassone und Fraschini stützen sich auf L. Kühnhardt, Federalism and Subsidiarity, in: Telos, Bd. 25, 1992, Nr. 1, S. 77 f. h Köln 1992.

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„Wenn es nämlich zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, dass unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muss doch allzeit unverrückbar jener oberste sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln und nicht zu deuten ist: Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen (Kursivsatz vom Verf.)" 1 2 .

Diese Formulierung, die sich unter philosophisch-politischem Aspekt auf das aristotelische Modell stützt, so wie es i n der christlich-mittelalterlichen Scholastik erneut aufgenommen und überformt wurde, kann man in verschiedene Elemente unterteilen: a) die Definition des Menschen und der Gemeinschaftsgliederungen als natürliche, ursprüngliche, sich selbst genügende und autonome soziopolitische Subjekte, b) die Einforderung ihrer juristischen und politischen Fähigkeit zur Selbstverwaltung im Hinblick auf die übergeordnete Verwaltung des Staates, c) den helfenden und nicht befehlenden Charakter unterstützender staatlicher Tätigkeit in all dem, was in den Bereich örtlicher Kompetenz fällt. Dieses theoretisches Konzept geht von der Voraussetzung aus, dass alle gesellschaftlichen und staatlichen Tätigkeiten ihrer Natur nach subsidiär sein müssen, und insbesondere davon, dass die ergänzende und wohlwollende Unterstützung seitens der höheren Einheiten von Staat und Gesellschaft im Vergleich zu den kleineren Gemeinschaften insoweit erforderlich ist, als diese aus eigener Kraft nicht zur Erfüllung bestimmter Funktionen, die die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit überschreiten, in der Lage sind. Das Prinzip kann von daher wie folgt zusammengefasst werden: A l l das, was das Individuum oder untergeordnete Gemeinschaftsgliederungen allein tun können, muss ihnen erlaubt sein, und die institutionell höhere Ebene darf nur insoweit zur Unterstützung oder Hilfe hinzugezogen werden, wie es an operativen Möglichkeiten und eigenen Kompetenzen der niedrigeren Ebene i n einer Sache fehlt.

12 Dazu Stewing (FN 11), S. 7 f.

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Die Subsidiarität, von unten gesehen, stellt sich als Legitimation der Fähigkeit zur Selbstverwaltung der jeweils niedrigeren Gemeinschaften in dem dar, was die örtlichen und eigenen Funktionen angeht. Aus der Perspektive dieser Gemeinschaften muss die Intervention der übergeordneten institutionellen Ebene in all den Dingen unterstützend hinzukommen, die, obgleich örtlicher Natur, Anstrengungen erfordern können, denen sie allein nicht in der Lage sind vollständig gerecht zu werden, oder die eine notwendige Zusammenarbeit mit anderen örtlichen Gemeinschaften erfordern. Die Subsidiarität, von oben betrachtet, bezeichnet demgegenüber den Hilfscharakter der staatlichen Intervention, jedoch nicht darin, was eigene Kompetenzen betrifft, wohl aber i n den Fragen, die die örtlichen Autoritäten zum Handeln aufrufen. Bei den übergeordneten Institutionen ist der Respekt vor den Fähigkeiten und den Kräften der jeweils untergeordneten Instanzen erforderlich. Natürlich kommt einem solchen Prinzip große Bedeutung i m Hinblick auf die Machtverteilung und die Machtbeziehungen zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen in den föderalen Systemen zu, und zwar ebenso für die Beziehungen zwischen den infranationalen und nationalen wie auch zwischen den nationalen und übernationalen Ebenen. Das ist nicht zufällig in den letzten Jahren im Rahmen der Definition der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und der EU nach dem Vertrag von Maastricht wieder ins Bewusstsein gehoben worden 1 3 . Stewing zielt jedoch darauf ab, die theoretische Herkunft des Konzepts der Subsidiarität als eines soziopolitischen Organisationsprinzips aufzuzeigen, das über das 19. Jahrhundert hinaus in die mittelalterliche Gedankenwelt des scholastischen Naturrechts zurückreicht, ausgehend von Thomas von Aquin und der Wiederaufnahme der Thematik im 16. Jahrhundert, sei es im neuscholastisch-spanischen Denken, sei es in dem der Reformation. Dieser Konzeption entsprechend gehört die Fähigkeit der selbständigen Verwirklichung eigener Ziele in gebender wie auch nehmender solidarischer Kooperation mit dem Staat zur Sphäre der natürlichen Rechte des Menschen und der sozialen Gemeinschaftsbildungen. Genau in diesem Punkt ist auch Althusius einzubeziehen, dessen enge Verbindung zum Naturrecht und zu den spanischen Denkern der Neuscholastik im Übrigen i n den einschlägigen geschichtlichen Darstellungen schon hinreichend deutlich gemacht geworden i s t 1 4 . Stewing vertritt, nachdem er festgestellt hat, dass im gesellschaftsorganisatorischen Föde13 Dazu Hüglin, Early Modern Concepts (FN 9), S. 156-158. 14 Vgl. Ernst Reibstein, Althusius als Forsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe 1955; Peter Jochen Winters, Die „Politik" des J. Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i.B. 1963.

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ralismus das Subsidiaritätsprinzip nicht bereits enthalten ist, i n ihm aber einen Anwendungsbereich findet, i n der Tat die Auffassung, dass „nach der Lehre des Althusius ... jeder engere Verband als ein wahres und originäres Gemeinwesen aus sich selbst ein besonderes Gemeinleben und eine eigene Rechtssphäre (schöpft)". Diese Rechtssphäre w i r d von dem höheren Verband nur insoweit angetastet, „als dieser es zur sinnvollen Erreichung seiner eigenen Zwecke benötigt" 1 5 . I n diesem Sinne bekräftigt Stewing, dass die Subsidiarität die Ergänzung zur föderalistischen Idee bildet und der Föderalismus insoweit eine Voraussetzung und organisatorische Stütze der Subsidiarität darstellt, als er ein Macht- und Rechtsmonopol in den Händen der höheren Institutionen des Staates verhindert 1 6 . III. Die Bezugspunkte zur Subsidiarität in der Politica Es genügt jedoch nicht, i m Rahmen dieses Beitrags nur das allgemeine Vorhandensein der Subsidiarität im Denken des Althusius zu behaupten. Angesichts des Fehlens des spezifischen Ausdrucks und Begriffs ist es vielmehr notwendig, genauere Beziehungen zu einer Vision des SubsidiaritätsVerständnisses aufzuzeigen, wie sie z.B. einerseits i n der Achtung vor der Selbständigkeit der kleineren und spezifischen Gemeinschaften, andererseits in der Bejahung einer subsidiären Intervention von Seiten der größeren Gemeinschaften hervortreten, vor allem aber den Nachweis einer historischen Verbindung zwischen diesen Zusammenhängen und dem antiabsolutistischen Kampf in Emden zu führen. Natürlich ist i n einschlägigen Arbeiten verschiedentlich schon hervorgehoben worden, dass dem althusischen System der privaten und öffentlichen, der partikularen und allgemeinen symbiotischen Konsoziationen eine Stärkung der Fähigkeit zur Selbstverwaltung eigen ist. Jedoch ergibt sich nicht schon daraus ein Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsproblem. Meiner Ansicht nach ist vielmehr die Tatsache hervorzuheben, dass die Subsidiarität in das althusische System als implizites Regelungskriterium der Beziehungen zwischen den politisch-administrativen Ebenen, die den verschiedenen Formen öffentlicher Gemeinschaften entsprechen, Eingang finden kann. Schon Otto von Gierke erinnerte i m 19. Jahrhundert daran, dass jede untere Gemeinschaft in ihrer Eigenschaft als wirklich ursprüngliche das Recht auf ein eigenes partikulares soziales Leben und eine eigene rechtliche Sphäre der Selbstregierung zur Verwirklichung der ihr eigenen

15 Vgl. Stewing (FN 11), S. 24. 16 Ebd., S. 26.

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Ziele hat, d.h. auf eine Sphäre, die nicht von höheren Gemeinschaften verletzt werden darf 1 7 . Peter Jochen Winters hat auf die „autarke Selbstverwaltungskörperschaft" hingewiesen 18 . Wyduckel hat kürzlich die Tatsache unterstrichen, dass Althusius den städtischen universitates die juristisch-administrative Eigenschaft der Autonomie zuspricht, die sich in der Fähigkeit zur Eigenständigkeit ausdrückt, die ihrerseits „nur deshalb Einschränkungen unterliegt, weil die Stadt nicht für sich allein existiert, sondern einem größeren Verbände angehört, der auch für sie den rechtlichen und politischen Gesamtrahmen b i l d e t " 1 9 . Hüglin hat darüber hinaus bemerkt, dass eine nicht zentrale Verwaltung für den „integralen Föderalismus" des Althusius eigentümlich ist. Das heißt in erster Linie, „dass die oberste - zentrale - Stufe der Verwaltungsbürokratie die lokale Verwaltung nicht bis zu deren inhaltlicher Unkenntlichkeit überlagert, sondern überhaupt erst dort einsetzt, wo die Verwaltungsbedürfnisse den Rahmen partikularer Selbstregulierung übersteigen" 2 0 . Man könnte mit anderen Zitaten fortfahren, hier kommt es jedoch darauf an hervorzuheben, dass meines Wissens bei keinem dieser oder auch anderen Autoren - außer Hüglin - eine hinreichend genaue Aussage zur althusischen Konzeption der Subsidiarität gemacht wurde 2 1 . Eine solche wäre aber vielleicht der richtige Rahmen, i n den der gesamte föderative Zusammenhang der sozialen und politischen Beziehungen zwischen den kleineren und größeren Gemeinschaften eingeordnet werden kann. I n der Tat ist es auf der Grundlage der Lektüre des althusischen Textes möglich festzustellen, dass a) die öffentlichen und privaten, die partikularen und allgemeinen Konsoziationen auf verschiedenen Ebenen dank der Unterstützung der sie ausmachenden Glieder gebildet werden, b) die kleineren Gemeinschaften legitimer Weise für die Selbstverwaltung der sie personal und örtlich betreffenden Materien zuständig sind, i? Vgl. Otto von Gierke , G. Althusius e lo sviluppo storico delle teorie politiche giusnaturalistiche, Torino, Einaudi, 1943, S. 187. Zur bezeichnenden Verbindung zwischen Teilhabe an der Regierung des Gemeinwesens und Anti-Absolutismus siehe jetzt: Robert von Friedeburg, Reformed Monarcomachism and the genre of the „Politica" in the Empire: The „Politica" of J. Althusius and the meaning of hierarchy in its constitutional and conceptual context, i n Archivio della Ragion di Stato, Università di Napoli, 6 (1998), S. 129-153. 18 Vgl. Winters, Die „Politik" des J. Althusius (FN 14), S. 201. 19 Vgl. Wyduckel, Föderalismus als rechtliches und politisches Gestaltungsprinzip bei J. Althusius und J. C. Calhoun, in Konsens und Konsoziation (FN 5), S. 267. 20 Vgl. Hüglin, Sozietaler Föderalismus (FN 6), S. 146. 21 Vgl. Hüglin, F N 9.

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c) die allgemeinen politischen Gemeinschaften deshalb bestehen, weil sie, mit dem Einverständnis ihrer Glieder, für die alle angehenden Dinge Sorge tragen, die Grundlage der weiteren Symbiose sind, indem sie auf eine subsidiäre Art und Weise in solchen Fragen intervenieren, die die Möglichkeiten der Selbstverwaltung der kleineren Gemeinschaften übersteigen, d) in den wichtigeren Angelegenheiten der höchste Magistrat die Zustimmung der Stände haben muss, die nichts anderes als die Repräsentanten der kleineren Gemeinschaften sind, die so die eigene Selbstregierungs- und Kontrollgewalt wahrnehmen. Dies vorausgeschickt, wollen w i r uns näher ansehen, was die Politica hierzu sagt. Beginnen w i r mit den Ausführungen im sechsten Kapitel, das den ersten großen Bruch zwischen der Ausgabe von 1603 und den folgenden von 1610 und 1614 darstellt. Hier ist i n Erinnerung zu rufen, dass in der ersten Auflage der Politica das sechste Kapitel den „Grundgesetzen des Reiches und dem kirchlichen Souveränitätsrecht" gewidmet war, d.h. der Materie, die i n den folgenden Auflagen erst vom neunten Kapitel an behandelt wurde. Wenn w i r die dritte Edition näher prüfen, die, obwohl sie keine wesentlichen Neuerungen gegenüber der zweiten erhält, jedenfalls die vollständigste ist, kann man feststellen, dass gut drei Kapitel hinzugefügt wurden - das sechste, das siebente und das achte - und dass diese durchweg der Stadt und den Provinzen, ihrem Gemeinschaftsrecht und ihrer Verwaltung gewidmet sind. Es ist bezeichnend, dass zwischen diesen Neuerungen auf theoretischer Ebene und den antiabsolutistischen praktischen Erfahrungen, die bei Althusius in den ersten Jahren des Aufenthaltes in Emden gereift sind, i n evidenter Weise ein enger Zusammenhang besteht. Es sei am Rande bemerkt, dass schon in der Auflistung der allgemeinen politischen Prinzipien die Definition des symbiotischen Lebens enthalten ist. Im ersten Kapitel (§ 7) bekräftigt Althusius bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs der „communicatio mutua" innerhalb jeder Gemeinschaftsform, dass eines ihrer Ziele die Selbständigkeit (αυτάρκεια) der Lebensgemeinschaft ist. Im fünften Kapitel (§ 4) hebt er darüber hinaus hervor, dass die Gemeinschaften jeden Grades i m Hinblick auf ihre Selbständigkeit i n dem Maße größere Hilfe und Unterstützung benötigen, i n dem sie sich ausdehnen. Im sechsten Kapitel, das den Titel trägt „Über die Arten der Stadt und die Bürgerkommunikation", sind die i n den §§ 15-17 genannten Erfordernisse hervorzuheben, die das Konzept der symbiotischen Autarkie i n einem Sinne vervollständigen, der stark an das erste der erwähnten Elemente der Subsidiarität erinnert, oder besser gesagt: an jenes der Autarkie und Autonomie der natürlichen und ursprünglichen Gemeinschaftsbildungen. Althusius sagt, dass

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aus der Vergemeinschaftung von Sachen, Werken und Rechten unter den Bürgern in wechselseitiger, auf die symbiotische Autarkie gerichteter Eintracht genau das Politeuma entsteht, das das symbiotische Recht der Stadt ist. Und, so fährt Althusius fort, i n der gleichen Weise, i n der der Mensch mit einem „Mikrokosmos" identifiziert wird, so behandeln auch die Städte und kleinen Gemeinwesen ihre Angelegenheiten i n analoger Weise zu jener, i n der dies in den Provinzen und im ganzen Reich geschieht. Dieser Gemeinschaftstyp w i r d aufgrund seiner Bedeutung „civitatis nervus" genannt. Dieses allgemeine Prinzip ist eben so sehr auf die symbiotische Vergemeinschaftung der städtischen universitas wie auch auf ihre Verwaltung im Bereich ihrer Kompetenzen anwendbar, die Althusius übrigens i n den folgenden Paragraphen aufzählt. Es erscheint mir wichtig, diese Passage hervorzuheben, die in grundsätzlicher Weise das Konzept der autarken Regierung der städtischen Gemeinschaft im Rahmen ihrer örtlichen Zuständigkeit umschreibt 2 2 . Hier w i r d das Prinzip bekräftigt, dass ein kleinerer politischer Körper aufgrund seiner eigenen inneren Verfassung und seiner wesentlichen Zielsetzungen dazu berechtigt ist, die eigenen Zuständigkeiten auf der Ebene der Gemeinschaft und ihrer Verwaltung autonom zu handhaben und auszuführen. I n §30 führt Althusius die Subjekte der örtlichen Verwaltung und die wichtigsten Materien auf: „Politica negotia civitatis, quae usum vitae hujus, αύτάρκειαν, atque summatim ea, quae in tabula secunda Decalogi continentur, concernunt, administrant judices, senatores, consiliarii, syndici, censores, quaestores aerarli, praefecti publicis operibus, curatores viarum publicarum, portuum, aedificiorum, murorum, et aliorum operum publicorum et rerum universitatis, aediles cereales, praefecti urbis, vigilum et alii similes" 2 3 . Jedoch bleibt Althusius nicht beim Konzept der Autarkie stehen, das auf der juristischen Ebene eine eingeschränkte und instrumenteile Bedeutung hat; er bringt die charakteristischen politischen Merkmale der „autonomia" klar zum Ausdruck, die der Regierung der Städte zugesprochen werden, die gleichwohl einen „Höheren" über sich anerkennen. In § 4 1 fügt Althusius, dem das öffentliche Leben in Emden vor Augen 22 Nicht von ungefähr spricht Carl Joachim Friedrich in der Einleitung zur Edition der Politica methodice digesta, Cambridge, Harvard University Press, 1932, S. L X X X V I L , von Selbstverwaltung und Dezentralisierung. Vgl. von Friedrich auch: J. Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975. 23 „Die politischen Angelegenheiten der Stadt, die ihre Lebensgewohnheiten, ihre Autarkie, kurz das betreffen, was die zweite Tafel des Dekalogs enthält, all dies wird von Richtern, Senatoren, Syndici, Zensoren, Schatzmeistern, Aufsehern über die öffentlichen Arbeiten, Kuratoren für die öffentlichen Straßen, Häfen, Gebäude, Mauern und andere öffentliche Werke und Sachen der Gesamtheit, von Beauftragten für die Getreideversorgung, Präfekten der Stadt und der Wächter sowie von anderen ähnlichen Personen wahrgenommen".

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steht, hinzu, nachdem er bekräftigt hat, dass den Bürgern auch die Bürgerrechte, Privilegien, Statuten und Wohltaten zuteil werden, die die Stadt groß und berühmt machen: „Quo refero etiam jus territorii, αύτονομιαν et usum regalium, aliaque jura publica cum jurisdictione et imperio, quae civitas etiam agnoscens superiorem, suo proprio jure habere, et certis pactis superiori suo magistratui alias subesse potest, vel etiam prorsus libera, nullum praeter Caesarem superiorem agnoscens" 24 . Wohlgemerkt: Die starke Bekräftigung der Autonomie auch für die Stadtgemeinden ist jedoch nicht als Inanspruchnahme eines eigenen Souveränitätsrechts zu verstehen, das keinen anderen über sich anerkennt, etwa in dem Sinne, als ob Althusius - einigen Darstellungen zufolge, die aus ihm den Verfechter eines Souveränitätsanspruchs republikanischen und städtischen Typs machen 25 - wirklich an eine Stadt denken würde, die mit Souveränitätsattributen ausgestattet ist. Die Dinge liegen ganz und gar nicht so, zumindest in seiner politischen Theorie. In der Tat stellt er in § 42 zutreffend klar, dass man i n diesen Fällen von Autonomie und nicht von Souveränität sprechen müsse: „Personalia jura principum, civitates hae habere non possunt [...] neque universalem jurisdictionem extra territorium [...]. In politia Judaica et aliorum populorum olim civitates suam autonomiam, politiam et regem proprium habuisse constat" 2 6 . Nachdem diese Unterscheidungen gemacht sind, die die Rede auf das Gleis der Anerkennung einer Autonomie in der Stadtregierung bringen, zählt Althusius in den folgenden Paragraphen die Materien auf, in denen sich die autonome Selbstverwaltungskompetenz verwirklicht. Es liegt nicht i n der Absicht des Althusius, das Vorhandensein eines Praeses an der Spitze der städtischen Verwaltung oder des Landes auszuschließen, der im Falle Ostfrieslands ruhig der Graf oder einer seiner Stellvertreter sein kann, wenn sie nur die beanspruchten Rechte der Autarkie und Autonomie der von ihnen Regierten respektieren. Soviel steht jedenfalls fest, dass Althusius in § 48 des sechsten Kapitels schreibt: „Administratio et directio horum jurium et communicationis, quae est in universitate, consensu ejusdem demandata est collegio senatus, [...] cui in municipalibus civitatibus [d.h. in Emden und ähnlichen Städten, wie 24 „Dazu zähle ich auch das Terr it or air echt, die Autonomie und die Ausübung der Regalien und andere öffentliche Rechte mit Jurisdiktion und Befehlsgewalt, die auch eine Stadt, die einen Höheren anerkennt, aus eigenem Recht haben kann und ansonsten ihrem höheren Magistrat aufgrund fester Verträge Untertan ist, erst recht aber eine freie Stadt, die außer dem Kaiser keinen Höheren anerkennt." 25 Vgl. Antholz, Die politische Wirksamkeit (FN 1), S. 178 und Behnen, „Status regiminis provinciae". (FN 5), S. 152. 26 „Persönliche Fürstenrechte können diese Städte nicht haben, auch nicht die universelle Jurisdiktion außerhalb ihres Territoriums. Im jüdischen Gemeinwesen und i n dem anderer Völker besaßen die Städte einst bekanntlich ihre Autonomie, ihre Verfassung und ihren eigenen Herrscher."

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Althusius wenig später in § 52 zu verstehen gibt, Zusatz vom Verf.] ... praeest provinciae praeses, seu superior, vel nomine ipsius, illius vicarius" 2 7 . Wenn man nach allem eine vorläufige Schlussfolgerung bezüglich des bis hier ausgehend von den Zitaten des Althusius behandelten Themas ziehen will, so dachte unser Autor an eine Selbstverwaltung der universitates, die tatsächlich in die von Wyduckel betonte Eigenständigkeit einmünden würde. Eine derartige Fähigkeit zu autonomer Regierung, die eine positive Beziehung zu den höheren Instanzen der Verwaltung nicht ausschließt, ja sogar voraussetzt, entspricht genau dem ersten Teil der oben definierten Subsidiaritätskonzeption, oder doch einer solchen, die die Handlungslegitimation zur Selbstregierung der unteren Ebenen angeht. Unter diesem Aspekt sind auch das siebte und achte Kapitel schlüssig, die das Recht der provinzialen Gemeinschaften und Verwaltung betreffen, welche wiederum analoge Zwecke zu denen der βιαρκεια, κοινοπραξί α und αυτάρκεια verfolgen. Der zweite Teil der Subsidiaritätskonzeption, der die Definition der Leitung der höheren Ebenen im Hinblick auf ihre Beziehung zu den K r i terien der Hilfe und einer nicht autoritären Intervention betrifft, ist aus dem hergeleitet, was Althusius selbst im wichtigen Kapitel acht bekräftigt, das der Verwaltung des provinzialen Rechts gewidmet ist, sowie im Kapitel neun, das das Recht der Souveränität behandelt. In Kapitel acht w i r d in der Tat klarsichtig die Duplizität der Verwaltung dargelegt, die den Ständen und dem Präses der Provinz obliegt, die erst in ihrer Gesamtheit „die ganze Provinz repräsentieren". Deshalb ist ein Vorrang des Praeses (in Friesland: des Grafen) tatsächlich ausgeschlossen. Dieser ist jedoch in Anwendung der eigenen Leitungsrechte, so wie es durch den höchsten Magistrat vorgeschrieben ist, dazu verpflichtet, i n Situationen der Not und Bedürftigkeit allen Symbioten Hilfe zu leisten, um deren Wohl (eorundem commoda) zu fördern. Er muss somit dem Gebot des öffentlichen Wohls folgen und darf nicht aufgrund eigener spezifischer Machtinteressen handeln 2 8 ; sondern ist zum Eingreifen verpflichtet, wenn die geschlossenen Verträge dies vorsehen, um die Rechte und Freiheiten der Untertanen zu verteidigen. Wenn dies nicht der Fall ist und der Magistrat in dem Sinne zum Tyrannen wird, dass er eigenmächtig die eigenen Verwaltungsbefugnisse ins Gegenteil verkehrt, dann werden schlagartig alle die Ephoren betreffenden Vorschriften mit dem Ziel des Widerstandes gegen die Tyrannis ausgelöst. Die Modalitäten des Widerstandes sind jedoch unter dem Aspekt des hier zusammengestellten Be27 „Die Verwaltung und Leitung dieser Gemeinschaftsrechte der Körperschaft ist mit ihrer Zustimmung dem Senatskollegium übertragen [...], dem in städtischen Gemeinden der Praeses oder Obere der Provinz oder in dessen Namen sein Vertreter vorsitzt." 28 Vgl. Winters, Die „Politik" des J. Althusius (FN 14), S. 231.

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standes an Gründen i m Licht des Subsidiaritätsgedankens, wie er bis jetzt dargelegt wurde, interpretierbar, insbesondere was die Antwort von unten auf die mangelnde Achtung der Verwaltung des Gemeinwesens seitens des Magistrats angeht. Es ist evident, dass für Althusius die Zentralität der „Wissenschaft der Akkorde", d.h. der Verträge, und sein Versuch, die durch den Grafen von Ostfriesland begangenen Verstöße Punkt für Punkt zu konterkarieren, in diesen Zusammenhang insofern einzuordnen sind, als er, wie sich im folgenden zeigen wird, gerade deshalb nach Emden kam, um dem Haager Vertrag gegenüber den gräflichen Maßnahmen, die durch den Kanzler Thomas Franzius und den damaligen Emder Syndikus Dothias Wiarda veranlasst wurden, wieder Achtung zu verschaffen. IV. Die antiabsolutistische Praxis des Althusius in Emden A n dieser Stelle kann nun versucht werden, die vorgenannten theoretischen Überlegungen mit den konkreten Erfahrungen des Althusius als Syndikus in Emden zu verbinden. Hier ist vor allem der Zeitraum von 1604 bis 1611 i n Erwägung zu ziehen, der der ersten und entscheidenden Phase des Kampfes zwischen Emden und dem Grafen Enno III. von Ostfriesland entspricht, ausgehend vom Haager Akkord vom 8. A p r i l 1603 bis zur Unterzeichnung des Vertrags von Osterhusen vom 21. Mai 1611, der, dank der von den niederländischen Generalstaaten gegebenen Garantie, einen faktischen und rechtlichen Status bestätigte, der trotz der zeitweiligen Fortdauer der Konflikte nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wurde. Zu diesem Zweck wird ein Bezug zu den anfangs zitierten grundlegenden historischen Untersuchungen hergestellt, insbesondere zu der von Antholz (die i n ihren Grundaussagen von Deeters und, mit einigen Differenzierungen, von Behnen wieder aufgenommen wurde), wobei diese wiederum mit den bedeutenden, von Wiemann zusammengestellten Materialien und den methodologischen Überlegungen und der eingehenden kontextuellen Rekonstruktion von Kappelhoff verbunden werden. Davon ausgehend erscheint es angebracht, die wichtigsten historischen Fakten der Zeit kurz darzulegen und die auf die Tätigkeit des Althusius bezogenen Einschätzungen i n Erinnerung zu rufen, um darauf zu einer Charakterisierung seiner politischen Aktivitäten zu gelangen. Der Haager Akkord bekräftigte die grundlegenden Punkte des Vertrages von Delfzijl (der nach der „Revolution" von 1595 29 die verfassungsrechtliche Ordnung Emdens in der Grafschaft Ostfriesland neu definiert hatte), legte aber - unter ausdrücklicher Annahme durch den Grafen 29 Vgl. dazu: Die „Emder Revolution" von 1595, hrsg. von H. van Lengen, Aurich 1995.

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die Freiheiten, Privilegien und Rechte, die in ihrer Gesamtheit die Formen städtischer Selbstregierung festlegten, besser und detaillierter fest. Nach der Festlegung der Amnestie für die an den vorangehenden Konflikten von 1603 beteiligten Personen im ersten Artikel, wird in den Artikeln 2 bis 4 die Befreiung der Gefangenen beider Seiten und die Heilung materieller und wirtschaftlich-kommerzieller Schäden erklärt. Wichtig sind Artikel 6 (Autonomie der Wahl von Pastoren und Predigern), Artikel 7 (Wahl und Einsetzung der städtischen Selbstregierung durch eigene örtliche Institutionen), Artikel 8 (Rechtsprechung), Artikel 9 und 10 (Verteidigung), Artikel 11 (Gültigkeit der seerechtlichen Befugnisse Emdens), und Artikel 12 (örtliche Herkunft der gräflichen Beamten; Befugnis der Stände in Verteidigungsangelegenheiten). Im Licht dieser Bestimmungen ist die geschichtliche Ausgangsposition derjenigen meines Erachtens nicht überzeugend, die - wie Antholz oder Deeters davon ausgehen, dass zum Bruch dieses Vertrages, der klar darauf ausgerichtet war, die städtische Selbstregierung zu garantieren, dieselben Emder Vertreter bereit gewesen seien sollen, die sich unter der geistlichen und politischen Leitung von Menso A l ting „oligarchisch" zusammengefunden hätten 3 0 . Es erscheint demgegenüber überzeugender anzunehmen, dass die Initiative, den Haager Akkord zu missachten mit dem Ziel, i n der Grafschaft Ostfriesland offen eine absolutistisch-territoriale Herrschaft zu errichten, wie es in Deutschland auch andernorts geschah, im Grunde mit der gräflichen Aktion begann, die von Kanzler Franzius unter dem Oberbefehl von Enno III. ins Werk gesetzt wurde (der schon seit 1599 entschieden gegen die von seinem Vater Edzard II. unterzeichneten Vereinbarungen von Delfzijl protestiert hatte). Im folgenden seien einige Ereignisse und Fakten wiedergegeben, die für den Verlauf dieses Kampfes kennzeichnend sind. Sehen w i r uns die wichtigsten davon näher an. Das Zusammentreffen von Esens 1605, das die direkte Konfrontation zwischen Enno III. und Althusius anlässlich der Auszahlung der niederländischen Garnison offenbar werden ließ, zeigt, dass der Zorn des Grafen aufgrund der Weigerung des Althusius losbrach, der Stadt Kosten aufzubürden, die seiner Meinung nach dem Land oblagen, einer Weigerung, die dem Grafen tatsächlich als äußerste Beleidigung von Seiten der stolzen Stadt gegenüber seinen absolutistischen Forderungen erschien. Natürlich war die Präsenz der niederländischen Truppen den Überlegungen des Althusius zufolge nicht so sehr in Verbindung mit der bloßen Verteidigung der Stadt, als vielmehr im Zusammenhang mit dem unsicheren Status und dem allgemeinen Kriegszustand im Hinblick auf 30 Vgl. Antholz, Die politische Wirksamkeit (FN 1), S. 30 und 230; Deeters, Geschichte der Stadt Emden (FN 3), S. 279 und 318.

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die Spanier zu sehen, die i n der Zwischenzeit in Ostfriesland von Lingen her einmarschiert waren. Das Verlangen, die Auszahlung der Garnison aus den Kassen der gesamten Grafschaft zu tätigen, war daher nicht unbegründet. Die dazu gestellte Bedingung, den finanziellen Zahlungsfluss zu kontrollieren, beruhte auf der Tatsache, dass die Truppen sich auf Emder Territorium aufhielten und regelmäßig bezahlt werden mussten, weil für die Bevölkerung die Gefahr bestand, dass bei einem möglichen Ausbleiben der Zahlungen Gegenmaßnahmen von Seiten der Soldaten zu besorgen seien. Diese Esener Ereignisse sind im Zusammenhang mit der Vision einer städtischen Autonomie zu sehen, die auf das Innere der Subsidiaritätsbeziehungen zwischen den niedrigeren und höheren Gemeinschaften abzielt. So passierte all dies in demselben Jahr, in dem die Frage nach dem Sitz der Gerichtsbarkeit in Angelegenheiten städtischer Kompetenz aufkam. Die Beschlüsse des Landtages, der i n Emden i m September 1606 abgehalten wurde, waren im Hinblick auf die fiskalisch-administrative Kompetenz der Stadt günstig und beglaubigten jene Autarkie und Autonomie, die im Haager Akkord verkündet und von Althusius in der zweiten Auflage seines politischen Werks feierlich bekräftigt wurde. Im März 1607 brach die neue und viel tiefgreifendere Krise auf, die durch die unrechtmäßige Beschlagnahme von 40 Schiffen zusammen mit der Gefangennahme von circa 600 Emder Seeleuten durch die Spanier in Cadiz ausgelöst wurde, ungeachtet der (durch die Vermittlung des Syndikus) erbrachten Versicherung des Stadtregiments, dass der Frieden mit dem Grafen wiederhergestellt und Emden im Krieg zwischen Spanien und den Niederlanden formell neutral sei. Im Verlauf dieser Krise, die das Gemeinschaftsleben Emdens durch Unruhen und Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppierungen tief beeinflusste, ersuchte die Verwaltung i m Juni den Grafen einzugreifen, um den ausgestellten Seepässen Geltung zu verschaffen und die Schiffe wiederzuerlangen sowie die Geiseln zu befreien. Aber der Graf blieb der genau bestimmten Subsidiaritätsverpflichtung gegenüber, die in der althusischen Theorie als Aufgabe des obersten Magistrats und des Präses der Provinz so gegenwärtig ist, untätig und ohnmächtig. Von daher w i r d die Entscheidung der Stadt verständlich, i m November desselben Jahres Enno III. die Anerkennung als rechtmäßigem Herrscher zu verweigern, die von Althusius als ein für den antityrannischen Widerstand vorgesehener Fall gerechtfertigt wurde. Als Folge hiervon begann die bewaffnete Konfrontation zwischen der Stadt und dem Grafen von Neuem, was zu den bekannten Emder Angriffen zu Aurich und Greetsiel von 1609 führte, zu den Plünderungen und zur Beschlagnahme der Archive sowie zur Festnahme verschiedener Männer des Grafen. Bislang hat das Antholz folgende einschlägige histo-

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rische Schrifttum Ereignisse wie diese als Beweise eines engstirnigen und aggressiven oligarchischen Geistes der von Alting, Althusius und Emmius geführten calvinistischen „Partei" beurteilt, m.a.W. einer tendenziell diktatorischen Gruppe, die kurzsichtig und unfähig gewesen sei zu erkennen, welches die konkreten und notwendigen Interessen der Stadt und des Landes gegenwärtig und i n Zukunft sein würden. Man hat sogar - aber dies scheint mir nicht ganz begründet - von einer Absicht des Althusius gesprochen, ein republikanisches, aber despotisches souveränes Regime i n Emden zu errichten 3 1 . Es scheint mir demgegenüber nützlich, die Dinge im Licht der bis hier zum Thema der allgemeinen politischen Konzeption der Subsidiarität angestellten Überlegungen genauer nachzuprüfen, die i n den Konzepten der Autarkie und der städtischen Autonomie, aber gewiss nicht in dem der Souveränität, gedanklich verdichtet sind (ohne dabei allerdings Werturteile zu äußern, die allein mit der älteren, auf den Rekonstruktionen der Beamten des Grafen beruhenden Geschichtsschreibung des 17. und 18. Jahrhunderts übereinstimmen). Zu diesem Zweck kann ein von Wiemann zitiertes Dokument nützlich sein 3 2 . Dabei handelt es sich um eine schriftliche Ausarbeitung zum Stadtregiment, die sicherlich unter Mitarbeit des Syndikus entstanden und dem Grafen zwischen 1608 und 1609 zugänglich gemacht worden ist. Die darin enthaltenen Forderungen nehmen genau die Direktiven der Akkorde von Haag und Delfzijl wieder auf, indem sie deren Beachtung einfordern. In Artikel 3 w i r d der Forderung auf Entlassung des gräflichen Rats Franzius und der anderen Beamten Ausdruck gegeben, die als Urheber der gegen Emden gerichteten Maßnahmen identifiziert werden. Des weiteren und als Folge davon w i r d verlangt, dass die neuen Beamten des Grafen, außer Friesen zu sein (was der lutherische Jurist Franzius nicht war), das Plazet der Stände des Landes haben müssten. Darauf werden die damit zusammenhängenden Gewährleistungen, Rechte und Freiheiten auf dem Gebiet der Rechtsprechung, des Handels, des Finanz- und Fiskalwesens wiederholt. Da es an alldem aber mangelte, wird in Artikel 15 das Recht bekräftigt, den Herrschaftseid zu lösen und Widerstand zu leisten. Darüber hinaus w i r d eine Garantie der Generalstaaten verlangt. Die daraus gezogene Schlussfolgerung Wiemanns ist bezeichnend; er behauptet nämlich, dass dies „eine Selbständigkeit der Stadt" dem Grafen gegenüber bedeute, sei es auf

31 Vgl. Antholz, Die politische Wirksamkeit (FN 1), S. 98 („Er setzte, wie der Fall Witfeld zeigt, auch sein kirchliches Laienamt und seinen Einfluss auf die Emder Kirche für das eigentliche Hochziel seiner Politik, nämlich die unabhängige freie Stadtpolitik, ein [...] Deshalb sein Kampf für eine ,aristokratische', autoritäre und notfalls diktatorische Regierung ...") und 117. 32 Vgl. Das Dokument ohne Datum und die einschlägigen Überlegungen Wiemanns (FN 2), S. 76-78.

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dem Gebiet der Militärgewalt, sei es auf dem der Mitwirkung der ständischen Vertreter im Bereich der Rechtsprechung. Die Fakten weisen indessen i n eine andere Richtung. Die Ereignisse bis 1609 sind vom Abschluss des 12-jährigen spanischniederländischen Waffenstillstands bestimmt. Dadurch und zusammen mit der Entscheidung Ennos, den Generalstaaten die Benutzung der Festung Leerort anzubieten, verringerte sich für die Niederlande die strategische Notwendigkeit, i n Emden einen wichtigen Verbündeten zu haben. Diese Neuorientierung machte sich in den 1610 eingeleiteten Verhandlungen bemerkbar, die im Vertrag von Osterhusen kulminieren. Veranlasst durch das unabdingbare Bedürfnis, die Feindseligkeiten zwischen den ,Parteien' zu beenden, um die „Zerstörung des Staates Ostfriesland" zu vermeiden, machte sich in der Artikelfolge des Vertrags das Übergewicht der rechtlichen Belange des Grafen im Verhältnis zur Forderung nach einer Erweiterung der städtischen Autonomie deutlich bemerkbar. Sicher bedeutete Osterhusen eine partielle Schaffenspause für Althusius und das Emder Stadtregiment (von „Niederlage" zu sprechen, wie es Deeters tut, scheint mir die Rolle, die Althusius bei diesen Ereignissen spielte, etwas zu überschätzen) 33 , aber ich glaube nicht, dass man sagen kann, dass dies zu einer Denaturierung der früheren konstitutionellen Verhältnisse führte. Betrachten w i r daraufhin die im Vertrag enthaltenen Bestimmungen. Die für Emden festgesetzten Kosten bezüglich der Wiedergutmachung der verursachten Schäden an den gräflichen Gütern und souveränen Vorrechten waren drückend, wurden aber vollständig anerkannt und entschädigt. Es wurde jedoch eine spezielle Kommission eingesetzt (der auch Althusius angehörte), die beauftragt war, Lösungsvorschläge für das Problem der Gerichtsbarkeit im Land zu unterbreiten. Außerdem wurde feierlich bekräftigt, dass die Rechtsprechung des Hofgerichts künftig unter Ausschluss von Willkür und Arglist erfolgen sollte. Folgerichtig wurden strenge Vorschriften erlassen, um eine korrekte und kontrollierte Arbeitsweise der Justiz im friesischen Hofgericht zu gewährleisten, dem sich auch der Graf zu beugen hatte. Nicht ohne Grund wurde der Osterhuser Vertrag wie eine Art Magna Charta Ostfrieslands und ein Spiegelbild der gefestigten ständischen Verfassung des Landes aufgenommen. Was schließlich die Probleme angeht, die die Verwaltungs- und Handelsautonomie Emdens näher betreffen, bestätigte der Vertrag die vorhergehenden Bestimmungen, genauer gesagt: a) die Unabhängigkeit und Rechtmäßigkeit der örtlichen Gewalten, wie aus der Formulierung hervorgeht „Die Regierung der vorgenannten 33 Vgl. Deeters, Geschichte der Stadt Emden (FN 3), S. 324.

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Stadt Emden soll allein Bürgermeistern und Rat in ihrer Gesamtheit obliegen" 3 4 ; b) die Gültigkeit und Wirksamkeit der Emden verliehenen Seerechte. Man kann deshalb die Auffassung vertreten, dass der Osterhuser Vertrag (den Wiemann zu Recht als die letzte Etappe eines 50jährigen konstitutionellen Schaffens gegen die schwache Dynastie der Cirksena betrachtet, die unfähig war, sich der Erfüllung der durch den fürstlichen Absolutismus auferlegten Pflichten gewachsen zu zeigen), bei Althusius das Bewusstsein der Notwendigkeit hinterließ, über die erworbenen Autonomiepositionen hinaus die Konsolidierung des Emder städtischen und kirchlichen Regiments zu verfolgen und eine „kalte" Fortsetzung des antiabsolutistischen Kampfes gegen die gräfliche Bürokratie zur Bestärkung einer „subsidiären" Konzeption der Beziehungen zwischen den Herrschaftsgewalten des Landes anzustreben. V. Schlussbemerkungen Im darauffolgenden Zeitraum ging es um andere politische und juristische Konflikte, in denen inzwischen ein Althusius agierte, der nach dem Tode Altings 1612 und der Wahl zum Kirchenältesten 1617 seine Macht als einflussreicher Mann der städtischen Verwaltung vermehrt hatte. Antholz und Behnen haben die Ereignisse von 1620 und 1624-25 beschrieben, zu denen der Syndikus weitere Schriften verfasste, i n denen die städtische Autonomie auf dem Gebiet der Münzrechts und erneut der Rechtsprechung gegenüber dem Grafen gefordert wurde. Man könnte darin das Bestreben sehen, aus Emden, wie Althusius sagt, „die Hauptstadt und Vormauer" Ostfrieslands 35 zu machen, doch hat Behnen meiner Ansicht nach richtig festgestellt, dass eine solche Absicht nicht als Versuch getadelt werden kann, die Stadt zu Lasten der Landstände auf eine höhere Stufe zu heben, weil Althusius die Berechtigung der ständischen Strukturen nicht grundsätzlich in Zweifel zog. Aber es ist Zeit, zu Schlussfolgerungen zu kommen, weil dies der Punkt ist, um den es hier geht: der des antiabsolutistischen Kampfes des Althusius und der von ihm ausgehenden Einwirkungen und Veränderungen auf die Politica unter Berücksichtigung der Subsidiarität. Antholz hat begründet vertreten, dass sich die bedeutenderen Einflüsse der Praxis auf die Theorie im einzelnen in den Kapiteln fünf und sechs der zweiten Auflage finden, die die Definition der städtischen consociatio und die politischen Behörden und Organe ihrer Verwaltung betreffen. 34 Vgl. den Text des Vertrags bei Wiemann (FN 2), S. 239. 35 Vgl. Behnen, „Status regiminis provinciae". (FN 5), S. 153.

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Der Rolle der Stadt w i r d s.E. i n Bezug auf das Land und die Provinz große Bedeutung zugesprochen. Speziell die Emder Erfahrung w i r d jedoch als besondere Inspiration - meiner Meinung nach einschränkend im Hinblick auf die Erweiterung und den theoretischen Gehalt des althusischen politischen Traktats nur insoweit einbezogen, als sie das Problem der Definition und der Formen des Ständestaats sowie das des Widerstandsrechts gegen die Tyrannei betrifft. Das Modell des Ständestaates, diese universale „Einheit der Verbindung zwischen Stadt und Staat", das in der ersten Auflage noch unvollständig und ohne zureichende nähere Bestimmung, ausführlich dagegen in den Kapiteln sieben und acht der dritten Auflage in seinem charakteristischen Dualismus institutionalisierter Macht zwischen Herrscher und Ständen in der Darstellung des Rechts und der provinzialen Verwaltung behandelt wird, wäre Althusius nach Antholz nicht nur und nicht so sehr durch das Beispiel der Niederlande nahegelegt worden, als vielmehr durch die allmählich gereifte Erfahrung selbst, die durch den direkten Kontakt der Teilnahme an den ständischen Versammlungen und durch den ostfriesischen Ständekampf bedingt ist. Von daher ist Antholz ganz überzeugt, in den praktischen Forderungen, die von Althusius befürwortet werden, eine Art Gewaltenteilung zwischen Graf und Ständeversammlungen zu sehen - auf der einen Seite die Würde der Exekutive, des Mandatars, auf der anderen die Gewalt der Legislative und der Kontrolle der körperschaftlichen Organe als Inhaber der Volkssouveränität - und damit den Kern eines Modells konstitutioneller Gewaltenteilung, die in gewisser Weise dem 17. Jahrhundert um Jahrzehnte vorauseilt und Schule macht, wobei die Anspielung auf den englischen Fall durchscheint. Obwohl man nicht von „Gewaltenteilung" und „parlamentarischer Vertretung" des Volkes im modernen Sinne sprechen kann, verkörpert „die Staatsform der althusischen Provinz", wie Antholz schreibt, einen entscheidenden Fortschritt des spätmittelalterlichen monarchischen Ständestaats auf dem Wege zum modernen Staat 3 6 . Noch bedeutsamer ist die Verbindung zwischen den zehn Jahre andauernden Emder Kämpfen gegen die „tyrannischen" Machenschaften des Grafen von Ostfriesland und der Erweiterung des dem Widerstandsrecht gewidmeten Teils der Politica in der zweiten und der dritten Auflage. Von der zunächst begrenzten Behandlung, die in spezifischer Weise ans Ende des 14. Kapitels der ersten Auflage gestellt ist, kommt man, wie Antholz bemerkt, zum theoretisch zentralen und sehr entwickelten, obwohl beinahe am Schluss stehenden 38. Kapitel der dritten Auflage. Dessen einleitender Teil ist hinlänglich bekannt; er beginnt mit einer neuen Definition der Tyrannis, die nicht nur als einzelner tyrannischer 36 Vgl. Antholz, Die politische Wirksamkeit (FN 1), S. 143.

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A k t und nicht so sehr als Tyrannis ex defectu tituli gesehen wird, sondern vielmehr als „das Gegenteil einer rechtschaffenen und korrekten Verwaltung", als andauernder Versuch, die Grundgesetze des Staates zu missachten und abzuschaffen (darunter auch die „wahre" Religion), als eine vollständige oder teilweise Verwaltung „der Angelegenheiten und Güter des konsoziierten Körpers im Gegensatz zur Frömmigkeit und Gerechtigkeit". Dem entsprechend ist die Auflistung der Fälle der Tyrannis erweitert, sind ausführlich die Widerstandsverfahren und die ephoralen Kompetenzen beschrieben. Insgesamt entspricht das 38. Kapitel der Politica vollständig, dies ist die These von Antholz, der „methodischen Polit i k " des Syndikus, die dem Magistrat als Inkarnation ephoraler Macht in der Emder Situation i n einer fortschreitenden, gegen Enno III. unternommenen Aktion nahegelegt wird: Mahnung, Verhandlungsvorschlag, Gehorsamsverweigerung, passiver und aktiver Widerstand, schließlich Beendigung der gräflichen Herrschaft und ihrer Jurisdiktion. Was die Thematik des Ständestaates betrifft (obwohl es mir fragwürdig scheint, dass sie erschöpfend für das Denken und Handeln des Althusius sein kann), ist zuzugeben, dass hier ein tragfähiger konzeptioneller Rahmen vorliegt, der dem spezifischen Fall angemessen ist, und es scheint keine Schwierigkeit zu bestehen, die Praxis durch die in der Politica beispielhaft dargelegte Theorie bestätigt oder ihr entsprechend zu finden. Aber man kann meiner Ansicht nach die althusische Position nicht vollständig verstehen, wenn man sie nicht über die ständestaatlichen Kategorien hinaus zum föderaltheologischen Entwurf, der den Hintergrund bildet, und zur Subsidiaritätsproblematik i n Beziehung setzt. Die Föderaltheologie, die auf den Bestand der Bücher des Alten Testaments die zentrale Stellung des Doppelbundes (fedus, compactum, covenant, Bund) zwischen Gott und den Menschen sowie Volk und Magistrat stützt und darauf die föderative Struktur der symbiotischen politischen consociationes, von den städtischen über die provinzialen bis hin zur universalen Gemeinschaft gründet, war eine Spezialität der Hohen Schule Herborn, wo an der Seite des Althusius renommierte Vertreter dieser für den politischen Calvinismus so bedeutsamen Theorie lehrten: von Caspar Olevian, dem Verfasser des Heidelberger Katechismus, bis zu Johannes Piscator, dem Bibelübersetzer 37 . Es steht außer Frage, dass die föderaltheologische Inspiration i n den beiden konkreten, vom politischen Calvinismus bestimmten Bewegungen sehr stark und als Quelle der Inspiration und geistiger Legitimation Althusius wohlbekannt war: in der monarchomachischen und hugenottischen Erfahrung der Vindiciae contra Tyrannos und in der politischen Publizistik, die den langen Wi37 Dazu näher meine soeben erschienenen Überlegungen zur Föderaltheologie (Teologia federale, in: I l Pensiero politico, X X X I I I , 2000, Nr. 1, S. 427-446).

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derstandskampf der Niederlande gegen Spanien begleitete. Es war dieser historische und theoretisch-politische Kontext, der die Sprache und die für das calvinistische politische Paradigma so wirkungsmächtigen föderalen Leitvorstellungen lieferte und - auf der Grundlage einer methodisch-rationalen Systematisierung - das Denken ihres bedeutendsten Interpreten prägte, das man sinnfällig im Bild symbiotisch integrierter, verbündeter und republikanischer Gemeinschaften zusammenfassen kann 3 8 . Aber hierbei ist, um auf den Kern des Subsidiaritätsthemas zurückzukommen, hervorzuheben, dass Winters und Heinrich Graffmann gut dargestellt haben, wie das föderaltheologische Schema die Eigenart des Verhältnisses bestimmt, das zwischen den Polen des „Regierenden/Mandatars" einerseits und der Gesamtheit der „Regierten/souveränes Volk" andererseits besteht 39 . Und i m Innern dieser Beziehung w i r d die solidarische und subsidiäre Bedeutung von Macht - im Zeichen der calvinistischen mutua obligatio - und der politisch-administrativen Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Gemeinschaftsebenen sichtbar. Nach allem kann man mit dem schließen, was Stewing bezüglich der Komplementarität föderativer und subsidiärer Visionen betont 4 0 : Wenn die Subsidiarität die Anerkennung der Notwendigkeit ist, die Verwaltungsaufgaben ausgehend von den kleineren Einheiten auf die größeren, autarken zu verteilen, dann scheint der Föderalismus das Instrument zu sein, um das staatliche Gefüge schrittweise für einen solchen Entwurf geeigneter zu machen. Die Subsidiarität erweist sich so schließlich als fähig, auch im althusischen Projekt die beste materielle Ergänzung zur Idee des Föderalismus zu liefern.

38 Siehe zum republikanischen Modell: Republiken und Republikanismus, hrsg. von H. G. Koenigsberger, Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 11, München 1988; H. Schilling, Stadt und frühmoderner Territorialstaat: Stadtrepublikanismus versus Fürstensouveränität, in: Recht, Verfassung und Verwaltung in der Frühneuzeitlichen Stadt, hrsg. von M. Stolleis, Köln 1991, S. 19-40; Traditionen der Republik - Wege zur Demokratie, hrsg. von P. Blickle, Bern 1999. 39 Vgl. Winters, Die „Politik" des J. Althusius (FN 14), S. 227; H. Graffmann, Κ . Olevians Stellung in der Entstehungsgeschichte der Demokratie, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 22 (1971), S. 85-121. 40 Vgl. Stewing, Subsidiarität (FN 11), S. 25 f.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 259 - 289 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

ZUR LEHRE VON DER SUBSIDIARITÄT DER GELDRISCHEN LANDRECHTE Von O l a v M o o r m a n v a n K a p p e n , N i j m e g e n Roma, tuae laudes pereunt; Dum Gelria surgit vanescit sucus ... Johan Schrassert (1687-1756)1 I. Vorbemerkungen zur Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips in der neuzeitlichen Rechtsanwendung(slehre), besonders i m Reich und in den (nördlichen) Niederlanden A u c h i m Bereich der R e c h t s a n w e n d u n g h a t das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p v o n alters her eine w i c h t i g e Rolle gespielt. Dies infolge einer j e d e m J u r i s t e n b e k a n n t e n P r o b l e m a t i k , die der 1988 verstorbene belgische R e c h t s h i s t o r i k e r J o h n Gilissen als „ l e p r o b l è m e des lacunes d u d r o i t " bezeichnet h a t . 2 Was soll m a n als R i c h t e r oder als Rechtsberater machen, w e n n das geltende Recht oder besser der anzuwendende Rechtssatz o f f e n s i c h t l i c h eine L ü c k e aufweist? 3 I n gewissem Sinne h a n d e l t es sich u m eine „ e w i g e " P r o b l e m a t i k , m i t der sich z . B . a u c h schon die r ö m i s c h e n J u r i s t e n beschäftigt h a b e n . 4 I m L a u f e der k o n t i n e n t a l e u r o p ä i s c h e n Rechtsgeschichte h a t m a n z u r A u s 1 Johan Schrassert, Stucken en documenten behoorende tot den Codex Gelro Zutphanicus etc., Harderwijk 1740 auf der Rückseite des Titelblatts. Übersetzung: Rom, deine Verdienste gehen verloren; indem Geldern sich erhebt, schwindet deine Kraft ... 2 J. Gilissen, Le problème des lacunes du droit dans l'évolution du droit médiéval et moderne, in: Ch. Perelman (Hrsg.), Le problème des lacunes en droit, Bruxelles 1968, S. 197-246. 3 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass diese Frage sich gewissermaßen ebenfalls auf unklare und folglich auslegungsbedürftige Rechtssätze, z.B. Gesetzestexte, bezieht. Die Problematik der Gesetzesauslegung - im weiten Sinne die der Rechtsinterpretation - möchte ich im beschränkten Rahmen dieses Beitrags jedoch ausklammern. Zum nicht unproblematischen Unterschied zwischen Lücken einerseits und Unklarheiten andererseits siehe L. J. van Apeldoorn, Inleiding tot de Studie van het Nederlandse recht, 17. Aufl. überarbeitet von J. C. M. Lei j ten, Zwolle 1972, S. 319-330 und die ebd. erwähnte Literatur. Einführend zur neuzeitlichen Gesetzesauslegung: H. Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. I: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), München 1985, S. 127-131 und die ebd. erwähnten Quellen und Literatur. 4 Vgl. D.I.3.32.

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füllung solcher Lücken viele und vielfältige Lösungen praktiziert. Gilissen erwähnt in diesem Zusammenhang neben dem Herbeiführen eines Gottesurteils oder einem Ausspruch des Gesetzgebers, neben der analogen Rechtsanwendung und neben „le recours à l'équité, à la raison ou à la conscience", die Zufluchtnahme einem „droit supplétif", einem subsidiären Recht, als eine der bekanntesten i n der Neuzeit. 5 I m Heiligen Römischen Reich bot sich die letztgenannte Lösung um so mehr an, weil es bekanntlich damals in den dortigen Territorialstaaten eine Mehrschichtigkeit des Rechts gab: neben dem örtlichen Statutar- und Gewohnheitsrecht die Landes- und die Reichsgesetzgebung und daneben noch das „gemeine, geschriebene Recht" oder ius commune. 6 Im neuzeitlichen West- und Mitteleuropa (Großbritannien außer Betracht gelassen)7 konnte man, grob gesagt, auf zweierlei Weise zur Anwendung eines subsidiären Rechts kommen: entweder infolge eines Verweises des Gesetzgebers oder aufgrund der Doktrin. Falls der Gesetzgeber selbst zwecks Ausfüllung von Lücken, die sich i n der späteren Anwendungspraxis seines Gesetzes manifestierten, auf ein subsidiäres Recht verwies, wurden als solches von vielen Partikulargesetzgebern im Reich des Öfteren die „gemeinen beschriebenen Rechte" angewiesen. Dies geschah sogar so oft, dass man dies gewissermaßen als den „Normalf all" bezeichnen könnte. Dennoch gab es sowohl innerhalb als außerhalb des Reiches Partikular- oder Territorialgesetzgeber, die die subsidiäre Heranziehung einer „einheimischen" Rechtsquelle anordneten, z.B. eine Stadt- oder Landrechtsreformation oder auch das örtliche oder regionale Gewohnheitsrecht. I m französischen „pays de droit coutumier" verwiesen z.B. mehrere „coutumes réformées" auf „l'usage de la province", auf „les coutumes voisines", auf die „coutume de Paris" oder sogar auf die „coutume générale de la France". Es gab sogar Fälle, in denen der Gesetzgeber auf mehrere subsidiäre Rechtsquellen verwies, meistens in einer von ihm bestimmten Reihenfolge. In diesen Fällen einer 5 Gilissen, „Le problème des lacunes" (FN 2) S. 220-223 und 246. 6 Vgl. Coing, Europäisches Privatrecht I (FN 3) S. 128-129, der unter dieser Bezeichnung zwar meistens das römisch-kanonische Recht, wie es von der europäischen Rechtswissenschaft seit Bologna ausgestaltet wurde und in der Praxis zur Anwendung kam, versteht (ebd. S. 4 und ausführlicher S. 34 ff.), jedoch an mehreren Stellen dieses Werkes Deutungen mit ergänzenden Elementen (z.B. S. 133 Anm. 12) oder auch inhaltlich grundverschiedene Deutungen gibt, Letzteres z.B. im Rahmen der Unterscheidung zwischen dem ius commune und dem ius municipale (ebd. S. 87). Zur - ebenfalls von Coing (ebd. S. 87-88) festgestellten - Mehrdeutigkeit des Begriffes ius commune neuerdings: P. L. Néve, (Europäisches) lus Commune und (nationales) Gemeines Recht: Verwechslung von Begriffen?, in: G. Köbler und H. Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, München 1997, S. 871-884 und die ebd. erwähnte Literatur. 7 Vgl. Coing, Europäisches Privatrecht I (FN 3) S. 14-15, der die Schweiz seit dem 16. Jh. ebenfalls ausklammert.

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abgestuften Subsidiarität schloss das ius commune Reihe. 8

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fast immer die

Falls der Gesetzgeber sich jedoch nicht zum „Lückenproblem" geäußert hatte, musste die Doktrin, die Wolfgang Wiegand in seiner 1977 im Druck erschienenen Habilitationsschrift zusammenfassend „die Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit" genannt hat, aushelfen. 9 Näher auf diese vor allem in vielen „punktuellen Behandlungen [...] i n der forensisch-kasuistischen Literatur" bruchstückweise niedergelegte und „ i m Spannungsfeld von Prozessrecht und Rechtsquellentheorie" angesiedelte Lehre einzugehen, deren geschichtliche Wurzeln auf die Schriften etlicher Glossatoren und Kommentatoren zurückzuführen sind, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 10 Folglich sei nur darauf hingewiesen, dass trotz der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts anwachsenden K r i t i k am ius commune 11 die - im Grunde beweisrechtliche - sog. praesumptio pro jure Romano, für die die Vertreter des usus modernus Pandectarum eintraten, bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in foris Germaniae vorherrschend blieb, jedenfalls in Zivilverfahren, was den Vormarsch des - offiziell i n der Regel nur ersatzweise anzuwendenden - „gemeinen beschriebenen Rechtes" in der Rechtsprechung besonders förderte. 12 Diese Präsumtion fand ihren Ausdruck in einer Formel, die in der gemeinrechtlichen Wissenschaft und besonders in der Rechtsanwendungslehre der Epoche der sog. praktischen Rezeption immer wieder hervortrat: Qui habet regulam iuris communis pro se dicitur habere fundatam intentionem. 13 Wer sich also in einem Zivilprozess auf eine glossierte Textstelle des Corpus Iuris Civilis berief, hatte den prozessualen Vorteil, dass er die Rechtsgültigkeit der betreffenden Regel nicht nachzuweisen brauchte. Sein Vorbringen wurde 8 Hierzu ausführlicher und mit Beispielen: Gilissen, Le problème des lacunes (FN 2) S. 220-224; G. Immel, Typologie der Gesetzgebung des Privatrechts und Prozessrechts, in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. II: Neuere Zeit (1500-1800), Das Zeitalter des gemeinen Rechts, Teilbd. II/2: Gesetzgebung und Rechtsprechung, München 1976, S. 61-65. 9 W. Wiegand, Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit, (Abh. zur rechtswiss. Grundlagenforschung 27), Ebelsbach 1977. 10 Vgl. hierzu auch (einführend): Coing, Europäisches Privatrecht I (FN 3) S. 131 ff. (§ 21). 11 Vgl. ebd. S. 67-82 (§ 9-12) sowie H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II: Neuzeit bis 1806, Karlsruhe 1966, S. 377 ff. 12 Siehe Wiegand, Studien (FN 9) S. 1-2. Nach diesem Autor (ebd. S. 2 F N 4) stammt der Ausdruck praesumptio pro jure Romano von H. C. Senckenberg i n dessen Meditationum de universo iure et historia volumen, Gießen 1740. 13 Eingehend zu dieser Wendung: W. Wiegand, Zur Herkunft und Ausbreitung der Formel „habere fundatam intentionem, in: S. Gagnér u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hermann Krause, Köln-Wien 1975, S. 126-170. Vgl. Ders., Studien (FN 9) S. 20 ff.

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in einem solchen Fall beweisrechtlich im Voraus als „wohlfundiert" betrachtet, dies aufgrund der Präsumtion, dass es sich um geltendes Recht handelte. 14 Dagegen waren die Regeln des einheimischen Statutar- und Gewohnheitsrechtes grundsätzlich beweisbedürftig, es sei denn, dass das Gericht sie ausnahmsweise als „notorisch" betrachtete. 15 Dazu kam noch der bekannte, von Bartolus vorgebrachte 16 und von vielen Vertretern des usus modernus reißend übernommene Lehrsatz: Statuta stricte sunt interpretanda, der von vielen mit „gelehrten", d.h. akademisch gebildeten, Juristen besetzten, höheren Gerichten allzu gern angewandt wurde. 1 7 Durch die häufige Anwendung dieses Lehrsatzes in der höheren Rechtsprechung wurde die Wirkung des lokalen und regionalen Statutar- und Gewohnheitsrechtes erheblich eingeschränkt, wie übrigens auch durch das Bestreben der gemeinrechtlichen Doktrin, dieses Statutar- und Gewohnheitsrecht - wenn es schon zur Anwendung kam - aus dem ius commune auszulegen. 18 Obwohl also in den meisten neuzeitlichen Staaten West- und Mitteleuropas 1 9 das ius commune offiziell - das heißt aufgrund der sog. Subsidiaritätsklauseln in deren damaligen Gesetzgebungen - nur die Stellung eines ersatzweise anzuwendenden Rechts einnahm, spielte es aufgrund der oben erwähnten und anderer Faktoren 2 0 , die sich namentlich i n der höheren, von „gelehrten" 14 Vgl. Wiegand, Studien (FN 9) S. 1; Coing, Europäisches Privatrecht I (FN 3) S. 133 und 135; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte I I (FN 11) S. 342, der darauf hinweist, dass die Formel der fundata intentio Ausfluss des Grundsatzes war: Quidquid non agnoscit glossa, non agnoscit curia, dies i n Anbetracht der Tatsache, dass die praktische Rezeption „das justinianisch-römische Recht nur insoweit erfasste, als es von der mittelalterlichen Wissenschaft" - d.h. von den Glossatoren und Kommentatoren - „bearbeitet worden war". Was namentlich mit den - den Formerfordernissen entsprechend - publizierten, nicht auswärtigen Statuten sowie mit den schriftlich festgelegten, obrigkeitlich bekräftigten und in forma publizierten Rechtsgewohnheiten des Gerichtsbezirks der Fall war. Vgl. im Hinblick auf weitere Verfeinerungen Coing , Europäisches Privatrecht I (FN 3) S. 132-133. 16 Und zwar i n seinem Commentarius i n primam partem Digesti veteris ad D. 1, 1, 9 Nr. 53 ff. 17 Vgl. Coing, Europäisches Privatrecht I (FN 3) S. 106-107. Auf den Einfluss dieser „Interpretationsregel" hat neuerdings W. J. Zwalve i n einer Rezension in der Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis (56 [1988] S. 232-233) noch einmal hingewiesen. 18 Vgl. Coing, Europäisches Privatrecht I (FN 3) S. 40 und 106, der die der gemeinrechtlichen Wissenschaft obliegende Aufgabe die Einheit des Rechts zu wahren als die Triebfeder dieses Bestrebens betrachtet (ebd. S. 38). 19 Einschließlich der zum Reich gehörenden Territorialstaaten, jedoch mit Ausnahme des französischen „pays de droit coutumier", der Schweiz und Großbritannien (außer Schottland). 20 Wie z.B. die Gegebenheit, dass die an den damaligen juristischen Fakultäten hauptsächlich am justinianisch-römischen Recht, das kodifiziert, systematisiert und schon seit mehreren Jahrhunderten wissenschaftlich bearbeitet war, ausgebildeten Juristen (vgl. H. Coing, Die ursprüngliche Einheit der europäischen Rechtswissenschaft, Wiesbaden 1968) verständlicherweise öfters dazu geneigt waren das

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J u r i s t e n d o m i n i e r t e n Rechtsprechung manifestierten, eine w e i t a u s w i c h tigere Rolle als sein subsidiärer C h a r a k t e r v e r m u t e n l i e ß . 2 1 Letzteres t r i f f t a u c h auf die N i e d e r l a n d e z u . 2 2 I n der i m l e t z t e n V i e r t e l des 16. J a h r h u n d e r t s entstandenen R e p u b l i k der Vereinigten N i e d e r l a n d e w u r d e das „gemeine beschriebene R e c h t " , d e m die habsburgischen L a n desherren schon als ersatzweise a n z u w e n d e n d e n Recht einen Weg geb a h n t hatten, u n t e r d e m E i n f l u s s des rasch anwachsenden J u r i s t e n s t a n des, der die höhere Rechtsprechung z u n e h m e n d i n den G r i f f b e k a m u n d a u c h i n der p r o v i n z i a l e n u n d städtischen V e r w a l t u n g festen Fuß f a s s t e 2 3 , i m 17. u n d 18. J a h r h u n d e r t i n nahezu a l l e n G l i e d p r o v i n z e n dieses Staatenbundes z u m ius subsidiarium,

z w a r m a n c h m a l a u f g r u n d einer diesbe-

z ü g l i c h e n A n o r d n u n g dieses oder jenes P a r t i k u l a r g e s e t z g e b e r s 2 4 ,

aber

meistens usu, das heißt g e w o h n h e i t s g e m ä ß . 2 5 Dies öffnete einer großzügi-

nicht kodifizierte, nicht systematisierte, nicht oder nur zum Teil verschriftlichte einheimische Gewohnheitsrecht, das überdies meistens schwer zugänglich und nur ausnahmsweise wissenschaftlich bearbeitet war, als ein inferiores Recht zu betrachten. Vgl. J. Ph. de Monté ver Loren, Hoofdlijnen uit de ontwikkeling der rechterlijke organisatie in de Noordelijke Nederlanden tot de Bataafse Omwenteling, 7. Aufl. bearb. v. J. E. Spruit, Deventer 2000, S. 285-291 und die ebd. erwähnte Literatur. 21 Vgl. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte I I (FN 11) S. 342. 22 Dazu einführend: R. Feenstra, Zur Rezeption in den Niederlanden, in: L'Europa e i l diritto Romano. Studi i n memoria di Paolo Koschaker, Bd. I, Mailand 1953, S. 243-268 (auch erschienen in: Ders., Fata iuris romani. Etudes d'histoire du droit, Leyde 1974, S. 3-26). Ausführlicher: Ders., Verkenningen op het gebied der receptie van het Romeinse recht, Zwolle 1950; Β. H. D. Hermesdorf, Römisches Recht in den Niederlanden (lus Romanum Medii Aevi pars V, 5a) Mailand 1968; P. L. Neve, Enige opmerkingen over het voorkomen en de betekenis van de termen „keizer(lijk) recht", „gemeen recht" en „geschreven recht" i n Noordnederlandse bronnen 1500-1600, in: J. F. Gerkens u.a. (Hrsg.), Melanges Fritz Sturm, Lüttich 1999, S. 813-831. 23 Z.B. über Ämter wie „pensionaris" (D. Syndikus) der Landstände oder einer Stadt, Sekretär eines Verwaltungskollegiums u.s.w. 24 A m Ende der Utrechter Stadtrechtsreformation von 1550 w i r d z.B. gesagt, dass man fortan keine andere „costumen, ordonnantie, usantie oft maniere van procederen" als die in diese Reformation aufgenommenen „introduceeren, allegeren ofte poseren" durfte und dass man i n allen nicht i n diese Reformation einbegriffenen Rechtssachen verfahren sollte „conform ende naer dispositie van [het] geschreven recht", womit wohl das „gemeine, geschriebene Recht" gemeint sein wird. Desgleichen w i r d am Ende der Prozessordnung für den Justizhof der Provinz Utrecht von 1583 angeordnet, dass man sich i n allen anderen Sachen, den Verfahrensstil betreffend und nicht i n diese Ordonnanz einbegriffen, „richten soll nach den beschriebenen rechten". Vgl. S. J. Fockema Andreae, Bijdragen tot de Nederlandsche Rechtsgeschiedenis, Bd. 4: Hoofdstukken uit de geschiedenis van rechtsmacht en rechtsvorming, Haarlem 1900, S. 179-180. 25 So sagen die Friesischen Landstände i n der Vorrede der 1723 revidierten Fassung der friesischen Statuten von 1602, dass i n dieser Provinz „die römischen Gesetze schon seit einer Menge von Jahren und unter früheren Regierungen angenommen und angewandt worden waren" und dass diese „seitdem immer i n Gebrauch und Observanz" geblieben waren i n allen Sachen, in denen „dieselbe nicht geändert sind oder i n denen die bürgerlichen Gesetze und Gewohnheiten dieser Provinz sie nicht derogiert haben" (Statuten, Ordonnantien, Reglementen en Co-

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gen Rezeption des „ g e l e h r t e n " Rechtes T ü r u n d Tor, b e i der J u r i s t e n z . B . Ratsherren u n d F i s k a l e i n den p r o v i n z i a l e n Justizhöfen, A n w ä l t e 2 6 u n d N o t a r e - als t r e i b e n d e K r ä f t e fungierten. I m P u n k t e des Ausmaßes dieser Rezeption gab es j e d o c h Unterschiede z w i s c h e n den verschiedenen Provinzen. A m größten w a r sie i n den P r o v i n z e n H o l l a n d u n d Friesland, w o die t e r r i t o r i a l e Rechtsverschiedenheit d e n n a u c h a m größten war. I n H o l l a n d f ü h r t e diese großzügige Rezeption des gemeinen Rechtes schon i m f r ü h e n 17. J a h r h u n d e r t z u einem w e i t g e h e n d „ r o m a n i s i e r t e n " P r i v a t recht, einer M i s c h f o r m , welche die B e z e i c h n u n g „ R o o m s - H o l l a n d s r e c h t " (römisch-holländisches Recht) e r h i e l t . 2 7

I I . Hintergründe, Werdegang und Anwendungspraxis der geldrischen Landrechtsreformationen Bis e t w a 1580 setzte sich das T e r r i t o r i u m des „ F ü r s t e n t u m s 2 8 G e l d e r n u n d der Grafschaft Z u t p h e n " aus v i e r Landesteilen, die deshalb „ Q u a r -

stumen van rechte van Vriesland etc., Ed. Leeuwarden 1770, Vorrede Seite t 3 r o . t 3 v o ). Auch die holländischen Landstände, die i n einer Resolution vom 25. Mai 1735 zur öffentlichen Kenntnis brachten, dass der Justizhof von Holland „wie auch alle übrigen Richter i n der Provinz Holland rechtsprechen sollen gemäß den Gesetzen und Ordonnanzen dieses Landes wie auch gemäß den Privilegien und wohlhergebrachten Gewohnheiten und Bräuchen, und mangels dieser gemäß den beschriebenen Rechten", bestätigten damit und dadurch nur eine altbewährte Praxis. Vgl. A. S. de Blécourt u. N. Japikse (Hrsg.), Klein Plakkaatboek van Nederland, Groningen-Den Haag 1919, S. 337. 26 Im Nebenamt waren diese oft Gerichtsschreiber oder Rechtskonsulenten erstinstanzlicher Gerichte. 27 Dazu neuerdings: R. Feenstra u. R. Zimmermann (Hrsg.), Das römisch-holländische Recht. Fortschritte des Zivilrechts im 17. und 18. Jahrhundert, (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Bd. 7), Berlin 1992. Nach diesem terminologischen Vorbild aus dem 17. Jh. haben derzeitige Rechtshistoriker im Hinblick auf die ebenfalls sehr „rezeptionsfreundlichen" Provinzen Friesland und Utrecht die Bezeichnungen „römisch-friesisches" und „römisch-utrechter Recht" eingeführt. Vgl. J. H. A. Lokin, C. J. H. Jansen und F. Brandsma, Het Rooms-Friese recht. De civiele rechtsprakijk van het Hof van Friesland in de 17e en 18e eeuw, Hilversum 1999; P. J. Verdam, Romeins-Utrechts privaatrecht. Notities over het privaatrecht van Stad, Steden en Land van Utrecht tijdens de Republiek, Bilthoven 1997. 28 Diese Qualifikation stammt aus dem 14. Jahrhundert, als der geldrische Graf Reinald I I (1326-1343) zum Herzog und Reichsfürsten erhoben wurde (1339). Vgl W. Janssen, Die Erhebung des Grafen Rainald II. von Geldern zum Herzog und Reichsfürsten im Jahre 1339, in: F. Keverling Buisman u.a. (Hrsg.), Van Hertogdom Gelre tot Provincie Gelderland. Hoofdstukken uit de geschiedenis van bestuur en bestuursinrichting van Gelderland 1339-1989 (Werken Gelre 39), Nijmegen 1990, S. 1-26. Obwohl es nach dem Abfall der nördlichen, i n der Utrechter Union vereinigten Niederlande von Philipp II. als ihrem gemeinsamen Landesfürsten (1581) bald keinen Landesfürsten mehr gab, wurde die Bezeichnung „Fürstentum" von den geldrischen Landständen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sorgfältig beibehalten, vor allem weil sie ihrer Provinz die erste Stelle i n der protokollarischen Reihenfolge der Gliedstaaten der Utrechter Union und folglich i n den repräsentativen Organen dieser Konföderation gewährleistete, denn zur Zeit

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t i e r e " (d.h. Viertel) genannt w u r d e n , zusammen, u n d z w a r i n i h r e r p r o t o k o l l a r i s c h e n Reihenfolge: 1. Das Quartier 2. Das Quartier

von Nijmegen

m i t der H a u p t s t a d t N i j m e g e n (Nimwegen);

von Roermond,

ebenfalls als geldrisches

Oberquartier

oder Obergeldern bezeichnet, m i t der H a u p t s t a d t Roermond; 3. Das Quartier 4. Das Quartier

von Zutphen von

Arnheim

m i t der H a u p t s t a d t Z u t p h e n 2 9 ; u n d oder von

Veluwe

mit

der

Hauptstadt

A r n h e m (Arnheim). I n L a u f e des A c h t z i g j ä h r i g e n Freiheitskrieges der n ö r d l i c h e n N i e d e r lande (1568-1648) w u r d e das O b e r q u a r t i e r den Kriegsereignissen zufolge u m 1580 v o n den d r e i anderen Q u a r t i e r e n (den sog. N i e d e r q u a r t i e r e n ) getrennt. Seitdem gehörte dieses P h i l i p p I I . v o n S p a n i e n „ t r e u " gebliebene Q u a r t i e r sozusagen als „ a l t e r n a t i v e s " H e r z o g t u m G e l d e r n den s ü d l i c h e n , den sog. „ s p a n i s c h e n " N i e d e r l a n d e n a n . 3 0 Demzufolge w u r d e i m n ö r d l i c h e r gelegenen G e l d e r l a n d 3 1 der d r e i N i e d e r q u a r t i e r e das Z u t p h e n sche Q u a r t i e r p r o t o k o l l a r i s c h z u m zweiten, das A r n h e i m e r z u m d r i t t e n Quartier.

der Utrechter Union (1579) war Geldern-Zutphen das einzig übrig gebliebene Reichsfürstentum in den nördlichen Niederlanden. 29 Diese im 12. Jahrhundert durch Erbschaft von dem geldrischen Grafen Heinrich (1141-1182) erworbene Grafschaft bildete damals mit den gräflich-geldrischen Stammgebieten zwischen Maas und Rhein eine Personalunion. Da diese relativ spät entstandene Landesherrschaft, i n der die verschiedenen Quartiere ihre eigenen Ständeversammlungen, Landrechte, Gerichtsverfassungen, Amts Verfassungen und Steuerbewilligungsrechte besaßen, schon im Spätmittelalter unverkennbar eine föderative oder „bundesstaatliche" Verfassungsstruktur aufwies, war die Grafschaft Zutphen schon i n 14. Jahrhundert zwanglos zu einem der vier Quartiere geworden. Dennoch blieb die althergebrachte Bezeichnung dieser Landesherrschaft bis zum Ende des (geldrischen) Anden Régime (1795): „Das Herzogtum" - oder „Fürstentum" - „Geldern und die Grafschaft Zutphen". Zum Werdegang des geldrischen Territoriums östlich der IJssel: J. Kuys, Drostambt en Schoutambt. De Gelderse ambtsorganisatie in het kwartier van Zutphen (ca. 1200-1543) (Werken Gelre 45), Hilversum 1994, S. 26-57. Zum föderativen Charaker der geldrischen Verfassung seit dem 15. Jahrhundert: A. J. Maris, „Wording van de Gelderse Staten", in: Tijdschrift voor Geschiedenis 66 (1953) S. 384-390. 30 Zwar wurden - im 17. Jahrhundert vorübergehend, im frühen 18. endgültig einige Gebietsteile des geldrischen Oberquartiers durch die Armee der Generalstaaten besetzt und erobert, aber diese unterstanden jedes Mal als sog. „Generalitätsländer" unmittelbar der Souveränität der Generalstaaten der Republik der Vereinigten Niederlande. Alle Versuche der geldrischen Landstände, diese zurückgewonnenen Teile des Oberquartiers iure postliminii ihrer Provinz wieder anzugliedern, erwiesen sich als ergebnislos. 31 Diese nach dem Vorbild der Provinznamen Holland, Seeland und Friesland entstandene Bezeichnung wurde seit Ende des 16. Jahrhunderts i n der Alltagssprache üblich. Sie bezog sich jedoch nur auf die sich aus den drei Niederquartieren zusammensetzende Provinz Geldern-Zutphen. Sie lebt fort im Namen der jetzigen niederländischen Provinz Gelderland.

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Von alters her besaßen die verschiedenen Quartiere ihre eigenen Landrechte. Diese galten übrigens nur auf dem Lande, denn die Städte kannten ihr je eigenes Stadtrecht. I n den Quartieren von Zutphen und Velu we gab es seit jeher nur ein einheitliches Landrecht. Im bruchstückweise entstandenen Nimwegener Quartier 3 2 hingegen besaßen die sechs sog. Ämter auf dem Lande bis weit ins 17. Jahrhundert hinein ihr je eigenes Landrecht. Auch im Quartier von Roermond gab es mehrere Landrechte. Dort war die territoriale Rechtsverschiedenheit am größten. 33 Nach einer Aussage von Hendrik Uwens, Kanzler des obergeldrischen Justizhofes zu Roermond, vom 27. Januar 1615 soll es in nahezu jedem Dorf eine Vielfalt von Rechtsgewohnheiten gegeben haben. 34 Um die Mitte des 16. Jahrhunderts setzten die innerhalb der vier Quartiere geltenden Landrechte sich aus einem Gemisch von geschriebenem und ungeschriebenem Recht zusammen und zwar aus landesherrlichen Privilegien (sog. Landbriefen) 35, vom Landesherrn bekräftigten ständischen Entscheidungen mit PräzedenzWirkung 36 oder auch nicht, sowie Weistümern einerseits und regionalen Rechtsgewohnheiten andererseits. Letztere wurden übrigens zum Teil in privaten, „rechtsbuchartigen" Aufzeichnungen festgelegt. 37 Obwohl die von Karl V. i n den Niederlanden wiederholt zwecks deren fürstlicher Homologierung oder Bekräftigung 3 8 angeordnete Aufzeich32 Vgl. Α. H. Martens van Sevenhoven, Eenige opmerkingen over de vorming van het graafschap Gelre, in: Bijdragen en Mededelingen Gelre 36 (1933) S. 1-22. 33 Siehe: K. J. Th. Janssen de Limpens (Hrsg.), Rechtsbronnen van het Gelders Overkwartier van Roermond, Utrecht 1965 (Werken der Vereeniging tot uitgaaf der bronnen van het oud-vaderlandsche recht, 3de reeks no. 20). 34 A. M. J. A. Berkvens und G. H. A. Venner (Hrsg.), Het Gelderse Land- en Stadsrecht van het Overkwartier van Roermond 1620, Arnheim 1996 (Werken der Stichting tot uitgaaf der bronnen van het oud-vaderlandse recht no. 25), S. xxxi. 35 Eine Auswahl findet sich in: W. van Loon u. H. Cannegieter (Hrsg.), Groot Gelders Placaetboeck etc., 3 Bde., Nijmegen-Arnhem 1701-1740, Bd. I I (Nijmegen 1703), [Erster] Appendix am Ende, Sp. 1-226. Wegen der vielen Transkriptionsfehler sind diese Textausgaben jedoch wenig zuverlässig. Bessere Texteditionen dieser Landbriefe aus dem 14., 15. und 16. Jahrhundert in: I. A. Nijhoff (Hrsg.), Gedenkwaardigheden uit de geschiedenis van Gelderland, door onuitgegevene oorkonden opgehelderd en bevestigd, 6 Bde., Arnhem-'s-Gravenhage [= Den Haag] 1830-1875, passim. Diese Quellenausgabe umfasst die Periode 1286-1538. 36 Landesherrliche Verordnungen gab es vor dem 16. Jahrhundert kaum. 37 Wie z.B. das von Johan Kehrn genannt Fronhoven, Landschreiber (1560) und später (1579) Schultheiß das Amtes von Montfort (in der Nähe von Roermond) i n der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angefertigte „Landrecht von Montfort". Vgl. Janssen de Limpens, Rechtsbronnen Overkwartier (FN 33) S. X L - L I und 199268.

38 Dazu: J. Gilissen, Les phases de la codification et de l'homologation des coutumes dans les X V I I provinces des Pays-Bas, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 18 (1950) S. 36-67 und 239-290. Der erneute Aufzeichnungsbefehl, der 1569 vom Herzog von Alba als Generalgouverneur der Niederlande i m Namen Philipps II. gegeben wurde, wurde i n Geldern-Zutphen gleichermaßen wie anderswo

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nung und Einsendung der althergebrachten städtischen und ländlichen Rechtsgewohnheiten an dieser Provinz vorüberging, weil sie erst 1543 als letzte den habsburgischen Niederlanden einverleibt wurde 3 9 , haben die Stände der Quartiere von Roermond, Zutphen und Arnheim sich dennoch seit etwa Mitte des 16. Jahrhunderts wiederholt für eine Verschriftlichung ihrer Landrechte mittels einer „Reformation" 4 0 eingesetzt. Triebfeder dieser Kodifikationsversuche war an erster Stelle die zunehmende Friktion zwischen den besagten Ständen einerseits und dem von Karl V. aufgrund einer Bestimmung im Vertrag von Venlo (1543) 41 in den Jahren 1543-1547 zu Arnheim „instituierten" provinzialen Justizrat oder Justizhof andererseits. 42 I n der bisherigen Literatur 4 3 sind vor allem die unablässigen Kompetenzstreitigkeiten zwischen diesem Justizhof, der seine im Vergleich zu anderen, älteren, provinzialen Justizhöfen und -Räten in den Niederlanden viel beschränktere - Gerichtsbarkeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu erweitern versuchte, und den Ständen, die sich für die althergebrachten, im Venloer Vertrag garantierten Zuständigkeitsbereiche der Stadt- und Landgerichte stark machten, als Stein des Anstoßes hervorgehoben worden 4 4 . Nicht weniger aber fürchteten sich die Stände vor den „romanisierenden" Tendenzen in der Rechtsprechung dieses Hofes, die aus ihrer Sicht allzu sehr von den „ausländischen" (d.h. nichtgeldrischen), am römischen Recht ausgebildeten Juristen-Ratsherren beherrscht wurde, wenn es sich um die Anwendung einheimischer Rechtsquellen handelte. 45

in den nördlichen Niederlanden sabotiert. Dazu ausführlicher mein Aufsatz „Stadtrechtsreformationen des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden", in: M. Stolleis (Hrsg.), Recht, Verfassung und Verwaltung i n der frühneuzeitlichen Stadt (Städteforschung, Reihe A: Darstellungen, Bd. 31), Köln-Wien 1991, S. 141-157, bes. S. 150-152. 39 Vgl. P. Heidrich, Der geldrische Erbfolgestreit 1537-1543, Kassel 1896 und F. Keverling Buisman u.a. (Hrsg.), Verdrag en Tractaat van Venlo. Herdenkingsbundel 1543-1993 (Werken Gelre Nr. 43), Hilversum 1993. 40 Zu diesem Begriff: R. Schulze, Reformation (Rechtsquelle), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. IV, Berlin 1990, Sp. 468-469; Moorman van Kappen, Stadtrechtsreformationen (FN 38) S. 141-143. 41 Zu diesem Herrschaf tsvertrag, bei dem die geldrischen Landstände sich der landesfürstlichen Herrschaft Karls V. unter bestimmten Bedingungen und Garantien unterwarfen: Keverling Buisman (Hrsg.), Verdrag en Tractaat van Venlo (FN 39) S. 247-277. 42 Dazu: Ο. Moorman van Kappen, De wording van het Hof van Gelre en Zutphen (1543-1547). Enige beschouwingen over en naar aanleiding van de voor- en ontstaansgeschiedenis van de Gelders-hertogelijke „kanselarij" als oudste gerechtshof te Arnhem, Arnheim 1998 (mit dem Text der Kanzleiordnung von 1547 dieses Justizhofes als Anlage). 43 Vor allem: A. Zijp, De strijd tusschen de Staten van Gelderland en het Hof 1543-1566 (Werken Gelre Nr. 10), Arnheim 1913. 44 Vgl. A. J. Maris und H. L. Driessen, Het archief van het Hof van Gelre en Zutphen (1543-1795), het Hof van Justitie (1795-1802) en het Departementaal Gerechtshof (1802-1811), Bd. I, Arnheim 1978, S. 147-174, bes. S. 148-149.

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A u s diesen ständischen Reformations versuchen w u r d e j e d o c h nichts. I n s o w e i t diese die L a n d r e c h t e des zutphenschen u n d A r n h e i m e r Quartiers betrafen, w a r es jedes M a l der besagte Justizhof, der Steine i n den Weg legte. Jeder i h m d u r c h das Generalgouvernement i n Brüssel z u r Beg u t a c h t u n g zugeschickte E n t w u r f

wurde zerpflückt.

Nachherige

Ver-

h a n d l u n g e n z w i s c h e n D e p u t i e r t e n der betroffenen Quartiersstände u n d d e n Ratsherren des Hofes erwiesen sich i m m e r w i e d e r als f r u c h t l o s . 4 6 I m O b e r q u a r t i e r k a m es n i c h t e i n m a l so w e i t . D o r t scheiterten die Reformationsversuche an i n n e r e n U n e i n i g k e i t e n z w i s c h e n R i t t e r s c h a f t u n d S t ä d ten.47 N a c h d e m A b f a l l der n ö r d l i c h e n N i e d e r l a n d e v o n P h i l i p p I I . v o n Span i e n (1581) w u s s t e n die Stände der Quartiere v o n Z u t p h e n u n d A r n h e i m i h r e lange v e r h i n d e r t e n R e f o r m a t i o n s p l ä n e

durchzusetzen, s o b a l d die

K r i e g s h a n d l u n g e n auf geldrischem Hoheitsgebiet abebbten. N i c h t

nur

w e i l m a n m i t t l e r w e i l e v o m k o m p l i z i e r e n d e n F a k t o r einer f ü r s t l i c h e n H o m o l o g i e r u n g befreit war, sondern v o r allem, w e i l sich die Rezeptionsfreud i g k e i t der rechtsgelehrten Räte des besagten Justizhofs, der sich i n A r n h e i m h a l t e n k o n n t e 4 8 , als e i n dauerhaftes P h ä n o m e n m i t erodierender A u s w i r k u n g auf das einheimische G e w o h n h e i t s r e c h t erwies.

45 Vgl. Janssen de Limpens (Hrsg.), Rechtsbronnen Overkwartier (FN 33) S. X L I I . Seiner „Kanzleiordnung" von 1547 gemäß sollte der Justizhof an erster Stelle die geldrischen Land-, Lehns-, Stadt-, Deich-, Wasserrechte u.s.w. anwenden und erst subsidiär die „gemeyne gescreven rechten" (Art. 32). Vgl. Moorman van Kappen, Wording Hof van Gelre (FN 42) S. 49. Schon der meistens lückenhafte und fragmentarische Charakter der mittelalterlichen, geschriebenen, einheimischen Rechtsquellen bot den Juristen-Ratsherren willkommene Chancen zur Anwendung des gelehrten Rechtes einschließlich der zugehörigen Rechtsbegriffe und Auslegungsmethoden. Die ungeschriebenen Rechtsquellen öffneten dazu sogar Tür und Tor. 46 Dazu: G. A. de Meester, Het Veluwsch Landregt, in: Nieuwe Bijdragen voor Regtsgeleerdheid en Wetgeving, Bd. 8-9, Amsterdam 1859, S. 486-571, bes. S. 486506; J. L. Berns, het Landrecht van Velu we en Veluwezoom van 1593, Arnheim 1884, S. V I I I - X I I . 47 Dazu: Janssen de Limpens, Rechtsbronnen Overkwartier (FN 33) S. L X X V I I I L X X X V ; Berkvens und Venner, Het Gelderse Land- en Stadsrecht (FN 34) S. X V I XIX. 48 Anfang 1580 befahl Alexander Farnese, Herzog von Parma, als provisorischer Generalgouverneur der Niederlande namens Philipps II. den diesem Fürsten getreuen Ratsherren sowie dem übrigen Personal sich auf den Weg nach Roermond zu begeben und dort, im von spanischen Truppen beherrschten Oberquartier, ihre Amtsgeschäfte wiederaufzunehmen. Diese Anordnung führte zu einer Zweiteilung dieses Justizhofes. Die „königsgetreuen", katholischen Ratsherren und Personalsmitglieder zogen nach Süden und bildeten in Roermond den „Souveränen Justizrat im Oberquartier von Geldern", Recht sprechend im Namen Philipps II. (und dessen Nachfolger) als Herzog von Geldern. Die zu Arnheim gebliebenen Räte und Personalsmitglieder bildeten den provinzialen Justizhof der nördlichen, sich aus den drei Niederquartieren zusammensetzenden Provinz Gelderland und sprachen - nach einer verwirrten Übergangsperiode bis 1590 - Recht im Namen der Landstände („Staten") des Fürstentums Geldern und der Grafschaft Zutphen, auf die die fürstlichen Prärogativen und Rechte (sog. Regalia) übergegangen waren. Die

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Als erste ergriffen die veluwschen Stände die Initiative, indem sie einen früheren Entwurf von einem Ausschuss „revidieren" ließen und dessen umgearbeiteten Entwurf beim geldrischen Landtag zur Bekräftigung einreichten. Dieser ließ ihn von einigen Deputierten aus seiner Mitte und einigen Ratsherren des Justizhofs überprüfen, was zu verschiedenen Änderungsanträgen führte. Darauf „konfirmierte" der Landtag den geänderten Entwurf und beauftragte den Justizhof mit der Publikation dieses Reformierten Landrechts von Veluwe (1593), das 1594 i m Druck erschien. 49 Die Stände des zutphenschen Quartiers folgten diesem Beispiel alsbald (1593-1594); im Druck erschien dieses Reformierte Landrecht der Grafschaft Zutphen jedoch erst - in einer leicht revidierten Fassung - zehn Jahre später. 50 Im geldrischen Oberquartier kam 1619 ein von den Erzherzögen Albrecht von Österreich und Isabella, Infantin von Spanien und Tochter Philipps II., homologiertes, einheitliches reformiertes Land- und Stadtrecht zustande, das vom Lizentiaten der Rechte Tilman van Bree, Syndikus der Quartiersstände, entworfen und von Hendrik Uwens, Kanzler des Justizrats in Obergeldern, umgearbeitet worden war. Diese Umarbeitung implizierte eine nachweisbare Rezeption Antwerper Rechtsgewohnheiten. Diese sehr ausführliche und stark systematisierte „Kodifikation", die eine gesetzgeberische Facharbeit von großer Güte war und 1620 im Druck erschien, wurde von mehreren namhaften damaligen Juristen sehr gerühmt. 5 1 Im Nimwegener Quartier, wo es ebensoviele Landrechte wie Ämter gab und wo die drei Städte Nijmegen, Tiel und Zaltbommel schon den bloßen Gedanken einer Rechtsvereinheitlichung bis zum Ende des Ancien Régime (und sogar noch danach) ins Reich der Fabel verwiesen, erwies sich auch noch im 17. Jahrhundert eine vereinheitlichende Reformation aller dieser Landrechte als undurchführbar. 52 In diesem Quartier kamen Kanzleiordnung von 1547 blieb i n beiden Fällen grundsätzlich i n Kraft. Vgl. Maris und Driessen, Archief Hof van Gelre en Zutphen I (FN 44) S. 30-53. 49 Gereformiert landtrecht van Velu wen und Veluwenzoom, Arnheim 1594. Spätere, revidierte und erweiterte Fassung: Arnheim 1604. Die spätere Auflagen von 1621 und 1715 sind nur um einige Einzelgesetze erweitert. Zum Werdegang dieser Reformation: Berns, Landrecht van Veluwe (FN 46) S. X I I - X I I I . so Reformatie der landtrechten, gebruycken und gewoontheyden der Graefschap Zutphen, Arnheim 1604. Neuauflage in revidierter Fassung: Arnheim 1655. 51 Geldrische Landt- ende Stadtrechten i n 't Overquartier van Ruremundt, Roermond 1620. Neuauflagen: Roermond 1665, Arnheim 1679, Venlo 1740, 1783. Zum Werdegang dieses Land- und Stadtrechts: Berkvens und Venner, Het Gelderse Land- en Stadsrecht (FN 34) S. x x i - l i x . Vgl. im Hinblick auf die damalige Bewertung dieses obergeldrischen Land- und Stadtrechtes meine Besprechung in der Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 65 (1997) S. 536-538. 52 Wie sehr vor allem die Quartiershauptstadt und ehemalige Reichsstadt Nijmegen sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts jeder Antastung seiner Privilegien, seines Statutarrechts und seiner alten Herkommen widersetzte, versuchte ich in meiner Abschiedsvorlesung darzulegen: Aspecten van de oud-Nijmeegse rechtspie-

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- nach endlosen Schwierigkeiten - erst viel später zwei von den Landständen bekräftigte Landrechtsreformationen zustande, die eine für die vier östlichen Ämter, die andere für die zwei westlichen, deren Landrechte sich vielmehr an die der benachbarten holländischen Gebiete anlehnten. 5 3 M i t Ausnahme des „spanischen" Teils des Fürstentums, in dem „das Land" und die Städte seit 1619-1620 ein einheitliches Privat-, Straf- und Prozessrecht besaßen, galten die besagten Reformationen nur auf dem Lande. Die städtischen Magistrate in den Niederquartieren brachten in nur ganz wenigen Fällen neuzeitliche Stadtrechtsreformationen zustande. 54 Die beiden schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts reformierten Landrechte des zutphenschen und des Arnheimer Quartiers sind eindeutig 5 5 als Versuche zu betrachten, die wichtigsten, damals in diesen Quartieren noch existierenden Rechtsgewohnheiten mittels deren Aufnahme - i n einer möglichst verdeutlichten Fassung - in von den Landständen „konfirmierte" Reformationen, die ja als „notorisch" gelten würden 5 6 , vor einer weiteren „Überschwemmung" mit dem ius commune zu schützen. Dies geht unter anderem aus den Bestimmungen beider Reformationen über das Konsultieren von Juristen hervor. In beiden Quartieren hielten die Gerichte auf dem Lande nämlich auch noch im 17. und 18. Jahrhundert an der alten Tradition fest, gemäß der i n Zivilsachen am Ende jeder Hauptverhandlung einer der Gerichtsleute zum „Urteilsfinder" („ordelwijser", „ordeldrager") bestellt wurde. Dieser musste dem Gericht innerhalb einer bestimmten Frist einen begründeten Urteils-Vorschlag („voorraem") machen. I m Mittelalter waren praxiserfahrene Urteilsfinder dazu aufgrund ihres eigenen Wissens imstande. Dies änderte sich jedoch i n der frühen Neuzeit, als die Parteien sich zunehmend von Juristen beraten ließen und von diesen abgefasste Schriftstücke einreichten, die von dem gelehrten Recht entnommenen Begriffen und Ausdrücken sowie von Hinweisen aufs Corpus Juris Civilis und rechtsgelehrte Autoren wimmelten. ging, Nijmegen 2000; ebenfalls veröffentlicht in: E. C. Coppens u.a. (Hrsg.), Lex Loci. Opstellen over Nederlandse Rechtsgeschiedenis uit de pen van Prof. Mr. O. Moorman van Kappen. Nijmegen 2000, S. 561-599. 53 Gereformeerde landtrechten ende gewoonten van het Rijck van Nijmegen, van de ampten van tusschen Maes ende Wael, Over- ende Neder-Betuwen, mitsgaders van de heerlijkheden ende gerighten daeronder ressorterende, Arnheim 1686 (2e erweiterte Aufl. Nijmegen 1765); Landregt van Thielre- en Bommelre-Weerden mitsgaders Herwaarden, voorts de heerlijkheden en gerigten daeronder ressorterende, als ook 't Ampt van Beest en Renoy, Arnheim 1721. 54 Zutphen 1615 (gedruckt 1638; revidierte und erweiterte Neuauflagen 1708 und 1742), Tiel 1659 (gedruckt), Elburg 1719 (gedruckt), Zaltbommel 1722 (gedruckt), Harderwijk 1734 (gedruckt). Vgl. meine Stadtrechtreformationen (FN 38) S. 154-157. 55 Bei den späteren Reformationen des Nimwegener und des Roermonder Quartiers spielte ja auch das Bemühen um Rechts Vereinheitlichung eine Rolle. 56 Vgl. FN 15.

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Dies nötigte die Urteilsfinder zunehmend dazu, sich ihrerseits ebenfalls von Juristen - meistens praktizierenden Advokaten - belehren zu lassen. Letztere pflegten ein im Konzept fertiges und mit rationes decidendi versehenes Urteil abzufassen, das hin wiederum vom Urteilsfinder eingereicht und normalerweise ohne weiteres vom Gericht übernommen wurde. Unter Beibehaltung der althergebrachten Form der Urteilsfindung formalisierten beide besagte Reformationen die mittlerweile „eingebürgerte" Praxis des Heranziehens eines (oder mehrerer) Juristen zur Konsultation, dies jedoch mit vorsorglicher Sicherung einer bevorzugten Anwendung der Landrechte. Denn obwohl man i n der Praxis der Rechtspflege ohne Juristen nicht mehr auskommen konnte, hegten die Stände noch immer das nötige Misstrauen gegen das gelehrte Juristentum ... Aus diesem Grunde bestimmte das veluwsche Landrecht von 1593, dass Urteilsfinder sich i n schwierigen Sachen, i n denen sie eine Konsultation benötigten, von „rechtsgelehrten oder wohlerfahrenen Personen im Landesinneren belehren lassen sollten, das heißt nur von denjenigen, die im Quartier von Arnheim wohnhaft sind". Nur in Fällen, in denen eine Belehrung „vorders und widers geschehen" müsste, konnten sie sich daneben von einem „utheimschen rechtzgeleerden" belehren lassen (Art. 164). 57 Allem Anschein nach waren die veluwschen Stände der Meinung, dass Juristen aus dem Inland ihr Landrecht besser kennen würden als „ausländische".. . 5 8 Das zutphensche Landrecht von 1604 zeugt von einer noch größeren Besorgnis um seine Handhabung: damit die Urteile „gemäß dem Landrecht und den Gewohnheiten dieser Grafschaft Zutphen gesprochen" werden und „niemand zum Appellieren genötigt" oder „ i n " - lies: unnötige „Unkosten gestürzt" wird, sollen die Urteilsfinder („ordelwijsers") sich nur „binnen Landes" von „Unparteiischen" belehren lassen, „wohlgemerkt, dass die Belehrung stattfinden soll innerhalb des Fürstentums Geldern und der Grafschaft Zutphen" (Art. V I I 6). Nur wenn sie i m Landesinneren niemanden finden konnten, der eine Belehrung „annemen wolde", durften sie sich im Ausland belehren lassen, dies jedoch unter der Bedingung, dass „die wijsinghe den zutphenschen Landrechten ghemees zij, soo veer [d.h. insofern] hetselve landtrecht notoir of in actis be57 Siehe: Berns, Landrecht van Veluwe (FN 46) S. 67. 58 Berns (ebd. F N 2) erwähnt in diesem Zusammenhang einen interessanten Fall, der sich im März 1603 ergab. Ein Urteilsfinder hatte i n einem schwierigen Fall ausländische Rechtsgelehrte konsultiert. Der Kläger - der die Kosten einer Konsultation vorläufig auslegen musste - stellte sich hingegen auf den Standpunkt, der Urteilsfinder hätte nur einen oder mehrere einheimische Juristen konsultieren dürfen. Weil das reformierte Landrecht in diesem Punkt nicht klar war, entschieden die veluwer Stände, dass Urteilsfinder i n einer solchen schwierigen Sache sich sowohl im Inland als im Ausland belehren lassen konnten. Beide Konsultationen sollten sie daraufhin beim Gericht einreichen, das diejenige befolgen sollte, die ihm „gevellich" sein würde.

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weesen" wäre „und gheschiet van Rechtsgheleerden, welcke eygener handt die Ordelen sullen onderteyckenen" (Art. V I I 7). Trotz dieser Vorschriften zur Wahrung der besagten reformierten Landrechte stellte die Hoffnung der veluwschen und zutphenschen Stände, der sich über die Rechtsprechung einschleichenden Rezeption des gelehrten Rechts in dieser Weise Einhalt gebieten zu können, sich als eine Illusion heraus. Denn diese Reformationen waren weder vollständig und lückenlos noch sonnenklar... Immer, wenn sich eine solche Unvollkommenheit manifestierte, griffen die Juristen, die sie anzuwenden hatten - sowohl die Advokaten-Konsiliarii als auch die rechtsgelehrten Ratsherren-Ordinarii des provinzialen Justizhofes - auf dasjenige zurück, was sie während ihres Jurastudiums mit der Muttermilch ihrer aima mater eingesogen hatten: das gelehrte Recht und die gemeinrechtliche Wissenschaft einschließlich ihrer dogmatischen Grundsätze, Begriffe und Methoden, wie den beweisrechtlichen Grundsatz der intentio fundata und den bartolistischen Lehrsatz Statuta stricte sunt interpretanda. 59 Meines Erachtens ist die sogleich näher zu behandelnde geldrische Subsidiaritätslehre vor allem vor diesem Hintergrund verständlich, nämlich als ein Versuch, dem unaufhaltsamen Vordringen der Rezeption des gelehrten Rechts einen Riegel vorzuschieben. III. Lambert Goris und Joost Pronck als Wegbereiter der geldrischen Subsidiaritätslehre Obwohl die geldrische Subsidiaritätslehre erst im 18. Jahrhundert zur Entfaltung gelangte, kam sie nicht wie vom Himmel gefallen. Schon im 17. Jahrhundert gab es einige - obwohl ganz wenige - geldrische Juristen, die im Gegensatz zur übergroßen Mehrheit ihrer Fachgenossen, die sich der üblichen Anwendung des ius commune als (einziges) ius subsidiärem kritiklos fügte, ihr Unbehagen an der daraus erwachsenden Überlagerung des einheimischen vom gelehrten Recht zeigten. Beispielshalber sei zwei solcher „Wegbereiter" Erwähnung getan, einem „gelehrten" Juristen und einem „Praktiker". Ersterer war der sehr gelehrte Nimwegener Syndikus Lambertus Goris (t 1651), den man schon einmal als „den geldrischen Grotius" bezeichnet hat. 6 0 I m vierten Traktat seiner Adversaria, in dem er von den Differen59 Vgl. supra § I. 60 Vgl. P. C. Molhuysen, P. J. Blok u.a. (Hrsg.), Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, 10 Bde, Leiden 1911-1937 (Unveränd. Nachdruck Amsterdam 1974 mit separatem Registerband), Bd. I, Sp. 956; J. L. G. Gregory, Martinus Gregorii of Goris, laatste kanselier van Gelderland, in: I. A. Nijhoff und Ρ Nijhoff (Hrsg.), Bijdragen voor vaderlandsche geschiedenis en oudheidkunde, Nieuwe reeks, Bd. 4

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zen zwischen dem ius commune und der consuetudo Gelriae handelt, betont er zuerst, das kaiserliche und das päpstliche Recht besitzen „bei uns" zwar große Autorität, dies jedoch nur i n denjenigen Fällen, in denen es keine althergebrachte, vaterländische Gewohnheiten (antiqui patriae mores) oder von Fürsten, Landständen und städtischen Gesetzgebern festgesetzten Regeln gebe. Im Anschluss daran empfiehlt er folgende Rangordnung der anzuwendenden Rechtsquellen: 1. das schriftlich fixierte Gewohnheitsrecht (consuetudo, si qua in scriptum redacta) 61; 2. das nicht verschriftlichte Gewohnheitsrecht (consuetudo, quae non in scripto constat) 62] 3. die analoge Anwendung einer Rechtsgewohnheit (analogum consuetudinis); 4. das römische oder kaiserliche Recht samt dem kanonischen Recht (jus civile Romanorum sive Caesareum, comité jure canonico sive pontificio ); 5. die Gewohnheiten benachbarter Völker und Regionen (mores populorum regionumque vicinarum). 63 Obwohl diese eklektisch gefärbte, mit zahlreichen Hinweisen auf frühneuzeitliche rechtsgelehrte Autoren gespickte, abgestufte Subsidiaritätslehre keineswegs schlechthin der - zeitlich späteren - geldrischen Lehre der gegenseitigen Subsidiarität der Landrechte gleichzustellen ist, hat sie dennoch mit letzterer gemein, dass sie das gelehrte Recht als subsidiäre Rechtsquelle zugunsten des einheimischen Rechtes zurückdrängt. 6 4 Eine ganz andere Gestalt zweiter Garnitur war der Harderwijker „ p r a c t i z i j n " 6 5 Joost Pronck, der 1705 als sechzigjähriger seine Animadversiones veröffentlichte, einen Kommentar zu ausgewählten Artikeln (1866) S. 348; M. A. van Lamzweerde, Consultatiën, advysen ende advertissementen, Bd. I, Arnhem 1776, Vorrede (ohne Paginierung). 61 Wie die reformierten Land- und Stadtrechte. I n Anbetracht seines geschilderten Ausgangspunkts sind Landesgesetzgebung und Statutarrecht m.E. diesem verschriftlichten und homologierten Gewohnheitsrecht gleichzusetzen. 62 Aus dem Wort constat geht m.E. hervor, dass eine solche „ungeschriebene" Gewohnheit dem Gericht bekannt sein soll. Vgl. Coing , Europäisches Privatrecht I (FN 3) S. 132. 63 Lambertus Goris, Adversariorum iuris subcisivorum, ad lucem consuetudinis Ducatus Gelriae et Comitatus Zutphaniae, ac vicinarum Belgii povinciarum, tractatus quatuor, 3e Aufl., Arnheim 1651, S. 346-347 (Tract. IV § 1). 64 Was insofern nicht Wunder nimmt, als Goris i n einem anderen Werk davon zeugt, wie sehr die Gelderländer - und namentlich die Einwohner der Veluwe den altbewährten Bräuchen und der Rechtsterminologie ihrer Vorväter ergeben waren. Vgl. Lambertus Goris, Commentatio ad très et viginti priores titulos Reformatae Consuetudinis Velaviae, Ed. Nijmegen 1645, S. 381 (Glosse I, 1 ad Cap. X X I I I Art. 1) : „Quam sint antiquitatis retentissimi [...] passim i n tota juris Velavici reformatione ostendunt reformatores" etc. 65 Mit dieser Qualifikation bezeichnete man im 17. und 18. Jahrhundert gewöhnlich einen Prokurator, den praxiserfahrenen Prozess Vertreter einer Partei. Vgl. Thymon Boey, Woordenboek of verklaring der voornaamste onduitsche en andere woorden, in de hedendaagsche en aaloude rechtspleginge voorkomende, etc., 2 Bde, 's-Gravenhage (= Den Haag) 1773 S. 530. Im Gelderland traten solche Prokuratoren öfters ebenfalls auf als Rechtsbeistand einer Partei, die die Kosten eines „gelehrten" Advokaten - der per definitionem ein graduierter Jurist war - nicht

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der veluwschen Landrechtsreformation. 66 Im Vorwort, i n dem er dieses Büchlein den Ständen des Quartiers von Veluwe sowie den Ratsherren des provinzialen Justizhofs widmete, bricht er den Stab über das ius civile Romanorum, das seines Erachtens - mit den opiniones Doctorum als Begleitung - „seit sechzig oder siebzig Jahren" im Gelderland so sehr den Vortritt bekommen habe, dass man das althergebrachten geldrische Recht kaum mehr kenne ... In dieser unterhaltsamen Darlegung gibt er zwar einerseits zu, das Corpus Iuris Civilis habe „viel Schönes" zu bieten, betont jedoch andererseits, dass seine praktizierenden, geldrischen Kollegen vor allem die geldrischen Gesetze, Landrechte und „notorischen" Herkommen zu kennen und zur Anwendung zu bringen hätten, weil die „gemeinen, geschriebenen Rechte" sowohl dem Venloer Vertrag gemäß als auch der Kanzleiordnung des provinzialen Justizhofs zufolge nur ersatzweise anzuwenden seien, 67 gleich wie dies bei den Sachsen und Schweizern der Fall sei. 68 Obgleich Pronck sich in seinem darauffolgenden Kommentar - wider Erwarten - nicht weniger „rezeptionsfreundlich" erweist als die große Mehrheit der damaligen rechtsgelehrten Autoren, bevorzugt er dennoch hin und wieder bei Lücken und Unklarheiten im veluwschen Landrecht das Recht eines der anderen geldrischen Quartiere gegenüber dem „gelehrten" ius commune. Wenn einer z.B. den Formerfordernissen entsprechend und rechtzeitig vor dem Landgericht von Veluwe geladen war, war er grundsätzlich zum Erscheinen verpflichtet; bei Nichterscheinen stellte das Gericht in einem Zwischenurteil das Ausbleiben des Beklagten fest, was gerade im veluwschen Quartier folgenschwere prozessuale Konsequenzen mit sich brachte. Kapitel IX, Artikel 5 der veluwschen Reformation anerkannte nur drei Fälle höherer Gewalt, die für den ausgebliebenen Beklagten einen rechtmäßigen Verhinderungsgrund („rechte nootsin") ergeben konnten: Leibesnot (z.B. eine schwere Krankheit), Wassernot (z.B. eine Hochwasserkatastrophe) und „Herrengebot", das heißt eine Dienstleistung auf Befehl des Lehns-, Dienst-, Hof- oder Zinsherrn des Betroffenen. In der gerichtlichen Praxis stellte sich jedoch des Öfteren die Frage ob und inwiefern neben den besagten noch andere Rechtfertigungsgründe anerkannt werden sollten. Obwohl Lambert Goris diese Frage in seinem zahlen konnte oder wollte. Vgl. meine Aspecten van de oud-Nijmeegse rechtspleging (FN 52) S. 26 ff. (bzw. S. 578 ff.). 66 Joost Pronck, Animadversiones oft Opmerckingen over het Landrecht van Velu wen en Veluwenzoom, Harderwijk 1705. 67 Vgl. FN 42, bzw. 45. 68 Dies unter Hinweis auf bzw. Christ. Zobelius (Zobel), Differentiae iuris civilis et Saxonici, in IV partes distributae etc., Leipzig 1598 und Josias Simlerus (Simmler), De republica Helvetiorum l i b r i II, Zürich 1576.

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Kommentar zu diesem Artikel wegen des antiquus juris Gelrici rigor noch verneint hatte 6 9 , spricht Pronck sich für eine analoge Anwendung der - bedeutend liberaleren - diesbezüglichen Artikel des reformierten Land- und Stadtrechts des Quartiers von Roermond von 1619-1620 aus. Gemäß diesen konnte z.B. auch eine schwere Krankheit eines der Blutsverwandten oder der Ehefrau oder auch eine Hochzeitsfeier eines nahen Angehörigen einen legitimen Verhinderungsgrund ergeben. 70 Als Begründung führt er an, dieses Quartier habe vormals immer zum Gelderland gehört und denselben Fürsten gehabt. In Anbetracht der Tatsache, dass dieses Landrecht sich näher zu diesem Punkt äußert, sollen die diesbezüglichen Bestimmungen auch in der Veluwe angewandt werden. 7 1 Wiewohl Pronck sich also der „offiziellen" und auch anderswo in den Vereinigten Provinzen üblichen Subsidiaritätslehre fügte, ist er dennoch insofern als Wegbereiter des Schrassertschen Subsidiaritätslehre zu betrachten, dass er grundsätzlich die Anwendbarkeit des Landrechtes des einen Quartiers im anderen anerkannte und dass eine solche „grenzüberschreitende" Anwendung bei ihm manchmal den Vorrang vor einer Anwendung des ius commune hatte. IV. Johan Schrasserts Lehre der reziproken Subsidiarität der geldrischen Landrechte In gewissem Maße „Erfinder" und zugleich Hauptvertreter der Lehre der gegenseitigen Subsidiarität der geldrischen Landrechte war der Harderwijker Rechtsanwalt und Stadtsekretär Dr. Johan Schrassert (1687175 6). 7 2 Fockema Andreae hat ihn „den Durchschnitts Vertreter der besseren Provinzial juris ten seiner Zeit" genannt, der sich aus dem Gros nur durch seinen ungewöhnlichen Drang zum Veröffentlichen heraushob" 7 3 . Dieser praxiserfahrene Kenner des veluwschen Land-, Lehns-, Dienst-, Hof-, Zins- und Zehntrechts, womit er als Advokat und Rechtsberater der besagten Stadt sozusagen täglich zu tun hatte und worüber er viele 69 Lambert Goris, Commentatio ad très et viginti priores titulos Reformatae Consuetudinis Velaviae etc., Nijmegen 1645, S. 138-142, bes. S. 140 no. 6. 70 Land- en Stadsrecht Overkwartier van Roermond 1620 Art. V. 7. 2.14 und 15. Siehe: Berkvens und Venner, Het Gelderse Land- en Stadsrecht (FN 34) S. 277. 71 Pronck, Animadversiones (FN 66) S. 29-30. Zum heiklen Punkt, dass die Reformation des geldrischen Oberquartiers damals (1619) von einem „feindlichen" Fürsten homologiert worden war, äussert Pronck sich nicht ... 72 Über ihn: Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek (FN 60) Bd. I, Sp. 1460-1461 (mit weiteren Literaturangaben). 73 S. J. Fockema Andreae, Het burgerlijke recht in de buitengewesten van Nederland, in: Geschiedenis der Nederlandsche rechtswetenschap, samengesteld in opdracht van de Koninklijke Akademie van Wetenschappen te Amsterdam, Bd. IV-2, Amsterdam 1955, S. 203-204.

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Bücher publizierte 7 4 , war in den Augen der veluwschen Advokaten und „practizijns" 7 5 der große Experte in diesem Bereich. Er wurde denn auch häufig von Urteilsfindern und selbst von Kollegen zwecks der Abfassung eines begründeten Urteils-Vorschlags konsultiert. Es war dieser gelehrte Jurist und „costumier" 7 6 , der i n seinem 1719 erschienenen, voluminösen Kommentar zur veluwschen Reformation zum ersten Mal seine Lehre der reziproken Subsidiarität der geldrischen Landrechte in Worte fasste und zwar folgendermaßen: „Wenn unsere Reformation oder eine gemeine Gewohnheit versagt oder unklar ist in einem Fall, den man im Landrecht der vier Obenämter des Nimwegener Quartiers oder i n der Landrechtsreformation der Grafschaft Zutphen entschieden findet, dann kann man jene Entscheidung vor den veluwschen Gerichten als Gesetz anführen (pro lege allegavi) und hat sie dort Rechtskraft (valeat)." Dies sei i n der gerichtlichen Praxis allbekannt und nicht weniger notwendig. Schrassert begründet diese seine Stellungnahme mit dem Argument des stillschweigenden Willens des Gesetzgebers, der, wenn man ihn über dieselbe Angelegenheit befragt hätte, hinsichtlich des veluwschen Rechts zweifelsohne dasselbe geantwortet und bestimmt hätte wie im Hinblick auf die übrigen Quartiere. 77 Im Grunde handelt es sich bei dieser Begründung um eine angenommene Einheitlichkeit der gesetzgeberischen Gewalt. 7 8 Diese gegenseitige Subsidiarität der Landrechte erstreckte sich übrigens der Meinung Schrasserts nach 7 9 grundsätzlich nicht auf die Landrechtsreformation des geldrischen Oberquartiers von 1619-1620, weil diese von „ausländischen Herrschern, die in unserem Gebiet keinerlei 74 Seine Bibliographie in: R. Dekkers, Bibliotheca Belgica Juridica, Brüssel 1951, S. 157. 75 Vgl. FN 65. 76 „Costumier": das heißt ein Kenner des Gewohnheitsrechts (auf französisch „coutumier"). 77 Joannis Schrassert, Commentatio ad Reformationem Velaviae etc., Harderw i j k 1719, S. 4-5 Nr. 14 (Proemium). 78 Die sich übrigens theoretisch insofern verantworten ließ, dass die gesetzgeberische Gewalt in der Provinz Geldern-Zutphen seit Ende des 16. Jhts. tatsächlich durch den Landtag („Landdag"), d.h. durch die kombinierte Versammlung der drei Quartiersstände ausgeübt wurde, selbst wenn ein Gesetz nur i n einem der drei Quartiere gelten sollte. 79 Schrassert, Commentatio (FN 77) S. 4 Nr. 11 und 12, dies unter Hinweis auf ein - wörtlich wiedergegebenes - responsum (Gutachten) von quatuor clarissimi Gelriae advocati vom 10. März 1653. Dass die Praxis manchmal anders war, ergibt sich aus meinem Beitrag zur Rezeption der Land- und Stadtrechtsreformation des Oberquartiers von Roermond i n der Stadt Nijmegen: O. Moorman van Kappen, „Receptie van het Gelders-Overkwartierlijke Land- en Stadrecht van 1619 in N i j megen?", in: A. Fl. Gehlen und G. H. A. Venner (Hrsg.), „Flittich erforscht und gecolligeert ...". Opstellen over Limburgse rechtsgeschiedenis, Maastricht 1995, S. 173-185.

Zur Lehre von der Subsidiarität der geldrischen Landrechte

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obrigkeitliche Gewalt haben", zustande gebracht worden war. Folglich konnten deren Gesetze auf keinerlei Weise für die Einwohner der Niederquartiere verbindlich sein. Ausgenommen jedoch der Fall - so Schrassert - in dem es sich um die Auslegung älteren Rechts aus der Epoche handele, i n der Geldern ungeteilt war und nur einem Gesetzgeber gehorchte. I n einem solchen Ausnahmefall dürfe man die Interpretation der leges istius tetrarchiae befolgen. 80 Prinzipiell erstreckte sich die Schrassertsche Lehre nur auf die Landrechte, nicht auf die Stadtrechte. Auch in diesem Zusammenhang macht er jedoch wieder eine Ausnahme: insoweit es sich um Rechtssätze und Rechtsinstitute handele, die die Städte aus dem Landrecht ihres Umlandes übernommen hatten, dürfe man Letzteres zur Ausfüllung von Lücken sowie zur aufklärenden Interpretation von Unklarheiten anwenden. 81 Dass die Schrassertsche Lehre der gegenseitigen Subsidiarität der Landrechte sich zu Ungunsten des gelehrten Rechts auswirkte, lässt sich verstehen: wenn eine andere geldrische Landrechtsreformation eine sich im erstanzuwendenden Landrecht manifestierende Lücke ausfüllen oder eine Unklarheit verdeutlichen konnte, hatte sie den Vorrang vor dem ius commune? 2 Schrassert ging sogar noch weiter. I n Anbetracht der Tatsache, dass die veluwsche Landrechtsreformation - wie eingangs erwähnt das „alte" Landrecht nur in manchen Punkten („in sommige pointen", lat. quibusdam partibus) geändert und „verbessert" hatte, kommt er zu der Schlussfolgerung, Letzteres sei im übrigen noch i n Kraft. Folglich sollen Rechtsfragen, zu denen die Landrechtsreformation von 1593 (revidiert 1604) 83 nichts aussagt, nicht sofort nach dem römischen Recht entschieden werden (non statim decidenda esse ex jure Romano), sondern anhand der allgemein befolgten Gewohnheiten und Sitten (ex generalium consuetudinum et morum observantia) der Veluwe. Es seien Letztere, die „ i m Hinblick auf unser Statutarrecht als das wahre ius commune betrachtet und wie Gesetze befolgt werden sollen, non vero jus Romanorum", 84 Er scheut sich sogar nicht, diese Stellungnahme zugunsten der „provinzialen Gewohnheiten" und der consuetudines benachbarter Rechtskreise auszudehnen, deren statuta oder jura nicht andersartig (dissimilia) sind .. . 8 5 so Schrassert, Commentatio (FN 77) S. 4 Nr. 13 unter Hinweis auf Nicolaus Burgundus (de Bourgogne), Tractatus controversiarum ad consuetudines Flandriae, ed. Arnheim 1670 (Antwerpen 16211), Prolog Nr. 8. 81 Ebd. S. 4 Nr. 10 in fine. Auch konnten die Städte seines Erachtens die vom Landesgesetzgeber verliehene auctoritas des (reformierten) Landrechtes benutzen zur Entscheidung von im Stadtrecht nicht berücksichtigten Fällen. 82 Ebd. S. 5 Nr. 14 in fine. 83 Vgl. F N 49. 84 Dies unter Hinweis auf ... D.I.3.37 ff.! Das heißt den Teufel mit Beelzebub austreiben ...

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Von dieser „Degradierung" des ius Romanorum und der gemeinrechtlichen Privatrechtswissenschaft auf der Rangliste der ersatzweise anzuwendenden Rechtsquellen abgesehen, setzt Schrassert den „gemeinen geschriebenen Rechten" noch eine weitere Schranke: die leges Imperatoriae uti et Pontificae seien im Gelderland nicht suapte vi verbindlich, sondern nur per receptionem. Letzteres impliziere, dass sie nur insoweit anwendbar seien, als sie in Übereinstimmung sind mit den vorväterlichen Sitten oder diesen wenigstens nicht entgegengesetzt (quatenus consentant aut non contradicunt Patriae mores). 86 Im Vorwort („Voorberigt") seines 1740 erschienenen Codex Gelro-Zutphanicus findet man eine viel ausführlichere Darstellung der landrechtlichen Subsidiaritätslehre Schrasserts. 87 Im Grunde enthält diese jedoch nicht viel wesentlich neue Elemente bis auf zwei. Das erste ist eine neue und andersartige, theoretische Untermauerung dieser Lehre: nicht mehr die angenommene Einheitlichkeit der gesetzgeberischen Gewalt 8 8 , sondern die Tatsache, dass die Eingesessenen der verschiedenen Quartiere „ i m selben Klima, nach denselben Sitten und unter dem Regime desselben Souveräns wie in einem Körper vereinigt zusammenleben". 89 Zweitens anempfiehlt er zum Erwerb besserer Kenntnisse der alten, wohlhergebrachten, geldrischen Rechtsgewohnheiten, die seines Erachtens das wahre geldrische jus commune bilden, das - an den damaligen Rechtsfakultäten seines Erachtens schwer vernachlässigte 90 - Studium der ge-

85 Schrassert, Commentatio (FN 77) S. 5 Nr. 14 i n fine (unter Hinweis auf Goris, Adversaria (FN 63) Tract. IV. § 1, Nr. 3 und auf David Mevius, Commentarius in jus Lubecense, 4 Bde., Leipzig 1642-16431, Prael. Quaest. 10, Nr. 30 ff.) und S. 6 Nr. 17 und 18. 86 Ebd. S. 6 Nr. 18 i n fine, dies unter Hinweis auf unter anderem Art. 50 der erst 1651 in Kraft gesetzten - Kanzleiordnung des provinzialen Justizhofes von 1622 (Maris und Driessen, Archief Hof van Gelre en Zutphen (FN 44) I S. 224225), der inhaltlich völlig übereinstimmte mit dem - nahezu gleichlautenden 32. Artikel der ursprünglichen Kanzleiordnung von 1547 (vgl. FN 45). Diese letzterwähnte Stellungnahme Schrasserts ist übrigens keineswegs einzigartig. Man findet sie auch bei bekannten Autoren des römisch-holländischen Rechtes wie Simon Groenewegen, Tractatus de legibus abrogatis et inusitatis i n Hollandia vicinisque regionibus, Leiden 1649, Prooemium Nr. 5 ff. 87 Johan Schrassert, Codex Gelro-Zutphanicus ofte Handboeck, vervattende het summier van veele saecken de politie ende j usti tie in den Furstendom Gelre ende Graaffschap Zutphen betreffende etc., Harderwijk 1740, Vorwort (nicht paginiert). N. B. Als Quellenanhang erschien im selben Jahr zu Harderwijk: Johan Schrassert (Hrsg.), Stucken en Documenten behoorende tot den Codex Gelro-Zutphanicus etc. 88 Dies weil der Autor zu der Anschauung gelangt ist, dass die „Herren Reform a t o r s " der verschiedenen Landrechtsreformationen einer solchen Einheitlichkeit keine Erwähnung tun. 89 Diese an Montesquieu anklingende Argumentation - die dennoch dessen erst 1748 erschienenen De l'esprit des Lois unmöglich entnommen sein kann - schöpfte Schrassert laut eines Zitats aus dem Prolog des Tractatus [...] ad consuetudines Flandriae von Nikolaus de Bourgogne (FN 80).

Zur Lehre von der Subsidiarität der geldrischen Landrechte schichtlichen

Quellen,

aus denen diese i h r e n

Ursprung

279

haben91.

In

diesem Z u s a m m e n h a n g n e n n t er gewissermaßen als „ U r q u e l l e " aus f r ä n kischer Z e i t das jus

Saxonicum,

das ebenfalls i n Westfalen, B r a n d e n -

b u r g , A n h a l t , H o l s t e i n , L i t a u e n , Schlesien, Böhmen, Polen,

Preußen,

T r a n s y l v a n i e n u n d D ä n e m a r k r e z i p i e r t sein s o l l e 9 2 . D a m i t umriss er z u g l e i c h genauer die populi

regionesque

vicinae,

deren L a n d r e c h t e u n d Ge-

w o h n h e i t e n der schon e r w ä h n t e n M e i n u n g v o n Goris n a c h als l e t z t a n wendbares subsidiäres Recht i n B e t r a c h t k ä m e . 9 3 I m Vorbericht

seines Codex

verteidigt

Schrassert seine m e h r s t u f i g e

S u b s i d i a r i t ä t s l e h r e 9 4 übrigens n i c h t ohne Scharfsinn. W e n n er z . B . S t e l lung

gegen

den

bekannten

Lehrsatz

vieler

rezeptionsfreundlichen

R e c h t s g e l e h r t e n 9 5 n i m m t , gemäß d e m m a n e i n S t a t u t , das dasselbe b e s t i m m t w i e das „jus

commune,

n ä m l i c h romanum"

nach Letzterem in-

t e r p r e t i e r e n solle, n e n n t er beispielsweise das Schenkungsverbot

zwi-

schen Eheleuten, das s o w o h l i m r ö m i s c h e n R e c h t 9 6 als i m r e f o r m i e r t e n L a n d r e c h t v o n V e l u w e 9 7 v o r k o m m t . I m r ö m i s c h e n Recht handele es sich j e d o c h d a r u m , ne amor conjugalis tur si, qui habet, non dabit, tige ut bona [immobilia]

sit venalis

u n d ne matrimonia

turben-

w ä h r e n d das veluwsche L a n d r e c h t beabsich-

maneant

in cujusque

familia.

Dieser U n t e r s c h i e d

90 In diesem Zusammenhang stellte er seinen Lesern den damaligen Aufschwung der Erforschung einheimischer Rechtsquellen in „Duytsland" als leuchtendes Vorbild vor Augen. Vgl. H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II: Neuzeit bis 1806, Karlsruhe 1966, S. 378-380; C. J. H. Jansen, Natuurrecht of Romeins recht. Een Studie over leven en werk van E A. van der Marek (1719-1800) in het licht van de opvattingen van zijn tijd, Leiden 1987, Kap. V (S. 132 ff.). 91 Selber machte Schrassert einen leidlichen Versuch in dieser Richtung mit seinem Quellenanhang (vgl. F N 87 in fine). 92 Dies unter Hinweis auf B. G. Struve, Historia juris, Jena 1718, Kap. 6 § 23. 93 Vgl. § III. In der zwischen den doctor es umstrittenen Frage ob die gemeinen, geschriebenen Rechte als subsidiäres Recht vor oder nach den Landrechten und Gewohnheiten der „benachbarten Regionen", non habentes dissimilia jura, anzuwenden seien, ergreift Schrassert keine Partei. Seines Erachtens solle man denjenigen dieser beiden subsidiarischen Rechtskomplexe anwenden, den i m vorliegenden Fall am meisten übereinstimmt mit „den Grundlagen unserer Rechte und Gewohnheiten", was eine Abwägung von Fall zu Fall impliziert. 94 Eine diesbezügliche Zusammenfassung ist auch bei Jansen, Natuurrecht of Romeins recht (FN 90) S. 150-153 vorzufinden. 95 Als Beispiel nennt er Paulus Christinaeus, I n Leges municipales Mechlinienses commentarla ac notae, Praeludia Nr. 31: „Quando vero statuta disponunt id quod ius commune, interpraetantur ac limitantur secundum ius commune" (Ed. Antwerpen 1642 S. 7). 96 Vgl. D. 24.1.1 en 2 j° D.24.1. 11.1. 97 Gereformiert landtrecht van Veluwe (FN 49) - in der Fassung von 1604 Kap. X X X , Art. 3 a contrario. Seit 1711 galt anstatt dieses Artikels Art. 8 der „Ordonnanz über das Machen von Testamenten im Quartier von Veluwe". Dazu Schrassert, Commentatio (FN 77) S. 535-542. Das Verbot bezog sich auf Liegenschaften. Vgl. auch Schrassert, Codex Gelro-Zutphanicus (FN 87) S. 454 Nr. XV: Man en vrouw mögen malkanderen nòg bij acte onder de leevende nòg bij uytterste wille yts bemaecken buyten het vrugtgebruyck".

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im Tenor führe zu unterschiedlichen rechtlichen Konsequenzen: im römischen Recht könne z.B. eine donatio inter con juges morte donantis konvaleszieren, im veluwschen hingegen nicht. Die Moral dieses Vergleichs ist klar: beim Wählen eines ersatzweise anzuwendenden Rechts zur Deutung bzw. Ergänzung des primär anzuwendenden Rechts, solle man nicht auf „die Schale" ähnlicher Worte achten, sondern vielmehr auf die Ähnlichkeit qua Tenor und Grundsätze. V. Zur Auswirkung der Schrassertschen Lehre In seiner Utrechter Dissertation hat Jansen darauf hingewiesen, dass Schrasserts Lehre der reziproken Subsidiarität und „mutualen Dienstbarkeit" der geldrischen Landrechte zu seinen Lebzeiten nicht zu einem „Gelehrtenstreit" führte. 9 8 Was nicht nur insofern verständlich ist, als die weitgreifend föderative Struktur der neuzeitlichen Provinz Gelderland mit drei grundsätzlich gleichberechtigten Quartieren, die je ihre eigene Stände kannten, sich in keiner der anderen Provinzen in einer so prägnant ausgearbeiteten Form fand 9 9 , sondern ebenfalls der abschätzigen Haltung vieler wissenschaftlich tätigen, holländischen Juristen dem Rechtsleben in den „Außenprovinzen" der niederländischen Republik gegenüber zu verdanken gewesen sein w i r d . 1 0 0 Schließlich war Schrassert ein „Provinzler", ein kleinstädtischer Advokat in einer Agrarprovinz mit einem - in ihren Augen - archaischen Rechtssystem ... Später hat Schrasserts Lehre dennoch sowohl K r i t i k als auch Beifall gefunden, dies weil sie in den „Federkrieg" mit hineingezogen wurde, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im rechtswissenschaftlichen Bereich entwickelte zwischen den Vertretern der aufgeklärten Naturrechtslehre und den Befürwortern eines größeren Anteils des ius publicum (Belgicum) am Jurastudium einerseits und den Anhängern des usus modernus Pandectarum und der „traditionellen" gemeinrechtlichen Privatrechtswissenschaft, die selbstverständlich für die Stellung des „gelehrten" Rechts als einziges subsidiäres Recht eintraten, andererseits. 1 0 1 Attackiert wurde sie von Jacob Copes van Hasselt (1740-1802) i n seiner Utrechter Dissertation De usu atque auctoritate juris civilis in Gelria, 102 98 Jansen, Naturrecht of Romeins recht (FN 90) S. 229. 99 Dazu: A. J. Maris, „Wording van de Gelderse Staten", in: Tijdschrift voor Geschiedenis 66 (1953) S. 384-390; meine Einführung in: J. Drost, Gelderse Plakkatenlijst 1740-1815, Zutphen 1982, S. 13 ff. und die ebd. erwähnte Literatur. îoo vgl. Fockema Andreae, „Het burgerlijk recht in de buitengewesten" (FN 73) S. 210. 101 Zu dieser um sich greifenden Polemik ausführlich: Jansen, Natuurrecht of Romeins recht (FN 90) Kap. V ff.

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die seinem Vater, damals Generalprokurator beim provinzialen Justizhof in Arnheim, offenbar so sehr gefiel, dass dieser eine verbesserte und erweiterte Zweitauflage erscheinen ließ, die er um eine epistola [...] de necessitate juris Romani in subsidium adhibendi vermehrte. 1 0 3 Ihre Argumente kann man sich denken: im Gegensatz zu Schrassert betonen sie gerade die Verschiedenheit der geldrischen Landrechte, die angenommene Einheitlichkeit des Gesetzgebers sei eine bloße Fiktion, und im Übrigen bemühen sie sich nachzuweisen, dass alle gesetzgeberischen Hinweise auf das oder die gemeinen, geschriebenen Recht(e) seit den habsburgischen Landesherren Karl V. und Philipp II. sich einzig und allein auf das ius Caesareum oder Justinianeum - auch als ius civile Romanorum, ius commune oder Kaiserrecht bezeichnet - beziehen. Diejenigen, die „rufen", (clamitant) das ius naturale oder die Statuten und Gewohnheiten benachbarter Regionen seien vor dem ius romanum als subsidiäres Recht anzuwenden, rühren ein Schreckensgespenst auf: nicht nur das römische Recht würde überflüssig werden, sondern auch das Lateinische und sogar die humaniores litterae ... Kurz: es würde eine Rückkehr drohen zur barbarischen Finsternis vergangener Jahrhunderte .. , 1 0 4 Einen gewissen Anklang fand die Subsidiaritätslehre Schrasserts jedoch beim Leidener Professor des ius publicum und des ius naturae seit 1763 Friedrich Wilhelm Pestel (1724-1805) und zwar in seinen Commentarli de republica Batava. 105 Im Rahmen seiner dortigen, ziemlich 102 Utrecht 1760. 103 Arnheim 1763. Zum Vater Johan Coenraad Copes van Hasselt (1709-1781): O. Moorman van Kappen, Een achttiende-eeuws Gelders handboek van verouderde rechtstermen, in: F. Stevens und D. van den Auweele (Hrsg.), „Houd voet bij stuk". Xenia iuris historiae G. van Dievoet oblata, Leuven 1990 S. 523-539, bes. S. 526-530. Der Sohn Jacob Copes van Hasselt war nach seiner Promotion Land-, Deich- und Gerichtsschreiber des Amtes von Nieder-Betuwe, bis er 1781 zum „ordentlichen" Ratsherrn („raad ordinaris", d.h. rechtsgelehrter Ratsherr) im provinzialen Justizhof zu Arnheim ernannt wurde. Dieses Amt hatte er bis zur batavischen Revolution von 1795 inne. Offenbar war diese Anlass zum Niederlegen seines Amtes. Vgl. Maris und Driessen, Archief Hof van Gelre en Zutphen I (FN 44) S. 313 Nr. 122. Im Grunde war die epistola des Vaters eine noch viel schärfere Attacke gegen die Schrassertsche Lehre als die Dissertation des Sohnes. In Anbetracht der Tatsache, dass der geldrische Justizhof das ganze 18. Jahrhundert hindurch der Schrassertschen Subsidiaritätslehre abgeneigt war, könnte dies für Vater und Sohn ein Beweggrund zum Abfassen deren besagter Schriften gewesen sein. 104 Jansen (Natuurrecht of Romeins recht (FN 90), S. 229-230), hat darauf hingewiesen, dass diese Argumente später, i n den achtziger Jahren, vom Groninger professor H. J. Arntzenius (Sr.) (1734-1797) i m ersten Band seiner Institutiones iuris Belgici civilis und von seinem gleichnamigen Sohn H. J. Arntzenius (Jr.) nahezu wortwörtlich wiederholt wurden. 105 Vgl. fur seine Bibliographie: M. Ashmann und R. Feenstra, Bibliografie van hoogleraren i n de rechten aan de Leidse universiteit tot 1811 (Geschiedenis der Nederlandsche Rechtswetenschap VII-1), Amsterdam-Oxford-New York 1984, S. 189 ff. (mit Hinweis auf biographische Angaben). Für die beiden Auflagen seiner Commentarii (Leiden 1782 bzw. 1795) ebd. S. 196 Nr. 516 und 517. Die zweite

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eingehenden Beschreibung der geldrischen Verfassung 106 erwähnt er zwar die Bestimmung der (revidierten) Kanzleiordnung von 1622, nach der die Curia Geldrica in allen Sachen, zu denen das einheimische geldrische Recht nichts aussagt, Recht sprechen soll ex jure communi s cripto 101, lässt darauf jedoch prompt die heikle Frage folgen: Quo usque? Inwiefern? In den dann folgenden Absätzen zeigt sich klar der Einfluss der Schrassertschen Lehre, sogar mit einem expliziten Hinweis auf diesen Autor. 1 0 8 Wenn „das römische Recht" und ein einheimisches Statut zwar ihrem Wortlaut nach dasselbe bestimmen, jedoch aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Absichten, könne man Ersteres nicht ersatzweise anwenden. 1 0 9 Darauf folgt die „sehr schwierige Frage" (perdifficilis quaestio), wie die alten, vorväterlichen Statuten und mores zu interpretieren seien. A m annehmbarsten (probabilior) scheint ihm die Lehre derjenigen, die behaupten, dass man diese nicht anhand des römischen Rechts deuten solle, sondern anhand der nicht grundverschiedenen Rechtseinrichtungen der benachbarten Quartiere (ex vicinarum tetrarchiarum institutis haud dissimilibus), insofern sie aus einem gemeinsamen Grundsatz hervorgehen. 110 Weil das Recht anfangs aus Gewohnheiten hervorgehe und erst viel später mittels Gesetzgebung „zum Teil" verschriftlicht werde, schreckt Pestel ebenso wenig wie Schrassert davor zurück, die Gesetze benachbarter Territorien analog anzuwenden, wenigstens wenn auch darin die „festen Grundsätze" (principia certa) der zu Grunde liegenden Gewohnheiten systematisch zum Ausdruck kommen. In dieser Weise könne man sogar auf die (Gesetze der) Deutschen (etiam ad Germanos) zurückgreifen, non sicut ad legislatores, sed sicut ad principiorum juris communium testes. Interessanter als diese ziemlich spärlichen und wenig beeindruckenden Stellungnahmen für und wider die Subsidiaritätslehre Schrassert i n der rechtswissenschaftlichen Literatur ist jedoch die Frage, wie diese sich in der damaligen geldrischen Gesetzgebung und Rechtsprechung auswirkte. Dazu noch kurz Folgendes. Im Quartier von Nijmegen, wo es erhebliche Unterschiede zwischen den Landrechten der Ober- und der Niederämter - verbesserte und erweiterte - Auflage wurde von mir benutzt. Zu diesem Naturrechtler ebenfalls: Jansen, Natuurrecht of Romeins recht (FN 90) S. 129-131, 145, 191-192, 225 und 251. 106 Pestel, Commentarli, 2. Aufl. (FN 105) Bd. I I S. 54-162. 107 Vgl. F N 86 108 Pestel, Commentarli, 2. Aufl. (FN 105) Bd. II, S. 131-133. 109 Die zur Erläuterung genannten Beispiele sind den schon erwähnten Schriften Schrasserts entnommen. no Z.B. so Pestel, die zutphenschen anhand der veluwschen Landrechte und Gewohnheiten et vice conversa, vorbehaltlich jedoch derjenigen Punkte, i n denen sie untereinander differieren.

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gab und wo eine vereinheitlichende Reformation aller dieser Landrechte sich als undurchführbar herausgestellt h a t t e 1 1 1 , fand der Schrassertsche Gedanke einer gegenseitigen Dienstbarkeit der Landrechte überhaupt keinen Anklang. Außerdem gab es in den beiden dort seit 1686 bzw. 1721 geltenden Landrechtsreformationen Bestimmungen, gemäß welchen in denjenigen Fällen, über die diese Reformationen oder „sichere" (das heißt notorische) Gewohnheiten nichts aussagten, die „Dispositie van de gemeene Rechten" zu befolgen sei. 1 1 2 Dass damit die „gemeene, beschreven, civile Roomsche rechten" gemeint waren, wurde von keinem der dortigen Juristen angezweifelt. 113 Dasselbe wurde übrigens auch in der Stadtrechtsreformation von Zaltbommel festgesetzt. 114 Überhaupt wollten die drei Städte dieses Quartiers von einer ergänzenden Anwendung des Landrechtes ihres Umlandes nichts wissen, ausgenommen vielleicht in ganz wenigen Fällen die Quartiershauptstadt Nijmegen, die als ehemalige Reichsstadt zwar grundsätzlich das Kaiserrecht als subsidiäres Recht annahm, ausnahmsweise jedoch die - aus qualitativer Sicht vorzügliche - Stadt- und Landrechtsreformation des geldrischen Oberquartiers ersatzweise anwandte. 1 1 5 Anders war es i n den Quartieren von Zutphen und Arnheim mit ihren einheitlichen und stark verwandten Landrechten. Dort zeigte sich wenigstens ein Teil der bei den dortigen Landgerichten tätigen Advokaten und „practizijns" für die Schrassertsche Subsidiaritätslehre aufgeschlossen 1 1 6 Indem die bekannteren Advokaten häufig Gutachten in Form begründeter Urteils Vorschläge für die erstinstanzlichen Gerichte abfassten, welche die Landgerichte nur noch zu verkünden hatten 1 1 7 , konnte die Lehre Schrasserts über diese Konsiliarpraxis gelegentlich i n deren Rechtsprechung eindringen 1 1 8 . m Vgl. FN 53. 112 Gereformeerde Landrechten [...] Rijck van Nijmegen etc. (FN 53) Kap. X X X V I I am Ende; Landregt van Thielre- en Bommelre-Weerden etc. (FN 53) Kap. X L I I am Ende. 113 Vgl. J. J. van Hasselt, Aantekeningen op de Gereformeerde Landrechten ende gewoonten van het Rijk van Nijmegen etc., Nijmegen 1777, S. 8-9 Nr. 10-12. 114 Statregt van Zaltbommel, Arnheim 1722, S. 197 (Kap. X L am Ende). us Vgl. F N 79. Nach meinem Eindruck geschah dies nur i n denjenigen Fällen, in denen das gelehrte Recht keine entsprechende Lösung bot, die Land- und Stadtrechtsreformation des Oberquartiers hingegen ganz bestimmt. ne So zitiert Johan Jacob van Hasselt (1717-1783), Advokat beim geldrischen Justizhof zu Arnheim, i n seiner Scholia ad Reformationem Comi ta tus Zutphaniae etc. (Bd. I, Arnheim 1771) S. 34-35 Nr. 10 ff.) beifällig die diesbezüglichen Lehrsätze Schrasserts, obwohl er im Anschluss daran einen Ausnahmefall nennt, in dem das zutphensche Landrecht nicht subsidiär angewandt werden konnte, weil es gerade in diesem Punkte vom veluwschen Landrecht abwich. Übrigens leugnet Van Hasselt die subsidiäre Rechtskraft des ius caesareum keineswegs (vgl. ebd. S. 26-28 Nr. 10 ff., wo er die abgestufte Subsidiaritätslehre von Goris wortwörtlich zitiert). Vgl. auch Jansen, Natuurrecht of Romeins recht (FN 90) S. 228-229. 117 Vgl. § II.

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Ohne eingehende Archivforschungen kann man über das Ausmaß dieses Einflusses auf die damalige erstinstanzliche Rechtsprechung in civilibus in den beiden besagten Quartieren schwerlich ein Urteil fällen. Es ist übrigens zu bezweifeln, ob man damit weiterkommen würde. Aus einer Untersuchung der damaligen geldrisch-zutphenschen Konsilienliteratur ergibt sich nämlich schon, dass die veluwsche und zutphensche Advokatur - wie zu erwarten - meistens ganz pragmatisch eingestellt war. Als Rechtsberater ihrer Mandanten räumten sie selbstverständlich deren Belangen Vorrang ein und passten die rechtliche Begründung einer Klage oder deren Erwiderung daran an; aber auch i m Rahmen ihrer Gutachtertätigkeit zum Behuf der Gerichte erwiesen sie sich in ihrem Bestreben, die besonderen Aspekte und Umstände eines jeden Falles zur Geltung kommen zu lassen, keineswegs als „Dogmatiker". Beispielsweise sei in diesem Zusammenhang die gedruckte Konsiliensammlung von Joost Schomaker (1685-1767) genannt, 1 1 9 der in Zutphen eine blühende Anwaltspraxis hatte und Kenner par excellence des zutphenschen Land- und Stadtrechtes war. Darin heißt es im einen Fall, das Stadtrecht von Zutphen, das zum fraglichen Punkt nichts sagt, dürfe „seine Explikation" erhalten „aus den nachdrücklichen Dispositionen des zutphenschen Landrechts" sowie „aus der beständigen Praxis dieser Grafschaft" 1 2 0 - was durchaus der Lehre Schrasserts gemäß sein k ö n n t e 1 2 1 - , im anderen dagegen Statuta vires suas extra territorium non extendunt, so dass hinsichtlich eines mit einer Hypothek belasteten Lehnsgutes im zutphenschen Quartier an eine (subsidiäre) Anwendung der diesbezüglichen Bestimmungen der veluwschen Landrechtsreformation nicht zu denken sei . . . 1 2 2 Kurz und gut: die Advokaten (und „pracns Zwei Beispiele i n Schrasserts eigene Consultatien, Advysen ende Advertissementen etc. (5 Bde, Harderwijk 1740-1754) I, S. 224 Nr. 18 (Gutachten vom 9.8.1726) und S. 241-242 Nr. 29 (Deduktion zur Bestätigung dieses Gutachtens). Vgl. auch seine Practicae observationes etc. (2 Bde, Harderwijk 1736) Obs. 253 nr. 3 (S. 396-397). 119 Jodocus Schomakerus, Selecta Consilia et responsa juris etc. 6 Bde., 17381782 (Nijmegen-Amsterdam Bd. I - I I I , Zutphen Bd. IV-VI). Der letzte - sehr seltene - Band erschien posthum. In dieser von Schomaker herausgegebenen Sammlung sind übrigens auch viele Gutachten anderer geldrischen Advokaten vorzufinden. 120 Ebd., Bd. I, cons. X (ein Gutachten von Schomaker selbst) Nr. 32 (S. 124) unter Hinweis auf Bernhard van Zutphen, Practycke der Nederlantsche Rechten etc. (Ed. Groningen 1680), Tit. Statuyt, Nr. 19 (S. 549): „Statuyten nemen interpretatie van andere statuyten ende het eene statuyt wort meerder gedeclareert van een ander als van de gemeene rechten" etc. 121 Vgl. F N 81. Diese Argumentation Schomakers stand übrigens auf gespanntem Fuße mit der Zutphener Stadtrechtsreformation, die die „keyserlyke beschrevene regten" als subsidiäres Recht bezeichnete. 122 Schomakerus, Selecta Consilia, Bd. I (FN 119) cons. X X X I I I (ein Gutachten des Nimwegener Advokaten J. Swaen) Nr. 2-4 (S. 327-328). In den Nummern 7-14 desselben consilium (S. 328-330) akzentuiert Swaen den Unterschied zwischen

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tizijns") bedienten sich der Subsidiaritätslehre Schrasserts vor allem, wenn sie ihrer Argumentation in diesem oder jenem Fall zweckdienlich war. Daneben findet man sie manchmal erwähnt als mögliches Argument der Gegenseite, das dann im voraus entkräftet wurde. 1 2 3 Insoweit die Lehre Schrasserts sich ebenfalls auf Stadtrechte bezog 1 2 4 findet man davon in den im 18. Jahrhundert geltenden städtischen Rechtsquellen im zutphenschen Quartier keine Spur. I m Gegenteil: das reformierte Stadtrecht Zutphens von 1615 - das erst 1638 im Druck erschien - befahl den beim Stadtgericht praktizierenden Advokaten und Prokuratoren, sich den „städtischen Willküren, Plebisziten, Privilegien, zu alten und wohlhergebrachten Gewohnheiten und jura municipalia" fügen und mangels dieser die „keyserlijcke beschreven Rechten" zu befolgen, dies jedoch nur, insofern sie der Sache dienlich seien. 1 2 5 Auch in der Hauptstadt Arnheim sowie i n den kleineren Städten im veluwschen Quartier vermochte ich bisher keine Spuren dieser Lehre zu finden, mit Ausnahme jedoch der Stadt Harderwijk, wo Schrassert selber Stadtsekretär war und deren Stadtrechtsreformation von 1734 aller Wahrscheinlichkeit nach von ihm selbst entworfen w u r d e . 1 2 6 Eingangs dieser Reformation w i r d ausdrücklich bestimmt, man solle primär diese reformierten Willküren als „Gesetze, Statuten und Gewohnheiten der Stadt" befolgen, mangels derselben „die gemeinen Gewohnheiten dieser Stadt" oder deren „evenredenheyt" (d.h. Analogie), drittens „die gemeinen provinzialen Land- und Stadtrechten, Gewohnheiten und Bräuche" und erst an letzter Stelle solle nach „den gemeinen, beschriebenen, kaiserlichen Rechten" entschieden werden. 1 2 7 Genau betrachtet war dieses System einer dreistufigen Subsidiarität eine Art vereinfachte Mischform der Subsidiaritätslehren von Goris und Schrassert selbst. 1 2 8 dem veluwschen und dem zutphenschen Landrecht im fraglichen Punkt, weist aber zugleich auf die mit dem zutphenschen Landrecht übereinstimmende Artikel der beiden Landrechtsreformationen des NimWegener Quartiers (!) hin, was wieder gänzlich i n Geiste Schrasserts war ... 123 So ebd. Bd. V cons. X L I I I Nr. 18-19 (S. 477-479), wo Schomaker der Schrassertschen Lehre zwar grundsätzlich - aber unverbindlich - beistimmt, sie i m vorliegenden Fall jedoch zurückweist aufgrund einer gegensätzlichen lokalen Gewohnheit. 124 Vgl. F N 81. 125 Stadtrechten van Zutphen etc., Arnhem 1638, tit. XVI, Art. 12 (S. 24-25) = Gereformeerde en geamplieerde Stadtreght van Zutphen, Zutphen o. J. [1742] Tit. XVI, Art. 20. Diese Regel galt ebenfalls in den meisten Kleinstädten des zutphenschen Quartiers, die das Zutphensche Stadtrecht übernommen hatten. 126 Vgl. Fockema Andreae, „Het burgerlijk recht in de buitengewesten" (FN 73) S. 204. 127 Gereformeerde Willekeur ende Stadtrechten van Harderwyck, Harderwijk 1734, im vorangehenden Einführungsbeschluß des Stadtrates (nicht paginiert). 128 Vgl. §§ I I I und IV. Die besagte Vereinfachung betrifft unter anderem die Auslassung der Statuten und Gewohnheiten der „benachbarten Völker und Länder"

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VI. Schlussbemerkungen Die Subsidiaritätslehre von Johan Schrassert lässt sich einerseits in das im 18. Jahrhundert i n den Vereinigten Niederlanden unter Juristen und Historikern aufkommende Interesse am ius patrium einfügen, das verspäteter Ausfluss einer ähnlichen, zeitlich vorangehenden Strömung in „Deutschland" war. Dieses Interesse, das sich im „Schattenwinkel" der von aufgeklärten Naturrechtlern und Befürwortern eines größeren Anteils des ius publicum Belgicum am Jurastudium getragenen anti-romanistischen Offensive gegen die Vertreter des usus modernus entwickeln konnte und von dem z.B. auch die Gründung des Vereins „Pro Excolendo Jure Patrio" (1761) sowie eine wachsende Zahl von dem „eigenen", einheimischen Recht gewidmeten Dissertationen zeugen 1 2 9 , richtete sich vorzugsweise auf die Erforschung der historischen Wurzeln dieses ius patrium. Obwohl Schrassert auch dazu das Seine beigetragen h a t 1 3 0 , war er, wie aus seinen Schriften 1 3 1 hervorgeht, vor allem ein Praktiker. Dies ergibt sich auch aus seiner Subsidiaritätslehre, die erhebliche praktische Konsequenzen hatte, indem sie das ius commune als subsidiäres Recht auf den zweiten Rang verwies. Dass das vorväterliche Recht in den Augen dieses „Provinzialjurist e n " 1 3 2 vor allem das geldrische - und besonders das veluwsche - Recht war, kann nicht verwundern, wenn man weiß, wie hoch die „Souveränität" der einzelnen Provinzen im Staatenbund der Vereinigten Niederlande angesetzt wurde: gerade im eigenen Recht kam die „Hoheit" jeder Provinz zum Ausdruck. Die Tatsache, dass Schrasserts Lehre auf Geldern-Zutphen ausgerichtet war, hat denn auch bewirkt, dass seine Subsidiaritätslehre in der nicht geldrischen rechtswissenschaftlichen Literatur der Aufklärungszeit kaum beachtet worden ist. Außerhalb GeldernZutphen fand sie kaum Anklang. 1 3 3

als subsidiäre Rechtsquellen, was im Hinblick auf diese Provinzstadt wahrscheinlich zu anmaßend gewesen wäre. 129 Vgl. Fockema Andreae, Het burgerlijk recht in de buitengewesten (FN 73) S. 213-219 sowie Jansen, Natuurrecht of Romeins recht (FN 90) passim. 130 Unter anderem mittels seiner Stucken en Documenten (FN 87) und seines Hardervicum antiquum etc., Harderwijk 17301. 131 Vgl. R. Dekkers, Bibliotheca Belgica Juridica, Brüssel 1951, S. 157. 132 Er hatte an der geldrischen Akademie zu Harderwijk Jura studiert und promoviert. 133 Dass der Leidener Professor Pestel ausnahmsweise der Schrassertschen Lehre Erwähnung tat und sogar beistimmte, war einzig und allein der Tatsache zu verdanken, dass dieser in seinem großangelegten (aber unvollendeten) Werk zur Verfassung der Republik der Vereinigten Niederlanden (vgl. F N 105) im Rahmen seiner gründlichen Darstellung der Verfassungen der einzelnen Gliedstaaten mit Gelderland, der protokollarisch ersten Provinz, anfing.

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Innerhalb des Gelderlandes war jedoch jeder an der Rechtsprechung beteiligte Jurist mit Schrasserts Subsidiaritätslehre vertraut, allein schon wegen des Widerspruchs, auf die sie traf. Dieser Widerstand, der im theoretischen Bereich in den Schriften von Johan Coenraad und dessen Sohn Jacob Copes van Hasselt zum Ausdruck k a m , 1 3 4 ging i n der gerichtlichen Praxis vor allem vom provinzialen Justizhof zu Arnheim aus, dessen rechtsgelehrte Räte bis zum Ende des geldrischen Ancien Régime (1795) an Artikel 50 ihrer Kanzleiordnung von 1622 festhielten, der sie zur Anwendung der „gemeyne, beschrevene rechten" als einziges subsidiäres Recht verpflichtete. 1 3 5 Indem dieser Justizhof sich seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts zum Appellationsgericht dieser Provinz i n Zivilsachen entwickelt hatte, 1 3 6 war diese ablehnende Haltung des geldrisch-zutphenschen Höchstgerichts aus praktischer Sicht entscheidend. Anklang fand die Lehre Schrasserts nur i n bescheidenem Maße bei seinen Kollegen in den Quartieren von Zutphen und Arnheim mit ihren stark verwandten Landrechtsreformationen. Dies jedoch nicht prinzipiell, sondern nur wenn es ihnen gegebenenfalls gelegen kam ... Die sich stellende Frage, inwiefern die Subsidiaritätslehre Schrasserts „einzigartig" war, wäre meines Erachtens aus praxisbezogener Sicht grundsätzlich verneinend zu beantworten. Anderswo in der Republik der Vereinigten Niederlande gab es i m 18. Jahrhundert tatsächlich Gerichte, die die Prinzipien der von Schrassert „gepredigten" Rangordnung der subsidiär anzuwendenden Rechtsquellen i n der Praxis anwandten, sogar in Unkenntnis seiner Lehre. Aus der Untersuchung De Blécourts betreffs der Rechtsprechung der Groninger „Hoofdmannenkamer", die sich im 18. Jahrhundert zum provinzialen Appellationsgericht i n Zivilsachen entwickelt hatte, ergibt sich z.B. folgende Rangordnung der von diesem Gericht angewandten Rechte: 1. das geschriebene Recht des betreffenden territorialen Rechtskreises; 2. dessen ungeschriebenes Recht (Gewohnheitsrecht); 3. das (gleichartige, geschriebene oder ungeschriebene) Recht benachbarter Rechtskreise; 4. das römische Recht. 1 3 7 Weiter ergibt sich aus zwei gerichtlichen Gutachten von Advokaten aus 1771 und 1791, dass im österreichischen Teil des Landes von Valkenburg (östlich von Maastricht) damals in Zivilsachen als erstanzuwendendes „Ersatzrecht" die (verschriftlichten) „generaele costuymen van Brabant" i n Betracht kamen, weil dieses Land früher in einer Personalunion mit dem Herzog134 Vgl. FN 102 und 103. 135 vgl. F N 86 und 45. 136 Vgl. Maris und Driessen, Archief Hof van Gelre en Zutphen I (FN 44) S. 76 ff. 137 A. S. de Blécourt, Sententiën van de Hoofdmannenkamer van Stad en lande, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 4 (1923) S. 434 ff., bes. S. 436-437. Vgl. Jansen, Natuurrecht of Romeins recht (FN 90) S. 289-290.

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tum Brabant verbunden gewesen war. Erst danach wäre bei Bedarf auf die „römischen Gesetze" zurückzugreifen. 138 Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach Schrasserts Inspiratoren. Sowohl Schrassert selbst als auch Goris, sein Vorläufer im Bereich seiner Subsidiaritätslehre, verweisen zur Erhärtung einzelner Bestandteile ihrer Argumentation vielfach auf in- und ausländische rechtsgelehrte Autoren der Rezeptionszeit, überwiegend aus dem 16. und 17. Jahrhundert, manchmal sogar ältere; wenn schon wörtlich wiedergegeben, handelt es sich fast immer um bruchstücksweise Zitierungen. Sie stellten beide ihre Hierarchie der anzuwendenden Rechtsquellen mit Hilfe von Bruchstücken der Argumentationen anderer Autoren auf, indem sie diesen entnahmen, was sie brauchen konnten. Hierauf näher einzugehen würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Ich weise nur darauf hin, dass i m Punkte der Bevorzugung der benachbarten Landrechte gegenüber dem ius commune alle angeführten Autoren dieses gemein haben, dass sie auf irgendeine Weise und meistens unter bestimmten Voraussetzungen vom einfachen System abweichen, das als alleiniges „Ersatzrecht" das ius commune anerkennt. Und zweitens darauf, dass Lambert Goris und David Mevius die vornehmsten unmittelbaren Inspirationsquellen Schrasserts waren. Von Ersterem wurde schon gesprochen. 139 Letzterer gibt in seinem Kommentar zum Lübischen Recht 1 4 0 eine sehr detaillierte, elf stuf ige (!) Rangordnung der zur Erläuterung und Auslegung des Textes des revidierten Lübischen Stadtrechtes subsidiär anzuwendenden Rechtsquellen, eine Rangordnung, die mit den verba statuti ipsius anfängt und mit ... dem ius commune - dies unter Hinweis auf unter anderem D . I . 3. 32 - endet. 1 4 1 Obwohl Schrassert diese verfeinerte Rangordnung keineswegs prout iacet übernommen hat, könnte man hier dennoch auf eine römisch-rechtliche Wurzel seiner wenigstens in ihrer Auswirkung - anti-romanistischen Subsidiaritätslehre stoßen. 142 138 Siehe: C. Casier und L. Crahay (Hrsg.), Coutumes du Duché de Limbourg et des Pays d'Outre-Meuse, Brüssel, 1889, S. L X I V - L X X . Dazu neuerdings: A. M. H. van Lambalgen-Bogaardt, „De regel paterna paternis, materna maternis in het Land van Valkenburg anno 1797", in: A. M. J. A. Berkvens und A. Fl. Gehlen (Hrsg.). Van verminkingsstraf tot vrederechter. Opstellen ter gelegenheid van het twintigjarig bestaan van de Werkgroep Limburgse Rechtsgeschiedenis, Maastricht 2000, S. 275-302. 139 Siehe § III. 140 Vgl. FN 85. 141 „Iulianus libro L X X X I I I I digestorum: De quibus causis scriptis legibus non utimur, id custodiri oportet, quod moribus et consuetudine inductum est: et si qua i n re hoc deficeret, tunc quod proximum et consequens ei est: si nec id quidem appareat, tunc ius, quo urbs Roma utitur, servari oportet". 142 Man könnte sich sogar rein spekulativ fragen, ob diese Digestenstelle ihn vielleicht auf den Gedanken gebracht hat, die Vertreter des usus modernus mit ihren eigenen Waffen zu schlagen ...

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Hatte Schrasserts eklektisch aufgebaute, vielfältig verwurzelte Subsidiaritätslehre denn nichts Eigentümliches? Könnte es nicht sein kaum verhohlener Stolz auf das Landeseigene der geldrischen Landrechte und Herkommen - worüber die Jurastudenten selbst an der geldrischen Akademie zu Harderwijk so wenig zu hören bekamen, dass sie als junge Advokaten der alltäglichen landgerichtlichen Praxis ziemlich hilflos gegenüberstanden 1 4 3 - gewesen sein, der ihn von anderen gegen die „Fremdherrschaft" des gelehrten Rechts ankämpfenden Juristen - vor allem den Vorkämpfern der aufgeklärten Naturrechtslehre - unterschied? Im Gelderland mag dies der Fall gewesen sein, im damaligen europäischen Rahmen jedoch nicht. Anderswo in Europa gab es zur selben Zeit frappante - und eindrucksvollere - Parallelen. Im Hinblick auf Frankreich 1 4 4 hat Jean Bart z.B. i n seiner durchgearbeiteten Studie „Coutume et droit romain dans la doctrine bourguignonne du XVIIIe siècle" eine lebhafte und eindringliche Schilderung der „école des arrêtistes, praticiens qui expriment avec vigueur le ,patriotisme coutumier'" gegeben. 145 Dort, in Burgund, handelte es sich jedoch um einen juristischen Patriotismus in größerem Stil als der kleinstädtische Advokat und Stadtsekretär Schrassert und seine wenige Anhänger ein einer nicht allzu wohlhabenden Agrarprovinz im Vorgarten Hollands aufbringen konnten ...

143 Aus diesem Grunde veröffentlichte Johan Schrassert 1745 zu Harderwijk sein Büchlein Den Veluwsche Practizijn etc., eine praxisbezogene Anleitung für junge Advokaten und Prokuratoren („practizijns"). Vgl. F N 65. 144 i n bezug auf Deutschland siehe Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte I I (FN 90) S. 378-379. 145 Erschienen in: Mémoires de la Société pour l'Histoire du Droit et des Institutions des anciens pays bourguignons, comtois et romands, 28 (1967) S. 141-171, bes. S. 144 ff.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 291 - 304 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

ERST- UND DRITTAUSGABE DER POLITICA I M VERGLEICH: Z U D E N ENTSTEHUNGSBEDINGUNGEN POLITISCHER THEORIE Von Katharina Odermatt, Engelberg Es handelt sich beim dem vorliegenden Beitrag um eine Momentaufnahme meiner gegenwärtigen Forschungsarbeit, dementsprechend werde ich statt einer Abschlussthese nur eine Reihe von Fragen präsentieren, von denen ich hoffe, dass sie nicht in eine Sackgasse führen, sondern sich als Pfade zu hoffentlich innovativen Erkenntnissen entpuppen. Viele Fragen können an einen Text herangetragen werden, Fragen nach der Grundaussage, der Absicht des Autors, der Gattungszugehörigkeit, der Rezeptions- und der Wirkungsgeschichte. Hier nun soll die Frage nach den Entstehungsbedingungen eines Textes gestellt werden und inwieweit diese seine endgültige Form und Natur beeinflussen. Über die Gattungszugehörigkeit der POLITICA braucht man nicht zu diskutieren, es handelt sich um politische Theorie, welche ihrerseits i n vielen Formen existiert, die wiederum sehr verschieden wahrgenommen werden, man denke nur an die Rezeptionsgeschichte so unterschiedlicher Gattungen wie Fürstenspiegel oder Utopien. Man kann politische Theorie als zeitlosen Diskurs interpretieren, man kann aber auch versuchen, sie i m historischen Kontext zu verankern. Wie John Pocock einmal sagte, kann politisches Denken auch als eine Form historischen Bewusstseins interpretiert werden. 1 Politische Theorie entsteht also nicht nur aus der Rezeption vorhergegangener Theorien, sie w i r d auch durch die historische Erfahrung des Autors bedingt und von seinen bewussten wie unbewussten Intentionen beim Verfassen des Textes mitgeformt. Angesichts der beträchtlichen Unterschiede der Erst- und Drittausgabe der POLITICA sowohl bezüglich Inhalt, Struktur und Umfang des Textes, aber auch hinsichtlich der veränderten biographischen Situation des Autors, stellt die POLITICA ein besonders geeignetes Studienobjekt zur Untersuchung dieses Zusammenhanges dar. ι John G. A. Pocock, Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption, Frankfurt a. Main 1993, S. 33.

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Althusius wurde 1586 nach einem Studium i n Köln, Basel und Genf an die Hohe Schule in Herborn berufen, in den folgenden Jahren war er auch als Berater des Grafen Johann des Älteren von Nassau tätig. I n diesem Umfeld, das einerseits akademisch geprägt war, andererseits A l thusius aber bereits i n ersten Kontakt mit der politischen Praxis brachte, entstand die 1603 erschienene Erstausgabe der P O L I T I C A . Ein Jahr später wurde Althusius als Stadtsyndikus nach Emden berufen. Die folgenden Jahre sind geprägt von den Auseinandersetzungen der Stadt mit dem Grafenhaus - in dieser Zeit, in der Althusius als Politiker stark gefordert war, überarbeitete er sein Hauptwerk gründlich. 1614 erschien die Drittausgabe der P O L I T I C A , die, wie Althusius selber in der Praefatio festhielt, keine simple Überarbeitung, sondern ein eigenes neues Werk darstellte. 2 Ausgangspunkt nachfolgender Ausführungen ist der Textvergleich zwischen der 1603 publizierten Erstausgabe und der Drittausgabe aus dem Jahre 1614. Bei einem Vergleich der beiden Ausgaben fällt sofort auf, dass der Text signifikant erweitert bzw. umgeschrieben wurde: Die Erstausgabe umfasst 32 Kapitel auf 469 Seiten, die Drittausgabe 39 Kapitel auf 968 Seiten, da beide Ausgaben relativ ähnlichen typographischen Vorgaben folgen, ist es zulässig, von einer Verdoppelung des Textvolumens zu sprechen. Bis auf wenige Stellen wurde der Text der Erstausgabe i n der Drittausgabe wiederverwendet, allerdings oftmals überarbeitet, umstrukturiert und erweitert. 3 Von den 39 Kapiteln der Drittausgabe ist streng genommen nur ein einziges gänzlich neu: Kapitel VIII, das sich mit der Provinzverfassung befasst. Zu den stark überarbeiteten Kapiteln gehören jene, i n welchen die folgenden Themen bearbeitet werden: - die Stadt (Kapitel V und VI), - die Ephoren (Kapitel XVIII), - die Herrschaftskonstituierung (Kapitel XIX), - die Reichsversammlung (XXXIII), - das Widerstandsrecht (XXXVIII).

2 „... animadverti secundas meas meditationes opus politicum novum, a priori sciagraphia forma, methodo, & rerum multitudine diversum peperisse." POLITICA 1614, Praefatio S. 2. 3 Zumeist handelt es sich bei nicht übernommenen Stellen um kurze Absätze, eine der wenigen längeren Passagen der Erstausgabe, die i n der Drittausgabe komplett ersetzt wurden, findet sich auf den Seiten 142 unten bis 144 Mitte der POLITICA 1 6 0 3 , die Beispiele zur Illustration des Ephorenamtes, hier noch aus dem Alten Testament, werden in der Drittausgabe durch aktuelle Exempla ersetzt.

Erst- und Drittausgabe der Politica im Vergleich

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Neben solch spezifischen Themen, die erweitert wurden, gibt es aber auch Umarbeitungen, die sich durch den gesamten Text ziehen. Es handelt sich hierbei um eine Vertiefung des wissenschaftlichen Dialoges mit anderen Autoren und eine Zunahme der zeitgenössischen Exempla, mit denen die theoretischen Ausführungen versehen werden. Hinzu kommt eine Umstrukturierung der Verbandsordnung i n den ersten Kapiteln, die Konsequenzen für den gesamten Aufbau hat. Ich möchte diese 3 Felder kurz diskutieren und dann detaillierter auf die Stadt und die Provinz eingehen. I. Der wissenschaftliche Dialog Die Drittausgabe enthält zahlreiche längere Textstellen, in denen A l thusius sich intensiv mit anderen Autoren auseinandersetzt, die einen gegensätzlichen theoretischen Standpunkt einnehmen. Diese Autoren sind über den von Althusius selber verfassten Index am Ende des Textes der Drittausgabe relativ einfach auszumachen, da er hinter ihre Namen jeweils ein „refutatur" gestellt hat. Es handelt sich um William Barclay (1546-1608), Jean Bodin (1529/30-1596) und Alberico Gentili (1552-1608) - also alles frühabsolutistische Theoretiker. Die Stellen, die sich auf Bodin beziehen sind z. T. aus der Erstausgabe übernommen, wurden aber erheblich ausgebaut. Die von Althusius i n diesen Passagen angeführten Argumente kreisen jeweils um dieselben bekannten Themen wie etwa die Eignerschaft der Souveränitätsrechte und den daraus abgeleiteten verfassungsrechtlichen Folgerungen. 4 Sämtliche Stellen, die sich auf Barclay und Gentiii beziehen sind hingegen neu. Es handelt sich bei diesen Stellen oft um Kernstücke der Althusischen Theorie, die sich auch durch stilistische Besonderheiten auszeichnen wie den Wechsel von der wissenschaftlich-abstrakten, unpersönlichen Sprache zur ersten Person Singular, was darauf schliessen lässt, dass Althusius diesen Stellen ganz besonderes Gewicht verleihen wollte. 5 Er verwendet dieses Stilmittel sonst nur noch in der Vorrede und ganz am Schluss von Kapitel X X X I X , wo er nochmals seinen wissenschaftlichen Ansatz darlegt.

4 Beispielsweise P O L I T I C A 1614/IX, 19-27 eine Schlüsselstelle zu oben beschriebener Thematik, die komplett neu ist. 5 „... Ego i n eo, quo Bodinus haec sensu accipit, nullum horum requisitum genuinum in jure hoc majestatis agnosco ..." P O L I T I C A 1614/IX, 20 - „... Cujus (Barclay) argumenta paucis referam & refutabo, ... Contra ego regero:.." P O L I T I C A 1614/XVIII, 92 - „... Mea vero longe alia est sententia ..." (1614/XIX, 51) Contrarium ego assero ..." P O L I T I C A 1614/XXXVIII, 81 - „... Sed male, meo judicio, ita Bodinus distinguit ..." P O L I T I C A 1614/XXXIX, 3.

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Wie lässt sich diese Ausweitung des wissenschaftlichen Dialoges interpretieren? Mehrere Interpretationsansätze bieten sich zur Erklärung an: Ein Teil dieser Erweiterungen lässt sich editionsgeschichtlich erklären, Werke von Barclay und Gentiii waren zur Entstehungszeit der Erstausgabe entweder noch nicht publiziert oder im deutschsprachigen Raum nur schwer zu erhalten. Gentiiis Werke waren erst nach 1603 erhältlich und Barclays Hauptwerk De Regno et Regali Potestate war zwar bereits 1600 in England erschienen, aber erst 1612 wurde i n Hanau eine Ausgabe im deutschsprachigen Raum gedruckt. Nicht ausser acht gelassen werden darf natürlich die bekannte Zitierwut der Zeit, ein wissenschaftlich pedantischer Autor wie Althusius war davon sicherlich beeinflusst. Doch betrachtet man die argumentative Schärfe der angeführten Stellen und berücksichtigt, dass es sich des öfteren um Schlüsselstellen zum Verständnis der P O L I T I C A handelt, so mag diese Erklärung kaum zu befriedigen, wiewohl sie für eine Vielzahl der neuen Stellen im wissenschaftlichen Apparat der Drittausgabe durchaus sinnvoll erscheint. Es ist bekannt, dass Althusius während seiner politischen Tätigkeit in Emden mit Leuten zusammentraf, die ihm deutlich machten, dass sein politiktheoretischer Ansatz im zeitgenössischen Diskurs keineswegs unwidersprochen akzeptiert wurde. Gemeint sind Thomas Franzius, der Kanlzer des ostfriesischen Grafen, wie auch der Graf Enno III. selbst sowie Kardinal Winwood, der englische Gesandte, der eigentlich zwischen der Stadt Emden und dem Grafenhaus vermitteln sollte, aber aufgrund seines (mangelnden) diplomatischen Geschicks scheiterte. 6 Diese Erfahrungen sowie die Rezeption der Erstausgabe und der damit einsetzende kritische Diskurs an den darin geäusserten theoretischen Ansätzen könnten diese profunde Auseinandersetzung mit anderen Autoren ausgelöst haben. Zu dieser Thematik finden sich leider in der neuen Praefatio zur Drittausgabe keine Hinweise, was eigentlich erstaunlich ist, da die Praefatio zur Erstausgabe noch eine längere Literaturdiskussion enthält. II. Die Exempla Zu den interessantesten Umarbeitungen der Drittausgabe gehört die Zunahme der zeitgenössischen Exempla. Die Drittausgabe ist hinsichtlich der Exempla kosmopolitischer als die Erstausgabe, in der Althusius

6 Vgl. hierzu: Heinz Antholz, Politische Wirksamkeit des Johannes Althusius i n Emden, Aurich 1955, S.106 ff., zu Franzius: Harm Wiemann, Materialien zur Geschichte der Ostfriesischen Landschaft, Aurich 1982, S. 150-160.

Erst- und Drittausgabe der Politica im Vergleich

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noch hauptsächlich mit Exempla aus dem Deutschen Reich, Frankreich und der Eidgenossenschaft arbeitete. Über eine besonders hohe Anzahl neuer Exempla verfügen die Kapitel V (Stadt), V I I I (Provinz), X V I I (Bündnisse), X X X I I I (Reichsversammlungen) und X X X V I I I (Widerstandsrecht). Die von Althusius i n der Drittausgabe verwendeten Exempla decken einen möglichst weiten geographischen Raum ab, es gibt sogar Verweise auf das Osmanische Reich und die Spanischen Überseebesitzungen. Ganz deutlich w i r d hier das Bemühen sichtbar, die ganze bekannte und relevante Welt in das theoretische System mit einzubeziehen. Im Vorwort postuliert Althusius zwar den affirmativen Charakter dieser Exempla, doch stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich die in der Theorie erläuterten Inhalte vermitteln bzw. ob sie zur Erläuterung und Bestätigung der abstrakten Inhalte dienen können. Ein weiteres Problem ist, dass Althusius die staatliche Konstruktion der Drittausgabe der Verfassungswirklichkeit des Deutschen Reiches anpasst, gleichzeitig aber versucht, seine Ausführungen mit Exempla aus ganz Europa zu untermauern. Bezüglich dieser Exempla lässt sich folgende Arbeitsthese entwickeln: wird ein bestimmtes Thema mit Exempla aus einem spezifischen geographischen Raum illustriert, kann man auf einen relativ niedrigen Abstraktionsgrad i n der Theorie schliessen. Umgekehrt können heterogen ausgewählte Exempla auf einen hohen Abstraktionsgrad der Theorie verweisen. m . Die Struktur Die Struktur des Textes und damit die Grundanlage der Theorie hat Althusius i n beiden Ausgaben i n sogenannten Dispositionstafeln zu Beginn des Textes dargestellt. Diese Tafeln, die auf der ramistischen Methode basieren, liefern bereits interessante Informationen über die Grundanlagen beider Texte. 7 Folgende Grafiken zeigen vereinfacht die Verbandsordnung der beiden Ausgaben, wie sie auf der jeweils ersten Tafel ausgeführt ist. Die wichtigsten Modifikationen in der Verbandsstruktur sind optisch einfach auszumachen. 7 Im Grunde genommen stellt die in den Tafeln der P O L I T I C A gezeigte Systematik ein einziges logisches und in sich zusammenhängendes Konstrukt dar. Neben der Schwierigkeit, die einzelnen Tafeln als zusammenhängendes Ganzes wahrzunehmen, ergibt sich ein weiteres Problem: eigentümlicherweise widerspiegelt sich die i n den Tafeln konstituierte Themenordnung kaum oder gar nicht im Inhaltsverzeichnis bzw. den Kapitelüberschriften und umgekehrt. Der Text weist also zwei paralle, nebeneinander existierende Ordnungsstrukturen auf.

Provinicia

Publica in universitate

Conjugum

Propinquorum

_ . „ . s Privata in collegio

f

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Urbs

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Katharina Odermatt

296

V

ν civilis spontanea

naturalis necessaria

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^

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i y :

J

Consociatio

Grafik 1: Verbandsstruktur 1603

Die Verbandsstruktur der Erstausgabe geht von einer grundlegenden Dichotomie aus, die alle sozialen Ordnungsformen bzw. consociationes in zwei Kategorien aufteilt: - consociatio simplex particularis: Ehe - und Familiengemeinschaft (naturalis), die unter collegia zusammengefassten Genossenschaften sowie die universitas (civilis), die neben verschiedenen Formen der Gemeindeordnung auch die Provinz umfasst. - consociatio universalis: das allem übergeordnete Staatswesen. Die Verbandsstruktur der Drittausgabe zeigt ein gewandeltes B i l d mit mehreren Unterkategorien. Die grundlegende Dichotomie sieht nun folgendermassen aus: - consociatio simplex privata : Ehe- und Familiengemeinschaft, Genossenschaft. - consociatio mista publica: universitas, Provinz, Staatswesen. Wobei zu bemerken ist, dass die Provinz jetzt anders als i n der Erstausgabe keine Erscheinungsform der universitas mehr ist, sondern dieser hierarchisch eindeutig übergeordnet wird.

297

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Erst- und Drittausgabe der Politica im Vergleich

Universalis major

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Grafik 2: Verbandsstruktur 1614

Collegium und universitas werden also zugunsten der neuen Kategorisierungseinheit der consociatio mista publica aus ihrer Gruppenzusammengehörigkeit gelöst, während die neu entstandene provincia auch i n dieser neuen Kategorie auftaucht. Es lohnt sich deshalb, einmal die Definition dieser neuen Einheit zu betrachten. Gegenüber der consociatio simplex privata definiert sich die consociatio mista publica durch folgende Merkmale: - sie ist entsprechend der klassischen Korporationslehre 8 unsterblich (mori non dicitur, P O L I T I C A 1 6 1 4 / V , 2 ) ;

8 Zu den Korporationslehren vgl. J. P. Canning, Law, Sovereignty and corporation theory, 1300-1450, in: Cambridge History of Medieval Political Thought, S. 473-476.

298

Katharina Odermatt

- sie entspricht ebenfalls in Einklang mit der Korporationslehre der Rechtsfigur der persona reprœsentata bzw. persona ficta ( P O L I T I C A 1614/V, 9); - sie besteht im Gegensatz zur consociatio simplex privata nicht aus Individuen, sondern aus kleineren Verbänden ( P O L I T I C A 1614/V, 1 ) . Noch eine Bemerkung zur provincia: anders als i n der Erstausgabe ist diese nun nicht mehr länger eine Erscheinungsform der universitas (im Sinne von Gemeinde), sondern eine dieser übergeordnete autonome Verfassungsebene. Keine andere Modifikation des Textes der Erstausgabe hat dermassen weitreichende Konsequenzen wie diese Aufwertung der Provinz, da dadurch das ganze theoretische Gerüst der Drittausgabe beeinflusst wird. Die Neukategorisierung der Verbände scheint auf die Rezeption von Losaeus „Tractatus de jure universitatum" (1601) zurückzugehen, Althusius muss das Werk erst nach Verfassen der Erstausgabe gelesen haben. Die Aufwertung der Provinz hingegen basiert auf einer Anpassung an die VerfassungsWirklichkeit des Deutschen Reiches.

IV. Die Stadt Die Gemeinde, bzw. universitas, erhält in der Drittausgabe um einiges mehr Raum als in der Erstausgabe, wobei das Hauptgewicht nun auf der städtischen Gemeinde, der civitas, zu liegen kommt, der in der Erstausgabe noch keineswegs mehr Beachtung als den anderen Kategorien dieser Verbandsform geschenkt wurde. Die Erstausgabe beinhaltet nur ein Kapitel, das sich mit allen Aspekten der universitas befasst, Kapitel V. Aus diesem ursprünglichen Kapitel entstanden durch etliche Erweiterungen zwei Kapitel i n der Drittausgabe. Kapitel V, das sich nach der allgemeinen Einleitung mit der Verfassung der Stadtgemeinde befasst und Kapitel VI, das die äussere Einbindung der Stadtgemeinde i n einen höheren Herrschaftsverband (Provinz oder Staat) behandelt. Althusius hält zwar i n der Drittausgabe an der strukturellen Gleichheit von ländlicher und städtische universitas fest, doch erhält letztere sehr viel mehr Gewicht als in der Erstausgabe, wie die Zunahme der diese Thematik betreffenden Stellen sicherlich belegt. So sind die Artikel 51-69 i n Kapitel V neu, sie behandeln die Regierungsstruktur der civitas. Hier nun erfährt das Stadtkapitel der D r i t t ausgabe die wesentlichsten Neuerungen, über 7 Seiten w i r d eine Verfassung beschrieben, die im grossen und ganzen ein Amalgam der Ratsver-

Erst- und Drittausgabe der Politica im Vergleich

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fassungen frühneuzeitlicher Stadtgemeinden darstellt, wobei der gemeinsame Nenner immer die Aufteilung der politischen Gewalt zwischen Regierung (bzw. Magistrat) und Bürgerschaftsvertretung (bzw. Rat) darstellt. Auffallend ist hier die Vielzahl der Möglichkeiten, die beispielsweise für das Wahlverfahren der Stadtregierung, also beider Gremien, ins Spiel gebracht werden: Althusius beschreibt neben Kooptation auch Verfahren wie die Wahl durch Zünfte oder Haufen. Die beschriebene Stadt verfügt über ein Höchstmass an Autonomie, was aber nicht bedeutet, dass kein Stadtherr existiert, im Text w i r d mehrmals auf einen möglichen Stadtherrn eingegangen, nur erscheint er als Instanz, die aus der Ferne waltet und nur in bestimmten verfassungsmässig festgelegten Vorgängen wie beispielsweise der Wahl der Stadtregierung in Erscheinung t r i t t . 9 Weist die in der Drittausgabe beschriebene Stadtverfassung konkrete Ähnlichkeiten mit der Emdener Verfassung auf? Tatsächlich stimmen einzelne Details des Entwurfs der P O L I T I C A mit den Emdener Verhältnissen überein. So erwähnt Althusius die Möglichkeit, dass i n gewissen Städten Rat und Magistrat in doppelter Zahl gewählt würden und dem Stadtherrn die endgültige Auswahl zusteht. 10 Das ist eine genaue Beschreibung der Emder Verfassung, wie sie 1595 festgelegt wurde. Doch w i r d dieses Vorgehen nur als eines i n einer ganzen Reihe verschiedener Verfahrensweisen auf gelistet. Die Ausführungen der P O L I T I C A berücksichtigen die Emdener Verhältnisse, sind aber nicht von ihnen direkt beeinflusst. Sicherlich fand keine Instrumentalisierung der Theorie für die politischen Zwecke des Syndikus statt. Althusius mag aufgrund seiner Emder Erfahrungen zum Schluss gekommen sein, dass der besonderen Ausprägung der universitas als Stadt mehr Beachtung zu schenken sei. Eine direkte Vorbildrolle der emdischen Verfassung ist aber trotzdem nicht sehr wahrscheinlich, vielmehr scheint die Stadtverfassung der P O L I T I C A die verschiedensten biographischen Einflüsse zusammenzufassen, wobei als Klammer für alle Formen der universitas die möglichst autonome Selbstverwaltung gilt. Die hier beschriebene Stadt ist auch ohne Stadtherr funktionsfähig, selbst wenn ein solcher existieren sollte. Fast alle wesentlichen Ausführungen zum Stadtregiment werden in Kapitel V gemacht, das sich auf die innere Struktur der Stadt konzentriert. Der verfassungsrechtliche 9 POLITICA

1614/V, 60.

10 POLITICA 1 6 1 4 / V, 6 0 .

300

Katharina Odermatt

Status der Stadt, der festlegt ob die Stadt über einen oder sogar mehrere Stadtherren verfügt, w i r d erst i n Kapitel V I diskutiert. Noch eine Bemerkung zu den Exempla dieses Kapitels, diese stammen aus ganz Europa, wobei aber das Schwergewicht auf dem deutschsprachigen Raum liegt, fast die Hälfte dieser Exempla stammt aus dem oberdeutschen Raum bzw. eidgenössischen Raum. Einer Städtelandschaft, die Althusius wohlbekannt war und wohl auch seinen Idealvorstellungen entsprach. V. Die Provinz Die Einfügung der Provinz als eigenständige Verfassungsebene gehört bestimmt zu den folgenreichsten Änderungen der Drittausgabe. Bedingt ist diese Aufwertung u.a. in einer stärkeren Anlehnung an die Verfassungsverhältnisse des Deutschen Reiches, die in der Drittausgabe erfolgt. I n dieser versuchten Reflexion bestehender Verhältnisse, die aber i n ständigem Wechsel mit der Abstraktion der Theorie erfolgt, entstehen theoretische „Spannungsbrüche", die vor allem, um bei der geophysikalischen Metapher zu bleiben, in und um das Gebiet der provincia recht oft auftreten. Zuerst einmal ist festzuhalten, dass die Provinz der deutschen Landschaft entspricht, einer territorialen Ordnungseinheit, die i n dieser Form in anderen europäischen Grossstaaten nicht anzutreffen ist. Es ist kein Zufall, dass die mehr an französischen Verhältnissen orientierte Erstausgabe keine gleichwertige Verfassungsebene kennt. Eine Überprüfung der i n den Provinzkapiteln verwendeten Exempla unterstreicht diesen Eindruck. Diese stammen entweder aus dem Gebiet des Deutschen Reiches oder der niederländischen Provinzen, man kann sie sogar noch mehr einengen und von einer Fokussierung auf den nordwesteuropäischen Raum sprechen. Die Anlehnung an ganz spezifisch definierte Verhältnisse verhinderte eine Abstützung des Gesagten durch einen möglichst breit gefächerten Beispielapparat, gemäss der eingangs erwähnten Arbeitsthese handelt es sich hier um einen thematischen Komplex mit einem relativ niedrigen Abstraktionsgrad. 1 1 i l Die wenigen Erwähnungen anderer Gebiete Europas sind kursorischer Natur 1614/VIII, 76) und können hier getrost ausser Acht gelassen werden. Das ist aufgrund des oben erwähnten niederen Abstraktionsgrades der Provinzverfassung, d.h. ihrer i n hohem Masse erfolgten Anpassung an die Gegebenheiten speziell des Deutschen Reiches nicht weiter erstaunlich. So kann Althusius sein System nicht auf Frankreich ausdehnen, obwohl auch dort Provinzialstände existieren würden, denn diese werden vom König einberufen und von seinem Stellvertreter geleitet. Noch viel weniger „kompatibel" sind die Ausführungen der P O L I T I C A mit den Verhältnissen in England, obwohl die Tradition des „Selfgover(POLITICA

Erst- u n d Drittausgabe der Politica i m Vergleich

301

Die i n Kapitel V I I und V I I I der Drittausgabe dargestellte Provinzverfassung der P O L I T I C A basiert auf der Dualität von Provinzoberhaupt und Provinzständen. Die Provinzstände umfassen den geistlichen und den weltlichen Stand, der weltliche Stand w i r d nochmals unterteilt i n Ritter-, Städte- und Bauernstand, vor allem letzteres ist aussergewöhnlich. Die Provinzverfassung der P O L I T I C A fordert also eine ständische Vertretung, die nicht auf der traditionellen herrschaftständischen Auffassung beruht. Die Landstandschaft der Bauern erfolgt über das Strukturprinzip der Gemeinde, die sich ebenso wie die städtische Gemeinde durch eine communicatio juris auszeichnet. Verwaltet wird die Provinz von Provinzoberhaupt und Provinzständen zusammen - die Provinzstände der P O L I T I C A arbeiten keineswegs als rein konsultatives Gremium, wie es der aufkommende Absolutismus gerne gesehen hätte. Grundsätzlich kann das Provinzoberhaupt keine wichtige Entscheidung ohne Zustimmung der Landstände treffen. Hierbei ist es die Pflicht des Provinzoberhauptes, die Entscheidung der Provinzstände nicht zu beeinflussen und für einen möglichst einstimmigen Entschluss zu sorgen. Was geschieht aber im Fall, wenn das Provinzoberhaupt anders entscheidet als die Stände? Althusius gibt interessanterweise keine spezifisch für die Provinz erarbeitete Antwort, sondern verweist auf die entsprechenden Kapitel, die sich mit Problemen der Entscheidungsfindung auf Staatsebene befassen. 12 Dort ist die Antwort klar und eindeutig : die Macht und Autorität der versammelten Stände ist grösser als die des Herrschers, da die konstituierende Versammlung mehr Gewalt hat als das von ihr konstituierte Oberhaupt. 13 Dieses Argument ist jedoch für die Provinz nicht gültig, w i r d doch das Provinzoberhaupt vom Staatsoberhaupt konstituiert und kann auch nur von diesem wieder abgesetzt werden. 1 4 Tatsächlich ist das Provinzoberhaupt (neben dem paterfamilias) die einzige Herrschaftsinstanz der P O L I T I C A , die nicht von dem ihr untergeordneten Verband konstituiert wird, daraus ergeben sich eine Reihe von Problemen, die die Stringenz der Theorie negativ beeinflussen.

nement" der englischen Grafschaften der POLITICA eigentlich i n vielen Punkten entgegenkommen würde. 12 POLITICA 1614/VIII, 67. 13 „Sententia igitur universorum statuum & ordinum praevalet praesidis seu summi magistratus sententiae. Nam major autoritas & potestas i n multis, quam i n uno, qui a multis est constitutus, iisque m i n o r . . . " POLITICA /1614, X X X I I I , 20. 14 POLITICA 1614/VIII, 50 und 55.

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So ist das Provinzoberhaupt gleichzeitig Ephor des Reiches. Diese Identität w i r d zwar nicht explizit postuliert, lässt sich aber implizit ermitteln. 1 5 Somit entsteht eine dichotome Instanz, die in ihrer Rolle als Provinzoberhaupt vom Staatsoberhaupt eingesetzt und in ihrer Herrschaftsausübung kontrolliert wird; i n der Rolle als Ephor aber vom Volk eingesetzt ist und ihrerseits das Staatsoberhaupt einsetzt und kontrolliert. 1 6 Eine weitere Komplizierung der Theorie kommt in Kapitel X X X I I I hinzu, i n dem Althusius sich i n sehr viel umfassenderer Weise als i n der Erstausgabe mit den Reichs Versammlungen befasst. Wiederum entpuppen sich die hier aufgelisteten Optimaten als Provinzoberhäupter bzw. Ephoren bzw. Reichsstände. Diese Identität führt zu einer vermehrt herrschaftständisch konnotierten Definition von Reichsstand in der Drittausgabe. Mehr noch als bei den Stadtkapiteln muss für die Einführung der Provinz die Frage nach biographischen Einflüssen geklärt werden. Führten die Erfahrungen i n Emden und Ostfriesland zur Einfügung der Provinz i n das theoretische System der P O L I T I C A und wenn ja, skizzierte Althusius hier eine Provinzverfassung, die auch als Blaupause seiner Argumentation i n den Auseinandersetzungen mit dem ostfriesischen Grafenhaus dienen konnte? Die Provinzverfassung der ostfriesischen Verfassung auf:

POLITICA

weist strukturelle Analogien zur

- Landstandschaft der Bauern, - Einberufung der Landstände durch das Provinzoberhaupt bzw. den Fürsten, - keine Periodizität der Landtage. Doch gerade die letzten zwei Punkte sprechen eigentlich gegen eine propagandistische Interpretation der Provinzkapitel, wäre es Althusius wirklich um die Kumulation von möglichst viel politischer Macht bei den Landständen gegangen, so hätte er das Selbsteinberufungsrecht und die Periodizität der Landtage verbindlich darstellen müssen. Die Problematik der Provinzverfassung liegt beim Provinzoberhaupt. Dem oben skizzierten durchaus innovativen Entwurf der durch die Stände repräsentierten Landschaft, w i r d eine (zumeist) fürstliche Obrigkeit übergestülpt, die aufgrund des Fehlens einer expliziten Vertragsstruktur i n ihrer Existenzbegründung und ihrer Konstituierung geradezu unpassend archaisch wirkt.

15

Beispielsweise i n

POLITICA 1 6 1 4 / X V I I I ,

16 P O L I T I C A 1 6 1 4 / X V I I I , 5 9 u n d 6 3 f f .

90.

Erst- und Drittausgabe der Politica im Vergleich

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Die Identität von Ephor und Provinzoberhaupt kann als mögliche Erklärung dafür dienen, warum Althusius die Position des Provinzoberhauptes nicht i n dem von ihm selber gewünschten Masse zurückbinden konnte: Als Ephor ist das Provinzoberhaupt auf Staatsebene verantwortlich für die ihm unterstehende Provinz. Nur eine Obrigkeit, die mit entsprechender Autorität und Kompetenz ausgestattet ist, kann diese Funktionen sinnvoll übernehmen. Es existiert ein Erklärungsansatz für diesen Widerspruch: die Provinzverfassung, wie sie in Kapitel V I I I entwickelt wurde, ist gänzlich neu und w i r d i n ein bereits bestehendes System eingepasst. Das System, i n das sie eingepasst wurde, existierte hingegen bereits i n der Erstausgabe, welche ihrerseits wiederum keineswegs i n einem realpolitischen Vakuum entstanden ist. Althusius' Tätigkeit i n der Kanzlei des Grafen Johann VI. von NassauDillenburg (mit Unterbrüchen seit 1589) hatte ihn bereits vor der Berufung nach Emden i n Kontakt mit dem politischen Alltag seiner Zeit kommen lassen. Unbestritten ist, dass die realpolitischen Interessen des Hauses Nassau einen wesentlichen Einfluss auf die Erstausgabe hatten. Diese gräflichen Interessen lassen sich vor allem i n Kapitel 14 über die Ephoren finden, in dem bereits die wesentlichsten Grundzüge des Widerstandsrechtes behandelt werden. Die Tätigkeit in Emden wiederum schärfte Althusius' Blick für die diesen Territorialfürsten untergeordneten politischen Verbände und Strukturen. Er hat, wie aufgezeigt, die Provinzverfassung nicht komplett zugunsten landständischer Interessen verfasst, da eine Herabsetzung des Provinzoberhauptes zur rein exekutiven Institution dessen Position nach oben als Ephor wiederum geschwächt hätte. Aufgrund dieser biographischen Zusammenhänge und den ihnen inhärenten realpolitischen Interessen konnte das Provinzoberhaupt der P O L I T I C A nicht i n dem Masse zugunsten landständischer Interessen zurückgebunden werden, wie es sich Althusius selbst vielleicht in seiner politischen Tätigkeit gewünscht hätte.

VI. Fazit Der Einfluss historischer Erfahrung auf die politische Theorie lässt sich nicht als simpler auf Ursache und Wirkung beruhender epistemologischer Mechanismus definieren. A n der Schnittstelle von Erfahrung und Theorie steht das Individuum, welches wiederum eingebunden ist in ein mentalitätsgeschichtlich bedingtes Koordinatensystem.

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Dieses Koordinatensystem gilt es in einem 1. Schritt zu erarbeiten und i n einem 2. Schritt muss die Frage beantwortet werden, wo Althusius sich selber in diesem System platziert hat und wie er seine Position von der Erst- zur Drittausgabe hin i n diesem System (bewusst oder unbewusst) verändert hat. Hierzu ist es nötig, bisher weniger beachtetes Material i n die Untersuchung mit einzubeziehen, aber auch an das sozusagen „kanonisierte" Material neue Fragen zu stellen.

V. Korporative Ordnung, Föderalismus und Subsidiarität

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 307 - 324 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

CORPORATE AUTHORITY I N A LONG-TERM COMPARATIVE PERSPECTIVE - DIFFERENCES I N INSTITUTIONAL CHANGE BETWEEN EUROPE A N D THE UNITED STATES* By Mauro Calise, Napoli I. Prologue Linear as it might appear i n retrospect, this is a story which is seldom told. It is the story of the institutional link between modern American corporations and their ancient European ancestors. This link - I shall argue in my paper - accounts for the flourishing of corporations in the young republic, to the point of becoming by the early 20th century - to pick up Veblen's definition - "the master institution of American life". This is then, in the first place, a story of continuity and longue durée, stressing what these two strands of corporate development - east and west of the Atlantic - share w i t h i n the Western legal tradition. A search for roots which have been forgotten along w i t h their intellectual heritage. When Peter Drucker (1946) set out at writing his seminal book on the concept of corporation, the term had long lost the universality of its medieval foundations. Whereas through the past millennium a corporation could be an abbey or a university, a king or a pope, a town or a state, to X X century America the corporation stood for nothing else than an economic organization. Drucker's contribution consisted in providing the first systematic treatment of how that type of organization actually worked. In Drucker's wake, Alfred Chandler (1977) would soon establish the role of the corporation as the «visible hand» regulating the American system. For American institutional theory - and ideology - the primacy of corporations stemmed out of their prominence in the economy (Bunting 1987). It was the natural outcome of a process of concentration of resources resulting from free-market competition i n the world economy. * A previous version of some parts of this article has been published, in Italian, in «Annale ISAP», 2, 1994. I wish to express my gratitude to Theodore J. Lowi, Pierangelo Schiera and Brian Tierney for their encouragement and comments to earlier drafts of this work.

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The large scale of mass production and consumption had nurtured the emergence of giant organizations bound to rule the world according to the law of modern times: the law of economics. Yet, much as this picture might reflect the reality of X X century America, it left one crucial factor outside: politics. The rise of corporations as the dominant institution of the first new nation only came after a bitter political struggle, fought on strictly political grounds. Long before being turned into a purely economic organization, American corporations had enjoyed and profited from an institutional status w i t h overt political responsibilities. A l l through the nineteenth century, the question of corporate power had been dealt w i t h as a genuine political issue, probably the most controversial issue in the founding of the new republic. Why was it so? Which were the terms of discourse and conflict which made the corporation a key political actor? The answer to this question lies i n the extraordinary pattern of legal and institutional continuity that American corporations had been able to establish w i t h their European roots. I n moving to the challenging environment of the New World, corporations succeeded i n preserving the quasi-public format they had been developing through their medieval past. Out of their public status came a number of privileges, functions, responsibilities which were most successfully exploited i n fostering economic development. The industrial growth of corporate power could only be possible thanks to a political engine. And a very ancient one. In the first part of my article I shall then deal w i t h the common corporate foundations of institutional development in Europe and America. Within the complex and multifarious paradigm of Korporationslehre (Olivier Martin 1938; Lousse 1943; Coornaert 1968; Black 1984; Schiera 1 9 8 6 ; Cam 1 9 5 9 ; Michaud-Quantin 1 9 7 0 ; Tierney 1 9 8 2 ; Reynolds 1 9 8 4 ) , my emphasis w i l l be on those features which can help explain similarities and differences between the Old and the New World. Once the common - legal and political - background is established, I shall analyze how - and why - modern American corporations succeeded while ancient European corporations failed. I n the second part of my paper I shall thus concentrate on the American developments, focussing on the nineteenth century as the epoch when tradition and innovation merged into a most successful combination, the business corporation. Some final considerations shall address a few lessons that a comparative approach to the history of corporations might suggest for contemporary political theory.

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II. Corporate Foundations The concept of corporation, in its original formulation and use, dates back to the Gregorian reformation in the second half of the eleventh century. The corporation brought a veritable revolution in the fabric of political power, standing for the possibility of separating power from individuals, regulating it by legal rules and perpetuating it across time. Through the corporation, political authority could be asserted on different grounds than the personal linkages of feudal society. The concept of corporation can be said to be coincident w i t h the rise of the modern Western legal tradition, as the construction and preservation of an impersonal and self-perpetuating authority could only be possible through the cumulative efforts of a professional body of written rules. No wonder, then, that the discussion about when did corporate existence begin can easily be turned into a quarrel between opposing schools, w i t h the likely result of getting lost in the search for the primordial roots of human association. The best way of understanding the emergence of the corporation is to disentangle its political interests from the legal means through which they were to be consolidated. Determinant as the legal vest of corporations w i l l result to the story we shall be reconstructing, corporate bodies must be first understood in their genuine political nature. The eleventh century brought a new political form to whatever social bounds had previously existed, culminating in a thorough reorganization of collective action. The spread of corporation as a dominant form of organization in both the ecclesiastical and the secular domain of social activity stemmed from the new possibilities it offered to regulate conflict and competition among social groups. Corporate behavior soon came to stand for groups asking for a formal recognition of their collective identity in face of other actors, either collective or individual. Each corporation posited a boundary which defined its internal life as well as its external limits. Boundaries which would be strengthened through the sanction of legal rules. Two major types of organizations are at the basis of the corporate breakthrough which took place in the eleventh century. For both of them the drive towards incorporation was political, as both were striving for better means to assert their autonomy. They also shared a common enemy in the person of a sovereign lordship from which they were trying to achieve some degree of independence. Yet, the specific nature of these two proto-type corporations could hardly have been more diverse as to both the ends and means of their existence. At one pole of the corporate spectrum is the church as it was to emerge after seven decades of the

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Investiture Struggle, able at last to enjoy the most fundamental of all liberties, the freedom of electing its own chief. In order to achieve this result, a «papal revolution» had been set in motion, a process which went well beyond the cultural innovations of the Gregorian reformation. For the revolution to be successful, the church had i n fact to be transformed from a spiritual guide into a political authority, coming to be «conceived for the first time as a legal structure, a law-state w i t h its own complex bureaucracy and professional court» (Berman , 1983, 530). At the other pole of the corporate breakthrough is the town, w i t h its early beginnings dispersed across Europe i n a myriad English hundreds, German Städten and Italian and French communes. Variegated as this universe might result in terms of social or economic development, it still presents a strikingly homogeneous pattern of political mobilization, a convergence of collective behaviors towards the common goal of incorporation. The goal could be achieved by means of a peaceful compromise or at the cost of a lengthy war, and more often township would be a status to be enjoyed w i t h alternate and uncertain sort rather than a definitive conquest. Yet, by the end of the twelfth century the rural landscape where a few dispersed villages were the only remnant of old Roman cities had been transformed into an expanding network of urban corporations, each one proudly defending the privileges it had been able to gain. To be sure, church and town had different aims in their search for corporate status. To the church, incorporation was but a necessary step to place its religious mandate above the impediments of earthly obligations. For the mission of faith to be fulfilled, i t had to get loose from the protection of the princely sword. Towns had an end of a much less spiritual sort, as their main intention in severing seigniorial bonds was fostering their new economic interests without too close a supervision from above. And there might be some irony i n the fact that the invention of the corporation owed as much to the cure of the soul as to the caretaking of the body. Yet, search for more autonomy and self-government was not the only factor which brought such diverse forces towards a common pattern of organization building. They also shared the most innovative and constituent feature of corporate power, the establishing of legitimacy through legal means and discourse. Corporate power was founded on strict legal premises. In fact, it can be argued that the spread of corporations was the main force i n the renaissance of the legal mind which followed the discovery of the Justinian code. The founding of the first modern universities was but one episode in a much wider process of intellectual awakening which swept the territory of Christianity. The great majority of the new intellectual profession belonged to the religious orders, which became both a cradle and a

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model for the corporate idea. Indeed, a relevant part of the mundane efforts of this new breed of religious affiliates went into the organization of their own corporations. Others, from the monasteries or cathedral chapters, flocked to serve the sword of the municipal corporations. For the first time in the history of Western civilization, intellectuals became a key factor in institution building, thanks to their monopoly on the legal codification of power. The renaissance of legal studies, however, amounted to much more than a mere reproduction of the Roman framework. At the core of the corporate idea lay the principle that a group of people could associate and compact to perform public functions, that is being in charge w i t h tasks concerning a community at large. The idea of a public association was unknown to Roman law which confined continuous, combined activity among several people to the realm of private affairs, all the more so when political controversy could be at stakes: collegia were the object of strict legal regulation and the possibility of an autonomous foundation of associational rights was never seriously taken into consideration. The stemming of new associations all over Europe by the close of the eleventh century called this very assumption into question. Needless to say, the issue long remained debatable i n the writings of glossators, w i t h alternative evidence being brought in favor of either thesis. Yet, the fact itself that controversy could arise on so fundamental an issue is a very telling indicator of how the dogmas of Roman law were being challenged. Statutes became the legal format through which the new public status of corporations would be regulated. The diffusion of written statutes framed according to legal principles rather than to mere precedents was a turning point i n the diffusion of corporations. The granting of a corporate charter became the formal act of incorporation, endowing the association w i t h a number of assets and powers which could be employed on a collegiate basis. There was, however, one basic requisite upon which the legitimacy of the corporation rested: that the ultimate goal of corporate activity would be the pursuit of the common good. The public nature of the corporation thus came to stand for both the domain and the aim of its intervention. Corporations were engaged in a range of activities which went beyond the narrow scope of private interests, and were expressly meant to fostering the bonum commune. To borrow from modern parlance, corporations had a public mission.

III. The Corporation and the State The corporate foundations I have here outlined were to become the dominant institutional pattern all through the middle ages. Well into the

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X V I century, corporations remained the most diffused form for exercising legitimate authority on a collective basis. For its own nature, corporate power was dispersed and multifarious, w i t h a plurality of corporations performing different functions: trading companies, guilds and universities would soon widen the corporate domain that church and towns had originally constituted. Approaching what historians call the modern age the corporation experiences a major transformation, and crisis. With the rise of the absolutist state, the pluralist mold of corporate authority confronted a tremendous drive towards the concentration of power. A new centralized political authority demanded full control over a large number of public functions: military, administrative, judicial, cultural, economic. Yet, the monopoly of political authority was not sought on the traditional grounds of personal lordship. In the construction of the modern state, the corporate foundations became the basis of the new edifice. Authority remained impersonal, in spite of its close association to the rising power of the king. Indeed, in Ernst Kantorowicz's seminal analysis (1981), the corporation became the king's «second body», a monist corporation or to pick up from contemporary usage - a corporation sole. The king as a corporation never died: «The King is dead. Long live the King». Out of the original corporate cast dating to the Gregorian reformation we thus find two major strands of development. One first strand concentrates impersonal, legal and perpetual power in a monist political body, which has gained a special status as a corporation of a superior sort, the «corporation of corporations» to which the name state is given. The other strand perpetuates the pattern of diffusion of political power which was dominant in the late middle ages. It is not surprising that corporations of the older type kept the original name. The relationship between these two types of corporate organization could vary from cooperation to overt conflict. However, the dominant tract w i l l long remain one of coexistence. The development of the modern state as a centralized governmental unit was for several centuries heavily dependent on some form - and degree - of autonomy for the pluralities of corporate bodies inherited from the previous ages. One should, then, more properly speak of a dualism of powers between center and periphery, between the new corporation and the old ones (Roteili and Schiera 1971-3). This dualism and equilibrium draws to a close in approaching the end of the X V I I I century, w i t h the older form of corporate power loosing more and more ground to the state monopoly of authority. The defeat of the traditional corporations is epitomized in the French revolution - and

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the Le Chapelier law in particular - putting an end to the legal existence of intermediary bodies between the citizens and the state. With the decline and fall of the ancien régime , the state eventually succeeded in subduing corporate autonomy. This is the part of the corporate story which is best known, albeit somewhat overemphasized. It has bred the official historiography celebrating the triumph of the monist state, condemning the corporations as the worms to be eradicated from the womb of the human polity. And it has also accounted for the minoritarian strand of anti-statist Korporationslehre , defending an alternative model of public authority as a «plurality of corporations». However, both views shared the conviction that the historical record was unquestionable: the state had won, the corporations survived only as an ideological legacy of the past. Much as it has influenced legions of political theorists, this picture contains a major flaw: i t leaves America outside. The statist approach has simply disregarded America altogether, using the formula of «American statelessness» (Netti 1968) to bypass the question of a different organization of public authority as it was emerging in the United States. On the opposite side, from Tocqueville to Gierke, from Laski to Lousse the anti-statist approach w i t h its search for an alternative to the monist state has been confined to the old continent, w i t h hardly any attention being paid to what was happening in the new world. Ironically enough, the idea of public authority as a plurality of corporations was being relegated to the rank of a European heresy at the very time it was becoming in America the dominant institutional pattern. In fact, American statelessness did not mean a political vacuum. That the founding fathers strongly resisted the creation of a state machinery as the core of political authority is a well known feature in the development of the young republic. Yet, the lack of a state as a monopoly of central authority soon proved as the most hospitable environment for the spreading of smaller corporations in a growing number of activities. Be it a cultural, administrative, economic enterprise - the running of a college, the building of a canal, a turnpike or a railroad, the administration of a municipality or the establishment of a manufacture - the corporation was soon turned into the most successful organizational device in the forging of the first new nation. In several respects, the American corporations became a functional equivalent of the European state. The comparison between the state and the corporations has gone as far as suggesting that "a corporation is in fact not something different from a state w i t h interesting similarities. It is a state, w i t h a few unimportant differences" (Jay 1967). Yet, very few attempts have been made to place

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such similarities in a historical perspective. With some relevant exceptions dealing w i t h the early history of corporations (Davis 1917; Davis 1961; Hartz , 1948; Dodd, 1954; Evans 1948; Handlin and Handlin, 1966; Hartog, 1983; Gunn, 1988), American scholarship - as we have seen - has looked at the corporation as an economic enterprise of the post-civil war era. The development of the corporation has been linked to the rise of modern industry and the need for large scale economic organizations (Horn and Kocka 1979). Quite to the contrary, the role of corporations as a dominant actor on the American scene can be traced back much earlier than to the organizational revolution of the late nineteenth century. While "the first corporation came to America aboard the Mayflower and most states began their existence as corporations" (Lustig 1982, 46), the corporate form proved most influential in shaping political and cultural institutions throughout the colonial era. On the eve of revolution, corporations were already important in compensating for the lack of a strong state intervention in public life and by the early nineteenth century they had gained a dominant institutional role, "broadening the concept of public service" (Seavoy 1982). Long before an economic rationale could be adopted to explain the rise of corporations centerstage in American life there then existed other factors accounting for the proliferation of corporations in the U.S. at the very time they were being outlawed in most European countries. These factors were all related to the possibility of directly exercising public authority: «in 1800 the corporate form was used i n America mainly for undertakings involving a direct public interest: the construction of turnpikes, bridges and canals, the operation of banks and insurance companies, and the creation of fire brigades» (Berle and Means 1933, 10). This certainly helps explain how corporations could make an extensive use of a legal status which put them well above ordinary citizenry: be it on a basis of eminent domain or limited liability , courts would willingly concede that corporations were acting as a public authority (Horwitz 1977). Thanks to the public authority delegated through statute charters corporations enjoyed a privileged access to the most relevant sectors of American life. In the following section, I shall analyze how public authority was granted and exercised in light of the two basic issues around which the corporate question revolved in X I X century America. The first issue concerns legitimacy : from where did public authority derive, and which criteria were used to grant it? The second issue is one of public versus private, an issue of uncertain and moving boundaries. Once public authority had been vested in corporations, was it to be considered as a

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permanent status? Should corporations be forced to act as public bodies, or could they, according to their convenience, also benefit of the private advantages of a contractual relationship? For all these issues, the development of the modern state in Europe formulated clear cut answers: a legitimate public authority was the monopoly of the state, and the line between public functions and private interests should be established by law and never be crossed. As we shall see, American corporations would provide a different solution.

IV. The Transformation of the American Corporation 1. Legitimacy: From Responsibility to Utility

To realize how crucial was the issue of corporate legitimacy at the eve of the revolution, one has only to recall that "the Constitutional Convention felt the threats of corporate Imperiums in imperio so strongly that it denied the federal government the power to charter corporations" (Lustig 1982, 47). In fact, the spreading itself of corporations in colonial America would appear in retrospect to chancellor Kent "quite singular", if compared to the effort that the English crown had been waging in those same years in the mother country against the rights of existing corporations (Hartog 1983, 29). How could the same king behave in such a different way? In the case of American corporations, no doubt could ever exist about beginnings. The sources and dates of their charters were not in question. Formally, they were a subordinate authority: "unlike London, the city of New York could never have claimed perpetual existence as a basis of legitimacy, for it had an identifiable point of origin" (Hartog 1983, 30). Indeed, " i n England there were boroughs and trade guilds which had come into being and acted as corporate bodies out of the cumulated practice of local groups; English lawmakers later rationalized the legitimacy of these bodies as being based on prescription derived from 'lost' royal charters. The shorter, simpler life of the North American colonies gave no scope for such a development; colonial law did not include the idea of corporate status achieved by prescription or usage" (Hurst 1970, 15). However, relevant as this permissive approach to the "concession theory" might prove all through colonial time, the advent of democratic politics would soon move the issue on more conflictual grounds. The question of legitimacy could not be settled by the sole judicial interpretation of charters and statutes. In fact, the upsurge in the number of corporate franchises which took place in the early decades of the nineteenth century soon became the most controversial issue i n contemporary Ameri-

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can politics (Blau 1954). By the end of 1817, in the New England states alone more than one thousand business corporations had been created (Dodd 1954, 17). Party alignments themselves reflected the repeated attempts to control corporations by reinforcing the procedural instruments through which they could be held accountable: "no constitutional convention met without considering the problem of the corporation. This was a 19th century constant; it changed its form, its proponents, its antagonists, its format, but retained a numbing sameness of theme" (Friedman 1973, 44). In fact, «the rhetorical attack on the business corporation could assume the proportions of a class war. This was indeed the case in the enduring struggle of Jeffersonian and Jacksonian forces against the Bank of the United States» (Bowman 1996, 49). In order to understand how the proliferation of corporate bodies could resist and eventually overcome so strong and diffused a political opposition, one has to reckon a major transformation, both cultural and juridical, at the basis of institutional legitimacy. If the American political tradition "demands that all forms of power be legitimated by criteria of utility or responsibility" (Hurst 1970, X), the spreading of corporations implies a dramatic shift from the latter to the former principle. Responsibility was rooted i n the American creed of the right of the individual to always exert a certain degree of control over whatever institution had the authority to effect the course of his life. Yet, «to structure power for responsibility called for continuing, close attention and investment of resources of mind and energy which we begrudged. We begrudged the investment because we felt that it subtracted from our primary interest in the economy, which was the main area in which we pursued utility» (Hurst 1970, 59). The shift from political responsibility to economic utility changed the traditional legal basis of corporate power. Following medieval usage, a corporation's activity would in the first place be evaluated according to its legal premises: did its powers comply w i t h a written statute? Was the legislature effectively checking the privileges it had originally granted? Were such privileges strictly related to the pursuit of the common good? These were the criteria directing the concession of corporate charters in the early years of the republic, placing corporations on firm constitutional grounds. Yet, within a few decades, the procedural guidelines gave way to a more instrumental conception of legitimate authority, one based on the exceptional contribution of corporations to economic development. Economic development did in fact take place at a tremendous rate of growth, basically through - and thanks to - corporations: " I n 1780 the thirteen colonies which were still struggling for their independence had

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a population of less than 3,000,000, most of whom were engaged in agriculture, hunting, fishing, or in seafaring in wind-driven vessels. There were no banks, no insurance companies, no factories, no canals or railroads, no telegraph lines, no steam-propelled vessels, no gas-lighting, not even a reasonable good road system or bridges across the larger rivers. By 1860 the country, which had become a nation of over 30,000,000 persons, had all of these things in abundance [...]. It was the business corporation - practically nonexistent in 1780 - which had been the medium by which all these things had been supplied. Practically all of the banking and the insuring of property, most of the factory production, all of the railroad and telegraph lines and gas-lighting plants and all or most of the large steamship lines were carried on by privately owned business corporations, which also constructed and for some years maintained most of the canals and many of the longer roads and bridges" (Dodd 1954, 7). That corporations were the visible hand of economic growth did then a great deal to reinforce utility as a criterion for institutional legitimacy. However, by entering on a massive basis the field of economic enterprise corporations were also facing an organizational dilemma concerning their status as a public authority. Much as the public nature of corporations had turned helpful in establishing their influence at an earlier stage, the development of the business corporation required that its undertakings be put under the safer protection of private law.

2. Privatization: The Swing of the Pendulum

The drive towards privatization first arose from the attempt of legislatures to modify franchises in the controversial political climate of the Jacksonian era. The proliferation of the business corporation had stirred widespread hostility, w i t h the request that corporate powers be kept under democratic control by making original charters modifiable according to political convenience. While not questioning the superior authority of the chartering body, corporations nevertheless maintained that charters, once granted, could not be changed or repealed. The autonomy of the corporation in enjoying those privileges was to be considered as sacred as that of a private property. Daniel Webster's defense in the Dartmouth case is considered the inauguration of an instrumental conception - and use - of corporate charters (Miller 1969). Webster had been able to argue that " i t w i l l be a dangerous, a most dangerous experiment, to hold these institutions subject to the rise and fall of popular parties, and the fluctuations of political opinions" (Miller 1969, 61). By contrast, by allowing franchises to become the

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private property of a corporation, the reach of legislatures was confined to the initial moment of the granting of a charter. Thereafter, corporate assets would be regulated on a private law basis. Maitland (1958, x x i v xxv) could later conclude that one should not be surprised that "contract, the greediest of legal categories, which once wanted to devour the State, resents being told that it cannot painlessly digest even a jointstock company". Yet, the move towards privatization did not mean to severe the public roots of corporate power. While enjoying the advantages of contract and of an instrumental conception of property, corporations continued to defend the privileges deriving from their public origins. To assimilate corporate independence to the sacred liberties of the individual did not automatically imply that corporations would give up altogether their many centuries old possession of a superior institutional status. Quite to the contrary, the expansion of the modern corporation was based on the combination of old and new, the merging of private vices and public virtues. A l l through the nineteenth century, the combination was pursued on a case by case basis, w i t h an ambivalent attitude reflecting the complex and controversial nature of the issue. On one side, the idea that franchises could not be modified would inevitably lead to a less benevolent disposition of legislatures towards the farming out of state authority. On the other side, by denying the possibility of modifying existing privileges, new charters could not be issued wherever an old corporation already acted on the basis of a public monopoly. The franchise to build and operate a new bridge would impinge on the rights of a previously granted charter through which an older bridge was owned. I n this case, the sanctity of contract would prove an embarrassing obstacle to the law of fair competition. In fact, long after Dartmouth the courts showed divergent attitudes on the matter. Rather than a clear turn what we see is a trend towards privatization gaining momentum at different levels of judicial decisionmaking (Horwitz 1977; Hovenkamp 1991). It is only by the end of the X I X century that the relationship between the private contract and the public status would find a more systematic and lasting equilibrium in corporate law. As it is often the case w i t h American institutional development, we must turn to the courts' jurisprudence to find the watershed case which set the new course. The Santa Clara Co. v. Southern Pacific Railroad decision of 1886 can be considered as a bridge laid between two different conceptions of the corporation, the definitive attempt to reconcile the new individualistic autonomy of the corporation w i t h its public authority.

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On the one hand, the sentence made clear that no doubt could any longer be cast on the right of corporations to individual personality. As the decision neatly stated, "the court does not wish to hear argument on the question whether the provision in the Fourteenth Amendment to the Constitution, which forbids a State to deny to any person w i t h i n its jurisdiction the equal protection of the laws, applies to these corporations. We are all of opinion that it does". At the turn of the century, corporate personification could then be considered a settled matter on the grounds of a complete equation between private property and individual rights. In this respect, it can then be properly argued that "the Santa Clara decision was not thought of as an innovation but instead was regarded as following a line of cases going back almost seventy years to the Dartmouth College case" (Horwitz 1985, 174). On the other hand, Santa Clara was also bound to be considered as a landmark for all those interested in advancing a more affirmative role of corporations as collective individuals , that is as bodies enjoying individual rights while at the same time retaining the privilege to act as an indivisible body. In philosophical parlance, a corporation was to be considered as a natural or real person, w i t h a life of its own which went well beyond the life - or wills - of its segments or shareholders (McDermott 1980). As private rights were by then out of question - and ancient public controls through statutes could no longer be effectively exercised - corporations could resume their quest for a full-blown political autonomy. The quest was so successful that American government would soon come to be identified as corporate government (Miller 1976; Lowi 1969 and 1999; Salisbury 1984).

V. The Corporate Millennium The "corporate take-over" (Hacker 1964) which characterizes American politics at the turn of the century tends to be presented as an act of force. Yet, i n spite of violent and long-lasting opposition, the new status of corporations as collective individuals can be best understood in terms of a gradual evolution, a strategy of annexation. Corporations could eventually be seen as legitimate monopolies since they had passed through "the appropriation of the laissez faire argument of old time opponents, subsuming their organization to a Lockean nature" (Lustig 1982, 53-4) before reaffirming their right to collective personification. The corporate take-over was indeed the result of a long term swing of the pendulum which saw corporations capturing, at different stages, both the private and the public end of the spectrum.

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America was corporate ante litteram, on political grounds which account for both a functional and a normative perspective (Mitchell 1986). There is no need of historicist reductionism to recognize that corporations had solid institutional foundations which they rightly - at least from their vantage point - strove to preserve and reinforce. Public authority was already there as legitimate corporate authority long before radical intellectuals would begin questioning its abuses. While - as we have seen - a lot of ingenuity was necessary on the part of corporations to promote their power by means of new economic directions and a changing legal discourse, the whole picture bespeaks of evolution rather than reaction or revolution. From a long-term comparative perspective American corporations appear to the European observer as the most successful evolution of an extraordinarily old breed. Of course, success in this case simply refers to the self-perpetuating logic of institutional development. Many might indeed question the outcome on normative grounds (McConnell 1966; Shklar 1988; Rostow 1959; Weinstein 1968; Zunz 1990; Latham 1959). There is a substantial body of literature which interprets the dominance of large corporations i n a neoMarxist perspective, as the main force responsible for the «devastating consequences of economic globalization» (Korten 1995). Yet, the aim of this paper is not to evaluate corporate development as much as to inquire into its political prerequisites. By showing that the power of corporations is no invention of industrialism but a legacy of the middle ages, one should be able to address a few well-known theoretical dilemmas from a fresh perspective. First, the geopolitical bias of state theory. European state theory has been self centered even in its most heretic exponents (Bowen 1947; Elbow 1953; Blanco 1987; Landauer 1983; Ornaghi 1984). Scholars as authoritative as Otto von Gierke (1900) and Emile Lousse (1943) were so meticulous in tracing their own alternative idea of a corporate state in the mists of the French and German past that they missed what was happening, under their very eyes, on the other shore of the Atlantic. This is also true for the debate on the crisis of the state (Romano 1969; Ruffilli 1979). If all there is left of the once monolithic cast of the European state is "an amorphous complex of agencies w i t h ill-defined boundaries" (Schmitter 1985, 33), it might well be the case that more attention be paid to the American experience. One where the state never experimented a breakdown since there never was a monist authority to disrupt. Indeed, the whole issue of monism versus pluralism could be dismissed altogether once we were ready to acknowledge that no single line can exist dividing the state - whatever its source of authority - from society. The concept of a pluralistic state calls for multiple and changing

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internal boundaries, rather than a clear-cut external divide (Mitchell 1991; Maier 1987). Second, the relationship between politics and economics. In the age of globalization, the dominant perception is one of a power shift: from politics to economics, from national states to transnational corporations, from public responsibility to private interests. Yet, by reconceptualizing modern corporations through state theory, we can look at their role i n the world economy in a less unilateral way. The discovery that modern corporate rule has ancient public roots calls for a new definition of political responsibility at the turn of the third millennium. Last, the presentisi fallacy of empirical inquiry. Political science has become accustomed to constructing its categories through the observation of the reality around us, thus the only mirror through which the past is analyzed. Quite to the contrary, to see modern American corporations as the descendants of their European ancestors requires a paradigm of longue durée , a discussion about foundations ten centuries old. And yet, not old enough that we can't recognize them as the dawn of the "Western legal tradition" (Berman 1981). In the end, the pluralist rule of corporations may not be a viable alternative to the crisis of the monist state. However, it may help us reconcile two continents which traditional state theory has depicted as too far apart. And i t w i l l certainly lead us to realize that the history of the modern state is but a short-lived parenthesis w i t h i n the scope of the corporate millennium. Bibliography Berle, A. A ./Means, G. (1933): Private Property and the Modern Corporation, New York, W. S. Hein. Berman, Harold J. (1983): Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, Cambridge, Harvard University Press. Black, Antony (1984): Guilds and Civil Society in European Political Thought from the twelfth Century to the Present, London, Methuen. Blanco, Luigi (1987): La storiografia «corporativa» e «costituzionale» di Émile Lousse: osservazioni e linee di verifica, in Annali dell'Istituto storico italo-germanico i n Trento. Blau, Joseph L. (ed.) (1954): Social Theories of Jacksonian Democracy. Representative Writings of the Period 1825-1850, New York, Bobbs-Merril. Bowen, Ralph Henry (1947): German Theories of the Corporative State, w i t h Special Reference to the Period 1870-1919, New York, Whittlesey House. Bowman, Scott R. (1996): The Modern Corporation and American Political Thought. Law, Power and Ideology, University Park, The Pennsylvania State University Press.

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RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 325 - 336 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

FÖDERALISMUS U N D SUBSIDIARITÄT Ein Beitrag zu Schnittstellen in der politischen Ideengeschichte Von Thomas O. Hüglin, Waterloo/Canada Der Zeitpunkt war vielleicht nie günstiger, dem Althusischen im politischen Denken wieder mehr Gehör zu verschaffen. Dieses Denken hat ja bislang trotz aller Forschungsanstrengungen nicht gerade im Mittelpunkt des ideengeschichtlichen Interesses gestanden. Leitbildprägend im modernen politischen Denken waren vielmehr - und sind noch - Hobbes, Locke, und allenfalls Rousseau. Dies könnte sich ändern, wenn im Zuge von Europäisierung und Globalisierung nach neuen Leitbildern gefragt w i r d weil die alten, vom westfälischen Staatensystem geprägten, im Zeichen von Globalisierung und Entstaatlichung nicht mehr überzeugen mögen. Man kann i n der neueren Literatur diesbezüglich wieder Hinwendungen zur assoziativen Demokratie erkennen, 1 die europäische Union ist schon als ein konsozialer Föderalismus apostrophiert worden, 2 und auch jene Autoren des frühen 20. Jahrhunderts, die von Gierke und damit vom Althusischen im politischen Denken - beeinflusst und inspiriert waren, englische Staatspluralisten wie Harold Laski oder die Austro-Marxisten Karl Renner und Otto Bauer, erfreuen sich in dieser Literatur wieder einer wachsenden Aufmerksamkeit. Kurzum, es scheint die Zeit für eine Althusius-Renaissance i m weiteren Sinne gekommen. Ein Grund für diese Vermutung ist das neue Interesse an der Subsidiarität, ein bei Althusius eng mit dem föderalen Aufbau des Gemeinwesens verbundenes Konzept der Kompetenzzuordnung. Erstaunlicherweise ist Subsidiarität im modernen Bundesstaat aber keine prägende Leitidee. Ich möchte zeigen, warum das so ist, und wo genau sich modernes politische Denken i n dieser Hinsicht von der älteren Idee subsidiärer Kompetenzzuordnung entfernt hat.

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I. Was ist Subsidiarität? Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es vorab einer kurzen begrifflichen Differenzierung zwischen Gewaltenteilung im modernen Verfassungsföderalismus und Subsidiaritätsprinzip in der althusischen Tradition des Vertragsföderalismus. Im modernen Verfassungsföderalismus gibt es in der Regel getrennte Aufzählungen der Kompetenzen für jede Regierungsebene, sowie eine Residualklausel, welche alle nicht eigens erwähnten oder neuen Kompetenzen jeweils prinzipiell einer Ebene zuordnet. Die zentrale Frage im Verfassungsföderalismus ist: Wer hat die Kompetenz um was zu tun? I n der althusischen Tradition des Vertragsföderalismus hingegen ist die zentrale Frage: Wer sollte - im Sinne einer zufriedenstellenden Gesamtregelung für alle - am besten was tun? Das Kernproblem betrifft also nicht die Kompetenzenordnung, sondern die Kompetenzen-ztt-ordnung. Das Subsidiaritätsprinzip dient dabei als Anleitung. Entscheidungen sollen so bürgernah wie möglich getroffen werden. Gleichzeitig sollen übergeordnete Instanzen subsidiär eingreifen, wenn nur so eine für alle zufriedenstellende Gesamtregelung möglich ist. Dieser Eingriff soll aber nicht einen automatischen und unwiderruflichen Kompetenzentransfer für ein ganzes Politikfeld beinhalten, sondern auf das begrenzt bleiben, was notwendig und nützlich ist. Dies alles kann nur von Fall zu Fall durch politische Aushandlung und vertragliche Abmachung bestimmt werden. 3 Das Subsidiaritätsprinzip ist also ein politisches und kein rechtliches Gestaltungsprinzip. Dies liegt ganz in der Tradition des Althusischen, denn wir erinnern uns: Eindrücklich und unnachgiebig verweist der Autor der Politica schon im Vorwort von 1603 darauf, dass es allein Aufgabe der Politik ist, Herrschaftsumfang und -grenzen zu bestimmen, während es bei der Jurisprudenz erst sekundär darum geht, die sich aus dieser Bestimmung ergebende Rechtsordnung auszulegen und anzuwenden. Die Legitimität des Rechtsstaates, so wird man folgern dürfen, ist damit immer wieder auf das rechtmäßige Zustandekommen des Rechts zurückverwiesen und kann sich nie allein auf das Prinzip justiziabler Rechtssicherheit innerhalb einer bestehenden Rechtsordnung berufen. Das von Althusius vorgedachte und im Maastrichter Vertrag der europäischen Union neu verankerte Subsidiaritätsdenken ist vor allem der anglo-amerikanischen Föderalismustradition fremd. Ich habe schon verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich der Unterschied sehr schön an den beiden Titeln eines der Hauptwerke von Carl Joachim Friedrich 3 So ähnlich vor allem Präambel und Artikel 3b des Maastrichter Vertrags: Agence Europe, Text in Full of the Treaty on European Union, No. 1759/60, 7 February 1992.

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zeigen lässt: Auf deutsch heißt es durchaus absichtsvoll: „Politik als Prozess der Gemeinschaftsbildung." Der Titel des englischen Originals hingegen lautet: „Man and his Government." 4 Politik als Prozess der Gemeinschaftsbildung bedeutet im Föderalismus die kompromisshafte Zuordnung verschiedener Gemeinschaftsebenen und -interessen. Im amerikanischen Verfassungsföderalismus kommt diese Zuordnung nur durch intergouvernementale Verhandlungen aufgrund der gegebenen Verfassungsordnung zustande, nach der Bund und Gliedstaaten innerhalb ihrer Kompetenzen zunächst dualistisch für sich entscheiden. Im deutschen Verwaltungsföderalismus hingegen w i r d Subsidiarität wenigstens zum mitbestimmenden Gestaltungsprinzip, weil die Differenzierung von Rahmengesetzgebung und Ausführungsgesetzen über Bundesrat und Vermittlungsausschuss in der Regel zu ausgehandelten Kompromissentscheidungen führt. I m europäischen Vertragsföderalismus schließlich wird Subsidiarität zum überragenden Aushandlungs- und Entscheidungsprinzip. Oder anders ausgedrückt: Wenn man wissen will, in welche Richtung sich der amerikanische Föderalismus bewegt, studiert man am besten die Entscheidungen des Supreme Court. Wenn man aber wissen will, welche Richtung die eher dem althusisch-deutschen Modell nachgebildete Europäische Union möglicherweise nehmen könnte, studiert man die Protokolle von Regierungskonferenzen. Damit verlasse ich die Gegenwart zunächst und wende mich den für das Auseinandertreten dieser beiden Grundmodelle verantwortlichen Schnittstellen in der politischen Ideengeschichte zu. Die erste betrifft die diametral entgegengesetzte Rezeption der ramistischen Wissenschaftslogik bei Jean Bodin und bei Johannes Althusius. Die zweite findet sich in der Auseinandersetzung Alexander Hamiltons mit Montesquieu.

II. Alles, was der moderne Föderalismus gelehrt hat, ist falsch Wie bekannt, waren sowohl Bodin als auch Althusius von der ramistischen Wissenschaftslogik beeinflusst. Pierre de la Ramée hatte zunächst von sich reden gemacht, weil er mit der Verteidigung einer provokativen These zum Thema „Alles, was Aristoteles gelehrt hat, ist falsch" auf die wissenschaftliche Bühne getreten war. 5 Die Provokation war allerdings eher gegen den scholastizierenden Aristotelismus der frühen Neuzeit als gegen Aristoteles selbst gerichtet. Ramée war zunächst die Lehre der 4 Carl J. Friedrich, Man and his Government New York: McGraw-Hill, 1963; deutsch: Politik als Prozess der Gemeinschaftsbildung, Köln 1970. 5 Quaecumque ab Aristotele dicta essent, commentitia esse. Hierzu und zum folgenden vor allem Kenneth D. McRae, Ramist Tendencies in the Thought of Jean Bodin, Journal of the History of Ideas 16 (1955), 306-23.

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Logik und Philosophie verboten worden, aber später wurde er ein geachteter Lehrstuhlinhaber am College Royal. 1572 fiel er dem Massaker der Bartholomäusnacht zum Opfer. Bodin trug zur frühmodernen Politiktheorie die Souveränitätsformel von der puissance absolue & perpetuelle bei. 6 Althusius hielt ihm entgegen, das Souveränitätsrecht sei niemals absolut oder ewig, und es stehe auch nicht über dem Gesetz.7 Beide beriefen sich dabei auf Ramées Logik. Diese Logik oder Wissenschaftsmethodik beruhte auf einer relativ einfachen Reihe von Grundprinzipien für die systematische Wissenserweiterung. 8 Danach besteht jeder Wissenschaftsdiskurs aus Invention , der Suche nach den angemessensten Argumenten für jeden Sachverhalt, und Disposition, der kunstgerechten Anordnung dieser Argumente mit dem Ziel, logische Schlüsse aus ihnen ziehen zu können. Was das kunstgerechte Anordnen der Argumente anbelangt, so kennen w i r es von Althusius bis zum Überdruss als ein dichotomisches Unterteilungsschema vom allgemeinsten bis zum spezifischsten Gliederungspunkt. Die Invention, das Aufsuchen der angemessensten Argumente also, ist wiederum selbst in drei Unterprinzipien aufgeteilt. Das erste Prinzip oder Gesetz der Rechtmäßigkeit verweist auf die für jede Disziplin spezifisch geltenden Grenzen und fordert, dass die jeweiligen Argumente diese Grenzen nicht überschreiten dürfen. Wie Althusius immer wieder betont, dürfen die Probleme des rechtmäßigen Regierens zum Beispiel eben nicht mit Argumenten aus Theologie oder Jurisprudenz erörtert werden. Das zweite Prinzip oder Gesetz der Wahrheit fordert den Ausschluss aller nur zeitoder ortsbedingter Argumente. Das dritte Prinzip oder Gesetz der Weisheit schließlich verpflichtet auf die Einhaltung eines einheitlichen Verallgemeinerungsgrades. Generelle und spezifische Argumente dürfen nicht durcheinander gebracht werden. 9 Nun sieht es zunächst so aus, als ob die gemeinsame Methode bei Bodin und Althusius i n der Tat auch zu gemeinsamen Ergebnissen führt, aber der Schein trügt. Beide unterteilen die Vielfalt der sozialen Phänomene gemäß der ramistischen Disposition in ein klassenlogisches Schema vom allgemeinen zum besonderen. 10 Beide erklären, der zentrale Gegen6 Jean Bodin, Les Six Livres de la République (1576), 1.8. 7 Non ... est summa potestas, non perpetua neque lege soluta. Johannes Althusius, Politica Methodice Digesta (1614), Nachdruck Aalen: Scientia, 1981, IX.21. 8 Zum folgenden ausführlicher Thomas O. Hüglin, Early Modern Concepts for a Late Modem World: Althusius on Community and Federalism, Waterloo: Wilfrid Laurier University Press, 1999, Kap. 6, S. 71 ff. 9 Siehe insbesondere auch Frederick S. Carney, Translator's Introduction, in: Johannes Althusius, Politica, Indianapolis: Liberty Fund, 1995, vii-xiv; sowie McRae Ramist Tendencies i n the Thought of Jean Bodin (FN 5).

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stand der Politik sei das Recht an der Souveränität in einem aus Haushalten und anderen intermediären Sozialgebilden zusammengesetzten Gemeinwesen. Und beide stellen Familie und Haushalt als natürlichen und zeitlosen Ursprung der Soziallebens an den Anfang ihrer Überlegungen. Dann aber bestimmt Bodin souveräne Herrschaft zum Haupt- und Endzweck aller sozialen Organisation und macht den politischen Status von Haushalten und Zwischengewalten von diesem Endzweck abhängig. Hier widerspricht Althusius. Weil eben Familien und Haushalte den natürlichen Ursprung des Soziallebens ausmachen, so insistiert er, unterliegen sie spezifischen Ordnungsgesetzen und nicht einem allgemeinen Souveränitätsgebot. Dieses Gebot der spezifischen Trennung von Allgemeinem und Besonderem gilt prinzipiell für alle Gemeinschafts- oder, wie er sie absichtsvoll nennt, Konsoziationsstufen, Dörfer, Städte und Provinzen, welche alle Vorrang gegenüber dem universalen Gemeinwesen beanspruchen dürfen, „so wie dem Einfachen oder Primären Vorrang über das gebührt, was aus ihm zusammengesetzt oder abgeleitet worden i s t . " 1 1 Diese Einsicht führt Althusius dann zur Ablehnung von „Bodins Protestgeschrei," Bodini clamores, wie er schreibt, 12 wonach das Souveränitätsrecht ausschließlich der höchsten Ebene des Regierens zukommen müsse. Logischerweise folge vielmehr, dass die Eigentümerschaft an der Souveränität „niemand anderem als dem aus verschiedenen kleineren Konsoziationen zu einem symbiotischen Gesamtkörper zusammengefügten Volk in seiner Gesamtheit gehöre." 13 Althusius hat auch eine Erklärung dafür, warum Bodin zu einem anderen Schluss kommt. Er bestimme nämlich das Wesen der Souveränität vor einer genauen Untersuchung des Soziallebens in Städten und Provinzen und deduziere dann ganz fehlgeleitet dieses Wesen mit Hilfe von Prinzipien - eben seiner Souveränitätslehre, welche einer ganz anderen Kategorie von Verallgemeinerung zugehören. Dies, so stellt Althusius genüsslich fest, sei methodisch unsauber. 14 Der von Althusius konstatierte wissenschaftsmethodische Unterschied ist mit anderen Worten der folgende: Bodin bestimmt zunächst Souverä10 Dies ist in der République weniger deutlich als i n anderen Werken Bodins. Siehe McRae (FN 5), 315. 11 Politica XXXIX.84 (eoque notior est & simplex, seu primum id quid compositum seu ortum a primo est, antecedit ordine). 12 Non curo Bodini clamores: Praefatio 1603, i n Carl F. Friedrich (Hrsg.), Politica Methodice Digesta of Johannes Althusius, Harvard: Harvard University Press, 1932. 13 Nullum alium, quam populum universum, in corpus unum symbioticum ex pluribus minoribus consociationibus consociatum: Praefatio 1614. 14 Pugnat enim hoc cum lege methodi: Politica XXXIX.84.

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nität als das allgemeinste Prinzip der Politik und leitet dann daraus die Natur des organisierten Soziallebens ab. Althusius untersucht zunächst die Natur dieses Soziallebens und schließt erst dann induktiv auf Wesen und Eigentümerschaft der Souveränität als dem allgemeinsten Prinzip sozialer Ordnung. Im ersten Fall werden Qualität und Organisation des Soziallebens zu abhängigen Variablen souveräner Herrschaft. Im letzteren Fall bleiben Inhalt und Grenzen der Souveränität an Qualität und Organisation des Soziallebens gebunden. Die Implikationen dieser unterschiedlichen Auslegung und Anwendung der ramistischen Methode für die politische Theorie sind enorm. Bodin steht am Anfang und gehört zu einer Tradition, welche Politik überwiegend wenn nicht sogar ausschließlich als ein hierarchisches System öffentlicher Machtausübung versteht. Alle sozialen Rechte und Pflichten sind Ausfluss einer einzigen universalen Quelle gesetzlicher Macht. A l thusius hingegen verkörpert und steht am Beginn einer Tradition welche Politik i n einem viel weiteren Sinn versteht. Politik ist für ihn in erster Linie ein horizontaler Kommunikationsprozess einer Vielfalt von Sozialgemeinschaften, die alle ihren eigenen Rechten und Pflichten unterliegen. Souveränität als die gegenseitige Verpflichtung auf universale Gemeinschaftlichkeit steht am Ende dieses Prozesses und nicht am Anfang. Die Implikationen für den Föderalismus sind nicht weniger gravierend. Aus der Bodinschen Perspektive des souveränen Staates rührt die moderne bundesstaatliche Form: Bundesrecht bricht Landesrecht, das Effizienzgebot nationalstaatlichen Regierens triumphiert über regionale Eigenständigkeit. Aus der althusischen Perspektive hinwiederum erscheint Föderalismus als ein beständiger Balanceakt unter Gleichen, eher konföderal als föderal weil die verfassungsgebenden Gliedkörperschaften Vorrang über den von ihnen konstituierten Gesamtverband haben. Das Souveränitätsprinzip führt aus dieser Sichtweise nicht zur verfassungstechnischen Rechtssicherheit über die Machtverteilung. Diese bleibt vielmehr andauernd an einen politischen Aushandlungsprozess gebunden. Souveränität existiert mit anderen Worten nur als ein Prozess der Einigung, und sie t r i t t nur in Erscheinung, wenn und solange dieser Prozess erfolgreich ist. Hieraus ergibt sich auch ein wesentliches Merkmal der Subsidiarität. Dem angloamerikanischen Föderalismusverständnis ist Subsidiarität wie gesagt fremd. Hier geht es mit Enumerierung von Kompetenzen und Residualklausel um verfassungstechnische Rechtssicherheit, die freilich i n der politischen Praxis kaum einzuhalten ist. Die entscheidende Rolle fällt deswegen den Gerichten zu. Das kontinentaleuropäische Subsidiaritätsverständnis beinhaltet dem gegenüber in erster Linie eine Anleitung

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für den politischen Prozess. Die entscheidende Frage ist nicht, wer was tun darf, sondern wer am besten was tun sollte. Das Gewaltenteilungssystem der modernen bundesstaatlichen Form hat sich als ein Kompromiss zwischen nationalökonomischen Modernisierern und regionalen Traditionalisten entwickelt. Im spätmodernen Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung ist eher unwahrscheinlich, dass sich die historischen Umstände wiederholen werden, welche insbesondere zur bundesstaatlichen Trennung von Wirtschafts- und Sozialkompetenzen geführt haben. Insofern könnte man Pierre de la Ramée mit dem ebenfalls als Provokation zum Nachdenken gemeinten Satz paraphrasieren, dass alles, was der moderne bundesstaatliche Föderalismus gelehrt hat, (wenigstens jetzt) falsch ist. ΠΙ. Der föderalistische Sündenfall in der Rezeption Montesquieus durch Alexander Hamilton Dass dem so ist, liegt nicht zuletzt an Alexander Hamilton und seiner Darstellung des Föderalismusgedankens bei Montesquieu, ein Sündenfall in der Geschichte des Föderalismusdenkens und jedenfalls ein ganz unbotmäßiger Akt von Desinformation für die Leser der Federalist Papers in New York. Dies betrifft die zweite Schnittstelle über die hier berichtet werden soll. Die Schlüsselstelle findet sich im neunten Federalist Paper. Hier zitiert Hamilton zunächst umfänglich aus dem neunten Buch vom Geist der Gesetze und preist Montesquieus Ausführungen zur Idee einer föderativen Republik als ein besonders einleuchtendes Argument für die Unterstützung des zur Ratifizierung anstehenden Bundesverfassungsentwurfs von 1787. Und dann erzählt er seinen Lesern, was es mit dieser föderativen Republik seiner Lesart zufolge auf sich hat. Ich zitiere im Original: „The definition of a confederate republic seems simply to be ,an assemblage of societies/ or an association of two or more states into one state. The extent, modifications, and objects of the federal authority are mere matters of discretion. So long as the separate organization of the members not be abolished; so long as it exists, by a constitutional necessity, for local purposes; though it should be i n perfect subordination to the general authority of the union, it would still be, i n fact and i n theory, an association of states, or a confederacy." 15

Aus Montesquieus Idee einer „assemblage of societies" w i r d also hier mir nichts dir nichts die Degradierung dieser „societies" i n einen Zustand von „perfect subordination to the general authority of the union." 15 Alexander Hamilton, John Jay und James Madison, The Federalist, New York: The Modern Library, o. J.

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Aus dem horizontalen Gemeinschaftsverhältnis w i r d ein hierarchisches RegierungsVerhältnis. Wir wissen schon von Althusius, dass dies nicht mit dem traditionellen und vormodernen Föderalismusdenken übereinstimmt, dem auch noch Montesquieu anhängt. Es handelt sich vielmehr um einen radikalen - und in bezug auf die Quellenlage willkürlichen A k t zur theoretischen Begründung moderner Bundesstaatlichkeit. Vergegenwärtigen w i r uns, wie Montesquieu zur Idee der föderativen Republik gelangt: Im berühmten Englandkapitel konstatiert er, der Wert einer angemessenen Repräsentativregierung ergebe sich aus ihrer Fähigkeit zur Diskussion öffentlicher Angelegenheiten. Angemessene Repräsentation bedeute dabei, dass die Repräsentanten von den Bürgern der einzelnen Ortschaften und Gemeinden und nicht aus dem allgemeinen Körper der Nation gewählt werden sollen, weil „die Einwohner einer bestimmten Stadt mit deren Bedürfnissen und Interessen viel besser vertraut sind." 1 6 Wie Montesquieu schon vorher festgehalten hat, könne sich ein solcher Zustand repräsentativ-deliberativer Politikbestimmung nur in einem freien Gemeinwesen herstellen, wo die Macht der Macht Schranken gebietet. Und dies sei wiederum nur in einer kleinräumigen Republik möglich, denn ein großes Gemeinwesen könne nur durch die souveräne Gewalt einer monarchischen Regierung zusammengehalten werden. Durch diese werde aber die innere Freiheit ruiniert, wiewohl umgekehrt gelte, dass kleine Republiken ohne den Schutz monarchischer Gewalt von außen bedroht seien. 17 So gelangt Montesquieu zu seiner Idee einer föderativen Republik, in welcher durch den Zusammenschluss mehrerer kleiner Gemeinschaften zu einer neuen und größeren die freiheitlichen Vorteile des republikanischen Regierens im inneren mit denjenigen der monarchischen Regierungsform nach außen kombiniert werden sollen. 18 Dies ist natürlich alles hinlänglich bekannt. Weniger gegenwärtig ist aber, dass sich diese Überlegungen im ersten Kapitel des neunten Buches finden, welches von der äußeren Verteidigung und Sicherheit handelt, und nicht im elften Buch, wo von Gewaltenteilung in einem freiheitlichen Gemeinwesen die Rede ist. Die föderative Union, welche Montesquieu im Sinne hat, soll also keineswegs die freiheitliche und vollumfängliche Eigenbestimmung der Politik im inneren der beteiligten Unionsgemeinschaften beeinträchtigen. Es findet sich bei Montesquieu nichts, aus dem Hamilton hätte glaubhaft herauslesen können, i n einer 16 Montesquieu, The Spirit of Laws, London: Nourse, 1750; repr. Berkeley: University of California Press, 1977, X.6. Ich benutze die erste englische Ausgabe, welche vermutlich auch den Federalists vorgelegen hat. π IX. 1. is Ebd.

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solchen föderativen Union bestünden die Mitgliedstaaten nur noch „for local purposes," zum Zweck lokaler Selbstverwaltung, denn „local" ist nicht dasselbe wie „internal," und in vollständiger Abhängigkeit, „perfect Subordination," zur Gesetzesautorität der Unionsregierung, denn diese soll nur den Bereich der äußeren Verteidigung und Sicherheit betreffen. Hamilton und seine Kollegen, John Jay und James Madison, wollten mit den Federalist Papers ihre Leser in New York zur Ratifizierung des Verfassungsentwurfs von 1787 mit seiner Hinwendung zu einer gestärkten bundesstaatlichen Zentralgewalt bewegen, weil sich die Konföderation vor allem auch als wirtschaftlich instabil erwiesen hatte. Dies war damals ein gewichtiges Argument und ist es auch heute noch. Und es hätte sich durchaus im Einklang mit Montesquieus föderativen Vorstellungen von innerer Freiheit und äußerer Sicherheit machen lassen können. Der Krieg der Amerikaner mit England war auch ein Wirtschafts- und Handelskrieg, es hätte also sinnvoll erscheinen können, Montesquieus begrenzten Sicherheitsbegriff auf wesentliche wirtschaftliche Belange hin zu erweitern. Nicht möglich war es jedoch, aus diesem Begriff den Anspruch auf bundesstaatliche Allmacht abzuleiten, wie sie in der supremacy clause des Artikels VI, Absatz 2 der amerikanischen Verfassung ihren Niederschlag gefunden hat. Vor allem im Zusammenhang mit den weitreichenden Zuständigkeiten über taxation, commerce und welfare in Artikel I, Sektion 8, Abschnitte 1 und 3, konnte die supremacy clause die Eigenrechte der Staaten weitgehend aushebeln und kam der states rights Residualklausel des 10. Amendment mindestens lange Zeit ein nur deklaratorischer Wert zu. Hieraus rührt eben der Umstand, dass dem früheren und kontinentaleuropäischen Subsidiaritätsdenken i n der amerikanischen Bundesstaatlichkeit kein eigener Gestaltungsraum zukommen konnte. Dieses Urteil mag zunächst erstaunen, denn der amerikanische Föderalismus w i r d doch überwiegend als ein kooperativer beschrieben, in dessen Mittelpunkt intergovernmental relations zwischen allen Regierungsebenen stehen. Diese dienen jedoch in erster Linie der Koordinierung bundesgesetzlicher Förderprogramme, deren Inhalt und Konditionen vom Kongress allein bestimmt werden. Grundsätzliche Überlegungen darüber, wer am besten was tun sollte, finden dabei i n der Regel nicht statt. Die Ermöglichung solcher Überlegungen steht aber im Mittelpunkt des Subsidiaritätsprinzips. Schon Montesquieu erkannte, dass hierfür eine diskussionsfähige Öffentlichkeit notwendig war, und seine Idee einer föderativen Republik war von der Grundüberzeugung getragen, dass eine solche Öffentlichkeit hinwiederum gemeinschaftlich strukturiert sein musste, um eben bestimmten und besonderen Orten oder Gemeinschaften

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organisierte und repräsentative Gelegenheit zu verschaffen, ihre Bedürfnisse und Interessen zum Ausdruck zu bringen. Die föderative Sicherung des Gemeinwesens nach außen sollte dabei die Eigenständigkeit der beteiligten Territorial- und Sozialgemeinschaften durch Bewahrung des republikanischen Prinzips i m Inneren stärken. Bei Hamilton und seinen Mitautoren verkehrt sich dieser gemeinschaftspolitische Grundzug Montesquieu wiederum i n das genaue Gegenteil. Die Schlüsselstelle findet sich diesmal im 51. Federalist Paper, welches aus der Feder Hamiltons oder Madisons stammt. Es geht um den Schutz der Rechte von Minderheiten. Wie Madison schon im 10. Federalist Paper deutlich gemacht hat, geht es genauer um den Schutz des Privateigentums. Hierzu wird nun eine „wohlüberlegte Modifizierung und Vermischung des föderativen Prinzips" vorgeschlagen. Wieder i m Originaltext: „ I n the compound republic of America, ... society itself w i l l be broken into so many parts, interests and classes of citizens, that the rights of individuals, or of the minority, w i l l be in little danger from interested combinations of the majority."

Der Punkt auf den es ankommt ist hier nicht die Frage, ob diese amerikanisch-liberale Pluralismusobsession zum Schutz des Individuums, wie sie ja noch bei Robert Dahl, John Rawls und anderen weiterlebt, Selbsttäuschung oder bewusste Täuschung der Mehrheit darstellt. Worauf es in dem hier diskutierten Zusammenhang vielmehr ankommt, ist dass der gewaltenteilig organisierte Föderalismus hier als ein strukturelles Instrument zur Schwächung partikularer Gemeinschaftlichkeit vorgeführt wird. In der Sprache der klassischen Pluralismusforschung: Bei Montesquieu sind Gemeinschaft und Organisationsstruktur als reinforcing cleavages gemeint, bei den Federalists werden sie zu cross-cutting cleavages . Ich w i l l hier auch eine demokratiekritische Beurteilung dieser beabsichtigten Balkanisierung des Gemein- und Mehrheitswillens dahingestellt sein lassen. Worum es allein geht, ist wiederum, dass sich die amerikanischen Föderalisten dabei jedenfalls nicht auf Montesquieu berufen können. Genau das behauptet aber Hamilton. Wiederum im 9. Federalist Paper suggeriert er seinen Lesern, Montesquieus Idee einer föderativen Republik diene lediglich einer räumlichen Ausdehnung des republikanischen Regierungsprinzips - er spricht hier von „popular government." Wie w i r schon wissen, ist dies keineswegs das, was Montesquieu vorschwebte. Die föderative Ausdehnung dient der äußeren Sicherheit durch monarchische Gewalt und soll hierdurch die kleinräumige und gewaltenteilige Regierungsform im Inneren bewahren. Was den amerikanischen Föderalisten vorschwebte, war etwas anderes, eine auf Kosten der

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Gliedstaaten gestärkte Bundesregierung zur Kontrolle der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse auch im Inneren. Montesquieus Beweggründe waren ebenso sozialkonservativ wie die der Federalists. Beide bangten im Zeichen dessen, was Tocqueville später die Tyrannei der Mehrheit nennen würde, um den Bestand ihrer Privilegien und ihres Privateigentums. Die Hinwendung zum Föderalismus war in diesem Sinne kaum als ein emanzipatorischer Durchbruch gemeint. Für Montesquieu bedeutete Föderalismus wohl einen äußeren Schutzschild, hinter dem die traditionellen Klassen von Bürgern und Patriziern eine stabile Verbindung republikanischer Politikaushandlung eingehen konnten. Zumal im vorrevolutionären Frankreich bedeutete dies durchaus einen politischen Fortschritt i m politischen Denken. Im Hinblick auf die Verhältnisse i n England verstand Montesquieu den repräsentativen Einschluss des Volkskörpers durchaus als einen A k t politischer Freiheit, auch wenn er am Ende des Englandkapitels anmerkte, er wolle der Frage lieber nicht weiter nachgehen, ob es sich bei dieser Freiheit um eine tatsächliche oder nur formale handle. Die föderative Form selbst bedeutete für Montesquieu keinesfalls eine plurale Erweiterung des Kreises der politisch Beteiligten. Eine solche Erweiterung brachte erst die amerikanische Revolution zustande, wenn auch wiederum mehr formal als tatsächlich, weil in der Verfassung von 1787 die Bedingungen der Aktivbürgerschaft den Einzelstaaten überlassen wurden und diese zumeist wieder eigentumsbedingte Restriktionen einführten. Und darüber hinaus war der Föderalismus eben bei den Amerikanern eher als „wohlüberlegte" Eingrenzung des Gemein willens denn als ein demokratischer Durchbruch gemeint. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass man die Beiträge Montesquieus und der Amerikaner zur Ideen- und Föderalismusgeschichte nicht auf die gleiche Weise würdigen könnte, wie dies bei allen großen Vordenkern des Politischen von Plato und Hobbes bis Rousseau und Marx geschieht oder wenigstens geschehen sollte, nämlich durch die Trennung der zeitbedingten Spreu vom zeitlosen Weizen. Die logisch zeitlose Anwendung von Montesquieus Gewaltenteilungs- und Föderalismuslehre bestünde dann vor allem darin, den republikanischen Kreis der beteiligten Sozialgemeinschaften konsequent zu erweitern. Seine begrenzten Vorstellungen vom Zusammenhang innerer Stabilität und äußerer Sicherheit in einer föderativen Union müssten dabei immer wieder gemeinschaftlich überdacht und den Umständen der Zeit angepasst werden. Auch das liegt i m Wesen der Subsidiarität. Ich habe eingangs begrifflich zwischen der modernen Tradition des Verfassungsföderalismus und der althusisch-europäischen Tradition des

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Vertragsföderalismus unterschieden. Ich habe dabei den Begriff des Vertragsföderalismus - treaty federalism - allerdings nicht von Althusius selbst geborgt. Er stammt vielmehr aus der Tradition einer der ältesten Föderationen der Welt, um Jahrhunderte älter als die amerikanische, und immer noch in lebendiger Praxis fortbestehend. Ich meine die Six Nations Confederacy der Irokesen oder Haudenosaunee, welche nach der Vertreibung von ihrem angestammten Land im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg im Süden Ontarios auf der kanadischen Seite eine notdürftige neue Heimat fanden. Das Grosse Gesetz der Haudenosaunee weist eine frappierende Ähnlichkeit zur althusischen Politik auf, und es beeinflusste das Denken einer ganzen Reihe von amerikanischen Verfassungsvätern wie vor allem Benjamin Franklin und John Adams. 1 9 Der Verfassungskonvent von Philadelphia folgte dann allerdings weit mehr dem Modell der Römischen Republik. Ich erwähne dies abschließend nicht nur aus wissenschaftlicher Redlichkeit - die Indianer sind ja fast immer um die Anerkennung ihrer kulturellen Beiträge zur Zivilisationsgeschichte betrogen worden - sondern auch weil mir scheint, dass diese transkontinentale und transkulturelle Affinität im Zeichen von Globalisierung und Weltgesellschaft bedeutungsvoll ist. Es handelt sich möglicherweise bei dem neuen europäischen Vertragsföderalismus und seiner Verankerung im Subsidiaritätsdenken eben einmal nicht um ein lediglich eurozentrisches Modell. I n einer seiner letzten Beiträge zur Föderalismusdiskussion hat Daniel Elazar angemerkt, dass die Europäische Union vielleicht in demselben Masse das Föderalismusmodell des 21. Jahrhunderts werden könnte, wie die Vereinigten Staaten von Amerika das maßgebliche Föderalismusmodell des 20 Jahrhunderts waren. 2 0 Dies wäre dann eine Schnittstelle i n der Geschichte des politischen Denkens, über welche spätere Generationen nachzudenken haben werden.

19 Siehe Thomas O. Hüglin, Exploring Concepts of Treaty federalism, research report, Royal Commission on Aboriginal Peoples, Ottawa: Government of Canada, 1993. 20 Daniel J. Elazar, The U.S. and the EU: Models for their Epochs, paper, symposium on Rethinking Federalism in the E U and US, Harvard University, 19-20 April, 1999.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 337 - 367 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBSIDIARITÄT UND GERECHTE ORDNUNG I N DER POLITISCHEN LEHRE DES JOHANNES ALTHUSIUS Von Merio Scattola, Padua I. Subsidiarität und gerechte Ordnung in der Enzyklika Quadragesimo anno Das Subsidiaritätsprinzip hat in der Enzyklika Quadragesimo anno (1931) Papsts Pius X I seine autoritative Formulierung gefunden. 1 Im Artikel 79 w i r d behauptet, es würde gegen die Gerechtigkeit verstoßen, „das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und 1 Im Folgenden wird das Subsidiaritätsprinzip nur im Hinblick auf die Lehre der Enzyklika Quadragesimo anno abgehandelt. Diese bleibt selbstverständlich nur eine der möglichen Auffassungen dieses Begriffs, die sich in den letzten Jahrzehnten i n der Debatte über den Sozialstaat und infolge des Maastrichter Vertrags (Artikel 2, Paragraph b) vermehrt haben. Gegenüber den meisten sozialwissenschaftlichen bzw. staats- und verfassungsrechtlichen Stellungnahmen weist die Lehre der Enzyklika den Vorteil auf, daß sie die Grundzüge einer systematischen Theorie der Subsidiarität bietet und sich um eine theologische und praktisch philosophische oder sozialphilosophische Begründung derselben bemüht. Diese Fundierung ist in einigen juristischen und soziologischen Abhandlungen zu vermissen, auch wenn die Enzyklika als Quelle erwähnt wird. Vgl. zum Beispiel Francesco Paolo Casavola, Dal federalismo alla sussidiarietà. Le ragioni di un principio, in: Knut Wolfgang Nörr und Thomas Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit. Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa, Tübingen 1997, S. 1-12, hier S. 10-11. Dies hat zur Folge, daß das Subsidiaritätsprinzip als rein verfassungs- oder verwaltungsrechtliche Lösung verstanden wird, d.h. als eine mögliche Regel im Spiel der staatlichen Organisation, die die Grundsätze des Spieles keineswegs in Frage stellt. Vgl. zum Beispiel unter den sozialpolitischen Ansätzen Warnfried Dettling, Die neue Subsidiarität. 7 Thesen, in: Johannes Münder und Dieter Kreft (Hrsg.), Subsidiarität heute, Münster 1990, S. 62-66 und Armin Tschoepe, Neue Subsidiarität?, ebd., S. 67-71. Zuweilen kann das Subsidiäritätsprinzip auch als bloße konsensstiftende Formel benutzt werden. Vgl. die farbenvolle Darstellung über die Entstehung des Begriffs der Subsidiarität innerhalb der Europäischen Kommision im Jahre 1989 von Manfred Brunner, Das Subsidiaritätsprinzip als europäisches Prinzip, in: Detlef Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Aufl., Berlin 1994, (1. Aufl. 1993), S. 9-22, hier S. 12. Eine genaue Beobachtung der katholischen (und darüber hinaus der vormodernen) Lehre zeigt aber, daß sich das Subsidiaritätsprinzip, streng genommen, zu dieser verfassungsrechtlichen Einschränkung kaum eignet und daß es vielmehr die Grenzen des modernen Staats und seine kategoriale Logik zersprengt. Zu den Quellen der katholischen Subsidiaritätslehre (Wilhelm Emmanuel von Ketteier und Luigi Taparelli d'Azeglio), vgl. Chantal Mülon-Delsol, L'État subsidiaire. Ingérence et non ingérence de l'État. Le principe de subsidiarité aux fondements de l'histoire européenne, Paris 1992, S. 126-142. Zur Geschichte des Subsidiaritätsprinzips im allgemeinen vgl. auch Gianluca D'Agnolo, La sussidiarietà nell'Unione Europea, Padova 1998, S. 8-17.

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Merio Scattola

z u m g u t e n E n d e f ü h r e n k ö n n e n , f ü r die weitere u n d übergeordnete Gemeinschaft i n A n s p r u c h z u n e h m e n " . 2 Diese Idee w i r d i m A r t i k e l 80 als principium cipium

subsidiarii (Art.

officii

bezeichnet u n d als gravissimum

79) verstanden,

das w e d e r

aufgehoben

noch

illud

prin-

geändert

w e r d e n k a n n , u n d das also u n t e r die ersten B e s t i m m u n g e n des n a t ü r l i chen Gesetzes z u z ä h l e n i s t . 3 D i e E n z y k l i k a schlägt eine A r t d r i t t e n Wegs, der s o w o h l den Klassenk a m p f des Sozialismus ( A r t . 80-83) als a u c h d e n D i r i g i s m u s des faschistischen Gildensystems ( A r t . 95) v e r m e i d e n s o l l . 4 Gegen die Z e r s t ö r u n g der gesellschaftlichen E i n h e i t d u r c h einen u n a u f h ö r l i c h e n K r i e g

zwi-

schen den Klassen einerseits u n d gegen die E r s t a r r u n g derselben E i n h e i t d u r c h die allumfassende V e r w a l t u n g der p o l i t i s c h e n G e w a l t andererseits gestaltet die p ä p s t l i c h e L e h r e eine „ S t u f e n o r d n u n g "

( A r t . 80) der Ge-

meinschaften, i n der die F o r d e r u n g n a c h F r e i h e i t v o n u n t e n u n d die E r h a l t u n g des sozialen K ö r p e r s v o n oben d y n a m i s c h m i t e i n a n d e r h a r m o nieren. Das Gemeinwesen, der Staat, w i r d als e i n Zusammengesetzes

2 Pius XI papa, Quadragesimo anno. De ordine sociali christiano instaurando, in: Enchiridion delle encicliche. 5: Pio X I (1922-1939), Bologna 1995, § 661 (= Art. 79), S. 744: „Nam etsi verum est, idque historia luculenter ostendit, ob mutatas rerum condiciones multa nunc non nisi a magnis consociationibus posse praestari, quae superiore aetate a parvis etiam praebebantur, fixum tamen immotumque manet i n philosophia sociali gravissimum illud principium quod neque moveri neque mutari potest: sicut quae a singularibus hominibus proprio marte et propria industria possunt perfici, nefas est eisdem eripere et communitati demandare, ita quae a minoribus et inferioribus communitatibus effici praestarique possunt, ea ad maiorem et altiorem societatem avocare iniuria est simulque grave damnum ac recti ordinis perturbatio; cum socialis quaevis opera vi naturaque sua subsidium afferre membris corporis socialis debeat, numquam vero eadem destruere et absorbere". Dieselbe Formel wurde i n der Enzyklika Centesimus annus Papsts Johannes Paul II. wiederaufgenommen und weiter bestimmt. Vgl. Johannes Paulus II papa Enzyklika Centesimus annus. 100 Jahre Rerum novarum. Mit Kommentar von Arthur Fridolin Utz, Stein am Rhein 1991, §49, S. 57: „Auch auf diesem Gebiet muß das Subsidiaritätsprinzip gelten: Eine übergeordnete Gesellschaft darf nicht i n das innere Leben einer untergeordneten Gesellschaft dadurch eingreifen, daß sie diese ihrer Kompetenzen beraubt. Sie soll sie im Notfall unterstützen und ihr dazu helfen, ihr eigenes Handeln mit dem der anderen gesellschaftlichen Kräfte im Hinblick auf das Gemeinwohl abzustimmen." Zu den Schwierigkeiten der deutschen Übersetzung und genauen Bestimmung des Ausdrucks gravissimum illud principium vgl. Oswald von Nell-Breuning, Subsidiaritätsprinzip, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, 6. Aufl., Freiburg 1962, Bd. 7, Sp. 826-833, hier Sp. 826-827 und ders., „ Z u der deutschen Übersetzung von Quadragesimo anno", in: Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, hrsg. vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands, Kevelaer 1975, S. 151-152.

3 Zu den ursprünglichen Bestimmungen des Naturgesetzes vgl. Thomas de Aquino, Summa theologiae, 2. Aufl., Albae Pompeiae 1988, Ia Ilae, q. 94. a. 2, S. 954 b -955 b . 4 Alois Baumgartner, „Jede Gesellschaft ist ihrem Wesen nach subsidiär". Zur anthropologischen und theologischen Begründung der Subsidiarität, in: Nörr und Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität (FN 1), S. 13-22, hier S. 17-18.

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verstanden, das aus mehreren gesellschaftlichen K r e i s e n besteht. Es ist n ä m l i c h n a t ü r l i c h , daß die Menschen aus derselben N a c h b a r s c h a f t eine S t a d t gründen. U n t e r derselben F ü h r u n g der m e n s c h l i c h e n N a t u r geschieht auch, daß diejenigen, die denselben B e r u f ü b e n oder i n d e m selben A r b e i t s z w e i g t ä t i g sind, sich i n Verbänden vereinigen, u m die gemeinsamen Angelegenheiten z u v e r w a l t e n . Diese k l e i n e r e n Gesellschaft e n k ö n n e n u n d d ü r f e n sich selbst regieren. Sie s i n d die

wirklichen

G l i e d e r jeder größeren Gesellschaft u n d i n einem g u t geordneten Z u s t a n d umfassen sie die t e r r i t o r i a l e n V e r w a l t u n g s e i n h e i t e n - K o m m u n e n , Gemeinden, P r o v i n z e n usw. - u n d die w i r t s c h a f t l i c h e n

Gruppierungen:

Berufs- u n d I n d u s t r i e v e r b ä n d e ( A r t . 83 u n d 87). 5 5 Umstritten ist, ob dieses gesellschaftliche Modell als eine „romantische Rückkehr zu einer vordemokratischen gesellschaftlichen und politischen Ordnung" zu verstehen sei (Baumgartner; S. 17), die dem faschistischen Korporationsgedanken huldigte. Vgl. ders., S. 16-18; Herfried Münkler: Die politischen Ideen der Weimarer Republik, in: Iring Fetscher und Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 5, München 1987, S. 283-318, hier S. 302-303; Godehard Lindgens, Die politischen Implikationen der katholischen Soziallehre, ebd., S. 83104, hier S. 89-90. M i t wiederholten Aussagen hat Nell-Breuning, der im Herbst 1930 mit dem Entwurf der Enzyklika beauftragt wurde und die Diskussion über die darin angesprochenen Themen im Königswinterer Kreis anregte (die Formulierung des Subsidiaritätsprinzips solle Gustav Gundlach zugesprochen werden), versucht zu erklären, daß alle Mißverständnisse aus Fehlern i n der Übersetzung vom Lateinischen ins Deutsche hervorgerufen wurden. Vgl. Heribert Klein, Lebensbild, in: Oswald von Nell-Breuning: Unbeugsam für den Menschen. Lebensbild, Begegnungen, Ausgewählte Texte, hrsg. von Heribert Klein, Freiburg i.B. 1989, S. 9-60, hier S. 36-43. Die Enzyklika habe laut Nell-Breuning vielmehr das Projekt einer neuen gesellschaftlichen Ordnung beabsichtigt, einen ordo socialis instaurandus, der sowohl den wirtschaftlichen Bereich als auch die Gestaltung des sozialen und politischen Lebens umschließt, dessen Bestimmungen aber offen stehen (ebd., S. 40), und i m wesentlichen eine „klassenfreie (im Gegensatz zur Marx'schen klassenlosen) Gesellschaft bezeichnen" (Nell-Breuning, Einführung, in: Texte zur katholischen Soziallehre (FN 2), S. 9-30, hier S. 15). Solche Äußerungen bleiben freilich eine Auslegung ex post. Zu der Zeit ihrer Entstehung interpretiertien die Berater des Papsts oder „Mitverfasser" der Enzyklika die Textaussagen als Behauptung einer seinsorientierten und metaphysisch gegründeten gesellschaftlichen Ordnung. Vgl. Gustav Gundlach, Stand; Ständewesen, in: Staatslexikon (FN 2), 5. Aufl., 1932, Bd. 5, S. 45-62, Nd. in: Gundlach, Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, Köln 1964, Bd. 2, S. 237-247, hier S. 242245: „Sozialphilosophisch ist das Sein des Menschen als eines Gesellschaftswesens auf die Gesellschaft und ihre Einheit angelegt, und diese Naturanlage wird gerade in der ständischen Gesellschaft am reichsten verwirklicht" (S. 242); ders., Ständestaat, in: Staatslexikon (FN 2), 5. Aufl., 1932, Bd. 5, S. 67-71, Nd. in: Gundlach, Die Ordnung (FN 5), Bd. 2, S. 247-251; ders., Sinn und Grenzen korporativer Ordnung der Gesellschaft, in: Gregorianum 22 (1941), Nd. in: Gundlach, Die Ordnung (FN 5), Bd. 2, S. 288-301; ders., Berufsständische Ordnung, in: Staatslexikon (FN 2), 6. Aufl., 1957, Bd. 1, Sp. 1124-1136, Nd. in: Gundlach, Die Ordnung (FN 5), Bd. 2, S. 276-251. Anton Rauscher, ein Schüler von Gustav Gundlach (vgl. Rauscher, S. 5), hat diese Auslegung im einzelnen ausgebaut. Vgl. Anton Rauscher, Subsidiaritätsprinzip und Berufsständische Ordnung in Quadragesimo anno. Eine Untersuchung zur Problematik ihres gegenseitigen Verhältnisses, Münster/Westf. 1958, S. 104-138, bes. S. 107: „Die Natur selbst also fordert die Berufsstände als festgefügte organisatorische Gliedkörper gesellschaftlicher Kommunikation [...]. Weil aber die Natur selbst {natura ducei) die Menschen zur Bildung solcher Berufsstände anleitet, ist die Zugehörigkeit nicht i n das freie Belieben des Einzelnen

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Neben und über den untergeordneten Gemeinschaften ist die höchste, übergeordnete Gesellschaft der Staat. Regierung, Aufsicht und Zwang sind ihre Aufgaben (Art. 80). Im sozialen Gebilde der Enzyklika übt der Staat eine außerordentliche Funktion aus, weil er das Zusammenwirken aller anderen untergeordneten Kreise regeln und überhaupt ermöglichen soll. Dementsprechend w i r d ihm kein besonderer oder materieller Zweck zugewiesen, anders als die anderen Gesellschaften, die immer ein bestimmtes, konkretes Ziel verfolgen. Die Aufgabe des Staats besteht eigentlich darin, daß er den Konflikt zwischen den Klassen beenden and das harmonische Zusammenwirken aller Berufsverbände fördern soll. Vielmehr, er soll jene Verbände erst einführen oder gründen, wenn sie noch nicht vorhanden sind. 6 Die unteren Gesellschaften, die nach dem Prinzip der Subsidiarität oder der Freiheit handeln, sind aber der Möglichkeit eines ständigen Konflikts ausgesetzt, der die Grundlagen des sozialen Lebens zerstört. Die Enzyklika kommt daher zum Schluß, daß die Ordnung der Wirtschaft keineswegs dem freien Wettbewerb überlassen werden kann. Der liberale Standpunkt setzt nämlich voraus, daß der Kampf aller ökonomischen Kräfte im Markt von einem geheimen und jeder irdischen Intelligenz überlegenen Prinzip der Selbstregierung geregelt werde, und daß solches Prinzip frei und von der öffentlichen Gewalt unabhängig sei. Aber die konsequente Anwendung dieses Grundsatzes sollte bewiesen haben, daß diese Meinung falsch ist, und daß das wirtschaftliche Leben durch die öffentliche Gewalt gesteuert werden muß. Deswegen ist ein zweites, „echtes und durchgreifend regulatives Prinzip" (Art. 88) erforderlich, nach dem sich die Tätigkeit des Staats orientieren soll. Dies zweite Prinzip kann nur die Nächstenliebe und die Gerechtigkeit, d.h. die Solidarität, sein. „Seele dieser Ordnung muß die soziale Liebe sein; die öffentliche Gewalt hat aber diese Ordnung kraftvoll zu schützen und gestellt." und S. 118: „Wie es nicht i n das freie Belieben des einzelnen gestellt ist, Staatsbürger zu sein oder nicht [...], genauso, aber noch ursprunghafter, hängt das vorstaatliche Gesellschaftsleben nicht mit allen seinen Zweigen vom Willen der einzelnen ab, und seine Ordnung ist daher gleichfalls keine Privatwohl-Ordnung, sondern eine Gemeinwohl-Ordnung, deren Wesen und verpflichtende Norm unmittelbar aus der objektiven Seinsordnung fließen und der menschlichen Willkür entzogen bleiben." In der Nachkriegszeit versuchte Nell-Breuning diese Interpretation zu relativieren und schlug die Bezeichung „Leistungsgemeinschaften" statt „berufsständische Ordnung" vor. Vgl. Nell-Breuning, Gesellschaftsordnung, Nürnberg 1947, S. 33-48. 6 Pius XI papa, Quadragesimo anno (FN 2), § 663 (= Art. 81): „ I d autem in primis spectare, i n id intendere et res publica et optimus quisque civis debent, ut ,classium' oppositarum disceptatione superata, concors ,ordinum' conspiratio excitetur et provehatur" und § 664 (= Art. 82): „ I n reficiendo igitur ,ordines' ars politica socialis incumbat necesse est. Reapse violenta adhuc perseverai et hac de causa instabilis ac nutans humanae societatis condicio, quippe quae ,classibus' innitatur diversa appetentibus et ideo oppositis, proptereaque ad inimicitias dimicationesque pronis."

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durchzusetzen, was sie um so leichter vermag, wenn sie sich jener Belastungen entledigt, die [...] ihr wesensfremd sind". 7 Die Enzyklika Quadragesimo anno entwirft daher ein Bild der Gesellschaft, in dem sich zwei Prinzipien, Subsidiarität und Solidarität, Freiheit und Führung verschränken und sich gegenseitig vervollständigen. Einerseits ist es das Prinzip der Autonomie, das aber den Konflikt nicht beilegen kann; andererseits ist es das Prinzip der gesellschaftlichen Einheit, die aber die Freiheit nicht ersticken soll. 8 Wie verhalten sich beide Prinzipien zueinander? Welche ist überlegen? 9 Falls die Führung des 7 Pius XI papa, Quadragesimo anno (FN 2), § 663 (= Art. 88): „ A l i u d praeterea est curandum, valde cum priore cohaerens. Quemadmodum unitas societatis humanae inni t i non potest oppositione „classium", ita rei oeconomicae rectus ordo non potest permitti libero virium certamini. Ex hoc enim capite, tamquam ex inquinato fonte omnes errores disciplinae oeconomiae „individualisticae" dimanarunt; quae, oblivione aut inscitia socialem ac moralem indolem rei oeconomicae delens, hanc existimavit ab auctoritate publica ut solutam prorsus ac liberam iudicandam esse et tractandam, propterea quod i n mercatu seu libero competitorum certamine principium sui ipsius directivum haberet, quo multo perfectius quam ullo intellecto creato interveniente regeretur. At liberum certamen, quamquam dum certis finibus contineatur, aequum sit et sane utile, rem oeconomicam dirigere plane nequit; i d quod eventus satis superque comprobavit, postquam pravi individualistici spiritus placita exsecutioni sunt mandata. Perquam necessarium igitur est rem oeconomicam vero atque efficaci principio directivo iterum subdi et subiici. Cuius quidem muneris vices oeconomicus potentatus, qui liberum certamen nuper excepit, multo minus gerere potest, cum hic praeceps quaedam vis et potentia vehemens sit, quae ut salutaris hominibus evadat, frenari debet fortiter et regi sapienter; frenari autem et regi non potest a se ipso. Altiora igitur et nobiliora exquirenda sunt, quibus hie potentatus severe integreque gubernetur: socialis nimirum iustitia et Caritas socialis. Quapropter ipsa populorum atque adeo socialis vitae totius instituta ea iustitia imbuantur oportet maximeque necessarium est, ut vere efficiens evadat seu ordinem iuridicum et socialem constituât, quo oeconomia tota veluti informetur. Caritas vero socialis quasi anima esse debet huius ordinis; ad quem efficienter tuendum et vindicandum auctoritas publica alacris incumbat oportet; i d quod minus difficulter praestare poterit, si ea onera a se excusserit, quae ei non esse propria ante declaravimus." 8 Die katholische Soziallehre interpretiert in der Tat dieses Problem als die Frage nach dem Verhältnis von Subsidiarität und Solidarität. Vgl. Nell-Breuning und Hermann Sacher (Hrsg.), Zur sozialen Frage, Freiburg i.B. 1949 (Beiträge zu einem Wörterbuch der Politik, H. 3), Sp. 27-30; Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien 1980, S. 45-50, bes. S. 50; H. Weber, Subsidiarität, in: Die Religion i n Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1986, Bd. 6, Sp. 455-456. Auch die neuere Sozialforschung hat die gegenseitige Bedingtheit beider Prinzipien hervorgehoben, die „ineinander verzahnt sind" (Mäder, S. 207). Diese Annäherung wird deutlich i n den Begriffen „subsidiäre Solidarität" und „solidaristische Subsidiarität" ausgedruckt. Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Ueli Mäder, Subsidiarität und Solidarität, Bern 2000, S. 207-272. 9 Pius XI papa, Quadragesimo anno (FN 2), § 670 (= Art. 88) und § 677 (= Art. 95). Auf die zum Teil paradoxe gegenseitige Implikation beider Begriffe hat Chantal Millon-Delsol hingewiesen. Vgl. Millon-Delsol, L'État subsidiaire (FN 1), S. 7-8: „On aperçoit aussitôt que l'idée de suppléance et l'idée de secours ainsi définies se contredisent. La première réclame le respect des libertés aussi loin que possible, et appelle le devoir de non-ingérence de l'autorité. La seconde, à l'inverse, suppose l'ingérence de l'autorité à la fois pour garantir une sorte d'unité sociale et pour aider à l'organisation de liens solidaires. La première revendique la

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Staats und die Ansprüche der untergeordneten Gesellschaften i n einen Konflikt geraten, wie w i r d der Widerspruch entschieden? Ist der Staat, der über das Wirken aller übrigen Gesellschaften bestimmt, von den anderen sozialen Kreisen vollkommen unabhängig oder w i r d er von jenen beeinflußt? Diese Frage kann folgendermaßen umformuliert werden: Warum gehorcht das Mitglied einer untergeordneten Gesellschaft den staatlichen Befehlen? Gehorcht er/sie als Mitglied eines besonderen Kreises oder als Mitglied des Staats? Im ersteren Fall müssen auch alle Pflichten gegenüber dem engeren Kreis erhalten bleiben, was ein gewisses Einspruchsrecht gegen die staatlichen Befehle nicht ausschließen kann. Im letzteren Fall ist der Staatswille jeder Pflicht gegenüber den unteren Gesellschaften überlegen. Ein Arzt, zum Beispiel, muß als M i t glied des Berufsverbands der Mediziner handeln und hat als solcher Verpflichtungen gegenüber den Patienten, den Kollegen und seinem Gewissen. Er ist aber auch ein Bürger des Staats. Wenn der Staat ihm einen bestimmten Befehl erteilt, muß er dann alle seine sonstigen Pflichten vergessen, auch zum Beispiel den hippokratischen Eid? Dies würde aber bedeuten, daß nur der Staat das Gerechte und das Ungerechte, das Gute und Böse festlegen darf. Demzufolge muß man einräumen, daß die übergeordnete Gesellschaft, die Aufgaben und die Rechte der untergeordneten Gesellschaften einschränken, bestimmen oder sogar aufheben kann. Und da der Staat die Rechte der kleineren Gesellschaften vernichten kann, muß er auch als ihr Ursprung angesehen werden. Dieses Problem ist mit höchster Schärfe von Roman Herzog, dem Staatsrechtslehrer, Verfassungsrichter und Bundespräsidenten, in einer Reihe von Beiträgen dargestellt worden, die auf dem Hintergrund des Subsidiaritätsstreits der sechziger Jahre letzten Jahrhunderts entstanden sind. 1 0 Herzog entwickelt zwei Argumente. Zum ersten: Staat und Gesellschaft sind i m modernen Sinn zwei „verschiedene ,Aggregatzustände' ein und desselben Personenkreises, so daß von einer größeren und einer kleineren Gemeinschaft nicht gesprochen werden k a n n " . 1 1 Beiden liegt diversité reconnue à la fois comme essence et comme norme. La seconde, une communion vécue comme une fin, comme un projet. La première se nourrit de justice distributive, la seconde de justice sociale, les deux s'autodétruisant. Le principe de subsidiarité réunit pourtant ces antithèses, et les affirme conjointement. I l est le lieu d'un paradoxe, qu'il assumera d'une manière spécifique, et i l n'existe que parce que ce paradoxe existe." 10 Roman Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, in: Der Staat 2 (1963), S. 399-423, hier S. 417-423; ders., Allgemeine Staatslehre, Frankfurt am Main 1971, S. 147-150 und ders., Subsidiaritätsprinzip, in: Roman Herzog, Hermann Kunst, Klaus Schiaich und Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., Stuttgart 1987, Bd. 2, Sp. 3564-3571. Zum Subsidiaritätsstreit der sechziger Jahre, der anläßlich der Verabschiebung vom Bundessozialhilfegesetz und Jugendwohlfahrtsgesetzt im Sommer 1961 entbrannte, vgl. Christoph Sachsse, Zur aktuellen Bedeutung des Subsidiaritätsstreits der 60er Jahre, in: Münder und Kreft (Hrsg.), Subsidiarität heute (FN 1), S. 32-43.

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daher derselbe Begriff der (Staats)Bürgerschaft zugrunde: Sowohl als Angehöriger einer Staatsgesellschaft als auch als Privatperson einer bürgerlichen Gesellschaft gehört der einzelne Mensch zu einem Kreis von gleichen und gleichberechtigten Individuen, deren Eigenschaften erst und eigentlich nur vom Staat bestimmt werden. Durch die Souveränität und deren komplementäres Element, die Staatsbürgerschaft, werden alle Differenzen ausgeschaltet, so daß ein neutraler Raum entsteht, in dem sich alle weiteren sozialen Unterschiede und also alle weiteren Gesellschaften ableiten lassen. 12 M i t dieser Auffassung von Staat und Souveränität ist die Existenz ursprünglich unabhängiger Gesellschaften unvereinbar. Zum zweiten: das Subsidiaritätsprinzip zielt in seiner radikalen Form dahin, die staatliche Souveränität abzulösen. Die Verfassungen und die Verfassungslehre der modernen Staaten ruhen aber prinzipiell auf dem Grundsatz, daß der Staat den Vorrang vor allen anderen Gesellschaften hat, was aber bedeutet, daß nur dem Staat zusteht, die Verhältnisse zwischen ihm und den anderen Gesellschaften zu bestimmen und zu regeln. Der Staat genießt nämlich die sogenannte „Kompetenz-Kompetenz". Diese kann auf folgende Weise mit einer eher radikalen Formel erläutert werden: Nur der Staat kann bestimmen, was der Staat ist und was er tun darf, und nur der Staat kann infolgedessen bestimmen, was die anderen Gesellschaften sind und was sie tun dürfen. Mit der Idee, daß die untergeordneten Gesellschaften den übergeordneten Staat beschränken können, ist auch diese Vorstellung unvereinbar. 13 h Herzog, Allgemeine Staatslehre (FN 10), S. 149. 12 Tatsächlich vertritt Nell-Breuning diese Auffassung i n seinen späteren Erläuterungen zu der Enzyklika Quadragesimo anno. Vgl. auch Oswald von Nell-Breuning, Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente, 3. Aufl., Wien 1983, (1. Aufl. 1977), S. 46-68: Quadragesimo anno, hier S. 54-55: „Worum es der Sache nach geht, ist dieses. Die französische Revolution hatte, um mit der entarteten geburts- und herrschaftsständischen Ordnung gründlich aufzuräumen, alles, was es an Gebilden zwischen Einzelmenschen und Staat gab, zerschlagen und die Neubildung irgendwelcher Zwischengebilde (corps intermédiaires) ein für allemal untersagt. In den so entstandenen Leerraum drang der Wildwuchs der Interessentenorganisationen ein. Die Erfahrung lehrte, daß nach solchen Zwischengebilden ein unabweisbares Bedürfnis bestand; die Frage war nur, welcher Art sie sein mußten, um die Gesellschaft nicht in Interessentenhaufen zu zersprengen, sondern sie im Gegenteil zu einen und zu festigen." 13 Herzog, Subsidiaritätsprinzip (FN 10), Sp. 3567-3568: „Das Subsidiaritätsprinzip ist von der katholischen Soziallehre wenn nicht dazu entwickelt, so doch jedenfalls überwiegend dahin ausgelegt, daß es die staatliche Souveränität [...] ablöse [...]. Daß aber auch dem Grundgesetz eine Staatsauffassung zugrunde liegt, nach welcher der Staat wenigstens grundsätzlich den Vorrang vor allen anderen Gemeinschaften genießt und sein Verhältnis zu diesen nach eigenem Ermessen regelt, ist heute völlig unbestritten [...] (sogenannte Kompetenz-Kompetenz als Bestandteil der inneren Souveränität). Deutet man das Subsidiaritätsprinzip so, daß es ihm das verbietet, so ist es jedenfalls mit den OrdnungsVorstellungen des Grundgesetzes nicht vereinbar. "

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Gilt diese Hypothese, die den Grundlagen der liberalen Trennung von Staat und bürgerlichen Gesellschaft entspricht, dann w i r d der Staat als die Voraussetzung dafür betrachtet, daß die Gesellschaft bestehen kann. Er bildet also einen logischen Raum, i n dem sich die Unterschiede der Gesellschaft entwickeln können. Der Staat hebt ursprünglich alle Ungleichheiten unter seinen Mitgliedern auf und stellt sie alle vor das Gesetz als freie und gleiche Individuen. Erst auf dieser Ebene des staatlichen Gehorsams dürfen alle weiteren (und daher zufälligen) Unterschiede der Gesellschaft auftreten. Die Bildung untergeordneter Kreise und die Selbstverwaltung der kleineren Gesellschaften erscheinen aus dieser Perspektive als eine Übertragung vom souveränen Willen des Staats, der als Ursprung aller politischen Gewalt immer zurücknehmen kann, was er einmal gab. Besteht man auch unter diesen Umständen auf der Idee der Subsidiarität, dann würde sie sich ihrem Wesen nach kaum vom Liberalismus oder Sozialismus (zwei in der Enzyklika kritisierten bzw. verworfenen Systeme) unterscheiden, weil ihr Wesen auf der Idee beruhen würde, daß erst der Staat das subsidiäre Verhältnis von Individuen ermöglicht, die nach ihrem Willen frei und gleich sind und nur durch diesen Willen miteinander verhandeln können. 1 4 Die Enzyklika Quadragesimo anno löst sich von dieser Schwierigkeit, indem sie die Tätigkeit des Staats und der untergeordneten Gesellschaften in den Rahmen einer allgemeinen Ordnung einbettet. 1 5 Beide richten 14 Wird das Subsidiaritätsprinzip in diesem Sinn verstanden, dann muß der Staat als eine wesentliche Bedingung für das Wirken einer subsidiären Gesellschaft vorausgesetzt werden, wie es auch in neuerer juristischer Literatur der Fall ist. Vgl. zum Beispiel Angelo Rinella, I l principio di sussidiarietà: definizioni, comparazioni e modello d'analisi, in: Angelo Rinella, Leopoldo Coen und Roberto Scarciglia (Hrsg.), Sussidiarietà e ordinamenti costituzionali. Esperienze a confronto, Padova 1999, S. 3-44, hier S. 7: „Anche se postula i l rispetto delle libertà degli individui e dei gruppi, infatti, i l principio di sussidiarietà non mette in discussione i l ruolo e l'importanza dello Stato, ma, anzi, si preoccupa di valorizzarlo al massimo, pur provvedendo ad una ridefinizione e ad una razionalizzazione dei ruoli nella dinamica delle relazioni tra lo Stato ed i cittadini, tra i l pubblico e i l privato". 15 Die Idee der Ordnung wurde i n den dreißiger Jahren und in der Nachkriegszeit i n der katholischen Soziallehre von den Vertretern des „Solidarismus" systematisch ausgebaut. Vgl. Gundlach, Stand; Ständewesen (FN 5), S. 237-247; ders., Sinn und Grenzen korporativer Ordnung der Gesellschaft (FN 5), S. 288-301; NellBreuning, Gesellschaftsordnung (FN 5), S. 26-33; Nell-Breuning und Sacher (Hrsg.), Zur sozialen Frage (FN 8), Sp. 208-210; Nell-Breuning und Sacher (Hrsg.), Gesellschaftliche Ordnungssysteme, Freiburg i.B. 1951, H. 1-2 (Beiträge zu einem Wörterbuch der Politik, H. 5 und 6), bes. „Solidarismus", Sp. 357-376. Daß die Idee der Ordnung die Synthese von Subsidiarität und Solidarität vermittelt, wird von Millon-Delsol, L'État subsidiaire (FN 1), S. 10 mit folgenden Worten erklärt: „En même temps, en ne posant pas seulement le devoir de non-ingérence mais aussi le devoir d'ingérence, l'idée de subsidiarité fonde la liberté d'autonomie sous un ordre de justice sociale, ce qui constitue son paradoxe typique [...]. Le principe de subsidiarité répond, lui, à la nécessité de faire cohabiter la liberté d'autonomie et l'ordre juste."

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nämlich ihr Wirken nach dem gemeinen Wohl. Alle kleineren Kreise teilen nämlich dasselbe Grundinteresse, so daß alle Kräfte zum Gemeinwohl des Lands beitragen sollen (Art. 85). Der Staat seinerseits berücksichtigt beim Eingreifen in den privaten Bereich und in die Sphäre der kleineren Gesellschaften immer das Gute des ganzen sozialen Körpers (Art. 49). 1 6 Das Bestehen einer Ordnung, die alle Teile der menschlichen Gesellschaft und den Staat selbst umschließt, läßt die Forderungen beider Prinzipien miteinander harmonieren. Die Bestrebungen der autonomen Gesellschaften beschreiben keine chaotischen, zufälligen Bewegungen, sondern kreisen auf bestimmten Bahnen. Die staatliche Gewalt ihrerseits greift nicht willkürlich in das Gewebe des sozialen Lebens ein, sondern stellt die zerstörte Einheit wieder her oder fördert das Zusammenwachsen der gesellschaftlichen Kräfte, indem sie sich an einem verborgenen Plan orientiert. Die Enzyklika beschreibt das Wirken der Ordnung in der menschlichen Gesellschaft als ein Zusammenwirken von verschiedenen Körperschaften und Subjekten. „Cum vero ordo, ut egregie disserit S. Thomas [cf. Contra Gentiles, III, 71; Summa theologiae, I, q. 65, a. 2, i.e.], unum sit ex plurium accomodata dispositione oriens, verus ac genuinus socialis ordo postulat, ut varia societatis membra firmo aliquo vinculo in unum copulentur. Adest autem haec coniungendi vis cum i n ipsis bonis producendis aut officiis praestandis, i n quae eiusdem „ordinis" conductores et locatores sociato studio adlaborant, tum in bono ilio communi, in quod omnes simul „ordines", pro sua quisque parte, amice conspirare debent. Quae quidem unio eo erit validior et efficacior, quo fidelius singuli homines ipsique „ordines" professionem suam exercere in eaque excellere satagerint." 17

Ein starkes Band vereint also die verschiedenen Teile einer Gesellschaft (partes sociales, Art. 83), die zueinander in einem harmonischen Verhältnis stehen und das Handeln ihrer Mitglieder nach demselben Gemeinwohl steuern. Diese Ordnung w i r d in der Enzyklika als natürlich bezeichnet (Art. 83) und findet in den Normen des natürlichen Gesetzes ihren Ausdruck. Das ius naturae bestimmt die gegenseitigen Pflichten und Rechte von Menschen und Gemeinschaften, und leitet die öffentliche Gewalt, wenn diese der Tätigkeit der Privaten Grenzen setzt (Art. 49). Die subsidiäre Ordnung der Gesellschaft ruht daher auf den tiefsten 16 Selbst diese Lösung bedarf aber weiterer Entwicklungen, weil selbst der Staat dieser Ordnung unterworfen werden muß. Wenn die untergeordneten Gesellschaften an dieser Ordnung teilnehmen, dürfen sie dann auch an den Bestimmungen des über sie kontrollierenden Staats mitwirken; und dies eben i n demselben Maße, als sie an der allgemeinen Ordnung teilhaben. Nur unter dieser Voraussetzung ist eine Lösung denkbar. Sonst w i r k t der Staat weiter als die höchst bestimmende Instanz, die also auch die gesamte Ordnung bestimmen wird. 17 Pius XI papa, Quadragesimo anno (FN 2), § 666 (= Art. 84).

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Grundlagen und entspringt den ersten Bestimmungen der Schöpfung: Sie steht nämlich am Ende einer Kette von Prinzipien, die aus dem höchsten Gut fließen. 18 Das wirtschaftliche und soziale Leben folgt eigenen Regeln, aber bildet keineswegs einen unabhängigen Bereich, weil seine Grundsätze aus der lex moralis universalis (Art. 41) geschöpft werden müssen. Die Gesetze der Wirtschafts- und Soziallehre beruhen in der Tat auf der „echten Natur der Dinge und auf der körperlichen und geistigen Beschaffenheit des Menschen", welche die Grenzen für die Tätigkeit des Menschen setzt. Die menschliche Vernunft wird daher den Zweck des wirtschaftlichen sowie des sozialen Lebens „aus der Natur der Dinge und aus der individuellen und gesellschaftlichen Natur der Menschen" gewinnen. 19 Diese Natur der Dinge und des Menschen ist mit dem universalen Moralgesetz gleich, das nichts anderes als eine Behauptung der universalen Ordnung ist. Es gebietet nämlich, daß w i r den höchsten Zweck suchen sollen, indem w i r in jeder unserer Tätigkeiten den besonderen Zweck anstreben, den die Natur oder Gott als Schöpfer der Natur für den betreffenden Fall bestimmte. Individuelle und soziale, besondere und allgemeine Zwecke können sich wahrlich nicht widersprechen, sondern sind Teil eines allgemeinen Plans, des Plans der Schöpfung, und ergänzen sich gegenseitig. Je mehr jedes Teil seinen besonderen Zweck erstrebt, desto besser w i r d das Ganze sein letztes Ziel erreichen. Und dies ist der Genuß Gottes, des höchsten Guts. 2 0 Die allgemeine Ordnung der Schöpfung, der Natur und des natürlichen Gesetzes ist also das eigentliche Prinzip, welches zwischen Subsidiarität und Solidarität vermittelt, weil es die Gerechtigkeit des Besonderen und die Gerechtigkeit des Ganzen für Erscheinungen einer allgemeinen Ge-

is Herzog, Subsidiaritätsprinzip (FN 10), Sp. 3570-3571. 19 Pius XI papa, Quadragesimo anno (FN 2), § 623 (= Art. 42): „Nam etsi oeconomica res et moralis disciplina in suo quaeque ambitu suis utuntur principiis, error tarnen est oeconomicum ordinem et moralem ita dissitos ac inter se alienos dicere, ut ex hoc ille nulla ratione pendeat. Sane oeconomicae quae dicuntur leges, ex ipsa rerum natura et humani corporis animique indole profectae, statuunt quidem quosnam fines hominis efficientia non possit, quosnam possit quibusque adhibitis mediis i n campo oeconomico persequi; ipsa vero ratio ex rerum et hominis individua socialique natura finem rei oeconomicae universae a Deo Creatore perscriptum aperte manifestai." 20 Pius XI papa, Quadragesimo anno (FN 2), § 624 (= Art. 43): „Una autem est lex moralis, qua iubemur, quemadmodum in omni nostra agendi ratione finem nostrum supremum et ultimum, ita in singulis quoque generibus eos fines recte quaerere, quos a natura seu potius ab auctore naturae Deo huic rerum agendarum ordini propositos esse intelligimus, ordinataque colligatione eos i l l i substernere. Cui legi si fideliter obtemperabimus, fiet ut peculiares fines, cum individuales tum sociales, in re oeconomica quaesiti, in universum finium ordinem apte inserantur nosque per eos, quasi per gradus, ascendentes finem omnium rerum ultimum assequamur, Deum scilicet, Sibi et nobis summum et inexhaustum bonum".

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rechtigkeit, der Gerechtigkeit Gottes, erklärt. Es kann daher als ein drittes, verborgenes Prinzip neben Subsidiarität und Solidarität verstanden werden. II. Die Idee der allgemeinen Ordnung in der politischen Lehre des späten sechzehnten Jahrhunderts Die Subsidiaritätslehre der Enzyklika Quadragesimo anno ruht auf dem Prinzip, daß mehere unabhängige gesellschaftliche Kreise gemeinsam handeln können, wenn sie an einer allgemeinen Ordnung teilhaben. Dieselbe Denkstruktur w i r k t auch im Werk des Johannes Althusius und stellt eine Voraussetzung seiner föderalistischen Denkweise dar. Diese Übereinstimmung ist zwar die Folge einer argumentativen Notwendigkeit, aber ist gleichzeitig auch die Wirkung einer gemeinsamen historischen Überlieferung. 21 Die thomistische Lehre, die Althusius zweifellos durch die Autoren der Schule von Salamanca kannte und die unter die Quellen der Politica methodice digesta zu zählen ist, 2 2 lieferte auch die Grundlagen für die katholische Subsidiaritätslehre. Thomas von Aquin wird i n der Enzyklika ausdrücklich als Autorität zitiert. 2 3 Die Erwähnung seines Namens soll aber nicht als eine bloße Huldigung der seit den Zeiten Papsts Leo X I I I . wieder aufblühenden Neuscholastik betrachtet werden, denn die thomistische Lehre der lex aeterna , die mit der göttlichen Vernunft und dem Schöpfungsplan i n Gott identisch und daher die Quelle des natürlichen, menschlichen und göttlichen Gesetzes ist, ist in erster Linie eine Lehre über die allgemeine Ordnung der Welt und das Verhältnis der göttlichen Vernunft zur Schöpfung. 21 Es ist daher kein Zufall, daß Aristoteles, Thomas von Aquin und Johannes Althusius i n den historischen Darstellung dieser Lehre als Wegbereiter angeführt werden, obwohl sie weder das Wort noch den Begriff „Subsidiarität" gekannt haben. Hieran lassen sich zwei Bemerkungen knüpfen. Erstens, was die eigentlich moderne Lehre der Subsidiarität mit jenen vormodernern Denkern verbindet, ist die Idee der allgemeinen Ordnung der Gerechtigkeit. In diesem Sinn aber können fast alle vormodernen Autoren als Wegbereiter verstanden werden. Zweitens, die Idee der Subsidiarität konnte im zwanzigsten Jahrhundert im katholischen Kontext formuliert werden, weil die katholische Gesellschaftslehre an jener antiken Idee der Ordnung festhielt. Vgl. Millon-Delsol: L'État subsidiaire (FN 1), S. 49-60, die die Idee einer Kontinuität zwischen Aristoteles, Thomas von Aquin, Althusius, Ketteier und Taparelli d'Azeglio vertritt; D'Agnolo, La sussidiarietà nell'Unione Europea (FN 1), S. 8-17, vor allem S. 8-11; Rinella, I l principio di sussidiarietà (FN 14), S. 8-25, vor allem S. 8-12. 22 Vgl. Ernst Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe 1955. 2 3 Pius XI papa, Quadragesimo anno (FN 2), § 666 (= Art. 84). Vgl. auch Pius XI papa, Studiorum ducem. Saeculo sexto exeunte a Sanctorum caelitum honoribus Thomae Aquinatis decretis, in: Enchiridion delle encicliche (FN 2), S. 89-123, bes. § 90, S. 106-108.

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Andererseits war diese Idee keine Eigentümlichkeit des mittelalterlichen Thomismus oder der rationalistischen Strömungen; sie gehörte nicht dieser oder jener Tradition, sondern war Gemeingut und eine grundsätzliche Denkstruktur des vorneuzeitlichen juristischen und politischen Denkens. Im 16. Jahrhundert war die Vorstellung einer allgemeinen Ordnung quer durch alle konfessionellen Lager verbreitet: sie wurde selbstverständlich von der spanischen Spätscholastik verteidigt, deren Vertreter, wie Francisco de Vitoria, Domingo de Soto, Luis de Leon, Luis de Molina, Leonardus Lessius und Francisco Suarez, die thomistischen Traktate De lege und De iure ausführlich kommentierten; 24 sie wirkte auch in der Naturrechtslehre von Philipp Melanchthon, der sonst eher als ein Anhänger des Voluntarismus g i l t ; 2 5 sie lieferte ein wichtiges Argument für die Widerstandslehre sowohl der Lutheraner als auch der Reformierten; 26 sie war ein unentbehrliches Element in der juristischen Auslegung des Natur- und Völkerrechts. 27 Die universitäre Disziplin der Politik, die sich in ersten Jahren des 17. Jahrhunderts in den deutschen Universitäten schnell verbreitete, ging von der Idee aus, daß die politische Gesellschaft in erster Linie ein Ordnungsverhältnis ist. Sie ist Teil einer allgemeinen Ordnung, die den ganzen Kosmos umfaßt und grundsätzlich aus dem Element des Imperium besteht. „Nichts in dieser Welt kann ohne Ordnung bestehen, welche die eigentliche Wirkung der Natur ist", behauptet Georg Schönborner. 28 Dementsprechend definiert Christian Matthiae das Gemeinwesen als einen ordo moralis sive politicus, 29 während Henning Arnisaeus das Wesen der politischen Gesellschaft mit ihrer τάξις identifiziert. 3 0

24 Luis de Leon, De legibus ó tratado de las leyes. 1571, hrsg. von Luciano Perena, Madrid 1963; Luis de Molina, De iustitia et iure tomi duo [...], Moguntiae 1602; Leonardus Lessius, De iustitia et iure ceterisque virtutibus cardinalibus libri IV: A d Secundam secundae divi Thomae a quaestione 47. usque ad quaestionem 171., Parisiis 1606, (1. Aufl. Lovanii, 1605); Francisco Suarez, De legibus, 1612, hrsg. von Luciano Perena, Madrid 1971(-1981), Bd. l(-8). Vgl. Luciano Ρ erena, Estudio preliminar, in: Suarez, De legibus (FN 24), Bd. 1, 1971, S. X V L I X , bes. S. XLVII-LVI; Luciano Perena, Introducción, in: Luis de Leon, De legibus (FN 24), S. X I - L X X X V i l i , bes. S. L X I X - L X X X V I I I . 25 Vgl. Merio Scattola, Notitia naturalis de Deo et de morum gubernatione: Die Naturrechtslehre Philipp Melanchthons und ihre Wirkung im 16. Jahrhundert, in: Barbara Bauer (Hrsg.), Melanchthon und die Marburger Professoren (1527-1627), Marburg 1999, S. 865-882. 26 Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ius naturae im 16. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 55-76. 27 Ebd., S. 149-156. 28 Georg Schönborner, Politicorum l i b r i VII. [...], 3. Aufl., Lipsiae 1619, (1. Aufl. 1609), S. 9. 29 Christian Matthiae, De republica [...], resp. Christopherus Muckhius, in: Matthiae, Collegium politicum iuxta methodum logicam conscriptum [...], Giessae 1611, § 36, S. 77.

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Viele Autoren des frühen 17. Jahrhunderts, wie Otto Casmann, Henning Arnisaeus, Klemens Timpler und Christoph Besold, weisen i n diesem Zusammenhang auf eine berühmte Stelle Ciceros hin, i n der die Idee vertreten wird, daß ein Regierungsprinzip in jedem Wesen der Schöpfung w i r k t . 3 1 „ N i h i l porro tarn aptum est ad ius conditionemque naturae (quod cum dico, legem a me dici intellegi volo) quam imperium; sine quo nec domus ulla nec civitas nec gens nec hominum universum genus stare nec rerum natura omnis nec ipse mundus potest; nam et hic deo paret, et huic oboediunt maria terraeque, et hominum vita iussis supremae legis obtemperat." 3 2

Justus Lipsius, Henricus Farnesius, Pierre Grégoire, Johannes Althusius, Jakob Bornitz und Christoph Besold erkennen an, daß das imperium die Seele des Gemeinwesens ist: Ohne imperium w i r d eine Republik zu formloser Anarchie, gleichwie ein Mensch zu einem toten Körper wird, wenn die Seele ihn verläßt. 33 Casmann stellt in diesem Zusammen30 Henning Arnisaeus, Doctrina politica in genuinam methodum, quae est A r i stotelis, reducta [...], Argentorati 1648, (1. Aufl. Francofurti 1606), in: Arnisaeus, Opera politica omnia duobus tomis distincta, I, 7, t. 1, S. 59 b . 31 Die Schlüsselrolle dieser Idee in der vormodernen Politik ist von Otto Brunner hervorgehoben worden. Vgl. Brunner, Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik", in: Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, (1. Aufl. 1956), S. 101-127, bes. S. 113-114. 32 Marcus Tullius Cicero, De legibus, in Cicero, De republica. De legibus, hrsg. von Clinton Walker Keyes, Cambridge, Mass. 1977, (1. Aufl. 1928), III, 1, 3, S. 460. Vgl. Otto Casmann, Doctrinae et vitae politicae methodicum ac breve systema [...], Francofurti 1603, S. 12; Arnisaeus, Doctrina politica (FN 30), I, 7, S. 59^; Klemens Timpler, Philosophiae practicae pars tertia et ultima complectens politicam integram libris V. pertractatam [...], Hanoviae 1611, S. 119; Christoph Besold, Dissertatio prima praecognita philosophiae [scil. politices] complectens, in: Besold, Principium et finis politicae doctrinae. Hoc est dissertationes duae. Quarum una praecognita politices proponit. Altera de republica curanda agit [...], Argentorati 1625, V, 3, p. 49. 33 Justus Lipsius, Politicorum sive civilis doctrinae l i b r i sex [...], 2. Aufl., Lugduni Batavorum 1590, (1. Aufl. 1589), II, 16, S. 76 und IV, 9, S. 153-154; Henricus Farnesius, De simulachro reipublicae sive de imaginibus politicae et oeconomicae virtutis [...], Papiae 1593, I, 2, Bl. l l v - 1 2 v : „Nec aliam ob rem, puto, a capite nomen fluxit principis, nisi quod, quemadmodum caput a capiendo dicitur, quia ab eo principium capiunt sensus et nervi, ita universa humani generis societas omnes consilii sui rationes ex principe suspensas debeat habere. Quid enim est, aut princeps nisi caput mundi, aut mundus nisi corpus principis? [...]. Quare ut animae corpus, sic principi obedire debet populus. Corpus nam tanquam fatuum nec sibi consulit, si ab anima deseritur, et statim ut mortale restringitur et deletur; et populus incumbit principi, cum sine principe, veluti vivum cadaver, iners reddatur et inutilis"; Pierre Grégoire, De republica l i b r i sex et viginti [...], [Francofurti] 1597, (1. Aufl. 1596), VI, 1, 9 und 13, S. 292-293 und 294-295; Althusius, Politica methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustrata [...], Herbornae Nassoviorum 1603, I, S. 6-8; Jakob Bornitz, De maiestate politica et summo imperio eiusque functionibus, in: Bornitz, Tractatus duo. 1. De maiestate politica et summo imperio eiusque functionibus [...] 2. De praemiis in republica decernendis [...], Lipsiae 1610, S. 22-23: „Imperio summo rempublicam animare finem principalem esse, cuius gratia πρώτως consti tuta est maiestas, dicimus, qua voce, cum alia quae plenius et planius quod volumus exprimât deesse videtur, utendum fuit analogia

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h a n g einen Vergleich z w i s c h e n der kosmologischen u n d der a n t h r o p o l o gischen Sphäre an: „ I n c o r p o r u m u n i v e r s i t a t e corpus coeleste r e l i q u a moderetur, o m n i a a m m a l i a r a t i o n a l e a n i m a l regat, h o m i n e m i p s u m d i v i n i o r a n i m a . " 3 4 I n demselben S i n n e r k l ä r t J a k o b B o r n i t z , daß die ganze S c h ö p f u n g d u r c h e i n N e t z v o n potestates

ü b e r d e c k t ist, die sie i n der

rechten O r d n u n g e r h a l t e n . 3 5 Pierre Grégoire e r l ä u t e r t dazu, daß G o t t jeder G a t t u n g i h r e n besonderen A n f ü h r e r gab, als er die W e l t schuf. Selbst die Bäume, die Flüsse u n d die Quellen erkennen einen F ü r s t e n an. D e n E n g e l n w ü r d e e i n E n g e l als F ü r s t gegeben, den S t e r n e n e i n Stern, den Geistern e i n Geist, den V ö g e l n ein Vogel, den Tieren e i n Tier, d e n S c h l a n gen eine Schlange, den Fischen e i n Fisch; u n d die Menschen e r h i e l t e n einen Menschen, Jesus Christus, als i h r e n F ü r s t e n . 3 6 C h r i s t o p h Besold bezeichnet das höchste G u t , das i n der Gesellschaft der Menschen v e r f o l g t w i r d , als iustitia

universalis.

Diese u m f a ß t alle

Tugenden u n d entsteht aus der „ O r d n u n g der G e r e c h t i g k e i t " , die m i t ab anima hominis sumpta, quae corpus humanum sua virtute animat, ut sit et existât homo. Est enim imperium principis verissimus animus reipublicae et vinculum, per quod respublica cohaeret, atque ille Vitalis spiritus, quem tot milia hominum trahunt, ut respublica nihil ipsa per se futura sit nisi onus et praeda, si mens ilia imperii subtrahatur [...]. Ut enim corpus ab anima esse et motum nanciscitur, ea vero deficiente corpus humanum esse desinit, ita quaevis respublica maiestate imperii esse incipit, eoque vigente viget, cessante respublica esse cessât, et vel in anarchiam, illegem hominum coetum [...], vel aliud chaos corruptum et informe dégénérât"; Christoph Besold, Disputatio prima praecognita prudentiae politicae proponens [...], resp. Georgius Christopherus a Schallenberg i n Biberstein, in: Besold, Collegii politici classis prima, reipublicae naturam et constitutionem XII. disputationibus absolvens [...], Tubingae 1614, §23, S. 13-14; ders., Politicorum l i b r i duo. Quorum primus reipublicae naturam et constitutionem XII. capitibus absolvit; alter vero de republica i n omnibus partibus gubernanda IX. sectionibus tractat, Francofurti 1620, (1. Aufl. 1618), I, 1, 4, 23, S. 25; Besold, Dissertatio prima praecognita philosophiae [seil, politices] complectens (FN 32), V, 1, S. 4748; Lucius Annaeus Seneca, De dementia, in: Seneca in Three Volumes. I. Moral Essays, hrsg. von John W. Basore, Cambridge, Mass. 1970, 4 e 5, S. 368-370, bes. S. 368: „Ille est enim vinculum, per quod res publica cohaeret, ille spiritus Vitalis, quem haec tot milia trahunt; nihil ipsa per se futura nisi onus et praeda, si mens ilia imperii subtrahatur", in Bezug auf die Milde. 34 Casmann, Doctrinae et vitae politicae systema (FN 32), S. 12. 35 Bornitz, Partitionum politicarum l i b r i quattuor [...], Hanoviae 1608 (FN 33), S. 32-33. 36 Grégoire: De republica (FN 33), VI, 1, 1, S. 289-290: „Itaque Deus, cum mundum condidisset, tanquam universitatis dominus, singulis et quibuscunque creaturis proprios et sui generis principes statuit, ipsis quoque arboribus ac fontibus et fluminibus, et reliquis quae fecit. Ita constituit angelis angelum prineipem et spiritibus spiri tum, syderibus sydus, daemonibus daemonem, avibus avem, bestiis bestiam, serpentem serpentibus, piscem piseibus, hominibus hominem, qui est Christus Iesus [...]. Sicque imperare, regere, subiici, regi et gubernari consentaneum est iuri naturae, divinoque et humano gentium et civili convenit, aut aliter pro monstro haberi possit, non minus quam videre corpus sine capite, et caput sine membris legitime et convenienter ordinatis, aut cum defectu illorum. Utile maxime singulis, quae sibi sufficere nequeunt, ab aliquo iuvari et conservari, et id melius dicitur quod cum sibi sufficit et aliis prodesse potest, et quo magis bonum communicatum eo melius praestantiusque erit."

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derselben Proportion und demselben gerechten Maß identisch ist, das Gott in der Schöpfung anwandte. Eine einzige Ordnung und eine allgemeine Gerechtigkeit herrschen über die ganze Welt; und der Mensch, der nach den Geboten der Gerechtigkeit handelt, erkennt die göttliche Vernunft an und verwirklicht den höchsten Grad der Tugend. 37 III. Föderalismus und Subsidiarität im Werk des Johannes Althusius Das Prinzip der Subsidiarität, die sowohl der katholischen Soziallehre als auch der vor- und frühmodernen politischen Lehre zugrunde liegt, w i r k t in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius i m Aufbau der Gemeinschaften, der in der consociatio universalis maior, im Königreich, gipfelt. Nachdem die Grundbegriffe der politischen Lehre {generalia politicae, II, pr., S. 13) - politica , consociatio, communicatio, gubernatio, ordo - im ersten Kapitel definiert worden sind, beschreiben die darauffolgenden sieben Kapitel, wie die kleineren Gesellschaften entstehen und wie sie durch Vertrag und Recht i n größere Kreise übergehen. Einzelne Menschen bilden die societas privata simplex (II, 4), welche die Grundlagen für alle weiteren gesellschaftlichen Gebilde liefert (II, 2). Sie kann entweder natürlich oder bürgerlich sein (II, 13). Die societas privata naturalis ist die Familie; sie umfaßt Gatten, Verwandte und Verschwägerte und kann sowohl als enger Kreis der Eheleute als auch als Sippe verstanden werden. Ihr Bereich ist im ersteren Fall die oeconomica, die das individuelle Leben durch Fortpflanzung und Erziehung erhält, und das Haus, das eine wirtschaftliche, ethische und juristische Einheit bildet. Die Sippe, die aus propinqui besteht (III, 1-15) und auch die domestici , die Hausgenossen, einschließt, 38 ist für Blut, Ehre und Vermögen (iura san37 Besold, Dissertatio prima praecognita philosophiae [seil, politices] complectens (FN 32), IV, 2, S. 43: „ I n hac etenim societate summum est bonum quoddam, quod per se et propter se atque etiam primo expetitur: ipsa nimirum iustitia universalis, virtutes i n sese quae continet omnes et quae universum chorum seu comitatum virtutum complectitur. Quippe iustitia cum descendat ab ordine rectitudinis, generaliter convenire potest omni virtuti. Est namque iustare idem quod rectificare. B. Thomas part. 1. qu. 21 [a. 4, resp.] ubi inquit: Quicquid Deus i n rebus creatis facit, facit secundum convenientem ordinem et proportionem suam, i n qua consistit ratio iustitiae. Indeque homo iustus, i d est suae naturae seu rectae rationi convenienter agens, omnibus virtutibus est praeditus. Quas virtutes ut exercere possit, ad eas virtutes operandas ut adigatur homo, civilem societatem natura [...] fiumano generi monstravit, implantavit. Quicquid i n libera civitate aut republica geritur, quicquid a legislatore vel iureconsulto deliberationis atque consilii suseipitur, omne i d iustitiae, i d est virtutis et honestatis gratia fieri debet." 38 Althusius, Politica methodice digesta, 3. Aufl., Herbornae Nassoviorum 1614, III, 38-39, S. 41-42: „Iura affinitatis, quae inter affines communicantur, sunt fere eadem cum cognationis iuribus, de quibus antea dictum est, sed tarnen non tanta.

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guinis, III, 18-37) zuständig und soll der Familie vor allem Schutz leisten (III, 34). Die societas privata civilis ruht dagegen nicht auf den natürlichen Beziehungen, sondern entsteht durch gemeinsames Einverständnis (communis consensus) und ist daher spontanea mereque voluntaria (IV, 1). Gesellschaften dieser Art sind die Zünfte und alle anderen Verbände, welche Menschen aus derselben Kunst oder demselben Beruf oder mit demselben Lebenswandel vereinigen. Ihre Aufgabe ist die Verwaltung der Arbeitsverhältnisse, die keineswegs als eine bloß wirtschaftliche Angelegenheit zu betrachten sind, sondern in erster Linie zum ethischen und juristischen Bereich angehören. Die societates privatae, seien sie Sippen oder collegia , die aus einzelnen Menschen bestehen, vereinigen sich zu den societates publicae, die also nicht aus Individuen, sondern aus kleineren Gesellschaften zusammengesetzt sind. Die Bürger einer consociatio publica sind also keine Privatpersonen, sondern Vertreter einer untergeordneten Gesellschaft: einer Familie, eines Geschlechts oder einer Genossenschaft. 39 Alle consociationes publicae sind durch das Wirken eines politeuma oder ius publicum symbioticum gekennzeichnet, was sie von den privaten Gemeinschaften unterscheidet und als politische Gesellschaften im wahren Sinn erscheinen läßt (V, 5). Die consociatio publica kann entweder particularis oder universalis sein. Die consociatio publica particularis umfaßt wiederum zwei Fälle: die Stadt und die Provinz. Die Stadt, civitas oder universitas, schließt mehrere Formen ein: vicus, pagus, oppidum und urbs (V, 29). Ihre Aufgaben sind securitas et utilitas, Schutz und Wohl (V, 43; VI, 36), und betreffen vor allen die Verteidigung und Verbesserung des Bodens (VI, 30). 40 Die Kompetenzen der Provinz, der anderen Form der consociatio publica particularis, erstrecken sich vorwiegend auf die ReliHisce natura consociatis et unitis hominibus affines sunt, qui vocantur domestici, sub uno eodemque tecto vi ventes, apud familiam, cui se federe vel fide devinxerunt, obtemperantes imperio unius, qui familiae caput et princeps atque paterfamilias dicitur, οικοδεσπότης, cuius socia est materfamilias, uxor patrisfamilias. Domestici autem eiusmodi sunt famuli, servi, liberi, mercenarii, clientes et omnes, qui contubernio nostro sunt iuncti, familiares et coniuncti, qui una domo continentur, subiectique sunt patrifamilias et matrifamilias, iisque operas praestant artificiales vel obsequiales, pertinentes ad convictum et vitam hanc socialem." 39 Althusius, Politica 1614, (FN 38), V, 10, S. 61: „Membra universitatis sunt privatae diversaeque consociationes coniugum, familiarum et collegiorum, non singuli cuiusque consociationis privatae, qui hic non coniuges, cognati, collegaeve [...], sed cives eiusdem universitatis sunt a coeundo, ideo quod ex privata symbiotica transeuntes, coeunt i n unum corpus universitatis." Vgl. V, 1, S. 59: „ex pluribus consociationibus privatis"; V, 4, S. 59: „continet plures consociationis species". 40 Althusius, Politica 1614, (FN 38), V, 40-41, S. 69: „Universitas urbana est, quam urbanam vitam et functiones mechanicas et studia colentes constituunt. Urbs est vicorum, pagorumve multitudo peculiari iure consociata, communi fossa, propugnaculo et muro [...] septa aut cincta et munita, contra vim externam, ad commoditatem civium."

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g i o n s p o l i t i k , auf die V e r t e i d i g u n g des T e r r i t o r i u m s u n d auf dessen Verw a l t u n g , die als praxis

iustitiae

politicae

provincialis

bezeichnet w e r d e n

(VII, 10-12). M i t g l i e d e r der P r o v i n z s i n d Städte, Geschlechter u n d Genossenschaften, die i n den T e r r i t o r i a l s t ä n d e n v e r t r e t e n w e r d e n . 4 1 höchste Gesellschaft ist die consociatio Imperium,

regnum,

respublica,

publica

universalis

oder

Die

politia,

die i m höchsten Maße die S e l b s t ä n d i g k e i t

(αυτάρκεια) v e r w i r k l i c h t ( I X , 2). Sie besteht ausschließlich aus anderen consociationes

publicae,

d . h . aus S t ä d t e n u n d P r o v i n z e n . 4 2 Sie ist daher

eine „gemischte Gesellschaft", u n d i n i h r f ü h r t jeder B ü r g e r e i n „ g e mischtes L e b e n " , w e i l er g l e i c h z e i t i g M i t g l i e d mehrerer G e m e i n d e n ist, i n denen er u n t e r s c h i e d l i c h e F u n k t i o n e n a u s ü b t u n d verschiedenen Repräsentationsweisen u n t e r l i e g t . 4 3 Dieser A u f b a u der consociationes

- F a m i l i e , Sippe, Z u n f t , S t a d t , P r o -

v i n z , K ö n i g r e i c h - ist e i n B e i s p i e l v o n s u b s i d i ä r e n Gesellschaften, w i e sie auch i n der m o d e r n e n Soziallehre e n t w o r f e n w e r d e n . 4 4 Jeder K r e i s i n der A r g u m e n t a t i o n des A l t h u s i u s ist i n der Tat e i n autonomes S u b j e k t . D a n k des ius symbioticum,

das die i n n e r e n Verhältnisse jeder G e m e i n -

schaft regelt u n d i h r eine e i g e n t ü m l i c h e Gestalt v e r l e i h t , b i l d e t n ä m l i c h jede Gesellschaft eine einzige Person, die r e c h t m ä ß i g h a n d e l n k a n n . „Ob ius hoc symbioticum, quod diximus, fit, ut consociatio haec saepe unam personam repraesentet et pro una persona reputetur" (II, 12, S. 16). 45 41 Althusius, Politica, 1614 (FN 38), VIII, 2, S. 131: „Membra provinciae sunt ordines illius et status, quos vocant, sive maiora collegia, in quae provinciales, ratione suae professionis, vocationis et functionis, ex vitae institutae genere et diversitate sunt distributi, ut i n negotiis ecclesiasticis et civilibus quilibet status seu ordo inter sui generis homines de negotiis et iure provincialium, citra tamen ordinariae iurisdictionis usurpationem et usum, sit sollicitus: Germanice vocantur die Stende der Landschaft. " 42 Althusius, Politica 1614, (FN 38), IX, 5, S. 168: „Membra regni seu symbioticae universalis consociationis huius voco non singulos homines neque familias vel collegia, prout in privata et publica particulari consociatione, sed civitates, provincias et regiones plures inter se de uno corpore ex coniunctione et communicatione mutua constituendo consentientes." 43 Althusius, Politica, 1614 (FN 38), IX, 3, S. 167: „Unde societas vitae mista partim ex privata, naturali, necessaria, spontanea, partim ex publica, constituta atque universalis vocatur consociatio et έν πλάτει politia, imperium, regnum, respublica, populus i n corpus unum consensu plurium consociationum symbioticarum et corporum specialium seu corporum plurium consociatorum coniunctus et sub uno iure collectus." 44 Vgl. zum Beispiel die Subsidiarität von Familie, Staat und Kirche bei der Erziehung, wie sie in der Enzyklika Divini illius Magistri (1929) entworfen wird. Vgl. Pius X I papa, Divini illius Magistri De Christiana iuventutis educatione, in: Enchiridion delle encicliche (FN 2), S. 442-517, bes. § 336, S. 448: „Tres vero numerantur societates necessariae, inter se distinctae at, Deo volente, congruenter copulatae, quibus quidem homo ab ortu suo adscribitur: harum duae, domestica nempe ac civilis consortio, naturalis ordinis; ac tertia, Ecclesia nimirum, supernaturalis." 45 Althusius, Politica 1614, (FN 38), IV, 10, S. 47: „Communis utilitatis causa et finis facit, ut omnes collegae iuris collegii participes, non ut singuli, sed ut unum

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Merio Scattola

A l t h u s i u s b e h a n d e l t das ius symbioticum,

d . h . das j u r i s t i s c h e Wesen

der Gesellschaft, n a c h den aristotelischen K a t e g o r i e n u n d , n a c h d e m er es d e f i n i e r t hat, zeigt er, daß es aus v i e r E l e m e n t e n oder U r s a c h e n i m aristotelischen S i n n b e s t e h t . 4 6 Jedes ius symbioticum 1. eine b e s t i m m t e A r t modus

oder forma;

consensio

der K o m m u n i k a t i o n

(ratio

erfordert

nämlich

communicandi)

als

2. eine G r u n d l a g e der K o m m u n i k a t i o n , die i n der

besteht, als agens; 3. gemeinsame Werke als materia

der Ge-

meinschaft u n d 4. eine V o r s t e l l u n g des G e m e i n w o h l s als i h r e causa finalis (II, 6 - 1 1 u n d I, 28-31). D u r c h das ius symbioticum meinschaft

w i r d also eine Ge-

i n e i n n a c h a l l e n Seiten v o l l k o m m e n e s u n d

einheitliches

Wesen v e r w a n d e l t . Sie e r h ä l t 1. eine besondere A r t z u H a n d e l n (ratio communicandi); (consensio);

2. e i n einziges h a n d e l n d e P r i n z i p oder agens oder Seele

3. gemeinsame H a n d l u n g e n , die der Gesellschaft zugespro-

chen w e r d e n k ö n n e n (operae mutuae); l i c h e n Z w e c k (commodum

commune). 47

4. einen gemeinsamen u n d e i n h e i t E i n e solche Gesellschaft k a n n i n

weitere V e r b i n d u n g e n eintreten; sie g i l t als zurechnungsfähiges S u b j e k t ; k a n n h a n d e l n u n d v e r h a n d e l n ; erscheint als selbständig u n d u n a b h ä n g i g gegenüber g l e i c h r a n g i g e n u n d übergeordneten S u b j e k t e n . Sie e r h ä l t i h r e E x i s t e n z aus k e i n e r anderen Gesellschaft oder Instanz, sondern n u r aus sich selbst oder, besser, aus d e m ius symbioticum,

das sie als Person k o n -

s t i t u i e r t . Sie ist eine u n a b h ä n g i g e G r ö ß e . 4 8 corpus considerentur"; V, 9, S. 60: „Vocatur persona repraesentata [...] homines universi, non singuli". 46 Zum Verhältnis des Althusius zu Aristoteles oder zum Aristotelismus der frühen Neuzeit vgl. Paul-Ludwig Weinacht, Althusius - Ein Aristoteliker? Über Funktionen praktischer Philosophie im politischen Calvinismus, in: Karl-Wilhelm Dahm, Werner Krawietz und Dieter Wyduckel (Hrsg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988, S. 443-463, hier S. 459-460. 47 Charles S. McCoy, The Centrality of Covenant in the Political Philosophy of Johannes Althusius, in: Dahm, Krawietz und Wyduckel (FN 46), S. 187-199, hier S. 193-194 bezieht das Schema der vier aristotelischen Ursachen ausschließlich auf den Vertrag. 48 Daß nur unabhängige Größen i n ein subsidiäres Verhältnis eintreten können, ist am Beispiel des pactum regni am klarsten. Volk und Magistrat können sich gegenseitig Treue versprechen, weil sie selbständige Subjekte sind. Sie sind voneinander unabhängig, weil beide i n gleichem Maße dem Gesetz Gottes unterworfen sind. Schon i n der Disputatio politica de regno recte instituendo et administrando (1602) unterscheidet Althusius in der Begründung der politischen Gesellschaft drei Verträge. Der erste Vertrag w i r d zwischen den unterschiedlichen Mitgliedern - d.h. Gesellschaften - eines Gemeinwesens geschlossen und bringt das politeuma, die Ordnung der Stadt, hervor (§ 5-9). Der zweite Vertrag ist zwischen den Vertretern des Volks und dem Magistrat, der die Aufgabe erteilt bekommt, das Gemeinwesen zu verwalten. Der dritte, religiöse Vertrag findet zwischen dem Volk, dem Magistrat und Gott statt. Mit ihm verpflichten sich sowohl das Volk als auch der Magistrat, Gott mit allen ihren Kräften zu verehren (§ 45). Der Magistrat soll daher das Volk tugendhaft und christlich regieren, während das Volk dem Magistrat tugendhaft gehorchen soll. Deswegen sind beide Parteien mitschuldig in solido vor Gott. Der eine ist für die Fehler des anderen vor Gott verantwortlich (§ 46). Deswegen muß jede von beiden Parteien, die andere zwingen und strafen können, wenn sie das Gebot Gottes verletzt. Der Magistrat zwingt das ungehorsame Volk

Subsidiarität und gerechte Ordnung in der Lehre des A l t h u s i u s 3 5 5 O b w o h l es n i c h t ausgeschlossen ist, daß eine übergeordnete

Gesell-

schaft H a n d l u n g s w e i s e u n d Z w e c k einer untergeordneten Gemeinschaft b e r i c h t i g e n u n d beeinflussen k a n n , 4 9 b i l d e t jede Gesellschaft einen a u t o n o m e n Kreis. Daß jede Gesellschaft e i n eigenes Recht besitzt, i m p l i z i e r t , daß sie eine Reihe besonderer K o m p e t e n z e n ausübt, die v o n anderen höheren oder niederen Gemeinschaften n i c h t i n A n s p r u c h w e r d e n dürfen. Das ius symbioticum

genommen

jedes Kreises w i r d n i c h t v o n oben

verliehen, sondern w ä c h s t v o n u n t e n u n d w i r d d u r c h einen Vertrag vere i n b a r t . 5 0 Was i n einem K r e i s g i l t , d a r f also v o n anderen, oberen K r e i s e n n i c h t verändert werden. D i e K o m p e t e n z e n jeder Gesellschaft s i n d daher unantastbar, w e i l sie n i c h t v o n oben oder v o n außen e r h a l t e n werden, sondern d u r c h Z u s a m m e n k o m m e n der Vertragsschließenden festgesetzt werden, o b w o h l , w i e w i r sehen werden, das Recht e i g e n t l i c h n i c h t vere i n b a r t w i r d , sondern einer e w i g e n O r d n u n g e n t s p r i c h t u n d schon v o r denjenigen S u b j e k t e n e x i s t i e r t , die es stiften. Das P r i n z i p der S u b s i d i a r i t ä t ist s o m i t v ö l l i g e r f ü l l t . Jeder gesellschaftl i c h e K r e i s ist a u t o n o m u n d v e r w a l t e t einen besonderen Bereich: U n t e r -

durch die Strafen des Gesetzes; das Volk straft den zum Tyrannen entarteten Magistrat mit dem Widerstand (§ 48). In der Vertragslehre des Althusius ist also weder Volk noch Magistrat dem anderen überlegen oder über den anderen souverän. Beide sind im Gegenteil gleich, weil beide der Ordnung Gottes unterworfen sind. Vgl. Giuseppe Duso, Una prima esposizione del pensiero politico di Althusius: La dottrina del patto e la costituzione del regno, in: Quaderni fiorentini 25 (1996), S. 65-126, hier S. 81-87. Die Dissertatio ist u.d.T.: Johannes Althusius „De regno recte instituendo et administrando", hrsg. von Merio Scattola, in: Quaderni fiorent i n i 25 (1996), S. 23-46, nachgedruckt worden. 49 Althusius, Politica 1614, (FN 38), VII, 28, S. 112-113: „Functio publica est, quae principaliter totius provinciae negotiis inservit, quaque privatae superiores ad societatem civilem provincialem necessariae, vinculo unionis, concordiae et coniunctionis, ad salutem provinciae atque universorum et singulorum in ea viventium diriguntur, et hoc modo ab interi tu, cui alias subiectae essent, conservantur. Vocatur munus publicum. In hac igitur functione publica, singulae privatae plures et diversae functiones, earumque exercitium et usus conspirant, et in totius corporis provincialis salutem conveniunt, non secus atque ad mare omnia flumina refluunt. Unde publica munera directoria sunt privatorum officiorum, quae corrigunt, limitant, ampliant, dirigunt, et referunt privatas functiones ad salutem et usum communem universorum symbioticorum i n provincia viventium. Quemadmodum igitur aures, oculi, manus et singula corporis humani membra, quaecunque sua natura percipiunt et agunt, haec communicant toti corpori et omnibus membris illius, eaque usu ad salutem et commodum illorum referunt et applicant, ita ut damna et incommoda omnia corpori toti communicentur: sic et i n provinciali consociatione omnia illius membra omnes suas functiones et negotia ad illius salutem referre debent. Et ut membra corporis, nervis atque arteriis coniunguntur, atque ex ea coniunctione vitam communem hauriunt, ita et societas haec provincialis communi vinculo amoris, benevolentiaeque erga rempublicam devincta esse debet, atque communi Providentia et cura conservanda et defendenda est." 50 Althusius, Politica 1614, (FN 38), IV, 17, S. 50: „lus commune collegii vel collegarum describi solet i n libris collegii (in den Zunftbüchern ), quod ius vel ex communi collegarum consensu receptum et introduci um est inter collegas, vel speciali privilegio superioris magistratus collegis concessum et indultum."

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geordnete Aufgaben werden von untergeordneten Gesellschaften erfüllt; für übergeordnete Zwecke sind übergeordnete Gesellschaften zuständig. Zwischen den Einflußsphären der verschiedenen Subjekte sind Grenzen derart klar gezogen, daß Konflikte auf ein Minimum reduziert werden können, während die Summe der Kompetenzen aller niederen und oberen Gesellschaften den ganzen Bereich des menschlichen Handelns deckt.

IV. Gerechte Ordnung als Voraussetzung der Subsidiarität Die Hierarchie der consociationes, die Althusius in seiner Politica entwirft, läßt in Hinsicht auf das Prinzip der Subsidiarität zwei Fragen offen. Die erste Frage ist folgende: „Wie können sich Menschen gegenseitig als Mitglieder einer Gesellschaft anerkennen, wenn dieselbe Gesellschaft noch nicht vorhanden ist?" Diese Frage ist besonders da wichtig, wo man auf keine natürlichen Verhältnisse hinweisen kann; sie t r i t t aber auf jeder Ebene der Argumentation auf. Sie kann auch umformuliert werden. Falls zwei Gesellschaften sich gleichzeitig bilden, warum soll ein Mensch in die eine und nicht in die andere Gruppe eintreten? Warum soll sich eine Stadt lieber dieser und nicht jener Provinz anschließen? Dieselbe Frage deutet auf ein weiteres Problem hin. Wie können Menschen, die noch keine Gesellschaft verbindet, sicher sein, daß ihre Worte dieselbe Bedeutung haben, wenn sie miteinander einen Vertrag schließen? Wie kann das untergeordnete Mitglied in einer der ungleichen Gesellschaften, etwa der Knecht in der Familie, anerkennen, daß er untergeordnet und schwächer ist, und daher den Schutz des Übergeordneten und Stärkeren bedarf, wenn er weder sich selbst noch die anderen kennt? Allgemein formuliert, lautet diese Frage folgendermaßen: Wie können Personen, die noch keine gemeinsame Verbindung anerkennen, dazu gebracht werden, eine gemeinsame Verbindung anzuerkennen? Die zweite offene Frage betrifft die Verhältnisse zwischen den Gesellschaften. Wie werden nämlich die Konflikte zwischen untergeordneten und übergeordneten Kreisen beigelegt? Wie w i r d vermieden, daß eine höhere Gesellschaft die Kompetenzen einer unteren Gemeinschaft für sich in Anspruch nimmt und umgekehrt? Und wie oder von wem w i r d der Konflikt entschieden, falls er sich ereignet? Althusius antwortet auf beide Frage, indem er auf die Wirklichkeit einer allgemeinen Ordnung hinweist. Einen absoluten Beginn, einen Beginn aus dem Nichts, d.h. aus einer absoluten Gleichheit und Freiheit schließt er als unmöglich aus. Wenn nämlich die Menschen gleich wären, würden sie ständig versuchen, ihren eigenen Willen durchzusetzen. So würden sie zu keinem Einverständnis kommen und die menschliche Gattung in die Anarchie hinabstürzen.

Subsidiarität und gerechte Ordnung i n der Lehre des A l t h u s i u s 3 5 7 „Deinde tanta tamque admirabilis est mundi huius diversitas, ut nisi aliqua symmetria subordinationis colligaretur et certis legibus subiectionis et regiminis temperaretur, confusione sua brevi tempore consumendus esset; nec possent partes tarn diversae in eo perseverare, si singulae vellent per se promiscue et indifferenter opera sua perficere, atque potestas, potestati aequali occurrens, perpetua discordia et irreconciliabili omnia pessundaret alienaque, quae regere non novit nec conveniunt, usurparet cum sua pernicie. Et dum quisque secundum voluntatem suam cogitat vivere, regulam disciplinae omitteret." 5 1

Damit also eine gewisse Ordnung unter den Menschen zustande kommt, muß dieselbe Ordnung schon vorhanden sein, bevor sie in die menschliche Gesellschaft eingeführt wird. Die Ordnung w i r d daher keineswegs aus dem Nichts erfunden und konstruiert, sondern ist ewiglich schon vorhanden. Die Begründung der politischen Ordnung läßt dementsprechend das vollkommen erscheinen, was schon existiert. Die Menschen erkennen die politischen Unterschiede an, weil diese schon gegeben sind, bevor die Gesellschaft gegründet wird. Was. hier eigentlich stattfindet, ist also nicht eine Begründung, sondern eine Bestätigung. Die subsidiäre Gesellschaft zeigt hier ein eigentümliches Paradoxon. Sie w i r d nämlich als diejenige Gesellschaft verstanden, in der verschiedene Handlungskreise von unten her konstituiert werden, indem sie einige Kompetenzen für sich als ihr ursprüngliches Recht beanspruchen. In der Argumentation des Althusius verwirklicht aber die subsidiäre Gesellschaft einen (allgemeinen) Plan, der ihr vorausgeht und vor ihr existiert. Ihre Bewegung von unten nach oben, von den kleineren und untergeordneten bis zu den größeren und übergeordneten Gesellschaften ist also erst dann möglich, wenn dieser Weg von einer ersten und höchsten Autorität bestimmt wird. Die anscheinend größte Freiheit fällt daher mit der höchsten Notwendigkeit zusammen: Der Knecht kann nicht umhin, einen Vertrag mit dem Hausvater zu schließen, und der Hausvater muß i n die Stadt eintreten. Althusius erklärt diese Denkstruktur mit der Idee der consensio, die eines der vier Grundelemente des ius symbioticum ist. „Consensio est, qua coniunctorum symbioticorum anima et cor unum est, idem volens, agens, nolens, ad communem coniunctorum utilitatem [...]. Quae dicitur mutua confoederatio et conspiratio. Sine hac consensione et mutua concordia nulla omnino societas et amicitia consistere potest [...]. Omnis urbs aut domus dissidens adversus seipsam non stabit. Contra concordia mutua firma et constans redditur" (II, 8, S. 15).

Die consensio w i r d an drei Stellen des ersten, neunten und achtzehnten Kapitels als die Grundvoraussetzung für die Entstehung jeder Gemeinschaft gepriesen 52 und als solche wird sie immer erwähnt, wenn die 51 Althusius, Politica, 1603 (FN 33), 1, S. 7.

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drei Haupttypen der Gesellschaft - privata , publica und universalis - erörtert werden. 5 3 Die consensio besteht hauptsächlich in der Anerkennung einiger ursprünglicher Unterschiede, aus denen der politische Körper zusammenwächst. Sie ist daher die andere, aktive Seite des ordo oder der symmetria oder communicandi ratio. Die Mitglieder einer Gemeinschaft sind ursprünglich verschieden: Sie stehen in einem gewissen Verhältnis schon dann zueinander, bevor sie sich in eine Gesellschaft vereinigen. I n der Familie, der ersten Gemeinschaft, zum Beispiel ist die Hausmutter den Kindern und dem Hausgesinde überlegen, sowie sie dem Hausvater gehorchen soll. Und dies, bevor eine bestimmte Familie gegründet wird. Die künftigen Mitglieder einer Gemeinschaft bilden daher einen Körper, der aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist. 5 4 Der Vertrag oder die Verbindung zwischen den Menschen, die eine bestimmte Gemeinschaft bilden, findet also nicht unter Gleichen, sondern unter Verschiedenen statt. Da die Menschen schon vor dem Vertrag ungleich, über- und unterlegen sind, w i r d dieser die Unterschiede zwischen den Menschen bestätigen und ihnen eine rechtliche Form geben; er kann sie aber keineswegs erzeugen. Die Summe aller gesellschaftlichen Unterschiede ist das ius symbioticum der jeweiligen societas; dieses beschreibt die Verhältnisse zwischen allen Teilen der Gesellschaft und muß ihr vorangehen. Die Gesamtheit aller iura symbiotica bildet die göttliche Ordnung, auf die die Gesellschaft und vor allem die subsidiäre Gesellschaft gegründet ist. Eine letzte Folgerung soll erwähnt werden. Da das ius symbioticum mit der göttlichen Ordnung identisch ist, steht es grundsätzlich keiner menschlichen Autorität, weder dem Magistrat noch dem Volk, zur Verfügung. Die Idee der modernen Herrschaftslehre, daß der Souverän w i l l kürlich über das Recht verfügt, ist daher ausgeschlossen. Weder der König noch das Volk sind in diesem Sinn souverän. Genetisch kann dieselbe Argumentation von der Gesellschaft zur allgemeinen Ordnung folgendermaßen beschrieben werden. Gott hat der Welt eine Ordnung gegeben, an der auch die Menschen teilnehmen. Diese sind nach dem göttlichen, ewigen Gesetz mit unterschiedlichen Fähigkeiten, 52 Althusius, Politica, 1603 (FN 33), I, 36-38, IX, 7-8 und XVIII, 21-22. 53 Althusius, Politica, 1614, (FN 38), II, 8. S. 15 (consensio in der consociatio simplex privata ); IV, 22, S. 52 (consensus i n der consociatio civilis)] VI, 46-47, S. 101-102 (concordia in der consociatio publica particulars)] IX, 7-8, S. 169-171 (vinculum concordiae i n der respublica) wiederholt i n I, 36-38, S. 11 und XVIII, 21-22, S. 283-284. 54 Althusius, Politica, 1614 (FN 35), II, 4, S. 14: „Huius consociationis privatae membra sunt symbiotici singuli, qui concordia et consensu suo colligantur sub uno capite et spiritu, tanquam membra eiusdem corporis"; IV, 25, S. 53, wo zwischen collegium und corpus unterschieden wird; VI, 28, S. 93-94; IX, 5, S. 168169.

Subsidiarität und gerechte Ordnung i n der Lehre des A l t h u s i u s 3 5 9

Gaben und Vollkommenheiten versehen worden. Da die einzelnen Menschen nicht selbstgenügend und daher auf fremde Hilfe angewiesen sind, müssen sie notwendig ihre Vollkommenheit i n der gemeinsamen Gesellschaft suchen, die nach den Unterschieden der ursprünglichen Ordnung gebildet ist. Jede menschliche Gemeinschaft erreicht einen bestimmten Grad an Selbstgenügsamkeit oder Selbständigkeit und ist i n ein Netz von Unterschieden eingebettet, die ihren Standort i n der Welt bestimmen. Der Fortschritt von der einen zu der anderen Gesellschaft, den die Subsidiarität durchläuft, wiederholt in der sichtbaren Welt die unsichtbare Ordnung der Gerechtigkeit. Beide Fragen an Althusius können jetzt folgenderweise beantwortet werden. Ein Beginn aus dem Nichts oder aus einer absoluten Gleichheit ist ausgeschlossen und unmöglich. Die Gesellschaft beginnt immer aus den Unterschieden, welche das Ursprüngliche, das Wesentliche der Politik sind. Die politische Gemeinschaft ist daher schon immer da: Sie ist ewig und kennt eigentlich keinen Anfang. Sie w i r d dementsprechend nicht gegründet oder erfunden, sondern w i r d nur gefunden: Sie manifestiert sich. Indem sie zur Existenz kommt, offenbart sich die allgemeine Ordnung der Welt, deren Wirken einen grundsätzlichen Konflikt der Teile ausschließt. 55 Der Krieg aller gegen alle oder die Anarchie findet nämlich nur da statt, wo die Teile kein Ganzes ausmachen und keinen Unterschied anerkennen. V. Zwischenergebnisse über Subsidiarität, Souveränität und Ordnung 1. Subsidiarität und Regierung

M i t seiner Lehre der föderalen Gesellschaften zeigt Althusius einige wichtige Bedingungen des Subsidiaritätsprinzips. Wir können sie folgendermaßen verallgemeinern. Eine wirkliche Subsidiarität erfordert die Idee der Ordnung. M i t anderen Worten, das Prinzip der allgemeinen Ordnung ist dem Prinzip der Subsidiarität wesentlich. Die Subsidiarität kann eigentlich nur zwischen unabhängigen Teilen oder inkommensurablen Größen stattfinden, aber Rechte und Kompetenzen können unter autonomen Subjekten oder unter selbständigen Größen erst dann verteilt

55 Nur der grundsätzliche Konflikt muß dieser Gesellschaft fremd bleiben, wobei jene Unordnung zu verstehen ist, die keine Gesellschaft ermöglicht oder sie vollkommen zerstört. Der Widerspruch bleibt aber auch in der subsidären Gesellschaft des Althusius immer vorhanden, weil das Zustandekommen der Ordnung der Vermittlung der Menschen bedarf. Sie muß daher ständig mit den begrenzten Mitteln der Menschen gesucht werden, was zu Uneinigkeit, Konflikt und Krieg führen wird.

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werden, wenn diese an einer gemeinsamen allgemeinen Ordnung teilhaben, die ihnen vorangeht und die sie existieren läßt. Ein Gemeinwesen kann daher aus autonomen, subsidiären Kreisen erst dann entstehen, wenn ein gemeinsames Gefühl der Zugehörigkeit und eine natürliche Verteilung von Rechten und Kompetenzen i m voraus wirken. Dies impliziert, daß die politische Einheit mindestens ideell, in mente Dei, schon vorhanden ist, bevor sie realisiert wird. Die politische Ordnung vergegenwärtigt das, was vom ersten oder höchsten Subjekt vorgesehen wurde: von der göttlichen Vorsehung, der Entfaltung der Idee, dem ewigen Gesetz oder vom Sinn der Welt. Die allgemeine Regel der Subsidiarität lautet folgendermaßen: Wo die Teile subsidiär, d.h. selbständig sind, da muß eine allgemeine Gerechtigkeit wirken. Da die Elemente dieser Ordnung schon vorhanden sind, bevor sie in Verbindung treten, werden sie sich nicht im subjektiven Sinn konstituieren, indem sie gegenüber anderen gleichrangigen Subjekten ihr Recht beanspruchen. Dies geschieht im Schema der modernen Politik, die die Freiheit auf das Wollen gründet und das subjektive Recht aus einem Ausdruck des individuellen Willens herleitet. Dieser Wille erscheint letzten Endes als eine Behauptung des Unbestimmten und w i r d als das Wesenhafte des Individuums verstanden, das vor jeder Vermittlung mit dem Außen gilt, aber inhaltlos ist. Die Subjekte der modernen Politik, die vor/außer der Verbindung undefinierbar sind, bilden ihre Identität durch eine Verhandlung mit den anderen, indem sie in die Verbindung eintreten und sich in ihr durchsetzen. Da sie erst im gegenseitigen Verhältnis zur Differenz und Existenz kommen, sind ihre gegenseitigen Beziehungen konstruiert und künstlich. Die unabhängigen Elemente der vormodernen Politik sind dagegen Teile eines Ganzen, bevor sie irgend ein Verhältnis eingehen. Sie sind gegeben und nicht gesetzt. Ihre Ordnung ist weder zu verhandeln, noch kann sie durch Entscheidungen und Prozeduren erfunden werden: Da sie ewig wirkt, kann sie nur anerkannt werden, und ihre Elemente erhalten ihre Identität, indem sie die Ordnung bestätigen, die sie konstituiert. Diese logische Priorität setzt aber nicht voraus, daß die Ordnung vollkommen durchsichtig und dermaßen zugänglich ist, daß der Konflikt ausgeschlossen bleibt. Letzterer ist im Gegenteil immer im wesentlichen möglich und vorhanden, weil die Ungewißheit eine unentbehrliche Folge der menschlichen Natur ist. Aus dem Zusammenhang, daß die Ordnung notwendig w i r k t und gesucht werden muß, aber gleichzeitig nicht durchsichtig ist, folgt, daß der Konflikt wesentlich, notwendig und unvermeidlich ist. 5 6 56 Zu dieser Frage vgl. Scattola, Bellum, dominium, ordo: Das Thema des gerechten Krieges i n der Theologie des Domingo de Soto, in: Norbert Brieskorn und

Subsidiarität und gerechte Ordnung i n der Lehre des Althusius

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In diesem Rahmen ist keine Souveränität möglich: Souverän ist nämlich jene Herrschaft, die über das Gesetz absolut verfügt und keine Autorität neben ihrem Willen anerkennt. Da aber das ius symbioticum mit der göttlichen Ordnung identisch ist, steht es grundsätzlich keiner menschlichen Autorität, weder dem Magistrat noch dem Volk, zur Verfügung. Weder der König noch das Volk sind i n diesem Sinn souverän. 57 Unter unabhängigen Größen sollte man eher von Regierung reden, denn hier erscheint das politische Verhältnis als eine Tätigkeit, die unterschiedliche und autonome Teile im Hinblick auf das Gemeinwohl führt und sich auf die allgemeine Ordnung hin orientiert. Regierung w i r k t in der gegebenen Ordnung, mit ihr und durch sie. 58 2. Subsidiarität v. Souveränität

Subsidiarität und Souveränität sind entgegengesetzte Prinzipien. Subsidiär ist eine politische Ordnung, die von unten wächst und die Idee der allgemeinen Ordnung benötigt. Souveränität ist dagegen die Kompetenz der Kompetenzen oder die Gewalt, die über die untergeordneten Gesellschaften verfügt. Mit der Idee einer allgemeinen Ordnung ist sie durchaus nicht kompatibel: Sie ist vielmehr eine Antwort auf das Verschwinden der Ordnung und ist da nötig, wo kein ursprünglicher Unterschied wirkt. Um die Einheit der einzig möglichen Gesellschaft zu gewähren, verneint der moderne Staat die Existenz jeglicher objektiven Ordnung und verwandelt die Forderungen der Einzelnen in subjektive Ansprüche, die allgemeine Gültigkeit nur in dem Maße erlangen können, als sie von allen oder von einem Repräsentanten aller Subjekte anerkannt werden. 5 9 Markus Riedenauer (Hrsg.), Suche nach dem Frieden: Politische Ethik in der Frühen Neuzeit I, Stuttgart 2000, S. 119-137. 57 Vgl. Giuseppe Duso, Mandatskontrakt, Konsoziation und Pluralismus i n der politischen Theorie des Althusius, in: Giuseppe Duso, Werner Krawietz und Dieter Wyduckel (Hrsg.): Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Berlin 1997, S. 65-81, hier S. 80-81. Auch die Idee, die Ephoren seien „die Entscheidungsinstanz mit Legitimation und Autorität, die über den Ausnahmezustand zu entscheiden hatte" (Schmidt-Biggemann, S. 230) läßt sich nicht mit der Auffassung vereinbaren, daß die politische Ordnung nicht entschieden werden kann. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Althusius' politische Theologie, in: Dahm, Krawietz und Wyduckel (FN 46), S. 213-231, hier S. 227-231. 58 Zu diesem Begriff der Regierung vgl. Giuseppe Duso, Fine del governo e nascita del potere, in: Filosofia politica 6 (1992), S. 429-462, hier S. 436-443 und ders., Una prima esposizione (FN 48), S. 77-78. 59 Dies scheint der Punkt zu sein, an dem die Lehre des „subsidiären Staats" von Chantal Millon-Delsol die größten Schwierigkeiten aufweist. Die Autorin nimmt zwar wahr, daß das Subsidiaritätsprinzip dem modernen Individualismus widerspricht. Vgl. Millon-Delsol, L'État subsidiaire (FN 1), S. 7, 10 und 223-227. Sie stellt aber kein besonderes Verhältnis zwischen Vorhandensein einer übergeordneten politischen Gewalt, der Souveränität, und individualistisch säkularisierter Welt fest, und betrachtet den modernen Zusammenhang dieser Elemente als

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Das Subsidiaritätsprinzip kann keineswegs gleichzeitig mit der Souveränität bestehen: Wenn eine subsidiäre Gesellschaft von einem übergeordneten Prinzip der Souveränität gestattet wird, verliert sie ihre Autonomie: Sie ist nicht mehr subsidiär, sondern Untertan, denn sie erhält ihre Freiheit von oben, von einer anderen, höheren Instanz. Hier ergibt sich also eine Alternative: Entweder ist ein Gemeinwesen von unten, auf der Grundlage einer allgemeinen Ordnung zusammengesetzt oder w i r d es von oben durch einen konstituierenden A k t gegründet. I n letzterem Fall muß es immer ein politisches Subjekt vorhanden sein, das die Autonomie erteilt; und was ein souveränes Subjekt erteilen kann, das kann es auch entziehen. In diesem Sinn ist das Subsidiaritätsprinzip auch mit der Idee einer Konstitution im modernen Sinn unvereinbar, sofern diese das Produkt der Souveränität ist: Sie impliziert die Existenz einer konstituierenden Gewalt, die weiter wirkt, solange die entsprechende Verfassung besteht, und das eigentliche Prinzip der staatlichen Einheit ist. Eine konstituierende Gewalt kann freilich mehrere getrennte konstituierte Gewalten, Kreise, Gesellschaften ins Leben rufen; sie kann auch autonome Kreise begründen. Diese sind dennoch nur gegenseitig selbständig, hängen aber weiter von der konstituierenden Gewalt ab und sind also nur scheinbar subsidiär. Dieselbe konstituierende Gewalt, die mehrere untergeordnete Gesellschaften entstehen läßt, kann diese nämlich immer vernichten. 6 0 eine zufällige Begebenheit. Millon-Delsol benutzt in der Tat einen neutralen Begriff von pouvoir. Dieser sei eine Konstante der menschlichen Geschichte, die in verschiedenen Varianten erscheinen könne: i n einer ordnunggebenden, egalisierenden, ausführenden, also auch i n einer supplierenden Variante (S. 6-7). Subsidiarität und Herrschaft werden dadurch als ewige Bestandteile der Politik hypostasiert (S. 8-9), die i n der Geschichte i n unterschiedlichen Kombinationen hervortreten können, unter denen eine (die subsidiäre) gut ist, während die anderen nur mangelhaft die Aufgaben der Politik bewältigen können. Die politische Gewalt ist aber i m modernen Sinn erst dann wirksam und wird ihre Aufgaben, darunter auch ihre subsidiäre Pflicht, erst dann bewältigen, wenn sie über eine Welt von Individuen herrscht. Die Souveränität setzt also den modernen Individualismus voraus, und ihr Wirken verwandelt jede Gesellschaft i n eine Masse von atomisierten Menschen. Es wäre also vergeblich, von der modernen politischen Gewalt zu verlangen, daß sie sich subsidiär gegenüber anderen Gesellschaften verhält. 60 Die Subsidiarität läßt sich mit der Staatssouveränität erst dann verbinden, wenn sie zugibt, daß der Staat i m „Ernstfall" - wie Roman Herzog sich ausdrückt - über alle Mittel zur Sicherung der Existenz von der Gesamtheit und den Einzelnen verfügt. Da aber das Wirken von subsidiären Gesellschaften im „Normalfall" den Zweck der Souveränität nicht gefährdet, sondern ihn vielmehr befördert, kann der Staat sich selbst binden und das Entstehen von subsidiären Gesellschaften ermöglichen. Dies setzt aber voraus, daß die Entscheidung über das Eintreten von Ernst- bzw. Normalfall immer der souveränen Instanz, dem Staat, vorbehalten bleibt und daß diese also die Selbstbindung rückgängig machen darf, wenn sich die Umstände, die sie veranlaßten, verändert haben. Vgl. Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, (FN 10), S. 421-422: „Die Frage ist nur, wer über den »Ernstfall· und damit letztlich über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips überhaupt entscheidet; denn daß hier hierüber entschieden werden muß und nicht

Subsidiarität und gerechte Ordnung i n der Lehre des Althusius

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W e n n m a n sich also b e i der G r ü n d u n g einer F ö d e r a t i o n fragt, v o n w e l cher G e w a l t sie k o n s t i t u i e r t w e r d e n k a n n , setzt m a n e i n S u b j e k t voraus, das a l l e n p o l i t i s c h e n I n s t a n z e n überlegen ist u n d i h n e n i h r e K o m p e t e n zen z u t e i l t . 6 1 Das ist aber der Idee der S u b s i d i a r i t ä t zuwider.

V I . D i e Herstellung der politischen Ordnung, oder: Was lehrt uns Althusius? 1. Was lernt man von Althusius? Das P r i n z i p der S u b s i d i a r i t ä t setzt uns v o r das P r o b l e m der O r d n u n g , das folgendermaßen f o r m u l i e r t w e r d e n k a n n : D i e S u b s i d i a r i t ä t k a n n n u r da bestehen, w o die O r d n u n g w i r k t . Letztere ist aber genau das, was i n der M o d e r n e v e r m i ß t w i r d , d e n n der moderne Staat ist eine A n t w o r t auf die A b w e s e n h e i t der O r d n u n g oder ist eine rationale,

voluntaristische

u n d s u b j e k t i v e O r d n u n g , die sich als effektiver, stärker oder effizienter als die o b j e k t i v e O r d n u n g erwiesen hat. A l s k ü n s t l i c h e O r d n u n g w i r d er d u r c h eine gegenseitige A n e r k e n n u n g u n t e r G l e i c h e n gegründet,

denn

alle B ü r g e r s i n d i m Staat gleich, i n d e m alle auf denselben W i l l e n u n d dasselbe Recht angewiesen sind. W i l l m a n eine subsidiäre Gesellschaft g r ü n d e n , w i r d es also n o t w e n d i g , die allgemeine O r d n u n g w i e d e r h e r z u stellen. Diese muß aber so geschaffen sein, daß i n i h r alle Teile als u n a b hängige Elemente gelten u n d auf keine gegenseitige A n e r k e n n u n g u n t e r G l e i c h e n angewiesen sind. W e n n aber G o t t t o t ist, w i e k a n n er v o n d e n Menschen ins L e b e n z u r ü c k g e r u f e n werden? »erkannt' werden kann, hat oben sich eindeutig ergeben. Entscheidet der Staat, wann das Subsidiaritätsprinzip sein Tätigwerden erfordert und deckt, so bleibt seine Souveränität i n dem hier zugrundeliegenden Sinn unangetastet; das Subsidiaritätsprinzip hat dann aber auch seinen Zweck verfehlt, die Souveränität zu überwinden. Entscheiden die einzelnen sozialen Einheiten selbst über ihre Zuständigkeit, so ist zwar dieser Zweck erreicht [...], dafür aber das Ziel der Staatlichkeit aufgegeben" (S. 422). Das konsequente Wirken der Subsidiarität setzt daher voraus, daß man auf das souveräne Monopol der Gewalt verzichtet und auch die Frage nach der letztendlich entscheidenden Instanz aufgibt, denn die Ordnung der Subsidiarität läßt sich nicht entscheiden, sondern kann nur „erkannt" werden. Auch die Verteidigung des Subsidiaritätspostulats von Josef Isensee geht auf dieselbe Selbstbindung der souveränen Gewalt im normalen oder normierten Zustand zurück und setzt diesen letzteren als adäquate Bedingung für das Subsidiaritätsprinzip voraus. Vgl. Josef Isensee: Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, Berl i n 1968, S. 180-187: „Falls die Souveränität die Möglichkeit zur wirksamen Selbstbindung der Staatsgewalt ausschaltete, würde sie jede rechtsstaatliche Verfassunggebung, vor allem die Anerkennung von Grundrechten, von vorherein zunichte machen [...]. Das Grundgesetz aber hat sich für den Rechtsstaat entschieden [...]. Auf jeden Fall sieht das Grundgesetz die staatliche Souveränität als eine normativ verfaßte Macht an, als eine rechtlich gebundene Gewalt. Die Möglichkeit der Selbstbindung ist damit [...] gegeben" (S. 181). 61 Vgl. Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, München 1995, S. 4950.

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Was können w i r von Althusius in dieser Hinsicht lernen? Können wir ihm die Ideen der Politica methodice digesta entlehnen und sie auf unsere moderne Welt anwenden? Können w i r zum Beispiel den Föderalismus seiner alteuropäischen Gesellschaft der Europäischen Union anpassen? Wer diese Verwertung des frühneuzeitlichen Gedankenguts verfolgt, muß zuerst die Sprache des Althusius und der vormodernen politischen Lehre in unsere moderne Begrifflichkeit übersetzen. Zünfte existieren nicht mehr, und die ethisch-ökonomischen Unterschiede innerhalb des oikos - zwischen Mann und Frau, Herrn und Knecht - sind völlig unzeitgemäß. Die Idee der koinonia, die keine Trennung zwischen Ethik, Politik und Wirtschaft kannte, würde dann noch größere Schwierigkeiten bereiten, weil der moderne Begriff des Staats das Private vom Öffentlichen, das Politische vom Ökonomischen gründlich trennt. Dennoch, selbst wenn diese Reinigung gelangen könnte, und w i r den Grundkern der genossenschaftlichen Lehre unversehrt bewahren könnten, würden wir dann mit einer unüberwindbaren Schwierigkeit konfrontiert. Althusius entwickelte seine Lehre in einer Welt, in der eine allgemeine Ordnung der Gerechtigkeit wirkte. Um seiner Argumentation gerecht zu werden und sie nicht als rein ideologische Täuschung zu mißverstehen, müssen wir nicht bloß annehmen, daß er über die Existenz einer solchen Ordnung überzeugt war, oder daß er an sie glaubte; w i r müssen vielmehr denken, daß sie wirklich existierte. Sonst wird die politische Lehre des Althusius sinnlos; sie w i r d zu einem ideologischen Instrument im Dienst der Machtpolitik, und die ganze Politik wird zu ewiger Ausübung der Macht. 6 2 Die wahre Belehrung, wenn w i r Althusius lesen, lautet also folgendermaßen: Wenn w i r eine subsidiäre Gesellschaft aufbauen wollen, müssen w i r über eine allgemeine Ordnung verfügen. Das ist der Kern der Politica methodice digesta und im allgemeinen der frühmodernen politischen Lehre. 6 3 Wir müssen also eine gerechte Ordnung wollen. Dies ist aber das größte Paradoxon. Wir wohnen nicht in der Welt der Ordnung, sondern in der Welt des Willens. Die ganze politische Erfahrung der modernen 62 Dies ist die Gefahr von jenen Interpretationen, die Althusius und im allgemeinen die politischen Lehren des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts mit dem Begriff der Machtpolitik lesen. Vgl. Michael Behnen, Herrscherbild und Herrschaftstechnik in der Politica des Johannes Althusius, in: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 417-472. 63 Wenn die Verbindung zwischen Subsidiarität und allgemeiner Ordnung nur als eine Überzeugung im Kopf der Menschen verstanden wird, erscheint sie als eine politische Auffassung und letzten Endes als eine Ideologie. Man setzt nämlich voraus, daß die wahren Ursachen neben oder hinter den Überzeugungen der Menschen wirkten, und daß diese nur vom Gesichtspunkt des Interpreten entdeckt werden können. Der Standpunkt der Analyse beansprucht damit, die einzig gültige und wahre politische Lehre zu sein.

Subsidiarität und gerechte Ordnung in der Lehre des A l t h u s i u s 3 6 5

Menschen gründet auf dem ursprünglichen Element des Willens oder der Freiheit. Da aber die modernen Subjekte nach dem Willen frei und gleich sind, kann keine objektive Ordnung unter ihnen bestehen. Gerechte Ordnung und Wille sind entgegengesetzte Prinzipien, die sich gegenseitig vernichten. Kein Wille kann daher wollen, daß die gerechte Ordnung existiert. Mit anderen Worten, w i r wohnen i n einer säkularisierten Welt, in der Gott tot ist, und können nicht einfach wollen, daß Gott wieder geboren wird. Angenommen, ein Abschied vom modernen Staat wäre möglich, und dieser könnte von anderen Konstellationen des politischen Lebens ersetzt werden, so würde dies unabhängig von unserem Wollen geschehen. Nehmen wir aber an, daß dieser Fall sich ereignet, wie manifestiert sich dann die allgemeine Ordnung? Wie w i r d man sie erkennen? Geht man davon aus, daß die gerechte Ordnung der (Un)Ordnung des Willens, in der die modernen Menschen leben, wesentlich fremd ist, dann w i r d die Offenbarung der Ordnung immer zweideutig bleiben. Da der Wille sein Gegenteil, die Ordnung, aus sich selbst heraus nicht erzeugen kann, muß die Ursache der Ordnung außerhalb der Kette der kausalen Verbindungen liegen. Sie muß ein Ereignis sein. Wenn sich die Ordnung in diesem Rahmen manifestiert, w i r d sie dementsprechend als etwas Fremdes vorkommen. Wenn sie mit den Augen des Willens, d.h. durch die Kategorien des modernen Staats gesucht wird, bleibt sie vielmehr unsichtbar oder wird mißverstanden. Erst nach ihrer Erscheinung, ex post kann sie erkannt werden. Erst dann, wenn man schon in der neuen Ordnung ist, als diese sich manifestiert hat, w i r d sie als solche anerkannt; i m voraus kann sie keineswegs vorgesehen oder vorhergesagt werden. 2. Wie erkennt man die politische Ordnung an?

Wenn also eine subsidiäre und föderale Gesellschaft nach Existenz strebt, müssen w i r uns fragen, ob das neue Gebilde der Gerechtigkeit der allgemeinen Ordnung oder der bloßen Gewalt seine Existenz verdankt; ob es nur i n den Gesinnungen und subjektiv lebt, oder in der Sphäre der Gerechtigkeit und objektiv wirkt. Wenden w i r diese Fragen auf das Thema Föderalismus und Subsidiarität an und setzen w i r folgenden Fall. Eine föderalistische Gesellschaft strebt nach Existenz und w i l l sich durchsetzen; sie muß sogar um ihr Überleben (politisch, diplomatisch, militärisch) kämpfen. Ist das gerecht? Wir wissen, daß Gerechtigkeit im subsidiären und föderalistischen Sinn die Offenbarung einer (gerechten) Ordnung ist, die der modernen Souveränität fremd ist. Gut ist also eine föderalistische Gesellschaft, wenn sie die Gerechtigkeit manifestiert. Es könnte sich aber auch der Fall geben, daß diese Gesellschaft nicht der Gerechtigkeit, sondern der bloßen Gewalt ihre Existenz

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verdankt. Die vermeintliche Ordnung wäre dann nur ideologische Vortäuschung. Eine solche Gesellschaft wäre nur ein Versuch, etwas zustande zu bringen, das nicht existiert und nur in den Meinungen und Gesinnungen, also subjektiv, lebt, aber nicht in der Sphäre der Gerechtigkeit und objektiv wirkt. Wie können w i r die echte Gerechtigkeit erkennen und von der ideologischen Verfälschung unterscheiden? Welchen Maßstab der Gerechtigkeit sollen wir hier anwenden, wenn die regulierende Kraft der staatlichen Souveränität ausgeschlossen bleibt, da sich die neue Gesellschaft gerade gegen die Souveränität richtet? Wir müssen uns fragen, ob das neue Gebilde der Gerechtigkeit der allgemeinen Ordnung entspricht, aber indem w i r von der Souveränität absehen, können w i r nur ein subjektives Gefühl der Gerechtigkeit ausdrücken. Unser Anspruch, die wahre Gerechtigkeit zu besitzen, läuft daher ständig Gefahr, selbst immer als Täuschung und ideologische Fälschung entlarvt zu werden, die der reinen Subjektivität entspringt und sich nur mit Gewalt durchsetzen kann. Wir dürfen zwar glauben, daß eine Ordnung in unserer Gesellschaft wirkt; w i r können aber nicht entscheiden, ob dies nur ein Produkt unseres Willens, eine Überzeugung ist, oder ob es einer objektiven Wirklichkeit entspricht. Suchen w i r nach Zeichen einer neuen Epoche, dann müssen w i r gestehen, daß w i r die wahren Ursachen von den falschen Zeichen nicht unterscheiden können. Die Ordnung kann keineswegs an ihren Ursachen, sondern nur an ihren endgültigen Wirkungen erkannt werden, weil sie nicht verursacht oder erzeugt werden kann. Sie manifestiert sich; sie ist ein Riß im Gewebe der Kausalität. Wir betrachten die politische Geschichte und unsere Gegenwart immer aus einer begrenzten Perspektive, die uns ihren gesamten Sinn nicht erschließen wird. Kann der Föderalismus den Staat überwinden? Ist er eine (bessere) Alternative? Und ist eine Alternative überhaupt möglich? Oder ist der Horizont des modernen Staats ein Schicksal, dem wir in keiner Weise entgehen können? Ist dieser unsere einzige und letzte Möglichkeit, eine politische Existenz zu führen, ein politisches Leben, das auf die Freiheit des Willens gegründet ist, das keine ursprüngliche Ordnung zugibt, das die Gerechtigkeit nur als Recht zulassen kann und das der Souveränität bedarf? Sind Föderalismus und Subsidiarität nur ideologische Täuschungen, da keine Ordnung neben der künstlichen Einheit der Souveränität möglich sein w i r d und jede Gesellschaft, subsidiär oder nicht, immer die Herrschaft als letzt entscheidende Instanz benötigen wird, um nicht in ihren Elementen auseinander zu gehen? Oder ist die Subsidiarität eine wirkliche Alternative? Da zwischen Willen und Gerechtigkeit, Souveränität und Subsidiarität keine Verbindung besteht, werden w i r auf diese Frage nicht antworten

Subsidiarität und gerechte Ordnung i n der Lehre des A l t h u s i u s 3 6 7

können. Wir können nicht im voraus wissen, ob die Europäische Union die Erscheinung einer neuen Ordnung ist, ob die moderne Staatlichkeit in einer entscheidenden Krise geraten ist und durch eine durchaus neue politische Form ersetzt wird. Wir können nur hoffen, daß w i r vor einer echten Erscheinung der Ordnung sind, daß w i r an der Schwelle einer neuen Epoche stehen. Unsere politische Handlung ist also ein Wagnis: Wir können hoffen, daß gerade durch unser Handeln eine neue Ordnung zustande kommt und eine neue Zeit angeleitet wird. Das Dilemma zwischen subjektiver Überzeugung und objektiver Manifestation kann nicht in einem historischen Rahmen entschieden werden, sondern läßt sich nur in einer überhistorischen Dimension lösen. Sowohl die Bestrebungen derer, die das Neue bewillkommnen, als auch die Bemühungen derer, die dem Alten treu bleiben, laufen diese Gefahr und gehen dieses Risiko ein. Nur am Ende der Welt, vor dem Jüngsten Gericht, am Ende der Zeiten, in der Gesamtheit der Geschichte w i r d unser Handeln seine wahre Bedeutung erhalten.

VI. Subsidiarität als rechtliches und politisches Prinzip in der Europäischen Union

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 371 - 400 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBSIDIARITÄTSPRINZIP UND SOLIDARITÄTSPRINZIP ALS RECHTLICHES REGULATIV DER GLOBALISIERUNG VON STAAT UND GESELLSCHAFT DARGESTELLT A M BEISPIEL VON E U U N D WTO Von Christian Calliess, Saarbrücken I. Der untrennbare Zusammenhang zwischen Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip Die Aussage des Begriffs der „Subsidiarität" läßt sich dahingehend definieren, daß der kleineren Einheit der Vorrang im Handeln („Zuständigkeitsprärogative") gegenüber der größeren Einheit nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit zukommt. 1 Hierin liegt - trotz großer Abstraktionshöhe - der materielle Gehalt des (allgemeinen) Subsidiaritätsprinzips. 2 Der Subsidiaritätsgedanke w i r k t dabei - zumindest potentiell - in mehrere Richtungen: Zum einen passiv, als Abwehrrecht, das die kleinere Einheit, gegen unangemessene Eingriffe der größeren Einheit schützt. So werden die größeren Einheiten von sachlich nicht notwendigen Eingriffen i n die Bereiche der kleineren zurückgehalten. Diese begrenzende Funktion des Subsidiaritätsgedankens läßt sich als Riegelprinzip bezeichnen. Zum anderen läßt sich Subsidiarität aktiv, als Recht auf Beistand interpretieren. So gesehen ist die größere Einheit verpflichtet, den kleineren Einheiten durch Maßnahmen und Einrichtungen die Lebensmöglichkeiten zu schaffen, die Eigenverantwortlichkeit ermöglichen. Hier ließe sich von einem Prinzip der Hilfeleistungspflicht sprechen. 3 Der jeweilige Gestaltungseffekt wie auch der konkrete Inhalt des allgemeinen Subsidiaritätsprinzips hängen daher davon ab, i n welchem Kontext und im Hinblick auf welches Ziel es verwendet wird. Die ihm innewohnende Offenheit und Flexibilität machen das Subsidiaritätsprinzip zu einem „Relationsbegriff". 4 Sein relativer Charakter macht es anpassungsfähig und ermöglicht eine gleitende konkurrierende Kompetenzord1 Vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 1968, S. 71. 2 Vgl. Isensee (FN 1) S. 73. 3 Ebenso Pernice, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar Bd. II, 1998, Art. 23, Rn. 71. 4 Jestaedt, Arbeitgeber 1993, S. 725.

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nung, die von den jeweiligen konkreten Erfordernissen abhängt. 5 Das Subsidiaritätsprinzip benötigt mithin keine theoretische Grundlegung und enthält auch keine bestimmte Ideologie. Es läßt sich letztlich in den verschiedensten Lebensverhältnissen anwenden, solange nur die formalen Voraussetzungen eines mehrstufig strukturierten Systems und einer elastischen Kompetenzregelung gegeben sind, und eine gemeinsame Zielbezogenheit des Ganzen besteht. 6 Konkret bestimmen damit verschiedene formale Kategorien den potentiellen Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips 7 , die gleichzeitig als Voraussetzungen für seine Anwendung fungieren: - Verschiedene Einheiten müssen in einem gestuften und hierarchischen Über-/Unterordnungsverhältnis zueinander stehen, - sie müssen einen gemeinsamen Aufgabenkreis (konkurrierende Kompetenzen) haben und - sie müssen auf ein gemeinsames Ziel - das Gemeinwohl - bezogen sein. Aus jener gemeinsamen Aufgaben- und Zielbezogenheit ergibt sich die Solidarität der kleineren Einheiten im Hinblick auf das Ganze, die das Subsidiaritätsprinzip voraussetzt. Das Gemeinwohl entfaltet sich auf diese Weise im Solidaritätsprinzip einerseits und im Subsidiaritätsprinzip andererseits. Hierdurch ensteht ein SpannungsVerhältnis, das dem Subsidiaritätsprinzip immanent ist und bei seiner Auslegung zu berücksichtigen ist. Beide Prinzipien werden in diesem Spannungs Verhältnis einander zum gegenseitigen Korrektiv. Deutlich w i r d damit, daß zwischen dem Subsidiaritätsprinzip und dem Solidaritätsprinzip ein enger Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang wird auch i n der das Subsidiaritätsprinzip aufgreifenden und konkretisierenden katholischen Soziallehre 8 erkannt. Beide Prinzipien finden danach ihre Entfaltung im Zentralbegriff des „bonum commune". Das so bezeichnete Gemeinwohl w i r d dabei als Ziel, auf dessen Verwirklichung die Gemeinschaft angelegt ist, und dem die Glieder der Gemeinschaft verpflichtet sind, definiert. Diese Verpflichtung entspringt dem Solidaritätsprinzip. I n einem System solidarisch bedingter, jedoch konkurrierender Zuständigkeiten schützt das Subsidiaritätsprinzip die je5 Vgl. Isensee (FN 1), S.72, der hier von elastischer Subsidiarität in Abgrenzung zu starrer Subsidiarität spricht. 6 Isensee (FN 1), S. 71; Pernice, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar Bd. II, 1998, Art. 23, Rn. 71. 7 In Anlehnung an Isensee (FN 1), S. 71. 8 Vgl. ausführlich v. Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität, 1990, S. 44 ff. Insofern ist von Bedeutung, daß die Vorarbeiten zu beiden Prinzipien als Teil der päpstlichen Sozialenzyklen von demselben Personenkreis geprägt wurden; Millgramm, DVB1 1990, S. 740 (744).

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weils untere Einheit in der Verwirklichung des Gemeinwohls. 9 Der Gedanke des Gemeinwohls realisiert sich aber gleichzeitig i m Solidaritätsprinzip. Hieraus w i r d deutlich, daß die katholische Soziallehre, wie schon beim Subsidiaritätsprinzip, Grundsätze der Staatslehre mit der „Lehre vom Gemeinwohl" 1 0 übernommen hat. Letzterer zufolge ist es primär der Staat, der - auf Grundlage der Vorgaben und Ziele der Verfassung - dem Gemeinwohl gegenüber den Individual- und Gruppeninteressen Geltung verschafft. Er ist immer dann gefordert, wenn die Einzelnen und ihre Verbände die sozialen Probleme nicht oder nicht mehr zur überwiegenden Zufriedenheit bewältigen können. Vor allem hat er die Aufgabe, über den Ausgleich gegenwärtig artikulierter Interessen hinaus für die Zukunft vorzusorgen. 11 Der Aspekt der Solidarität stellt daher nicht von ungefähr auch eines der Strukturprinzipien dar, die den Föderalismus kennzeichnen 12 : Neben der Subsidiarität w i r d demgemäß auch die Kooperation zur Lösung gemeinsamer Probleme genannt. 1 3 Aufgrund dieser skizzenartigen Hinweise kann zunächst folgendes festgehalten werden: Das Solidaritätsprinzip gründet sich auf die gemeinsame Aufgaben- und Zielbezogenheit (Gemeinwohl) der verschiedenen Handlungsebenen und w i r d auf diese Weise zur Voraussetzung und zum Gegengewicht des Subsidiaritätsprinzips. Hieraus w i r d deutlich, daß das Subsidiaritätsprinzip nicht dazu verleiten darf, rein partikularistischen Einzelinteressen ohne Rücksicht auf das Ganze Vorschub zu leisten. Vielmehr bestimmen sich die konkreten Folgerungen aus dem Subsidiaritätsprinzip nach den Anforderungen des Gemeinwohls. Das Solidaritätsprinzip als Konkretisierung des Gemeinwohls w i r d folglich zum Korrektiv des Subsidiaritätsprinzips, indem es den Vorrang des integrierten Ganzen vor dem separierten Teil betont. Auf der anderen Seite ist das Subsidiaritätsprinzip jedoch wiederum Korrektiv des Solidaritätsprinzips, indem es dieses begrenzt und so dem Glied das Eigendasein im Ganzen sichert. 14

9 Millgramm, DVB1 1990, S. 744. 10 Hierzu ausführlich Isensee i n Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts Bd. III, 1988, § 57, Rn. 1 ff.; ferner Bull, NVwZ 1989, S. 801 (805); Link, W D S t R L 48 (1990), S. 7 (19 ff.); Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 75 ff.; vgl. auch Pieper, Subsidiarität, 1994, S. 94 ff.; Merten, DÖV 1993, S. 368 ff. n Isensee in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts Bd. III, § 57, Rn. 129; Bull, NVwZ 1989, S. 801 (805); ähnlich itess,WDStRL 48 (1990), S. 56 (89). 12 Schneider, in: Evers, Chancen des Föderalismus i n Deutschland und Europa, 1994, S. 79 (82 f.), der hierin ein Abgrenzungsmerkmal zum Regionalismus sieht; Pernice, The Columbia Journal of European Law, Vol. 2 (1996), S. 403 (407). 13 Vgl. Levi, The Federalist 1987, S. 97 (111). 14 Vgl. zum Ganzen ausführlicher Isensee (FN 1), S. 30 ff.; Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, 2. Auflage 1999, S. 185 ff.; Pernice, The Columbia Journal of European Law, Vol. 2 (1996), S. 403 (407 f.).

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II. Globalisierung und Überforderung des (National-)Staates Im Jahre 1995 warf ein amerikanisches Nachrichtenmagazin anläßlich des G7-Gipfels im kanadischen Halifax die Frage „Does Government Matter?" auf. Hintergrund war die These, daß sich die Wirtschaft - verstanden als ein „largely stateless web of cross-border corporate alliances" - aufgrund der sog. Globalisierung den nationalstaatlichen Regulierungsbemühungen im globalen Standortwettbewerb vergleichsweise problemlos entziehen könne. 1 5 Freilich ist der damit thematisierte, jedoch diffus bleibende Begriff der Globalisierung, insbesondere die Frage, ob es sich hierbei überhaupt um ein neues Phänomen handelt, je nach Standpunkt heftig umstritten. 1 6 Zumindest in der politisch-ökonomischen Debatte besteht inzwischen jedoch weitgehend Einigkeit darüber, daß es fünf - nicht trennscharf unterscheidbare - Begründungszusammenhänge gibt, die den besonderen Charakter des gegenwärtigen Globalisierungsprozesses prägen. 17 - Die dynamische Entwicklung des Welthandels: Auch wenn sich der Welthandel historisch immer schon in Zyklen entwickelte, so kann eine neue Qualität nicht nur in der mit dem schnellen Wachstum einhergehenden Dynamik und Vertiefung der Handelsbeziehungen, sondern vor allem in der Verschiebung vom intersektoralen (komplementären Handel zwischen den Branchen) zum intrasektoralen Handel mit substitutivem Charakter (z.B. in den Bereichen PKW, TV, HiFi, Computer etc.) festgestellt werden. Daraus resultiert eine verstärkte Konkurrenz in den Weltmarktbranchen, die durch die wachsende Vernetzung der Produktionsstandorte und die den sukzessiven Abbau von nationalen handelspolitischen Schranken und Steuerungsoptionen (Zölle, nichttarifäre Handelsmaßnahmen) im Rahmen des GATT und der WTO noch weiter verschärft wird. - Die starke Steigerung der Auslandsdirektinvestitionen: Im Zuge der gewachsenen Mobilität des Kapitals kommt es unter Umständen zum in der Standortdebatte der Bundesrepublik vielbeschworenen - sog. Export von Arbeitsplätzen in Niedriglohnländer. - Die Liberalisierung der internationalen Finanzmärkte: Die politisch gewollte Deregulierung der Geldmärkte führte zu hohen Zinselastizitäten, hohen Geldschöpfungsmultiplikatoren und zur Entwicklung 15 Vgl. Newsweek vom 26.6.1995, S. 34 ff. (36). Dazu der Beitrag von Wolf, in: Frech/Hesse/Schinkel (Hrsg.), Internationale Beziehungen i n der politischen Bildung, 2000, S. 118. 16 Dazu die Beiträge i n Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998. Instruktiv der Überblick bei Hoff mann, Aus Politik und Zeitgeschichte Β 23/ 99, S. 3 ff., sowie Beck (FN 16).

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privat betriebener Zahlungsverkehrssysteme mit gegenüber dem Produktionsprozeß relativ autonomen, hohen, aber auch risikobelasteten Renditen (Aktienmärkte, Derivatehandel etc.). In der Folge haben sich enorme, frei flottierende Finanz- und Spekulationsmassen gebildet, die zu exorbitant hohen Finanzumsätzen geführt haben. Parallel dazu haben sich die Möglichkeiten der Anleger erhöht, ganz plötzlich aus dem produktiven Bereich der Kapitalanlagen herauszugehen („Das Kapital ist scheu wie ein Reh"), worin wiederum eine wachsende Instabilität der weltweiten Geld- und Gütermärkte begründet liegt (Asienkrise). - Die Möglichkeit globaler Produktion (sog. Global Sourcing): Die rapide gesunkenen Transport- und Kommunikationskosten haben i n Verbindung mit den neuen Kommunikationsinstrumente (insbesondere Internet) neuartige Möglichkeiten für eine weltweit vernetzte Produktion eröffnet, von denen zunehmend nicht nur die transnationalen Konzerne, sondern auch bislang national orientierte Unternehmen Gebrauch machen (als Beispiel mag der inzwischen berühmt gewordene indische Ingenieur dienen, der via Internet in seinem Heimatland für Unternehmen in Europa Software entwickelt oder Blaupausenarbeiten ausführt). Unternehmen werden dadurch zwar nicht heimatlos, können sich auf diese Weise aber sektoral den nationalen Arbeitsmärkten und Sozialsystemen entziehen. - Die Staaten im Standort Wettbewerb: Mit der Internationalisierung der Finanzmärkte und den internationalen Anlagestrategien der sog. Global Players werden die Staaten immer mehr zu Wettbewerbern um dieses Kapital. Im Hinblick auf die weltwirtschaftliche Globalisierung mit immer mobileren Investoren konkurrieren die Regierungen der Staaten untereinander um investitionsfreundliche Standortbedingungen. Sie entwickeln eine angebotsorientierte Politik, die - unabhängig von vielfältigen postiven Impulsen - der latenten Gefahr ausgesetzt ist, sich dem Konkurrenzdruck auf Kosten von Gemeinwohlbelangen (Stichwort: Sozial- und Umweltdumping, Race to the Bottom) zu beugen. Die klassische Steuerung des freien Marktes durch Regulierung, seine im Allgemeininteresse liegende Flankierung durch gesetzliche Rahmenbedingungen gerät verstärkt unter den Druck, die Standort- sprich: Kostenfaktoren durch Deregulierung zu verbessern. Paradoxerweise hat die im Interesse wirtschaftlichen Wachstums gewollte Deregulierungspolitik der Staaten seit Mitte der siebziger Jahre (GATT, WTO, EU) die entscheidende Voraussetzung für den mit der Globalisierung verbundenen Souveränitätsverlust der Staaten geschaffen. Als Schlußfolgerung kann festgehalten werden, daß der Territorialstaat in die Defensive geraten ist. Im Zuge des grenzüberschreitenden Austau-

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sches von Waren, Dienstleistungen, Informationen usw. haben sich Handlungszusammenhänge zwischen nichtstaatlichen Akteuren herausgebildet, von denen viele - etwa im Bereich der grenzüberschreitenden Finanzgeschäfte oder Datentransfers - der staatlichen Kontrolle i n großem Umfange entglitten sind. Hinzu kommt, daß die nationalstaatliche Regelungskompetenz angesichts der grenzüberschreitenden Dimension vieler Regelungsprobleme - gerade im Bereich der staatlichen Uraufgabe der Gewährleistung von physischer Sicherheit (z.B. im Umweltbereich) auch rein tatsächlich und im wahrsten Sinne des Wortes an ihre Grenzen stößt. Letztendlich muß die überkommene hierachische Steuerung des Territorialstaates in einem Umfeld nicht-hierarchischer grenzüberschreitender Verflechtungen versagen. 18 Damit stellt sich die Frage, ob und wie sich der Staat in Reaktion auf die Herausforderungen der Globalisierung internationalisieren kann. III. Die Internationalisierung des Staates durch Internationale Organisationen 1. Einführung

Im Zuge der Globalisierung wandelt sich das Völkerrecht vom Koordinations- zum Kooperationsvölkerrecht. 19 Die zunehmende wirtschaftliche und politische Verflechtung spiegelt sich in der Grundpflicht der Staaten zur internationalen Zusammenarbeit, die in Art. 56 i.V.m. Art. 55 SVN, ergänzt um die Friendly -Relations-Declaration, eine partielle völkervertragsrechtliche Positivierung erfahren hat. 2 0 Dem korrespondierend werden dem Völkerrecht in Gestalt der sogenannten Gemeinschaftsaufgaben neue, weitere Regelungsbereiche erschlossen 21 . Unter Gemeinschaftsaufgaben werden solche Aufgaben verstanden, deren Erfüllung nicht nur im partikulären Interesse der einzelnen Völle Vgl. Scharpf, Politische Vierteljahresschrift 1991, S. 621 ff., 630; ferner Wolf (FN 15), S. 122 ff., sowie G. Calliess, Globale Kommunikation - staatenloses Recht, ARSP Beiheft 79, 2001, S. 61 ff., der in der Konsequenz weitgehend auf Prozesse gesellschaftlicher Selbstregulierung im Kontext prozeduralen Rechts setzt. 19 Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, S. 45 ff.; 61 f. S. auch Khan/Paulus, Gemeinsame Werte in der Völkerrechtsgemeinschaft?, in: Erberich/Hörster/Hoffmann/Kingreen/Pünder/Störmer (Hrsg.), Frieden und Recht, Stuttgart 1998, S. 217 (231). 20 GA Res. 2625 (XXV), 24.10.1970; viertes Prinzip; zu dieser Pflicht: Neuhold, in: FS-Verdross, 1980, S. 575 (mit Hinweisen zur Entstehungsgeschichte der Pflicht in der Declaration)·, Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, § 505; Wolfrum, International Law of Cooperation, EPIL I I (1986), S. 1242 (1243 ff.; unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten). 21 Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 1997, 1. Abschn., Rn. 20.

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kerrechtssubjekte liegt, sondern deren Erledigung durch die Völkerrechtsgemeinschaft insgesamt anzustreben i s t 2 2 . Zu ihnen zählen die internationale Friedenssicherung, die Förderung wirtschaftlicher und sozialer Wohlfahrt (insbesondere Entwicklung), die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Umweltschutz. Diese Gemeinschaftsaufgaben verlangen eine staatenübergreifende Solidarität.

2. Gemeinschaftsaufgaben und Solidaritätsprinzip

Unter Solidarität versteht man ganz grundsätzlich die Bereitschaft, die Angelegenheit anderer Personen oder Personengruppen als eigene Angelegenheit anzuerkennen. Zumeist, aber nicht notwendigerweise, ist damit die freiwillige Hinnahme von Nachteilen - oder der Verzicht auf Vorteile - zugunsten Dritter verbunden. Dies geschieht in der Annahme, daß die Begünstigten sich in ähnlicher Weise verhalten werden. M i t h i n entfaltet sich Solidarität i n der Regel in einem „Solidaritätsrahmen", in dem ein Geflecht sich überkreuzender aktueller oder potentieller Solidarität besteht. Konkret manifestiert sich Solidarität in den verschiedensten Formen. Finanzielle Umverteilung bildet nur eine Form der Solidarität, nicht aber ihren Inhalt. 2 3 Welche Rolle spielt nun aber der Staat für die Entstehung, die Fortentwicklung und die Erhaltung von Solidarität? Auf den ersten Blick scheint es, als wüchse die Solidarität mit der Nähe von Geber und Empfänger, aufgrund gemeinsamer Erfahrungen und Werte. Daher könnte man meinen, Solidarität setze einen von großer - im wesentlichen kultureller - Homogenität geprägten überschaubaren Raum voraus. 24 Jedoch beruht Solidarität in weitem Umfang auch auf Wissen und daher Information sowie Kommunikation. Die Möglichkeit dazu bietet innerstaatlich organisierte Kommunikation noch immer in besonderem Maße, doch verliert der Staat im Bereich der Kommunikation zunehmend seine Eignung als Referenz- und Verstärkungssystem. 25 Zwar kommt dem Staat im Rahmen der Konkretisierung von Solidarität noch immer eine bedeutende Rolle zu: „Das erprobte Gefäß einer Solidarität, die Opfer für einander erbringt, ist der Nationalstaat; auch 22 Vgl. Delbrück, Wirksameres Völkerrecht oder neues Weltinnenrecht? in: Dicke/Hobe/Meyn/Riedel/Schütz (Hrsg.), Die Konstitution des Friedens als Rechtsordnung, 1996, S. 318 (344, 348); Simma, From Bilateralism to Community Interest i n International Law, RdC 250 (1994-VI), S. 217 (235 ff.). 23 Vgl. zum Thema auch die Beiträge i n Isensee (Hrsg.), Solidarität i n Knappheit, 1996, S. 7 ff. 24 In diesem Sinne etwa Depenheuer, in: Isensee (FN 23), S. 41 ff. 25 Bieber, Solidarität und Loyalität durch Recht, Gesprächskreis Politik und Wissenschaft, hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1997, S. 15 f.

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dort aber ist Solidarität keine Selbstverständlichkeit, sondern bedarf stets der Erneuerung und Bewährung. Nur eine Gruppe, die sich als soziale Einheit empfindet, w i r d auf Dauer zur gegenseitigen Lastentragung bereit sein." 2 6 Jedoch sollte die Bedeutung des Staates als Solidaritätsrahmen nicht überschätzt werden. Denn seine Leistung für die Erhaltung von Solidarität liegt i n Zeiten der Internationalisierung nicht in seinen Merkmalen, die sich zumindest traditionell aus Kategorien der Abgrenzung definieren. 27 Abgrenzung und Solidarität schließen sich gegenseitig aus. Solidarität impliziert vielmehr auch die Überwindung von Schranken: Sie impliziert die Bereitschaft, die Sache des anderen zur eigenen Angelegenheit zu machen und die dem anderen wesentlichen Werte als respektwürdig und schutzbedürftig zu akzeptieren. Dies deshalb, weil Wechselbeziehungen mit der Umwelt heute zu den Existenzbedingungen stabiler sozialer Systeme gehören. Für Staaten gilt diese Tatsache um so mehr, als sie in einer interdependenten Welt immer offensichtlicher die Fähigkeit verlieren, autonom die Lebensgrundlagen ihrer Bürger zu sichern. 28 Dem Staat kommt im Rahmen der europäischen Integration allerdings eine zweifache neuartige Verantwortung bei der Gewinnung und Gestaltung von Solidarität zu: So sind die Pflichten des EGV (vgl. insbesondere Art. 10 EGV) zu solidarischem Verhalten i n erster Linie von den Staaten selbst zu erfüllen. Sie richten sich an alle Hoheitsträger. Letztere müssen an der Findung und am Schutz des gemeinsamen Interesses mitwirken. Dies erfordert eine prinzipiell andere Haltung als nur die Wahrnehmung der eigenen Interessen. Denn Solidarität ist nicht einfach ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Sie beruht auf der Anerkennung von Gemeinsamkeit. 29 Vor diesem Hintergrund kommt im „europäischen Verfassungsverbund" 30 dem Recht eine bedeutsame Rolle bei der Konsolidierung von Solidarität zu. Das Recht w i r d zur zentralen Voraussetzung für den Übergang zu einem auf Solidarität gegründeten Zusammenleben der Staaten und zur Legitimation eines europäischen Gemeinwohls jenseits desjenigen der Mitgliedstaaten. Diese grundlegende Bedeutung des Rechts für den Prozeß der europäischen Einigung hatte bereits Walter Hallstein mit der bekannten Begriffstrias: „Rechtsschöpfung, Rechtsquelle, Rechtsordnung" erkannt 3 1 . Dementsprechend w i r d immer wieder auf die Bedeutung des Rechts für den 26 So Tomuschat, in: FS Pescatore, 1987, S. 729 ff. 27 Grundlegend dazu Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 38 ff. 28 Bieber (FN 25), S. 17; ausführlich Hobe (FN 27), S. 93 ff. und anhand von Beispielen S. 183 ff.; instruktiv dazu - am Beispiel des Internet - auch G. Calliess (FN 18). 29 Bieber (FN 25), S. 17. 30 Pernice i n Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 23, Rn. 20 ff. 31 Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 33.

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„Zusammenhalt" der E U hingewiesen, die daher auch zutreffend als „Rechtsgemeinschaft" (vgl. auch Art. 6 I EUV) bezeichnet w i r d . 3 2 Mag die Entwicklung der Gemeinschaft zunächst immer auch auf politischen Entscheidungen basieren, so wurden diese jedoch i n Rechtsformen gegossen und in rechtsförmigen Verfahren beschlossen. Zumeist w i r d dieser Umstand als Mangel gedeutet und daher mit dem Zusatz „nur" versehen. Damit soll die Abwesenheit eines außerrechtlichen Substrats umschrieben werden: „Ohne Verträge keine Gemeinschaft, doch ohne Verfassung sehr wohl ein französischer - und erst recht ein britischer - Staat". 3 3 M i t Blick auf die besonderen Ziele der Gemeinschaft ist deren Begründung im Recht jedoch durchaus als eine Stärke anzusehen. Dementsprechend liegt die besondere Leistung der Integration i n der rechtlichen Verankerung der Verpflichtung auf gemeinsame Werte: Solidarität als Rechtsbegriff w i r k t ganz anders als entsprechende ethische oder politische Forderungen. Das gilt vor allem dann, wenn, wie im System der Gemeinschaft, Institutionen geschaffen wurden, denen die auf das Solidaritätsprinzip gestützte Verwirklichung der Vertragsziele und des in ihnen verkörperten europäischen Gemeinwohls aufgegeben ist. 3 4 Ganz i n diesem Sinne schafft die aus Art. 10 EGV fließende rechtliche Verpflichtung auf ein gemeinsames Interesse und auf wechselseitige Loyalität Maßstäbe für das Handeln staatlicher und gemeinschaftlicher Organe. Auch die Erreichung der Vertragsziele, die Annäherung an die i n den Verträgen bezeichneten Werte, erfolgt mit Hilfe des Rechts. Mit Blick auf das das Gemeinwohl konkretisierende Solidaritätsprinzip erfüllt das Recht eine bedeutsame wertgestaltende und wertsichernde Funktion. Denn bei der europäischen Rechtssetzung geht es letztlich um die Konkretisierung und Feinsteuerung der gemeinschaftlichen Solidarität.

3. EU-Binnenmarkt, wirtschaftliche Globalisierung und Solidaritätsprinzip

A m Beispiel des EU-Binnenmarktes läßt sich die skizzierte Entwicklung samt ihrer positiven wie negativen Folgen trefflich beschreiben. Wenn manchmal einseitig der Binnenmarkt als das wesentliche, bereits hinreichende Ziel der Gemeinschaft angesehen wird, so w i r d verkannt, daß die Freiheit des Marktes stets unter dem Vorbehalt flankierender Maßnahmen zum Schutz gemeinsamer Werte - oder jedenfalls gemeinsam anerkannter staatlicher Werte 35 stand. Diese ursprünglich rein staatli32 Zuleeg, ZEuP 1993, S. 475 (486 f., 495); ders., NJW 1994, S. 545 ff.; Pernice in Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 23, Rn. 59 ff. 33 Bieber (FN 25), S. 19. 34 Vgl. auch Bieber (FN 25), S. 19 f.

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chen, im „europäischen Verfassungsverbund" 36 aus gutem Grunde aber nunmehr europäisierten Gemeinwohlbelange reichen vom Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Umwelt bin hin zu sozialen Mindeststandards. Diese bedeutsame Entwicklung, die die derzeitige Entwicklung auf dem Weltmarkt im Zeichen der WTO zumindest in gewissem Umfang antizipiert, soll im folgenden etwas ausführlicher beleuchtet werden. Im Kontext der auf freiem Wettbewerb basierenden Industriegesellschaft entwickelte sich der moderne Staat mit seiner Fähigkeit, den im Markt konkurrierenden Unternehmen im Interesse des Gemeinwohls Mindestbedingungen der sozial- und umweltverträglichen Produktion vorzuschreiben. Jene historische Symbiose von marktwirtschaftlichem Wettbewerb und staatlicher Regulierung war im Nationalstaat trotz aller Konflikte und Defizite grundsätzlich funktionsfähig, solange es gelang, die den Unternehmen auferlegten Anforderungen i n gleicher Weise gegenüber allen Konkurrenten durchzusetzen und damit den Wettbewerb zu flankieren. Jedoch wurde und w i r d die Möglichkeit nationaler flankierender Maßnahmen zur Lösung von Konflikten und Defiziten der Marktwirtschaft in dem Maße eingeschränkt, wie die ökonomischen Zusammenhänge sich internationalisieren und miteinander verflechten. Dies gilt insbesondere für den Binnenmarkt, der durch den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital (vgl. Art. 14 EGV) definiert ist. Dessen Dynamik erhält durch die von den Einzelnen einklagbaren und vom EuGH weitgehend als Beschränkungsverbote interpretierten Grundfreiheiten zusätzlichen Antrieb. Denn i n der Folge w i r d jede nationale, die Wirtschaft flankierende und damit beschränkende Regelung einem europäischen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Das ursprüngliche Diskriminierungsverbot und der von ihm intendierte Grundsatz der Inländergleichbehandlung verwandelt sich als Beschränkungsverbot in einen Grundsatz der Freiheit von staatlichen Beschränkungen für EU-Ausländer. 37 Dort aber wo die nationalen Unternehmen auf Konkurrenten treffen, die nicht den gleichen Anforderungen unterworfen sind, können ansonsten verkraftbare Belastungen im Rahmen der marktwirtschaftlichen Flankierung zum existenzbedrohenden Nachteil werden. 3 8 Können die Nationalstaaten mit der Vollendung des Binnenmarktes aber nicht mehr die nationalen Produzenten vor dem Wettbewerb ausländischer Anbieter schützen, so wird neben dem wirtschaft35 Dazu Everling, EuR 1987, S. 214 ff. 36 Pernice in Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 23, Rn. 20 ff. 37 Dazu ausführlich Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999. 38 In Anlehnung an die dezidierte Analyse von Scharpf, Regionalisierung des europäischen Raumes, 1989, S. 13 ff. m.w.N.

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liehen Wettbewerb ein Wettbwerb der Ordnungssysteme in Gang gesetzt; ein Zustand, den „... man je nach Standpunkt entweder als neoliberalen Wunschtraum oder als ordnungspolitischen Alptraum charakterisieren könnte: Die ungehinderte Konkurrenz zwischen den Unternehmen zieht dann einen Wettbewerb der Standortbedingungen der Produktion und somit auch zwischen den dort jeweils geltenden Ordnungssystemen nach sich, bei dem am Ende der Markt und nicht mehr die Politik darüber entscheidet, welche Regelungen durchgesetzt bzw. weiter durchgehalten werden können." 3 9 Der Wettbewerb der Normen mag noch im Bereich der technischen Standards und Verfahren bei entsprechender Verbraucherinformation einen sinnvollen Deregulierungsschub darstellen, w i r d aber schon im Bereich der produktbezogenen Gesundheits-, Umweltund Verbraucherschutznormen fragwürdig und muß gegenüber den Schutzzwecken von Umwelt- oder Arbeitssicherheitsnormen vollkommen versagen. Denn der Markt ist zumindest im Hinblick auf letztere völlig unsensibel, da sie sich nicht auf das Produkt selbst, sondern ausschließlich auf das Produktionsverfahren beziehen. Daher kann hier ein Wettbewerb der Systeme zur Verdrängung der teureren durch die kostengünstigere Norm führen. Folglich erlaubt die unterschiedliche „Sensibilität des Marktes" 4 0 nur teilweise einen Wettbewerb der Normen. Dieser Einsicht hat nicht zufällig auch der EuGH in seiner zu den Grundfreiheiten entwickelten „Cassis-Rechtsprechung" - ebenso wie auch die EU-Kommission in ihrem sog. „Neuen Ansatz" - Rechnung getragen, indem das „Prinzip der gegenseitigen Anerkennung" keine Anwendung im Bereich von Gemeinwohlgütern, wie Gesundheitsschutz, Arbeitssicherheit, Verbraucherschutz, Umweltschutz etc. findet. 4 1 Deutlich wird hieran, daß die wirtschaftliche Integration zum Binnenmarkt ein zentrales Regelungs- und Harmonisierungsbedürfnis in den flankierenden Politikbereichen nach sich zieht und im Interesse des so verstandenen Gemeinwohls nach sich ziehen muß. 4 2 Aus dem Solidaritätsprinzip folgt vor dem so skizzierten Hintergrund, daß bestimmte Aufgaben zur Sicherung des Gemeinwohls durch die EG geregelt werden müssen und dieser daher eine entsprechende Kompetenz zustehen muß. Insofern verlangt das Solidaritätsprinzip eine gemeinsame Aufgabenregelung auf der zentralen europäischen Ebene. Diesem Aspekt haben die Praxis der EG und die neueren Vertragsänderungen jeweils Rechnung getragen. Den Gemeinschaftsverträgen liegt das Solidaritätsprinzip als 39 Vgl. Scharpf (FN 38), S. 16 m.w.N. 40 Scharpf (FN 38), S. 16 f. 41 Dazu Epiney, in: Calliess/Ruffert, Kommentar zu EUV und EGV 1999, Art. 28, Rn. 13 ff. 42 So auch Joerges in Wildenmann, Staatswerdung Europas?, 1991, S. 225 (228, 251 ff.); Scharpf (FN 38), S. 16 f.

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Leitprinzip in einer Vielzahl von Regeln und Mechanismen zugrunde. 43 So wurde etwa durch die Einheitliche Europäische Akte von 198 6 4 4 die Umweltpolitik ausdrücklich im EWGV verankert, die Sozialpolitik ausgebaut, sowie durch den E U V 4 5 der Verbraucherschutz, die Gesundheitspolitik und die Sozialpolitik 4 6 eingeführt bzw. verstärkt. Spätestens mit dem Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 ist das Solidaritätsprinzip daher konsequenterweise zu einem - neben dem Subsidiaritätsprinzip - weiteren Schlüsselbegriff der europäischen Integration geworden. 47 Deutlich wird diese Entwicklung an der Änderung des Art. 2 EGV, der die Aufgaben der Gemeinschaft benennt. Bis zum Jahre 1992 wurde hier von der Förderung der „engeren Beziehungen zwischen den Staaten" gesprochen. Der Vertrag von Maastricht verstärkte diese Passage, indem die Gemeinschaft nunmehr „die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten ... fördern" soll. Dementsprechend formuliert der Unionsvertrag i n Art. 1 I I I S. 2 EUV „Aufgabe der Union ist es, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten". Desweiteren betont der Unionsvertrag auch in seiner Präambel das Solidaritätsprinzip, bezieht es dort aber ausschließlich auf das Verhältnis zwischen den Völkern: „ I n dem Wunsch, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Tradition zu stärken". Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, daß der Begriff der „Solidarität" auch noch i n Art. 11 I I EUV im Zusammenhang mit der Gestaltung der gemeinsamen Außenpolitik erwähnt w i r d - dort allerdings nur im Bezug auf das Verhältnis zwischen Staaten und Union: „Die Mitgliedstaaten unterstützen die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geist der Loyalität und gegenseitigen Solidarität. Die Mitgliedstaaten arbeiten zusammen, um ihre gegenseitige politische Solidarität zu stärken und weiterzuentwickeln". Eine spezielle Ausprägung des Solidaritätsprinzips hat die EEA mit den Art. 130 a-e EWGV (jetzt Art. 158 bis 162 EGV) über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die sog. „Kohäsion", in den EWGV eingefügt. 48 Diese Vorschriften wurden mit dem Vertrag von Maastricht nochmals konkretisiert, ausgebaut und verstärkt. 4 9 Unterstrichen wird 43 Tomuschat, in: FS Pescatore , 1987, S. 733 ff. 44 Bulletin der EG 2/86, Beilage, dazu Hrbek/Läufer, EA 1986, S. 173 ff.; Glaesner, EuR 1986, S. 119 ff. 45 Dazu Bleckmann, DVB1 1992, S. 335. 46 Tomuschat, in: FS Pescatore, 1987, S. 736. 47 So - allein für das Solidaritätsprinzip - auch Bieber (FN 25), S. 7. 48 So auch Tomuschat, in: FS Pescatore, 1987, S. 741 ff. 49 Dazu ausführlich auch Marias, Legal Issues of European Integration Ν 2 1994, S. 85 (103 ff.).

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die Bedeutung des Solidaritätsprinzips dann nochmals i n Art. 2 1 1 . Spiegelstrich EUV, wonach zu den Zielen der Union auch die „Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts" zählt. Wesentliches Mittel zur Verwirklichung des Solidaritätsprinzips sind schließlich die Strukturfonds sowie der Kohäsionsfonds gem. Art. 161 I I EGV. Insofern besteht auf europäischer Ebene eine Art Finanzausgleich, mit dem sich „die ärmeren Länder einen deutlichen Beitrag für ihre Integrationsbereitschaft" erkaufen. 50 Eine besondere Ausprägung des Solidaritätsprinzips stellt Art. 10 (exArt. 5) EGV dar. 5 1 Aus dem i n Art. 10 (ex-Art. 5) EGV enthaltenen Solidaritätsprinzip resultieren verschiedene konkrete Pflichten, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann. 5 2 Erwähnt sei nur, daß die M i t gliedstaaten nach der Rspr. des EuGH die Pflicht trifft, „keine Maßnahmen zu ergreifen oder aufrechtzuerhalten, welche die praktische Wirksamkeit des Vertrags beeinträchtigen könnten" 5 3 . Eine Pflicht, die dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts korrespondiert. 54 Den Pflichten der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane zur „Solidarität" 5 5 und gegenseitigen „loyalen Zusammenarbeit" 5 6 - i n der Literatur häufig als Grundsatz der Gemeinschaftstreue bezeichnet 57 - liegt ebenfalls Art. 10 (ex-Art. 5) EGV zugrunde. Der hieraus folgende Grundsatz der Zusammenarbeit verbietet es etwa einem Mitgliedstaat, ein Verhalten an den Tag zu legen, das keinerlei Rücksicht auf die Interessen seiner Partner n i m m t . 5 8 Der hier zum Ausdruck kommende Aspekt des Solidaritätsprinzip knüpft speziell an das Verhalten der Mitgliedstaaten als Glieder der Union, die das gemeinsame Ganze verkörpert, an. I m Interesse des Ganzen, das sich freilich aus den Gliedern insgesamt zusammensetzt, w i r d dem einzelnen Mitgliedstaat auferlegt, seine eigenen Interessen nicht ohne Rücksicht auf die gemeinsamen Interessen durchzusetzen. Mithin w i r d hier eine Pflicht zu solidarischem Verhalten, mithin eine Art „prozedurale Solidarität" formuliert. so Hierzu Tomuschat, in: FS Pescatore, 1987, S. 741 ff.; grundlegend Hüde, Finanzausgleich, 1996, S. 481 ff. 51 Ebenso Marias, Legal Issues of European Integration Ν 2 1994, S. 85 (94 ff.); sowie schon Lasok, N. L. J. 1992, S. 1228 (1229): „principle of solidarity". 52 Insofern kann auf die ausführliche Darstellung anhand der Rechtsprechung des EuGH von Marias, Legal Issues of European Integration Ν 2 1994, S. 85 (94 ff.) verwiesen werden. Grundlegend zu Art. 5: Temple Lang, CML Rev. 1990, S. 645. 53 EuGH Slg. 1969, S. 1 (14). 54 EuGH Slg. 1964, S. 1251 (1269 f.). 55 EuGH Slg. 1973, S. 101 (115). 56 EuGH Slg. 1983, S. 255 (287). 57 Dazu der Überblick bei Kahl, Calliess/Ruffert, Kommentar zu EUV/EGV, 1999, Art. 10, Rn. 1 ff. 58 EuGH Slg. 1982, S. 1449 (1463).

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In der auf die Kompetenznormen gegründeten gemeinschaftlichen Rechtserzeugung manifestiert sich das Solidaritätsprinzip als „WerteAlltag", als mühsame Abwägung der Interessen und als Versuch, eine zu einem bestimmten Zeitpunkt allgemein anerkannte oder auch nur für alle akzeptable Wertvorstellung zu bestimmen. Denn für ein neues Rechtssystem, das sich nicht wie staatliche Rechtsordnungen auf ein die Werte ausdifferenzierendes Normensystem stützen kann, sondern erst jeden Wert neu auf europäischer Ebene konkretisieren muß, rührt jede Normsetzung in doppelter Weise an dem Grundkonsens über die Schaffung von Solidarität. Deswegen verlangt europäische Normsetzung - wie die oftmals langwierigen Verhandlungen insbesondere i m EG-Ministerrat samt ihrer „package deals" immer wieder deutlich werden lassen - ein wesentlich höheres Maß an Konsens unter den beteiligten Akteuren als innerstaatliche Gesetzgebung. Darüber hinaus w i r k t die europäische Normsetzung ordnend und konfliktentschärfend. Auf diese Weise trägt sie auch zum Anwachsen des Bewußtseins gemeinsamer Werte, zur Konsensverstärkung und damit zur Solidarität bei. 5 9 Schließlich entfaltet sich die wertstärkende Funktion des Rechts auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts als Rechtsordnung. Konstituierend für diese Eigenschaft ist die Art des Zusammenwirkens mit dem Recht der Mitgliedstaaten. Nach Art. 220 EGV sind Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtsschutz auf das gemeinsame Interesse i n Form der Wahrung „des Rechts" verpflichtet und in aus differenzierter Weise zwischen den Organen der M i t gliedstaaten und jenen der Union aufgeteilt. 60 Insbesondere die Gewährleistung des Rechtsschutzes für Staaten wie für einzelne durch die europäische Gerichtsbarkeit enthält ein erhebliches Potential für die Entfaltung gemeinsamer Werte. Beispielhaft kann hier die Rechtsprechung des EuGH zum Grundrechtsschutz und zum Rechtsstaatsprinzip genannt werden. 6 1 Auf diese Weise konstituiert und gestaltet Recht gemeinsame Werte. Mindestens eine Voraussetzung muß allerdings hinzutreten, wenn sich die beschriebene Wirkung entfalten soll: Recht muß als solches anerkannt und befolgt bzw. durchgesetzt werden. Wird das Gemeinschaftsrecht nicht befolgt, dann wanken schnell die Fundamente der Gemeinschaft. Angesichts begrenzter Sanktionsmöglichkeiten steht und fällt das Gemeinschaftsrecht mit seiner Beachtung durch die M i t gliedstaaten. Das betrifft nicht nur Staaten, vertreten durch die jeweiligen Regierungen, sondern auch Gerichte, bis hin zum Verfassungsge-

59 Vgl. Bieber (FN 25), S. 21. 60 Dazu der Überblick bei Pernice in Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 23, Rn. 59 ff. m.w.N. 61 Dazu Hofmann, in: ders./Marko/Merli/Wiederin, Rechtsstaatlichkeit i n Europa, 1996, S. 321 ff.

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rieht, Behörden, hinab bis zur Gemeindeverwaltung, wie auch die staatlichen Parlamente. 62 Ganz in diesem Sinne hat auch der EuGH in seinem „Schlachtprämien-Urteil" aus dem Jahre 1973 63 eine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Solidarität mit folgenden Worten umschrieben: „Der Vertrag erlaubt es den Mitgliedstaaten, die Vorteile der Gemeinschaft für sich zu nutzen, er erlegt ihnen aber die Verpflichtung auf, deren Rechtsvorschriften zu beachten. Stört ein Staat aufgrund der Vorstellung, die er sich von seinen nationalen Interessen macht, einseitig das mit der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verbundene Gleichgewicht zwischen Vorteilen und Lasten, so stellt dies die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor dem Gemeinschaftsrecht in Frage ... Ein solcher Verstoß gegen die Pflicht der Solidarität, welche die Mitgliedstaaten durch ihren Beitritt zur Gemeinschaft übernommen haben, beeinträchtigt die Rechtsordnung der Gemeinschaft bis in ihre Grundfesten." Demnach verletzen Rechtsverstöße durch einzelne Staaten in einer Gemeinschaft, die nicht über das Instrument des „Bundeszwangs" (Art. 37 GG) verfügt, die Solidarität. Denn die Bereitschaft, gemeinsames Recht auch dann anzuwenden, wenn es von der Mehrheit in einem Staat als nachteilig empfunden wird, ist eine der Erscheinungsformen zwischenstaatlicher Solidarität. Sie fällt weniger auf als finanzielle Transfers, ist aber ungleich bedeutsamer für den Zusammenhalt der Gemeinschaft. 64 Vor diesem Hintergrund können drei Ebenen eines europäischen Wertesystems, in dessen Rahmen eine Wechselwirkung zwischen Recht und Solidarität stattfindet, unterschieden werden. Zuvorderst umfaßt - wie ausführlich dargelegt wurde - die normative Ausgestaltung der das europäische Gemeinwohl verkörpernden Ziele von EG und Union sowie ihre Umsetzung durch Rechtsakte im gemeinschaftlichen Gesetzgebungsverfahren konkrete Ausprägungen des Solidaritätsprinzips. 6 5 Desweiteren bildet das Solidaritätsprinzip im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten die Voraussetzung für die Existenz des so entstandenen Gemeinschaftsrechts. Nur wenn ein Mitgliedstaat bereit ist, eine in der Gemeinschaft gesetzte Norm anzuerkennen und zu befolgen, kann man überhaupt von Recht sprechen. Den Testfall der Anerkennung bildet nicht jene Norm, die auf ausdrücklichen Wunsch des Staates erlassen wurde, sondern jene, gegen die seine Vertreter im Rat gestimmt haben 62 Bieber (FN 25), S. 21 f. 63 E U G H S l g . 1 9 7 3 , S .

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64 Bieber (FN 25), S. 24. 65 Bieber (FN 25), S. 24 f.

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und die möglicherweise die Hinnahme von Nachteilen impliziert. In derartigen Situationen finden sich die Mitgliedstaaten häufig. Sie werden zumeist mit sog. „package deals" entschärft, die die potentielle Solidaritätsbereitschaft mit Hilfe aktueller Kompensation zu entlasten suchen. Nur insoweit, als ein Staat bereit ist, fortlaufend die zur Befolgung einer Gemeinschaftsnorm nötige Grundsolidarität aufzubringen, befindet man sich überhaupt i n einem gemeinsamen Rechtsraum. Und schließlich trägt das Recht aufgrund seiner Eigenschaft als gemeinsame Rechtsordnung zur Entwicklung von Solidarität bei. Dies zum einen dadurch, daß man sich in einem rechtlich und nach gemeinsamen Regeln geordneten Raum befindet. Indem man sich darauf verlassen kann, daß auch die anderen Akteure sich den Regeln gemäß verhalten werden, w i r k t dies vertrauensbildend. Desweiteren gebietet die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Rechtsordnung eine fortwährende Verständigung über die als Werte formulierten Ziele und Grundlagen des Verbandes. Dies erfordert die Bereitschaft, überkommene Wertvorstellungen des eigenen Rechtssystems i m gemeinsamen Interesse i n Frage zu stellen. Auch darin steckt eine solidarische Leistung. Setzt man das solchermaßen konkretisierte, notwendig zentralisierend wirkende Solidaritätsprinzip zum Subsidiaritätsprinzip in Bezug, so entsteht ein Spannungsverhältnis von erheblicher Tragweite. 66 In ihm verwirklicht sich i m Ergebnis das gemeinsame, europäische und nationale Gemeinwohl, wie es sich i n den Zielen der Verträge bzw. in den Zielen der jeweils in Frage stehenden Gemeinschaftspolitik konkretisiert. Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip werden einander i n diesem Spannungsverhältnis zum gegenseitigen Korrektiv. Das so skizzierte Spannungsverhältnis zwischen beiden Prinzipien ist bei Anwendung und Auslegung des Subsidiaritätsprinzips zu berücksichtigen. 67

4. WTO, wirtschaftliche Globalisierung und Solidaritätsprinzip

Ähnliche, wenngleich zur Zeit (noch) weniger weit reichende Entwicklungen sind derzeit auf der globalen Ebene zu beobachten. I m Rahmen der Weltwirtschaftsordnung 68 kommt der WTO als institutionelle, verfah66 Dies meint wohl - mit Blick auf Art. 5 EGV (ohne vom Solidaritätsprinzip zu sprechen) - auch Pescatore , FS Everling Bd. II, 1995, S. 1071 (1087 f.). Unzutreffend ist aber - wie später noch zu zeigen sein w i r d - seine Schlußfolgerung, daß i m Kollisionsfalle „Art. 3b unweigerlich am Grundsatz des Art. 5 zerschellen" müsse. 67 Hierauf weist auch Lasok, N. L. J. 1992, S. 1228 (1229) hin, wenn er schreibt: „ I f subsidiarity joins solidarity ..., the Community legislator w i l l have to measure his power against it and the Court of Justice w i l l aquire another ground for the control of legality i n the Community."

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rensmäßige und materielle Grundlage eines liberalen Ordnungskonzepts entscheidende Bedeutung zu. Seit dem erfolgreichen Abschluß der „Uruguay"-Runde im Jahre 1993, der Unterzeichnung des Übereinkommens zur Errichtung der WTO 1994 69 , sowie der nachfolgenden Gründung der WTO als organisatorischem Dach der Säulen GATT 1994 (Freier Warenverkehr), GATS (Freier Dienstleistungs verkehr) und TRIPS (Schutz des geistigen Eigentums) im Jahre 1995, lassen sich zumindest „makroökonomische" Aspekte einer auf der internationalen Ebene gewährleisteten Wirtschaftsfreiheit feststellen. Betrachtet man Organisationsstruktur und Entscheidungsprozeß der WTO sowie die Mechanismen zur Durchsetzung der Ziele des WTO-Übereinkommens 70 , dann w i r d die Tendenz deutlich, die Rechte und Pflichten der WTO-Mitglieder als i m vollen Sinne rechtliche Vorgaben zu verstehen. Vor diesem Hintergrund wird mit Blick auf das Grundübereinkommen über die WTO einschließlich der multilateralen Handelsübereinkommen von einer ansatzweisen „Welthandelsverfassung" gesprochen 71 . In der Folge werden den grundlegenden Prinzipien der WTO, etwa der Nichtdiskriminierung, der Reziprozität und einigen anderen, dem Handels Wettbewerb verpflichteten Grundsätzen 72 verfassungsähnliche Funktionen zugesprochen. Anders als den Grundfreiheiten im Gemeinschaftsrecht entspricht diesen jedoch keine einklagbare subjektive Berechtigung des Einzelnen, da sie nach allgemeiner Meinung - zumindest bislang 7 3 - nicht unmittelbar anwendbar sind. 7 4 Dennoch sind die rechtlichen Grundlagen für einen freien globalen Markt gelegt worden. Denn die Staaten verlieren die Möglichkeit, unilateral Maßnahmen mit handelsbeschränkender Wirkung zur Durchsetzung national definierter Gemeinwohlbelange zu ergreifen. Auch wenn z.B. unilaterale Umweltschutzmaßnahmen - wie im Streitschlichtungsverfahren der WTO der Appellate Body entgegen dem erstinstanzlichen Panel mit Blick auf Art. X X GATT im „Shrimps- and TurtleFall" entschied - in der WTO/GATT-Rechtsordnung nicht per se verbose Dazu der Überblick von Wolfrum,

in: R. Schmidt, Öffentliches Wirtschafts-

recht, Besonderer Teil Bd. 2, 1996, S. 546 ff.; ferner Hobe (FN 27), S. 248 ff. 69 Ausführlich dazu Stoll, ZaöRV 1994, S. 241 (245 ff.). 70 Stoll, ZaöRV 1994, S. 241 (257 ff.). 71 So Oppermann, RIW 1995, S. 919 (925); Langer, Grundlagen einer internationalen Wirtschafts Verfassung, S. 17 ff. und S. 85 ff. 72 Langer, Grundlagen einer internationalen Wirtschaftsverfassung, S. 84 ff.; Petersmann, Constitutional Functions, S. 210 ff. 73 Zu ersten Tendenzen im WTO-Streitbeilegungsverfahren Ohlhoff, EuZW 1999, S. 139 ff. 74 Dazu Reinisch, EuZW 2000, S. 42 (43 f.); Cottier, CMLRev. 1998, S. 325 (341 ff., 367); T. Stein, EuZW 1998, S. 261 (263 f.); Wolfrum, in: R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil Bd. 2, S. 560 f.; ferner Hahn, in: Calliess/Ruffert, Kommentar zu EUV/EGV, 1999, Art. 133, Rn. 55 f. und - mit Blick auf das Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht - Rn. 69 ff.; ausführlich Mavroidis, Journal of International Economic Law 1998, S. 1 ff.

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ten sind, so sind sie doch i m Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der völkerrechtlichen Kooperationspflicht rechtfertigungspflichtig. 75 Dem Solidaritätsprinzip korrespondierende Tendenzen zu einer Staatenkooperation mit dem Ziel, internationale Gemeinwohlbelange zu sichern, sind - wenngleich auch noch zaghaft - auf globaler Ebene zu beobachten. Dort wo die WTO ihren wirtschafts- und wettbewerbspolitischen Zielen entsprechend (Stichwort: liberale Welthandels Verfassung) tarifäre und nichttarifäre Handelsbeschränkungen abbaut und in der Folge Handel und Dienstleistungen liberalisiert und dereguliert, entstehen - wie vorstehend skizziert wurde - Lücken, die die Staaten nicht ohne Verstoß gegen WTO-Recht schließen können. Es bedarf in diesen Fällen, ebenso wie im EU-Recht, einer hochgezonten Re-Regulierung der flankierenden Politiken auf der internationalen Ebene. Mangels einer entsprechenden Kompetenz der WTO (bzw. mangels einer Art Weltregierung) kann diese Kompetenz nur durch andere existierende bzw. neu zu gründende Internationale Organisationen erfolgen. Erste Ansätze zu dahingehenden Entwicklungen lassen sich im gegenwärtigen Völkerrecht bereits feststellen. Ein prominentes und aktuelles Beispiel hierfür ist die notwendige Flankierung des Welthandelsrecht der WTO durch das Umweltvölkerrecht. 7 6 Freilich fehlt es hier (noch) an mit der EU vergleichbaren, tiefen organisatorischen Strukturen und Kompetenzen zur w i r k samen Flankierung des globalisierten Marktes. 7 7 5. Schlußfolgerungen

Festzuhalten bleibt vor diesem Hintergrund, daß der Staat den skizzierten, mit der Globalisierung verbundenen Autonomie- und Souveräni75 Vgl. hier nur Tietje, EuR 2000, S. 285 ff. m.w.N. 76 s. von Bogdandy, Internationaler Handel und nationaler Umweltschutz: Eine Abgrenzung im Lichte des GATT, EuZW 1992, S. 243; Charnovitz, The World Trade Organization and the Environment, YIEL 8 (1997), S. 98; Diem, Freihandel und Umweltschutz in GATT und WTO, 1996; Esty, Greening the GATT: Trade, Environment and the Future, 1994, Grämlich, GATT und Umweltschutz - Konflikt oder Dialog? Ein Thema für die neunziger Jahre, AVR 33 (1995), S. 131; Jackson, World Trade Rules and Environmental Policies: Congruence or Conflict?, Washington and Lee L. Rev. 49 (1992), S. 1227; Orrego Vicuna, Trade and Environment: New Issues Under International Law, in: Liber Amicorum Günther Jaenicke, 1998, S. 701; Petersmann, International and European Trade and Environmental Law after the Uruguay Round, 1995; Schoenbaum, International Trade and Protection of the Environment: The Continuing Search for Conciliation, AJIL 91 (1997), S. 268; Streinz, Die Verwaltung 31 (1998), S. 449 (476 ff.); Weiher, Nationaler Umweltschutz und Internationaler Warenverkehr, 1997, S. 116 ff.; Wolfrum, in: Schmidt (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, BT 2, 1996, § 15, S. 535, Ziff. 133 ff. sowie insbesondere zur organsisationsrechtlichen Seite Schmidt/Kahl, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Band II, 1998, § 90, Rn. 157 ff. 77 Palmer, New Ways to Make International Environmental Law, AJIL 86 (1992), S. 259 (260: „The Institutional Gap").

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tätsverlust nur durch ein grenzüberschreitendes Regieren (International Governance), das sich auf funktional oder territorial bestimmte Räume jenseits der einzelstaatlichen Zuständigkeiten richtet, kompensieren kann. Mit der Kooperation in Internationalen Organisationen sowie der damit verbundenen gegenseitigen Einschränkung staatlicher Autonomie und Souveränität werden gemeinsam Handlungsfähigkeit und Problemlösungskompetenz wiederhergestellt. Mit anderen Worten, gewinnt der Staat durch die Kompetenzverlagerung auf Internationale Organisationen im Zuge der Globalisierung verlorene Autonomie gegenüber den sich ihm entziehenden gesellschaftlichen Akteuren zurück. Der Globalisierung der Gesellschaft folgt also die Globalisierung des Staates. Auch wenn es zwar an einer globalen Internationalen Organisation, die den Weltmarkt nicht nur dereguliert, sondern auch global re-reguliert fehlt, so gibt es doch ein von den Staaten geschaffenes Netzwerk von vielfältigen Spezialorganisationen, die die Aufgabe der Flankierung des von der WTO garantierten Weltmarktes übernehmen könnten.

IV. Die Föderalisierung der Staatenwelt durch Internationale Organisationen Mit der vorstehend beschriebenen, im Zuge der Globalisierung zur Erhaltung staatlicher Handlungsfähigkeit notwendigen Übertragung von staatlichen Kompetenzen auf Internationale Organisationen ist eine Entwicklung verbunden, die mit Blick auf das Referenzgebiet der EU als „Integrationsprozeß" beschrieben w i r d . 7 8 Auf Grundlage der klassisch-staatswissenschaftlichen Sicht bedeutet Integration Vergemeinschaftung der politischen Entscheidungsfindung und deren Institutionalisierung. I n das Zentrum der Betrachtung rücken dabei zum einen die Anzahl und die Wichtigkeit der in die gemeinsame Entscheidungsfindung einbezogenen Politikbereiche und der dabei jeweils angewandte Entscheidungsmodus. 79 Besonders weit fortgeschritten ist der Integrationsprozeß danach, wenn verbindliche Entscheidungen mit Mehrheit getroffen werden können. Des weiteren läßt sich Integration als gemeinsames Bewußtsein, mithin aus einer empirisch zu ermittelnden sozialpsychologischen Perspektive, die stark auf Meinungsumfragen rekurriert, verstehen. 80 Schließlich kann man den Begriff der Integration über den Grad der gesellschaftlichen Verflechtung, mithin am 78 Frei, Integrationsprozesse, in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität Europas, 1985, S. 113 (114). 79 Lindberg/Scheingold, Europes Would-Be Polity, Englewood Cliffs 1970, S. 69 ff.; Haas, The study of regional integration, in: Lindberg/Scheingold (Hrsg.), Regional Integration: Theory and Research, Cambridge 1971, S. 3 (29 ff.).

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Kontakt zwischen den in diesen Prozeß einbezogenen Menschen, anknüpfend an grenzüberschreitende Wirtschaftsbeziehungen, Personenbewegungen und Informationsströme, definieren: Je größer der Umfang solcher Transaktionen ist, desto weiter ist die Integration - i m Sinne von Verflechtung und Interdependenz - fortgeschritten. 81 Diese reinen Beschreibungen von Integration werden in der Sozialwissenschaft durch Integrationstheorien ergänzt, die über fördernde und hemmende Einflußgrößen im Integrationsprozeß Auskunft geben sollen. Nach der föderalistischen Theorie schreitet die Integration in dem Maß voran, i n dem einzelne Staaten bestimmte Aufgaben nicht mehr allein bewältigen können und sie daher auf die nächsthöhere Gemeinschaft übertragen. I m Zentrum steht hier die institutionelle Dimension der Integration: Bestehenden oder zu schaffenden supranationalen Institutionen werden - entsprechend dem Grundgedanken des Subsidiaritätsprinzips Aufgaben und Zuständigkeiten übertragen. 82 Die Theorie des klassischen Funktionalismus basiert auf der Hypothese des „Spillover-Effekts": Jener „Überlauf-Effekt" bezeichnet einen Prozeß, im Zuge dessen die Mitglieder eines Integrationsvorhabens einsehen, daß die Zusammenarbeit auf einem speziellen Sachgebiet zwangsläufig nach der Zusammenarbeit auf anderen Gebieten r u f t . 8 3 Fallen die Zollschranken, entsteht ein Binnenmarkt, dann müssen die Herstellungs- und Qualitätsnormen sowie die Wettbewerb s verzerrenden flankierenden Politiken harmonisiert werden. Die neofunktionalistische Theorie entwickelt diesen Ansatz weiter, indem sie über die funktionale Zusammenarbeit hinaus weitere Einflußgrößen einbezieht. Die Wichtigsten sind insofern die nationalen Interessengruppen, die sich zur Förderung ihrer auf den gemeinsamen Markt bezogenen Interessen zu europäischen Interessenverbänden zusammenschließen und auf nationaler wie europäischer Ebene Druck i n Richtung auf mehr Integration ausüben. 84 Das soziokausale Integrationsmodell schließlich setzt die beschriebenen Integrationsdimensionen i n eine Beziehung zueinander: Das Netz immer dichter werdender Transaktionen mit seinen Vorteilen löse in den nationalen Gesellschaften einen sozialpsychologischen Lernprozeß hin zu einem europäischen Bewußtsein

80 Dazu Frei (FN 78), S. 116 f. 81 Deutsch, Nationenbildung - Nationalstaat - Integration, 1972, S. 133 ff.; Puchala, International transactions and regional integration, in: Lindberg/Scheingold (Hrsg.), Regional Integration: Theory and Research, Cambridge 1971, S. 128 ff. 82 Levi, Recent Developments i n Federalist Theory. The Federalist 1987, S. 97; Pinder, European Community and nation-state: a case for a neo-federalism, International Affairs 1986, S. 41 ff. 83 Mitrany, A Working Peace System, London 1966, S. 62 ff.; ders., The Functional Theory of Politics, 1975. 84 Haas (FN 79), S. 3 ff.

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aus, in dessen Folge ein Bedürfnis nach Institutionalisierung der Gemeinschaft entsteht. 85 Die skizzierten Theorien vermögen den Prozeß der Integration von Staaten in Internationale Organisationen und die damit verbundene Dynamik zu beschreiben und zu konkretisieren. Sie erklären, insbesondere mit dem Gedanken der „Spillovers", eine Entwicklung, die getragen von einem konsensfähigen Kern, der inneren Dynamik der Sachlogik folgend, zunehmend staatliche Kompetenzen auf eine Internationale Organisation überträgt. 8 6 Die Folge der Integration ist zunächst eine Föderalisierung der Staatenwelt dergestalt, daß sich über der staatlichen Ebene ein immer dichter werdendes Netz Internationaler Organisationen etabliert. Im Zuge dessen werden vormals staatliche Kompetenzen im Sinne des Solidaritätsprinzips gemeinsam und damit zentralisiert in der Internationalen Organisation ausgeübt. Die Kompetenzen der Internationalen Organisation werden auf diese Weise mit denen ihrer Mitgliedstaaten auf vielfältige Weise verflochten. Als berühmtes Beispiel mag hier wiederum die EU dienen. Zu Recht w i r d mit Blick auf diese, freilich mit vergleichsweise weitreichenden Kompetenzen sowie einer hohen Integrationsdichte ausgestattete supranationale Organisation von einem „supranationalen Föderalismus" gesprochen. 87 Mit diesem Begriff w i r d die klassische Verbindung zwischen nationalstaatlichem Territorium und politischer Herrschaft überwunden und dem Charakter der EU als einem einheitlichen Gemeinwesen mit Territorium und Bürgerschaft Rechnung getragen, ohne dabei die von Polyzentrismus, Fragmentiertheit und Interdependenz geprägte Struktur des bestehenden Mehrebenensystems zwischen EU und Mitgliedstaaten zu vernachlässigen, welches im Begriff des Verfassungsverbunds 88 zum Ausdruck kommt. Diesen Verfassungsverbund bilden die sechzehn vom Geltungsgrund her unabhängigen Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten. Aber erst die Summe der Kompetenzen und Kompetenzausübungsregeln der erfaßten Verfassungsordnungen, die mit der sie überspannenden Verfassungsordnung der E U verflochten sind, ergeben die normativen Grundlagen der Hoheitsgewalt auf dem erfaßten Territorium. 8 9 85 K. W. Deutsch, The Analysis of International Relations, Englewood Cliffs 1968, S. 194; ders. /S. A. Burrell, Political Community and the North Atlantic area, New York 1957. 86 Siehe dazu auch Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 19 f.; grundlegend S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 132 ff., 330 ff. und 380 ff. 87 Ausführlich dazu υ.Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 10, 61 ff. 88 Hierzu Pernice (FN 30).

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V. Kompetenzverflechtung und Solidaritätsprinzip versus Kompetenzbegrenzung und Subsidiaritätsprinzip 1. Globalisierung und Kompetenzverflechtung

Im Zuge dieser Entwicklung zum Mehrebenensystem zwischen Staaten und Internationalen Organisationen stellen sich bei weiter zunehmender Integrationsdichte verstärkt Kompetenzfragen. Die wenigsten Staaten können im Rahmen der erforderlichen zwischenstaatlichen Abstimmungsprozesse in den entsprechenden Organen der Internationalen Organisationen noch autonom agieren. Auch vermeintlich „starke" Staaten sind mit Blick auf die im Zuge der Globalisierung wachsende Anzahl nur noch kooperativ zu bewältigender Verflechtungsprobleme auf die Mitwirkung anderer Staaten angewiesen. 90 In gewissem Sinne handelt es sich hierbei um ein paradoxes Ergebnis: Um im Kontext der Globalisierung die staatliche Handlungsfähigkeit mittels kollektiv bzw. kooperativ verbesserter Handlungskapazitäten i n Internationalen Organisationen wiederherzustellen, müssen die Staaten ein Stück ihrer Souveränität und damit einen Teil ihrer unilateralen Handlungsautonomie aufgeben. In der Konsequenz liegt es, daß die Handlungsspielräume der Staaten durch Internationale Organisationen im Umfang der jeweils übertragenen Kompetenzen eingeschränkt sind. Dies gilt um so mehr als sich die Kompetenzen Internationaler Organisationen im Rahmen der erwähnten Integrationsprozesse und der ihnen korrespondierender dynamischen Auslegung von deren Vertragsrecht (erinnert sei an den völkerrechtlichen Auslegungsgrundsatz des Effet Utile und an die Lehre von den Imlied Powers 91 ) fortentwickeln und ausweiten können. Jedoch stellt sich die Problematik der Kompetenz Verflechtung und -begrenzung nicht nur in vertikaler Richtung zwischen Internationalen Organisationen und ihren Mitgliedstaaten. Vielmehr resultiert aus dem entstehenden Netzwerk Internationaler Organsiationen auch die Problematik horizontaler Kompetenzverflechtungen zwischen mit ähnlichen Aufgaben betrauten Internationalen Organisationen. 92 Auch hier ist eine Kompetenzbegrenzung bzw. genauer: eine Kompetenzabgrenzung erforderlich. I m folgenden soll jedoch nur die vertikale Kompetenzverflechtung untersucht werden, da nur in dieser Konstellation das Subsidiaritätsprinzip - entsprechend seiner eingangs dargestellten Anwendungsvoraussetzungen - eine Rolle bei der Kompetenzbegrenzung spielen kann.

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Vgl. dazu ν . Bogdandy (FN 87), S. 11 ff. Vgl. Wolf (FN 15), S. 124, 126 ff. und Scharpf (FN 18), S. 621 ff. Dazu Calliess (FN 14),S. 72 ff. Dazu Ruffert, AVR 38 (2000), S. 129 ff.

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2. Kompetenzbegrenzung und Subsidiaritätsprinzip Das Beispiel der EU

Das Subsidiaritätsprinzip w i r d im Hinblick auf die EU ganz überwiegend unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung gemeinschaftlicher Kompetenzen diskutiert. 9 3 Dabei geht es nicht um die Kompetenzverteilung, bei der das Subsidiaritätsprinzip nur eine politische Leitlinie 9 4 sein kann, sondern um die Frage der Kompetenzausübung im Hinblick auf durch die Gemeinschaftsverträge bereits verteilte und damit vorgegebene Kompetenzen. In Art. 5 hat das Subsidiaritätsprinzip seine für den gesamten Vertrag verbindliche, allgemeine Definition erhalten. Mit dem „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung" in seinem Abs. 1, dem Subsidiaritätsprinzip i.e.S. in Abs. 2 und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in Abs. 3 enthält Art. 5 eine „europarechtliche Schrankentrias" 9 5 für die Kompetenzausübung der Gemeinschaft. Bevor die Gemeinschaft handeln kann, müssen demnach drei Fragen positiv beantwortet werden können: Nach Abs. 1 die Kann-Frage, nach Abs. 2 die Ob-Frage und nach Abs. 3 die Wie-Frage. Der gesamte Art. 5 verkörpert mithin das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip. Sein Abs. 2 enthält jedoch das Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinne. Abs. 2 grenzt die Zuständigkeitsbereiche der E U einerseits und der Mitgliedstaaten andererseits sowohl positiv als auch negativ ab. Aufgrund des Negativkriteriums ist ein Tätigwerden der Gemeinschaft nur möglich, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können". Kumulativ und kausal hierzu - dies folgt aus der Formulierung „und daher" - t r i t t das i n Anlehnung an Art. 130r Abs. 4 EWGV formulierte Positivkriterium, wonach die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen „wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können" müssen. Es ist also - worauf auch Nr. 5 des Subsidiaritätsprotokolls des Vertrages von Amsterdam explizit hinweist - eine zweistufige Prüfung vorzunehmen. 96 93 Dazu Pieper, Subsidiarität, 1994, S. 208 ff.; zweifelnd aber Oechsler, Stärkung der zentralen Instanzen durch das Subsidiaritätsprinzip, in: Scholz (Hrsg.), Deutschland auf dem Weg i n die EU: Wieviel Eurozentralismus - wieviel Subsidiarität?, 1994, S. 150. 94 Constantinesco, Subsidiarität: Zentrales Verfassungsprinzip für die politische Union, integration 1990, S. 165 (173); Grabitz, Subsidiarität im Gemeinschaftsrecht, in: Vogel/Oettinger (Hrsg.), Föderalismus i n der Bewährung, 1992, S. 149; Wilke /Wallace, Subsidiarity: Approaches to Power-Sharing in the European Community, RIIA Dicussion Papers N27, 1990, S. 5 f.; Pieper, Subsidiarität, S. 230 ff.; Calliess (FN 14), S. 62 ff. 95 So die treffende Bezeichnung von Merten, in: ders. Die Subsidiarität Europas, 1993, S. 78.

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Nach den Vorgaben unter Nr. 5 des Subsidiaritätsprotokolls, das Art. 5 EGV inhaltlich konkretisiert, ist mit Blick auf das Negativkriterium zu prüfen, ob die angestrebte Maßnahme transnationale Aspekte hat, die durch die Mitgliedstaaten nicht zufriedenstellend geregelt werden können. Es soll darauf ankommen, ob Maßnahmen der Mitgliedstaaten allein oder das Fehlen gemeinschaftlicher Maßnahmen im Widerspruch zum Vertrag stehen (Korrektur von Wettbewerbs Verzerrungen, Vermeidung verschleierter Handelsbeschränkungen, Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts) oder die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen. 97 Demgegenüber vertritt der EuGH, der bislang noch kein Urteil auf Art. 5 EGV stützen mußte, tendenziell eine großzügigere Auffassung. 98 I n einem obiter dictum führte er aus: „Sobald der Rat also festgestellt hat, daß ... die i n diesem Bereich bestehenden Bedingungen ... harmonisiert werden müssen, setzt die Erreichung dieses Ziels durch das Setzen von Mindestvorschriften unvermeidlich ein gemeinschaftsweites Vorgehen voraus . . . " . " Ähnlich lauten auch die Schlußanträge des Generalanwalts Léger 1 0 0 , der ausführt: „Da ein Ziel der Harmonisierung vorgegeben ist, können die vom Rat ergriffenen Maßnahmen zur Erreichung dieses Zieles schwerlich als eine Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes kritisiert werden." Statt auf die inhaltlichen Ziele der konkreten Richtlinie, die Abs. 2 meint, stellt Generalanwalt Léger einfach auf das abstrakte Ziel der Harmonisierung ab und kommt so zu dem Ergebnis, daß dieses besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann. Wie sollten auch die einzelnen Mitgliedstaaten eine gemeinschaftsweite Harmonisierung erreichen können? 1 0 1 Wenn diese Aussagen so zu verstehen ist, daß sich aus der einfachen Feststellung des Rates die Unvermeidlichkeit einer Gemeinschaftsmaßnahme ergibt, die offenbar auch nicht mehr ex post durch den Gerichtshof kontrolliert werden kann, so laufen die Prüfkriterien des Abs. 2, dem Subsidiaritätsprinzip im eigentlichen Sinne, entgegen ihrem Zweck leer. Überzeugend erscheint es demgegenüber, mit dem Negativkriterium die Frage nach einer Überforderung der Mitgliedstaaten zu stellen, wobei 96 So auch die h.M.; vgl. nur Calliess (FN 14), S. 104 ff. m.w.N. 97 Vgl. Schlußfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Edinburgh, Teil A Anlage 1, abgedruckt bei Calliess (FN 14), S. 391 ff. 98 EuGH, Rs. C-84/94, Slg. 1996, S. 1-5755, Rn. 46 ff.; Rs. C-233/94, Slg. 1997, S. 1-2405, Rn. 22 ff. 99 EuGH, Rs. C-84/94, Slg. 1996, S. 1-5755, Rn. 46 f. 100 GA P. Léger, Schlußantr. zu EuGH, Rs. C-84/94, Slg. 1996, S. 1-5755, Ziff. 129 f. ιοί Ausführlich dazu Calliess, Urteilsanmerkung zu Rs. C-84/94, EuZW 1996, S. 757.

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dann die aktuelle Sach- und Rechtslage in den Mitgliedstaaten neben einer hypothetischen Abschätzung von deren Möglichkeiten und Fähigkeiten zum Erlaß künftiger Maßnahmen zu prüfen ist. Da Abs. 2 von den „Mitgliedstaaten" im Plural spricht, muß in zwei oder mehr Mitgliedstaaten das objektive Leistungspotential - nicht der subjektive Leistungswille - mit Blick auf das Ziel der in Betracht gezogenen Maßnahme tatsächlich unzureichend sein. Insofern ist dann vergleichend zu untersuchen, ob etwaige transnationale Aspekte zufriedenstellend von den Mitgliedstaaten allein geregelt werden können oder mangels gemeinschaftlicher Regelungen Kernziele des Vertrages oder Interessen anderer Mitgliedstaaten durch „spill overs" erheblich bzw. spürbar beeinträchtigt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die nationalen Maßnahmen keineswegs einheitlich sein müssen, um als ausreichend angesehen werden zu können. Erforderlich ist ebenfalls nicht, daß die Aufgabe tatsächlich schon von den Mitgliedstaaten wahrgenommen wird. Es genügt bereits, daß sie hierzu imstande sind. Nach Nr. 4 und 5 des Subsidiaritätsprotokolls muß hinsichtlich des Positi vkriteriums der Nachweis erbracht werden, daß Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene aufgrund ihrer Größenordnung oder ihrer Auswirkungen im Verhältnis zu einem Tätigwerden auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile erbringen würden. Der Begriff „besser" müsse (wie schon der Begriff „nicht ausreichend" des Negativkriteriums) auf qualitativen oder - soweit möglich - auf quantitativen Kriterien beruhen. 1 0 2 Die Kommission betrachtet das Positivkriterium als Test des „Mehrwerts" eines Handelns der Gemeinschaft gegenüber einem Handeln der Mitgliedstaaten. Dabei soll eine Bewertung der Effektivität des jeweiligen Gemeinschaftshandelns mit Blick auf die Größenordnung und den grenzüberschreitenden Charakter eines Problems sowie die Folgen eines Verzichts auf gemeinschaftliche Maßnahmen erfolgen. Jene Bewertung müsse dann positiv ergeben, daß eine Maßnahme auf EU-Ebene wegen ihrer breiteren allgemeineren Wirkung dem angestrebten Ziel näher komme als ein individuelles Handeln der Mitgliedstaaten. 1 0 3 Aufgrund des Wortlauts „Umfang" ist auf die Art, Größe und Schwere des jeweils zu lösenden Problems abzustellen sowie auf die Frage, ob mehrere oder alle Mitgliedstaaten spürbar von ihm betroffen sind. Insofern enthält der transnationale Aspekt ein quantitatives Element. Auch das Kriterium der „Wirkungen" hat einen transnationalen Bezug. Zu betrachten ist dabei aber die Effizienz der in Betracht gezogenen Maßnahme im Hinblick auf das angestrebte Ziel. Insoweit bekommt der 102 Schlußfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Edinburgh, Teil A Anlage I, abgedruckt bei Calliess (FN 14), S. 391 ff. 103 Kommissionsdokument SEC (92) 1990 final, S. 10.

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transnationale Aspekt ein qualitatives Element. Durch das Wort „besser" w i r d sodann das Erfordernis eines Vergleichs in das Zentrum der Prüfung gerückt. Insofern ist also ein wertender Vergleich zwischen zusätzlichem Integrationsgewinn und mitgliedstaatlichem Kompetenzverlust vorzunehmen. Danach sind die Gemeinschaftsbefugnisse dort nicht voll auszuüben, wo der zusätzliche Integrationsgewinn minimal, der Eingriff in die verbliebenen Zuständigkeitsbereiche der Mitgliedstaaten jedoch beträchtlich i s t . 1 0 4 Insofern sind folgende Aspekte zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen: Zunächst sind Kosten und Nutzen der Problemlösung auf den verschiedenen Handlungsebenen sowie die negativen Effekte einer „Nulloption" bei einem Verzicht auf ein Tätigwerden der Gemeinschaft zu prüfen. Des weiteren ist auch der von der Kommission angeführte „europäische Mehrwert" einer gemeinschaftsweiten Regelung in die Abwägung mit einzubeziehen, da das Positivkriterium die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme im Blickfeld hat. 3. Das Solidaritätsprinzip als Korrektiv des Subsidiaritätsprinzips im Recht der EU

Das, wie gesehen, untrennbar mit dem Subsidiaritätsprinzip verbunden Solidaritätsprinzip steht mit diesem unter zwei Gesichtspunkten in einem SpannungsVerhältnis. Zum einen begründet das Subsidiaritätsprinzip allgemein einen Handlungsvorrang der dezentraleren Entscheidungsebene i n einem mehrstufigen System. Insofern soll es vom Auslegungsaspekt der „Bürgernähe" und „Gouvernanzoptimierung" her betrachtet differenzierte, der örtlichen Situation möglichst angepaßte dezentrale Lösungen für politische Probleme ermöglichen. 105 Demgegenüber spricht das Solidaritätsprinzip für eine Kompetenzausübung durch die EU. Es hat folglich gerade im Hinblick auf das Ziel der Kohäsion eine zentralistische Wirkung. Denn die europäische Lösung w i r d beim Schutz von Gemeinwohlgütern zumeist zu einer Harmonisierung durch Gemeinschaftsrecht führen. Der so gekennzeichnete Konflikt w i r d durch die Tatsache verstärkt, daß eine zentrale gemeinschaftsrechtliche Maßnahme aufgrund ihres Vorrangs bestehende dezentrale Regelungen verdrängt und in ihrem Anwendungsbereich den Erlaß neuer, nachfolgender dezentraler Regelungen sperrt. 1 0 6 Vorrang und Sperrwirkung sind einerseits notwendige Konse104 Ress, Kultur und europäischer Binnenmarkt, 1991, S. 48 f. 105 Calliess, in: in: Calliess/Ruffert, Kommentar zu EUV/EGV, 1999, Art. 1 EUV, Rn. 27 ff. 106 Hierzu Wegener, in: Calliess/Ruffert, Kommentar zu EUV/EGV, 1999, Art. 220, Rn. 18 ff. sowie Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen, 1994.

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quenz der europäischen Integration und finden ihre analoge Entsprechung in föderal organisierten Staaten. Diese Konsequenz ist für viele Politikbereiche relativ unproblematisch, für andere aber angesichts der Heterogenität der Ausgangsbedingungen in der EG problematisch, wenn eine zentrale europäische Regelung - unter Mißachtung der verschiedenen Bedürfnisse - Mitgliedstaaten und Regionen ein verbindliches „Korsett" überstülpt. Dieses „Korsett" kann unter Effektivitätsgesichtspunkten für die politische Problemlösungsfähigkeit ein erheblicher Nachteil sein und insofern i n Widerspruch zum Aspekt der Bürgernähe und Gouvernanzoptimierung, aber auch zum Vorrang der dezentralen Handlungsebene, mithin zum Subsidiaritätsprinzip treten. Insoweit mag die Umweltpolitik als Beispielsfall für das Spannungsverhältnis zwischen Solidaritätsprinzip und Subsidiaritätsprinzip dienen: Die Einsicht, daß die Lösung der meisten gravierenden Umweltprobleme unserer Zeit über die Grenzen einer Region oder eines M i t gliedstaates hinausgeht und eine europäische, wenn nicht gar internationale Anstrengung verlangt, ist schon fast zu einem Allgemeinplatz geworden. Überdies kann allein die EG in einem auf internationalen Wettbewerb ausgerichteten Wirtschaftsystem die „poltische Bremse" lösen, die nationalen Umweltschutz unter dem Stichwort „Wettbewerbsnachteil" blockiert. Schließlich läßt sich mit der europaweiten Regelung auch eine Art ökologischer Mehrwert erzielen, indem ein Umweltstandard nicht nur für einen Staat, sondern für alle Mitgliedstaaten und damit gewissermaßen für das „Ökosystem EU" verbindlich festgeschrieben wird. Jedoch befindet sich die zentrale EG-Umweltpolitik, ähnlich wie andere Politiken der EG, in einem Dilemma. Zum einen findet europäischer Umweltschutz häufig mit großer zeitlicher Verzögerung und dann oftmals auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner statt. Überdies sind die Ausgangsbedingungen i n den Mitgliedstaaten und ihren Regionen in bezug auf ihre ökonomische Entwicklung, ihre geografische Lage, ihre Besiedlungsdichte, die ökologischen Verhältnisse und das Umweltbewußtsein der Bevölkerung viel zu unterschiedlich, als daß die Umweltprobleme Europas nach einheitlichen Konzepten gelöst werden könnten. Mit jedem Aufsteigen auf eine höhere Regelungsebene werden in der Regel inhomogenere Umwelten gebildet. Ein Konfliktpotential zwischen dem Bedarf an zentralen Regelungen hierfür steht das Solidaritätsprinzip - und den Vorteilen dezentraler Regelungen - hierfür steht das Subsdiaritätsprinzip - eröffnet sich damit in den Fällen, in denen die Handlungsspielräume der dezentralen Ebenen durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und seine Sperrwirkung eingeengt werden.

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Aus dem so beschriebenen Spannungsverhältnis zwischen Solidaritätsund Subsidiaritätsprinzip geht hervor, daß Art. 5 EGV sich einer einheitlichen, allgemeingültigen und damit starren Interpretation entzieht. Vor diesem Hintergrund erscheint es gerechtfertigt, eine differenzierte Interpretation des Subsidiaritätsprinzips i.e.S. zu entwickeln, mit dem Ziel, das oben beschriebene Spannungsverhältnis zu lösen und so zu einer weiteren Konkretisierung des Art. 5 I I EGV beizutragen. Folglich könnte bei der Auslegung des Art. 5 I I EGV zwischen einer „Subsidiarität im konservativen Sinne" und einer „Subsidiarität im progressiven Sinne" unterschieden werden. „Konservativ" steht für eine Subsidiarität, die sich allein durch ihre begrenzende Wirkung definiert. Man könnte insofern auch von einer Subsidiarität im klassischen Sinne sprechen. Das Solidaritätsprinzip erfordert hier für den bestimmten Teil eines Politikbereichs eine zentrale Aufgabenerledigung (Art. 5 I I EGV: Ziele ... besser). Im übrigen erscheint eine dezentrale Aufgabenerledigung hinreichend oder sogar zwingend (Art. 5 I I EGV: Ziele ... ausreichend). Das Subsidiaritätsprinzip übernimmt hier eine „Scherenfunktion", indem es im Sinne eines „Entweder-Oder" darüber entscheidet, auf welcher Ebene eine konkurrierende Kompetenz in welchem Umfang ausgeübt werden soll. Zur Beantwortung dieser Frage ist das Prinzip der praktischen Konkordanz anzuwenden. Die Beweislast liegt insofern bei der Gemeinschaft. Die Auslegung des Art. 5 EGV im Sinne der konservativen Subsidiarität stellt damit sicher, daß den Mitgliedstaaten entweder - durch einen gänzlichen Verzicht auf eine Gemeinschaftsregelung (das „nicht ausreichend "-Kriterium ist bereits nicht erfüllt), oder - durch eine Begrenzung der Regelungsbreite (praktische Konkordanz im Rahmen des Art. 5 I I EGV), oder - durch eine Begrenzung der Regelungstiefe (Mittelhierachie i m Sinne des Art. 5 I I I EGV), der größtmögliche Handlungsspielraum verbleibt, indem Vorrang und Sperrwirkung des Gemeinschaftsrechts auf ein möglichstes Minimum beschränkt werden. I m Unterschied zur konservativen Subsidiarität mit ihrer „Weichenfunktion" ordnet die progressive Subsidiarität die Ausübung einer konkurrierenden Kompetenz gerade nicht abschließend einer Entscheidungsebene zu. Vielmehr handeln alle Entscheidungsebenen, die sich im Hinblick auf ein gemeinsames (Vertrags-) Ziel in ihren Maßnahmen ergänzen und die im Hinblick darauf kooperieren. Die progressive Subsidiarität kommt als Interpretationsansatz nur für bestimmte Politiken in Betracht. Es handelt sich um jene, denen ein dynamisches Element inne-

Subsidiaritätsprinzip und Solidaritätsprinzip

399

wohnt, die mithin von ihrem Charakter her eine Differenzierung zwischen Mindeststandards und Optimierung zulassen. Dazu zählen etwa die bereits mehrfach erwähnte Umweltpolitik, aber auch die Sozial- und Arbeitssicherheitspolitik, sowie der Gesundheits- und Verbraucherschutz. Im Mittelpunkt steht hier somit die effiziente Zielverwirklichung (Art. 5 I I EGV: Ziele ... besser). Das gemeinwohlorientierte Solidaritätsprinzip wiegt in dem beschriebenen SpannungsVerhältnis so schwer, daß das Subsidiaritätsprinzip zunächst zurücktritt, um dann aber auf kompensatorischem Wege seine Wirksamkeit zu entfalten. I n diesen Fällen besteht eine - durch die Mitgliedstaaten im Einzelfall - widerlegbare Vermutung (Art. 5 I I EGV: Ziele ... ausreichend) zugunsten der zentralen Gemeinschaftsebene, eine Maßnahme zur Ziel Verwirklichung ergreifen zu können. Diese stellt jedoch für die Mitgliedstaaten in Umsetzung des Subsidiaritätsgedankens nur eine Mindestregelung dar. Daher können sie diese Mindestregelung zur effizienten Zielverwirklichung „progressiv" durch nationale Regelungen ergänzen und weiterentwickeln (Art. 5 I I I EGV). Die Sperrwirkung des Gemeinschaftsrechts weicht insoweit zurück und macht - gewissermaßen kompensatorisch - einer mitgliedstaatlichen Optimierungskompetenz Platz: Die auf dem Solidaritätsprinzip basierende Vermutung für eine Kompetenzausübung durch die EG w i r d im Rahmen der progressiven Subsidiarität also durch ein Recht der Mitgliedstaaten auf Differenzierung kompensiert. Eine solchermaßen differenzierende Interpretation vermag dem beschriebenen Spannungs Verhältnis zwischen Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip im Recht der EU am ehesten gerecht zu werden. 1 0 7 VI. Ergebnis Abschließend kann nunmehr die Frage beantwortet werden, ob und inwieweit Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip als rechtliches Regulativ der Globalisierung von Staat und Gesellschaft wirken können. Seinen Anwendungsvoraussetzungen entsprechend hat die Auslegung des Subsidiaritätsprinzips immer im Lichte seines Korrektivs, des auf die zentrale Sicherung von Gemeinwohlsbelangen ausgerichteten Solidaritätsprinzips zu erfolgen. Stark vereinfachend formuliert ist das Solidaritätsprinzip die Antwort der i n Internationalen Organisationen föderalisierten Staatenwelt auf die Globalisierung. Nur gemeinsam, im Rahmen einer Internationalen Organisation, läßt sich im Zuge der Globalisierung verlorenes io? Ausführlich zu den vorstehenden Gedanken Calliess (FN 14), S. 185 ff., insbesondere S. 196 ff. und 207 ff.

400

Christian Calliess

Handlungspotential der Staaten wiedergewinnen. Nur dann kann gesagt werden: „Governement does matter!". Das auf Internationale Organisationen gegründete gemeinsame Handeln setzt, insbesondere bei der Verwirklichung von Gemeinschaftsaufgaben bzw. der Wahrung von Gemeinwohlbelangen, Solidarität voraus. Diese Solidarität ist das Fundament des Gründungsvertrages einer Internationalen Organisation und verschafft sich in deren Zielen, Aufgaben und Kompetenzen konkreten Ausdruck. Je mehr sich allerdings die Kompetenzen einer Internationalen Organisation mit denjenigen ihrer Mitgliedstaaten verflechten bzw. sich im Zuge einer Integration auf Kosten der Mitgliedstaaten ausweiten, desto mehr stellt sich die Frage einer Kompetenzbegrenzung der Internationalen Organisation. Geschieht dies nicht, so droht das empfindliche Gleichgewicht zwischen Kooperationsgewinnen (Wiedererlangung von Handlungsfähigkeit durch Internationalisierung staatlichen Handelns) und Kooperationsverlusten (Verlust staatlicher Souveränität durch Kompetenzübertragung auf eine Internationale Organisation) gestört zu werden. Hier kommt das Subsidiaritätsprinzip ins Spiel. Dieses kann nur im Rahmen einer vertikalen Kompetenzverflechtung Anwendung finden. Denn nur hier findet man die Voraussetzung des gestuften und hierarchischen Über- UnterordnungsVerhältnisses. Dort wo die Staaten ganz im Sinne des Solidaritätsprinzips - einer Internationalen Organisation Kompetenzen übertragen haben, ist im Umfang der jeweiligen (in aller Regel konkurrierenden) Kompetenzübertragung eine solche Stufung (Mehrebenensystem) und Hierarchie feststellbar. Dies gilt - wie das Beispiel des Art. 5 EGV zeigte - in jedem Fall für den Bereich der Rechtsetzungskompetenzen. Bei der Verwirklichung von völkerrechtlichen Gemeinschaftsaufgaben bzw. der kooperativen Wahrung von internationalen Gemeinwohlbelangen können sowohl die Staaten als auch die jeweilige Internationale Organisation tätig werden. Es besteht mithin eine konkurrierende Zuständigkeit mit Blick auf eine gemeinsame Aufgabe (z.B. Gewährleistung bestimmter Umwelt- oder Sozialstandards). Können die einzelnen Staaten jedoch die konkrete Aufgabe hinreichend lösen oder w i r d die Internationale Organisation aus welchen Gründen auch immer nicht rechtsetzend tätig, dann w i r d der Handlungsspielraum der Staaten i n Form der Möglichkeit unilateraler Rechtsetzung erhalten. Das Subsidiaritätsprinzip kann insoweit seinem Inhalt entsprechend zugunsten der dezentralen Handlungsebene autonomie- bzw. souveränitätsschonend wirken, indem es die Frage beantwortet, ob die Internationale Organisation oder ob der Staat, die „kleinere" Ebene, handeln soll bzw. darf.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 401 - 430 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

DER STAATS- U N D EUROPARECHTLICHE GEHALT DES SUBSIDIARITÄTSPRINZIPS I N D E N PÄPSTLICHEN ENZYKLIKEN* Von Ansgar Hense, Dresden I. Einleitende Problemstellung Nach dem staats- oder europarechtlichen Gehalt des kirchlichen Lehramts zu fragen, w i r k t ungewöhnlich und weckt Bedenken. Die Einwände können dabei nicht a priori durch den Verweis auf das berühmte Diktum Carl Schmitts, daß „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe" seien 1 , ausgeräumt werden. Auch der Siegeszug und die ebenso beständige wie gegenwärtige Hochkonjunktur dieses von Gustav Gundlach geprägten Begriffes, die sämtliche Wissenschaftssparten von der Ökonomik über die Politikwissenschaft bis zur Rechtswissenschaft erfaßt, gerade auch eine Chiffre in der juristischen Auseinandersetzung über die richtige Organisation der freien und öffentlichen Wohlfahrtspflege in den 60iger Jahren des 20. Jahrhunderts war 2 , ist für sich genommen kein Indiz für die richtige Fragestellung. Sie verdeutlicht erst einmal nur die vielseitige wissenschaftliche Anschlußfähigkeit und Entwicklungsoffenheit der Kategorie Subsidiaritätsprinzip. Diese dem Begriff innewohnende, alle Lebensbereiche umspannende Weite wird dabei gleichermaßen als Vorteil wie Nachteil wahrgenommen. Subsidiarität ist einerseits „mehr als bloß ein Wort", erweist sich andererseits aber auch als ein Blankettbegriff, der vielfältige Gegensätze in sich zu vereinigen vermag 3 . Im wissenschaftlichen Diskurs w i r d das Sub* Paul Jakobi, Probst am Dom zu Minden, i n sehr herzlicher Verbundenheit und Dankbarkeit zugedacht. ι Carl Schmitt, Politische Theologie, 6. Aufl. 1993, 49. 2 Vgl. näher Ursula Schoen, Subsidiarität: Bedeutung und Wandel des Begriffs in der katholischen Soziallehre i n der deutschen Sozialpolitik, 1998, 147 ff. Sylvia Ettwig, Subsidiarität und Demokratisierung der Europäischen Union: Die Verbände der freien Wohlfahrtspflege als sozialpolitische Akteure vor den Herausforderungen einer europäischen Sozialpolitik, 1999, 31 ff. Die verfassungsgerichtliche Leitentscheidung stammt aus dem Jahre 1967: BVerfGE 22, 180. 3 Grundlegende Zusammenfassung und Weiterführung der Subsidiaritätsproblematik Ende der sechziger Jahre durch Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht: Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 1968; ders., Subsidiarität - das Prinzip und seine Prämissen, i n diesem Band; siehe auch Matthias Jestaedt, Die Relativität des Subsidiaritätsbegriffs, in: Arbeitgeber 1993, S. 725 ff.

402

Ansgar Hense

sidiaritätsprinzip in der Regel als Inspirationsquelle gesehen. Hierbei entfernt man sich immer mehr von dem herkunftsmäßigen Verwendungszusammenhang Katholische Soziallehre. Es werden bloß weitergehende Fragestellungen daran angeknüpft, die letztlich in eine andere Richtung weisen und sich demzufolge vom Theologischen fast gänzlich entfernen. Um dem Vorwurf einer einseitigen Katholisierung dieses Begriffs zu entgehen, werden zudem unterschiedliche Entwicklungsstränge des Subsidiaritätsprinzips verortet und eine Herkunft auch außerhalb katholischtheologischen Denkens nachgewiesen 4 . Bei einer Durchmusterung der päpstlichen Sozialenzykliken stellt sich das Problem, daß es sich hierbei nicht um juristische Abhandlungen handelt, deren juristischen Aspekte einfachhin zusammengestellt werden könnten, gleichwohl in ihnen die Glaubenswahrheiten mehr vorausgesetzt denn ausdrücklich thematisiert werden und demnach die ,Sache selbst4 in ihren juridischen, ökonomischen philosophischen Dimensionen im Vordergrund stehen 5 . Wie demzufolge die päpstlichen Sozialenzykliken nicht ,rechtsfrei' sind, so ist auch das Rechtsdenken und die die jeweilige Rechtsordnung gestaltenden Grundentscheidungen in Europa nicht gegen das Religiöse imprägniert und nur auf rein säkulare Wurzeln zurückzuführen. „Außer diesen rein weltlichen geistigen Wurzeln darf aber ein von Staat zu Staat freilich sehr verschieden dosierter, vielfach aber durch einen Säkularisierungsprozeß verdeckter christlicher Einfluß auf die staatlichen Rechtsordnungen nicht übersehen werden, der zum Teil einheitlich, zum anderen Teil nach den christlichen Bekenntnissen gespalten die Staatsordnungen durchdringt" 6 . Die Entkatholisierung des Subsidiaritätsprinzips läßt es angezeigt sein, einmal umgekehrt wieder aus dem Säkularen heraus die päpstlichen Sozialenzykliken als ursprüngliche Quellen und gegebenenfalls sie ergänzende kirchenamtliche Stellungnahmen auf ihren juristischen Gehalt hin zu befragen. I n den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hat bereits der bedeutende österreichische Staats- und Verwaltungsrechtler Adolf Merkl die Enzykliken auf ihren staatsrechtlichen Gehalt hin durchgemustert 7 , wie später auch 4 Vgl. etwa Arno Waschkuhn, Was ist Subsidiarität? Ein sozialphilosophisches Ordnungsprinzip: Von Thomas von Aquin bis zur ,Civil Society', 1995. 5 So Oswald von Nell-Breuning, Einführung, in: Texte zur Katholischen Soziallehre, hrsg. vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmerbewegung Deutschlands, 8. Aufl. 1992, V I I ff. [XVII]. Diese im deutschsprachigen Raum verbreiteste Textsammlung w i r d im Folgenden als Textgrundlage herangezogen. 6 Adolf Julius Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Sozialenzykliken und die Möglichkeit ihrer Verwirklichung in der Gegenwart, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von D. Mayer-Maly u.a., Bd. 1/2, 1995, 645 ff. [646] - im Folgenden wird dieser Band zitiert: GS 1/2. 7 Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika Quadragesimo anno, in: Ders., GS 1/2, 129 ff.; ders., Enzyklika Quadragesimo anno und Verfassungsfrage, ebda., 115 ff.

Subsidiaritätsprinzip in den päpstlichen Enzykliken

403

Herbert Schambeck 8. Zudem waren die päpstlichen Enzykliken bereits Gegenstand einer völkerrechtlichen Analyse 9 . Ganz pragmatisch w i r d nachfolgend der staats- und europarechtliche Gehalt des Subsidiaritätsprinzips i n den päpstlichen Enzykliken als rhetorisches Synonym für Inhalt genommen und die Texte insofern daraufhin befragt, ob und inwieweit sie entsprechend juristisch reformulierbare inhaltliche Aussagen machen oder Analogien zu aktuellen rechtswissenschaftlichen Problemen auf weisen. Hierfür w i r d im weiteren Untersuchungsgang i n einem ersten Schritt eine Bestandsaufnahme der Verwendung des Subsidiaritätsprinzips in lehramtlichen Äußerungen getroffen (II.l.). Daran an schließt sich in einem zweiten Schritt eine Aufschlüsselung des Prinzips in seine inhaltlichen Dimensionen (II.2.). In einem dritten Teil hat dann die grundsätzliche Qualifikation der Kategorie Subsidiarität (III.l.) und schließlich eine andeutend-vergleichende Darstellung rechtlich-analoger Fragestellungen von katholischer Sozialverkündigung und rechtswissenschaftlicher Fachdiskussion zu erfolgen (III.2.). II. Textstufen des Subsidiaritätsprinzips in den lehramtlichen Äußerungen Wie die Sozialenzykliken seit ,Rerum novarum' 1891 überhaupt erfreut sich das erstmals 1931 i n Quadragesimo anno' so benannte Subsidiaritätsprinzip seit seinem offiziellen Ritterschlag zu einem Leitprinzip des europäischen Einigungsprozesses in den Jahren nach 1989 erneut allergrößter Beliebtheit 1 0 . Die Hochkonjunktur der Kategorie spiegelt sich i n der thematischen Weite seiner Verwendung wider. Es gibt offensichtlich kein aktuelles juristisches oder gesellschaftspolitisches Problem, in dem die Subsidiarität nicht als Zauberformel beschwört w i r d 1 1 , so daß die 8 Herbert Schambeck, Der rechtsphilosophische und staatsrechtliche Gehalt der päpstlichen Lehräußerungen, in: Ders., Kirche, Staat und Demokratie: Ein Grundthema der katholischen Soziallehre, 1992, 3 ff. 9 Heinhard Steiger, Gerechter Friede: Das zweite Vatikanische Konzil und die Päpste zur Internationalen Friedensordnung, in: FS Scupin, 1983, 489 ff. 10 Vgl. statt vieler Reinhard Marx, Subsidiarität - Gestaltungsprinzip einer sich wandelnden Gesellschaft, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Subsidiarität - Strukturprinzip i n Staat und Gesellschaft (Mönchengladbacher Gespräche 20), 2000, 35 ff. [35 f. m.w.N.]. Bereits Mitte der achtziger Jahre wurde das Subsidiaritätsprinzip aber i n der Sozialwissenschaft zunehmend wiederentdeckt, dazu Rolf G. Heinze (Hrsg.), Neue Subsidiarität: Leitidee für eine zukünftige Sozialpolitik?, 1985. 11 Die interdisziplinär angelegten Publikationen zur Subsidiarität und zum Subsidiaritätsprinzip sind mittlerweile unübersehbar. Repräsentativ für die Renaissance: Alois Riklin/Gerard Batliner (Hrsg.), Subsidiarität: Ein interdisziplinäres Symposium, 1994; Knut Wolfgang Nörr/Thomas Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, 1997. Wolfgang J. Mückl (Hrsg.), Subsidiarität: Gestaltungsprinzip für eine freiheitliche Ordnung i n Staat, Wirtschaft und

404

Ansgar Hense

Gefahr der Ü b e r i n t e r p r e t a t i o n , w i e Peter

Lerche

bereits 1970 w a r n e n d

f o r m u l i e r t h a t t e 1 2 , m i t den H ä n d e n z u greifen ist. Schon a l l e i n der Beschwörungsgestus k a n n i n seiner F o r m a l i t ä t z u einem Passivsaldo a n j u ristischem

Gehalt

führen.

Das

Subsidiaritätskonzept

führt

darüber

h i n a u s i n der K a t h o l i s c h e n S o z i a l l e h r e 1 3 als die einschlägige F a c h m a t e r i e e i n gewisses Eigenleben, so daß sich durchaus, w e n n a u c h i n der Regel bloß k l e i n e r e i n h a l t l i c h e A b w e i c h u n g e n oder

Fortentwicklungen

ausmachen lassen, je n a c h d e m ob es sich u m P u b l i k a t i o n e n beispielsweise v o n Franz Furger

11

,

Lothar

Klüber Roos

14

,

18

Nikolaus oder

Wobei den A u s f ü h r u n g e n Oswald

Monzel 15,

Oswald

von

Joseph

Höffner

Nell-Breuning

von Neil-Breunings

19

16

,

Franz handelt.

als Mitverfasser

der S o z i a l e n z y k l i k a Q u a d r a g e s i m o anno' gleichsam die D i g n i t ä t Autorität

authentischer

Interpretationen

zukommen

20

.

Schließlich

und ist

d a r a n z u e r i n n e r n , daß der S u b s i d i a r i t ä t s g r u n d s a t z i n neuerer Z e i t a u c h Gesellschaft, 1999. Aus dem juristischen Schrifttum mit europarechtlicher Erstreckung siehe insbesondere Christian Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, 2. Aufl. 1999; Stefan Ulrich Pieper, Subsidiarität: Ein Beitrag zur Begrenzung der Gemeinschaftskompetenzen, 1994. Bemerkenswert auch die wirtschaftswissenschaftlichen Stellungnahmen zum Subsidiaritätsprinzip wie Arnold Picot, Subsidiaritätsprinzip und ökonomische Theorie der Organisation, in: Peter Faller/ Dieter Witt (Hrsg.), Dienstprinzip und Erwerbsprinzip - FS für Karl Oettle, 1991, 102 ff. 12 „Ich glaube aber schon einmal nicht, daß man das Subsidiaritätsprinzip so ohne weiteres den geltenden Verfassungen unterschieben kann, um es dann als unmittelbar verbindlichen Rechtssatz wieder herauszuziehen; und vor allem glaube ich nicht, daß dieses Prinzip die Fülle, den Reichtum an konkreten Antworten sozusagen unvermittelt ins Haus liefert, die man sich von seiner Anrufung verheißt", so Peter Lerche, Christentum und Staatsrecht, in: Tomandl (Hrsg.), Der Einfluß des katholischen Denkens auf das positive Recht, 1970, 85 ff. [92]. Mag der erste Einwand durch die ausdrückliche Positivierung auf staats- wie europarechtlicher Ebene (Art. 23 GG n.F. und Art. 5 EGV) relativiert sein, besteht der zweite nach wie vor. !3 Zu deren historischer Entwicklung instruktiv Arno Anzenbacher, Christliche Sozialethik: Einführung und Prinzipien, 1998, 125 ff. Zu Wissenschaftsverständnis, Zukunftsfähigkeit u.a.m. siehe vor allem Peter Hünermann, Kirche-Gesellschaft-Kultur: Zur Theorie katholischer Soziallehre, in: Dietmar Mieth (Hrsg.), Christliche Sozialethik im Anspruch der Zukunft, 1992, 39 ff. 14 Franz Klüber, Katholische Gesellschaftslehre, Bd. 1: Geschichte und System, 1968, insbes. 867 ff. 15 Nikolaus Monzel Katholische Soziallehre, Bd. I (1965), 242; Bd. I I (1967), 198 f., 382. 16 Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, 4. Aufl. der Studienausgabe 1983, 52 ff. 17 Franz Furger, Christliche Sozialethik: Grundlagen und Zielsetzungen, 1991, 138 ff. !8 Lothar Roos, Artikel Subsidiarität', in: Lexikon für Wirtschaftsethik, 1993, Sp. 1045 ff. !9 Aus der Vielzahl nur den Klassiker: Oswald von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft: Solidarität und Subsidiarität, Neuausgabe 1990. 20 Siehe dazu das erstmals 1932 publizierte Buch Oswald von Neil-Breunings: Die soziale Enzyklika: Erläuterungen zum Weltrundschreiben Papst Pius X I über die gesellschaftliche Ordnung, 3. Aufl. 1950.

Subsidiaritätsprinzip i n den päpstlichen Enzykliken

405

i n anderen theologischen Teildisziplinen wie Dogmatik 2 1 , Kirchenrecht 2 2 oder Moraltheologie 23 verstärkt als Kategorie entdeckt wird. 1. Thematische Bestandsaufnahme kirchlicher Lehräußerungen

Sozialenzykliken als besondere Ausübungsform des kirchlichen Lehramts, in denen es sich i n Sorge um den Menschen als Person und Ebenbild Gottes mit gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen Aspekten zusammenfassend auseinandersetzt, soweit es „auf das Sittengesetz Bezug h a t " 2 4 , reagiert immer auf besondere zeitliche Probleme 25 . Sie sind eine wichtige Form kirchlicher Sozialverkündigung und der Begegnung von ,Kirche und Welt'. Indem sie so auf die gesellschaftliche Wirklichkeit bezogen ist, konstituiert die jeweilige Zeit die Fragestellungen kirchlicher Soziallehre und stellt sie dabei gleichermaßen in einen übergreifenden Kontinuitätszusammenhang. a) Innerstaatlicher

Bezug des Subsidiaritätsprinzips

Als Struktur- und Baugesetz der Gesellschaft w i r d das Subsidiaritätsprinzip erstmals und zentral in Nr. 79/80 der Enzyklika Quadragesimo anno aus dem Jahre 1931 formuliert und als begriffliche bzw. prinzipielle Kategorie eingeführt. Während der Begriff Subsidiaritätsprinzip vom Jesuiten Gustav Gundlach stammt, ist die eigentliche Enzyklika im wesentlichen von seinem Ordensmitbruder Oswald von Nell-Breuning konzipiert worden 2 6 . Das Wort subsidiär ist demgegenüber älter und w i r d beispielsweise schon i m 19. Jahrhundert vom Mainzer Bischof Ketteier 21 Genauer Ekklesiologie, dazu die grundlegende Freiburger Dissertation von Pavel Mikluscàk, Einheit in Freiheit: Subsidiarität in der Kirche als Anliegen des zweiten Vatikanischen Konzils, 1995 (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 19) sowie sein Beitrag i n diesem Band. Als Beispiel für eine innerkirchliche Konkretion siehe Joseph Höffner, Subsidiarität und Solidarität im Bistum, in: Ders., Weltverantwortung aus dem Glauben, 1969, 176 ff. 22 Paul-Stefan Freiling, Das Subsidiaritätsprinzip im kirchlichen Recht, 1995 (Münsterischer Kommentar zum CIC, Beiheft 13). 23 Etwa die Salzburger moraltheologische Habilitation von Joachim Hagel, Solidarität und Subsidiarität - Prinzipien einer teleologischen Ethik? Eine Untersuchung zur normativen Ordnungstheorie, 1999 (Salzburger Theologische Studien, Bd. 11). 24 Quadragesimo anno Nr. 41. 25 Näher Konrad Hilpert, Artikel ,Sozialenzykliken', in: LThK, 3. Aufl., Bd. I X (2000), Sp. 763 ff. m.w.N. 26 Zur hier nicht weiter darzustellenden Genese der Enzyklika ausführlich die verschiedenen Aufsätze von Oswald von Nell-Breuning, wiederabgedruckt in: ders., Wie sozial ist die Kirche: Leistung und Versagen der katholischen Soziallehre, 1972, 99 ff., 116 ff., 127 ff. Siehe auch Karl Gabriel, Das Subsidiaritätsprinzip in Quadragesimo anno, in: Rauscher (FN 10), 13 ff. [16 ff. m.w.N.].

Ansgar Hense

406

i m H i n b l i c k auf das E l t e r n r e c h t i m Erziehungswesen v e r w e n d e t 2 7 . Insof e r n v e r w u n d e r t es n i c h t , daß das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p der Sache n a c h bereits i n der ersten S o z i a l e n z y k l i k a R e r u m no v a r u m 1891 e n t h a l t e n ist, i n der Papst L e o X I I I . h e r v o r h e b t , daß der M e n s c h z e i t l i c h v o r d e m Staat existiere u n d die F a m i l i e als häusliche Gemeinschaft demzufolge älter sei als jegliches andere Gemeinwesen. D e m n a c h besitze sie u n a b h ä n g i g v o m Staat bestehende Rechte u n d P f l i c h t e n ; entsprechendes gelte f ü r bürgerliche wurden

28

Gemeinschaften,

worunter

die

Ortgemeinden

verstanden

.

D e r klassische U r s p r u n g des S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p s , der sich bemerkenswerterweise i n d e m G r u n d t e x t v o n Nell-Breuning

noch nicht findet

u n d erst i n der E n d r e d a k t i o n eingefügt w o r d e n i s t 2 9 , w i r d i n der S o z i a l e n z y k l i k a Pius X I . folgendermaßen zusammengefaßt: „79. Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und

27 Wilhelm Emmanuel von Ketteier,; Die Katholiken und das neue Deutsche Reich, in: ders., Schriften, Bd. II: Staatspolitische und vaterländische Schriften, 2. Aufl. 1924, 136 ff. [162]: „Dagegen ist es harter Absolutismus, eine wahre Geistesund Seelenknechtung, wenn der Staat, ich möchte sagen, subsidiäre Recht mißbraucht". Auch als Deputierter der Frankfurter Nationalversammlung setzte sich von Ketteier unter dem 17. September i n einem offenen Schreiben an seine Wähler mit der Subsidiaritätsproblematik auseinander: „Meine Annsicht geht von dem einfachen Satze aus, daß jedes Individuum seine Rechte, die es selbst ausüben kann, auch selbst ausüben darf. Der Staat ist mir keine Maschine, sondern ein lebendiger Organismus mit lebendigen Gliedern, in dem jedes Glied sein eigenes Recht, seine eigene Funktion hat, sein eigenes Leben gestaltet. Solche Glieder sind das Individuum, die Familie, die Gemeinde usw. Jedes niedere Glied bewegt sich frei i n seiner Sphäre und genießt das Recht der freiesten Selbstbestimmung und Selbstregierung. Erst wo das niedere Glied dieses Organismus nicht mehr imstande ist, seine Zwecke selbst zu erreichen oder die in seiner Entwicklung drohende Gefahr selbst abzuwenden, tritt das höhere Glied für es i n Wirksamkeit. [...] Was daher die Familie, die Gemeinde zur Erreichung ihres natürlichen Zwekkes sich selbst gewähren kann, muß ihr zur freien Selbstregierung überlassen bleiben" (Schriften, Bd. I, 2. Aufl. 1924, 403).Vgl. auch Klüber (FN 14), 217 f. 28 Vgl. Rerum novarum Nr. 6, 9 und 10. Dazu und zu anderem näher Ewald Link, Das Subsidiaritätsprinzip: Sein Wesen und seine Bedeutung für die Sozialethik, 1955, 27 ff. m.w.N. 29 Vgl. Habel (FN 23), 255 f.

Subsidiaritätsprinzip i n den päpstlichen Enzykliken

407

Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. 80. Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müßten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch nur um so freier, stärker und schlagfertiger da für diejenigen Aufgaben, die i n ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, weil sie allein ihnen gewachsen ist: durch Leitung, Überwachung, Nachdruck und Zügelung, je nach Umständen und Erfordernis. Darum mögen die staatlichen Machthaber sich überzeugt halten, je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftungen innegehalten wird, umso stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkkraft dar, um so besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt" 3 0 . U n m i t t e l b a r an das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p als ,ordnungsethisches K e r n s t ü c k ' 3 1 der E n z y k l i k a schließen sich das höchst u m s t r i t t e n e Plädoyer der E n z y k l i k a Quadragesimo anno f ü r eine berufsständische

Ordnung

u n d die K r i t i k a m faschistischen K o r p o r a t i v s t a a t a n 3 2 . D a m i t g i n g die Enzyklika

Quadragesimo

ment

Vorzeichnung

zur

anno

„ v o m staatsphilosophischen

staatsrechtlicher

Raisonne-

Richtlinien über" 33.

Quadragesimo anno d e m austarierenden u n d h a r m o n i s i e r e n d e n

Soweit Gehalt

des S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p s gleichsam i n s t r u m e n t e l l das M o d e l l der ,ber u f sständischen O r d n u n g ' an die Seite gestellt hat, w u r d e dies als eine funktionelle

E n t l a s t u n g des Staates d u r c h N e u k o n s t i t u i e r u n g

gesell-

schaftlicher Z w i s c h e n f o r m e n i n t e r p r e t i e r t 3 4 . Angesichts der seit der E n 30 Der lateinische Ursprungstext lautet: „Nam etsi verum est, idque historia luculenter ostendit, ob mutatas rerum condiciones multa nunc non nisi a magnis consociationibus posse praestari, quae superiore aetate a parvis etiam praebebantur, fixum tamen immotumque manet in philosophia sociali gravissimum illud principium quod neque moveri neque mutari poest: sicut quae a singularibus hominibus proprio marte et propria undistria possunt perfici, nef as est eisdem eripere et communitati demandare, ita quae a minoribus et inferioribus communitatibus effici praestarique possunt, ea ad maiorem et altiorem societatem avocare iniuria est simulque grave damnum ac recti ordinis perturbatio; cum socialis quaevis opera vi naturamque sua subsidium afferre membris corporis socialis debeat, numquam vero eadem destruere et absorbere. [80] Minoris igitur momenti negotia et curas, quibus alioquin maxime distineretur, inferioribus coetibus expedienda permittat suprema rei publicae auctoritas oportet: quo fiet, ut liberius, fortius et effiacius ea omnia exsequatur, quae ad ipsam solam spectant, utpote quae sola ipsa praestare possit: dirigendo, vigilando, urgendo, coercendo, prout casus fert et nécessitas postulat. Quare sibi animo persuasum habeant, qui rerum potiuntur: quo perfectius, servato hoc ,subsidarii' officii principio, hierarchicus inter diversas consociationes ordo viguerit, eo praestantiorem fore socialem et auctoritatem et efficientiam, eoque feliciorem laetioremque rei publicae statum" (AAS X X I I I [1931], 177 ff. [203]). 31 So Gabriel (FN 26), 13 ff. [21]. 32 Quadragesimo anno Nr. 81-87, 91-98. Zur berufsständischen Ordnung ausführlich Anton Rauscher, Subsidiaritätsprinzip und berufsständische Ordnung i n Quadragesimo anno': Eine Untersuchung zur Problematik ihres gegenseitigen Verhältnisses, 1958, insbes. 105 ff., 139 ff. 33 So plastisch Merkl, in: GS 1/2, 129 ff. [133].

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Ansgar Hense

zyklika Immortale Dei des Jahres 1885 bestehenden Neutralität kirchlicher Soziallehre gegenüber Staatsformen empfahl Quadragesimo anno, wie Merkl klarstellt, keineswegs den Ständestaat, sondern ausdrücklich nur die Einrichtung berufsständischer Körperschaften 35 . Merkl räumt ein, daß ein derartiger ,ständischer' Umbau der Gesellschaft ein eigenartiges rechtstechnisches Mittel zur Dezentralisation des Staatsapparates im Sinne der Selbstverwaltungsidee sei 3 6 . Jedoch räume die Enzyklika angesichts der Spärlichkeit ihrer inhaltlichen Richtlinien bei der Verwirklichung des päpstlichen Gesellschaftsplanes einen sehr weiten Gestaltungsspielraum ein 3 7 . Die Konstituierung der berufsständischen Ordnung war auf eine Neuformierung der Gesellschaftsordnung bei Überwindung des Klassengegensatzes und des Interessenausgleichs zwischen Arbeit und Kapital gerichtet 3 8 . „Nach dem Plan der Enzyklika soll der rein vertikale Aufbau der gesellschaftlichen Berufsverbände die horizontale Klassenschichtung durchkreuzen und überwinden" 3 9 . Gerade aber das Konzept berufsständiger Ordnung war Anlaß für zahlreiche Fehlinterpretationen, Mißverständnisse und Angriffe. Der ,Autor' Oswald von Nell-Breuning distanzierte sich später nachdrücklich von diesen Passagen der päpstlichen Stellungnahme und suchte sie umzudeuten 40 . Spätere päpstliche Verlautbarungen haben sich aus wohlerwogenen Gründen mit derart konkreten Vorschlägen zum Gesellschafts- und Staatsaufbau zurückgehalten. Heute w i r d weniger ein bestimmtes Sozialmodell propagiert, als vielmehr die Bedeutung sog. gesellschaftlicher Zwischenkörper' jenseits der Familie betont 4 1 . In der unmittelbaren Rezeptionsge-

34 In diesem Sinne etwa Merkl, in: GS 1/2, 129 ff [138]. 35 Merkl, in: GS 1/2, 115 ff. [116]. Näher dazu, daß sich berufsständische Ordnung und Ständestaat vielleicht sogar ausschließen, ders., Geschichtlicher und autoritärer Ständestaat, ebda., 123 ff. 36 Merkl, in: GS 1/2, 115 ff. [118]. Daneben behalten, was Merkl hervorhebt, in diesem Zusammenhang auch die Gebietskörperschaften weiterhin ihre Existenzberechtigung, ebda., 119. 37 Näher Merkl, in: GS 1/2, 115 ff. [120], dort auch zur Frage, ob solche Korporationen ggfs. trotz ihrer individualschützenden und wohl vor allem auf Freiwilligkeit abzielenden Tendenz u. U. auch durch staatlichen Kreationsakt geschaffen werden dürfen. Zur Zwangsmitgliedschaft und anderen organisatorisch-ausgestaltenden Fragen, mit denen Merkl sich hauptsächlich auseinandersetzt, ders., in: GS 1/2, 129 ff. [135 ff.]. 38 Hierzu und zu theoretischen Wegbereitern siehe neben Rauscher (FN 32), vor allem als zeitgenössische Stellungnahme Merkl, in: GS 1/2, 115 ff. [118 f.], 129 ff. [129, 139 f.], 645 ff. Zudem auch Anzenbacher (FN 13), 143, 147. 39 So prägnant Merkl, in: GS 1/2, 129 ff. [140]. 40 Dazu etwa die kleine Schrift von Nell-Breuning, Gesellschafts-Ordnung: Wesensbild und Ordnungsbild der menschlichen Gesellschaft, 1947, 34 ff, in der die berufsständische Ordnung durch das Leitbild der leistungsgemeinschaftlichen Ordnung ersetzt wurde. Ähnlich auch Mater et magistra Nr. 65. 41 Vgl. Centesimus annus Nr. 13, 49. Siehe auch das Apostolische Schreiben Papst Paul VI. ,Octogesima adveniens' vom 14. Mai 1971, Nr. 46, spricht von inter-

Subsidiaritätsprinzip in den päpstlichen Enzykliken

409

schichte war es aber gerade das Konzept der berufsständischen Ordnung, welches primär wahrgenommen wurde 4 2 , wie sich beispielhaft an den Veröffentlichungen des österreichischen Staatsrechtlers Adolf Merkl ablesen läßt, der i n diesem Konzept den Grundgedanken und das eigentlich staatsrechtlich bedeutsame Programm der päpstlichen Enzyklika sah 4 3 . Die österreichische Verfassung vom 1934 führte angeblich sogar zur Konstituierung eines ,Quadragesimo-anno-Staates', eine Titulierung, die Oswald von Nell-Breuning vierzig Jahre später als einen Widerspruch in sich qualifizierte 4 4 . Im übrigen setzte die eigentliche Rezeption des Subsidiaritätsgedankens erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein 4 5 . Demgegenüber verlor die Idee berufständischer Ordnung i n der Zeit vor dem II. Vatikanum zunehmend an Bedeutung 46 . Zwar publizierte Papst Pius XII. keine Sozialenzyklika 47 , doch wies er bei den verschiedensten Anlässen in unterschiedlichster Form immer wieder auf das Subsidiaritätsprinzip und dessen Bedeutung für die gesellschaftliche Ordnung hin. Pius XII., der als erster auch die Erstrekkung des Subsidiaritätsgrundsatzes auf den innerkirchlichen Bereich thematisierte 48 , hob beispielsweise die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für das Schul- und Erziehungswesen 49 genauso hervor wie für die nicht unproblematische Frage der Planung im Wirtschaftswesen 50 .

mediären (subsidiären) Gruppen. Letztgenanntes Schreiben ist zwar keine Sozialenzyklika, steht aber doch i n sachlicher Nähe zu ihnen, vgl. Hilpert (FN 25). 42 Dies wird zu Recht hervorgehoben von Gabriel (FN 26), 13 ff. [22 f.]. 43 Vgl. Merkl, in: GS 1/2, 645 ff. [647]. 44 Oswald von Nell-Breuning, Octogesimo anno, in: ders., Wie sozial ist die Kirche? (FN 26), 116 ff. [120]. 45 Dazu und zum Folgenden Anzenbacher (FN 13), 148, 150 f. 46 Dem 1961 publizierten Aufsatz Merkls (In: GS 1/2, 645 ff.) haftet demnach durchaus etwas Anachronistisches an. 47 Nichtsdestotrotz hat er natürlich die Fragen der kirchlichen Soziallehre immer wieder hervorgehoben, publiziert ist all dies in: Arthur-Fridolin Utz/JosephFulko Groner (Hrsg.), Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens: Soziale Summe Pius XII., Bd. I und I I (1954), Bd. I I I (1961). Vgl. auch Anzenbacher (FN 13), 151. 48 So in der grundlegenden Ansprache ,Die völkerumspannende Einheit der Kirche, der Einfluß auf die Grundlagen der Gesellschaft' an das Hl. Kollegium aus Anlaß der Inthronisation der neuen Kardinäle am 20. Februar 1946, abgedruckt in: Utz/Groner (FN 47), Bd. I I (1954), Nr. 4086 ff [4094]; siehe auch noch die Ansprache vom 5. Oktober 1957 an den II. Weltkongreß des Laienapostolats, ebda. Bd. III, Nr. 5980 ff. [5992]. 49 So i n dem Schreiben vom 5. August 1957 an den III. Internationalen Kongreß der Weltunion katholischer Lehrer, abgedruckt i n Utz/Groner (FN 47), Bd. III, Nr. 5029 ff. [5034]: „ I n Kusibi wurde der gesunde, dem Subsidiaritätsprinzip ganz entsprechende Grundsatz aufgestellt: der Staat lasse die Familie und die katholische Missionsschule gewähren, solange sie nicht seines Schutzes und der Ergänzung durch ihn bedürfen; die Schule ihrerseits sei darauf bedacht, gute Staatsbürger heranzubilden". Zum Vorrecht der privaten Schule und der Ablehnung eines staatlichen Erziehungsprimats vgl. auch ebda. Nr. 5038 ff. [5040/5041].

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Ansgar Hense

I n der E n z y k l i k a M a t e r et m a g i s t r a stellt Papst Johannes X X I I I . 1961 klar, daß staatliches Eingreifen, sofern es fördert, anregt, regelt, L ü c k e n schließt u n d V o l l s t ä n d i g k e i t gewährleistet durchaus sein F u n d a m e n t i m S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p f i n d e t 5 1 , w e n n dies d e m G e m e i n w o h l d i e n t u n d das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p beachtet w i r d 5 2 . Es w i r d i n diesem Z u s a m m e n h a n g somit k l a r g e s t e l l t , daß eine zentralere O r g a n i s a t i o n s f o r m sehr w o h l einer subsidiären O r d n u n g s s t r u k t u r entsprechen u n d das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p sogar staatliches E i n g r e i f e n b e g r ü n d e n k a n n 5 3 . S o l l t e d e m n a c h die k l e i nere gesellschaftliche E i n h e i t v o n der größeren - beispielsweise

dem

Staat - u n t e r s t ü t z t werden, z . B . m i t t e l s S u b v e n t i o n e n o.ä., so k a n n dies aber n u r u n t e r b e s t i m m t e n Voraussetzungen m i t d e m

Subsidiaritäts-

grundsatz v e r e i n b a r sein: Z w e c k u n d z e i t l i c h e E r s t r e c k u n g der U n t e r stützung sind dadurch determiniert,

daß die P r i v a t i n i t i a t i v e

befähigt

w e r d e n soll z u s c h n e l l s t m ö g l i c h e n selbständigen u n d e i g e n v e r a n t w o r t l i c h e n A u f g a b e n ü b e r n a h m e oder - w e i t e r f ü h r u n g 5 4 .

so Dazu der Päpstliche Brief ,Sittliche Leitsätze der Wirtschaft' des Substituts des Staatssekretariats A. Dell'Acqua an die 29. Sozialwoche der Katholiken Italiens in Bergamo vom 23. September 1959, abgedruckt in: Utz/Groner (FN 47), Bd. III, Nr. [6094]: „Auch auf diesem Gebiete ist der Eingriff des Staates nur subsidiär. Sein Wirken muß i n der Weise von der Gerechtigkeit beseelt sein, daß er die Initiative des einzelnen nicht unterdrückt, sondern sich nur dann einschaltet, wenn und wofern er um des Gemeinwohls willen anregen und koordinieren muß". Zur Bedeutung des privaten Unternehmertums als Ausdruck menschlicher Personalität in diesem Zusammenhang siehe auch die Ansprache an die Teilnehmer des 7. Nationalkongresses des christlichen Unternehmerverbandes Italiens vom 5. Juni 1955, abgedruckt in: Utz/Groner (FN 47), Bd. III, Nr. 6140 ff [6143]. 51 Mater et magistra Nr. 53. 52 Daß dies auch i n Zusammenhang mit der jeweiligen staatlichen Eigentumsordnung und dem Problem öffentlichen Eigentums gilt, hebt Mater et magistra Nr. 117 ausdrücklich hervor: „Ja, es scheint ein Merkmal unserer Zeit zun sein, daß das staatliche und sonstige öffentliche Eigentum immer umfangreicher wird. Das hat unter anderem darin seine Ursache, daß der Staat um des Gemeinwohls willen immer größere Aufgaben übernehmen muß. Aber auch hier w i l l das bereits erwähnte Prinzip der Subsidiarität unbedingt beachtet sein. Nur dann dürfen der Staat und andere öffentlich-rechtliche Gebilde den Umfang ihres Eigentums ausweiten, wenn das richtig verstandene Gemeinwohl dies offenbar verlangt, wobei zu vermeiden ist, das Privateigentum übermäßig zu beschränken oder, was noch schlimmer wäre, ganz zu verdrängen". 53 Vgl. dazu den Kommentar von Eberhard Welty, in: Die Sozialenzyklika Papst Johannes X X I I I . Mater et magistra, 3. Aufl. 1961, zu Nr. 53, 113 f. F N 31. Zum Beweis dafür, daß dies durchaus der katholischen Lehrtradition entspricht führt Welty einen Brief Papst Pius XII. an die Katholisch-Soziale Woche i n Bergamo/ Italien an, siehe oben (FN 50). Daß das Eingreifen der größeren Sozialgebilde zugunsten der kleineren, also die Hilfe von oben nach unten, durchaus subsidiaritätskonform sein kann, w i r d nach Auffassung Joseph Höffner s „zuweilen tendenziös übersehen" (FN 16), 54; siehe auch ders., Gesellschaftspolitik aus christlicher Verantwortung, 1966, 297, 352. 54 Mater et magistra Nr. 152: „So müssen alle diejenigen, die über eigene Mittel und Unternehmensgeist verfügen, nach Kräften zu diesem Wohlstandsausgleich innerhalb des Landes mitwirken. Nach dem Subsidiaritätsprinzip sollte die öffentliche Hand die Privatinitiative in der Weise fördern und unterstützen, daß sie die

Subsidiaritätsprinzip i n den päpstlichen Enzykliken

411

I n der K o n z i l s e r k l ä r u n g ü b e r die c h r i s t l i c h e E r z i e h u n g aus d e m Jahre 1965 w i r d das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p w i e d e r u m a u s d r ü c k l i c h m i t d e m elt e r l i c h e n E r z i e h u n g s r e c h t 5 5 u n d d e m E i n t r e t e n f ü r e i n freies Schulwesen i n Beziehung gesetzt56. I n Centesimus annus b e k r ä f t i g t Papst Johannes P a u l I I . nochmals sehr n a c h h a l t i g die l e d i g l i c h subsidiäre A u f g a b e des Staates i m Bereich der W i r t s c h a f t , die allenfalls i n F o r m einer stellvertretenden I n t e r v e n t i o n erfolgen k ö n n e 5 7 . D e r Papst t h e m a t i s i e r t i n diesem Z u s a m m e n h a n g w o h l fahrtsstaatliche A u s w ü c h s e u n d schärft die E i n h a l t u n g des S u b s i d i a r i tätsgrundsatzes ein. Das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p v e r p f l i c h t e den Staat aber auch z u r Schaffung einer r e c h t l i c h e n u n d gesellschaftlichen R a h m e n o r d n u n g , die m ö g l i c h s t günstige Voraussetzungen f ü r die freie

Entfaltung

der W i r t s c h a f t b i e t e 5 8 .

b) Erstreckung

des Subsidiaritätsprinzips

supranationale

auf inter-

und

Zusammenhänge

Das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p w u r d e d u r c h Papst Johannes X X I I I . 1963 i n seiner E n z y k l i k a

Pacem i n t e r r i s

über den innerstaatlichen

Bereich

h i n a u s a u c h auf den i n t e r n a t i o n a l e n Bereich e r s t r e c k t 5 9 . Bemerkenswerterweise b e k r ä f t i g t e das I I . V a t i k a n i s c h e K o n z i l i n seiner P a s t o r a l k o n s t i von ihr selbst i n die Wege geleiteten Unternehmungen sobald als möglich privaten Händen zur Weiterführung überläßt". 55 Gravissimum educationis Nr. 3 führt aus, daß es zu den staatlichen Aufgaben gehört, „die Erziehung der Jugend in vielfacher Weise zu fördern; er hat die Pflichten und Rechte der Eltern und all derer, die an der Erziehungsaufgabe teilhaben, zu schützen und ihnen Hilfe zu Leisten, und wenn die Initiativen der Eltern und anderer Gemeinschaften nicht genügen, kommt dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend dem Staat die Pflicht zu, die Erziehung in die Hand zu nehmen, immer unter Beachtung des elterlichen Willens". 56 Gravissimum educationis Nr. 6: „Der Staat muß daher das Recht der Kinder auf angemessene schulische Erziehung schützen, die Befähigung der Lehrer und die Qualität des Unterrichts überwachen, für die Gesundheit der Schüler Sorge tragen und im allgemeinen dem ganzen Schulwesen seine Förderung angedeihen lassen. Dabei soll er das Subsidiaritätsprinzip vor Augen haben, unter Ausschluß jeder Art von Schulmonopol, das den angeborenen Rechten der menschlichen Person widerstreitet, dem Fortschritt und der Ausbreitung der Kultur, dem friedlichen Zusammenleben der Bürger und dem i n sehr vielen Staaten heute herrschenden Pluralismus widerspricht." 57 Hierzu und zum Folgenden Centesimus annus Nr. 48. 58 Vgl. Centesimus annus Nr. 15. 59 Pacem i n terris Nr. 140: „Wie in den Einzelstaaten die Beziehungen zwischen der staatlichen Gewalt und den Bürgern, den Familien und den zwischen ihnen und dem Staat stehenden Verbänden durch das Subsidiaritätsprinzip gelenkt und geordnet werden müssen, so müssen durch dieses Prinzip natürlich auch jene Beziehungen geregelt werden, welche zwischen der Autorität der universalen politischen Gewalt und den Staatsgewalten der einzelnen Nationen bestehen, Denn dieser universalen Autorität kommt als besondere Aufgabe zu, jene Fragen zu behandeln und zu entscheiden, die sich bezüglich des universalen Gemeinwohls stellen,

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tution Gaudium et Spes 1965 diese Erstreckung des Subsidiaritätsprinzips auf internationale Zusammenhänge ausdrücklich und qualifiziert sie dabei als nützliche Norm (norma opportuna) 6 0 . Das Konzil schrieb dem Subsidiaritätsprinzip wirkmächtige Kraft als Leitbild für die Zusammenarbeit i n der internationalen Gemeinschaft zu. Unter seiner Prämisse seien die weltwirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Verhältnisse zu ordnen 6 1 . Demgegenüber fehlt ein Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip in der Enzyklika Populorum Progessio von Papst Paul V I . 6 2 . c) Zwischenfazit Häufiger als i n den angeführten Textbelegen w i r d der Begriff Subsidiaritätsprinzip i n den päpstlichen Enzykliken nicht verwendet 63 . Es ist demzufolge sowohl augenfällig als auch höchst bemerkenswert, wie selten die expliziten Bezugnahmen auf die Kategorie Subsidiaritätsprinzip in Enzykliken und anderen päpstlichen Verlautbarungen sind. Das päpstliche Lehramt scheint demnach durchaus den Mahnungen Peter Lerches Rechnung zu tragen, da sämtliche anderen Ausführungen i n den Enzykliken, ggfs. als ausfüllende oder konkretisierende Entfaltungen des Subsidiaritätsprinzips gelesen werden können. Das Lehramt beschwört, dies wird durch den relativ seltenen Verweis auf den Subsidiaritätsgrundsatz sehr deutlich, keine inhaltsoffene Zauberformel, sondern zeichnet sich diesbezüglich eher durch eine wohl nicht immer ganz wahrgenommene Zurückhaltung aus. Vielmehr stellt sich das Lehramt den jeweils durch die Zeit konstituierten konkreten sozialpolitischen Fragestellungen, zumal sich die Kirche darum zu bemühen hat, die und zwar in wirtschaftlicher, sozialer und politischer wie auch i n kultureller Hinsicht [...]". 60 Wenngleich die Pastoralkonstitution nicht dem Genus der Sozialenzykliken zuzurechnen ist, weist sie doch einer solchen sachlichen Zusammenhang auf, der eine Berücksichtigung vorliegend angezeigt sein läßt. I.d.S. auch Hilpert (FN 25), Sp. 763 ff. [763]. 61 Gaudium et spes Nr. 86: „Aufgabe der internationalen Gemeinschaft ist es, die wirtschaftliche Entwicklung zu ordnen und ihr Anreize zu geben, jedoch so, daß die dafür bestimmten Mittel so wirksam und gerecht wie möglich vergeben werden. Sache dieser Gemeinschaft ist es auch, unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips [principio subsidiarietatis] die wirtschaftlichen Verhältnisse weltweit so zu ordnen, daß sie sich nach der Norm der Gerechtigkeit entwickeln". 62 Vgl. Klüber (FN 14), 589. 63 Ausgeblendet bleiben vorliegend innerkirchliche Stellungnahmen seitens der nationalen Bischofskonferenzen u.ä. Siehe etwa das Lehrschreiben der deutschen Bischöfe vom 12. Dezember 1953, in: Christliche Staatslehre: Dokumente, zusammengestellt und ein geleitet von Albrecht Beckel, 1960, 65 ff. [71 f.]. Zu anderen, auch außerkirchlichen Verwendungszusammenhängen (Parteiprogramme u.ä.) instruktiv die Textstufenanalyse von Peter Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: Riklin/Batliner (FN 11), 267 ff. m.w.N.

Subsidiaritätsprinzip i n den päpstlichen Enzykliken

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„Zeichen der Zeit" (Mt 16, 3) zu erkennen und zu verstehen 64 . Zwar erfolgt hinsichtlich des Subsidiaritätsprinzips kein vollständiger Abschied vom Prinzipiellen, aber mit seiner Verwendung wird letztlich doch recht temperiert Maß gehalten.

2. Substanz des Subsidiaritätsprinzips: Aufschlüsselung inhaltlicher Dimensionen des Konzepts Subsidiaritätsprinzip

Nicht nur die Wissenschaft von der Katholischen Soziallehre hat sich bemüht, die unterschiedlichen Dimensionen, den ,implikativen' Gehalt des Prinzips aufzuschlüsseln 65 . Folgende aufschlüsselnde Ansätze lassen sich exemplarisch feststellen:

a) Erster Ansatz: Positive und negative Seite des Subsidiaritätsprinzips Beispielsweise Oswald von Nell-Breuning differenziert zwischen negativer und positiver Seite des Subsidiaritätsprinzips 66 . Die ,negative Seite' des Subsidiaritätsprinzips hebt hervor, daß die Gesellschaft nicht das erfüllen soll, was das Individuum aus eigener Kraft heraus selbst erfüllen kann, so daß dem Subsidiaritätsprinzip - in Anlehnung an den status negativus (Georg Jellinek) - freiheitssichernde Funktion zugemessen w i r d 6 7 . Demgegenüber besagt die ,positi ve Seite' des Prinzips, daß dann, wenn der einzelne oder die kleinere Gemeinschaft eine Aufgabe nicht (mehr) zu erfüllen vermag, diese auf eine höhere Organisationsebene gehoben werden darf, wobei die höhere Einheit verpflichtet ist, die kleineren Einheiten wiederum in eine Lage zu versetzen, i n der sie möglichst bald wieder eigenständig die entsprechenden Aufgaben wahrnehmen können 6 8 . I n der ,positiven Seite' des Subsidiaritätsprinzips klingen demnach gewisse leistungsstaatliche Elemente an.

64 In diesem Sinne immer wieder unter Berufung auf das Matthäus-Evangelium Joseph Höffner, Bischofs Kettlers Erbe verpflichtet (Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, 5), 1977, 13 ff.; ders., Soziallehre der Kirche oder Theologie der Befreiung? (Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, 11), 1984, 10 f. 65 So Lothar Schneider, Subsidiäre Gesellschaft: Implikative und analoge Aspekte eines Sozialprinzips, 1983; siehe auch Freiling (FN 22), 7 f. 66 Nell-Breuning (FN 19), 93 ff. Ähnlich auch Hagel (FN 22), 268 ff., der zwischen positiver und negativer Lesart unterscheidet. 67 Vgl. Pieper (FN 11), 37 m.w.N.; siehe auch Ettwig (FN 2), 15 m.w.N. 68 Siehe Pieper (FN 11), ebda.

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b) Zweiter Ansatz: Differenzierung des Subsidiaritätsprinzips in drei Elemente Eine andere Auffassung hebt demgegenüber drei Aspekte des Subsidiaritätsprinzips besonders hervor, indem sie zwischen subsidiärer Kompetenz, subsidiärer Assistenz (die sog. Hilfe zur Selbsthilfe) und der subsidiären Revision (als dynamisches Element) unterscheidet 69 . Während die subsidiäre Kompetenz, teilweise auch als Entzugsverbot t i t u l i e r t 7 0 , gleichsam das Recht des Einzelnen oder der kleineren Gemeinschaft darauf normiert, als personennähere Entscheidungsebene vorrangig zuständig zu sein für Tätigkeiten, die selbst wahrgenommen werden können und darüber hinaus auch ein Entzugsverbot formuliert, soll die subsidiäre Assistenz eine institutionalisierte Unterstützungsbereitschaft der übergeordneten Ebene mit der Präferenz sog. Hilfe zur Selbsthilfe der personennahen Gemeinschaft hervorheben. Schließlich umschreibt die subsidiäre Revision bzw. Reduktion 7 1 ein dynamisches Überprüfungselement, damit Hilfen der höheren Einheit sich nicht zu einem Dauerinstrumentarium entwickeln und letztlich die Eigeninitiative ebenso wie die Eigenverantwortung lähmen. Das Subsidiaritätsprinzip ist demnach vor allem eine Orientierungshilfe, die eine angemessene Aufgaben- und Lastenverteilung zwischen privater und öffentlicher Sphäre sicherstellen soll, um somit auch dem religiös-personalen Ansatz Katholischer Soziallehre gerecht zu werden. Das Zusammenleben der Menschen hat weder Markt noch Staat zum Endziel, sondern dem Menschen kommt ein solcher Eigenwert zu, daß Staat und Markt ihm zu dienen haben 7 2 . c) Dritter Ansatz: Inhaltliche Auffächerung des Subsidiaritätsprinzips in sieben Momente Ein anderer Ansatz fächert das Subsidiaritätsprinzip in ,sieben Momente' auf 7 3 . Das Subsidiaritätsprinzip weist i n einem ersten Moment eine überraschend individualistische Stoßrichtung auf. Nicht ohne 69 Vgl. Roos (FN 18), Sp. 1045 ff. [1046]. 70 Schneider (FN 65), 27 f. 71 Schneider (FN 65), 35. Vgl. auch Freiling (FN 22), 8. 72 Centesimus annus Nr. 49 a.E. Vgl. auch schon Die Ansprache Pius XII. vom 5. Juni 1955, in: Utz/Groner (FN 47), Bd. III, Nr. 6140 ff. [6143]: „Die vordringliche Bedeutung des Privatunternehmens in bezug auf die subsidiäre des Staates ist stets als ein wesentlicher Punkt der christlichen Gesellschaftslehre hervorgehoben worden. Dies geschah nicht, um die Nützlichkeit und Notwendigkeit der staatlichen Intervention für diesen oder jenen Fall zu leugnen, sondern um die Tatsache zu unterstreichen, daß die menschliche Person, wie sie das Ziel der Wirtschaft, so auch deren erste Triebkraft ist". 73 So Otfried Höffe, Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, in: Nörr/ Oppermann (FN 11), 49 ff. [53 ff.]; aufgenommen beispielsweise von Marx (FN 10),

Subsidiaritätsprinzip in den päpstlichen Enzykliken

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Grund weist Otfried Höffe darauf hin, daß Quadragesimo anno nicht den von der Katholischen Soziallehre mit den Subsidiaritätsprinzip immer in Zusammenhang gebrachten Personenbegriff verwendet, sondern vielmehr ausdrücklich vom Einzelmenschen (singularis homo) spricht. Das Individuum ist als Ausgangspunkt und Ziel gesellschaftlichen Handelns entscheidender Bezugspunkt. Als zweites Moment hebt Höffe hervor, daß die Inanspruchnahme von mehr Kompetenzen schlicht illegitime Anmaßungen darstellen. Als drittes Moment w i r d das Subsidiaritätsprinzip i m engeren Sinne als eine i n zwei Unterpunkte ausdifferenzierte Prioritätsregel aufgefaßt, die zum einen i n ein Hilfsgebot und zum anderen in ein Kompetenzanmaßungsverbot untergliedert ist. Hilfestellungsgebot und Kompetenzanmaßungsverbot unterfallen dabei jeweils wiederum in zwei Teile, die sowohl die Beziehung der Sozialsphäre gegenüber dem Individuum als auch die Beziehung der größeren und umfassenderen gegenüber der kleineren Sozialeinheit betrifft (viertes und fünftes Moment). Als (organisatorisches) Gestaltungsprinzip und zweiter Teil der jeweiligen Prioritätsaspekte setzt die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips als sechstes Moment voraus, daß ein vielgliedriges, mehrschichtiges Gemeinwesen vorhanden i s t 7 4 . Nur bei einem gestuften, (hierarchisch) gegliederten Gesellschaftsaufbau, nur wenn es um das Verhältnis von Teil und Ganzem geht 7 5 , kann das Subsidiaritätsprinzip in dieser Dimension seine Wirkmacht entfalten. Schließlich ist das Subsidiaritätsprinzip dadurch gekennzeichnet, daß ein Verstoß hiergegen ein A k t der Ungerechtigkeit ist und einen gravierenden Schaden verursacht. Gerechtigkeit und Subsidiarität sind demzufolge zwei zusammenhängende und verbundene Leitgrößen 76 . d) Zwischenfazit Dem Ursprung nach ist das Subsidiaritätsprinzip in den kirchlichen Lehräußerungen und seiner wissenschaftlichen Rezeption bzw. Auffächerung bereits mehrdimensional angelegt. Ein Markenzeichen ist sein hoher Grad an Verallgemeinerung und seine Ergebnisoffenheit, die, wenngleich doch gewisse richtungsweisende Fingerzeige gegeben wer35 ff. [39 f.] und modifizierend - auf vier Teilaussagen reduziert - auch von Anzenbacher (FN 13), 212 ff. 74 Neben Höffe siehe auch Rauscher (FN 32), 60, der unter Hinweis auf Quadragesimo anno Nr. 78 zu Recht darlegt, daß das Subsidiaritätsprinzip als organisatorisches Aufbaugesetz sich nur dann voll auswirken könne, „wenn der gesamte Gesellschaftskörper eine echte Fülle von Gemeinschaften besitzt". I n diesem Sinne auch Hagel (FN 22), 260 f. m.w.N. 75 Vgl. Nell-Breuning (FN 19), 110 f. 76 Marx (FN 10), 35 ff. [40], was sich unmittelbar aus Quadragesimo anno Nr. 79 ergibt.

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den 7 7 , seine Flexibilität und situative Anpassungsfähigkeit konstituieren 7 8 . Subsidiarität w i r d hierbei häufig auf die Kurzformeln ,hilfreicher Beistand' 7 9 , ,ergänzender Beistand', »ergänzende H i l f e ' 8 0 oder ,Hilfe zur Selbsthilfe' 8 1 gebracht. Wenn dabei subsidiaritätskonformes staatliches oder gesellschaftliches Handeln nicht als ein behelfs- oder ersatzweises Wirken aufgefaßt wird, sondern in erster Linie im Sinne von ,Hilfe bringen' verstanden w i r d 8 2 , so liegt dem Subsidiaritätsprinzip dabei vor allem die moralphilosophische Regel zugrunde, daß grundsätzlich jedes einzelne Gesellschaftsmitglied für sich selber zu sorgen hat und sich diese Grundregel auch analog auf ein Gemeinwesen übertragen läßt 8 3 . Das Subsidiaritätsprinzip w i r d in der Katholischen Soziallehre, wie der Theologe Hagel durchaus zutreffend formuliert, vor allem als ein formales Zuständigkeitsprinzip verstanden, welches als prima facie Regel für eine konkrete Aufgabenverteilung in einer Gemeinschaft eine Beweislastverteilung zulasten der jeweils größeren Einheit vornimmt 8 4 . In dem sozialphilosophischen Grundsatz der Subsidiarität kommt - nach Merkl „gemäß der christlichen Forderung sittlicher Selbstverantwortlichkeit des Individuums der Handlungsprimat des Individuums vor dem Kollektivum und der Handlungsprimat des engeren Kreises des Kollektivums vor dem weiteren Kreis zum Ausdruck" 8 5 . Organologischen Vorstellungen, die das soziale Ganze dem einzelnen Menschen überordnen, weist das Subsidiaritätsprinzip dabei nicht ohne Schärfe in die Grenzen 86 . Übermäßigen Subordinations- und Entindividuierungseffekten sucht das Subsidiaritätsprinzip a priori entgegenzuwirken. Demzufolge ist das Subsidiaritätsprinzip in vielfältiger Weise kompatibel mit liberalen, individualistischen Denkansätzen, wenngleich es sich nicht in dieser Dimension erschöpft 87 . Soweit das Subsidiaritätsprinzip im Sinne der katholi77 Zu einer solchen Funktion von Prinzipien siehe etwa Michael Schramm, Subsidiarität der Moral: Institutionenethische Überlegungen zum Subsidiaritätsprinzip der Katholischen Soziallehre, in: Mückl (FN 11), 9 ff. [9 m.w.N.]. 78 Siehe auch Anton Rauscher, Das Subsidiaritätsprinzip als sozialphilosophische und gesellschaftspolitische Norm, in: Ders., Kirche in der Welt, Bd. 1 (1988), 296 ff. [305 f.]. 79 Nell-Breuning (FN 19), 91 ff. 80 Zu diesen ebenfalls für möglich erachteten Übersetzungen siehe Nell-Breuning (FN 19), 92. 81 Klüber (FN 14), 869. 82 So Lerche (FN 12), 85 ff. [93]. 83 Vgl. Hagel (FN 22), 259. 84 Hagel (FN 22), 277. 85 So Merkl, in: GS 1/2, 129 ff. [132]. 86 So Gabriel (FN 26), 13 ff. [25]. 87 Näher zu diesem Zusammenhang mit Blick auf die Soziallehre überhaupt Clemens Dölken, Katholische Sozialtheorie und liberale Ökonomik: Das Verhältnis von Katholischer Soziallehre und Neoliberalismus im Lichte der modernen Institutionenökonomik, 1992, der im Subsidiaritätsprinzip sowohl einen Zuständig-

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sehen Sozialverkündigung insofern als strukturierendes Formalprinzip 8 8 aufgefaßt wird, besitzt es nicht nur als ,Riegelprinzip' 89 gegen kollektivistische oder totalitäre Tendenzen eine individualschützende Funktion 9 0 , vielmehr dient es gleichzeitig und darüber hinaus auch dem Schutz des Staates vor Überforderung. III. Rechtlicher Gehalt des Subsidiaritätsgrundsatzes im Verständnis der Katholischen Soziallehre Die Vorstellung, aus dem Subsidiaritätsprinzip, wie es in den päpstlichen Sozialenzykliken oder anderen Verlautbarungen Gestalt gewonnen hat, einen unmittelbaren rechtsdogmatischen Ertrag zu erwarten, dürfte von vornherein eine falsche sein. Nichtsdestotrotz lassen sich zum einen prinzipielle Analogien und zum anderen auch inhaltlich-thematische Entsprechungen aufzeigen. Letztgenanntes kann insofern nicht überraschen, als das päpstliche Lehramt sich bei seiner Sozialverkündigung selbstverständlich auf aktuelle und konkrete Fragen von Staat und Gesellschaft bezieht und eigenständige Marken zu setzen sucht. 1. Rechtsnatur des Subsidiaritätsdenkens

a) Norm oder Prinzip? Wenngleich die Thematisierung des Subsidiaritätsprinzips i n den päpstlichen Enzykliken für sich genommen keinen expliziten rechtlichen Gehalt aufweisen, insoweit sie lediglich außengerichtet Anforderungen und Erwartungen an Staat und Gesellschaftsstruktur formulieren, lassen sich in der (theologischen) Literatur durchaus nicht selten rechtliche Anklänge und rechtliche Qualifikationen der Subsidiaritätskategorie ausmachen 91 . Der Nestor der Katholischen Soziallehre und Mitautor von Quadragesimo anno 1931, Oswald von Nell-Breuning, qualifiziert das Subsidiaritätsprinzip als widerlegbare Rechts Vermutung: Bis zum Beweis des Gegenteils soll die Aufgabe dem Nächstbeteiligten überlassen bleikeitsgrundsatz (69 ff. u.ö.) als auch ein pragmatisches Abwehrinstrument (197) erblickt. 88 Statt vieler Franz Klüber, Individuum und Gemeinschaft i n katholischer Sicht, 1963, 64 ff. Präzisierungen zur formalen Struktur bei Schramm (FN 77), 9 ff. [16 ff.]. Zur Problematik formales oder materiales Prinzip und zur Doppeldeutigkeit des Begriffes ,formal' näher Isensee (FN 3), 72 f. m.w.N. 8 9 So Arthur-Fridolin Utz, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Subsidiaritätsprinzips, in: Ders. (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip, 1953, 7 ff. [7]. Zu dem allzu starken negativen Verständnis des Subsidiaritätsprinzips bei Utz näher Hagel (FN 22), 275 f. m.w.N. 90 Vgl. Rauscher (FN 78), 296 ff. [300]. 91 Siehe dazu etwa auch Pieper (FN 11), 41 ff. m.w.N.

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ben 9 2 . Klüber tituliert den Subsidiaritätsgrundsatz als ,Recht der kleineren Lebenskreise', für das immer eine Rechtsvermutung (praesumtio iuris) streite 9 3 . Der Erfurter Theologe Michael Schramm hebt zudem, den heute auch zunehmend im juristischen Schrifttum beachteten Effizienzgesichtspunkt hervor 9 4 , der seines Erachtens dem Subsidiaritätsprinzip zu eigen und Grund seiner Geltung i s t 9 5 . aa) Binnenperspektive Was die formale und materiale Qualität des Subsidiaritätskonzepts anbelangt, kommt es zum Schwur, wenn Theologie politisch w i r d 9 6 . Die Instruktion 9 7 Libertas conscientia der Glaubenskongregation aus dem Jahre 1986 hat dabei auch hinsichtlich des Subsidiaritätsprinzips einige grundlegende Klarstellungen vorgenommen. I n Libertas conscientia hebt die Glaubenskongregation hervor, daß die Kirche als Expertin in der Menschlichkeit durch ihre Soziallehre eine Summe von Reflexionsprinzipien, von Urteilskriterien und Richtlinien für das konkrete Handeln darlegt 9 8 . Auch das Subsidiaritätsprinzip begründe ein solches Kriterium zur Beurteilung sozialer Situationen, Strukturen und Systeme, ohne daß die kirchliche Soziallehre aber selbst ein eigenes System vorlege 99 . Angegeben w i r d demnach lediglich ein Rahmen für Handlungsoptionen. Wenngleich das Subsidiaritätsprinzip aufgrund seiner Struktur nach nur ein ziemlich allgemeines Prinzip darstellt, kann es gerade in seiner Abstraktheit geeignet sein, auseinanderlaufende Fliehkräfte zu sortieren und auf einen Nenner zu bringen, wobei es dann zwischen gegenläufigen Tendenzen ossiziliert. Wenn das Subsidiaritätsprinzip insofern keine Eindeutigkeit zu gewährleisten vermag, liegt seine Qualität demzufolge eher darin, daß es der Tendenz nach kleinere Einheiten mit einer primären Vorrangrelation - die immer zugleich ein Freiheitsgrad ist - ausstatt e t 1 0 0 . Damit w i r d eine prima-facie-Rechtsposition aufgestellt bzw. eine 92 Nell-Breuning (FN 19), 82 f. 93 Klüber (FN 14), 870 ff. 94 Stellvertretend dafür Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2. Aufl. 1998. 95 Schramm (FN 77), 9 ff. [14, 24 f.]; vgl. auch Dölken (FN 87), 71, 181 Zum Effizienzgesichtspunkt in der Perspektive der Ökonomik näher Karl Hohmann/ChristianKirchner, Das Subsidiaritätsprinzip in der Katholischen Soziallehre und in der Ökonomik, in: Lüder Gerken (Hrsg.), Europa zwischen Ordnungswettbewerb und Harmonisierung, 1995, 45 ff. [54 ff.]; Picot (FN 11) 102 ff. [114 ff.]. 96 Näher zu diesem Problemkreis Anzenbacher (FN 13), 155 f., insbes. 158 ff.; sowie Hünermann (FN 13), 39 ff. [49 ff. m.w.N.]. 97 Näher zum Charakter und zur Regelungsreichweite Lothar Waechter, Artikel »Instruktion 4 , in: LThK, 3. Aufl., Bd. V (1996), Sp. 548. 98 Libertas conscientia Nr. 72. 99 Libertas conscientia Nr. 74.

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Beweislastverteilungsregel formuliert, die dazu führt, daß dem Subsidiaritätsprinzip wahrscheinlich doch mehr als ein bloß heuristischer Charakter innewohnt: Ihm kommt eine gewisse, erst durch gewichtige Gegengründe zu entkräftende Vorvermutung für die kleinere Einheit sowie deren Selbstverwirklichung und -Verantwortung z u 1 0 1 . Das Subsidiaritätsprinzip ist als funktionales gesellschaftliches Strukturierungsprinzip kein umfassendes Sozialprinzip, das ein für allemal sämtliche Problemstellungen des Menschen in seinem sozialen Eingebundensein in Staat und Gesellschaft löst. Totalität liegt ihm begriffsnotwendigerweise fern. Die eigentlichen Sachprobleme werden durch das Subsidiaritätskonzept nicht gelöst: Was Aufgabe ist bzw. sein soll, muß vor der Organisationsstruktur - dem Wie - geklärt sein. Es vermag nicht sämtliche Aspekte gemeinschaftlichen Zusammenlebens zu regeln, sondern ist primär auf die ZuständigkeitsVerteilung begrenzt, wobei heute sein Telos stärker auch in der Effizienz erblickt w i r d 1 0 2 . Mit dem Subsidiaritätsprinzip alleine lassen sich demzufolge bestimmte gesellschaftspolitische Maßnahmen weder abschließend begründen noch widerlegen. Das Subsidiaritätsprinzip ist keine universale Handlungsnorm, sondern eine Leitkategorie moderner Gesellschaftsgestaltung mit prinzipiellen Charakter, die Ungerechtigkeiten vermeiden soll und anhand der jeweiligen Gesellschaftssituationen zu konkretisieren i s t 1 0 3 . Der eigentliche Knackpunkt der Subsidiarität wird demzufolge von nicht wenigen eher in einer jenseits des Subsidiaritätsprinzips liegenden Sachlogik und Sachgerechtigkeit gesehen 104 . Daß eine solche Sachgerechtigkeit dem Subsidiaritätsdenken durchaus immanent ist, schärfte bereits Quadragesimo anno ein, indem die Enzyklika nicht subsidiaritätskonform organisierte Um- und Zustände per se als ungerecht verurteilt. Und auch in der primär formalen Dimension kommt dem Subsidiaritätsprinzip keine Eindeutigkeit zu. Vielmehr führt die Argumentation mit ihm zu einer Gratwanderung, die sich einem strikten Entweder-oder entzieht und eher durch Sowohl-als auch-Konstellationen geprägt i s t 1 0 5 . Gerade i n diesem „et - et" verdeut-

100 Vgl. auch Dölken (FN 87), 181. ιοί Der heuristische Charakter w i r d primär betont von Schramm (FN 77), 9 ff. [24 f.]. Ebenso Hohmann/Kirchner (FN 95), 45 ff. [51 ff.]. Furger (FN 17), 129, spricht vom ,hermeneutischen Leitsatz'. 102 So z.B. Schramm (FN 77), 9 ff. [24 m.w.N.]. Eine Akzentuierung, die i n Quadragesimo anno Nr. 80 durchaus ihren wörtlichen Halt findet. 103 Marx (FN 10), 35 ff. [49]. 104 So Schramm (FN 77), 9 ff. [23, 25]. Ähnlich Rauscher (FN 78), 296 ff. [306]: „Das Subsidiaritätsprinzip wahrt und fordert die bleibende Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Kultursachbereiche, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Erziehung, auch dann, wenn diese Bereiche subsidiär durch staatliche Mittel unterstützt und getragen werden". Die Sachgerechtigkeit besonders betonend Nell-Breuning, Artikel ,Subsidiaritätsprinzip', in: Staatslexikon, Bd. 7, 6. Aufl. 1962, Sp. 826 ff. [832], siehe auch Hohmann/Kirchner (FN 95), 45 ff. [51 ff.].

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licht sich eine Grundvorstellung katholischen Denkens 1 0 6 , wenngleich die Qualifikation des Subsidiaritätsprinzips als ,katholisches Prinzip' nicht unproblematisch sein mag. bb) Außenperspektive: Rechtswissenschaftliche »Relecture' Dem Subsidiaritätskonzept w i r d von Seiten der Rechtswissenschaft in der Regel die Normtauglichkeit abgesprochen, weil es nicht den Grad hinreichender Bestimmtheit auf weist, der einer rechtstechnischen Norm zu eigen i s t 1 0 7 . Wegen seiner allgemeinen Form sei es auf vermittelnde Konkretisierungen angewiesen, für die es lediglich die Richtung anzuzeigen vermag. Die Kategorie Subsidiarität w i r d demzufolge als rechtliches Prinzip aufgefaßt 108 . Ohne auf die rechtstheoretische Abgrenzung von Norm und Prinzip sowie die nicht seltene synonyme Verwendung im einzelnen näher eingehen zu können 1 0 9 , ist doch festzuhalten, daß der Prinzipiencharakter des Subsidiaritätskonzepts durchaus Wirkkraft und auch normative Fruchtbarkeit entfaltet. In diesem Zusammenhang weist die theologische Diskussion um das Subsidiaritätsprinzip eine bemerkenswerte Nähe zur Regel-Prinzip-Diskussion auf, wie sie i m deutschsprachigen Raum insbesondere von dem Kieler Rechtstheoretiker und Staatsrechtler Robert Alexy und ,seiner Schule' repräsentiert w i r d 1 1 0 . Zwischen Regel und Prinzip w i r d dabei ein logischer Unterschied i n der Normstruktur gesehen: Während Prinzipien Normen sind, die zu ihrer Anwendung in eine Abwägung einzustellen sind, so sind Regeln demgegenüber abwägungsresistente Normen, deren Anwendung durch Subsumtion erfolgt. „Wo Rechtspositionen abgewogen werden, werden Prinzipien angewendet" 1 1 1 . Hieran lassen sich auch die oben skizzierten theologisch-sozialphilosophischen Aspekte des Subsidiaritätsdenkens durchaus anschließen bzw. widerspiegeln. Wie der Subsidiaritätsgrundsatz der katholischen Soziallehre ist das Regel-Prinzipien-Modell (i.S. Alexys) dadurch gekennzeichnet, daß Prinzipien Optimierungsge-

105 i n diesem Sinne Mikluscdk (FN 21), 23, 28. Offensichtlich faßt Mikluscdk, i. E. das Subsidiaritätsprinzip aber wohl vor allem als kritischen Maßstab auf. 106 Vgl. auch Gabriel (FN 26), 13 ff. [30]. 107 Dazu näher Isensee (FN 3), 73 f., 313 f. 108 Statt vieler vgl. Häberle (FN 63), 267 ff. [300 ff. m.w.N.]; Pieper (FN 11), 41 ff., 61 ff. u.ö. 109 Hierzu etwa die Freiburger juristische Dissertation von Franz Reimer, Verfassungsprinzipien: Ein Normtyp im Grundgesetz, 2001, 173 f. m. w. N. uo Zum Folgenden und zur Diskussion allgemein statt vieler Martin Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 1998, 61-89, 98 f. u.ö. Näher zum Problemkreis auch die sehr instruktive geschichtliche Darstellung des Begriffs ,Prinzip' bei Reimer (FN 109), 146 ff. m So Borowski (FN 110), 122.

Subsidiaritätsprinzip i n den päpstlichen Enzykliken

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bote formulieren, die es im Rahmen rechtlicher und tatsächlicher Möglichkeiten in einem möglichst hohen Maße zu realisieren g i l t 1 1 2 . Als Optimierungsgebot sind Rechtsprinzipien in der Lage, über Vorrangrelationen Auskunft zu geben, ohne daß sie das Ergebnis eines Entscheidungsund Abwägungsprozesses gänzlich determinieren. Entsprechendes ließe sich für die Subsidiaritätskategorie auch hinsichtlich eines neueren Ansatzes sagen, der die inhaltliche Allgemeinheit von Prinzipien als Normen hervorhebt und dabei betont, daß es sich bei Prinzipien um nichtkonditionale und demnach rechtsfolgenoffene Normen handele 1 1 3 . Insofern erweist sich die Modernität des Subsidiaritätsdenkens gerade vielleicht auch darin, daß sie die neuen-alten oder alten-neuen Fragen juristischen Denkens durchaus in sich aufhebt. b) Subsidiarität:

gravissimum illud

principium?

Für die weitere Beantwortung der Frage nach der Substanz des Subsidiaritätsprinzips i n der kirchlichen Sozialverkündung ist es schließlich erforderlich, seinen Standort in der Wertigkeitsskala nach dem kirchlichen Selbstverständnis zu ermitteln. Quadragesimo anno qualifiziert das Subsidiaritätsprinzip als „gravissimum i l l u d principium". Die Übersetzung dieser Passage war längere Zeit nicht unumstritten 1 1 4 . Während einige das Subsidiaritätsprinzips als „jenen obersten sozialphilosophischen Grundsatz" qualifizierten und demnach einen Superlativ annahmen, übersetzen andere dies lediglich als Elativ und kommen demzufolge zu einer relativierenden Betrachtung, die das Subsidiaritätsprinzip als „jenen höchstgewichtigen sozialphilosophischen Grundsatz" auffaßt, der noch neben anderen ebenfalls bedeutenden Grundsätzen steht. Letzteres ergibt sich bereits aus Quadragesimo Anno Nr. 79, wo hervorgehoben wird, daß nicht subsidiaritätskonf orme Zustände gegen das Gerechtigkeitsprinzip verstoßen.

112 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, 75 f. Vgl. auch Eidenmüller (FN 94), 462 f. 113 Reimer (FN 109), 179 ff., insbes. 181 f. 114 Zum Problem siehe die grundlegende Intervention von Nell-Breuning, Art. »Subsidiaritätsprinzip 4 (FN 103), Sp. 826 ff. [826 f.].Vgl. zudem die Nachweise bei Hagel (FN 22), 262 f. m.w.N.; ferner Isensee (FN 3), 19 m.w.N. Vom „obersten sozialphilosophischen Grundsatz" sprach die autorisierte vatikanische Übersetzung ins Deutsche, abgedruckt in: AfKathKR 111 (1931), 525 ff. [554].

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Ansgar Hense 2. Assoziierende Betrachtung zum Subsidiaritätsprinzip hinsichtlich einzelner rechtlich relevanter Themenstellungen

Das Subsidiaritätsprinzip, so wie es in den päpstlichen Enzykliken zum Ausdruck kommt, läßt sich mit einer Vielzahl aktueller rechtswissenschaftlicher Diskussionen und Thematiken in Beziehung setzen bzw. als rechtliches Thema reformulieren, ohne daß es hierbei zu voreiligen Schlußfolgerungen kommen muß. Hierbei läßt sich aber ein potentieller, in der Regel durchweg hintergründiger Juristischer Gehalt 4 päpstlicher Enzykliken nicht 1:1 i n diese oder jene Richtung übertragen, zumal ja auch die Übersetzung des Subsidiaritätsprinzips als bloß formale Kategorie in konkrete staatsrechtliche Ordnungskonzeptionen nach katholischer Auffassung gerade dem jeweiligen Staat überlassen bleiben soll. Daß gerade das Subsidiaritätsprinzip diese erfolgreiche Anschlußfähigkeit über den theologischen Raum hinaus erfahren konnte, liegt nicht zuletzt daran, daß dieses Prinzip vor allem ein sozialphilosophischer Grundsatz i s t 1 1 5 , der gleichsam zwischen Theologie und Recht steht. Zu Recht hebt Peter Häberle in diesem Zusammenhang - und auch gegen den Vorwurf der Leerformelhaftigkeit gerichtet - den Relationscharakter des Subsidiaritätsprinzips hervor, der als Brücke bzw. i n Korrelation zu bestimmten Kontexten erst seinen bereichs- und funktionsspezifischen Gehalt f i n d e t 1 1 6 . Hierbei ist er angesichts seines formalen Charakters durch die herkömmlichen Eigenarten ,weicher' Leitbegriffe gekennzeichnet, die beispielsweise in Ermangelung binärer Wertungen lediglich i n zu konkretisierenden Tendenz aus sagen liegen, die dem juristischen Denken und der staatlichen Rechtsordnung aber durchaus nicht fremd s i n d 1 1 7 . Die Generalität des Subsidiaritätsprinzips spiegelt sich i n den unterschiedlichsten, vom kirchlichen Lehramt thematisierten politisch-sozialen Phänomenen wider, wobei vielfach - wie Nell-Breuning andeutet strenggenommen eine explizite Bezugnahme und Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip entbehrlich erscheint 1 1 8 . Wenn hierauf i n den Sozialenzykliken auch häufig, wie gesagt, verzichtet wird, so steht doch das Subsidiaritätsdenken bei den konkreten, aktuellen sozialen Fragen sehr

Iis w i e Quadragesimo anno Nr. 79 ja ausdrücklich betont! Zu Sozialprinzipien als ethische Baugesetzlichkeiten moderner Gesellschaft näher Alois Baumgartner! Wilhelm Korff, in: Handbuch der Wirtschaftsethik, hrsg. i m Auftrag der GörresGesellschaft von W. Korff, Bd. 1 (1999), 225 ff. ne Häberle (FN 63)., 267 ff. [300 f.]. Zur Subsidiarität als ,Brückenprinzip' siehe auch Marx (FN 10), 35 ff. [43] m.w.N. Zum Rechtsgehalt näher Schambeck (FN 8), 3 ff. [3 f., 21 f.]. 117 Dazu näher Helmuth Schulze-Fielitz, Rationalität als rechtsstaatliches Prinzip für den Organisationsgesetzgeber, in: FS Klaus Vogel, 2000, 311 ff. [316 ff. m.w.N.]. 118 Nell-Breuning, (FN 19), 108.

Subsidiaritätsprinzip in den päpstlichen Enzykliken

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häufig als Bezugsrahmen hinter den päpstlichen Ausführungen 1 1 9 . Bei einer ,νοη unten nach oben4 erfolgenden Vorgehensweise lassen sich hinsichtlich des Subsidiaritätsprinzips folgende rechtliche Aspekte zwischen Theologie und Recht gleichsam i n einem Dialog unter Abwesenden ausmachen, die hinsichtlich der innerstaatlichen Perspektive häufig in der Grunddifferenz Einzelner-Gesellschaft-Staat wurzeln. a) Freiheitliche

Rechte und Pflichten

Ein beständiges Thema des theologisch inspirierten Rechtsdenkens ist immer wieder das Verhältnis von Rechten und Pflichten. I n der Enzyklika Sollicitudo rei socialis führt Johannes Paul II. aus: „Die menschliche Person ist nur dann ganz frei, wenn sie zu sich selbst gekommen ist und i n der Fülle ihrer Rechte und Pflichten lebt; dasselbe läßt sich von der Gesellschaft als Ganzes sagen" 1 2 0 . Die Subsidiarität lebt insofern von der Voraussetzung, das Rechtsofferten, die staatliche Rechtsordnungen bereit halten, angenommen und umgesetzt werden. Mitnahmementalitäten, Trittbrettfahrerhaltungen oder pessimistische Passivität sind subsidiaritätsfeindlich 1 2 1 . Subsidiaritätskonform ist eine harmonische Abstimmung zwischen Rechten und Pflichten, die Eigenständigkeit und Eigeninitiative des Einzelnen wie auch der Gesellschaft garantiert 1 2 2 . Damit w i r d eine Saite angeschlagen, die i n der Rechtswissenschaft längere Zeit weniger im Blick stand, neuerdings unter dem Gesichtspunkt Grundrechte-Grundpflichten aber stärkere Aufmerksamkeit erfährt 1 2 3 . Staatliche Subsidiarität wird immer wieder als Postulat gesellschaftlicher Freiheit aufgefaßt 124 . Dazu gehört auch, daß die Einzelnen sich überhaupt in der sozialen Lage befinden, ihre Grundrechte wahrnehmen und ihre Pflichten erfüllen zu können 1 2 5 . Subsidiaritätskonformität setzt 119 Aber nicht nur bei ihnen, siehe exemplarisch das aus dem Jahre 1986 stammende Hirtenwort der Bischofskonferenz der Vereinigten Staaten von Amerika, Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle: Die Katholische Soziallehre und die amerikanische Wirtschaft (Stimmen der Weltkirche, 26), insbes. Nr. 99 ff., 124, 323. 120 Sollicitudo rei socialis Nr. 46. 121 Vgl. Sollicitudo rei socialis Nr. 47. 122 Pacem i n terris Nr. 62. Zu dem Verhältnis von Ausschließung, Abgrenzung und Verantwortung in diesem Zusammenhang siehe etwa Höffner (FN 53), 352. 123 Grundlegend dazu vor geschichtlichem Hintergrund Hasso Hofmann, Grundrechte und Grundpflichten, in: Ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, 73 ff. 124 Vgl. etwa Hans Heinrich Rupp, ,Dienende' Grundrechte, ,Bürgergesellschaft', ,Drittwirkung' und ,soziale Interdependenz' der Grundrechte, JZ 2001, 271 ff. [277].; ders., Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR I § 28 Rdn. 51 ff. 125 vgl. nur Pacem i n terris Nr. 63 f. Näher zum Problemkreis Grundrechtseffektivität und sozialer Wirklichkeit Dieter Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, in: Hassemer u.a. (Hrsg.), Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982,

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demzufolge soziale Sicherheit voraus und formuliert eine gewisse soziale Schutzverpflichtung des Staates zugunsten der Einzelperson mit dem Ziel, dieser Hilfestellung zu leisten, sofern dies erforderlich i s t 1 2 6 . Wie schmal der Grat im einzelnen ist, w i r d an den aktuellen Diskussionen um die Reform des Sozialstaats, Bekämpfung eines moral-hazard-Verhalten u.a.m. deutlich. Ein übertriebener Versorgungsstaat entspricht dem Subsidiaritätsgedanken ebenso wenig wie ein liberalistischer Minimalstaat. Subsidiarität ist nicht nur ein Gradmesser für die freiheitliche Qualität eines Gemeinwesens, sondern verweist eben auch auf Verantwortlichkeiten, die übergeordnete Einheiten (wie z.B. ,den Staat') vor Überforderung und Ausnutzung schützen wollen. b) Strukturanforderungen

an gesellschaftliche

Selbstkoordination

Zur eigentlichen Wirkkraft kommt der Subsidiaritätsgrundsatz als soziales Kompetenzprinzip vor allem in stufenbauförmigen, gegliederten Konstellationen eines Gemeinwesens. Eindringlich hebt Papst Johannes X X I I I . in seinen Enzykliken Mater et magistra und Pacem i n terris hervor, „wie sehr es nottut, daß recht viele Vereinigungen oder Körperschaften, die zwischen Familie und Staat stehen, gegründet werden, die den Zwecken genügen, die der einzelne Mensch nicht wirksam erreichen kann. Diese Vereinigungen und Körperschaften sind als überaus notwendige Instrumente zu betrachten, um die Würde und Freiheit i m Hinblick auf die Wahrung ihrer Eigenverantwortlichkeit zu schützen" 1 2 7 . Centesimus annus betont nach dem Zusammenbruch der realexistierenden sozialistischen Staaten in diesem Zusammenhang „die Heranbildung [...] auch der »Subjektivität' der Gesellschaft durch die Schaffung von Strukturen der Beteiligung und der Mitverantwortung" 1 2 8 . Die besondere Akzentuierung der Selbstorganisation der Gesellschaft und der „Subjekthaftigkeit der Gesellschaft" 1 2 9 , die als Bestandteile des Subsidiaritätsdenkens Element der Katholischen Soziallehre sind, lassen sich an aktuelle rechtswissenschaftliche Fragestellungen anschließen. Der Subsidiaritätsgedanke kann als Denkfigur i n Beziehung gesetzt werden zu den rechtwissenschaftlichen Steuerungsdiskussionen, die unter den beispielhaft zu nennenden Leitkategorien schlanker Staat, Privatisierung, gesellschaftliche Selbstregulierung, Verantwortungsteilung u.a.m. über einen 39 ff. m.w.N. Zur Subsidiarität als freiheits- und gerechtigkeitsorientiertes Prinzip siehe nur Häberle (FN 63), 267 ff.[ 309]. !26 Zu dieser Hilfe ,νοη oben nach unten' als Ausfluß des Subsidiaritätsdenkens vgl. etwa Höffner (FN 53), 297, 352. 127 Pacem i n terris Nr. 14 unter Hinweis auf Mater et magistra Nr. 117 f. 128 Centesimus annus Nr. 46. 129 So Centesimus annus Nr. 49.

Subsidiaritätsprinzip i n den päpstlichen Enzykliken

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,Umbruch' im rechtlichen Denken hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft nachdenken bzw. dies als existierendes Phänomen reflektieren 1 3 0 . Der Staat soll nach heutigen Verständnis keine neuen institutionellen Designrichtungen der Gesellschaft autoritativ formulieren. Er verhält sich vielmehr dann gleichsam subsidiaritätskonform, wenn er sich lediglich darauf beschränkt, die Herausbildung derartiger Ordnungsgefüge zu fördern oder ggfs. zu stimulieren, wo bis jetzt noch keine derart selbständigen Institutionen bestehen 131 . ,Der Staat' w i r d demnach zunehmend zum Supervisor 1 3 2 und die Organisation von Handlungsoptionen und Anreizstrukturen zu seiner Aufgabe. Die Verantwortung für bestimmte Regelungen oder bestimmte Leistungspakte soll nunmehr an ,die Gesellschaft 4 zurückgegeben werden 1 3 3 . Selbstregulierung kann demzufolge Ausdruck einer subsidiären Struktur sein 1 3 4 . Andererseits kann es aber gerade dem Subsidiaritätsgedanken entsprechen, doch eine staatliche Regelung vorzunehmen, wenn sich die Selbstregulierungsmechanismen nicht bewähren. Marktmechanismen können versagen, so daß bei wirtschaftlicher Übermacht in Form von Kartellbildungen u. ä. eine staatliche Intervention auch aus Subsidiaritätsgründen erforderlich werden k a n n 1 3 5 . Die i n verschiedenste institutionalisierte Akteure differenzierte Gesellschaft weist nicht unerhebliche Analogien mit dem Gedanken der gesellschaftlichen Zwischenkörper/Zwischengruppen aus der päpstlichen Sozialverkündigung und deren Funktion im gesellschaftlichen Ordnungsgefüge a u f 1 3 6 : neben der in der katholischen Sozialver130 Aus der Fülle des weitreichenden Schrifttums nur Hans-Heinrich Trute, Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, DVB1. 1996, 950 ff.; Christof Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, 20, 308 f., 316 f.; sowie die Beiträge i n Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und »schlankem' Staat: Verantwortungsteilung als Schlüsselbegriff eines sich verändernden Verhältnisses von öffentlichem und privatem Sektor, 1999. Schließlich der Beitrag von Pernthaler in diesem Band. 131 Birger P. Priddat, reForm. Über den Wunsch nach Form in der Politik, in: Ders., Der bewegte Staat, 2000, 119 ff. [155]. 132 Vgl. Helmut Willke, Ironie des Staates, 1992, 300 f. u.ö.; Furger (FN 17), 173, spricht von schiedsrichterlicher Garantenstellung'; siehe auch Pernthaler (FN 130). 133 Priddat (FN 131), 119 ff. [152, 153]. 134 Vgl. zum Themenkreis etwa Franz Furger, Unterschätzte Eigenverantwortung - das Subsidiaritätsprinzip und der schnelle Ruf nach gesetzlicher Regelung: Sozialethische Überlegungen zur Legislatur im biomedizinischen Umfeld, in: Ders., Christliche Sozialethik in pluraler Gesellschaft, hrsg. von Heimbach-Steins u.a. 1997, 253 ff. Zu Themenkreis und Problemen i n diesem Zusammenhang siehe etwa auch Udo Di Fabio, Verlust der Steuerungskraft klassischer Rechtsquellen, NZS 1998, 449 ff. m.w.N. Eine bemerkenswerte Untersuchung im Bereich von Theologie und Recht unternimmt i n seiner Münsteraner theologischen Dissertation Helge Wulsdorf, Umweltethik, Gerechtigkeit und verbandliche Selbstregulierung, 1998. 135 Vgl. Merkl, in: GS 1/2, 645 ff. [667]. 136 Vgl. Centesimus annus Nr. 13, 49. Siehe weiter Laborem exercens Nr. 7. Mater et magistra Nr. 65 spricht von »leistungsgemeinschaftlichen Gebilden'.

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kündigung immer wieder herausgestellten Bedeutung der Familien ist in dieser Hinsicht besonders an berufsständische Organisationen als Selbstverwaltungseinheiten einer Berufsgruppe, Gewerkschaften und andere intermediäre Kräfte zu denken. Die Realisierung des Subsidiaritätsprinzips w i r k t demzufolge ebenso differenzierend wie pluralisierend. Derartig plural angelegte Gesellschaftsstrukturen führen zu dem Problem, daß Verbände zwischen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl changieren und an und für sich beiden Interessenpolen zu dienen haben 1 3 7 . Daß Verbandsstrukturen aber auch immer i n der Gefahr stehen, sich zu verselbständigen und selbst zu überhöhen, was letztlich u.a. zu einer vollständigen Derogation individualer Autonomie als Gestaltungsfaktor führen kann, hat der Tübinger Arbeitsrechtler Eduard Picker anhand der Tarif autonomie näher problematisiert und nachgewiesen 138 . Und bereits Merkl hat verschiedentlich die Frage thematisiert, welchen Einfluß das Subsidiaritätskonzept auf die innerverbandliche Struktur hat bzw. haben m u ß 1 3 9 . Die 1934 von Merkl konstatierte eigentliche, geschichtlich vorbildlose Problemstellung der Enzyklika Quadragesimo anno, die die späteren lehramtlichen Äußerungen etwas modifizierten und vertieften, liegt in der Einrichtung „einer zwischen Staat und Individuum vermittelnden gesellschaftlichen Organisation" 1 4 0 , erweist sich demzufolge nach wie vor als aktuell. c) Staatsorganisationsgestaltende

Grundentscheidungen

Das Subsidiaritätsprinzip ist aber nicht nur eine Gestaltungsprinzip im Verhältnis von Staat und Gesellschaft, sondern auch in bezug auf die Ordnung des Staates i n sich. Es ist demnach durchaus berechtigt, im Sinne einer ungeschriebenen, immanenten Bezugnahme einen Hyperlink' zwischen dem Subsidiaritätsgrundsatz und dem Föderalismus, Regionalismus 1 4 1 , dem Selbstverwaltungsgedanken 142 oder sogar dem Demokratieprinzip 1 4 3 herzustellen. Rechtstechnisch w i r d angesichts aus!37 Grundlegend dazu die Studie: Renate Mayntz (Hrsg.), Verbände zwischen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl, 1992. 138 Eduard Picker, Die Tarifautonomie i n der deutschen Arbeits Verfassung, 2000. 139 Daß die verbandsinterne Willensbildung nicht autokratisch oder nach dem Führerprinzip erfolgen darf, sondern vielmehr nach dem Vorbild der unmittelbaren oder parlamentarischen Demokratie mit Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, erörtert dezidiert Merkl, in: GS 1/2, 129 ff. [153 ff.]. 140 Merkl, in: GS 1/2, 129 ff. [163 f.]. 141 Vgl. nur Häberle (FN 63), 267 ff [284 ff. m.w.N.]. 142 Dazu etwa, letztlich kritisch Reinhard Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, 340 ff. m.w.N.

Subsidiaritätsprinzip in den päpstlichen Enzykliken

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drücklicher Regelung i n den Normtexten eine derartige Heranziehung des Subsidiaritätsprinzips in der Regel für entbehrlich gehalten. Gleichwohl ist einzuräumen, daß diese Strukturen in besonderem Maße dem Grundgedanken der Subsidiarität Rechnung tragen, da sie immer wieder bewußt zu halten suchen, daß die Menschen selbst Ursprung, Träger und Ziel gesellschaftlichen Lebens sind. d) Eine ,Subsidiaritäts-Seele' für Europa europarechtliche Analogien zur Sozialverkündigung Die - bisweilen als unerwartet bezeichnete 144 - Renaissance des Subsidiaritätsdenkens erfolgt in der neuesten Zeit vor allem in staatenübergreifenden Konstellationen und Kooperationen. Gerade derartige Mehrebenenzusammenhänge suchen, um nicht in ,Politikverflechtungsfallen' (Scharpf) zu tappen 1 4 5 , die Lösung ihrer Probleme in prinzipiellen Kategorien. Das Subsidiaritätsprinzip findet bei der Aufhebung der Mehrebenenproblematik immer wieder besondere Verwendung, um einen schonenden Ausgleich, eine praktische Konkordanz zwischen den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen einerseits und den nationalen Rechtssystemen andererseits herzustellen 1 4 6 . M i t Art. 5 Abs. 2 E G V 1 4 7 , der besonderen Hervorhebung i n der Präambel und Art. 51 der ,Charta der Grundrechte der Europäischen U n i o n ' 1 4 8 und auch der innerstaatlichen Aufnahme i n Art. 23 Abs. 1 GG n.F. 1 4 9 hat sich das Subsidiaritätsprinzip gleichsam zu einer europäischen Leitkategorie gegen zentralistische Tendenzen aufgeschwungen, die Effektivität und Effizienz, Flexibilität und Traditionsorientierung gleichermaßen berücksichtigt 1 5 0 . 143 Siehe etwa Ettwig (FN 2). Isensee (FN 3), 264 ff., nimmt aber an, daß das demokratische Prinzip sich zum Subsidiaritätsprinzip indifferent verhalte. 144 So etwa Theodor Strohm, Die unerwartete Renaissance des Subsidiaritätsprinzips, ZEE 45 (2001), 64 ff. 145 Zu diesem Problem vor allem Fritz W. Scharpf, Optionen des Föderalismus i n Deutschland und Europa, 1994, 11 ff. u.ö.; Gegenposition bei Arthur Benz, Politikverflechtung ohne Politikverflechtungsfalle - Koordination und Strukturdynamik im europäischen Mehrebenensystem, PVS 39 (1998), 558 ff. 146 Eine sehr bemerkenswerte Konstruktion i n dem sich zunehmend europäisierenden Verwaltungsrecht bei Stefan Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999: Die kollidierenden wechselbezüglichen Rechtssysteme werden mittels einer prinzipiengeleiteten Rechtsanwendung in Form einer »kooperativen Konkurrenz' (268, 488) derart löst, daß letztlich sowohl die freilich widerlegliche Vollzugsautonomie der Mitgliedstaaten als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips ebenso geachtet wird wie auch die Einforderung gemeinschaftsrechtlicher Einbindung. 147 Dazu in diesem Band näher Pieper. 148 Abi. EG vom 18.12.2000, C 364. Zur Genese und Konzeption siehe nur Christoph Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVB1. 2001, 1 ff. m.w.N. 149 Hierzu näher der Beitrag von Thomas Würtenberger i n diesem Band.

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Wenngleich die päpstlichen Sozialenzykliken selbstverständlich keine EU-kompatible Subsidiaritätskonzeption bieten können und sollen, so geben sie doch wieder exemplarische Fingerzeige, die sich als rechtliche Konzeptionen formulieren lassen, zumal gerade nach dem II. Weltkrieg die besondere Bedeutung des Subsidiaritätsgrundsatzes für staatenübergreifende Zusammenhänge hervorgehoben worden ist. Im Bildungswesen wird beispielsweise die rechtlich garantierte Möglichkeit zur Gründung freier Schulen von der Soziallehre gefordert 1 5 1 ; eine Forderung, die nicht nur Art. 7 Abs. 4 GG einlöst, sondern jetzt auch Art. 14 Abs. 3 EU-Grundrechte-Charta. Eine gewisse offene Flanke des europäischen Rechts dürfte nach wie vor i m einzelstaatlichen Religionsverfassungsrecht liegen; hier liegen arbeitsrechtliche Probleme wie auch grundsätzliche Fragen nach der Stellung Freier Wohlfahrtsträger im sozialstaatlichen Leistungsgefüge 152 . Die Sicherung des einzelstaatlichen Wohlfahrtspluralismus dürfte dabei eine der aktuellen europäischen Herausforderungen des Subsidiaritätsprinzips sein. Ebenso weist Papst Johannes Paul II. i n seiner Enzyklika Centesimus annus darauf hin, daß es gerade im wirtschaftlichen Bereich nachhaltige Aufgaben des Staates gibt, Machtkonzentrationen, Monopolstellungen durch stellvertretende Interventionen 4 zu verhindern, um den Aufbau oder die Wiederherstellung einer subsidiaritätskonformen Gesellschaftsordnung zu ermöglichen 1 5 3 . Gerade die europarechtliche Wettbewerbsordnung mit ihrer liberalen Stoßrichtung kann sich demzufolge i n gewissem Maße auf päpstliche Äußerungen berufen. Dem entspricht spiegelbildlich der Zugang zu sozialen Sicherungssystemen u.ä. als Schutzverpflichtung der höheren, i.d.R. staatlichen Ebene, wie sie z.B. in Art. 27 ff. EU-GrundrechteCharta Ausdruck gefunden haben. Daß die päpstliche Sozialverkündigung dabei auch den Staat oder andere höhere gesellschaftliche Einheiten vor Überforderung schützen w i l l und solche Rechte insbesondere mit der Zielrichtung als Wiederherstellung eigenverantwortlichen Handelns auffaßt 1 5 4 , dürfte der liberalen Grundordnung der E U durchaus entsprechen. Dem Subsidiaritätsprinzip kann darüber hinaus durchaus eine 150 Vgl. näher auch zu den Problemen Josef Isensee, Subsidiarität und Souveränität im neuen Europa: Fließende Balancen im supranationalen Integrationsprozeß, Sociologia Internationalis 34 (1996), 177 ff. m.w.N. und die Arbeit von Calliess (FN 11). Siehe auch Anton Rauscher, Die Tragweite des Subsidiaritätsprinzips i n Deutschland und Europa, in: Ders., Kirche in der Welt, Bd. I I I (1998), 103 ff. 151 Siehe nur Furger (FN 17), 187. 152 Dazu statt vieler nur Michael Heinig, Zwischen Tradition und Transformation: Das deutsche Staatskirchenrecht auf der Schwelle zu einem Europäischen Religionsverfassungsrecht, ZEE 43 (1999), 294 ff. m.w.N. 153 Vgl. Centesimus annus Nr. 48. 154 Vgl. auch Herbert Schambeck, Das staatliche Ordnungsbild in »Centesimus annus', in: Ders. (FN 8), 127 ff. [136 ff.].

Subsidiaritätsprinzip i n den päpstlichen Enzykliken

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partizipativ-demokratische Dimension innewohnen 1 5 5 , da die Subjekthaftigkeit des einzelnen Menschen wie auch der Gesellschaft Strukturen der Beteiligung und Mitverantwortung verlangt 1 5 6 . Gerade Johannes Paul II. hebt in Centesimus annus die Wertschätzung der Kirche für die Demokratie hervor. Im Hinblick auf das immer wieder konstatierte Demokratiedefizit der EU, vielleicht ein deutlicher Fingerzeig für eine bessere subsidiäre Konstitution zu sorgen 1 5 7 . Die Osterweiterung der EU w i r d nicht nur eine Probe auf die europäische Identität werden 1 5 8 , sondern zudem auch eine Nagelprobe auf die Belastbarkeit des Subsidiaritätsgrundsatzes, der sich hierbei nicht in seiner formalen Dimension erschöpft, sondern zudem auf die Schaffung von sozialen und wirtschaftlichen Strukturen in den Beitrittsländern ausgerichtet ist, die in die Lage versetzen, auf vergleichbaren Niveau Eigenverantwortung zu übernehmen 1 5 9 . Insofern steht das Subsidiaritätsprinzip i n engem Zusammenhang mit der Solidarität und der Gerechtigkeit 1 6 0 , was sich auch an internationalen Zusammenhängen hinsichtlich Welthandel 1 6 1 , Entwicklungshilfe u.a. zeigen ließe 1 6 2 . IV. Rückblickendes Fazit Während die päpstlichen Verlautbarungen relativ zurückhaltend mit der Verwendung des Subsidiaritätsprinzips sind, steht dem ,im Weltlichen' eine wesentlich größere Verbreitung gegenüber. Unter dem Deckmantel des Subsidiaritätsprinzips werden und lassen sich weitreichende politische Agenden formulieren. Darüber w i r d aber nicht selten vergessen, daß die Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip keineswegs die Lösung der eigentlichen Sachfragen enthält. Insofern und dies mag im eigentlichen Sinne ent-täuschend wirken, ist der rechtliche Gehalt päpstlicher Enzykliken im allgemeinen und des Subsidiaritätsprinzips im besonderen angesichts seiner Ergebnisungewißheit 163 eher gering, da 155 So Marx (FN 10), 35 ff. (50 f. m.w.N.). Kritischer Isensee (FN 3), 264 ff. 156 Vgl. Centesimus annus Nr. 46. Zur Subsidiarität als Struktur- und Verfahrensprinzip siehe auch Alois Baumgartner, Artikel ,Subsidiaritätsprinzip', in: LThK, 3. Aufl., Bd. I X (2000), Sp. 1076 ff. 157 Dazu etwa Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1994. Sowie ausführlich Ettwig (FN 2). 158 Isensee (FN 3), Sociologia Internationalis 34 (1996), 177 ff. [196 ff.]. 159 Siehe etwa Centesimus annus Nr. 28, 29. 160 Vgl. näher Baumgartner/Korff (FN 115), 225 ff. [insbes. 229 ff.]. 161 Näher dazu in diesem Band Calliess. 162 Dazu, daß Subsidiarität solidarischer und nicht partikularischer Prägung ein Freiheitsgarant moderner Gesellschaften ist, allgemein auch Schambeck (FN 8), 3 ff. [22]. 163 So Werner Jürgen Dichmann, Ordnungs- und sozialpolitische Konsequenzen des Subsidiaritätsprinzips, in: Mückl (FN 11), 94 ff. [97].

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er als formale Kategorie lediglich eine Beweislastverteilungsregel mit einer Vorvermutung zugunsten des Einzelmenschen bzw. kleinerer Einheiten enthält. „Als Amalgam aus Tradition und Modernität, aus ständisch-konservativer Idee und Republikanismus kann das Subsidiaritätsprinzip i n einem Punkt seinen katholischen Charakter nicht verleugnen: seine Wurzeln liegen in seiner ,complexio oppositorum'" 1 6 4 . Jenseits dieser möglichen cusanischen Koinzidenz läßt sich das Subsidiaritätsprinzip aber auch i m dialogischen Sinne im ,und' verankern, wie es Klaus Hemmerle für die katholische Soziallehre hervorhebt 1 6 5 . Das Begreifen und Gestalten sozialer Wirklichkeit kann nur als Zusammenspiel zentrifugaler und zentripetaler Kräfte gelingen. Dieses ,und' oder ^ w i schen' mündet dann i n eine gesellschaftliche Struktur, die als Einheit in der Unterschiedenheit zu kennzeichnen i s t 1 6 6 . I n dieses Gefüge und Spannungsfeld ist auch das Subsidiaritätsprinzip hineingestellt. Welche Kraft demnach von einem solchen Ansatz auszugehen vermag, zeigt die Erfolgsstory des von der Katholischen Soziallehre auf den Begriff gebrachten Subsidiaritätsprinzips eindrücklich. Eine Geschichte, in der sich Kirche und Welt, Theologie und Recht begegnen.

164 So zuspitzend Gabriel (FN 26), 13 ff. [30]. 165 Klaus Hemmerle, Was heißt katholisch i n der katholisch-sozialen Bildung?, in: Ders., Die Alternative des Evangeliums, Ausgewählte Schriften Bd. 3, 1995, 276 ff., insbes. 287 ff. 166 So ausdrücklich Hemmerle, Person und Gemeinschaft - eine philosophisch und theologische Erwägung, in: Ders. (FN 165), 299 ff. [299].

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 431 - 444 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBNATIONALITÄT VERSUS NATIONALITÄT? Die Regionalisierung der Europäischen Union als subsidiäre Politikstrategie Von Peter Nitschke, Vechta I. Die Nation und die Region Die Frage, inwieweit das Subsidiaritätsprinzip im Rahmen der europäischen Integration seine Gültigkeit hat oder sogar verstärkt angewandt wird, hängt nicht unwesentlich mit der Stellung der Regionen als subnationale Gebietskörperschaften im Gesamtprozess zusammen. Hierzu ist eine Reihe von Sachverhalten in ihrer hermeneutischen Relation zueinander zu berücksichtigen. Zunächst einmal der Regionsbegriff selbst: Er ist von seinem kognitiven Potential her ein klassischer Systembegriff (vgl. Nitschke 1999: 9 ff.; Schmitt-Egner 1999: 129 ff.). Angesiedelt zwischen a) der Welt des Lokalen, b) des Territorialen (als größerer Raumeinheit) und c) des Nationalen (mit der Intention auf die größtmögliche Fläche) steckt der Regionsbegriff solchermaßen den Alternativrahmen für die Stadt wie für die Nation gleichermaßen ab. Der regionale Raum dient der Kommunikations Vermittlung von Interessen, Identität und Ressourcen. Im Prinzip ist er eine offene Politikarena, erst recht i m Rahmen der EU-Matrix. Im Unterschied zur Nation ist die Region ein zunächst nur geographisch terminierter Raum, der von einer größeren (oder anderen) Raumvorstellung abgegrenzt werden kann. M i t der Nation hat die Region ansonsten aber (vor allem auch i n historischer Perspektive) alle verbindlichen Kriterien durchaus gemeinsam - nämlich (vgl. Weidenfeld 1991 sowie Nitschke 1996: 289 ff.): a) die Einheit des Territoriums, b) eine verbindliche Sprache und Sitte, c) Gemeinsamkeit an sozialen und ökonomischen Institutionen, d) die Tradition und eventuell die Herleitung qua Abstammung, e) die Willensartikulation, f) eine souveräne Regierung. Der letztgenannte Punkt ist sicherlich der problematischste in der derzeitigen Figuration, gibt es doch keine oder kaum eine Region, die i n

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dieser Hinsicht eine völkerrechtliche Souveränität für sich beanspruchen kann. 1 Dies ist für unsere weitere Betrachtung jedoch nicht ausschlaggebend, da ohnehin sich auch der Nationalstaat in seiner klassischen Konditionierung beim Souveränitätsprinzip auf brüchigem Terrain befindet (vgl. hier u.a. Bartelson 1995; Hoffman 1998; Bredow 1999; Nitschke

2000). II. Die regionale Kompetenz Wenn sich der baden-württembergische Ministerpräsident Teufel auf einer internationalen Konferenz am Bodensee unlängst für eine weitere Stärkung der regionalen Kompetenz (bis hin zur Einrichtung einer weiteren Kammer) ausgesprochen hat (vgl. bhr. Konstanz 2000: 6), dann kann man an zwei Fällen von regionaler Eigenverantwortung exemplarisch studieren, wie weit fortgeschritten in Westeuropa z.T. regionalistische Politikentwürfe bereits auch von der nationalen Verfassungslage her sind. Denn im Falle Spaniens und Belgiens sind auf der Grundlage der Neuausrichtung der jeweiligen Verfassung von 1978 bzw. 1993 semiföderale bzw. (bei Belgien) konföderale Strukturen geschaffen worden. So unterschiedlich das spanische System der Comunidades Autonómas gegenüber dem Modell der Teilstaatlichkeit in Belgien auch ist, so zeichnet sich als Gemeinsamkeit bei beiden politischen Systemen die Unterscheidung von Nation als Gesamtkörperschaft und der territorialen Volkszugehörigkeit im regionalen Raum aus. Problematisch ist besonders im spanischen Fall die Referenzmöglichkeit zugunsten der historischen Nationalität einer Region, von der nach Lage der Dinge sowohl das Baskenland als auch Katalonien und eben auch Galizien Gebrauch machen können. Zwar geht die spanische Verfassung i n Artikel 2 von der Einheit der Nation aus, die unauflöslich sei, zugleich werden aber auch Nationalitäten und Regionen ausdrücklich anerkannt. 2 So gesehen ist die Perspektive auf die drei Elemente der Staatlichkeit (Volk, Gewalt und Territorium) in der Einheit des einen Körpers der spanischen Monarchie prob1 Eine Ausnahme stellt diesbezüglich allerdings Luxemburg dar, nicht zuletzt weil hier der Nationsbegriff mit dem Regionsverständnis in Übereinstimmung besteht und auch seine völkerrechtliche Anerkennung findet. M i t Katalonien, dem Baskenland, Korsika, Schottland, tendenziell auch Wales und Bayern, mittlerweile sehr dominant ebenso Flandern, gibt es jedoch eine ganze Reihe weiterer Anwärter auf eine regional-nationale Eigenständigkeitsperspektive im Sinne semisouveräner Politikgestaltung. Nicht zuletzt auch die Agenda der Lega Nord ist von dieser Implikation getragen. 2 „Die Verfassung gründet sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier, und anerkennt und gewährleistet das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen, die die Nation zusammensetzen, und auf Solidarität zwischen ihnen" (zit. n. Wendland 1998: 70).

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lematisch (vgl. auch Wendland 1998: 92), wenn zugleich den Comunidades Autonómas zweierlei Staatlichkeit zugeschrieben werden kann: a) die einer Teilmitgliedschaft an der nationalen Einheit und b) die einer (mitunter) relativ autonomen subnationalen Raumorganisation. I m Hinblick auf die zweite Form der Staatlichkeit w i r d i n der Verfassung explizit sogar der Terminus von den pueblos de Espana formuliert (ebd.). Insofern ist es richtig, wenn man beim spanischen Autonomiestatus „zugleich territoriales Organisationsprinzip und subjektives Recht der Gebietskörperschaften" konstatiert (ebd.: 93). Faktisch ist damit eine asymmetrische Bundesstaatsstruktur gegeben und w i r d zumindest von manchen Comunidades (wie etwa Katalonien) im politischen Gestaltungsprozess auch so ausgelegt (vgl. Gonzalez Encinar 1992; Petschen 1996; Falkenberg 1998 u. 2001). Auch wenn mit dem Anspruch auf autogobierno keine Souveränitätsrechte von der Verfassung her gemeint sind (vgl. Wendland 1998: 94), so sind Abgrenzungsprobleme dennoch an der Tagesordnung: wie weit reicht das eine Prinzip der nationalen Einheit und wie weit darf eine Comunidad Autónomas mit ihrem Anspruch auf Selbstregierung gehen? So ist es kein Wunder, dass der ganze Titel V I I I der spanischen Verfassung, in dem es um die territoriale Organisation des Staates geht, nach wie vor der strittigste Punkt ist (vgl. auch Haubrich 1998). Inwieweit und ob (überhaupt) die Kompetenzen territorial bei den einzelnen Materien wie etwa der Steuergesetzgebung regional differenziert abgehandelt werden können oder nicht, ist in der Verfassung von vornherein nicht klar geregelt worden. Dies gilt erst recht für den Anspruch auf Interessenwahrnehmung auf der supranationalen Bühne, etwa in Fragen der europäischen Integrationspolitik (vgl. hier z.B. Fernandez 1999). Die grundsätzlichen Zugeständnisse an ein regionalistisches Staatsmodell, wie es die spanische Demokratie auf der Grundlage der republikanischen Verfassung von 1931 in den 1980er Jahren sukzessive erneuert und erweitert hat, bildet auch den zentralen Referenzkern für das neue belgische Verfassungsmodell von 1993. Hier ist vor dem Hintergrund der jeweiligen Staatsreformen von 1970, 1980 und 1988 ein Drei-EbenenSystem zwischen dem Bundesstaat der Nation (Belgien), den drei Sprachgemeinschaften (flämisch, französisch, deutsch) und den drei Regionen (Flandern, Wallonien und Brüssel) formuliert worden, welches derart pronounciert den Gedanken der Teilstaatlichkeit vorantreibt (vgl. Alen 1995; Kerssens 1997), dass von einer föderalen Struktur bald nicht mehr die Rede sein kann. Auch hier fällt die asymmetrische Konstellation auf, wobei sich der asymmetrische Effekt durchaus auch durch die Überlappung von Befugnissen ergibt, die von allen drei institutionellen Ebenen (etwa bei den externen Beziehungen und der Kultur) ergeben kann. Gerade der Kultur-

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faktor ist im Falle der belgischen Entwicklung von nicht zu unterschätzender Bedeutung: die jeweils regionalistische Ausrichtung ist i m historischen Streit um die Auslegung der Sprachfazilitäten sukzessive zu einer hochbrisanten politischen Agenda avanciert (vgl. auch Hetzel 1997). Was nun nicht zuletzt auch wiederum zeigt, dass kulturelle Idenität ein wesentliches Merkmal für einen erfolgreichen Kurs zugunsten regionaler Selbstbehauptung darstellt (vgl. Nitschke 1996; Brunn 1999; Bergem 1999).

III. Die EU-Matrix Das regionale Gestaltungsprofil zeichnet sich vor dem Hintergrund der EU-Matrix jedoch nicht allein durch ökonomische Potenz und kulturellpolitischer Identitätsüberzeugung aus. Es hängt vielmehr auch von der Binnenstruktur des EU-Systems selbst ab, mit welcher Agenda und i n welchen Politikfeldern die Regionen als Akteure ernstzunehmend auf den Plan treten können. Auch hierfür gelten einige Vorüberlegungen zu beachten. Wenn in den Internationalen Beziehungen die Frage der Herrschaft die Sache des Staates ist und das System der Internationalen Politik, also der Beziehungen zwischen den Staaten, als Machtfrage gelesen w i r d (vgl. Schimmelpfennig 1998: 317 sowie Teusch 1999), dann liegen die Regionen in der E U genau dazwischen: Sie sind horizontal wie vertikal gruppierte Akteure im Rahmen der Integration. Gemessen an den Kategorien von Macht und Herrschaft stellen sie beides zugleich dar: Teilsystem i m Binnensystem der E U und Teilsysteme i n den Binnensystemen der jeweiligen nationalen Herrschaftsstrukturen. Als semisouveräne Einheiten kommt ihnen hierbei ein nicht unbeträchtlicher Gestaltungspielraum zu Gute, der jedoch national noch äußerst divergent ausfällt. Von Souveränität im klassischen Sinne kann man hier nicht sprechen, aber diese gilt mittlerweile auch für die nationalen Ordnungssysteme nicht mehr. Alle Einheiten - nationale wie subnationale - sind auf verschiedene Weise penetrierte Systeme, die mit unterschiedlichen Gestaltungsoptionen operieren können, wollen - und z.T. auch müssen. Im Rahmen des Machtausgleichs für das System der EU insgesamt betreibt die Kommission bekanntlich durch ihre Strukturfonds eine systematische Förderung zur Selbsthilfe i n den Regionen. Auf diesem Sektor kann man - analog zur Theorie des realistischen Ansatzes (vgl. Schimmelpfennig 1998: 322) durchaus von einer hegemonialen Politikstruktur sprechen, weil hier die Kommission bzw. der supranationale Politikansatz die innovativen Implementierungen strukturiert. Wobei die Regionen natürlich mitziehen müssen, denn ohne ihre Anträge und Projektierungen gibt es keine För-

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derhilfe. Das EU-System entspricht daher hier mehr einem auf zunehmender Verflechtung (Interdependenz) angelegtem System im Rahmen der Institutionalistischen Lehre, welches als regulierte Anarchie zu bezeichnen ist. Die Interdependenz fällt hier - ganz im Sinne der Doktrin des Institutionalismus (vgl. auch ebd.: 323) - asymmetrisch aus: nicht jeder bekommt zu gleicher Zeit das Gleiche und nicht jede Einheit strukturiert sich i n gleicher Weise, sondern es gilt das Prinzip der Vielfalt bei dem Versuch der Einheit. 3 Allerdings ist diese Einheit bis dato eher eine Frage der sektoralen Politik, d.h. es w i r d nach Materien vereinheitlicht, nicht nach regionalen Räumen oder nationalen Staaten. Bezogen auf das EU-System und seine materiellen Integrationsmechanismen bedeutet dies, dass w i r es mit einem polyarchischen (und dabei sehr dynamischen) Mischmodell von horizontaler wie vertikaler Strukturierung zu tun haben. In diesem polyarchischen System sind die Regionen nur einer von einer ganzen Reihe von Akteuren (Kommission, Ausschüsse, Ministerrat, die nationalen Regierungen, Kommunen, Verbände, Konzerne, NGOs), die sich hier einbringen. Sie sind gleichwohl hinsichtlich ihrer materiellen Gestaltungschancen und -mittel keineswegs die unbedeutendsten Akteure. Bis dato sind die Gesellschaften territorial definiert: daran w i r d sich trotz Internet nichts ändern, weil die Handlungen, die Sozialen wie die Politischen stets nur in einem konkreten Raum stattfinden können. Die Entgrenzung der bisherigen nationalen Räume ist insofern nichts weiter als eine Umwandlung des etatistischen Territorialkonzepts in eine neue Dimension. Vermutlich w i r d diese durch die wechselseitige und komplexe Überlappung von Raumstrukturen im Sinne von Handlungsfeldern strukturiert sein. Der Nationalstaat agiert in der Region, die Region im Nationalstaat, supranationale Vereinigungen wie die E U i m Nationalstaat wie i m subnationalen Raum gleichermaßen. Die hierbei zu beobachtende Reterritorialisierung bedeutet somit eine Entflechtung vom nationalen Raumkonzept, das auf die große Fläche i m Sinne einer etatistisch koordinierten Homogenität setzte. Die Abwendung von diesem Konzept - oder besser: die Gleichsetzung mit einer subnationalen Raumalternative - führt zur Neubestimmung regionaler Definitionsversuche im Bereich der politischen Ordnungsstruktur. Wenn man allerdings die territoriale Definition nur „als sperriges Hilfskonstrukt" versteht (Kohler-Koch 1998: 13), dann zeigt dies, dass hier der dialektische Mechanismus, geschweige denn die substantielle Funktion des 3 Diese asymmetrische Struktur gilt i m übrigen auch für die Bewertung der Globalisierung; sie folgt - bei aller Entgrenzung - doch (nur) sektoralen Bedürfnissen und führt somit zu einer zeitgleichen Fragmentierung von Einflusssphären (vgl. hierzu auch Cohen 19982; Friedman 1999; Brock 2000).

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Raumes als Kennzeichen menschlicher Handlungsoptionen nicht richtig eingeordnet wird. Ohne Raum keine Handlung. Zwar ist es richtig, dass selbst der europäische Binnenmarkt das bisherige Ordnungsmodell, nämlich die nationale Identität, nicht wesentlich beeinträchtigt hat und z.T. sogar (s. Dänemark im jüngsten Referendum) zur Stärkung der nationalen Selbstbestimmung treibt (vgl. auch ebd.: 16), doch sind andererseits die neuen Ideenkonstellationen, das Aggregieren von Interessen, ökonomischen, politischen wie sozialen, tendenziell stets bereits transnational (vgl. ebd.: 17). Im Phänotyp des Interregionalismus erwachsen hierbei ganz neue Interaktionsmuster (vgl. auch Schmitt-Egner 2000). Das führt dazu, dass Regierungshandeln keineswegs mehr von eindeutigen Bezugsräumen ausgehen kann, weil die Politikoptionen vielschichtiger werden. Wenn z.B. die Regierung von Aragon Wirtschaftspolitik betreibt, dann setzt sie sich nicht nur mit der eigenen regionalen Bestimmung und der spanischen Zentralregierung auseinander, sondern eben auch mit den Optionen auf supranationaler Ebene im Verbund der E U (vgl. Fernandez 1999). Von der Tendenz her geht es hierbei, wie Wales oder Flandern signifikant illustrieren, bereits um die Option auf eine subnationale Welthandelspolitik. D.h., die Räume bleiben zwar, aber die Optionen führen zur interdependenten Verflechtungsmatrix mit anderen Räumen, die jenseits der nationalen Integrität liegen. Hier stellt sich nun das Problem für eine jede regionale Politikoption, dass im EU-Verbund der EU-Raum als solches normativ disparat ist. Unterschiedliche Vorstellungen über Staat und Gesellschaft, erst recht zum Begriff der Nation führen dazu, dass zwar die formalen Spielregeln harmonisiert werden können, nicht jedoch aber ihre materielle Ausgestaltung bzw. Deutung. Die Sektorierung oder besser - die Fragmentierung des europäischen Öffentlichkeitsverständnisses trägt ihr übriges zu dieser Situation bei. Doch ist seit Maastricht (spätestens) eine Dynamik in den Integrationsprozess gekommen, die zu erstaunlichen Umorientierungen führt. So verwischen funktionale Ansprüche (etwa im Verkehrssystem) die territoriale (legalozentrisch abgesicherte) Grenzbestimmung der Räume. Gewinner dieser Verwischung sind die Regionen - allerdings nur dann, wenn sie ihrerseits über eine spezifische regionale Politikagenda verfügen oder diese sich zulegen können. Die Tatsache, dass von manchen Diagnostikern die Komitologie als der herrschende Typus und Trend für die weitere Integration angesehen w i r d (vgl. Kohler-Koch 1998: 23), verweist auf die nachhaltige Bedeutung dieser Interpretation. Letztlich verwischen sich hier beide Strukturmuster, die sich in Form der Denationalisierung und der Renationalisierung eigentlich antagonistisch gegenüber stehen, i n ein und dem gleichen Prozess. Wenn man unter den Leitlinien der Integration bisher geneigt war, die Denationali-

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sierung als ein fernes Endziel anzusehen, dann lehrt der Prozess i n der Etappe seit Maastricht, dass auch das Gegenteil (nämlich eine Revitalisierung des Nationalstaats) sukzessive mit auf der Agenda stehen kann. Insofern fallen Verflechtung und Entflechtung i m gegenwärtigen Integrationsgeschehen zusammen. Die spannende Frage ist, wohin dieser ambivalente Strukturmechanismus führt?

IV. Asymmetrie allenthalben Am Beispiel der Finanzierungshilfen im Rahmen der Strukturfonds lässt sich vielleicht doch deutlicher als zunächst zu vermuten wäre, ablesen, wohin der Weg hinsichtlich der Gestaltungsspielräume für die Regionen geht. Denn auffallend ist, dass bei den drei Spitzenreitern der regionalen Förderung i m Zeitraum von 1994 bis 1999 es drei regionalisierte Nationalsysteme sind, welche die meisten Fördermaßnahmen für sich verbuchen konnten (vgl. European Commission 1997 sowie für die Bewertung mit Fallbeispielen Säger 1993 u. Heinelt 1996). M i t Spanien, Deutschland und Italien (in dieser Reihenfolge) agieren hier drei Nationalsysteme, die über eine zwar je unterschiedliche, insgesamt jedoch tief gestaffelte dezentralisierte Staatsstruktur verfügen. Anschließend an diese drei Spitzenreiter bei der Regionalförderung kommen für den Zeitraum 1994-99 vier (ursprünglich zentralistische) Nationalstaaten (Griechenland, Portugal, Frankreich und Großbritannien), die sich i n den letzten 20 Jahren in ihrer Verwaltungsstruktur dezentralisiert haben (vgl. European Commission 1997). Erst im unteren Drittel rangieren dann explizit föderale Staaten wie Belgien und Österreich. Die Schlusslichter in der Förderungsagenda sind dann ausgesprochen zentralistische Systeme wie Schweden, Dänemark und Luxemburg. Allerdings gilt für Luxemburg: Würde man hier eine Bevölkerung in der Größenordnung Deutschlands ansetzen, dann wäre der Förderbeitrag i n diesem Fall schon größer als der für Portugal oder Dänemark! - Insofern bestätigt sich bei den Zahlen für die regionale Förderungshilfe die zweckdienliche Kompetenz regionalisierter Nationalsysteme. Nicht zuletzt Luxemburg schneidet hierdurch, gemessen an seiner tatsächlichen Größe und seinem hohen Bruttosozialprodukt überproportional gut ab. Die Asymmetrie der Strukturen führt dazu, dass bei dem derzeit zu beobachtenden Trend einer Revitalisierung des Intergouvernementalismus die Ebene der subnationalen Gebietskörperschaften paradoxerweise eher gestärkt als geschwächt werden. Warum? - Weil die Handlungskonzepte des Intergouvernementalismus das etatistische Element betonen und dabei die Nation als vertragstheoretische Repräsentation eher vernachlässigen. Das zeigt sich am Bedeutungsschwund der nationalen Par-

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lamente (vgl. auch Abromeit 1997: 111). Zwar haben auch die subnationalen parlamentarischen Foren, z.B. die Länderparlamente in Deutschland immer weniger Einfluss auf die Gestaltung der Dinge, doch ist andererseits die Bedeutung der regionalen Exekutive gewachsen (vgl. hierzu umfassend Straub/Hrbek 1998).4 Da die territoriale Komponente nach wie vor - oder besser: wieder verstärkt - zum Einsatz kommt, formieren sich Interessen und ihre politische Lobbyistik überwiegend im Rahmen von regionalen Regierungsforen. Wo noch keine vorhanden sind, ist quer durch Westeuropa ein Bemühen festzustellen, solche Plattformen der subnationalen Repräsentation zu schaffen. Bestes Beispiel ist hier Schweden (vgl. Glißmann 2000), paradigmatisch sicherlich Belgien und neuerdings nach der erfolgreichen Devolutionkampagne auch Schottland (vgl. Pähl 2000). Artikel 3 b des Maastrichter Vertrags liefert hier ein ambivalentes Szenario für politische Entscheidungen: man kann damit a) die subnationalen Ebenen stärken, was hier und da gemacht wird, andererseits lässt sich b) damit auch ein Kompetenzeingriff in diese Ebenen legitimieren, der in diesem Fall nicht mehr vom Nationalstaat, sondern von der supranationalen Ebene der EU ausgeht (vgl. hier auch Abromeit 1997: 112, Anm. 4). Doch liegt diese Ambivalenz im Strukturprinzip der Subsidiarität begründet. Es eignet sich für Zentralisierungen wie Dezentralisierungen gleichermaßen. Was das Problem für eine konsequente Dezentralisierung darstellt, bei welcher der Nationalstaat gar nicht verlieren müsste, sondern sogar in Form einer Umgruppierung seine Ressourcen (nicht zuletzt bei der Entscheidungs- und Definitionsgewalt) besser nutzen könnte, ist die bis dato unzulängliche Repräsentationskultur auf der subnationalen Ebene (vgl. auch ebd.: 115). Wie der Streit zwischen den Ländern und dem Bund zeigt, ist die Frage der angemessenen politischen Gestaltungsfreiheit noch keineswegs richtig ausdefiniert, obwohl die Grundgesetzänderung von Artikel 23 hier einen weitreichenden Spielraum ermöglicht (vgl. auch Nitschke 1997). Noch problematischer ist aber die Inhomogenität im westeuropäischen Vergleich. Eine größere Diversifikation als die, wie sie zwischen den spanischen Communidades Autonómas (schon untereinander) und den italienischen Regionen, den Standard Regions i n Großbritannien, den sich formierenden schwedischen Gebietskörperschaften

4 Gerade auch der von Bayern paradigmatisch vorstrukturierte Trend, die Entscheidungsfindung in Sachen einer regionalen Europapolitik bei der Staatskanzlei anzusiedeln und hierfür nicht ein eigenständiges Ministerium zu etablieren, hat mit den entsprechenden Nachahmungen i n Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen seine Bestätigung erfahren. Die regionale Exekutive zentriert sich und ihre Informationsabläufe i n Bezug auf die supranationale Politikdimension.

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mit eigenen Regionalparlamenten und etwa den beinahe konföderal organisierten Teilstaatssystemen Belgiens besteht, ist kaum möglich. Jede Option für ein EU-System als ein Bundesstaatsmodell würde hier nicht nur eine volle zweite Kammer neben dem Europäischen Parlament in Form des Ministerrats bedeuten, was sie faktisch ist, sondern mindestens auch eine dritte Kammer in Form einer subnationalen Repräsentation mit ausdifferenzierten Stimm- und Entscheidungsrechten beinhalten. Vielleicht ist sogar noch eine vierte, sektorale Kammer nötig (vgl. auch Abromeit 1997: 116), in der man entweder die Kommunen der E U oder aber besser noch regionale Cluster nach Strukturgesichtspunkten (z.B. im Rahmen der Strukturfondsförderung) gruppieren könnte. Aber das ist im Augenblick alles (noch) Zukunftsmusik. 5

V. Ausblick: Vier Szenarien für das Mehrebenensystem Das Strukturprinzip der EU ist derzeit auf der Basis einer koporatistischen Verhandlungsdemokratie einzuschätzen (vgl. Benz 1998: 347). Solchermaßen haben w i r es hierbei tatsächlich mit einer komplexen Mischverfassung zu tun (vgl. ebd.: 349). Dabei gilt zu beachten, dass die politischen Strukturen in ihrer derzeitigen Verfasstheit „nicht das Ergebnis einer Verfassungskonstruktion" sind, sondern aus der sukzessive aufgebauten Integration von Institutionen und deren interdependenter Wirkung beruht (ebd.: 350). Demzufolge hat sich bisher auch keine eindeutige Hierarchie ergeben. Das System bleibt letztendlich ebenso offen wie dynamisch. Die Formen einer gewaltenteiligen Organisation, die „einerseits mehrere, sich ergänzende Zugangskanäle für gesellschaftliche Interessen bietet, die andererseits ein System wechselseitiger Kontrolle von politischer Machtausübung u darstellen (ebd.: 353, Hervorh. v. B.), liefern ein uneinheitliches Bild für die Gesamtbewertung. Einerseits ist es ein System, andererseits sind Fliehkräfte aller Art unverkennbar. Daran kann auch die zunehmende Interdependenz von Aufgaben nichts ändern. Im Gegenteil: jeglicher Zugewinn im Rahmen einer Vernetzung von Aufgaben führt zur steigenden sektoralen Fragmentierung, weil vertikale Entscheidungen an horizontale Ebenen abgegeben werden, ohne dass dabei derzeit deutlich gemacht wird, wie die vertikale Gesamtmatrix ausschauen sollte. Diese ist nicht zuletzt davon abhängig, ob und wie die i n der Regionalpla-

5 Diese „Zukunftsmusik" kann auch nur über eine gut strukturierte Verfassung eingelöst werden. Diese müsste nach der Logik der hier formulierten Asymmetrien föderal sein, wenn sie denn überhaupt etwas bewirken wollte. Insofern gehen die Überlegungen Fischers bei seiner Berliner Rede allerdings in die richtige Richtung (vgl. Fischer 2000).

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nung starke Position der Kommission auch auf andere Felder der Integrationspolitik übertragen werden kann (vgl. auch ebd.: 361, Anm. 3). Vier Szenarien seien im Folgenden hinsichtlich der weiteren Optionen kurz vorgestellt: 6 Im Modell I w i r d das gegenwärtige Mehrebenensystem der E U als Superioritätssystem zugunsten der supranationalen Ebene begriffen. Dies würde bedeuten, dass den Brüsseler Institutionen eine weitaus höhere Entscheidungsverfügung zukommen würde als derzeit vorhanden. Insbesondere die Kommission und das Europäische Parlament würden hierdurch ganz wesentlich gestärkt. Eine derartige Zielrichtung ginge aber nur über den Weg einer europäischen Verfassungsagenda, bei der so etwas wie eine gemeinsame europäische Kultur und ein gemeinsamer politischer, öffentlicher Raum gewährleistet sein müsste. Dies ist nach Lage der Dinge - auch vor dem Hintergrund der nicht genau einzuschätzenden Probleme mit der Osterweiterung - wenig wahrscheinlich für die kurzfristigen näheren Zeitziele. Bei Modell II w i r d von einer Balance zwischen den drei Hauptebenen (EU - Nationalstaaten - Regionen) ausgegangen. I n einem solchen Balancesystem würde weitgehend der status quo in seiner gegenwärtigen Figuration festgeschrieben. Insbesondere den Nationalstaaten käme ein ausgleichendes Gewicht gegenüber den Zentralisierungsbestrebungen der supranationalen Ebene zu. Die Regionen hätten demgegenüber ihrerseits eine komplementäre Funktion innerhalb der Nationalstaaten. Da sich jedoch im gegenwärtigen Prozess allein schon zwischen der supranationalen Ebene und der nationalen ein ambivalenter Zustand ergibt, i n dem sich (wie oben beschrieben) denationalisierende und renationalisierende Mechanismen verwischen oder antagonistisch auftreten, ist auch dieses Modell für die weitere Entwicklung wahrscheinlich nicht zutreffend. Für das Modell III kann man das Subsidiaritätsprinzip als grundlegendes Theorem heranziehen. I n einem Subsidiaritätssystem würde die Mehrebenenproblematik der E U aufgefangen und austariert zugunsten einer möglichst klar durchdeklinierten und ausdifferenzierten Kompetenzstruktur der einzelnen beteiligten Gebietskörperschaften. Dies würde zweifellos eine föderale Struktur mit sich bringen. Doch sind alle gutgemeinten Plädoyers für eine solche Struktur von der Umsetzung einer europäischen Verfassung als Voraussetzung für eine definierte Verfahrensnorm zugunsten der Subsidiarität abhängig. Auch dies ist nach Lage der Dinge eher unwahrscheinlich.

6 Eine ausführlichere Fassung und Erläuterung findet sich hierzu an anderer Stelle (vgl. Nitschke 2001).

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Bleibt als Modell IV die Option auf eine Fragmentierung und Segmentierung der Verfügungschancen für die Regionen. Als Asymmetriesystem erscheint es in der gegenwärtigen, mehr noch aber in der zukünftigen Perspektive als das realistischere Szenario für das Integrationsgeschehen. Man mag dies aus Sicht und der Tradition einer föderalen Struktur wie der Bundesrepublik Deutschland bedauern, doch ergeben sich vor dem Hintergrund eines solchen Modells unzweifelhaft auch enorme Gestaltungsoptionen (gerade) für die Länder des Bundes. Je nach politischer Gestaltungsintensität werden sie im Verbund mit ihren ökonomischen wie auch demographischen und raumtechnischen Potentialen am Integrationsgeschäft auf der supranationalen Ebene mitgestalten können. Allerdings nicht alle Regionen in der gleichen Weise und keineswegs alle werden sich hieran erfolgreich beteiligen können. Es w i r d Verlierer bei den Regionen geben wie auch Gewinner. Die „Verlierer" werden vermutlich strukturell, d.h. nachhaltig i n einer untergeordneten Position verbleiben. Und auch für die „Gewinner" w i r d es nicht einfach sein, ihre sich erweiternden Gestaltungsspielräume vor einem globalisierten Marktgeschehen zu behaupten. Sie werden dies nur entweder im Einklang mit der jeweils nationalen Politik oder aber mit der supranationalen Kompetenz des EU-Systems umsetzen können. Am besten arbeiten alle drei Ebenen hier als Netzwerk gemeinsam und betrachten die Gestaltungschancen und -probleme als Verbundsfrage - damit auch die Asymmetrien nicht zu groß werden.

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DAS

SUBSIDIARITÄTSPRINZIP

I M EUROPÄISCHEN

GEMEINSCHAFTSRECHT

SOWIE I N DER POLITISCH-RECHTLICHEN PRAXIS DER UNION* Von Stefan U l r i c h Pieper, M ü n s t e r / B e r l i n

S u b s i d i a r i t ä t soll n a c h einem v i e l z i t i e r t e n W o r t des ehemaligen Verfassungsrichters

G r i m m n u r e i n W o r t s e i n . 1 Diese

Charakterisierung

w i r d i h m n i c h t gerecht. Das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p v e r f ü g t ü b e r v i e l f ä l t i g e

ideengeschichtliche

W u r z e l n 2 u n d es f i n d e t sich i n verschiedenen A u s p r ä g u n g e n i n Staatsu n d Gesellschaftsordnung. 3 I m folgenden soll die p r a k t i s c h e A n w e n d u n g des S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p s

i m Verhältnis

z w i s c h e n Gemeinschaft

und

M i t g l i e d s t a a t e n M i t t e l p u n k t der B e t r a c h t u n g sein. 4 D i e D a r s t e l l u n g er* Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Für wertvolle Hinweise zur Praxis in der Bundesrepublik danke ich Herrn Priv.-Doz. RD Dr. Sven Hölscheidt, Berlin. ι Grimm, Dieter, Subsidiarität ist nur ein Wort, FAZ v. 17.9.1992, 38. 2 Vgl. Pieper, Stefan Ulrich, Subsidiarität, 1994, 45 ff.; Nörr, Knut Wolfgang/Oppermann, Thomas, (Hrsg.) Subsidiarität - Idee und Wirklichkeit - Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa. 1997; Waschkuhn, Arno, Was ist Subsidiarität? - Ein sozialphilosophisches Ordnungsprinzip - Von Thomas von Aquin bis zur „Civil Society", 1995; Nell-Breuning, Oswald von: Baugesetze der Gesellschaft - Solidarität und Subsidiarität, 1990; Zuck, Rüdiger, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz, 1968; Glaser, Krischan, Das Subsidiaritätsprinzip und die Frage seiner Verbindlichkeit nach Verfassungs- und Naturrecht, 1965; Rauscher, Anton, Subsidiaritätsprinzip und Berufsständische Ordnung in „Quadragesimo Anno" Eine Untersuchung zur Problematik ihres gegenseitigen Verhältnisses, 1958; Utz, Arthur-Fridolin, Formen und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, 1956. 3 Isensee, Josef, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968; Rauscher, Anton (Hrsg.), Subsidiarität - Strukturprinzip in Staat und Gesellschaft, 2000; Spieker, Manfred, Solidarität und Subsidiarität, Wirtschaft und Sozialpolitik, 1999, 77 ff. (Schriftenreihe ökumenische Sozialethik); Bergmann, Jörg, Das Subsidiaritätsprinzip - zwischen Sozialstaat und Lebenswelt, Sozialstaat 1998, 240 ff.; Hablitzel, Hans, Subsidiaritätsprinzip und Interdisziplinarität, in: Währung und Wirtschaft 1997, 625 ff. (Festschrift für Prof. Dr. Hugo J. Hahn zum 70. Geburtstag); insbesondere in jüngerer Zeit i n Bezug auf Föderalismus und Bundesstaatlichkeit: Badura, Peter; Zur Rechtfertigung des föderalistischen Prinzips und zum Subsidiaritätsprinzip, Bitburger Gespräche Jb 1999/11, 53 ff.; Oeter, Stefan, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht - Untersuchungen zu Bundesstaatstheorie unter dem Grundgesetz, 1998; Kuttenkeuler, Benedikt, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips i m Grundgesetz, 1998. 4 Vgl. aus der kaum noch zu überschauenden Literatur zum Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Recht: Stewing, Clemens, Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, 1992; Toth, The Principle of Subsidiarity i n the Maas-

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folgt anhand der normativen Form, die es in den Gemeinschaftsverträgen gefunden hat. Trotz der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips in der deutschen staatsrechtlichen Literatur für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft 5 verdankt es seine heutige Prominenz vor allem der Einführung in die Debatte um die Zuständigkeitsverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Gemeinschaft. Entsprechend den Thesen6 ist zunächst ein Blick auf die Einordnung und insbesondere auf den Gehalt des Subsidiaritätsprinzips zu werfen. Anschließend w i r d die Anwendung durch die Akteure auf der Gemeinschaftsebene dargestellt und bewertet. Am Schluss soll eine dogmatische Einordnung erfolgen. I. Eine subsidiäre Grundstruktur im Verhältnis von Gemeinschaften und Mitgliedstaaten lässt sich bereits aus dem vertraglichen System vor der expliziten Einführung des Subsidiaritätsprinzips ausmachen.7 Den Gemeinschaften waren und sind solche Zuständigkeiten eingeräumt, die von den Mitgliedstaaten für das dynamisch zu verstehende Ziel der fortschreitenden Integration - bei unterschiedlichen Auffassungen i m Detail - prinzipiell bis heute für erforderlich gehalten werden. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 8 - nunmehr auch in Art. 5 Abs. 1 EGV explizit normiert - limitierte die Zuständigkeiten der Gemeinschaft auf ausdrückliche, zielorientierte Handlungsermächtigungen. Obwohl damit eigentlich eine eindeutige und abgegrenzte Zuständigkeitsverteilung im Vertrag angelegt war, dehnte sich die Gemeinschaftstätigkeit, zunehmend tricht-Treaty, CMLRev 1992, 1079; Lecheler,; Helmut, Das Subsidiaritätsprinzip. Strukturprinzip einer Europäischen Union, 1993; Merten, Detlef (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 1993; Lennaerts /Ypersele, Le principe de subsidiarité, CDE 1994, 3; Schima, Bernhard, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1994; Hirsch, Günter, Die Auswirkungen des Subsidiaritätsprinzips auf die Rechtsetzungsbefugnis der Europäischen Gemeinschaften, 1995; Hrbek, Rudolf (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union - Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche, 1995; Calliess, Christian, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip i n der Europäischen Union, 1. Aufl. 1996; 2. Aufl. 1999; Ronge, Frank, Legitimität durch Subsidiarität, 1998; Timmermann, Heiner (Hrsg.), Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, 1998; Schramm, Alfred, US-Föderalistische Anregungen zur Weiterentwicklung des EG-Subsidiaritätsprinzips, ZfRV 2000, 8 ff. 5 s.o. FN 3; zur aktuellen Bedeutung für die politische Selbstorganisation im globalen Zusammenhang vgl. Höffe, Otfried, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, 126 ff. 6 s.u. am Ende. 7 Vgl. hierzu Pieper, Subsidiarität (FN 2), 175 ff. 8 Kraußer, Hans-Peter, Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung i m Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWGV, 1991; BVerfGE 89, 155, 192 ff., 209 ff.; EuGHE 1957, 83, 167 (Schlußantrag GA Lagrange).

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gestützt auf eine weite Interpretation der Einzelermächtigungen, die Anwendung der Querschnittsklauseln und ein dynamisch verstandenes Integrationsziel aus. Nicht zuletzt ein einseitig ökonomisches Verständnis hat hierzu beigetragen. Als Beispiel darf man den Streit um die Buchpreisbindung 9 oder um die Fernsehrichtlinie 10 nennen. Beide Fälle zählen nach deutscher Auffassung nicht in erster Linie zur Sphäre der Wirtschaft, sondern zu der der Kultur. Insgesamt stand für all diese Tendenzen das Schlagwort vom Brüsseler Zentralismus. In der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit wie der Fachkreise wurde dies als bedrohlich empfunden: Insgesamt ist das Subsidiaritätsprinzip das Ergebnis einer weitverbreiteten Europaskepsis, die letztlich darin begründet ist, dass die ZuständigkeitsVerlagerungen Machtverlagerungen bedeuten - eingedenk der Tatsache, dass Kompetenzfragen Machtfragen sind. 1 1 II. Das Subsidiaritätsprinzip hat in Art. 5 Abs. 2 EGV folgende Konkretisierung gefunden: „ I n Bereichen, die nicht i n ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, w i r d die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der i n Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können."

Soweit es im vertraglichen System an anderen Stellen Erwähnung findet, w i r d auf diese Bestimmung Bezug genommen. 12 Das Subsidiaritätsprinzip i n der Fassung des Art. 5 Abs. 2 EGV gilt wegen der Verweistechnik nicht allein für die Europäische Gemeinschaft, sondern insgesamt für die Europäische Union, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die Europäische Atomgemeinschaft. 13 Es ist ein Unterfall des allgemeinen Subsidiaritätsprinzips. 14 In der vorliegenden 9 Blanke, Hermann-Josef, Grenzüberschreitende Buchpreisbindung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, JZ 2000, 118 ff.; Hofmann, Thomas, Buchpreisbindung auf dem Prüfstand des Europarechts - Bleibt i n Deutschland alles beim A l ten? GRUR 2000, 555 ff.; Obert, Anne, Nationale französische Buchpreisregelung Letzte bataille auf europäischer Ebene? Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 3. Oktober 2000 - C-9/99, Z U M 2001, 45 ff. 10 BVerfGE 80, 74; allgemein Oppermann, Thomas, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 1598 ff. 11 Hirsch, Günter, Schriftliche Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union, 14. März 2001, Reichstag, Berlin, S. 6. 12 Präambel EUV, Art. 2 Abs. 2 EUVa.E. 13 Vgl. nur Languth, Gerd, in: Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, 2. Aufl. 1999, Art. 5 Rn. 1; Pechstein, Matthias/Koenig, Christian, Die Europäische Union, 3. Aufl. 2000, Rn. 155 ff.

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Fassung knüpft es damit an die im Vertrag bestehende Kompetenzverteilung an und ist für die Frage nach einer weiteren Übertragung von Zuständigkeiten an die Gemeinschaften durch die Mitgliedstaaten - etwa im Rahmen einer Vertragsrevision gem. Art. 48 EUV - nicht verbindl i c h . 1 5 Neben dem Subsidiaritätsprinzip w i r d auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EGV) und die Erforderlichkeit für die Kompetenzausübung (Art. 5 Abs. 3 EGV) normiert. 1 6 Die Regelungsgehalte des Art. 5 EGV stehen i n einer engen Verknüpfung: Sowohl das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als auch die Erforderlichkeit gestalten und konkretisieren auch das Subsidiaritätsprinzip. 1 7 Durch die Normierung des Subsidiaritätsprinzips gem. Art. 5 Abs. 2 EGV w i r d die Kategorie der ausschließlichen Zuständigkeit eingeführt: Das Subsidiaritätsprinzip soll nur dann zur Anwendung gelangen, wenn es sich um nicht ausschließliche Zuständigkeiten handelt. Der damit vorprogrammierte Streit, 1 8 wann eine Zuständigkeit ausschließlich ist und wann nicht, ist bis heute nur für einzelne Materien beigelegt. Darüber hinaus bereitet die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Subsidiaritätsprinzips Schwierigkeiten, weil die für Bundesstaaten maßgebliche Systematik unterschiedlicher Kompetenzen 19 auf das Gemeinschaftsrecht im Grunde nicht passt - nicht zuletzt, weil bis heute weder Union noch Gemeinschaft die Schwelle zum Bundesstaat überschritten haben. 2 0 Eine vertraglich explizite Zuweisung einer Sachmaterie zur Ka14 Pieper, Stefan Ulrich, Subsidiaritätsprinzip - Strukturprinzip einer Europäischen Union, DVB1. 1993, 705 ff. 15 Calliess, Christian, in: Calliess/Ruffert, (Hrsg.), Kommentar zum EU-Vertrag und EG-Vertrag, 1999, Art. 5 Rn. 2. 16 Vgl. hierzu Languth (FN 13), Art. 5 Rn. 3, 4 ff., 30 f.; Lienbacher (FN 21), Rn. 1, 7 ff., 34 ff.; Zuleeg, Manfred, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EU/EG-Vertrag, Bd. 1, 5. Aufl. 1997, Art. 3 b Rn. 1, 2 ff., 29 ff.; mit der Erforderlichkeit wird jedenfalls eine Erscheinungsform des Verhältnismäßigkeitsprinzips für die Kompetenzausübung festgeschrieben: Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, vgl. EuGHE 1964, 175, 204; 1977, 1211, 1221; 1979, 3727; 1985, 2889, 2891; allgemein zum Verhältnismäßigkeitsprinzip Pache, Eckhard, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i n der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, 1033 ff.; Zapka, Klaus, Verhältnismäßigkeitsprinzip im Gemeinschaftsrecht, Recht und Politik 1996, 95; Kutscher, Hans, Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Recht der Europäischen Gemeinschaften, in: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i n europäischen Rechtsordnungen (Rechtsstaat in der Bewährung, Bd. 15), 1985, 89 ff.; Schiller, Klaus-Volker, Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht nach der Rechtsprechung des EuGH, RIW 1983, 928 f.; Hirsch, Günter, Das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Gemeinschaftsrecht, 1997; Ende, Monika, Der Individualrechtsschutz des Unionsbürgers - Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Elemente der gemeineuropäischen ordre public, 1997. 17 Pieper Subsidiarität (FN 2), 256; Zuleeg (FN 16), Art. 3 b, Rn. 29. 18 Vgl. m.w.N. Calliess (FN 15), Art. 5, Rn. 5, Rn. 18 m.w.N. 19 Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,2. Aufl. 1984, S. 644 ff. m.w.N.

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tegorie „ausschließliche" Kompetenz fehlt. Auch die übrigen, i n der Literatur kursierenden Kompetenzkategorien „konkurrierend" und „parallel" sind - im Anschluss an die Einfügung des Subsidiaritätsprinzips ein Ergebnis der Dogmatik und keine durch den Vertrag selbst vorgenommene normative Einteilung. 2 1 So lässt sich in Bezug auf jede Einzelermächtigung behaupten, sie sei nicht ausschließlich, mithin seien die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten zuständig. Dieser Kompetenzkonflikt beruht darauf, dass die Normen der Gemeinschaftsverträge auf das Ziel der Integration zugeschnitten sind und in diesem Rahmen einen unterschiedlich hohen Grad an Befugnisgehalten auf weisen. 22 Zudem erlauben Zielnormen die Ableitung von Handlungsbefugnissen. 23 Deutlich wird dies z.B. an den Regelungen über den gemeinsamen Agrarmarkt 2 4 oder für die Materie Handelspolitik. 2 5 Angesichts dessen werden für die Bestimmung der Ausschließlichkeit unterschiedliche Merkmale gewählt: Klarheit und Genauigkeit der Norm, Reichweite der Verpflichtung der Ermächtigung und abschließender Charakter der Gemeinschaftsregel, 26 Kategorisierungen wie Binnenmarktbezug, Schutz des Wettbewerbs oder Harmonisierungsnormen. 2 7 Zutreffend ist der Ansatz, 2 8 die Einzelermächtigungen der Gemeinschaft nach Wortlaut, Sinn und Zweck auszulegen; so sinnvoll diese

20 BVerfGE 89, 155, 156, 181 ff., 195; zur Rechtsnatur der EU vgl. nur Pechstein/Koenig, Europäische Union (FN 13), Rn. 56 ff. m.w.N.; zu Recht kritisch daher Zuleeg (FN 16), Art. 3 b, Rn. 5. 21 Ähnlich Lienbacher, Georg, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 5 Rn. 11. 22 Ebd., Art. 5 Rn. 8. 23 Vgl. etwa EuGHE 1987, 3203, Rn. 28 ff.; i n Bezug auf die Implied-powersDoktrin EuGHE 1988, 5545, Rn. 7 ff.; 1987, 3203, Rn. 28 ff.; 1956, 297, 312; Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 382, 397; Languth (FN 13), Art. 5 Rn. 7; a.A. v. Bogdandy, Armini Nettesheim, Matthias, in: Grabitz/Hilf, EU-/EG-Vertrag, Art. 3 b Rn. 6. 24 Nach Callies (FN 15), Art. 5, Rn. 26 keine ausschließliche Kompetenz; zutreffend dagegen Zuleeg (FN 16), Art. 3b Rn. 5 m.w.N. d. Rspr. 25 So w i r d entgegen der h. M. - vgl. etwa Beutler, Bengt/Bieber, Roland/ Pipkorn, Jörn/Streil, Jochen, Die Europäische Union, 4. Aufl. 1993, 524; Pieper, Stefan, in: Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 1427 m.w.N.; so wohl auch Oppermann, Europarecht (FN 10), Rn. 1741; Zuleeg (FN 16), Art. 3 b Rn. 5 m.w.N.; - z.T. vertreten, angesichts des dynamischen Charakters des Handels sei der gemeinschaftsrechtliche Rechtsetzungsprozess zu langsam, so dass Regelungslücken zwangsläufig seien mit der Folge einer konkurrierenden Zuständigkeit zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten; Epping, Volker, Grundfragen des Außenwirtschaftsrechts, in: Ehlers/Wolff gang (Hrsg.), Rechtsfragen der Ausfuhrkontrolle und Ausfuhrförderung, 1997, S. 5, 10; Geiger, Rudolf, Vertragschlußkompetenz der Europäischen Gemeinschaft und auswärtige Gewalt der Mitgliedstaaten, JZ 1995, 973 ff. 26 Calliess (FN 15), Art. 5 Rn. 22 m.w.N. 27 Ebd., Art. 5 Rn. 23. 28 Ebd., Art. 5 Rn. 24.

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juristische Methode ist, so hilft sie letztlich nicht weiter, wie der Streit zu den genannten Beispielen zeigt. Der bloße Binnenmarktbezug als allgemeine Kompetenzgrundlage reicht jedenfalls nach einem kürzlich ergangenen Urteil des EuGH nicht aus. 29 Die Herstellung des Binnenmarktes stellt ein Ziel dar, das der Gemeinschaft zwar die Befugnis zum Erlass von Vorschriften gibt, aber kein bestimmtes Sachgebiet zur Regelung überlässt. 30 Ausschließlich ist eine Materie auch dann in den Kompetenzbereich der Gemeinschaft übergegangen, wenn sie erschöpfend gemeinschaftsrechtlich geregelt ist. 3 1 Angesichts des auf eine immer weiterreichende Integration angelegten Prozesses müssen letztlich auch die Kompetenzen nicht statisch, sondern tendenziell dynamisch verstanden werden, 3 2 mit der Folge einer zwangsläufigen Kompetenzausweitung zugunsten der Gemeinschaft. Ohne Kompetenzkatalog haben daher - überspitzt ausgedrückt - die Einführung des Subsidiaritätsprinzips und die damit verbundenen Kompetenzqualifikationen zwei Effekte: Der Streit um die Kompetenzen der Gemeinschaft hat sich verschärft, zugleich aber rationalisiert. Das Subsidiaritätsprinzip bietet einen Ansatzpunkt zur K r i t i k der gemeinschaftlichen Zuständigkeiten und hält zugleich die Maßstäbe hierfür bereit. III. Das Subsidiaritätsprinzip soll nach seiner Intention für die Ausübung von Kompetenzen 33 und angesichts des eigentlichen Zuständigkeitsverteilungssystems „nur" dann eingreifen, wenn Vertragsnormen nicht bereits eine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft bzw. Tätigwerden der Gemeinschaftsorgane vorsehen, also dann, wenn sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten eine Kompetenz für sich reklamieren können. 3 4 Außerdem darf das Subsidiaritätsprinzip - als bloße Kompetenznorm - nicht dazu führen, dass Rechte Einzelner, die der Vertrag statuiert, eingeschränkt werden. 3 5 Es geht damit - jedenfalls dem 29 EuGH, Urt. v. 5.10.2000, Rs. C-376/98, Rn. 83 ff. 30 Vgl. Zuleeg (FN 16), Art. 3b Rn. 5 m.w.N. 31 Zuleeg (FN 16), Art. 3b Rn. 5 m.w.N. 32 Vgl. m.w.N. Lienbacher (FN 21), Art. 5 Rn. 13. 33 Zuleeg (FN 16), Art. 3 b Rn. 17: „Kompetenzregel". 34 Calliess (FN 15), Art. 5, Rn. 32; Lienbacher (FN 21), Art. 5 Rn. 13. 35 EuGHE 1995, 1-4921, 5065 (Bosman: vgl. auch Ls 9: „Das Subsidiaritätsprinzip darf selbst bei weitem Verständnis, nach dem sich das Tätigwerden der Gemeinschaftsbehörden im Bereich der Organisation sportlicher Tätigkeiten auf das unbedingt erforderliche Maß beschränken muß, nicht dazu führen, daß die Autonomie, über die die privaten Verbände beim Erlaß von Sportregelungen verfügen, die Ausübung der dem einzelnen durch den Vertrag verliehenen Rechte wie des Rechts auf Freizügigkeit einschränkt.").

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Grunde nach - nicht um das „ O b " , 3 6 das grundsätzliche „Handeln dürfen". Denn dazu ermächtigt (nur) die jeweilige Einzelermächtigung. 37 Als Kompetenzregel beschränkt das Subsidiaritätsprinzip die Ausübung vorhandener Befugnisse 38 , also die Ausübung der Einzelermächtigung. Zusätzlich verlangt das Subsidiaritätsprinzip über die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzung der Einzelermächtigung hinaus bestimmte, ihm entsprechende Voraussetzungen. Weitgehend unstreitig ist, dass das Subsidiaritätsprinzip auf „Maßnahmen" anzuwenden ist. Das Merkmal der Maßnahme w i r d insgesamt sehr weit verstanden, beschränkt sich damit nicht auf die Handlungsmittel des Art. 249 EGV, sondern erstreckt sich auch auf Maßnahmen ohne unmittelbare Rechtswirkung. Die Gemeinschaft muss sich damit bereits im Vorfeld ihres Tätigwerdens über ihre Handlungsabsicht i n Ansehung des Subsidiaritätsprinzips klar werden, etwa bei Aktionsprogrammen, Grün- oder Weißbüchern. Sie muss ihre Handlungsabsichten im Rahmen der vertraglichen Bestimmungen darlegen. 39 IV. Die materiellen Vorgaben des Art. 5 EGV erweisen sich angesichts ihrer Unbestimmtheit als praktisch nur schwer handhabbar. 40 Denn das Merkmal, dass die Ziele „auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen besser" auf der Ebene der Gemeinschaft zu erreichen sind, ist nur durch Wertungen auszufüllen. Außerdem sind i n die allgemeine, abstrakte Kompetenzregel in der praktischen Anwendung die jeweiligen Vorgaben der konkreten Regelungsmaterien mit einzubeziehen, etwa das hohe Schutzniveau im Umweltschutz gem. Art. 174 Abs. 2 S. 1 EGV. 4 1 Dementsprechend soll insbesondere die Erforderlichkeit durch eine Abwägung in dem Interessengeflecht zwischen Union, Mitgliedstaaten und Unionsbürgern erfolgen. 42 Die Versuche, die Maßstäbe hierfür zu rationalisieren, setzen an der von den Kriterien des Art. 5 Abs. 2 EGV vorgegebenen zweistufigen Prüfung an, deren Maßstab in einem (ersten) negativen Kriterium besteht, das kausal-kumulativ mit einem zweiten positiven Kriterium verknüpft ist. 4 3 Dies hilft indes nur bedingt weiter. Auch 36 A.A. indes Calliess (FN 15), Art. 5 Rn. 17. 37 EuGH, Urt. v. 5.10.2000, Rs. C-376/98, Rn. 83 ff. 38 Zuleeg (FN 16), Art. 3 b Rn. 18; BVerfGE 89, 155, 211. 39 Zuleeg (FN 16), Art. 3 b Rn. 19. 40 So auch Lienbacher (FN 21), Art. 5 Rn. 2. 41 Zuleeg (FN 16), Art. 3 b Rn. 22. 42 v. Bogdandy/Nettesheim (FN 23), Art. 3 b Rn. 34 ff. 43 Calliess (FN 15), Art. 3 b Rn. 20 unter Hinweis auf das von der Kommission vorgeschlagene Prüfraster.

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als Grundvoraussetzung transnationale Aspekte für das Regelungsvorhaben zu fordern, stellt im Hinblick auf die Gemeinschaft eine Selbstverständlichkeit dar. Als Beispiel für die Versuche von Literatur und Praxis, die Kriterien des Art. 5 Abs. 2 EGV zu konkretisieren, ist etwa der Test vergleichender Effizienz mit und ohne Gemeinschaftsregelung vorzunehmen: Das Erfordernis „besserer Zielerreichung auf Gemeinschaftsebene" soll erfüllt sein, wenn das Gemeinschaftshandeln deutliche Vorteile bringt. 4 4 Auch Effizienzvergleiche unter Einbeziehung der Kosten und Nutzen werden vorgeschlagen. Dies sind nur einige Beispiele für Vorschläge zur Konkretisierung, die verdeutlichen, dass das Subsidiaritätsprinzip von seinen ursprünglichen geistesgeschichtlichen Ursprüngen zu einer bloßen „Effizienzmechanik" 4 5 gerinnt - was allerdings nicht weiter erstaunt: Bis heute ist die Integration in erster Linie und i m wesentlichen auf das wirtschaftliche Zusammenwachsen ausgerichtet. Angesichts dieser Einseitigkeit liegt es nahe, auch das Subsidiaritätsprinzip fälschlicherweise - allein an Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten orientiert zu verstehen. V.

Die Staats- und Gemeinschaftspraxis zum Subsidiaritätsprinzip - und dies ist eine seiner wesentlichen Folgen - hat sich in Protokollerklärungen und Prüfrastern sowie Berichten zu seiner Anwendung niedergeschlagen. Auch diese Versuche beruhen im wesentlichen auf Vergleichen und Bewertungen, die die Regelungsnotwendigkeit der jeweiligen Sachmaterie durch die Gemeinschaft testen sollen. An erster Stelle zu nennen sind das Protokoll zum Subsidiaritätsprinzip zum Amsterdamer Vertrag nebst den hierzu abgegebenen Erklärungen des Europäischen Rates. 46 Dieses Protokoll stellt fest, dass - das Subsidiaritätsprinzip an jedes Organ der Gemeinschaft adressiert ist, - der gemeinschaftliche Besitzstand und das vom Vertrag und Rechtsprechung ausgestaltete Verhältnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten nicht berührt wird, - das Subsidiaritätsprinzip die Befugnisse der Gemeinschaft nicht in Frage stellt,

44 Vgl. insgesamt Zuleeg (FN16), Art. 3b Rn. 20 ff. m.w.N. 45 Lienbacher (FN 21), Art. 5 Rn. 2. 46 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zum Vertrag von Amsterdam i n der Fassung v. 2.10.1997, Abi. 1997 C 340, S. 105 ff., vgl. hierzu auch Lienbacher, (FN 21), Art. 5 Rn. 32 ff.

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- Subsidiaritätsprinzip eine Richtschnur dafür sei, wie die Befugnisse auszuüben seien, - das Subsidiaritätsprinzip dynamisch anzuwenden sei, also die Ausweitung wie Beschränkung der Zuständigkeit ermöglichen, - eine Begründung der Rechtsakte i m Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip erfolgen müsse. Als Leitlinie nennt das Protokoll folgende Punkte: - Der betreffende Bereich weist transnationale Aspekte auf, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können, - alleinige Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder das Fehlen von Gemeinschaftsmaßnahmen würden gegen die Anforderungen des Vertrages (beispielsweise Erfordernis der Korrektur von Wettbewerbsverzerrungen, der Vermeidung verschleierter Handelsbeschränkungen oder der Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts) verstoßen oder auf sonstige Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen, - Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene würden wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen i m Vergleich zu Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile mit sich bringen. Erwähnenswert ist, dass nach dem Protokoll etwa einer Richtlinie der Vorrang vor der Verordnung zu geben ist (Ziff. 6 des Protokolls) und den Mitgliedstaaten möglichst viel Raum zu eigener Gestaltung bleiben soll (Ziff. 7 des Protokolls). Zudem verpflichtet das Protokoll die Kommission, die Sachdienlichkeit ihrer Vorschläge unter dem Aspekt des Subsidiaritätsprinzips zu begründen. Es sollen ausführliche Angaben gemacht werden, außerdem hat die Kommission jährlich Rat und Europäischem Parlament einen Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips vorzulegen. Dementsprechend legt die Kommission Rechenschaft über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ab. 4 7 Allerdings beschränkt sich diese Berichtstätigkeit nicht allein hierauf, sondern behandelt auch die Punkte Verhältnismäßigkeit, redaktionelle Qualität der Rechtsakte, Vereinfachung, Konsolidierung, Informationszugang usw. Die Ausführungen der Kommission i n diesem Bericht sind indes sehr pauschal und wenig detailliert, so dass ihre Aussagekraft zum Subsidiaritätsprinzip beschränkt bleibt. 4 8 47 Unter dem Titel „Eine bessere Rechtsetzung 1999", Ratsdok. 13725/99; Kom (99), 562 endg. 48 So auch die Einschätzung der Bundesregierung, Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips i m Jahr 1999 (Subsidiaritätsbericht 1999), BT-Drs. 14/ 4017 v. 18.8.2000, S. 8.

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Insbesondere i n der Bundesrepublik w i r d die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips sowohl durch den Bund wie auch die Länder beobachtet. Neben den politischen Gründen und der engen Verflechtung von Subsidiaritätsprinzip und deutschem Föderalismus verpflichtet auch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG deutsche Staatsorgane zu einer besonderen Beachtung des Subsidiaritätsprinzips auf der europäischen Ebene. Denn die „Struktursicherungsklausel" 4 9 bedeutet eine Verfassungspflicht für deutsche Stellen 5 0 mit der Folge, dass an einer Integration unter Missachtung dieser i n Art. 23 GG niedergelegten Grundsätze deutsche Organe nicht teilnehmen dürfen und entsprechende Integrationsschritte verfassungswidrig wären. Daher enthält Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG auch eine Appellfunktion an die übrigen Integrationsbeteiligten. 51 Zwischen der europäischen und der staatlichen Ebene besteht eine Wechselwirkung auch in Bezug auf den Inhalt des Subsidiaritätsprinzips, denn Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG lässt sich keine inhaltliche Bestimmung entnehmen, auch wenn das Subsidiaritätsprinzip dem Grundgesetz nicht fremd ist. 5 2 Aus dem Entstehungsprozess des Art. 23 GG lässt sich eine Verweisung auf den gemeinschaftlich bestimmten Inhalt des Subsidiaritätsprinzips entnehmen - allerdings mit dem in Art. 5 Abs. 2 EGV positivierten Inhalt zum Zeitpunkt der Einfügung des Art. 23 GG. 5 3 Damit ergibt sich keine statische Verweisung, sie berücksichtigt vielmehr die i m Rahmen des Gemeinschaftsrechts zulässigen Rechtsfortbildungen etwa durch die Rechtsprechung des E u G H , 5 4 erlaubt aber keine die Grundsätze inhaltlich vollständig verkehrenden Änderungen. In der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien 55 ist in § 74 das Verfahren geregelt 56 , nach dem Vorhaben der Gemeinschaft auch im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip zu behandeln sind. 5 7 Nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung gilt ein Prüfraster, mit dessen 49 So Pernice , Ingolf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 23 Rn. 47. so BVerfGE 89, 155, 211 f. i n Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip; Pernice (FN 49), Art. 23 Rn. 49; Klein, Eckart, Die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an der Europäischen Union im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, in: Hummer (Hrsg.), Die Europäische Union und Österreich, 1994, 153, 159. 51 Pernice (FN 49), Art. 23 Rn. 49. 52 Isensee, Subsidiaritätsprinzip (FN 3), Pieper, Subsidiarität (FN 2), 83 ff. 53 So wohl auch Pernice (FN 49), Art. 23 Rn. 72. 54 BVerfGE 75, 223, Ls: „Die dem EuGH nach Art. 177 EGV übertragene abschließende Entscheidungsbefugnis umfaßt grundsätzlich auch die Befugnis zur Rechtsfortbildung bei der Auslegung und Konkretisierung der Gemeinschaftsverträge und des aus ihr abgeleiteten Rechts. Der Umfang dieser Kompetenzübertragung ist mit Art. 24 Abs. 1 GG vereinbar."; vgl. auch BVerfGE 89, 155, 209. 55 Vom 1.7.1999. 56 Siehe Anhang 1. 57 Siehe Anhang 2.

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Hilfe alle Rechtsakte, Vorhaben, Aktions- und Förderprogramme der Gemeinschaft auf ihre Notwendigkeit hin überprüft werden. 5 8 Dieses Prüfraster orientiert sich am Protokoll zu Art. 5 Abs. 2 EGV: Um die bessere Verwirklichung durch die Gemeinschaft zu testen, sollen deutliche Vorteile zu verzeichnen sein und festgestellt werden, auf welchen qualitativen und quantitativen Kriterien die Kommissionsbegründung beruht. § 74 GGO regelt zudem das Verfahren innerhalb der Bundesregierung, also die Federführung der jeweiligen Ressorts, die Beteiligung von Bundesrat, Bundestag, Ländern, kommunalen Spitzenverbänden oder Fachkreisen und verpflichtet auch zur Information über die Subsidiaritätsbewertung. Auf der Grundlage des Prüf rasters erstattet die Bundesregierung 59 jährlich einen Subsidiaritätsbericht, der Bundestag und Bundesrat vorgelegt w i r d . 6 0 Die Subsidiaritätsberichte enthalten eine Bewertung der Gemeinschaftstätigkeit. Der letzte Bericht für den Berichtszeitraum 1.4.1999 - 31.3.2000 beanstandet lediglich zwei Gemeinschaftsrechtsvorhaben wegen einer Verletzung des Subsidiaritätsprinzips. 61 Auch der Bundesrat überprüft die Gemeinschaftstätigkeit. Seine Bewertung - tendenziell strenger als die der Bundesregierung - wird ebenfalls im Subsidiaritätsbericht der Bundesregierung wiedergegeben. Grundlage hierfür ist das „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Länder in den Angelegenheiten der Europäischen U n i o n " . 6 2 Der Bundesrat prüft - anders als die Bundesregierung - alle Handlungen und Äußerungen der Kommission, auch wenn sie nicht legislatorischer Natur sind. Aber selbst der kritischere Bundesrat konnte in der Vergangenheit nur in Ausnahmefällen eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips rügen. 6 3 58 Siehe Anhang 3. 59 Federführung BMF. 60 Unterrichtung durch die Bundesregierung, Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Jahr 1999 (Subsidiaritätsbericht 1999), BT-Drs. 14/4017 v. 18.8.2000; Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Jahr 1998 (Subsidiaritätsbericht 1998), BT-Drs. 14/1512 v. 17.8.1999; Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Jahr 1997 (Subsidiaritätsbericht 1997), BT-Drs. 13/11074 v. 17.6.1998; vgl. zum Subsidiaritätsbericht 1999 Rompe, Sybille, Der Subsidiaritätsbericht der Bundesregierung für 1999, ZG 2000, 275. 61 Die zwei von der Bundesregierung (und auch vom Bundesrat) beanstandeten Vorschläge betrafen zum einen Maßnahmen gegen den Betrug und die Fälschung im Zusammenhang mit bargeldlosen Zahlungsmitteln, zum anderen Vorhaben, mit denen die Nutzung des Finanzsystems zum Zweck der Geldwäsche verhindert werden sollte, vgl. Unterrichtung durch die Bundesregierung, Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Jahr 1999 (Subsidiaritätsbericht 1999), BT-Drs. 14/4017 v. 18.8.2000, S. 2. 62 v. 12.3.1993, BGBl. I 1993, 313. 63 Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Jahr 1999 (Subsidiaritätsbericht 1999), BT-Drs. 14/4017 v. 18.8.2000, S. 2, 5 f., 8.

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Eine besondere Erwähnung verdient die Aufmerksamkeit, die Bayern der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips schenkt. Die bayerische Landesregierung führt eine Liste mit Rechtsakten und Vorhaben der Gemeinschaft, die ihrer Auffassung zufolge gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. 64 VI,

Auf der Grundlage der vorliegenden Praxis lässt sich eine Bewertung der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips vornehmen: Entgegen der öffentlich verlautbarten Ansicht werden echte Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip nur i n Einzelfällen gerügt. Die Einführung des Subsidiaritätsprinzips und die konsequente Beobachtung der Gemeinschaftsorgane durch die Mitgliedstaaten als „Berechtigte" des Subsidiaritätsprinzips hat zu einer höheren Sensibilität der Kommission geführt. Angesichts ihres Initiativmonopols steht sie im Hinblick auf die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips im Mittelpunkt des Interesses. Die Zahl ihre Rechtssetzungsinitiativen geht zurück; Vorschläge werden besser begründet und die Kommission nimmt mehr Rücksicht darauf, ob tatsächlich eine Notwendigkeit gemeinschaftlichen Handelns besteht. 65 Deutlich w i r d dies anhand von zwei Zahlen: 1995 wurden bei 232 von der Bundesregierung geprüften Rechtsakten 13 wegen Subsidiaritätsbedenken beanstandet, 1999 bei 58 geprüften Rechtsakten nur zwei. Es liegen also nur wenige Subsidiaritätsverstöße vor und damit ein Rückgang der Brüsseler „Regulierungswut ". Allerdings verdeutlicht der Blick i n die Praxis auch einen Aspekt, der i n Zukunft eine verstärkte Beachtung verdient: Angesichts des Initiativmonopols der Kommission werden insbesondere ihre Vorschläge geprüft. Art. 5 EGV ist indes an alle Organe adressiert, die im Rahmen der Wahrnehmung der Gemeinschaftskompetenzen beteiligt sind. 6 6 Mit einer Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens gem. Art. 251 EGV zugunsten des Parlaments - eine im Hinblick auf das Demokratieprinzip begrüßenswerte Entwicklung - besitzen Parlament und Rat die Möglichkeit, die Rechtsetzungsvorhaben entscheidend zu beeinflussen. Zwar könnte man den Rat als das geborene Organ ansehen, das die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzip sicherstellen kann, nimmt er doch vor allem die mitgliedstaatlichen Interessen wahr. Demgegenüber w i r d das Parlament in 64 Dem Verfasser liegt die Subsidiaritätsliste der Bayerischen Staatskanzlei vor (Stand: 31.8.1998). 65 Diese Einschätzung beruht auf der Wiedergabe der Fünf-Jahre Bilanz im Bericht der Bundesregierung über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, Rompe, ZG 2000, 275, 276 f. 66 Lienbacher (FN 21), Art. 5 Rn. 15; Zuleeg (FN 16), Art. 3 b Rn. 26.

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Zukunft seinen Einfluss steigern wollen. Als Gemeinschaftsorgan, das zwar die Interessen der Völker repräsentiert, w i r d es tendenziell darauf bedacht sein, Gemeinschaftskompetenzen intensiv zu nutzen, um überhaupt Mitentscheidungsrechte wahrzunehmen: Eine Stärkung des Parlaments kann durchaus eine stärkere integrative und zentralistische Wirkung entfalten. Eine dem Subsidiaritätsprinzip widersprechende größere Dichte der Gemeinschaftsregelungen steht daher bei Ausweitung der Parlamentsbefugnisse zu erwarten. VII. Die Einführung des Subsidiaritätsprinzips war Anlass, Rechtsakte, die von den Mitgliedstaaten für rechtswidrig gehalten werden, vor den Europäischen Gerichtshof i n Luxemburg zu rügen. Der Gerichtshof ist wie alle anderen Gemeinschaftsorgane auch an das Subsidiaritätsprinzip gebunden, d.h. Gerichtshof und Gericht erster Instanz müssen seine Einhaltung in Bezug auf die Maßnahmen prüfen, die Gegenstand ihrer Rechtskontrolle sind. Bisher hat die Rechtsprechung indes einen unmittelbaren Rückgriff auf das Subsidiaritätsprinzip unterlassen, obwohl es i n verschiedenen Verfahren gerügt worden ist. 6 7 Aus der bisherigen Rechtsprechung lässt sich aber auch nicht entnehmen, dass der Gerichtshof das Subsidiaritätsprinzip für injustiziabel hält. Zwar hat er i n einer Entscheidung darauf abgestellt, eine Verletzung sei ausgeschlossen, sofern der Rat eine entsprechende Maßnahme erlasse. 68 Aus diesem „obiter dictum" läßt sich aber kaum ableiten, dass der Gerichtshof eine Justiziabilität ausschließen will. In der jüngsten Entscheidung, bei der von der Bundesrepublik eine Missachtung gerügt worden war, 6 9 hat der Gerichtshof bereits das Fehlen der Rechtsgrundlage bemängelt und eine Richtlinie über das Verbot der Tabakwerbung (Sponsoring) für rechtswidrig erklärt. Auf das Subsidiaritätsprinzip kam es mithin nicht mehr an. Ebenfalls in einem „obiter dictum" hat er aber i n dieser Entscheidung auf Art. 5 EGV insgesamt rekurriert. 7 0

67 Vgl. etwa EuGHE 1995, 1-4921 (Bosman), EuGHE 1997, 1-2405 (Einlagensicherung); EuGHE 1996, 1-5755; EuGHE 1998, 1-6337; EuGHE 2000, 1-2681, C-17 6/96 (Schlussantrag GA Alber, Freizügigkeit für Berufsbasketballspieler); EuGHE v. 5.10.2000 - C-376/98 (Rn. 9) sowie C-74/99 - beide noch nicht in der amtl. Slg. (Tabak-Sponsoring); EuGE 1995,11-289, Rn. 330. 68 EuGHE 1996, 1-5755, Rn. 47 ff. und 50 ff. 69 EuGHE v. 5.10.2000 - C-376/98, Rn. 9, noch nicht i n der amtl. Slg. (TabakSponsoring). 70 EuGHE v. 5.10.2000 - C-376/98, Rn. 83, noch nicht i n der amtl. Slg. (TabakSponsoring).

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Die Zurückhaltung des Gerichtshofes ist verständlich: Das Subsidiaritätsprinzip ist i n der Form, in der es in Art. 5 Abs. 2 EGV positiviert worden ist, kaum präzise zu handhaben. Es ist zwar bindendes Recht und nicht allein politische Leitlinie. 7 1 Gleichwohl ist es im Hinblick auf seine Kriterien wertausfüllungsbedürftig und weniger strikt anwendbar als klare, eindeutige Kompetenzzuweisungsregeln. Damit besteht eine politische Einschätzungsprärogative, die nur in Grenzen gerichtlich nachprüfbar ist. 7 2 Der Gerichtshof würde sich dem Vorwurf aussetzen, seine Wertungen an die der dafür eigentlich zuständigen Organe zu setzen, wenn er eine strikte Rechtskontrolle ohne Beachtung der Einschätzungsprägorative durchführen würde. Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ist das Subsidiaritätsprinzip damit nur im Hinblick auf eine evidente Verletzung der Grenzen eines weiten rechtspolitischen Ermessens justiziabel. 7 3 Der Gerichtshof tendiert dabei insgesamt - wie auch das eben genannte Urteil verdeutlicht - entgegen der früheren, eher zugunsten einer Gemeinschaftszuständigkeit neigenden Rechtsprechung 74 zu einer engeren Bindung des Gemeinschaftshandelns an die Ermächtigungsgrundlagen. Hierbei ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Verbindung des Subsidiaritätsprinzips mit der Begründungspflicht, wie sie auch im Protokoll zu Art. 5 Abs. 2 EGV niedergelegt ist (Art. 252, ex-Art. 190 EGV), von Bedeutung. 75 Zwar müsse in der Begründung - bedauerlicherweise - nicht ausdrücklich Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip genommen werden; aus der notwendigen Begründung müssen sich indes Anhaltspunkte für die getroffenen Subsidiaritätserwägungen ergeben. 76 Angesichts der im Subsidiaritätsprotokoll de-

Zuleeg (FN 16), Art. 3 b Rn. 26; Pieper, Subsidiarität (FN 2), 271 f.; Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip i n der Europäischen Union, 1996, 265 ff. 72 Gleichwohl kann dieser Einschätzungsspielraum nachgeprüft werden; insoweit ist dieser i n seiner Struktur dem Ermessen ähnlich, das ebenfalls auf Fehler und Fehlgebrauch hin überprüft werden kann, vgl. etwa im Hinblick auf offensichtliche Verletzungen des Ermessens des Gemeinschaftsgesetzgebers und Art. 5 EGV EuGHE 1996, 1-5755, Rn. 58; EuGHE 1997, 1-2405, Rn. 56. 73 Hirsch, Schriftliche Stellungnahme (FN 11), S. 8 f. 74 Vgl. Zuleeg (FN 16), Art. 3 b Rn. 26 f. m.w.N.d. Ansicht fehlender Justiziabilität. 75 Zur Erstreckung der Begründungspflicht auf das Subsidiaritätsprinzip Pieper, Subsidiarität (FN 2), 273. 76 EUGHE 1997, 1-2405, C-233/94 (Einlagensicherungsrichtlinie): „Das Parlament und der Rat haben, auch wenn sie das Subsidiaritätsprinzip i n der Richtlinie 94/19 über Einlagensicherungssysteme nicht ausdrücklich erwähnt haben, der ihnen gemäß Artikel 190 des Vertrages obliegenden Begründungspflicht genügt, da sie die Gründe für ihre Ansicht erläutert haben, daß ihr Handeln mit diesem Prinzip im Einklang stehe, wobei sie darauf hingewiesen haben, daß das Ziel ihres Tätigwerdens wegen seiner Dimensionen besser auf Gemeinschaftsebene und von den Mitgliedstaaten nicht in ausreichendem Maß verwirklicht werden konnte." (Ls. 9).

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zidierter niedergelegten Kriterien w i r d man in Fortschreibung der Rechtsprechung strengere Maßstäbe an die Begründung legen müssen. VIII. Eine kurze Bilanz zeigt: Die Einführung des Subsidiaritätsprinzips hat dazu geführt, zentralistische Regulierungstendenzen zu mildern. Der Streit um die Notwendigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Regulierung ist versachlicht worden. Zudem hat die Rechtssetzungstätigkeit abgenommen, auch weil anhand der Kriterien des Subsidiaritätsprinzips selbst auf der Ebene der Gemeinschaft nunmehr die Notwendigkeit zum Erlass von Regelungen ausdrücklich und im Bewusstsein der Subsidiaritätskriterien die Regelungsnotwendigkeit geprüft wird. Die Verpflichtungswirkung und die Rechtsnormqualität steht dabei nicht in Zweifel, auch wenn - für Juristen ja nicht ungewöhnlich - zur Interpretation der Subsidiaritätskriterien verschiedene Auffassungen vertreten werden. Dies führt zu der Frage, wie das Subsidiaritätsprinzip i n funktionaler Hinsicht einzuordnen ist. IX. Wenn das Subsidiaritätsprinzip bisher nicht gehalten hat, was man sich von ihm versprochen h a t 7 7 , so liegt dies m.E. daran, dass es vielleicht überbewertet worden ist. Für die Bestimmung der Wirkungsweise des Subsidiaritätsprinzips ist an seine kompetenzbegrenzende Funktion zu erinnern. Kompetenzfragen sind Machtfragen i m Sinne der Gewaltenteilung, die Verteilung der Kompetenzen damit Teil der Gewaltenteilung. Dies gilt auch im Verhältnis von Gemeinschaft/Union und Mitgliedstaaten. In diesem Sinne trägt das Subsidiaritätsprinzip zur Legitimität - verstanden als Freiheitsgewährleistung für den Einzelnen - der Gemeinschaft bei, indem es der Freiheit der Mitgliedstaaten und damit auch der der Bürger dient. 7 8 Der Staat ist kein sich selbst genügendes „aliud", sondern sein einziger Zweck besteht in der freiheitssichernden Organisation des menschlichen Zusammenlebens. Ein staatliches, nicht auf den Menschen bezogenes Innenleben ist daher unter einem Regime wie dem des Grundgesetzes nicht zulässig: Auch staatliche Binnenregelungen, selbst die Verhältnisse von Bund und Ländern sind allein auf den Menschen und auf seine Existenz i n der Gemeinschaft bezogen. Verfahrensund Organisationsregelungen können mithin in keiner Weise von dieser Zweckrichtung losgelöst werden. Dies gilt auch für die Europäischen Ge77 Hirsch, Schriftliche Stellungnahme (FN 11), S. 8 f. 78 Vgl. insgesamt Ronge, Legitimität (FN 4), passim, zusammenfassend S. 179 ff.

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meinschaften und die Europäische Union. Auch ihr Zweck besteht i n der Gewährleistung und Sicherstellung der individuellen Freiheit auf der zwischen-mitgliedstaatlichen Ebene, denn das Gemeinschaftsrecht verpflichtet nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern enthält unmittelbare Rechte auch für die natürlichen und juristischen Personen ggfls. auch gegen die Mitgliedstaaten. 79 Unmittelbare individuelle Rechte vermitteln die Herstellung des gemeinsamen Marktes bzw. des Binnenmarktes mit seinen Grundfreiheiten, die Freizügigkeit gewährleisten. Zu diesem Zweck stellen die Grundfreiheiten unmittelbar anwendbares Recht dar, das gegen staatliche Beschränkungen gerichtet ist. 8 0 Diese Zweckbestimmung w i r d an den Präambeln und Zielbestimmungen (3. Vorspruch der Präambel des EUV, Art. 1 EUV - „Bürgernähe", Art. 2 1. Und 3. Spstr. EUV, Art. 6 EUV, 2. und 3. Vorspruch der Präambel des EGV, Art. 2, Art. 3 Abs. 1 lit. c) und d)), der Einfügung einer Unionsbürgerschaft (Art. 17-22 EGV) und den Grundfreiheiten (Art. 28 f., 39, 43, 49, 56 EGV) deutlich. Insbesondere die Entwicklung eines Grundrechtsschutzes gegen Rechtsakte der Gemeinschaft durch den E u G H 8 1 bestätigt daneben den Befund einer Gemeinschaft, deren Ziel Herstellung und Gewährleistung individueller Freiheit ist. Dies w i r d nunmehr durch die feierliche Deklaration einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch den Rat von Nizza am 7.12.00 bestärkt. 8 2 Selbst wenn das gemeinschaftsrechtliche Subsidiaritätsprinzip auf die Kompetenzausübung i m Verhält-

79 Vgl. EuGHE 1963, 1 ff. („van Gend & Loos"); EuGHE 1966, 257 („Lütticke"); EuGHE 1964, 1251 („Costa/ENEL"); EuGHE 1970, 1125,1135 (grundsätzlicher Vorrang unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht;. BVerfGE 22, 293; 31, 145; 73, 339 (Solange II); 89, 155 (Maastricht); 97, 350 (Euro-Einführung); aktuell Beschluß des Bundesverfassungsgerichts v. 7.6.2000, 2 BvL 1/97 (Bananenmarktordnung); zur Pflicht der Beachtung des Gemeinschaftsrechts EuGHE 1969, 1; 1979, 2923; 1981, 1045; 1997, 1-6959. 80 In zunehmenden Maße w i r d den Grundfreiheiten durch die Rechtsprechung des EuGH auch eine Wirkung als Beschränkungsverbot (EuGHE 1987, 1227 ff. „Reinheitsgebot für Bier") beigelegt, d.h. selbst unterschiedslos für In- wie Ausländer geltende mitgliedstaatliche Bestimmungen und Verbote sind am Maßstab des Gemeinschaftsrechts zu messen. Der EuGH hat diesen Maßstab wie folgt beschrieben: „..., daß nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegende Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nicht diskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. " (EuGHE 1995, 1-4165, 4197 f.). 81 EuGHE 1974, 491, 507 f. (Nold/Kommission); 1969, 419 (Stauder/Stadt Ulm); 1979, 3727, 3744 f. (Hauer/Land Rheinland-Pfalz); 1989, 2609, 2639 f. (Wachauf/ BAEF); EuGHE 1991, 1-2925, 2964 f. (ERT); vgl. nur Bleckmann, Alberti Pieper, Stefan Ulrich, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des Europäischen Wirtschaftsrechts, Β II. 82 Abgedruckt in: Fischer, Klemens H., Der Vertrag von Nizza, 2001, 513 ff.

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nis Mitgliedstaaten/Gemeinschaft bezogen ist, kommt ihm eine freiheitsschützende Wirkung auch für den Einzelnen zu: Zwar w i r d grundsätzlich i n der deutschen Staatsrechtslehre zwischen Freiheitsrechten des Einzelnen und Kompetenzen unterschieden. 83 Allerdings hat die Zuordnung von Kompetenzen freiheitsschützende Wirkung, weil die Individuen vor kompetenzwidrigen Akten und Eingriffen in ihren Rechten geschützt werden. Dies gilt auch für die Kompetenzausübung durch die Gemeinschaft, selbst wenn das Subsidiaritätsprinzip vordergründig das Verhältnis Mitgliedstaaten/Gemeinschaft betrifft. Hier besteht zwischen den Kompetenzebenen und den ihnen zugeordneten Kompetenzen im Grundsatz eine ähnliche Beziehung wie für Freiheitsrechte i m Hinblick auf den Staat. Dabei ist das zwischenstaatliche Herkommen der Europäischen Union zu beachten. Auf der völkerrechtlichen Ebene w i r k t die Souveränität („Handlungsfreiheit") 8 4 ähnlich wie die umfassend gewährleistete Freiheit des Einzelnen. Die Einrichtung der europäischen Rechtsordnung hat zu einer Einschränkung der aus der Souveränität abgeleiteten umfassenden Handlungsfreiheit der Mitgliedstaaten im Verhältnis zur Gemeinschaft geführt: Wie Eingriffe des Staates in die grundrechtliche Freiheit des Individuums einer Eingriffsermächtigung bedürfen, so bedürfen Beschränkungen der umfassenden Regelungsbefugnisse der Mitgliedstaaten einer begrenzten Einzelermächtigung i m Sinne des Art. 5 Abs. 1 EGV. Die parallele Funktion von Freiheitsrechten und Souveränität w i r d letztlich auch daran deutlich, dass für die Kompetenzausübung gem. Art. 5 Abs. 3 EGV das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt, das nach deutschem Verständnis auf Kompetenznormen und deren Ausübung keine Anwendung findet. 8 5 Dient der Staat allein der Gewährleistung und Sicherung individueller Freiheit und gilt dies entsprechend auch für die Gemeinschaft, kann bzw. darf auch das Kompetenzverhältnis Mitgliedstaaten/Gemeinschaft letztlich allein der Gewährleistung in83 Der Unterschied zeigt sich bspw. bei der Frage, ob juristische Personen des öffentlichen Rechts Träger von Grundrechten sein können: Denn die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch juristische Personen des öffentlichen Rechts vollziehe sich nicht i n Wahrnehmung ursprünglicher, unabgeleiteter Freiheit, sondern allein aufgrund von Kompetenzen, die dem positiven Recht zugeordnet und inhaltlich bemessen und begrenzt seien; es fehle der unmittelbare Bezug zum Menschen, vgl. etwa BVerfG NJW 1995, 582; 1997, 1634. 8 4 Bleckmann, Albert, Die Handlungsfreiheit der Staaten, ÖZöRV 1978, 173. es Allerdings gilt auch nach deutschem Verfassungsrecht das Verhältnismäßigkeitsprinzip unabhängig von seiner spezifisch grundrechtlichen Verortung - vgl. Sobotha, Katharina, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, 234 ff; s.a. BVerfGE 7, 377, 405, 407 f.; 48, 396, 402; 83, 1, 19; 90, 145, 172 f.; zur historischen Entwicklung vgl. Remmert, Barbara, Verwaltungs- und verfassungsrechtsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbots, 1995, 8 ff. - als „übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns", vgl. BVerfGE 23, 127, 133, vgl. etwa auch 6, 389, 439; 61, 126, 134; 76, 1, 51 f.; zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht EuGHE 1964, 175, 204; 1977, 1211, 1221; 1979, 3727; 1985, 2889, 2891.

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dividueller Freiheit dienen. Die mitgliedstaatliche Souveränität gegenüber der Gemeinschaft besteht insoweit vor allem darin, dass die Bürger der Mitgliedstaaten i m Sinne des Demokratieprinzips an der Ausübung der Staatsgewalt, der sie selbst unterworfen sind, über die nationalen Parlamente beteiligt sind. Auf der Gemeinschaftsebene fehlt es - trotz der Direktwahl des Europäischen Parlaments und seiner Mitwirkungsrechte - an einer solchen umfassenden unmittelbaren Beteiligung an der Gemeinschaftsgewalt. Die Ausübung der Gemeinschaftsgewalt ist durch die Ratifikation der Gründungs Verträge, der hierin vorgesehenen Befugnisse und Rechtsetzungsverfahren legitimiert. 8 6 Das Subsidiaritätsprinzip schützt den Einzelnen fortlaufend vor von den Gemeinschaftsorganen erlassenen kompetenzwidrigen Rechtsakten. Die kompetenzbegrenzende Funktion des Subsidiaritätsprinzips im Verhältnis Mitglied-staaten/Gemeinschaft hat damit zugleich die Freiheit des Bürgers unmittelbar schützende Wirkung. Das Subsidiaritätsprinzip dient vordergründig damit dem Schutz der mitgliedstaatlichen „Handlungsfreiheit", eigentlich aber dem Schutz der Freiheit des Einzelnen, selbst wenn es wenig eindeutig und wertausfüllungsbedürftig ist. Im Zusammenhang mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und der Begründungspflicht führt das Subsidiaritätsprinzip wegen seiner freiheitsbezogenen Zweckbestimmung dazu, dass sich die Gemeinschaft für die Ausübung der nicht ausschließlichen Befugnisse rechtfertigen muss. Eine erste Funktion liegt somit i n einem dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip 87 ähnlichen - Rechtfertigungszwang: Nicht die Mitgliedstaaten, sondern die Gemeinschaft muss ihr Handeln legitimieren. In seiner kurzen Geschichte hat - wie gezeigt - seine Implementierung in das Vertragssystem i n der Formulierung des Art. 5 Abs. 2 EGV dazu geführt, die Diskussion um die gemeinschaftliche Rechtsetzungstätigkeit an den Kriterien des Art. 5 Abs. 2 EGV zu orientieren. Das Bemühen der Gemeinschaftsorgane, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend, nur dann einen Rechtsakt zu erlassen, wenn dies notwendig ist, hat zu einer größeren Transparenz geführt. Zudem bewirken das Subsidiaritätsprinzip, die durchaus differierenden Auffassungen, wie seine Kriterien konkretisiert werden können, und die am Subsidiaritätsprinzip orientierte Berichtstätigkeit Kommunikationsprozesse und Interaktionen zwischen den Ebenen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten.

86 BVerfGE 89, 155, 184 ff. 87 Schmitt, Carl, Verfassungslehre, 5. Aufl. 1954, 158; Isensee, Josef, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HdbStR I § 13 Rn. 15; ders., IsenseeIKirchhof (Hrsg.), HdbStR V, § 111 Rn. 7, 47 ff.; Bethge, Herbert: Der Grundrechtseingriff, W D S t R L 57 (1998), 7, 11.

Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht

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Das Subsidiaritätsprinzip ist konkretisierungsbedürftig und bedarf der Ausgestaltung. Die wertausfüllungsbedürftige Fassung des Subsidiaritätsprinzips hat zur Folge, dass es auch mit seiner Hilfe keine eindeutige Zuständigkeitszuweisung gibt. Eine solche ist allenfalls - dies zeigen m. E. die Erfahrungen mit allen Mischzuständigkeiten - mit Katalogen ausschließlicher Zuständigkeiten zu erreichen. Eine „eindeutige" Kompetenzzuweisung kann das Subsidiaritätsprinzip aus sich selbst heraus nicht leisten. Daher haben sich - neben der Begründungspflicht - Verfahren zur Konkretisierung bereits insoweit herausgebildet, als es die geschilderten, formalen Verfahren der Berichts- und Prüfungstätigkeit gibt. Prozeduren führen damit dazu, einen Kompetenzkonsens zu bewirken. Den von den Auswirkungen einer Inanspruchnahme von Kompetenzen Betroffenen sind mit dem Subsidiaritätsprinzip Kriterien an die Hand gegeben, die Ausübung von Befugnissen gegenzuprüfen. Seine Funktion liegt mithin in der Entwicklung von Verfahren der Konsensbildung im Hinblick auf eine subsidiaritätsgerechte Kompetenzausübung und nicht i n der eindeutigen Kompetenzzuweisung. Die oben geschilderten Verfahren verdeutlichen die spezifische Wirkweise, die das Subsidiaritätsprinzip erfüllt. Diese Verfahren gestalten das Subsidiaritätsprinzip aus und konkretisieren es. In Anlehnung an den sog. prozeduralen Grundrechtsschutz lässt sich die Funktion des Subsidiaritätsprinzips in einem prozeduralen Kompetenzschutz sehen, weil es keine eindeutige Zuweisung bewirken kann. Seine Einfügung bedingt die Entwicklung von Konsens verfahren. Ähnliches gilt für Grundrechte, die wegen ihrer normativen Fassung zusätzlich weiterer Konkretisierung bedürfen. Prozeduraler Grundrechtsschutz verweist zwar regelmäßig auf die sog. Verfahrensgrundrechte. 88 Aber auch Freiheitsrechte 89 entfalten - als Hilfsfunktion 9 0 - Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und Verfahrensgestaltung und verpflichten zu einer grundrechtsfreundlichen Anwendung vorhandener Verfahrens Vorschriften. 91 Grundrechts Verwirklichung und Grundrechtssicherung hat durch Organisation und Verfahren zu erfolgen. 92 Das Verfahren muß in einer Art ausgestaltet werden, dass keine 88 Vgl. Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl. 1996, 428 ff. 89 Die Freiheitsrechte stehen im Hinblick auf ihre Verfahrens- und organisationsrechtliche Dimension im Vordergrund; hinsichtlich der Gleichheitsrechte bleibt dieser Aspekt weitgehend unerörtert, Ausführungen diesbezüglich finden sich indes bei Kirchhof, Paul, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR V, § 124 Rn. 175 ff., § 125 Rn. 16 ff. 90 So Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1998, Vor Art. 1 Rn. 11. 91 BVerfGE 65, 76, 94; 69, 315, 355; 73, 280, 296; vgl. auch Alexy (FN 88), 428 ff.; v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Anm. 130; Denninger, Erhard, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR V, § 113 Rn. 34 ff.

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Gefahr der Entwertung des materiellen Grundrechtsschutzes besteht; w i r d diese Aufgabe verfehlt, ist das Verfahren selbst mit dem i n Rede stehenden Grundrecht nicht vereinbar. 93 Eine grundrechtseffektuierende Verfahrens- und Organisationsgestaltung ist Ausdruck der allgemein den Staat treffenden objektiv-rechtlichen Schutzpflicht für Grundrechtsgüter, die sich auf Art. 1 Abs. 1 S. 2, 1 Abs. 3 GG stützen kann, 9 4 die nicht von der subjektiv-rechtlichen Grundrechtsposition im Verfahren abhängig ist. Bedingen sich Grundrechte und Verfahrens- sowie Organisationsregelungen gegenseitig 95 , so geht die hieraus folgende spezifische Grundrechtseffektuierung über die allgemeine Verpflichtung des Staates hinaus und wirft die Frage auf, welche Vorkehrungen der Staat im Einzelnen im Hinblick auf ein einzelnes Grundrecht zu treffen hat. Dabei reicht die eigentlich subjektiv-rechtliche Komponente der Grundrechtseffektuierung durch ihnen inhärente Verfahrens- und Organisationsrechte in die objektiv-rechtliche Schicht der Grundrechte: Nicht nur im einzelnen Fall bedingt das Grundrecht ein ihm gemäßes, dienendes Verfahren, sondern allgemein müssen diese Standards gewährleistet sein. Erfordern Grundrechte allgemein für ihre Ausübung durch die Grundrechtsträger Voraussetzungen, um tatsächlich effektiv ausgeübt werden zu können, 9 6 so gehören neben rechtlich hinreichender Ausgestaltung, wirtschaftlichen, sozialen und sozio-kulturellen Faktoren auch organisatorische Bedingungen hierher. Organisatorische Voraussetzungen lassen sich differenzieren in verfahrensrechtliche und institutionelle Bedingungen, die zur Gewährleistung der Grundrechte wie auch der hiermit verbundenen objektiven Garantien erfüllt sein müssen. Organisations- und Verfahrensnormen kommt dabei hinsichtlich der Funktionserfüllung der Grundrechte i n spezifisch grundrechtlich umhegten Lebensbereichen besondere Bedeutung zu. Im wesentlichen sind solche Regelungen für die verschiedenen Freiheitsrechte typisiert, aber auch für Verfahrensgrundrechte, die Ausübungskontrolle, bei Grundrechtskollisionen oder für Zuteilungs- und Willensbildungsverfahren. 97 92 Hesse, Konrad, Grundzüge des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 358; ders., Bestand und Bedeutung der Grundrechte i n der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, 427, 434 ff. 93 BVerfGE 63, 131, 143. 94 Denninger (FN 91), § 113 Rn. 2. 95 BVerfGE 24, 367, 401. 96 Vgl. Isensee, Josef, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) HdbStR V, § 115 Rn. 136 ff. 97 Vgl. Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, I I I / l , 959 ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) HdbStR V, § 109 Rn. 62; Denninger (FN 91), § 113 Rn. 5 ff.; Anerkennung hat insbesondere die organisatorische und verfahrensrechtliche Effektuierung der Wissenschafts- und Rundfunkfreiheit erfahren, vgl. Denninger (FN 91), § 113 Rn. 35; Bethge, Herbert, Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren, NJW 1982, 1, 3 f.; BVerfGE 50, 290, 354 ff. Aus Art. 3 Abs. 1 GG i n Verbindung mit dem

Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht

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G r u n d r e c h t s s c h u t z h a t eine andere A u s g e s t a l t u n g s k o m p o n e n t e

dann,

w e n n Verfahrensregeln n i c h t z u r V e r f ü g u n g stehen. B e i a l l e n klassischen Grundrechtsfunktionen

k ö n n e n verfahrensrechtliche

Dimensionen

d e u t u n g g e w i n n e n u n d Verfahrens- u n d organisationsrechtliche

Be-

Siche-

r u n g e n n o t w e n d i g w e r d e n l a s s e n . 9 8 D i e Erfordernisse des G r u n d r e c h t s schutzes müssen d a n n d u r c h Verfahren u n d O r g a n i s a t i o n

ausgestaltet

w e r d e n - g r u n d r e c h t l i c h e S c h u t z p f l i c h t e n e t w a k o n k r e t i s i e r e n sich n i c h t selten i n a d m i n i s t r a t i v e n u n d g e r i c h t l i c h e n V e r f a h r e n s v o r s c h r i f t e n .

99

Ich halte - bei Beachtung grundsätzlicher Unterschiede von Freiheitsrechten u n d K o m p e t e n z n o r m e n - die Lage v o n G r u n d r e c h t s s c h u t z

und

K o m p e t e n z s c h u t z durchaus f ü r vergleichbar. Ä h n l i c h ist die W i r k u n g s weise der K o m p e t e n z v e r t e i l u n g z w i s c h e n U n i o n / E G u n d M i t g l i e d s t a a t e n einerseits. Das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p d i e n t andererseits v o r a l l e m d e m Kompetenzschutz

und

damit

auch

der

Gewährleistung

individueller

F r e i h e i t . D i e E r w ä h n u n g des S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p s i n A r t . 51 der C h a r t a der G r u n d r e c h t e der E u r o p ä i s c h e n U n i o n b e s t ä t i g t diesen Befund. Das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p als l e x i m p e r f e c t a 1 0 0 erfordert aber z u seiner K o n k r e t i s i e r u n g u n d p r a k t i s c h e n H a n d h a b u n g die E n t w i c k l u n g v o n o r g a n i satorischen u n d v e r f a h r e n s r e c h t l i c h e n Vorkehrungen: D i e P r a x i s musste

Rechtsstaatsprinzip hat die Rechtsprechung den Anspruch auf ein faires Prüfungsverfahren abgeleitet, BVerwGE 70, 143, 144 f. und vor allem die informationelle Selbstbestimmung des Art. 2 Abs. 1 GG erfordert nach der Rechtsprechung für Volkszählungen besondere organisatorische Maßnahmen, BVerfGE 65, 1, 49 f., 61: Die mit der Volkszählung betrauten Behörden müssen innerbehördlich sicherstellen, daß eine räumliche und personelle Abschottung von Abteilungen, die mit der Erhebung und Statistik betraut sind, und von Vollzugsabteilungen erfolgt. Auch privatrechtliche Organisationsformen muß der Staat gegebenenfalls zur Verfügung stellen, um eine effektive Grundrechts Verwirklichung sicherzustellen, BVerfGE 50, 290, 354 ff. Aus der Sicht des Grundrechtsträgers erforderlich ist ein hinreichend offenes, rechtsstaatlich geprägtes Verwaltungsverfahren, das es den Individuen ermöglicht, ihre Grundrechte zur Geltung zu bringen. Beispiele hierfür sind das Anerkennungsverfahren für Wehrdienstverweigerer oder das Asyl verfahren. Aber auch Regelungen des allgemeinen Verwaltungsverfahrens dienen einer effektiven Grundrechtsverwirklichung. 98 Vgl. BVerfGE 17, 108, 115 ff.; 42, 212, 219 f.; 46, 325, 334 f. 99 BVerfGE 53, 30, 65; dogmatisch liegt der Grundgedanke dieser, an den Freiheitsrechten entwickelten Verfahrens- wie organisationsrechtlichen Dimension i n der Einsicht, daß Grundrechte zu ihrer effektiven Verwirklichung im Gemeinwesen staatlicher Rahmenbedingungen bedürfen, sei es, weil die der Freiheit vorausliegenden Ressourcen knapp sind, sei es, daß die Inanspruchnahme einer Freiheit des einen mit der eines anderen kollidiert. Diese dogmatische Grundfigur läßt sich aber auch auf den Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit übertragen: Denn die grundrechtliche Effektivitätssicherung durch Verfahren und Organisation basiert darauf, daß Freiheit gewährleistet werden soll. Der Grundrechtseingriff, der einen Eingriff sab wehranspruch auslöst, setzt Freiheit voraus; der Abwehranspruch ist eben ein Anspruch auf Gewährleistung des grundrechtlichen status quo. 100 Lienbacher (FN 32), Art. 5 Rn. 30, der die praktische Bedeutung der Subsidiaritäts verfahren betont, ohne jedoch auf den spezifischen prozeduralen Charakter einzugehen.

Stefan Ulrich Pieper

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angesichts der Ausfüllungsbedürftigkeit des gemeinschaftlichen Subsidiaritätsprinzips Verfahrensweisen entwickeln, die diesen Schutz bewirken. Er besteht darin, daß die Akteure im Bereich des Gemeinschaftsrechts Rechtsakte im Hinblick auf die Subsidiaritätskriterien „testen" und begründen. Die Adressaten der Rechtsakte, i n der Regel also die Mitgliedstaaten, nehmen ebenfalls an diesen Kriterien orientiert eine Bewertung vor. Letztlich führt dies zu einem organisierten Diskurs der Beteiligten auf der Ebene der Mitgliedstaaten, der im Ergebnis zu einem Konsens führt. Damit w i r d auch die Definitionsprärogative, die bei den Gemeinschaftsorganen liegen soll, relativiert. 1 0 1 In diesem an den formalen Kriterien orientierten Dialog liegt m. E. der Kompetenzschutz; er w i r d durch subsidiaritätsbezogene Prozeduren gewährleistet. In diesen Kontext fallen letztlich auch die Überlegungen im Rahmen des sog. Post-Nizza-Prozesses, den Kompetenzschutz des Subsidiaritätsprinzips weiter organisatorisch und institutionell - etwa durch die Idee spezieller Subsidiaritätsausschüsse 102 etc. - zu unterfüttern. 1 0 3

Anhang 1 Die Vorschrift lautet: § 74 Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union (1) Für die Prüfung von Vorhaben der Europäischen Union auf ihre Übereinstimmung mit dem Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip gelten die von der Bundesregierung beschlossenen Verfahrensgrundsätze und das dort vorgesehene Prüf raster (Anlagen 9 und 10). (2) Für die Unterrichtung und Beteiligung des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Abs. 3 des Grundgesetzes und dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 (BGBl. I S. 311) gelten die i n Ausführung dieses Gesetzes von der Bundesregierung beschlossenen Verfahrensgrundsätze (Anlage 11). (3) Das federführende Bundesministerium hat nach Vorlage eines Vorschlages der Europäischen Kommission eine Darstellung der voraussichtlichen Auswirkungen des Vorhabens auf die Einnahmen und Ausgaben (brutto) der öffentlichen Haushalte einschließlich der sozialen Sicherungssysteme unter Berücksichti101 Pechstein/Koenig (FN 13), Rn. 110; Jarass, Hans D., EG-Kompetenzen und das Prinzip der Subsidiarität nach Schaffung der Europäischen Union, EuGRZ 1994, 209 f. 102 Hirsch, Schriftliche Stellungnahme (FN 11), S. 9; Benz, Arthur; ebd., S. 11 f.; Hobe, Stephan, ebd., S. 17 f.; Huber, Peter M., ebd., S. 14; Pernice, Ingolf, ebd., Ziff. 14. 103 Vgl. hierzu die 23. Erklärung des Rates von Nizza zur Zukunft der Union, Abi. C Nr. 30 vom 10.3.2001; zum Post-Nizza-Prozeß i n dieser Hinsicht vgl. Fischer, Klemens H., Der Vertag von Nizza, 2001, 254.

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gung auch der voraussichtlichen vollzugsbedingten Auswirkungen i n der Bundesrepublik Deutschland vorzunehmen. Die Darstellung ist bei der Unterrichtung des Deutschen Bundestages über EU-Vorhaben zu berücksichtigen (Anlage 11). (4) Für die Unterrichtung und Beteiligung des Bundesrates gilt die nach A r t i kel 23 Abs. 2 und 4 bis 6 des Grundgesetzes und dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 (BGBl. I S. 313) am 29. Oktober 1993 zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder getroffene Vereinbarung. (5) Das federführende Bundesministerium hat die anderen sachlich berührten Bundesministerien (Anlage 8) und Beauftragten (Anlage 3) möglichst frühzeitig zu beteiligen, um ihnen eine rechtzeitige und umfassende Mitprüfung des Vorhabens zu ermöglichen. Kommunale Spitzenverbände sollen, Fachkreise und Verbände können beteiligt werden; insoweit ist § 47 entsprechend anzuwenden. (6) Die Haltung der Bundesregierung zu Vorhaben der Europäischen Union ist in den Gremien der Europäischen Union einheitlich darzustellen.

Anhang 2 Anlage 9 zu § 74 Abs. 1 GGO sieht folgende Regelung vor: Verfahrensgrundsätze für die Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Bundesressorts. Bei der Prüfung, ob Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft mit dem Subsidiaritäts· und Verhältnismäßigkeitsprinzip (Artikel 5 Abs. 2 und 3 EG-Vertrag) im Einklang stehen, gehen die Ressorts in folgender Weise vor:

1. Prüf raster Die Ressorts legen der Subsidiaritätsprüfung ein Prüf raster zugrunde, das auf Artikel 5 Abs. 2 und 3 EG-Vertrag und dem Protokoll von Amsterdam über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zum EG-Vertrag beruht (Anlage 10). - Bei der Anwendung des Prüfrasters ist zu berücksichtigen, dass die Subsidiarität als dynamischer Grundsatz zu verstehen ist, der sowohl zu einer Beschränkung oder Aussetzung der Gemeinschaftstätigkeit als auch im Rahmen bestehender Kompetenzen zu einer Ausweitung der Tätigkeit der Gemeinschaft führen kann. - Die Prüfung der Subsidiarität aufgrund des Prüfrasters soll dazu beitragen, dass die Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft bürgernah, transparent und verständlich sind. - Mit dem Prüfraster trägt die Bundesregierung auch ihrer vom Bundesverfassungsgericht betonten Verfassungspflicht zur Beachtung des Subsidiaritätsprinzips bei Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft Rechnung.

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Stefan Ulrich Pieper 2. Prüfverfahren

Die Ressorts wenden bei der Subsidiaritätsprüfung das folgende Verfahren an: (1) Das federführende Ressort trägt die Verantwortung für die Prüfung, ob eine Maßnahme der Europäischen Gemeinschaft dem Subsidiaritätsprinzip entspricht. (2) Die Subsidiaritätsprüfung findet i m Rahmen der üblichen Sachprüfung von Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft statt. (3) Das federführende Ressort bezieht bei wichtigen neuen Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft und i m Übrigen, wenn es Zweifel an der Vereinbarkeit einer Maßnahme der Europäischen Gemeinschaft mit dem Subsidiaritätsprinzip hat oder wenn solche Zweifel vom Auswärtigen Amt, Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium des Innern oder Bundesministerium der Finanzen als den Ressorts mit europapolitischen, europarechtlichen, verfassungsrechtlichen und finanziellen Querschnittsaufgaben geäußert werden, diese Ressorts zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in die Subsidiaritätsprüfung ein. (4) Als nicht wichtig im Sinne von (3) gelten vor allem Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft, die - bestehende Maßnahmen ändern oder fortschreiben, ohne eine inhaltliche Neuausrichtung zu bewirken, - Rahmenregelungen ausfüllen, - lediglich der Durchführung bestehender Regelungen dienen, - Regelungen an den technischen Fortschritt anpassen oder von der Europäischen Kommission erlassen werden. (5) Die Beteiligung weiterer fachlich betroffener Ressorts gemäß der GGO bleibt unberührt. (6) Ziel der Abstimmung ist die einheitliche Anwendung des Subsidiaritätsprinzips durch die Bundesregierung. Im Einzelfall kann ein Spannungsverhältnis zwischen dem fachlich und politisch Wünschenswerten und dem Ergebnis der Subsidiaritätsprüfung bestehen. In solchen Fällen ist eine sachgerechte Lösung anzustreben, die den widerstreitenden Gesichtspunkten Rechnung trägt. (7) Führt die Subsidiaritätsprüfung und Abstimmung der Ressorts nach der GGO nicht zu einem Konsens, ist der Ausschuss der Europastaatssekretäre zu befassen. Erforderlichenfalls können einzelne Bundesministerinnen oder Bundesminister oder das Kabinett (Ausschuss für Europafragen) befasst werden. (8) Die Subsidiaritätsprüfung durch die Ressorts betrifft grundsätzlich Vorschläge für Rechtsakte des Rates. Andere Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft (Entschließungen, Aktionsprogramme) können einbezogen werden, soweit sie darauf angelegt sind, zu Rechtsakten zu führen, und/oder finanzwirksam werden können.

Das Subsidiaritätsprinzip i m Europäischen Gemeinschaftsrecht

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(9) Gelangt die Bundesregierung zu der Auffassung, dass eine vorgeschlagene Maßnahme dem Subsidiaritätsprinzip nicht entspricht, vertritt sie diese Position i n den Gremien der Gemeinschaft. Dabei berücksichtigt sie, ob das angestrebte Ziel mit alternativen Maßnahmen in einer dem Subsidiaritätsprinzip entsprechenden Weise auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann. 3. Subsidiaritätsliste Vorschläge für Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft, bei denen nach Auffassung der Ressorts Zweifel oder Bedenken hinsichtlich der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips bestehen, werden i n einer Liste zusammengestellt, die laufend fortgeschrieben wird.

Anhang 3 Das Prüfraster sieht wie folgt aus: Anlage 10 zu § 74 Abs. 1 GGO Prüfraster für die Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Bundesressorts (Fassung vom 7. Juli 1999). Vorschläge der Europäischen Kommission für Maßnahmen - sowohl für Rechtsakte (Richtlinien, Verordnungen, Entscheidungen, Empfehlungen) als auch für Förder- und Aktionsprogramme - der Europäischen Gemeinschaft sind unter den Gesichtspunkten der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Artikel 5 Abs. 2 und 3 - ex Artikel 3 b - EG-Vertrag) gemäß dem Subsidiaritätsprotokoll zum Vertrag über die Europäische Union anhand der folgenden Prüffragen zu prüfen: I. Vorfragen 1. Besteht für die i n Betracht gezogene Maßnahme eine Kompetenz im EG-Vertrag? 2. Steht die i n Betracht gezogene Maßnahme im Einklang mit den Zielen des EG-Vertrages? 3. Ist die Kompetenz der Gemeinschaft für die i n Betracht gezogene Maßnahme eine ausschließliche oder eine nicht-ausschließliche? 4. Hat die Kommission vor der Vorlage des Vorschlags umfassende Anhörungen durchgeführt und i n geeigneten Fällen Konsultationsunterlagen veröffentlicht? II. Subsidiarität Nur bei Bestehen einer nicht-ausschließlichen Gemeinschaftskompetenz ist zu prüfen: 1. Können die Ziele der i n Betracht gezogenen Maßnahme ausreichend auf Ebene der Mitgliedstaaten - i n Deutschland: Bund, Länder, Gemeinden - verwirklicht werden? - Welche Maßnahmen haben die Mitgliedstaaten bereits zur Erreichung des Ziels der Maßnahme auf ihrer Ebene getroffen?

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Stefan Ulrich Pieper

- Weist der betreffende Bereich transnationale Aspekte auf, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ausreichend geregelt werden können? - Können eventuell Probleme einzelner Mitgliedstaaten durch gezielte Hilfen aus bestehenden Programmen behoben werden? - Können die Ziele der i n Betracht gezogenen Maßnahme durch Zusammenarbeit zwischen einzelnen Mitgliedstaaten ausreichend verwirklicht werden? - Würden alleinige Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder das Fehlen von Gemeinschaf tsmaßnahmen gegen die Anforderungen des Vertrages (z.B. Erfordernis der Korrektur von Wettbewerbsverzerrungen, der Vermeidung verschleierter Handelsbeschränkungen oder der Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts) verstoßen oder auf sonstige Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen (z.B. ständige Anwendung von Vorbehaltsklauseln wie ζ. B. Artikel 30, Artikel 39 Abs. 3, Artikel 46 und Artikel 55 i n Verbindung mit Artikel 46 EG-Vertrag)? - Werden der gemeinschaftliche Besitzstand und das institutionelle Gleichgewicht durch Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten gewahrt? 2. Sofern Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ausreichen: Können die Ziele der i n Betracht gezogenen Maßnahme wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden? - Bringen Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen i m Vergleich zu Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile mit sich? - Auf welchen qualitativen oder quantitativen Kriterien beruht die Feststellung der EG-Kommission, dass ein Gemeinschaftsziel besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann?

III. Verhältnismäßigkeit Bei ausschließlicher und bei nicht-ausschließlicher Gemeinschaftskompetenz ist zu prüfen: 1. Hält sich die i n Betracht gezogene Maßnahme im Rahmen des für die Erreichung der Ziele des Vertrages erforderlichen Maßes? a) Ist die Maßnahme im Hinblick auf die Ziele des Vertrages geeignet, erforderlich und angemessen (geringster Eingriff)? b) Erfordert die in Betracht gezogene Maßnahme einen Rechtsakt oder können die Ziele der i n Betracht gezogenen Maßnahme durch Alternativen verwirklicht werden (z.B. freiwillige Vereinbarungen, Maßnahmen der Sozialpartner)? c) Ist für die i n Betracht gezogene Maßnahme diejenige Rechtsform vorgesehen, die die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der Eignung der Maßnahme am wenigsten einengt (bei Rechtsharmonisierung i n der Regel Richtlinien)?

Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht

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d) Lassen Regelungsumfang und Regelungsdichte der in Betracht gezogenen Maßnahme ausreichend Raum für nationale Entscheidungen? e) Nimmt die i n Betracht gezogene Maßnahme auf die besonderen Verhältnisse i n den einzelnen Mitgliedstaaten (z.B. bewährte nationale Regelungen sowie Struktur und Funktionsweise ihres Rechtssystems) Rücksicht? f) Sind die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand für Gemeinschaft, Mitgliedstaaten, Wirtschaft und Bürger so gering wie möglich und stehen sie in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel? 2. Sollte die Geltungsdauer der i n Betracht gezogenen Maßnahme beschränkt werden? IV. Bei Finanzierung aus dem Gemeinschaftshaushalt Besteht eine besondere Rechtfertigung für die teilweise oder gänzliche Übernahme der Finanzierung durch die Gemeinschaft? V. Durchführung 1. Ist die Übertragung der legislativen Durchführung auf die Europäische Kommission (Komitologieverfahren) statt auf die Mitgliedstaaten notwendig? 2. Ist die Übertragung der verwaltungsmäßigen Durchführung auf die Kommission statt auf die Mitgliedstaaten - falls ausnahmsweise vorgesehen (z.B. bei Förder- und Aktionsprogrammen) - notwendig? VI. Begründung 1. Hat die Kommission die Sachdienlichkeit ihres Vorschlags i n der Begründung unter dem Aspekt des Subsidiaritätsprinzips hinreichend substantiiert dargelegt? Hat sie darin ggf. die Gründe für die Finanzierung aus dem Gemeinschaftshaushalt erläutert? 2. Sind die Erwägungsgründe ausreichend substantiiert?

VII. Subsidiarität in globaler und völkerrechtlicher Perspektive

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 475 - 535 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBSIDIARITÄT I M VÖLKERRECHT Von Ulrich Fastenrath, Dresden* I. Einführung: Inwiefern kann es Subsidiarität in einer Welt gleicher und souveräner Staaten geben? In den Sachverzeichnissen völkerrechtlicher Lehrbücher und i n völkerrechtlichen Lexika sucht man das Stichwort „Subsidiarität" - zumindest noch - vergebens. Das ist nicht verwunderlich. Verbindet sich mit dem Begriff doch die Vorstellung von einem hierarchischen System von kleinen zu immer höheren Einheiten. Eine solche Stufung kennt das (im englischsprachigen Schrifttum 1 so genannte) „Westfälische System", dem die staatengegliederte Welt und das Völkerrecht weiterhin i m Wesentlichen verhaftet sind, aber nicht. In ihm gibt - inzwischen muss man sagen: gab - es nur eine Entscheidungs- und Handlungsebene: die der souveränen Staaten. 1. Das „Westfälische System"

a) Einebnung der Herrschaftsorganisation einer Welt gleichgeordneter Staaten

in

Dieses System hat zwar nicht seinen Ursprung, aber doch seinen Kristallisationspunkt im Westfälischen Frieden von 1648, der deshalb - überzeichnend 2 - als Geburtsstunde des modernen Völkerrechts gilt 3 . Mit ihm * Meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter, Herrn Assessor Stefan Baufeld, danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskripts und die Hilfe bei der Literaturrecherche. ι Leo Gross, The Peace of Westphalia, 1648-1948, American Journal of International Law 42 (1948), S. 20 ff. 2 Vgl. Bardo Fassbender, Die verfassungs- und völkerrechtsgeschichtliche Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648, in: Ingo Erberich u.a. (Hrsg.), Frieden und Recht: Assistententagung „Öffentliches Recht" Münster 1998 (1998), S. 22 ff. 3 Vgl. Antonio Cassese, International Law (2001), S. 19-21; Richard Falk, The Interplay of Westphalia and Charter Conceptions of International Legal Order, in: ders./C. Black, The Future of the International Legal Order, Vol. 1 (1969), S. 32 (43); Franz von Liszt, Völkerrecht, 12. Aufl. (bearbeitet von Max Fleischmann) 1925, S. 21; Alfred Verdross/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, §§ 25, 75 f.

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wurde offiziell anerkannt, was längst Realität war, nämlich dass es Mächte gab, die dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches nicht nachgeordnet waren. Die mittelalterliche Vorstellung von der Oberhoheit des Kaisers, der das weltliche Schwert führte und gemeinsam mit dem byzantinischen Kaiser das imperium mundi ausübte 4 , war damit einem Modell gleichberechtigter, unabhängiger Staaten gewichen. Dies bedeutete aber keineswegs bereits das Ende universalistischer Konzeptionen der Herrschaftsorganisation. Vielmehr wurde die Menschheit weiterhin als Einheit gedacht, wenngleich sie in verschiedenen Staaten organisiert war. Besonders deutlich stellte dies die civitas maximaIdee von Christian Wolff 5 heraus, die allerdings - was die Organisation der Herrschaftsausübung angeht - fiktiv blieb 6 . Obwohl diese Idee, die das Völkerrecht einem imaginären Gesetzgeber der Staatengemeinschaft zuschrieb, alsbald hinter der einflussreichen Lehre von Emer de Vattel zurücktrat - seiner Meinung nach beruht das Völkerrecht auf der Anerkennung durch die einzelnen Staaten 7 , nicht einer Staatengemeinschaft - , fand sie später doch ansatzweise zu Realität in den verschiedenen Staatenkongressen des 19. Jahrhunderts. Mögen diese auch überwiegend dem Abstecken der Einflusssphären und der Tarierung des Machtgleichgewichts gedient haben, so zeigen sie doch das Bemühen der Staaten (zumindest der mächtigsten), eine allgemeingültige Weltordnung zu errichten und organisatorisch zu sichern. So begnügten sich die mehr als 200 Delegationen und Staaten Vertreter auf dem Wiener Kongress nicht damit, die Folgen der napoleonischen Kriege aufzuarbeiten, sondern sie proklamierten auch die Schifffahrtsfreiheit auf internationalen Flüssen (Art. CVIII bis CXVII der Schlussakte) sowie das Verbot des Sklavenhandels (Annex XV), und sie schufen ein allgemein gültiges Reglement für die diplomatische Rangordnung (Annex XVII) 8 . Die am 26. September 1815 unterzeichnete Heilige A l l i anz 9 sah die europäischen Fürsten in deren Art. I vereint durch ein Band wahrer und unzertrennlicher Brüderlichkeit, die sich gegenseitig Hilfe 4 Vgl. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 4. Aufl. 2001, § 8. 5 Dazu Nicholas G. Onuf , Civitas maxima - Wolff, Vattel and the Fate of Republicanism, American Journal of International Law 88 (1994), 280 (284-296). 6 Christian Wolff , Jus gentium methodo scientifica pertractatum (1764), Prolegomena, § 22. 7 Emer de Vattel , Le droit des gens ou principes de la loi naturelle appliqués à la conduite et aux affaires des Nations et des Souverains (1758), Prolegomena, §27. 8 Schlussakte vom 9.6.1815, abgedruckt bei Wilhelm G. Grewe, Fontes Iuris Gentium, Bd. 3/1 (1992), S. 3 (9). 9 Clive Parry (Hrsg.), Consolidated Treaty Series, Bd. 65, S. 199; dazu Stefan Verosta, Holy Alliance, in: Rudolf Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. I I (1995), S. 861-863.

Subsidiarität im Völkerrecht

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und Unterstützung versprechen. Der zweite Pariser Friedensvertrag vom 20. November 1815 10 schließlich schuf mit der Vereinbarung regelmäßiger Treffen der Großmächte zur Erörterung von gemeinsamen Interessen, von Maßnahmen zur Bewahrung von Ruhe und Wohlstand der Nationen sowie zur Aufrechterhaltung des Friedens i n Europa (Art. VI) das „Europäische Konzert". Die Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907), die sich insbesondere mit der Normierung des Kriegsrechts 11 , aber auch der friedlichen Streiterledigung 12 beschäftigten, weiteten den Teilnehmerkreis über Europa hinaus auf fast alle Staaten aus; und der Völkerbund war die erste weltumspannende, politische Organisation (freilich nicht in dem Sinne, dass ihr alle Staaten angehört hätten; wichtige Staaten wie die Vereinigten Staaten von Amerika blieben dem Völkerbund gänzlich fern, andere wie Deutschland, Japan und die Sowjetunion gehörten ihm nur zeitweise an). Die Staatenkongresse und auch der Völkerbund konstituierten aber keine überstaatliche Ebene. Es ging nicht um Subordination der Staaten unter eine Staatengemeinschaft, die die Fürsten und Regierungen zur gesamten Hand zu verwalten hätten, sondern um Koordination des Handelns souveräner Staaten (mit zum Teil hegemonialen Interessen 13 ), die ihrem eigenen Wohl verpflichtet - eigenständig sowohl im innerstaatlichen Bereich wie auch i n ihren internationalen Beziehungen handelten. In den Worten des berühmten Lotus-Urteils des Ständigen Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahre 1927: „The rules of law binding upon States therefore emanate from their own free w i l l as expressed in conventions or by usages generally accepted as expressing principles of law and established i n order to regulate the relations between these co-existing independent communities or w i t h a view to the achievement of common aims. Restrictions upon the independence of States cannot therefore be presumed ... In these circumstances all that can be required of a State is that it should not overstep the limits which international law places upon its jurisdiction; w i t h i n these limits, its title to exercise jurisdiction rests i n its sovereignty." 1 4

io Parry (FN 9), Bd. 65, S. 269. u III. bis XIII. Haager Übereinkommen, RGBl. 1910, S. 82 ff. 12 I. und II. Haager Übereinkommen, RGBl. 1910, S. 5 ff. 13 Dazu Hermann Mosler, Die Großmachtstellung im Völkerrecht (1949); Albrecht Randelzhofer, Great Powers, in: Bernhardt (FN 9), vol. II, S. 618 f.; vgl. auch Christian Hillgruber, Humanitäre Intervention, Großmachtpolitik und Völkerrecht, Der Staat 40 (2001), 165 (168 f.), der die ambivalente Haltung des „Europäischen Konzerts" nachzeichnet. H PCIJ, Series A, No. 10, S. 18 f.

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b) Einebnung rechtlicher Rangstufen Eine vergleichbare Entwicklung gab es auf der Ebene des Rechts. Nach dem thomasischen Rechtsverständnis waren die Staaten und deren Gesellschaften eingebunden in die weltumspannende lex aeterna, die jedoch einen Freiraum zu eigener Gestaltung ließ. Die lex humana konnte mithin nach Zeit und Ort durchaus unterschiedlich sein. Dieser Stufenbau trug dem Gedanken der Subsidiarität Rechnung, indem er von allgemeingültigen Regeln ausgehend den Staaten spezifische Adaptionen und Ergänzungen erlaubte 1 5 . Entsprechendes gilt für das Recht zwischen den Mächten. A n dieser Vorstellung änderte auch der Westfälische Friede zunächst nichts. Das naturrechtliche Denken entwickelte sich jedoch fort. Schon bei Hugo Grotius war die lex aeterna zu einer moralischen Verpflichtung des Herrschers geworden, deren Einhaltung bei der Setzung positiven Rechts an sein forum internum verwiesen w a r 1 6 . Nach Emer de Vattel kam es allein dem Herrscher zu, die naturrechtlichen Vorgaben zu erkennen und im Hinblick auf die jeweiligen Umstände i m Staat positivrechtlich umzusetzen. Dies machte die Staaten wahrhaft souverän 17 , denn ihr Recht unterlag keinem externen Kontrollmaßstab mehr. Für das Völkerrecht galt dies ohnehin, da nach Vattels Auffassung die Natur nur ein Zusammenleben der Menschen in Staaten, nicht aber i n einer Weltgemeinschaft gebietet. Das zwischenstaatliche Recht war damit zur Gänze gewillkürt 1 8 . Jedoch wurde das naturrechtliche Denken erst i n der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Eindruck des erstarkenden Positivismus, insbesondere des Voluntarismus, nahezu vollständig zurückgedrängt, wie das zitierte Lotus-Urteil exemplarisch zeigt 1 9 . Damit war im internatio15 Siehe dazu Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1963, S. 74-78. 16 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis (1625), Kap. III, 10, 3, in: Walter Schätzel (Hrsg.), Die Klassiker des Völkerrechts i n modernen deutschen Übersetzungen, Bd. I (1950), S. 520 ff. π de Vattel (FN 7), S. 7. 18 Siehe Onuf (FN 5), S. 297 ff. 19 Die Kontroverse im Redaktionskomitee für das Statut des Ständigen Internationalen Gerichthofs über das naturrechtliche bzw. positivistische Verständnis von allgemeinen Rechtsgrundsätzen i.S.d. Art. 38 Abs. 1 lit. c des Statuts (dazu Ulrich Fastenrath, Lücken im Völkerrecht: Zu Rechtscharakter, Quellen, Systemzusammenhang, Methodenlehre und Funktionen des Völkerrechts [1991], S. 100-104; G. J. H. van Hoof, Rethinking the Sources of International Law [1983], S. 136 ff.; Alfred Verdross, Les principes généraux du droit dans la jurisprudence internationale, Recueil des Cours de l'Académie de droit international, Vol. 52 [1935 II], 191 [220 ff.]) und der von Borei für das Institut de droit international erstattete Bericht über Billigkeit im Recht (Annuaire de l'Institut de droit international 38 [1934], 251 [274 f.]) blieben folgenlose Randerscheinung.

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nalen Bereich auch die Normenhierarchie entfallen. Alle von den Staaten hervorgebrachten völkerrechtlichen Regeln standen auf gleicher Stufe. Das Völkerrecht wurde zu einem Geflecht bilateraler Rechtsbeziehungen mit korrespondierenden Rechten und Pflichten. M i t der Ausdifferenzierung des Völkerrechts als einer eigenständigen Rechtsordnung schwand zudem die Überordnung des Völkerrechts über das nationale Recht, soweit nicht Kraft innerstaatlichen Rechts ein Vorrang angeordnet i s t 2 0 . Die dualistische Theorie in ihrer radikalen Form ging sogar davon aus, dass es nach Inhalten und Adressaten keinerlei Überschneidungen zwischen Völkerrecht und nationalem Recht geben könne. Deshalb sei, so Heinrich Triepel, „jeder Gedanke daran abzuweisen, als bestände irgendwo zwischen den beiden Quellen ein Verhältnis der Subsidiarität." 2 1 Für Hegel war das Völkerrecht gar nur äußeres Staatsrecht und damit lediglich ein besonderes Rechtsgebiet, das - wie alles Recht - inhaltlich und i n seiner Geltung vom jeweiligen Willen der einzelnen Staaten abhängig war. Von daher konnte es nicht einmal eine faktische Überordnung des Völkerrechts über das nationale Recht dergestalt geben, dass die Staaten völkerrechtlich verpflichtet sind, die völkerrechtlichen Geund Verbote innerstaatlich umzusetzen. Denn ,,[d]as Verhältnis von Staaten ist das von Selbständigkeiten, die zwischen sich stipulieren, aber zugleich über diesen Stipulationen stehen." 22 Aus dem ius gentium (law of nations, droit des gens), dem für die gesamte Menschheit und somit für alle Staaten geltenden Recht, das vom nationalen Recht nur an die nationalen Eigenheiten angepasst und ergänzt wurde, war ein spezieller Rechtsbereich geworden: das Recht für die Beziehungen zwischen den Staaten oder richtiger, auch andere souveräne Mächte wie dem Heiligen Stuhl einbeziehend, das ZwischenMächte-Recht 23 (ius inter gentes [oder besser: ius inter nationes bzw. ius inter potestates], international law, droit international). Wenn man den innerstaatlichen Bereich überhaupt noch völkerrechtlich geregelt sah, dann im Sinne der Freiheit für die souveränen Staaten 24 , deren Inneres durch das Interventions- und Einmischungsverbot 25 vor Einflussnahme von außen geschützt war und als black box erschien 26 . So konnte es geVgl. Art. 25 GG. 21 Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (1899), S. 255. 22 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 330 und Zusatz zu § 330. 23 Zu diesem Begriff Heinhard Steiger, Vom Völkerrecht der Christenheit zum Weltbürgerrecht: Überlegungen zur Epochebildung i n der Völkerrechtsgeschichte, in: P.-J. Heinig u.a. (Hrsg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit, Festschrift für Peter Moraw (2000), S. 171 (172). 24 Zur Problematik dieser Sichtweise Fastenrath (FN 19), S. 244-246. 20

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schehen, dass die Welt nicht auf den Völkermord an Indianern, schwarzafrikanischen Stämmen und Armeniern reagierte und der Völkermord an Juden während des Dritten Reichs ungesühnt blieb, soweit er nicht mit Kriegshandlungen in Verbindung stand und damit in die völkerrechtliche Sphäre t r a t 2 7 . c) Folgerungen für die Verwendung des Begriffs

„Subsidiarität

"

Soweit man Subsidiarität mit einer gestuften Herrschaftsorganisation assoziiert, konnte es sie i m „Westfälischen System", das seine volle Blüte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichte, nicht geben. In einer auf Gleichheit und Souveränität beruhenden Welt koexistierender Staaten gibt es nur eine Handlungs- und Entscheidungsebene im Rahmen der zwischenstaatlichen Rechtsordnung „Völkerrecht", eben die Staaten. Sie sind für die Setzung, die Umsetzung und die Durchsetzung des Rechts gleichermaßen selbst zuständig. Allenfalls könnte man in dem unterschiedlichen räumlichen und persönlichen Geltungsbereich völkerrechtlicher Normen: von bilateralen Vertragsverhältnissen über plurilaterale und regionale bis hin zu universalen Regelungen, ein Kennzeichen der Subsidiarität erblicken. Regelungen können auf die Staaten beschränkt werden, die daran ein Interesse haben. Auch die Beurteilungsmargen der einzelnen Staaten bei der Anwendung sowie deren Dispositionsbefugnis bei der Durchsetzung von Völkerrecht lassen sich in diesem Sinne deuten. Berücksichtigt man aber, dass hinter dem Grundsatz, Entscheidungen auf möglichst tiefer Ebene zu treffen, der Gedanke der Selbstentfaltung steht, so könnte man im Westfälischen System das Subsidiaritätsprinzip i n reinster Form verwirklicht sehen: Alles w i r d auf der untersten völkerrechtlichen Ebene entschieden.

25 Dazu Tobias Trautner, Die Einmischung i n innere Angelegenheiten und die Intervention als eigenständige Verbotstatbestände im Völkerrecht (1999). 26 Zu Parallelen dieser Sichtweise in der Politikwissenschaft Ulrich Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt (1986), S. 11 f. 27 Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg, Bd. 1 (1947), S. 285 f.; anders spätere Entscheidungen auf der Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom Dezember 1945, näher dazu Jochen Abr. Frowein, Die Wiederentdeckung des Menschen im Völkerrecht, in: Peter-Christian Müller-Graff /Herbert Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft: Signaturen und Herausforderungen zum Jahrtausendbeginn (2001), S. 65 (67 f.).

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2. Das Völkerrecht der Vereinten Nationen D e r V ö l k e r m o r d i m D r i t t e n Reich u n d der v o n einer deutschen Aggression ausgelöste Z w e i t e W e l t k r i e g h a b e n aber gezeigt, dass es w e l t w e i t sehr w o h l gemeinsame O r d n u n g s v o r s t e l l u n g e n g i b t u n d dass m a n die S e l b s t e n t f a l t u n g eines Staates z u L a s t e n v o n M i n d e r h e i t e n u n d anderen Staaten n i c h t h i n n e h m e n k a n n . Deshalb w u r d e n o c h i n der Endphase des Z w e i t e n Weltkrieges eine Konferenz z u r G r ü n d u n g der O r g a n i s a t i o n der Vereinten N a t i o n e n e i n b e r u f e n 2 8 . Sie setzte sich i n A r t . 1 i h r e r S a t zung z u m Ziel: „1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel zu bereinigen oder beizulegen; 2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zu Festigung des Weltfriedens zu treffen; 3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen; , . . " 2 9 u n d b o t sich n i c h t n u r als F o r u m f ü r die wechselseitige A b s t i m m u n g der Staaten b e i der V e r w i r k l i c h u n g dieser Ziele an ( A r t . 1 Nr. 4), sondern schuf a u c h Organe z u deren Umsetzung. D i e Vereinten N a t i o n e n verstanden sich v o n B e g i n n an - o b w o h l i h r d a m a l i g e r M i t g l i e d e r b e s t a n d das k a u m r e c h t f e r t i g t e 3 0 - als O r g a n i s a t i o n f ü r die gesamte Menschheit, die der Welt eine neue O r d n u n g g i b t . D e r O r g a n i s a t i o n ist aufgegeben, d a f ü r Sorge z u tragen, dass s i c h a u c h die i h r n i c h t angehörenden Staaten a n deren Grundsätze h a l t e n ( A r t . 2 Nr. 6 U N - C h a r t a ) . Eines i h r e r Organe, der Sicherheitsrat, ist befugt, v e r b i n d 28 Dazu Wilhelm G. Grewe, Entstehung und Wandlungen der Vereinten Nationen, in: Bruno Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Kommentar (1991), S. X X I I I - X V X V . 29 BGBl. 1973 II, S. 431. 30 Die Vereinten Nationen hatte 51 ursprüngliche Mitglieder (siehe Ulrich Fastenrath, zu Art. 3 Rn. 9, in: Bruno Simma [FN 28]); heute gehören ihr alle Staaten mit Ausnahme der Schweiz und der Vatikanstadt an. Sowohl die Schweiz wie auch der Heilige Stuhl (der allerdings ein von der Vatikanstadt gesondertes Völkerrechtssubjekt ist) verfügen jedoch über einen Beobachterstatus (siehe Konrad Ginther, zu Art. 4 Rn. 46, in: Simma, a. a. O.).

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liehe Anordnungen zu treffen (Art. 25 UN-Charta); und die Charta gibt allen aus ihr resultierenden Verpflichtungen den Vorrang vor anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen (Art. 103 UN-Charta). Damit haben sich in den internationalen Beziehungen und in der Völkerrechtsordnung vertikale Strukturen herausgebildet; ein gewisser Ordnungsrahmen w i r d vorgegeben und steht nicht mehr zur Disposition einzelner Staaten. Nunmehr lässt sich auch i m Völkerrecht die Frage nicht mehr umgehen, auf welcher Ebene jeweils gehandelt und entschieden werden soll und was auf unterer Ebene noch zu entscheiden i s t 3 1 . Wenn dennoch nicht von Subsidiarität die Rede ist, so liegt das daran, dass die Frage genau umgekehrt gestellt wird: Es geht nicht darum, was der Ebene der Staaten, den weiterhin bedeutendsten und für den Willensbildungsprozess unverzichtbaren, elementaren 32 Akteuren der internationalen Arena, an Befugnissen zugewiesen werden sollte, sondern was ihnen entzogen und auf die Ebene der Staatengemeinschaft gehoben werden muss oder soll bzw. wann die Staatengemeinschaft den einzelnen Staaten - im alten römischen Wortsinn 3 3 - mit Subsidien zu Hilfe kommen muss. Das heißt aber nicht, dass die Rede von der Subsidiarität verfehlt wäre. Soll doch die höhere Ebene nur ausnahmsweise dann i n Erscheinung treten, wenn die untere ein Problem nicht befriedigend lösen kann. II. Ausdifferenzierung von Handlungs- und Entscheidungsebenen durch das Völkerrecht 1. Individuen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Sphäre

a) Menschenrechte Während im „Westfälischen System" der Mensch nur als Teil seines Heimatstaats i n Erscheinung trat, der die Rechte des Einzelnen festlegte, sicherte und international durch Ausübung diplomatischen Schutzes 34 verteidigte, hat sich die Lage mit dem Aufkommen des internationalen Menschenrechtsschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg gründlich gewandelt 3 5 . In den diversen regionalen 36 und universalen Menschenrechtsver31 Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz (1998), S. 392, bezeichnet aus der Perspektive des Staates dessen Problemlösungs- und Aufgabenerledigungskapazitäten als zentralen Parameter des internationalen Systems am Ende des 20. Jahrhunderts. 32 Rainer Wahl, Der Einzelne i n der Welt jenseits des Staates, Der Staat 40 (2001), 45 (53-56). 33 Zum Subsidiaritätsbegriff im römischen Imperium Martin Jehne, Subsidiarität und Friedenssicherung im römischen Imperium, Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 1999, Heft 4, S. 4-8. 34 Dazu Christian Gloria, in: Knut Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, S. 302-306.

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trägen 3 7 , die von einem Großteil der Staaten ratifiziert worden sind 3 8 , werden eine Fülle von Rechten statuiert, die die Vertragsstaaten zu achten und zu gewährleisten haben 3 9 . Darüber hinaus w i r d angenommen, dass ein Kernbestand an Menschenrechten 40 , wenn nicht alle in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 41 enthaltenen Rechte gewohnheitsrechtlich 42 oder als allgemeiner Rechtsgrundsatz 43 35 Dazu Ulrich Fastenrath, Entwicklung und gegenwärtiger Stand des internationalen Menschenrechtsschutzes, in: ders., Internationaler Schutz der Menschenrechte: Entwicklung - Geltung - Durchsetzung - Aussöhnung der Opfer mit den Tätern (2000), S. 9-50. 36 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950; Europäische Sozialcharta vom 18.10.1961; Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22.11.1969 mit Protokoll von San Salvador über w i r t schaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 14.11.1988; (Afrikanische) Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker vom 26.6.1981; Arabische Charta der Menschenrechte vom 15.9.1994 (nicht in Kraft). M i t Ausnahme des Protokolls von San Salvador sämtlich in deutscher Übersetzung wiedergegeben in: Bruno Simma/Ulrich Fastenrath (Hrsg.), Menschenrechte - Ihr internationaler Schutz, 4. Aufl. 1998. 37 Vgl. insbesondere die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte bzw. über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte vom 19.12.1966, i n deutscher Sprache wiedergegeben in: Simma/Fastenrath (FN 36), S. 25 ff., 66 ff. 38 Ratifikationsstand des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte am 22.8.2001: 147 Staaten; des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte: 145 Staaten. 39 Vgl. die Formulierung in Art. 2 Abs. 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; die Eingangsbestimmungen der anderen Verträge zum Schutz bürgerlicher Rechte lauten ähnlich. 40 So etwa The American Law Institute (Hrsg.), Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States, Vol. 2 (1987), § 702; Eckart Klein , Menschenrechte: Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung (1997), S. 15; Oscar Schachter, International Law in Theory and Practice, Recueil des Cours de l'Académie de droit international, Vol. 178 (1982-V), 9 (333). 41 Resolution 217 (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10.12.1948; in deutscher Übersetzung wiedergegeben in: Simma/Fastenrath (FN 36), S. 5. 42 So etwa John Humphrey , The Universal Declaration of Human Rights: Its History, Impact and Juridical Character, in: Ramcharan (Hrsg.), Thirty Years after the Universal Declaration (1979), S. 37; Myres Smith McDougal/Harold D. Lasswell/Lung-Chu Chen, Human Rights and World Public Order (1980), S. 273, 325; Anthony A. D'Amato, International Law: Process and Prospects (1986), S. 123; Peter Malanczuk, Akehurst's Modern Introduction to International Law, 7. Aufl. 1998, S. 212; Christian Tomuschat, Obligations arising for States without or against their will, Recueil des Cours de l'Académie de droit international, vol. 241 (1993-IV), S. 199 (331 f.). Kritisch gegenüber einer gewohnheitsrechtlichen Verankerung der Menschenrechte insbesondere van Hoof (FN 19), S. 107 ff.; Bruno Simma, International Human Rights and General International Law: A Comparative Analysis, in: Academy of European Law (Hrsg.), Collected Courses of the Academy of European Law, Vol. IV/2 (1995), S. 153 (213 ff.). 43 In diesem Sinne Verdross /Simma (FN 3), § 606; Simma (FN 42), S. 224 ff.; zurückhaltend ebenso Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1 (1989), S. 66, 72 f.; a.A. Malanczuk (FN 42), S. 212; Jochen Abr. Frowein, Der Beitrag der internationalen Organisationen zur Entwicklung des Völkerrechts, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 36 (1976), 147 ff.;

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gelten; damit sind auch die vertraglich nicht gebundenen Staaten zumindest zur Einhaltung grundlegender Menschenrechte verpflichtet. Das gilt etwa für das Recht auf Leben, die Verbote des Völkermords, der Sklaverei, der Folter und der Rassendiskriminierung, die Anerkennung der Menschen als Rechtsperson, den Schutz vor willkürlicher Verhaftung 44 . Inwieweit die einzelnen Menschen durch die Gewährleistung von Menschenrechten zu eigenständigen Trägern von Rechten aus dem Völkerrecht, also zu Völkerrechtssubjekten 45 werden, ist umstritten. Zum Teil w i r d hierfür neben der Berechtigung noch die Fähigkeit zur internationalen Durchsetzung der Rechte verlangt, wie sie im System der Europäischen Menschenrechtskonvention mit der Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gemäß Art. 34 EMRK, i n anderen menschenrechtlichen Verträgen aber nicht gegeben i s t 4 6 . Auf die Völkerrechtssubjektivität des Einzelnen kommt es i n diesem Zusammenhang freilich nicht an. Entscheidend ist vielmehr, dass die Omnipotenz der Staaten beschnitten w i r d und diese verpflichtet sind, den Einzelnen Freiraum zur selbstbestimmten Entfaltung zu geben. Damit w i r d unter völkerrechtlichem Schutz, wenn nicht unmittelbar durch das Völkerrecht eine Sphäre privatautonomer Gestaltungsmöglichkeiten sowohl innerstaatlich wie auch grenzüberschreitend abgesichert. Menschenrechte verwirklichen daher das Subsidiaritätsprinzip. Im Bereich transnationaler gesellschaftlicher und wirtschaftlicher A k tivitäten gilt dies freilich nur mit Vorbehalt. Denn der liberalisierte Weltmarkt, der seine Grundlage weniger in den Menschenrechten als in zahlreichen wirtschaftsvölkerrechtlichen Verträgen hat - angefangen von herkömmlichen Niederlassungs- und Investitionsschutzabkommen 47 über Freihandelsassoziationen 48 und Zollunionen 4 9 bis zum GATT und der Welthandelsorganisation 50 - , ist mit seinen weltweiten Anpassungs- und Rentabilitätszwängen sowie seiner Kapitalagglomeration der regulativen Kontrolle der Staaten zum Teil entwachsen und über manchen Staat hinChristian Tomuschat, Die Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 36 (1976), 444 (476 ff.). 44 Vgl. Restatement (Third) of the Foreign Relations Law (FN 40), § 702. 45 Es geht freilich allenfalls um eine „passive" Völkerrechtssubjektivität, da eine aktive Gestaltung des Völkerrechts dem Einzelnen nicht zukommt. 46 Zur partiellen Völkerrechtssubjektivität des Einzelnen Kai Hailhronner in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, S. 172. 47 Dazu Gloria, in Ipsen (FN 34), S. 652-655. 48 Z.B. Europäischer Wirtschaftsraum (EWR), European Free Trade Association (EFTA), North American Free Trade Agreement (NAFTA); näher dazu Gloria (FN 34), S. 643-646. 49 Z.B. Europäische Gemeinschaft (EG). so Näher dazu Gloria (FN 34), S. 612-617.

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ausgewachsen 51 . Die Globalisierung hat i m Bereich der Wirtschaft, aber auch etwa im Informationsbereich die Vereinnahmung nationaler Wirtschaftsräume und Kulturen zur Folge, deren Selbständigkeit und Entfaltungsspielraum somit eingeengt wird.

b) Individualpflichten Die Omnipotenz der Staaten w i r d nicht nur durch Rechte der Individuen beschnitten, sondern auch durch völkerrechtlich auferlegte Verbote, die sich unmittelbar an den Einzelnen richten und mit Strafdrohungen bewehrt sind. Zu diesen crimina iuris gentium zählen Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit 5 2 . Dabei werden Loyalitätskonflikte durchaus i n Kauf genommen: das Handeln auf Befehl enthebt nicht von der (völker)strafrechtlichen Verantwortlichkeit 5 3 . Der Einzelne handelt damit zumindest auch in eigener Verantwortung; er muss die Entscheidung selber treffen, welchem Recht er folgt - mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Damit w i r d die Entscheidung zum Handeln vom Staat auf die unterste Ebene verlegt: auf die handelnden und befehlsgebenden Personen.

c) Mitwirkung an der Ausgestaltung Durchsetzung von Völkerrecht

und

In jüngster Zeit sind private Gruppierungen, sog. Nichtregierungsorganisationen (NGOs), verstärkt i n den Willensbildungsprozess von Staatenkonferenzen und internationalen Organisationen einbezogen worden bzw. sie sind von sich aus initiativ geworden 54 . Eine rechtliche Grundlage für diesen Konsultativstatus findet sich etwa i n Art. 71 U N Charta 5 5 ; er w i r d aber weit darüber hinaus - meist informell - gewährt. Weiterhin kontrollieren NGOs insbesondere im menschenrechtlichen (z.B. Amnesty International, Human Rights Watch) und im Umweltbe51 Vgl. Stefan Hobe, Die Zukunft des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, ArchVR 37 (1999), 253 (254 f., 261 f.). 52 Zu den Straftatbeständen im Einzelnen siehe Art. 6-8 des Statuts des (künftigen) Internationalen Gerichtshofs (BGBl. 2000 II, S. 1394); grundlegend zum Völkerstrafrecht Gerhard Hoffmann, Strafrechtliche Verantwortung im Völkerrecht (1962). 53 Vgl. Art. 7 Abs. 4 der Statute der Internationalen Gerichte für das ehemalige Jugoslawien bzw. für Ruanda (deutsche Übersetzung in: Simma/Fastenrath [FN 36], S. 108 bzw. 117), ebenso - Kriegsverbrechen allerdings teilweise ausnehmend - Art. 33 des Statuts des (künftigen) Internationalen Strafgerichtshofs (FN 52). 54 Hobe (FN 51), S. 264 ff. 55 Ausführlich dazu Rainer Lagoni , zu Art. 71, in: Simma (FN 28).

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reich (z.B. Greenpeace) die Einhaltung der von den Staaten eingegangenen Verpflichtungen und fördern deren Durchsetzung, indem sie staatliche und internationale Einrichtungen und Organe informieren und die Öffentlichkeit mobilisieren 5 6 . Insoweit können sich die NGOs zum einen auf die in Art. 19 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte garantierte Meinungs- und Informationsfreiheit berufen. Zum anderen ist die Zulässigkeit solcher Eingaben auch in den Verfahrensregeln verschiedener, internationaler Überwachungsmechanismen festgelegt 57 . Insbesondere aber tragen Einzelpersonen zur Durchsetzung speziell der Menschenrechte bei, wenn sie als Verletzte unmittelbar Zugang zu internationalen Kontrollgremien haben und diese mit ihrem Fall befassen können (dazu unten 4.c,bb).

2. Subnationale Hoheitsträger

Das Völkerrecht hat bei Bundesstaaten seit jeher auch deren Gliedstaaten zum völkerrechtlichen Verkehr zugelassen, wenn die Verfassung des Bundesstaates ihnen dies gestattet. Demgemäß können die deutschen Länder nach Art. 32 Abs. 3 GG völkerrechtliche Verträge mit fremden Staaten abschließen 58 ; nach der alten Reichsverfassung von 1871 besaßen sie sogar Gesandtschaftsrecht 59 . Zumindest in Europa geht die grenzüberschreitende Zusammenarbeit subnationaler Hoheitsträger jedoch viel weiter und hat durch das Europäische Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusam56 Näher dazu Stephan Hobe, Global Challenges to Statehood: The Increasing Importance of Non-Governmental Organizations, Indiana Journal of Global Legal Studies 5 (1998), 191 (207). 57 Vgl. Nr. 2 lit. a der Resolution 1 (XXIV) der Unterkommission für die Verhinderung von Diskriminierungen und für den Schutz von Minderheiten vom 13.8.1971 (abgedruckt in: Simma/Fastenrath [FN 36], S. 22); Art. 44 Amerikanische Menschenrechtskonvention (FN 36). 58 Näher dazu Fastenrath (FN 26), S. 140-158. Von dieser Möglichkeit haben die Länder Gebrauch gemacht, vgl. die - allerdings inzwischen veraltete - Übersicht bei Ulrich Fastenrath, Auswärtige Gewalt i m offenen Verfassungsstaat, in: Armin Dittmann/Michael Kilian (Hrsg.), Kompetenzprobleme der Auswärtigen Gewalt (1982), S. 1 (43-50). Zu anderen Bundesstaaten siehe Christoph Schreuer, The Waning of the Sovereign State: Towards a New Paradigm for International Law, European Journal of International Law 4 (1993), 447 (450). 59 Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 (RGBl. 1871, S. 63 ff.) enthält über das Gesandtschaftsrecht und über die Verteilung der auswärtigen Gewalt im Allgemeinen keine ausdrückliche Bestimmung. Jedoch ergab sich das Gesandtschaftsrecht aus dem Staatscharakter der Länder und aus dem bundesstaatlichen Grundsatz, dass eine Reichszuständigkeit der Begründung durch die Verfassung bedarf. Da eine solche für das Gesandtschaftswesen fehlte, verblieb die Kompetenz bei den Ländern (siehe dazu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band III, 3. Aufl. 1988, S. 932 f.).

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menarbeit zwischen Gebietskörperschaften vom 21. Mai 1980 60 und weitere konkretisierende Abkommen 6 1 eine völkerrechtliche Grundlage erhalten. Mit der Zulassung von Gemeinden, Kreisen und sonstigen regionalen Körperschaften oder Verwaltungseinheiten zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit setzen die Staaten das Subsidiaritätsprinzip um, da nicht mehr der Staat als Ganzer auf dem internationalen Feld auftreten muss, sondern die staatlichen Untergliederungen in dem vertraglich vorgegebenen Rahmen ihre Interessen eigenständig verfolgen können.

3. Die Staaten

a) Völkerrechtlicher

Schutz des staatsinternen Bereichs

Grundsätzlich hat jeder Staat sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, und jeder Staat ist vor Einflussnahme von außen seitens anderer Staaten oder internationaler Organisationen 62 durch das Interventions- und Einmischungsverbot 63 geschützt. Die ungestörte Entfaltung nach eigenen Vorstellungen entspricht sicherlich dem Wesen des Subsidiaritätsprinzips, ist inzwischen jedoch stark zurückgenommen. Denn internationale - und damit nicht mehr genuin staatliche - Angelegenheit ist zumindest alles, was völkerrechtlich i n bestimmter Weise geregelt ist. Der völkerrechtliche Korpus ist i n den letzten Jahrzehnten aber enorm gewachsen und enthält insbesondere mit den Menschenrechten weitreichende Vorgaben für die nationalen Rechtsordnungen. Auch die zahlreichen transnationalen Beziehungen (und deren Regelungsbedürftigkeit) i n einer globalisierten Welt gehören zu den internationalen 60 BGBl. 1981 II, S. 966; vgl. weiterhin Art. 10 Abs. 3 der Europäischen Charta der Kommunalen Selbstverwaltung vom 15.10.1985 (BGBl. 1987 II, S. 65); ausführlich dazu Ulrich Beyerlin, Rechtsprobleme der lokalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (1988). 61 Z.B. Isselburg-Anholter Abkommen vom 23.5.1991 zwischen den Niederlanden, der Bundesrepublik Deutschland, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen (GVB1. NRW 1991, S. 530); Karlsruher Abkommen vom 23.1.1996 zwischen Deutschland, Frankreich, Luxemburg und der Schweiz (BGBl. 1997 II, S. 1158); Mainzer Abkommen vom 8.3.1996 zwischen Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz, der Wallonischen Region und der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (Nachweis bei Gundolf Schrenk, Grenzüberschreitende Kommunale Zusammenarbeit nach dem Karlsruher Übereinkommen, DV 1998, S. 559 [575]). 62 Vgl. hierzu Art. 2 Nr. 7 der Charta der Vereinten Nationen: „Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen i n Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden; die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel V I I w i r d durch diesen Grundsatz nicht berührt." 63 Näher zum Inhalt dieses Verbots Horst Fischer, in: Ipsen (FN 34), S. 956 f.

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Angelegenheiten. Es gibt somit viele Ansatzpunkte für andere Staaten und internationale Organisationen, sich mit den Verhältnissen in einem Staat zu beschäftigen 64 . Das Interventions- und Einmischungsverbot bietet somit nur einen beweglichen und zudem immer kleiner werdenden Rahmen für die geschützte Sphäre eines Staates. Es hat jedoch nicht an Versuchen gefehlt, sie inhaltlich anzureichern. So erklären die „Declaration on the inadmissibility of intervention i n the domestic affairs of States and the protection of their independence and sovereignty" 65 und - wortgleich - die "Declaration on principles of international law concerning friendly relations and co-operation among States i n accordance w i t h the Charter of the United Nations" 6 6 für verboten "armed intervention and all other forms of interference or attempted threats against the personality of the State or against its political, economic and cultural elements." Damit w i r d in die Interventionsdefinition einbezogen, was eigentlich Attribut eines unabhängigen und souveränen Staates 67 oder Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts der Völker 6 8 ist, wie die gleichlautenden Art. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte bzw. des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 69 zeigen: I n ihrem Absatz 1 statuieren sie als (Teil)inhalt dieses Rechts, dass die Völker 7 0 frei über ihren politischen Status entscheiden und i n Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung gestalten dürfen 7 1 .

64 Ausführlich dazu Felix Ermacora zu Art. 2 Ziff. 7 UN-Charta, in: Simma (FN 28); ders., Human Rights and Domestic Jurisdiction, Recueil des Cours de l'Académie de Droit International, Vol. 124 (1968-11), 371 ff.; Verdross/Simma (FN 3), §§ 260-268. 65 Resolution 2131 (XX) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 21.12.1965, abgedruckt in: ArchVR 13 (1966/67), 439 f. 66 Resolution 2625 (XXV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 24.10.1970, abgedruckt in: Ian Brownlie, Basic Documents i n International Law, 4. Aufl. 1995, S. 36 (41). 67 Dies zeigt sich i n der Beschreibung des Grundsatzes der souveränen Gleichheit der Staaten i n der Friendly Relations Declaration (FN 66), wo eben diese Merkmale erneut aufgeführt und zum Recht eines jeden Staates erklärt werden. 68 Dazu Karl Doehring, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, nach Art. 1, in: Simma (FN 28). 69 Fundstellen der beiden Pakte i n F N 37. 70 Volk ist weithin im Sinne von Staatsvolk zu verstehen, so dass sich der Staat als politische Organisation des Volkes darstellt, beide also nicht i n einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, i n dem nach der Geltung des Subsidiaritätsprinzips zu fragen wäre. Dies trifft aber nicht ohne Einschränkung zu. Nach der Friendly Relations-Declaration (FN 66) kann ein Volk auch einen anderen politischen Status wählen als den eines unabhängigen Staates, und das Selbstbestimmungsrecht der Völker w i r d dann zum Recht gegen den eigenen Staat, wenn dessen Regierung nicht mehr das ganze Volk des Territoriums ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens und der Hautfarbe vertritt.

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In Art. 1 Abs. 2 der beiden Menschenrechtspakte w i r d darüber hinaus das freie Verfügungsrecht über die natürlichen Reichtümer ihres Landes zum Recht der Völker erklärt. Die Anerkennung der „permanent sovereignty over natural resources" war ein zentrales Anliegen der von den Staaten der Dritten Welt propagierten Neuen Weltwirtschaftsordnung 72 , die sich insgesamt aber nicht durchsetzen konnte. In den Menschenrechtspakten w i r d denn auch das Verfügungsrecht über die Naturreichtümer nicht uneingeschränkt gewährleistet, sondern durch die Bezugnahme auf wirtschaftliche Kooperationsverpflichtungen und völkerrechtliche Bindungen beschnitten. Die eher schmale Kernsubstanz von Staatlichkeit, die frei von äußerer Einflussnahme zu bleiben hat, sagt allerdings wenig über die tatsächliche Gestaltungsmacht der Staaten i n ihrem Innern. Fremde Staaten und internationale Organisationen machen von der Möglichkeit, sich mit den Verhältnissen in einem Staat zu beschäftigen, ja keineswegs ständig und umfassend Gebrauch. Wegen ihrer begrenzten Hoheitsgewalt stehen ihnen hierfür auch nur begrenzte Mittel zur Verfügung; grundsätzlich dürfen sie nicht regulierend oder entscheidend i n Geschehensabläufe i n einem anderen Staat eingreifen. Damit sollen nicht die mitunter erheblichen Außenwirkungen staatlichen Handelns geleugnet werden. Die transnationalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen bringen es mit sich, dass staatliche Maßnahmen i m Binnenbereich ins Ausland „exportiert" werden und das Verhalten dort lebender Menschen beeinflussen 73 . Wegen dieser Wechselwirkungen ist es auch verfehlt, zwischen einer staatlichen Binnen- und einer Außensphäre noch allzu streng zu unterscheiden 74 - dies macht nur in Bezug auf das Recht wegen der unterschiedlichen Handlungsformen i m nationalen Recht und im Völkerrecht S i n n 7 5 - und in der Internationalisierung staatlicher Tätigkeit lediglich eine Bedrohung staatlicher Eigenständigkeit zu sehen. Im Zeichen der Globalisierung sind die Staaten zwingend auf Zusammenarbeit angewiesen; Internationalisierung bedeutet für sie insofern auch notwendige Entlastung bei transnationalen In diesem Zusammenhang ist interessant, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker neuerdings zum Teil im Sinne eines Demokratiegebots ausgelegt w i r d (Thomas Franck , The Emerging Right to Democratic Governance, American Journal of International Law 86 [1992], S. 46 ff.). Damit werden die Strukturen der politischen Organisation eines Staates zu einer „matter of international concern". 72 Vgl. dazu Verdross/Simma (FN 3), §§ 506 f. 73 Näher dazu Fastenrath (FN 26), S. 32-37. 74 Fastenrath (FN 26), S. 62-67; ebenso Wahl (FN 32), S. 70. 75 In diesem Sinne zu verstehen ist Philip Allott, The Concept of International Law, European Journal of International Law 10 (1999), 31 (37), der zwischen den folgenden rechtlichen Ebenen unterscheidet: (1) international constitutional law; (2) international public law; (3) the laws of nations.

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Prozessen, derer sie für sich allein nicht Herr werden können. Deshalb läuft die Regelung solcher Sachverhalte durch zwischenstaatliche Kooperation anstelle einzelstaatlicher Rechtsetzung auch nicht dem Subsidiaritätsprinzip zuwider. Schließlich geht es um Sachverhalte, die über den Bereich eines einzelnen Staates hinausreichen.

b) Selbstverpflichtung und Selbsthilfe der Staaten bei Entstehung und Durchsetzung des Völkerrechts Es ist ein Zeichen von Subsidiarität, wenn sich i m Völkerrecht die Staaten als Normadressaten ihr Recht grundsätzlich selber setzen, indem sie Verträge miteinander abschließen, durch eigenes Handeln und die Bildung von Rechtsüberzeugungen zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht beitragen und sie durch eigene Gesetzgebung die Grundlage für die durch Rechtsvergleichung ermittelten allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne des Art. 38 Abs. 1 lit. c Statut des Internationalen Gerichtshofs schaffen. Selbst wenn internationale Organisationen ausnahmsweise zur Rechtsetzung berufen sind, beruht das auf Satzungsbestimmungen dieser Organisation, die wiederum von deren Mitgliedstaaten vertraglich vereinbart worden sind 7 6 . Auch die Rechtsanwendung und Rechtsdurchsetzung 77 liegt grundsätzlich bei den Staaten. Sie haben es damit in der Hand, ob sie ihre völkerrechtlichen Rechte wahren wollen oder darauf verzichten - ebenfalls ein Zeichen von Subsidiarität. Freilich fehlt den Staaten zum Teil auch die Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Rechte, da häufig die Zuständigkeit eines internationalen Gerichts nicht begründet und die Potenz zur Selbsthilfe nicht vorhanden ist; das ist dann nur ein Zeichen für rechtliches Versagen und die U n Vollkommenheit des Völkerrechts. Die unterste Stufe des völkerrechtlichen Verkehrs, die Ebene der Staaten, behält damit ihre zentrale Rolle als Entscheidungs- und Handlungsebene im internationalen Bereich 78 . Sie sind für alles zuständig, soweit nicht - unter ihrer rechtsetzenden Mitwirkung - Zuständigkeiten auf andere Ebenen verlagert worden sind, insbesondere auf die Ebene der 76 Im Einzelnen zum Subsidiaritätsprinzip bei der Entstehung von Völkerrecht unten IV. 1. (S. 516). 77 Dazu noch unten 4.c)aa) (S. 506). 78 Ebenso Ian Brownlie, Principles of Public International Law, 5. Aufl. 1998, S. 58; Dohm I Delbrück I Wolf rum (FN 43), S. 27; Volker Epping, in: Ipsen (FN 34), S. 54; Sir Robert Y. Jennings , International Law, in: Rudolf Bernhardt (FN 9), vol. II, S. 1159 (1160 f.); Christian Tomuschat, International Law: Ensuring the Survival of Mankind on the Eve of a New Century, Recueil dés Cours de l'Académie de droit international, vol. 281 (1999), S. 91; Vitzthum (FN 46), S. 7; Verdross/ Simma (FN 3), § 377.

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Staatengemeinschaft. D e r p o l i t i s c h e S p i e l r a u m b e i der

Wahrnehmung

der s t a a t l i c h e n K o m p e t e n z e n s c h r u m p f t e a l l e r d i n g s s o w o h l d u r c h den Akteure79

wachsenden E i n f l u s s gesellschaftlicher u n d w i r t s c h a f t l i c h e r

als a u c h die zunehmende Verlagerung v o n A u f g a b e n auf die Staatengemeinschaft. 4. Staatengemeinschaft W e n n g l e i c h die b i l a t e r a l e n , v o n wechselseitigen A n s p r ü c h e n u n d Verp f l i c h t u n g e n geprägten Beziehungen der Staaten w e i t e r h i n d o m i n i e r e n , ist i n z w i s c h e n i n Rechtstexten a u c h v o n der „Staatengemeinschaft

als

Ganzer ( i n t e r n a t i o n a l c o m m u n i t y as a w h o l e ) " 8 0 , v o n einem „gemeinsam e n E r b e der M e n s c h h e i t ( c o m m o n heritage of m a n k i n d ) " 8 1 , v o n einer „Sache der gesamten M e n s c h h e i t (province of m a n k i n d ) " 8 2 „Verbrechen

gegen den F r i e d e n u n d

die S i c h e r h e i t

der

oder

von

Menschheit

(crimes against the peace a n d the security of m a n k i n d ) " 8 3 die Rede. D i e Staaten organisieren sich z u d e m w e l t w e i t , auf regionaler Ebene oder i n sonstigen G r u p p i e r u n g e n ,

u m bestimmte Aufgaben

durch

Staatenge-

meinschaftsorgane oder - e i n r i c h t u n g e n w a h r n e h m e n z u lassen. D i e Staatengemeinschaft w i r d h i e r also n i c h t als etwas E i n h e i t l i c h e s verstanden, schon gar n i c h t als eigenständiges R e c h t s s u b j e k t 8 4 ; sie u m 79 Hobe (FN 51), S. 269 f. 80 Vgl. Art. 53 Satz 2 Wiener Vertragsrechtskonvention (BGBl. 1985 II, S. 927): „ I m Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft i n ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt w i r d als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf ..."; Art. 5 Abs. 1 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (FN 52): „Die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs ist auf die schwersten Verbrechen beschränkt, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren..."; Art. 48 Abs. 1 der „Articles on Responsibility of States for internationally wrongful acts", Anhang zur Resolution 56/83 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 12.12.2001: „Any State other than an injured State is entitled to invoke the responsibility of another State in accordance w i t h paragraph 2 if: ... b) The obligation breached is owed to the international community as a whole." Weitere Beispiele zur Verwendung des Begriffs „internationale Gemeinschaft" im Völkerrecht und i n den internationalen Beziehungen bei Christian Tomuschat, Die internationale Gemeinschaft, ArchVR 33 (1995), 1 ff. 81 Art. 136 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (bezüglich des Tiefseebodens), BGBl. 1994 II, S. 1799; Art. 11 Abs. 1 Mondvertrag (Resolution 34/68 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 5.12.1979; United Nations Treaty Series, vol. 1363, S. 3). 82 Art. 1 Abs. 1 Weltraumvertrag (BGBl. 1969 II, S. 1969). 83 So der Titel des Entwurfs eines Völkerstrafgesetzbuches der International Law Commission, Yearbook of the International Law Commission 1995 II/2, S. 18 ff. 84 Ebenso Hermann Mosler , International Legal Community, in: Bernhardt (FN 9), vol. II, S. 1251 (1252); Tomuschat (FN 78), S. 89 f.; anders Andreas L. Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht: Eine Untersuchung zur Entwicklung des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung (2001), S. 423.

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fasst nicht notwendig alle Staaten. Ohnehin sind die Übergänge fließend. So legt das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs dessen Gerichtsbarkeit i n Art. 5 allgemein für bestimmte Straftatbestände fest, also ohne jede räumliche oder persönliche Begrenzung, schränkt dann aber i n Art. 12 und 13 die Ausübung der Gerichtsbarkeit auf Straftaten ein, die auf dem Territorium von Vertragsstaaten oder von deren Staatsangehörigen begangen werden. Straftaten, die räumlich oder persönlich nicht darunter fallen, sind vom Internationalen Strafgerichtshof nur verfolgbar, wenn die nach dem Territorialitäts- oder Personalitätsprinzip für die Strafverfolgung zuständigen Staaten entsprechende Erklärungen abgeben oder der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen derartige Fälle dem Gericht überweist. Angesichts des nachhaltigen Widerstands der Vereinigten Staaten von Amerika gegen den Strafgerichtshof 85 und des Desinteresses vieler anderer Staaten erscheint es als bloße Rhetorik, lediglich von einer Ausübungsbeschränkung einer weltweiten Gerichtsbarkeit zu sprechen 86 . Der folgende Überblick über (ideelle) Staatengemeinschaftsgüter, Staatengemeinschaftsräume und die Übertragung von Aufgaben auf Staatengemeinschaftseinrichtungen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Gezeigt werden soll vielmehr nur beispielhaft, was auf die Staatengemeinschaftsebene gehoben und inwieweit bei solchen Hochzonungen dem Subsidiaritätsgedanken Rechnung getragen wird. a) Staatengemeinschaftsgüter Mit den Zielen der Vereinten Nationen sind i n Art. 1 der UN-Charta Staatengemeinschaftsgüter statuiert worden, die als grundlegend für die zwischenstaatlichen Beziehungen angesehen und i n der Folgezeit weiterentwickelt wurden. Der Internationale Gerichtshof bezeichnet sie als „the concern of all States" und begründet damit, dass die Pflicht zur Bewahrung dieser Schutzgüter gegenüber allen Staaten besteht 87 . Dieses Konzept von Verpflichtungen gegenüber der gesamten Staatengemein85 Vgl. David J. Scheffer, The United States and the International Criminal Court, American Journal of International Law 93 (1999), 12 ff.; Ruth Wedgwood, The International Criminal Court: A n American View, European Journal of International Law 10 (1999), 93 ff. 86 Zu den gegensätzlichen Sichtweisen, welche Rolle eine internationale Strafgerichtsbarkeit spielen sollte, Frédéric Mégret, Epilogue to an Endless Debate: The International Criminal Court's Third Party Jurisdiction and the Looming Revolution of International Law, European Journal of International Law 12 (2001), 247-268. 87 ICJ Reports 1970, 3 (32) - Barcelona Traction, Light and Power Company Ltd., Second Phase: „ I n view of the importance of the rights involved, all States can be held to have a legal interest in their protection; they are obligations erga omnes."

Subsidiarität i m Völkerrecht

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schaft (erga omnes) hat sich schnell durchgesetzt und wurde auch von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (International Law Commission - ILC) i m Rahmen der Kodifizierung des Rechts der Staatenverantwortlichkeit aufgegriffen. In der ersten Lesung der Artikelentwürfe sprach sie - i n der Terminologie etwas abweichend - von Verpflichtungen „essential for the protection of fundamental interests of the international community" 8 8 und fügte auch gleich Beispiele für derartige Schutzgüter an: Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, fundamentale Menschenrechte (insbesondere Schutz vor Sklaverei, Völkermord und Apartheid), langfristige Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen (z.B. Vorkehrungen gegen den Zusammenbruch der planetarischen Klimaverhältnisse, gegen irreversible Eingriffe in die Biosphäre und die Verwüstung von Landschaften). Allerdings lösen nur schwere Verletzungen dieser Schutzgüter eine Verantwortlichkeit erga omnes aus. In der zweiten Lesung hat die ILC darauf verzichtet, die Regelbeispiele weiterhin anzuführen, und sie hat im Laufe der Beratungen das community interest-Konzept durch das ius cogens-Konzept ersetzt 89 . Wenngleich beide Konzepte einen unterschiedlichen Ursprung und unterschiedliche Funktionen haben, dürfte eine inhaltliche Änderung damit nicht verbunden sein 9 0 . Von den ius cogens-Verpflichtungen seien hier zwei behandelt: die Wahrung des Weltfriedens und der Schutz fundamentaler Menschenrechte.

aa) Wahrung des Weltfriedens Der Weltfriede ist das am stärksten durchnormierte Staatengemeinschaftsgut. Die Hauptverantwortung hierfür w i r d dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zugewiesen (Art. 24 UN-Charta). Selbst das - in 88 So Art. 19 Abs. 2, abgedruckt i n Yearbook of the International Law Commission 1976 II, S. 69 (75). Die Bezeichnung „community interest" verwendet auch Bruno Simma, From Bilateralism to Community Interest i n International Law, Recueil des Cours de Γ Académie de droit international, Vol. 250 (1994-VI), 219 ff. (in der direkten deutschen Übersetzung erscheint dieser Begriff allerdings zu schwach, da er - anders als das Urteil des Internationalen Gerichthofs i m Fall Barcelona Traction [FN 87], - nicht zum Ausdruck bringt, dass es sich um rechtlich geschützte Interessen handelt). Wenig glücklich erscheint auch die Bezeichnung „Gemeinschaftswert" (so Paulus [FN 84], S. 250 f.), die in Anlehnung an den Begriff ,value' in der amerikanischen Rechtsmethodologie gewählt zu sein scheint, im deutschen Umfeld jedoch ungewollte, wertphilosophische Assoziationen hervorrufen kann. 89 Siehe Art. 40 der „Articles on Responsibility of States" (FN 80). 90 Dazu Simma (FN 88), S. 285-301; André de Hoogh, The Relationship between Jus Cogens, Obligations Erga Omnes and International Crimes: Peremptory Norms i n Perspective, Austrian Journal of Public International Law 41 (1991), 183 ff.

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Art. 51 UN-Charta als naturgegeben bezeichnete - Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Ahgriff w i r d rechtlich eingehegt und muss subsidiär zurücktreten. Es besteht nämlich nach dieser Bestimmung nur bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der Sicherheitsrat die „erforderlichen Maßnahmen getroffen hat." Die Friedenswahrung einschließlich der Abwehr von militärischer Aggression auf die Staatengemeinschaftsebene zu heben und damit grundsätzlich dem bilateralen Verhältnis der beteiligten Staaten zu entziehen, ist konsequent, wenn man Frieden als unteilbar begreift. Die Friedensstörung oder -bedrohung trifft dann alle, nicht nur die (potentiellen) Kriegsparteien. Deshalb kann es auch nicht jedem einzelnen Staat überlassen bleiben, wie er sich gegen einen Angriff zur Wehr setzt; er darf dies nur so lange, bis die Staatengemeinschaft das Notwendige unternimmt. Wenngleich das am rechtlichen Befund nichts ändert, so ist doch zu konstatieren, dass sich die Staatengemeinschaft wegen ihrer Heterogenität und der Struktur des Sicherheitsrats nur sehr bedingt für ihre friedenssichernde Aufgabe als reif erwiesen hat. Während des Kalten Krieges war der Sicherheitsrat wegen des Vetorechts seiner Ständigen Mitglieder (Art. 27 Abs. 3 UN-Charta) zumeist blockiert 9 1 . Die Beschlussfassung ist auf Grund der Interessengegensätze weiterhin schwierig, so dass die subsidiäre Zuständigkeit der Staaten zur fast ausnahmslosen Regel geworden ist. Eine Lösung i n der Abschaffung des Vetorechts zu suchen, wäre freilich voreilig. Abgesehen davon, dass sie politisch nicht durchsetzbar ist - die ständigen Sicherheitsratsmitglieder müssten ihre Entmachtung selbst ratifizieren (vgl. Art. 108 UN-Charta) - , würde das reine Mehrheitsprinzip weder den Machtverhältnissen entsprechen noch würde es der Verantwortung der Großmächte für den Weltfrieden gerecht; man würde sie dann kaum in den Vereinten Nationen halten können - mit allen vom Völkerbund her bekannten Folgen. Der Vorrang der Staatengemeinschaftsebene setzt sich übrigens fort bei den vom Sicherheitsrat zur Wiederherstellung des Friedens ergriffenen Maßnahmen. So geht die Gerichtsbarkeit der Straftribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda, die auf der Grundlage der Kapitel V I I der UN-Charta als Zwangsmaßnahme zur Eindämmung der kriegerischen Auseinandersetzungen errichtet wurden, der nationalen Strafgerichtsbarkeit v o r 9 2 . 91 Bei den mehr als 160 größeren Konflikten mit rund 20 Millionen Toten zwischen 1945 und 1990 war der Sicherheitsrat durch das Veto - insgesamt wurde es 279 Mal benutzt - in den allermeisten Fällen an der Beschlussfassung gehindert (vgl. Boutros Boutros-Ghali, A n Agenda for Peace [1992], Rn. 14; International Legal Materials 31 [1992], 956).

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Subsidiarität im Völkerrecht

H i n g e g e n ist es k e i n Z e i c h e n v o n S u b s i d i a r i t ä t , w e n n der Sicherheitsr a t das i h m z u r V e r f ü g u n g stehende I n s t r u m e n t a r i u m n i c h t n u t z t u n d statt der E n t s e n d u n g v o n K a m p f t r u p p e n u n t e r seinem Befehl alle oder einzelne Staaten e r m ä c h t i g t , i n einem K r i s e n g e b i e t e i n z u g r e i f e n 9 3 . D i e betreffenden Staaten w e r d e n d a n n n ä m l i c h n i c h t i m R a h m e n i h r e r staatl i c h e n Gemeinschaft t ä t i g , sondern f ü r die S t a a t e n g e m e i n s c h a f t 9 4 .

bb) Schutz f u n d a m e n t a l e r Menschenrechte W e n n g l e i c h die f u n d a m e n t a l e n

Menschenrechte

ein

Staatengemein-

schaftsgut sind, b l e i b t i h r Schutz i n erster L i n i e Sache der Staaten. Sie h a b e n die Menschenrechte i n i h r e m j e w e i l i g e n Herrschaftsbereich

zu

achten u n d z u v e r w i r k l i c h e n . H i e r ist also die i n t e r n a t i o n a l e Ebene s u b sidiär, die i h r e r A u f g a b e a l l e r d i n g s n u r i n w e n i g s t r u k t u r i e r t e r

Weise

nachkommt.

92 Art. 9 Abs. 2 des Statuts des Internationalen Gerichts zur Verfolgung der Verantwortlichen für die seit 1991 im Hoheitsgebiet des ehemaligen Jugoslawien begangenen schweren Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht (angenommen durch Resolution 827 [1993] des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, i n deutscher Übersetzung in: Simma/Fastenrath [FN 36], S. 108 ff.); Art. 8 Abs. 2 des Statuts des Internationalen Strafgerichts zur Verfolgung der Personen, die für Völkermord und andere schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im Hoheitsgebiet Ruandas zwischen dem 1. Januar 1994 und dem 31. Dezember 1994 verantwortlich sind (Anhang zur Resolution 955 [1994] des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen). 93 Vgl. z.B. Resolution 678 (1990): „2. Authorizes Member States co-operating w i t h the Government of Kuwait, unless Iraq on or before 15 January 1991 fully implements, as set forth i n paragraph 1 above, the above-mentioned resolutions, to use all necessary means to uphold and implement resolution 660 (1990) and all subsequent relevant resolutions and to restore international peace and security i n the area; ..."; Resolution 787 (1992) bezüglich der Situation in Bosnien-Herzegowina: „...12. Acting under Chapter V I I and V I I I of the Charter of the United Nations, calls upon States, acting nationally or through regional agencies or arrangements, to use such measures commensurate w i t h the specific circumstances as may be necessary under the authority of the Security Council to halt all inward and outward maritime shipping i n order to inspect and verify their cargoes and destinations and to ensure strict implementation of the provisions of resolutions 713 (1991) and 757 (1992); ..." 94 Hingegen werden die Staaten im Rahmen des Rechts zur kollektiven Selbstverteidigung nicht für die Staatengemeinschaft, sondern allein für den angegriffenen Staat tätig. Dies ergibt sich daraus, daß nach Art. 51 UN-Charta der Angriff auf einen Staat nicht das Recht jedes einzelnen Mitglieds der Staatengemeinschaft zum Eingreifen auslöst, sondern es Sache des Angegriffenen ist, die Hilfe anderer Staaten zu suchen oder anzunehmen.

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(1) Schutz durch Staatengemeinschaftsorgane (a) Vereinte Nationen In dem sog. 1503-Verfahren, benannt nach der Resolution 1503 des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen vom 27. Mai 1970 95 , können einer Unterkommission der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen Mitteilungen von Privatpersonen unterbreitet werden, die systematische und schwere Verletzungen von Menschenrechten betreffen. Die Unterkommission kann allerdings nur einen Bericht hierüber für die Menschenrechtskommission verfassen und mit Zustimmung des betroffenen Staates auch nähere Untersuchungen anstellen 96 . Dieses schwerfällige Verfahren ist nicht geeignet, Menschenrechtsverletzungen abzustellen oder zu verhindern; es dient allein dazu, menschenrechtsfeindliche Systeme zu identifizieren. Der subsidiäre Schutz auf der Staatengemeinschaftsebene - ohnehin schon beschränkt auf die massenhafte Verletzung fundamentaler Menschenrechte - besteht also insoweit nur in der Öffentlichkeitswirkung und bleibt entsprechend schwach. Das Gleiche gilt für die Behandlung dieses Themas im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen sowie in deren Unterorgan, der Menschenrechtskommission. Inzwischen w i r d jedoch weithin akzeptiert, dass auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte tätig werden kann 9 7 . Es hat bereits mehrere Beschlüsse auf der Grundlage des Kapitels V I I der UN-Charta gegeben, die zweifellos menschenrechtlich motiviert waren 9 8 . Umstritten ist jedoch, ob massive und systematische Menschenrechtsverletzungen allein schon eine Friedensbedrohung bedeuten, die Voraussetzung für Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrats i s t 9 9 . Ein Zusammenhang zwischen dem Frieden der Staaten untereinander und der Einhaltung der Menschenrechte ist jedenfalls nicht zu leugnen 1 0 0 . 95 In deutscher Übersetzung abgedruckt in: Simma/Fastenrath (FN 36), S. 19 ff. 96 Zu diesem Verfahren Verdross/Simma (FN 3), § 1245. 97 Vgl. Matthias Pape, Humanitäre Intervention: Zur Bedeutung der Menschenrechte in den Vereinten Nationen (1997). 98 Vgl. etwa Resolution 794 (1992) bzgl. Somalia (deutsche Übersetzung in: Vereinte Nationen 1993, 65 ff.); Resolution 929 (1994) bzgl. Ruanda (deutsche Übersetzung in: Vereinte Nationen 1994, 153 f.); Resolution 940 (1994) bzgl. Haiti (deutsche Übersetzung in: Vereinte Nationen 1994, 195 f.). 99 Bejahend Heike Gading, Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch militärische Maßnahmen des Sicherheitsrats - das Ende staatlicher Souveränität? (1996), S. 67-180; Verdross/Simma (FN 3), § 234; Simma (FN 88), S. 272-274; zurückhaltender Jochen A. Frowein, zu Art. 39 Rn. 20 f., in: Simma (FN 28). 100 Vgl. Wiener Erklärung und Aktionsprogramm der Weltkonferenz für Menschenrechte (1993), Kap. 1.6, Europa-Archiv 1993, D 498 (500); Louis B. Sohn, The Human Rights Movement: From Roosevelt's Four Freedoms to the Interdependence of Peace, Development and Human Rights, A Lecture by the A. Smith Visit-

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Somit kann der Schutz von Menschen, die i n ihrem Staat i n ihren fundamentalen Rechten verletzt oder bedroht sind, durch die Staatengemeinschaft durchaus schlagkräftig sein. (b) Internationaler Strafgerichtshof Die Staatengemeinschaftsgüter werden zum Teil flankiert durch Völkerstrafrecht (crimina iuris gentium) 1 0 1 , das wiederum die Entscheidungsgrundlage für internationale Strafgerichte ist. Dadurch w i r d in vielen Fällen erst eine strafrechtliche Verfolgung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit für die Täter zu einer drohenden Realität. Allzu oft blieben sie nicht nur i n ihren Heimatstaaten, die die Verbrechen oft angeordnet oder zumindest geduldet haben, sondern auch i m Ausland unbehelligt. Damit dient auch der künftige Internationale Strafgerichtshof 102 dem Schutz fundamentaler Menschenrechte. Wie allgemein i m Bereich des Menschenrechtsschutzes ist die internationale Gerichtsbarkeit aber - i m Gegensatz zu den sicherheitspolitisch motivierten Straftribunalen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda - subsidiär; der Internationale Strafgerichtshof ergänzt die nationale Strafgerichtsbarkeit nur (Art. 1 des Statuts): Eine Anklage ist dort nur zulässig, wenn der oder die dafür zuständigen Staaten zu ernsthaften Ermittlungen und Strafverfahren nicht willens oder nicht fähig sind (Art. 17 des Statuts). (2) Schutz durch die nicht-organisierte

Staatengemeinschaft

Es sind freilich nicht nur Staatengemeinschaftsorgane und -einrichtungen, die Staatengemeinschaftsgüter schützen können. Dies kann auch durch die - nicht-organisierte - Staatengemeinschaft, d.h. durch jeden Staat einzeln geschehen. (a) Weltrechtsprinzip So unterliegen etwa Völkermord 1 0 3 und Kriegsverbrechen 104 dem Weltrechtsprinzip. Andere menschenrechtliche Verträge wie die Folterkonvention 1 0 5 enthalten nach dem Grundsatz „aut dedere aut iudicare" zuing Lecturer Presented by the Harvard Law School Human Rights Program (1995), S. 26 f. ιοί Dazu bereits oben Il.l.b) (S. 485). 102 Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17.7.1998 (BGBl. 2000 II, S. 1393). 103 Vgl. § 6 Nr. 1 StGB.

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m i n d e s t eine subsidiäre P f l i c h t z u r S t r a f v e r f o l g u n g , w e n n der B e s c h u l d i g t e n i c h t an einen anderen, z u r S t r a f v e r f o l g u n g b e r e i t e n Staat ausgel i e f e r t w i r d . I m Zuge der j ü n g s t e n E n t w i c k l u n g e n des V ö l k e r s t r a f r e c h t s ist d a m i t z u rechnen, dass das W e l t r e c h t s p r i n z i p auf Verbrechen gegen die M e n s c h l i c h k e i t 1 0 6 ausgeweitet w i r d 1 0 7 . Dies ist konsequent, da alle diese S t r a f t a t e n z u den „ c r i m e s against the peace a n d the s e c u r i t y of m a n k i n d " 1 0 8 zählen, die M e n s c h h e i t also h i e r v o n insgesamt, d . h . n i c h t fragmentiert

i n s t a a t l i c h organisierten Gesellschaften betroffen

D e m e n t s p r e c h e n d k a n n - entgegen der Rechtsprechung des B G H die B e g r ü n d u n g der n a t i o n a l e n S t r a f g e r i c h t s b a r k e i t

ist109.

110

- für

kein Inlandsbezug

der S t r a f t a t gefordert w e r d e n , e t w a ü b e r den W o h n s i t z oder längeren A u f e n t h a l t des Täters i m I n l a n d 1 1 1 . Ebenso w e n i g k a n n das H a n d e l n i n a m t l i c h e r Eigenschaft v o r einer B e s t r a f u n g i m A u s l a n d schützen, da die staatliche G l i e d e r u n g der M e n s c h h e i t u n d A n s p r ü c h e der Staaten auf souveräne

Gestaltung

ihres

Herrschaftsbereichs

von

der

Idee

der

104 vgl. Art. 49 Abs. 2 I. Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12.8.1949 (BGBl. 1954 II, S. 783). 105 Art. 5 und 7 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1984 (BGBl. 1990 II, S. 257). 106 Zu diesem Straftatbestand siehe Art. 7 Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (FN 52) und § 8 Entwurf des deutschen Völkerstrafgesetzbuch (wiedergegeben in: Bundesministerium der Justiz [Hrsg.], Arbeitsentwurf eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches [2001]). 107 Siehe § 1 Entwurf des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs (FN 106). 108 Siehe oben F N 83. 109 i n diesem Sinne auch das spanische Auslieferungsgesuch im Fall Pinochet und das Urteil der Audienca National vom 5.11.1999, beide in deutscher Übersetzung wiedergegeben in: Heiko Ahlbrecht/Kai Ambos (Hrsg.), Der Fall Pinochet(s) (1999), S. 45 (78), 86 (88 f.). Der Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien spricht in diesem Zusammenhang von einem Wechsel vom „State-Sovereigntyoriented approach" hin zum „human-being-oriented approach", ICTY Case No. IT-94-1-AR 72, Human Rights Law Journal 16 (1995), 437 ff. (para. 96 f.); dazu Claus Kreß, Friedenssicherungs- und Konfliktvölkerrecht an der Schwelle zur Postmoderne, EuGRZ 1996, 638 ff.; siehe auch Gerhard Werle, Anwendung deutschen Strafrechts auf Völkermord im Ausland, JZ 1999, 1181 (1183). no BGHSt 45, 65 (68). m Ebenso die International Law Association, Committee on International Human Rights Law and Practice, Final Report on the Exercise of Universal Jurisdiction i n Respect of Gross Human Rights Offences, Report of the Sixty-Ninth Conference, London 2000, S. 403 (404): allein die physische Anwesenheit des Verfolgten im Staat genügt, um die Verfolgungszuständigkeit des Aufenthaltsstaats zu begründen; Marc Bungenberg, Extraterritoriale Strafrechtsanwendung bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, ArchVR 39 (2001), 170 (183-201); André de Hoog, Obligations Erga Omnes and International Crimes (1996), S. 164 ff. In diesem Sinne jetzt auch § 1 des Entwurfs des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs sowie der neu einzufügende § 153 f StPO. Auch der Internationale Gerichtshof leitet bezüglich des Völkermords eine uneingeschränkte Strafverfolgungspflicht aus der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9.12.1948 (BGBl. 1954 II, S. 730) ab, ICJ Reports 1996, 595 (616) - Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide.

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Menschheitsverbrechen her keine Rolle spielen können und andernfalls das Weltrechtsprinzip bei diesen Verbrechen auch nahezu leerlaufen würde112. (b) Zivilrechtliche Ansprüche Neben die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Täter haben die Vereinigten Staaten von Amerika mit dem Alien Tort Claims A c t 1 1 3 eine zivilrechtliche Verantwortlichkeit gestellt. Auf Grund dieses Gesetzes können Opfer von im Ausland begangenen Menschenrechtsverletzungen unter bestimmten Voraussetzungen i n den Vereinigten Staaten auf Schadenersatz klagen 1 1 4 . (c) Humanitäre Intervention Als schärfstes und völkerrechtlich außerordentlich umstrittenes Mittel bleibt den Staaten noch die humanitäre Intervention. Hierunter w i r d das militärische Eingreifen zum Schutz von Bevölkerungsteilen eines anderen Staates vor Verfolgung und anderen systematischen, schweren Menschenrechtsverletzungen verstanden; es handelt sich somit - zumindest ganz überwiegend - um den Schutz der Bevölkerung vor der Gewalt des eigenen Staates 1 1 5 . Daneben gibt es noch die (militärische) Intervention zum Schutz eigener Staatsangehöriger vor Gefahr für Leib und Leben im Ausland, deren Zulässigkeit ebenfalls stark umstritten ist. Es ist hier nicht der Ort, das rechtliche und politische Für und Wider solcher Interventionen zu diskutieren 1 1 6 ; es genügt darauf hinzuweisen, dass es pro112 In diesem Sinne Art. IV Völkermordkonvention (abgedruckt in: Simma/Fastenrath [FN 36], S. 102 ff.); Art. 27 Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (FN 52), Art. 7 Draft Code of Crimes against the peace and the security of mankind (FN 83); vgl. auch die Entscheidung des House of Lords im Fall Pinochet (International Legal Materials 38 [1999], S. 581 [604 ff.]); siehe auch Cassese (FN 3), S. 259 f. Nicht überzeugend ist allerdings das Argument, Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehörten nicht zu den Aufgaben staatlicher Organe und seien deshalb nicht von der Immunität erfasst (so aber Bungenberg [FN 111], S. 196 f.; zu Recht a. A. Tomuschat [FN 78], S. 179 f., mit der Begründung, dass die Immunität gerade bei rechtswidrigem Handeln zum Tragen kommt, das aber nirgendwo zu den Aufgaben staatlicher Organe zählt). Der Internationale Gerichtshof hat allerdings der Immunität amtierender Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder - Gleiches müsste für Diplomaten und Sondermissionen gelten - den Vorrang eingeräumt, Urteil vom 14.2.2002 - Democratic Republic of the Congo v. Belgium. 113 United States Codes, vol. 28 (1994), § 1350. 114 Vgl. etwa das Verfahren Kadic v. Karadzic, American Journal of International Law 90 (1996), 658 ff.; weiterhin Filartiga v. Pena Irala, International Legal Materials 19 (1980), 966 ff. us Zum Begriff der humanitären Intervention Kai Hailbronner; in: Vitzthum (FN 46), S. 230. 116 Ein Überblick über den Diskussionsstand bei Hailbronner (FN 46), S. 230-235; Tomuschat (FN 78), S. 218-226 jeweils mit weiteren Literaturnachweisen; vgl. wei-

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minente Beispiele dafür gibt - zuletzt der NATO-Einsatz gegen Jugoslawien zu Gunsten der albanischstämmigen Bevölkerung im Kosovo 1 1 7 und dass sich sowohl die Rechtmäßigkeit humanitärer Interventionen als auch die Intervention zu Gunsten eigener Staatsangehöriger vertretbar begründen lässt. Derartige Begründungen sind auch durch die Regelungen über die Staatenverantwortlichkeit nicht abgeschnitten. 118 Zwar gelten nicht mehr, wie nach dem Entwurf der International Law Commission in der ersten Lesung 1 1 9 , alle Staaten als verletzte Staaten, wenn erga omnesVerpflichtungen verletzt werden mit der Folge, dass alle Staaten zu Repressalien hätten greifen dürfen, um die Einhaltung des Rechts zu erzwingen. Vielmehr sind die Staaten, deren eigene Rechte durch den Verstoß gegen ius cogens-Normen nicht betroffen s i n d 1 2 0 , nunmehr darauf beschränkt, vom Verletzterstaat ein Ende der Rechtsverletzung und die Entschädigung der Opfer zu fordern (Art. 48). Ob sie zudem über Retorsionen hinaus dies auch mit Repressalien erzwingen dürfen, w i r d offen gelassen und hängt von der Entwicklung entsprechenden Völkergewohnheitsrechts ab (Art. 54). Damit werden die ius cogens-Verpflichtungen zwar aus den bilateralen Strukturen des Westfälischen Systems mit wechselseitigen Ansprüchen und Pflichten gelöst und objektiviert. Ihre Einhaltung w i r d aber der Staatengemeinschaft als Ganzer geschuldet, terhin das von Dieter S. Lutz herausgegebene Buch „Der Kosovo-Krieg: Rechtliche und rechtsethische Aspekte" (2000) mit Beiträgen von Jost Delbrück, Christian Tomuschat, Ulrich K. Preuß, Dieter Senghaas, Knut Ipsen, Daniel Thür er, Jürgen Habermas; weiterhin Louis Henkin, Kosovo and the Law of „Humanitarian Intervention", American Journal of International Law 93 (1999), 824 ff.; Peter Hilpold, Humanitarian Intervention: Is There a Need for a Legal Reappraisal?, European Journal of International Law 12 (2001), 437 ff.; Stephan Hobe, NATO-Intervention im Kosovo: Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg?, in: Dieter Dörr/ Udo Fink/Christian Hillgruber/Bernhard Kempen/Dietrich Murswiek (Hrsg.), Die Macht des Geistes, Festschrift für Hartmut Schiedermair (2001), S. 819 ff.; Georg Nolte, Kosovo und Konstitutionalisierung: Zur humanitären Intervention der NATO-Staaten, ZaöRV 59 (1999), 941 ff.; Bruno Simma, NATO, the U N and the Use of Force: Legal Aspects, European Journal of International Law 10 (1999), 1 ff.; Daniel Thürer, Der Kosovo-Konflikt i m Lichte des Völkerrechts: Von drei echten und scheinbaren - Dilemmata, ArchVR 38 (2000), 1 ff.; Christian Tomuschat, Völkerrechtliche Aspekte des Kosovo-Konflikts, Friedens-Warte 74 (1999), 33 ff. 117 Gerade dieser Fall ist aber untypisch, da die NATO nicht - wie sonst bei humanitären Interventionen und Interventionen zum Schutz eigener Staatsangehöriger i m Ausland üblich - die gefährdete Bevölkerung vor Übergriffen der jugoslawischen Staatsmacht und von ihr geduldeter Banden geschützt, sondern versucht hat, durch Bombardements den Willen der jugoslawischen Regierung zu brechen. ne Articles on Responsibility of States (FN 80). 119 Art. 40 Abs. 3 i.V.m. Art. 19 Abs. 2 und 3 (International Legal Materials 1998, 442). 120 Etwas anderes gilt, wenn ein Staat i n Gestalt seiner eigenen Staatsangehörigen von den Menschenrechtsverstößen eines anderen Staates betroffen und damit i n seinen eigenen Rechten verletzt ist.

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ohne dass diese über ein Organ verfügen würde, das den Anspruch geltend machen könnte, oder dass jedes Mitglied der Staatengemeinschaft i n einer actio pro socio den Anspruch durchzusetzen berechtigt wäre. Dafür eröffnen die Regeln über die Staatenverantwortlichkeit aber einen anderen Weg, der die Objektivierung des Völkerrechts und die Einbindung der Staaten i n eine weltweite Rechtsgemeinschaft konsequent weiter führt. Der bisherige Rechtfertigungsgrund „Staatsnotstand" mutiert nämlich zu einem allgemeinen Notstand, indem es nicht mehr darauf ankommt, dass wesentliche Interessen gerade des handelnden Staates zu sichern s i n d 1 2 1 . Hieß es i n Art. 33 der Artikelentwürfe über die Staatenverantwortlichkeit i n der Fassung der ersten Lesung noch, ein Staat könne sich auf Notstand berufen, wenn die Handlung „the only means of safeguarding an essential interest of the State against a grave and imminent peril" sei, w i r d i n Art. 25 der endgültigen Fassung nur noch gefordert, dass die Handlung „the only way for the State to safeguard an essential interest against a grave and imminent peril" ist. Damit kann sich die massive Verletzung und Bedrohung elementarer Menschenrechte als Notstandsfall darstellen. 1 2 2 Bezüglich einer militärischen Intervention anderer Staaten bleibt freilich das weitere Problem, dass Notstandsmaßnahmen nicht gegen das ius cogens verstoßen dürfen (Art. 26) 1 2 3 , das Gewaltverbot aber grundsätzlich i n eben diese Kategorie gehört 1 2 4 . Angesichts der Meinungsverschiedenheiten über die Rechtmäßigkeit der humanitären Intervention und der Intervention zu Gunsten eigener Staatsangehöriger dürfte es allerdings schwer fallen, i n dieser spezifischen Ausformung des Gewaltverbots - entsprechend der Definition von ius cogens in Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention 125 - eine Norm zu erblicken, „die von der internationalen Staatengemeinschaft i n ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt w i r d als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf." Bei alledem ist jedoch zu berücksichtigen, dass die International Law Commission kein Weltgesetzgeber ist und sich i n diesen Fragen nicht auf ι 2 1 I n diesem Sinne bereits zuvor die rechtfertigende Begründung für humanitäre Interventionen von Karl Doehring, Völkerrecht (1999), S. 435 f. 122 Nicht überzeugend und ohne jegliche Begründung verneint dies die ILC in ihrem Kommentar zu Art. 25, Ziff. 20, und verweist statt dessen zur Rechtfertigung von humanitären Interventionen auf Primärnormen (UN Doc. A/56/10, S. 205 f.). 123 Notstandsmaßnahmen sind damit i n weiterem Umfang zulässig als Repressalien, bei denen der Einsatz militärischer Gewalt generell ausgeschlossen ist (Art. 50 Abs. 1 lit. a des ILC-Entwurfs, 2. Lesung). 124 Stefan Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 205 f., 226-236 (dort auch zur Konkurrenz zwischen verschiedenen Normen des zwingenden Rechts). Die ILC führt in ihrem Kommentar zu Art. 26, Ziff. 5, allerdings nicht das Gewaltverbot insgesamt, sondern nur das Aggressionsverbot als Bestandteil des ius cogens an (UN Doc. A/56/10, S. 208). 125 BGBl. 1985 II, S. 927.

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gesichertes Völkergewohnheitsrecht stützen kann. Andererseits führen die Arbeiten der Kommission - auch wenn sie nicht in ein Vertragswerk münden - zu einem wichtigen, weltweiten Klärungsprozess und sind Kristallisationspunkt für die Bildung von Rechtsüberzeugungen und Orientierung für künftige Staatenpraxis 1 2 6 . (d) Staatliche Zusammenarbeit bei der Verwirklichung wirtschaftlicher und sozialer Rechte sowie beim Recht auf Entwicklung Eine unterstützende Funktion ganz anderer Art hat die Staatengemeinschaftsebene bei der Verwirklichung wirtschaftlicher und sozialer Rechte sowie beim Recht auf E n t w i c k l u n g 1 2 7 . Es geht nicht darum, die Menschenrechte gegen einen anderen, diese Rechte verletzenden Staat zu schützen, sondern einem Staat zu helfen, der allein nicht in der Lage ist, einen menschenrechtsgemäßen Zustand herbeizuführen. In sehr allgemeiner Form verpflichten sich deshalb die Staaten i n Art. 2 Abs. 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1 2 8 zu internationaler Hilfe und Zusammenarbeit, um die volle Verwirklichung der im Pakt anerkannten Rechte zu erreichen. In ähnlich pauschaler Form verlangt die Erklärung über das Recht auf E n t w i c k l u n g 1 2 9 die Schaffung „internationaler Bedingungen, die der Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung förderlich sind" und eine internationale Zusammenarbeit, „um Entwicklung herbeizuführen und Entwicklungshindernisse zu beseitigen" (Art. 3 der Erklärung). Sehr viel konkreter ist hingegen die Solidaritätsverpflichtung aus Art. 11 Abs. 2 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Danach müssen die Vertragsstaaten, einzeln und im Wege internationaler Zusammenarbeit die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um Menschen vor Hunger zu bewahren. Das schließt generelle Programme zur besseren Lebensmittelerzeugung, -haltbarmachung und -Verteilung ebenso ein wie Nahrungsmittelhilfe in Notfällen. Unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität heißt es aber auch: Zunächst hat jeder Staat selbst für seine Entwicklung und dafür zu sorgen, dass seine Bevölkerung in den Genuss aller Menschenrechte kommt, insbesondere keinen Hunger leiden muss; die Staatengemeinschaft ist zu Hilfe nur subsidiär verpflichtet 1 3 0 . 126 Zum Einfluss der International Law Commission auf die Entstehung und Auslegung von Völkergewohnheitsrecht Fastenrath (FN 19), S. 203-208. 127 Zum rechtlichen Gehalt des Rechts auf Entwicklung Guido Odendahl, Das Recht auf Entwicklung (1997); Sabine von Schorlemer, Recht auf Entwicklung quo vadis?, Friedens-Warte 72 (1997), 121 ff. 128 Abgedruckt in: Simma/Fastenrath (FN 36), S. 66 ff. 129 Resolution 41/128 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 4.12.1986 (General Assembly Official Records, 41st Session, Supp. No. 53, S. 186 ff.).

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(e) Einzelstaatliches Handeln kein Ausdruck von Subsidiarität Auch beim Schutz fundamentaler Menschenrechte ist das Handeln einzelner Staaten als Teil der nicht-organisierten Staatengemeinschaft anstelle eines Staatengemeinschaftsorgans kein Ausdruck von Subsidiarität. Wegen der damit verbundenen Selbstbeurteilung der jeweiligen Rechts- und Sachlage ist dieses Vorgehen vielmehr einerseits mit erheblichen Risiken für die internationale Sicherheit verbunden 1 3 1 und kann i n Grenzfällen auch zur Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts anderer Völker führen. Andererseits kann es zum Ausfall des subsidiären Schutzes durch die Staatengemeinschaft kommen, wenn sich kein Staat bereit findet, schützend oder helfend einzugreifen, weil eine Verpflichtung hierzu entweder nicht besteht (sondern nur ein Recht) oder diese nicht individualisiert ist (sondern die Staatengemeinschaft insgesamt t r i f f t ) 1 3 2 . Insgesamt steigert die einzelstaatliche Durchsetzung den Schutz fundamentaler Menschenrechte jedoch erheblich, da die Staatengemeinschaftsorgane teils zu schwach ausgestaltet, teils in ihrer Zuständigkeit stark beschnitten sind. b) Staatengemeinschaftsräume Die Hohe See einschließlich des Tiefseebodens und der Weltraum samt den Himmelskörpern sind der Staatengemeinschaft insgesamt zugeordnet, d.h. sie sind nicht aneignungsfähig 133 . Auch bezüglich der Antarktis sind die Territorialansprüche einzelner Staaten eingefroren, neue können unter der Geltung des Antarktis-Vertrags nicht begründet werden 1 3 4 . Dies besagt zunächst nicht mehr, als dass kein Staat an diesen Staatengemeinschaftsräumen ein Ausschließlichkeitsrecht erwerben kann, aber nicht, dass sie von deren Nutzung und Ausbeutung ausgeschlossen sind. Vielmehr gehört die Schifffahrtsfreiheit auf Hoher See (Art. 90 Seerechtsübereinkommen) zu den althergebrachten Rechten eines jeden 130 Siehe Allgemeine Bemerkung Nr. 12 (1999), § 36, des Ausschusses der Vereinten Nationen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, UN-Docs. E/C.12/1999/11, Annex V. 131 Tomuschat (FN 80), S. 15. 132 Insoweit kann man mit Daniel Thürer, Modernes Völkerrecht: Ein System im Wandel und Wachstum - Gerechtigkeitsgedanke als Kraft der Veränderung?, ZaöRV 60 (2000), 557 (601 f.), vom Völkerrecht als einem „hinkenden" Rechtssystem sprechen. Die Schweiz hat i n Art. 54 Abs. 2 Bundesverfassung (AS 1999, 2556) eine individuelle, allerdings nur sehr generelle Hilfsverpflichtung anerkannt. 133 Art. 89, 137 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (FN 81); Art. I I Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper vom 27.1.1967 (BGBl. 1969 II, S. 1969). 134 Art. 4 Abs. 2 Antarktis-Vertrag vom 1.12.1959 (BGBl. 1978 II, S. 1517).

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Staates. Gewährleistet ist dort weiterhin u.a. die Freiheit des Überflugs sowie der Verlegung von Kabeln und Rohrleitungen (Art. 87 Seerechtsübereinkommen). Die im Grundsatz ebenfalls freie Fischerei (Art. 116 Seerechtsübereinkommen) ist allerdings in einigen Regionen auf der Grundlage besonderer Abkommen begrenzt worden, um eine nachhaltige Bewirtschaftung zu ermöglichen 1 3 5 . Dieser Gemeingebrauch ist jedoch gerade für besonders nutzungsrelevante Meeresgebiete zugunsten der Küstenstaaten beschnitten worden. Diese haben jenseits des Küstenmeeres von bis zu 12 Seemeilen Breite noch eine Anschlusszone und eine ausschließliche Wirtschaftszone bis zu 200 Seemeilen zugesprochen bekommen, in denen sie bestimmte Regelungs- und ausschließliche Nutzungsrechte haben. Den Küstenstaaten ist weiterhin die Ausbeutung des Festlandsockels vorbehalten. Umgekehrt ist der Tiefseeboden der freien Ausbeutung entzogen und zum gemeinsamen Erbe der Menschheit 1 3 6 erklärt worden (Art. 136 Seerechtsübereinkommen), das von einer internationalen Behörde verwaltet w i r d 1 3 7 . Ähnlich steht der Weltraum grundsätzlich als „province of mankind" (Art. 1 Weltraumvertrag) allen Staaten zur Nutzung offen. Die Erklärung des Mondes zum gemeinsamen Erbe der Menschheit in Art. 11 Mondvert r a g 1 3 8 bleibt folgenlos, da - anders als für den Tiefseeboden - ein konkretes Regime hierfür nicht vereinbart wurde. Die Nutzung des Weltraums ist weitgehend militärischen Zwecken entzogen (Art. IV Weltraumvertrag) und unterliegt einer allgemeinen Gemeinwohlbindung. Sie realisiert sich i n besonderer Weise bei der Nutzung des geostationären Orbits für Rundfunk- und Fernmeldesatelliten. Sendefrequenzen wie Satellitenparkplätze werden von der Internationalen Fernmeldeunion zugeteilt 1 3 9 . Für die Antarktis haben die Vertragsstaaten des Antarktis-Vertrags laut Präambel handelnd „ i n the interest of all mankind" - als eine Art Treuhänder ein Nutzungsregime geschaffen (antarktisches System), um das anfällige ökologische Gleichgewicht der Region zu erhalten 1 4 0 . 135 Ein Problem bleibt allerdings die Durchsetzung von Beschränkungen gegenüber vertraglich nicht gebundenen Staaten, dazu Rüdiger Wolfrum, Globale Ressourcen gemeinsam verwalten: Neue Entwicklungen im UmweitVölkerrecht, Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 1997, 73 (79 f.). 136 Dazu Alexandre Kiss , La notion de patrimoine commun de l'humanité, Recueil des Cours de l'Académie de droit international, Vol. 175 (1982 II), 99 ff.; Rüdiger Wolfrum, The Principle of the Common Heritage of Mankind, ZaöRV 43 (1983), 312 ff. 137 Näher zum Seerecht Gloria, in: Ipsen (FN 34), S. 765-783; Vitzthum (FN 46), S. 418-426. 138 Übereinkommen zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten auf dem Mond und anderen Himmelskörpern vom 18.12.1979 (Resolution 34/68 der Generalversammlung der Vereinten Nationen). 139 Näher zum Weltraumrecht Fischer, in: Ipsen (FN 34), S. 818-853; Vitzthum (FN 46), S. 426-429.

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Einzelne dieser Regelungen mögen Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips sein. So sind etwa die Küstenstaaten i n besonderer Weise von der Nutzung des angrenzenden Seegebiets betroffen, so dass es sinnvoll ist, ihnen insoweit die Befugnis zu einer der jeweiligen Situation angepassten Rechtsetzung und -durchsetzung zu geben. Auch mag - wie im Falle Islands 1 4 1 - die Fischerei Lebensgrundlage des Staates sein und deshalb ein vorrangiges Recht an den lebenden Ressourcen vor der Küste nahe liegen. Weiterhin entspricht es dem Subsidiaritätsprinzip, Fischfangquoten einzelner Staaten international festzulegen, um eine Überfischung zu verhindern, oder die Nutzung der antarktischen Region international zu begrenzen, um sie nicht zu gefährden. Einzelstaatliche Regelungen würden hier keinen Erfolg versprechen, da sie das eigene und nicht das Gesamtinteresse im Blick hätten. Ebenso spricht vieles dafür, Satellitenparkplätze im geostationären Orbit wegen ihrer nicht vermehrbaren Zahl nach international vereinbarten Regeln zu verteilen statt nach dem Prinzip „first come, first served". Überwiegend geht es bei den Bestimmungen über die Nutzung der Staatengemeinschaftsräume jedoch schlicht um wirtschaftliche Interessen, nicht um eine sinnvolle oder gerechte Herrschaftsorganisation. Deutliche Beispiele dafür sind die extensiven, exklusiven Nutzungsrechte der Küstenstaaten i n der Wirtschaftszone und am Festlandsockel sowie umgekehrt das internationalisierte Tiefseebodenregime, das gewiss ohne Lizenzierung der Ausbeutung und ohne internationale Behörde ausgekommen w ä r e 1 4 2 . Das aber ist kein Problem der - mangelnden - Subsidiarität. Aus ihrem Blickwinkel kann man nur fragen, ob bestimmte Räume einem Staat zugeordnet oder ob sie internationalisiert werden sollen. Fehlt es an Anknüpfungspunkten für die Zuordnung eines Raumes zu einem Staat oder w i r d eine solche Zuordnung nicht für sinnvoll gehalten, was für den Tiefseeboden zutrifft, handelt es sich um einen Raum außerhalb des originären Wirkungskreises einzelner staatlicher Gemeinschaften. Ob solche Räume als staatsfreies Gebiet dem Gemeingebrauch und der eigennützigen Ausbeutung unterliegen oder ob sie als Staatengemeinschaftsraum mit einem international festgelegten Nutzungsregime zu behandeln sind, ist eine Frage von (Staaten)freiheit und Verteilungsgerechtigkeit, nicht von Subsidiarität 1 4 3 . 140 Näher dazu Vitzthum (FN 46), S. 429-431. 141 Dazu ICJ Reports 1974, 3 ff. - Fisheries Jurisdiction. 142 Der einzige Staat, der technisch und finanziell i n großem Stil zur Ausbeutung des Tiefseebodens i n der Lage ist, die Vereinigten Staaten von Amerika, ist zudem nicht Vertragsstaat des Seerechtsübereinkommens und deshalb an das dort geregelte Regime auch nicht gebunden (Vitzthum [FN 46], S. 423 f.). 143 Dies gilt freilich nur für Staatengemeinschaftsräume, bei denen ein Bezug zu einem bestimmten Staat von Natur aus fehlt. Lässt sich ein solcher Bezug herstellen bzw. w i r d wie bei den Staatengemeinschaftsaufgaben den Staaten eine Auf-

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c) Übertragung von Aufgaben auf Staatengemeinschaftseinrichtungen und -organe Auf der internationalen Ebene geht es freilich nicht allein, nicht einmal vorwiegend um Angelegenheiten der Staatengemeinschaft insgesamt, die der Dispositionsbefugnis der einzelnen Staaten ganz oder teilweise entzogen sind. Vielmehr nehmen die Staaten in großem Umfang ihre originären Aufgaben in Kooperation mit anderen Staaten wahr. Dies erfolgt in unterschiedlichen Formen von punktuellen Verhandlungen bis hin zu Internationalen Organisationen. Da die Staaten insoweit selbst die handelnden Subjekte bleiben, stellt sich allerdings nicht die Frage der Subsidiarität im Verhältnis von staatlicher und internationaler Ebene. Anders verhält es sich, wenn die Staaten Einrichtungen für sie bestimmte Aufgaben wahrnehmen und verbindlich über handeln können. Dies sei näher an den Beispielen der len Streiterledigung und des in anderen Zusammenhängen delten, internationalen Menschenrechtsschutzes erläutert.

schaffen, die ihnen gegeninternationaschon behan-

aa) Internationale Streiterledigung Das Völkerrecht kennt zwar eine Verpflichtung zur friedlichen Streiterledigung 1 4 4 , institutionelle Vorsorge ist dafür aber nicht getroffen. Weder gibt es ein internationales Organ, das zur Überwachung und Durchsetzung rechtmäßigen staatlichen Handelns zuständig wäre noch eine generelle und obligatorische, internationale Gerichtsbarkeit. Selbst wo die Zuständigkeit eines internationalen Gerichts begründet ist, entspricht es den Gepflogenheiten, es zunächst mit diplomatischen Mitteln wie Verhandlungen oder einem Vergleich, eventuell unter Inanspruchnahme der Vermittlung durch einen unabhängigen Dritten zu versuchen 1 4 5 . Zum Teil besteht sogar eine Rechtspflicht hierzu 1 4 6 . gäbe entzogen, geht es um eine Frage der Aufgabenallokation und damit um ein Problem der Subsidiarität (in diesem Sinne auch Hobe [FN 31], S. 395 f., 400). 144 vgl. den zweiten Grundsatz der Friendly Relations-Declaration (FN 66): „Every State shall settle its international disputes w i t h other States by peaceful means, i n such a manner that international peace and security and justice are not endangered." Enger ist hingegen die Pflicht zur friedlichen Streiterledigung in Art. 33 UN-Charta formuliert, da sie nur auf friedensgefährdende Streitigkeiten Bezug nimmt. 145 Anderes gilt, wenn Individuen vor internationalen Gerichten klageberechtigt sind: z.B. beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Art. 34 EMRK [FN 36]) oder beim Seegerichtshof (Art. 187 Seerechtsübereinkommen [FN 81]). Individualbeschwerdeführern bleibt nichts als die sofortige Inanspruchnahme des gerichtlichen Verfahrens, was auch genutzt wird.

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Der diplomatische Weg ist auch der einzige, der ohne weiteres beschritten werden kann. Schiedsgerichte müssen zunächst einmal durch Vereinbarungen genereller Natur oder ad hoc errichtet werden. Bei internationalen Gerichten, die ebenfalls auf völkervertraglicher Grundlage beruhen, reicht es oftmals nicht aus, dass das betreffende Statut von den streitbeteiligten Staaten ratifiziert worden ist. Hinzu kommen müssen etwa beim Internationalen Gerichtshof oder beim OSZE-Gerichtshof gesonderte Erklärungen, mit denen die streitbeteiligten Staaten dessen Zuständigkeit generell oder mit zeitlichen und inhaltlichen Beschränkungen anerkennen, bzw. entsprechende vertragliche Vereinbarungen 147 . Diese zusätzlichen Anforderungen an eine gerichtliche Streitentscheidung zeigen, dass die primäre Verantwortung zur Streiterledigung bei den Streitparteien selbst l i e g t 1 4 8 ; erst sekundär sind die betreffenden internationalen Einrichtungen - wenn überhaupt - zuständig. Wie zurückhaltend die Staaten in der Praxis mit der Unterwerfung unter die internationale Gerichtsbarkeit sind, zeigt sich darin, dass lediglich ein Drittel der Staaten entsprechende Erklärungen bezüglich des Internationalen Gerichtshofs abgegeben haben, zu einem guten Teil zudem befristet und sachlich eingeschränkt. Schiedsklauseln für Streitigkeiten aus bestimmten Verträgen werden zum Teil in gesonderte Fakultativprotokolle abgedrängt, die nicht mit dem zu Grunde liegenden Vertrag zugleich ratifiziert werden müssen 1 4 9 , mitunter werden sie auch durch Vorbehalte ausgeschlossen 150 . Von der weiteren Möglichkeit, Streitigkeiten auf Antrag der Streitparteien vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schlichten zu lassen (Art. 38 UN-Charta), wurde noch nie Gebrauch gemacht 1 5 1 . Etwas anderes gilt hingegen, wenn der Streit die internationale Sicherheit und den Weltfrieden bedroht: dann ist die Zuständigkeit des Sicherheitsrats begründet, der sich der Sache annehmen kann (Art. 35, 37 U N 146 vgl. Art. 1 der Generalakte vom 26.9.1928 (League of Nations Treaty Series, vol. 93, S. 343); Art. 1 Deutsch-Schweizerischer Schiedsvertrag vom 3.12.1921 (RGBl. 1922 I, S. 217); Art. 18 Übereinkommen über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE (abgedruckt in: Ulrich Fastenrath [Hrsg.], Dokumente der Konferenz und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa [Loseblatt], E.4). 147 Art. 36 IGH-Statut; Art. 26 Übereinkommen über Vergleichs- und Schiedsverfahren i n der KSZE (FN 145). 148 Christian Tomuschat, zu Art. 33 Rn. 19, in: Simma (FN 28). 149 Z.B. Fakultativprotokoll zur Wiener Konsularrechtskonvention vom 24.4.1963 (BGBl. 1969 II, S. 1688). 150 So etwa die Vereinigten Staaten von Amerika bezüglich des Art. I X der Völkermordkonvention (FN 112), die für zwischenstaatliche Streitigkeiten aus der Konvention die Zuständigkeit des Internationalen Gerichthofs vorsieht (BGBl. 1990 II, S. 8). 151 Torsten Stein/Stefan Richter, zu Art. 38 Rn. 13, in: Simma (FN 28).

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Charta). Er ist allerdings nicht befugt, den Streit zu entscheiden, sondern er darf nur Empfehlungen geben, welche Verfahren und Methoden zur Streiterledigung geeignet wären (Art. 36 Abs. 1 UN-Charta). Eine inhaltliche Empfehlung, die allerdings ebenfalls nicht verbindlich i s t 1 5 2 , darf er nur geben, wenn die Streitparteien ihm die Sache einverständlich vorlegen (Art. 37 Abs. 2, 38 UN-Charta). Auch die Durchsetzung von Urteilen internationaler Gerichte ist Sache der Staaten selbst. Bei Urteilen des Internationalen Gerichthofs kann die obsiegende Partei aber immerhin den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anrufen, wenn die andere Streitpartei ihren Verpflichtungen aus dem Urteil nicht nachkommt (Art. 94 Abs. 2 UN-Charta). Streitentscheidungen gleich welcher Art fallen aber auch in die allgemeine Zuständigkeit der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die bei Nichtbefolgung eines Urteils angerufen werden k a n n 1 5 3 ; eine Entscheidungsoder Durchsetzungsbefugnis aber besitzt sie nicht. Sehr viel stärker auf internationaler Ebene verrechtlicht ist die Streiterledigung i m Bereich der internationalen Wirtschaft. Die Welthandelsorganisation verfügt über ein gerichtsähnliches Rechtsschutzsystem, das deren Mitgliedstaaten ohne weiteres anrufen können. Werden die Entscheidungen der Spruchkörper nicht befolgt und finden die Streitparteien auch keinen anderweitigen gütlichen Ausgleich, werden wirtschaftliche Sanktionen festgesetzt, die dem rechtswidrig handelnden Staat den erlangten wirtschaftlichen Vorteil nehmen 1 5 4 . Der staatlichen Ebene ist das Verfahren damit weitgehend entzogen mit Ausnahme dessen, dass es ein Staat durch seinen Antrag einleiten muss und die Streitparteien durch eine gütliche Einigung der Umsetzung von Streitentscheidungen aus dem Wege gehen können. Wesentlich weitergehend ist der Rechtsschutz i n supranationalen Gemeinschaften wie der EG auf die Ebene der Staatengemeinschaft gehob e n 1 5 5 . Sie verfügen jedoch über eine eigenständige Rechtordnung, die hier nicht zu behandeln ist.

152 Stein/Richter (FN 151), zu Art. 37 Rn. 56 f., Art. 38 Rn. 19. 153 So geschehen auf Antrag Nicaraguas, nachdem ein Unterstützungsersuchen an den Sicherheitsrat am Veto des Klagegegners, der Vereinigten Staaten von Amerika, gescheitert war (dazu Hermann Mosler, zu Art. 94 Rn. 13 f., in: Simma [FN 28]). 154 Art. 22 der Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten vom 15.4.1994 (BGBl. 1994 II, 1749). 155 Vgl. Art. 220-245 EGV.

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bb) Menschenrechtliche Überwachungsmechanismen Wie schon erwähnt, ist der Menschenrechtsschutz zuvörderst eine Angelegenheit des innerstaatlichen Rechts, die aber - soweit es um fundamentale Menschenrechte und deren Schutz geht - zugleich eine Angelegenheit der Staatengemeinschaft als Ganzer i s t 1 5 6 . Die Staaten haben sich jedoch in völkerrechtlichen Verträgen verbindlich auf innerstaatlich zu gewährleistende Menschenrechte festgelegt und zugleich die Einhaltung dieser Verpflichtungen internationalen Überwachungsmechanismen unterstellt 1 5 7 . Dabei haben sie in vielfältiger Weise dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung getragen. In materiellrechtlicher Hinsicht drückt sich dies erstens darin aus, dass die völkerrechtlichen Verträge nur einen Mindestschutz beinhalten und weitergehende Garantien im nationalen Recht ausdrücklich bewahren w o l l e n 1 5 8 . Zweitens ist der Menschenrechtsschutz gestuft in regionale und universelle Instrumente. Dies gibt die Möglichkeit, jenseits eines weltweiten Mindeststandards regionalen Besonderheiten des Menschenrechtsverständnisses Ausdruck zu geben. Davon ist insbesondere in der afrikanischen Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der V ö l k e r 1 5 9 Gebrauch gemacht worden. Der dort betonte Zusammenhang von Menschenrechten und Pflichten des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft (Art. 29 Banjul Charta) bleibt aber eher verbal, in der Praxis der als Überwachungsorgan eingesetzten Afrikanischen Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker (Art. 30 Banjul Charta) schlägt sich dieses Charakteristikum afrikanischer Kultur nicht nieder 1 6 0 . Insgesamt ist es zu einer starken inhaltlichen Angleichung der geschützten Menschenrechte überall i n der Welt gekommen 1 6 1 . 156 Oben II.4.a)bb) (S. 495). 157 Zu einem umfassenden Vergleich der menschenrechtlichen Instrumente siehe Christian Tomuschat, Universal and Regional Protection of Human Rights: Complementary or Conflicting Issues?, in: Rüdiger Wolf rum (Hrsg.), Strengthening the World Order: Universalism v. Regionalism, Risks and Opportunities of Regionalization (1990), S. 173 ff. 158 Vgl. Art. 53 Europäische Menschenrechtskonvention (FN 36); Art. 5 Abs. 2 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (FN 37). 159 Fundstelle in F N 36. 160 Einen Bericht über die Tätigkeit der Kommission gibt U. O. Umozurike, Six Years of the African Commission on Human and Peoples Rights, in: Ulrich Beyerlin/Michael Bothe/Rainer Hofmann/Ernst-Ulrich Petersmann (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung: Völkerrecht - Europarecht - Staatsrecht, Festschrift für Rudolf Bernhardt (1995), S. 635 ff. 161 In diesem Sinne hält auch die Wiener Erklärung der Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 fest, dass trotz der regionalen Besonderheiten und der historischen, kulturellen und religiösen Unterschiede ,,[a]ll human rights are universal, indivisible and interdependent and interrelated. The international community must treat human rights globally i n a fair and equal manner, on the same footing, and w i t h the same emphasis." (World Conference on Human Rights, The Vienna

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Prozedural sind die Europäische und die Amerikanische Menschenrechtskonvention am weitesten fortgeschritten. Sie verfügen über je einen Gerichtshof 1 6 2 , der verbindliche Urteile darüber fällt, ob ein Menschenrecht verletzt worden ist, und der auch Entschädigungen für den Verletzten festsetzen k a n n 1 6 3 . Nach der Reform des Rechtsschutzsystems der Europäischen Menschenrechtskonvention durch das 11. Zusatzprotokoll vom 11. Mai 1994 1 6 4 können sich Individuen unmittelbar an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden (Art. 34 EMRK). Zulässig ist eine derartige Individualbeschwerde allerdings erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Art. 35 Abs. 1 EMRK). Diese local remedies rule macht den subsidiären Charakter des internationalen Menschenrechtsschutzes deutlich und findet sich i n allen menschenrechtlichen Schutzsystemen mit der Möglichkeit von Individualbeschwerden 1 6 5 . Schonender für die Staaten und ihnen mehr Freiraum lassend ist die Prüfung der Menschenrechtssituation in den Staaten durch Menschenrechtsausschüsse oder -kommissionen, wie sie u.a. i m Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, in der Amerikanischen und der Afrikanischen Menschenrechtskonvention vorgesehen sind. Denn die Ergebnisse ihrer Prüfungen sind nicht verbindlich 1 6 6 ; sie müssen also nicht umgesetzt werden, und dies geschieht auch keineswegs i m m e r 1 6 7 . Es ist hinzuzufügen, dass die Prüfungen wegen der Zeitknappheit dieser Ausschüsse und Kommissionen nicht sehr gründlich erfolgen können, worunter die Autorität der Ergebnisse leidet. Hinzu kommt eine geringe Publizität. Die Staaten können es sich also durchaus leisten, Rügen auf sich beruhen zu lassen. Eine subsidiäre, völkerrechtliche Abhilfe von Menschenrechtsverletzungen auf internationaler Ebene gewährleisten diese Verfahren also nicht, wenngleich sie durchaus auch Erfolg haben Declaration and Programme of Action, 1993, S. 30; deutsche Übersetzung in: Europa-Archiv 1993, D 498 [500]). 162 Der Vertrag über die Errichtung eines Afrikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte und Rechte der Völker vom 13.12.1997 ist noch nicht in Kraft. 163 Art. 41, 46 Europäische Menschenrechtskonvention; Art. 63, 68 Amerikanische Menschenrechtskonvention (FN 36). 164 BGBl. 1995 II, S. 578. 165 Vgl. Art. 46 Abs. 1 lit. a) Amerikanische Menschenrechtskonvention (FN 36); Art. 56 Nr. 5 Banjul Charta (FN 36); Art. 2 Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (abgedruckt in: Simma/Fastenrath [FN 36], S. 41 ff.). 166 Vgl. Art. 40-42 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (FN 37); Art. 5 Abs. 5 Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (FN 165); Art. 51 Amerikanische Menschenrechtskonvention (FN 36); Art. 53 Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (FN 36). 167 Vgl. Bruno Simma, Internationaler Menschenrechtsschutz durch die Vereinten Nationen, in: Fastenrath (FN 35), S. 51 (62).

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können. In der Amerikanischen Menschenrechtskonvention ist allerdings vorgesehen, dass die Inter-Amerikanische Kommission für Menschenrechte oder ein Vertragsstaat der Amerikanischen Menschenrechtskonvention die Sache anschließend noch vor den Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen können 1 6 8 , der dann verbindlich entscheidet. Die Tätigkeit der Menschenrechtsausschüsse und -kommissionen w i r d i n unterschiedlicher Weise in Gang gesetzt. Neben den schon angesprochenen Individualbeschwerdeverfahren 169 stehen die praktisch bedeutungslosen Staatenbeschwerden 170 , selbstinitiierte Untersuchungen i n den Vertragsstaaten 171 und die Prüfung periodischer Staatenberichte 172 . Ob die unterschiedliche Intensität der souveränitätsbeeinträchtigenden Befassung mit der innerstaatlichen Menschenrechtslage sich ebenfalls als Ausformung des Subsidiaritätsprinzips begreifen lässt, erscheint indes zweifelhaft. Denn der Umfang der internationalen Kontrolle richtet sich weniger nach dem, was notwendig wäre, als nach dem, was die Staaten zu dulden bereit sind - und das dürfte sich eher umgekehrt proportional zum Bedürfnis nach Kontrolle verhalten.

III. Subsidiarität innerhalb von und zwischen Internationalen Organisationen 1. Subsidiarität im Verhältnis zwischen Internationalen Organisationen

Neben den weltweit agierenden Internationalen Organisationen 173 wie den Vereinten Nationen gibt es eine Fülle von Organisationen mit be168 Art. 61 Amerikanische Menschenrechtskonvention (FN 36). 169 So Art. 1 Fakultativprotokoll zum dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Art. 44 Amerikanische Menschenrechtskonvention; Art. 56 Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker. 170 So Art. 41 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Art. 49 Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker. 171 Art. 41 lit. c Amerikanische Menschenrechtskonvention; Art. 20 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (UN-Folterkonvention) von 10.12.1984 (abgedruckt in: Simma/Fastenrath [FN 36], S. 224); Art. 7-9 Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987 (abgedruckt in: Simma/Fastenrath [FN 36], S. 297). 172 z.B. Art. 40 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Art. 16 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; Art. 21 Europäische Sozialcharta (abgedruckt in: Simma/Fastenrath [FN 36], S. 314). 173 Unter Internationalen Organisationen werden hier - dem völkerrechtlichen Sprachgebrauch folgend - nur sog. Regierungsorganisationen verstanden, d. h. solche, in denen die Staaten als politische Organisation, repräsentiert durch ihre Re-

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schränktem Mitglieder- und Wirkungskreis. Sie dienen partikularen Interessen der beteiligten Staaten 1 7 4 ; mitunter repräsentieren sie - als Regionalorganisationen 175 - auch Kontinente oder Staatengruppen, heben deren Gemeinsamkeiten hervor und fördern sie 1 7 6 . Indem sich einzelne Staaten im Hinblick auf bestimmte Gegebenheiten oder Ziele zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, folgen sie dem Subsidiaritätsprinzip. Sie wollen in Einheiten, die nur so groß wie nötig sind, Aufgaben wahrnehmen, die die Staaten nicht oder nur weniger wirksam wahrnehmen könnten. Andererseits stehen die partikulären und die universalen Internationalen Organisationen weder politisch noch rechtlich in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Jede Organisation definiert ihre Ziele und Aufgaben selbst, was zu Überschneidungen, zu Doppelarbeit, bisweilen auch zu einem Gegeneinander führen k a n n 1 7 7 . Die Lösung ist aber allein i n Kooperation, nicht i n Kompetenzzuweisungen an die eine oder andere Organisation zu suchen. Von dieser Regel gibt es nur wenige Ausnahmen.

a) Streitbeilegung

und Friedenssicherung

Die Charta der Vereinten Nationen erwähnt an zwei Stellen sog. regionale Abmachungen oder Einrichtungen. Als solche sind von der Generalversammlung der Vereinten Nationen formell anerkannt: die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 1 7 8 , die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) 1 7 9 , die Arabische L i g a 1 8 0 und die gierungen, Mitglied sind. Davon zu unterscheiden sind die auf privatrechtlicher Grundlage und auf Initiative von Bürgern geschaffenen Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations - NGOs). 174 Das gilt etwa für Freihandelsassoziationen und Zollunionen wie der EG, ECOWAS (westafrikanische Wirtschaftszone), NAFTA (nordamerikanische Freihandelsassoziation), MERCOSUR (Gemeinsamer Markt Südamerikas), EWR (Europäischer Wirtschaftsraum), für Militärbündnisse wie NATO und SE ΑΤΟ, für politische Zusammenschlüsse wie die E U oder für Interessengemeinschaften wie die OECD. 175 Europarat, Organisation Amerikanischer Staaten, Organisation für Afrikanische Einheit, Arabische Liga, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit i n Europa. 176 vgl. Präambel und Art. 1 lit. a Satzung des Europarats (BGBl. 1954 II, S. 1126); Präambel der Charta der Organisation für Afrikanische Einheit (abgedruckt in: Brownlie [FN 66], S. 77); Präambel und Art. 1 der Charta der Organisation Amerikanischer Staaten (United Nations Treaty Series, vol. 119, S. 3). 177 Dazu Matthias Ruffert, Zuständigkeitsgrenzen internationaler Organisationen im institutionellen Rahmen der internationalen Gemeinschaft, ArchVR 38 (2000), 129 ff. 178 Resolution 47/10. 179 Resolution 47/11. 180 Resolution 48/21.

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Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) 1 8 1 ; die Vereinten Nationen arbeiten aber noch mit weiteren regionalen Organisationen zusammen und erkennen deren Arbeit als regionale Abmachung a n 1 8 2 . Deren Inanspruchnahme ist nach Art. 33 Abs. 1 UN-Charta eines der Mittel zur friedlichen Streiterledigung, derer sich die Staaten „zunächst" bedienen sollen. Die dort genannten Mittel stehen aber weder untereinander i n einer Rangordnung und müssen auch keineswegs alle versucht worden sein 1 8 3 , noch muss wenigstens eines dieser Mittel zwingend der Befassung der Vereinten Nationen mit der Streitigkeit vorausgehen. Wie sich aus den Art. 34 bis 36 UN-Charta ergibt, können sich die Vereinten Nationen „ i n jedem Stadium" der Sache annehmen. Ein Vorrang regionaler Abmachungen und Einrichtungen vor den Vereinten Nationen ergibt sich jedoch für örtlich begrenzte Streitigkeiten aus Art. 52 Abs. 2 UN-Charta. Dieser Vorrang ist aber nur als Bemühungsverpflichtung für die streitbeteiligten Staaten ausgestaltet, hindert also eine Befassung des Sicherheitsrats aus eigener Initiative nicht. Zudem müssen die regional zu treffenden Maßnahmen nach Art. 52 Abs. 1 UN-Charta „angebracht" sein 1 8 4 . Dies gibt einigen Beurteilungsspielraum, der in der Praxis aber nicht ausgemessen wird. Vielmehr entscheiden die streitbeteiligten Staaten, die regionalen Abmachungen wie auch Generalversammlung und Sicherheitsrat der Vereinten Nationen politisch, an wen sie sich wenden bzw. welches Organ sich des Streits annimmt; mitunter kommt es auch zu einer parallelen Befassung 185 . Konsequenterweise vorbehalten sind dem Sicherheitsrat allerdings Zwangsmaßnahmen, da ein - Zwangsmaßnahmen rechtfertigender - Friedensbruch bzw. eine die internationale Sicherheit bedrohende Situation eine Angelegenheit der Staatengemeinschaft als Ganzer ist. Der Sicherheitsrat muss Zwangsmaßnahmen zumindest autorisieren, wenn sie von regionalen Abmachungen durchgeführt werden sollen (Art. 53 U N Charta). Der Subsidiaritätsgrundsatz w i r d insoweit also umgekehrt. Ob er allerdings i n der Praxis stets befolgt w i r d 1 8 6 , ist nicht zweifelsfrei und hängt davon ab, ob der Begriff neben militärischem Eingreifen auch andere Sanktionen erfasst, ob die Zustimmung des betroffenen Staates lei Resolution 48/25. 182 Vgl. Christoph Schreuer, Regionalism v. Universalism, European Journal of International Law 6 (1995), 477 (482 f.). 183 Christian Tomuschat, zu Art. 33 Rn. 34, in: Simma (FN 28). 184 Ausführlich dazu Rüdiger Pernice , Die Sicherung des Weltfriedens durch Regionale Organisationen und die Vereinten Nationen: Eine Untersuchung zur Kompetenzverteilung nach Kap. V I I I der UN-Charta (1972); Christoph Walter, Vereinte Nationen und Regionalorganisationen (1996), S. 128-169. 185 Ausführlich zur Praxis Waldemar Hummer/Michael Schweitzer, zu Art. 52 Rn. 91-124, in: Simma (FN 28). 186 Näher dazu Schreuer (FN 182), S. 491 f.; Walter (FN 184), S. 170-284.

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begrifflich eine Zwangsmaßnahme ausschließt und ob die Zustimmung des Sicherheitsrats zu einer Zwangsmaßnahme einer regionalen Einrichtung auch nachträglich erteilt werden k a n n 1 8 7 . Der Sicherheitsrat seinerseits bedient sich bei den von ihm beschlossenen Maßnahmen regionaler Organisationen, die zumindest ein räumliches, wenn auch nicht immer ein rechtliches Näheverhältnis auf weisen 1 8 8 . So werden im Bereich des ehemaligen Jugoslawien die Europäische Gemeinschaft, die OSZE und die NATO t ä t i g 1 8 9 . b) Mitgliedschaft

von Organisationen in anderen Organisationen

Die Mitgliedschaft i n einer Internationalen Organisation führt zwar nicht zur Unterordnung der Mitglieder, aber doch zu deren Einordnung in ein System mit allen Verpflichtungen, die damit einhergehen. Auf diese Weise kann auch eine Internationale Organisation durch die Mitgliedschaft i n einer anderen zu dieser i n ein Pflichtenverhältnis treten. So ist etwa die EG als Mitglied der Welthandelsorganisation 190 in das Welthandelssystem eingebunden, muss dessen Regeln einhalten und die Entscheidungen in Streitbeilegungsverfahren gegen sich gelten lassen. Dabei handelt es sich jedoch um einen atypischen Ausnahmefall, da die EG die Mitgliedschaft wegen der ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Hoheitsrechte erhalten hat, mithin in staatsähnlicher Funktion auftritt. 187 Ausführlich zu diesen Problemen Rudolf Dolzer, Enforcement of International Obligations through Regional Arrangements: Structures and Experience of the OAS, ZaöRV 47 (1987), S. 113 ff.; Jochen Abr. Frowein, Das Verhältnis zwischen den Vereinten Nationen und Regionalorganisationen bei der Friedenssicherung und Friedenserhaltung, Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut Sektion Rechtswissenschaft - , Nr. 343 (1996), S. 13-22; ders., Zwangsmaßnahmen von Regionalorganisationen, in: Ulrich Beyerlin/Michael Bothe/Rainer Hof mann/ Ernst-Ulrich Petersmann (FN 160), S. 57-69; Georg Nolte , Restoring Peace by Regional Action: International Legal Aspects of the Liberian Conflict, ZaöRV (1993), 603 (631-637); Walter (FN 184), S. 289-320; Joachim Wolff, Regional Arrangements and the U N Charter, Addendum 1997, in: Bernhardt (FN 9), vol. IV, S. 91 (99 f.). 188 Zustimmend die Agenda for Peace des UN-Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali, Rn. 64: „ I t is not the purpose of the present report to set forth any formal pattern of relationship between regional organizations and the United Nations, or to call for any specific division of labour. What is clear, however, is that regional arrangements or agencies in many cases possess a potential that should be utilized i n serving the functions covered i n this report: preventive diplomacy, peace-keeping, peacemaking and post-conflict peace-building. Under the Charter, the Security Council has and w i l l continue to have primary responsibility for maintaining international peace and security, but regional action as a matter of decentralization, delegation and cooperation w i t h United Nations efforts could not only lighten the burden of the Council but also contribute to a deeper sense of participation, consensus and democratization in international affairs." ([FN 91], 956 [970]). 189 Vgl. die Resolutionen des Sicherheitsrats 713 (1991), 727, 743, 749, 752, 762, 764 (1992), 855 (1993), 913, 937 (1994). 190 ABl. EG Nr. L 349 v. 31.12.1994, S. 71.

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Der Beobachterstatus, den etliche Organisationen bei den Vereinten Nationen haben 1 9 1 , führt nicht zu einer Einbindung dieser Organisationen in das UN-System, sondern bildet nur eine Plattform für die Zusammenarbeit. Ebenso verhält es sich mit den Kooperationsabkommen, die Internationale Organisationen miteinander schließen 192 .

c) Menschenrechtliche Überwachungssysteme Auch die regionalen und universalen menschenrechtlichen Überwachungssysteme stehen nicht i n einem hierarchischen Verhältnis zueinander, sondern in dem der Exklusivität. Um divergierende Entscheidungen zu vermeiden, enthalten die Verfahrensregeln durchweg Klauseln, die eine Beschwerde unzulässig machen, wenn sie bereits bei einem anderen internationalen Kontrollgremium vorgebracht w u r d e 1 9 3 . Das schließt allerdings nicht aus, dass gleichartige Beschwerden von verschiedenen Gremien behandelt werden. So wurde zum Beispiel der Ausschluss von Personen vom öffentlichen Dienst in Deutschland wegen mangelnder Verfassungstreue gleichzeitig geprüft vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (in einem konkreten, schon länger zurückliegenden Einzelfall) 1 9 4 wie auch vom Ausschuss (der Vereinten Nationen) für w i r t schaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Rahmen der Prüfung des periodischen Staatenberichts zur Menschenrechtslage auf Grund von Art. 16 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1 9 5 sowie von einem Expertengremium der Internationalen Arbeitsorganisation 1 9 6 .

2. Subsidiarität innerhalb von Organisationen

Die Vereinten Nationen haben mit der Gründung regionaler Wirtschaftskommissionen 197 einen Teil ihrer Koordinationsaufgaben „nach 191 Vgl. Ginther (FN 30), Rn. 43-50. 192 Vgl. dazu Ignaz Seidl-Hohenveldern/Gerhard Loibl, Das Recht der Internationalen Organisationen, 7. Aufl. 2000, S. 102-111. 193 Art. 5 Abs. 2 lit. a) Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (FN 165); Resolution (70) 17 des Ministerkomitees des Europarats i.V.m. Art. 55 EMRK (abgedruckt in: Simma/Fastenrath [FN 36], S. 287); Art. 46 Abs. 1 lit. c) Amerikanische Menschenrechtskonvention (FN 36). 194 European Court of Human Rights, Series A, vol. 323 - Vogt v. Germany. 195 Bemerkungen zu Deutschland (E/C.12/1993/17), §§ 8, 12. 196 International Labour Conference, 80th Session 1993, Report of the Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations, S. 337 ff. 197 Es gibt Wirtschaftskommissionen für Afrika, Asien und den Fernen Osten, Europa, Lateinamerika und die Karibik sowie Wirtschafts- und Sozialkommissio-

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unten" verlagert, wo sie unter dem Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen relativ frei und erfolgreich arbeiten 1 9 8 . Ebenso sind die Weltgesundheitsorganisation und die Weltorganisation für Meteorologie verfahren 1 9 9 . Darüber hinaus stützt sich die Arbeit der universalen Organisationen weithin auf Staatengruppen, die Entscheidungen vorbereiten. Bei der Besetzung von Posten, insbesondere von Wahlämtern, ist dies formalisiert: die betreffenden Ämter (z.B. Mitgliedschaft im Sicherheitsrat oder im Wirtschafts- und Sozialrat) werden Staatengruppen zugeteilt, die jeweils ihre Kandidaten vorschlagen 200 (ohne dass das Plenum die Vorschläge stets akzeptieren würde).

IV. Völkerrechtsimmanente Ausformungen des Subsidiaritätsprinzips In den vorhergehenden Abschnitten war bereits verschiedentlich von den Kompetenzen der einzelnen Entscheidungsträger und dem Schutz ihrer jeweiligen Sphäre i m Rahmen des Völkerrechts die Rede. Im Folgenden gilt es systematisch zu zeigen, wie sich bei der Entstehung, der Ausgestaltung, der Auslegung und dem Geltungsbereich des Völkerrechts das Subsidiaritätsprinzip verwirklicht.

1. Völkerrecht als Selbstverpflichtung der Staaten contra Weltgesetzgebung

Die unterste, aktiv völkerrechtsgestaltende Ebene ist die der Staaten; und auf ihr werden mangels eines Weltgesetzgebers i n aller Regel die völkerrechtlichen Normen geschaffen. Das allein ist schon - wie bereits bemerkt - Ausdruck des Subsidiaritätsgedankens. Wenn dieses Prinzip aber auf Selbstbestimmung und Selbstentfaltung zielt, kommt es darauf an, inwieweit jeder einzelne Staat an der Bildung von Völkerrecht beteiligt ist, welchen Spielraum er dabei hat und inwieweit er die Geltung von Völkerrechtsnormen ihm gegenüber vermeiden bzw. sich aus Verpflichtungen wieder lösen kann. nen für Asien und den Pazifik, Westasien (Nachweise bei Günther Jaenicke, zu Art. 7 Rn. 14, in: Simma [FN 28]). 198 Paul C. Szasz/Jan Willisch, Regional Commissions of the United Nations, in: Bernhardt (FN 9), vol. IV (2000), S. 105. 199 vgl. Verdross /Simma (FN 3), §§ 322 bzw. 351. 2°o Ausführlich dazu Sabine Bennigsen, Block- und Gruppenbildung, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Handbuch Vereinte Nationen, 2. Aufl. 1991, S. 62-70.

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a) Vertragsrecht

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aa) Vertragsschluss durch Staaten Völkerrechtliche Verträge kommen zustande durch die Zustimmung der vertragschließenden Parteien, an einen Vertrag gebunden zu sein (Art. 11 Wiener Vertragsrechtskonvention). Ein solcher Vertrag bleibt in seiner Wirkung auf die vertragschließenden Parteien begrenzt; Pflichten und Rechte Dritter können nur mit deren Zustimmung begründet werden (Art. 34 - 36 Wiener Vertragsrechtskonvention). Dies führt dazu, dass völkerrechtliche Normierung durch Verträge nicht welteinheitlich erfolgt - es gibt keinen einzigen Vertrag, an den alle Staaten gebunden sind - , sondern nur für die jeweiligen Vertragsparteien. Das hat zur Folge, dass dieselbe Materie von verschiedenen Staaten in unterschiedlicher Weise vertraglich geregelt werden kann oder von einigen Staaten auch gar nicht geregelt wird. Es bleibt somit jedem Staat selbst überlassen, inwieweit und wie er sich gegenüber anderen bindet. Im Zusammenhang mit den Gemeinschaftsräumen ist freilich schon darauf hingewiesen worden, dass zum Teil einzelne Staaten vertraglich den Status und die Nutzung von solchen Gemeinschaftsräumen mit dem Anspruch regeln, damit ein objektives und gegen alle gültiges Regime zu schaffen. So ist es etwa bezüglich des Tiefseebodens, einiger Fischfanggebiete und der Antarktis geschehen. Die Vertragsstaaten schlüpfen damit in die Rolle von Treuhändern, die i m Staatengemeinschaftsinteresse tätig werden 2 0 2 . Dabei verstehen sie es, durch Anreize und Druckmittel Drittstaaten dazu zu bringen, die Regeln zu beachten 2 0 3 , ohne sie allerdings wirklich binden zu können.

201 Die folgenden Ausführungen betreffen alle Völkerrechtssubjekte, die als Partei eines völkerrechtlichen Vertrages i n Betracht kommen. Völkerrechtliche Verträge werden zwar i n erster Linie, aber nicht nur von Staaten geschlossen. Soweit internationale Organisationen beteiligt sind, binden diese sich aber - mit Ausnahme supranationaler Organisationen - nur selbst, nicht auch ihre Mitgliedstaaten. Deshalb sind Verträge zwischen internationalen Organisationen keine Rechtsetzung über den Staaten; sie betreffen allein eigene Angelegenheiten der Organisationen selbst. Vertragsrecht ist daher immer Rechtsetzung auf niedrigster Ebene. 202 Völkerrechtliche Verträge sind keineswegs alle allein den individuellen Interessen der Vertragsparteien verpflichtet, sondern auch dem internationalen ordre public, auf den sie zum Teil sogar ausdrücklich Bezug nehmen (siehe Jochen Abr. Frowein, Das Staatengemeinschaftsinteresse - Probleme bei Formulierung und Durchsetzung, in: Staat und Völkerrechtsordnung, Festschrift für Doehring (1989), S. 219 ff. 203 Dazu Wolfrum (FN 135), S. 79.

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bb) Vorbehalte Bei multilateralen Verträgen haben die Vertragsparteien zudem die Möglichkeit, bis zum Zeitpunkt der Erklärung, an den Vertrag gebunden zu sein, Vorbehalte anzubringen, soweit das i m Vertrag nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist oder der Vorbehalt mit Ziel und Zweck des Vertrags unvereinbar ist (Art. 19-23 Wiener Vertragsrechtskonvention). Damit w i r d sozusagen ein Ausgleich dafür geschaffen, dass der Einfluss einer einzelnen Vertragspartei auf die inhaltliche Ausgestaltung der einzelnen Vertragsbestimmungen in einer größeren Verhandlungsrunde mit mehreren Vertragspartnern reduziert ist. Um möglichst vielen Vertragsparteien dennoch die Zustimmung zu dem Vertrag zu erleichtern, kann jede Partei durch den Vorbehalt seine Verpflichtungen aus dem Vertrag im Verhältnis zu den anderen Vertragsparteien teilweise ausschließen oder ändern (Art. 21 Wiener Vertragsrechtskonvention). Dies gibt jeder Vertragspartei ein hohes Maß an Flexibilität und erlaubt es, eigenen Vorstellungen Geltung zu verschaffen. Soweit Vorbehalte nicht ausdrücklich zugelassen sind, bedürfen sie jedoch der Annahme durch die anderen Vertragsparteien 204 . cc) Vertragsänderung und -ergänzung durch Mehrheitsbeschluss, Rechtsetzung durch internationale Organisationen In eng begrenzten Ausnahmefällen können jetzt auch völkervertragliche Bindungen ohne oder sogar gegen den Willen eines Staates entstehen. So sieht etwa Art. 108 UN-Charta vor, dass Änderungen der Charta von einer Zweidrittelmehrheit i n der Generalversammlung beschlossen werden und für alle Mitglieder i n Kraft treten, wenn diese Änderungen von zwei Dritteln (einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats) ratifiziert worden sind. Ähnliche Regelungen finden sich auch i n den Satzungen anderer Organisationen 205 , zum Teil auch in Verträgen, die den Status eines Gebiets festlegen oder sonst ein objektives Rechtsregime schaffen sollen 2 0 6 .

204 Zu der schwierigen Problematik, i n welchem Umfang ein Vertrag bei einem Einspruch gegen einen Vorbehalt gilt, siehe Art. 20 und 21 Abs. 3 Wiener Vertragsrechtskonvention sowie Wolff Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (FN 34), S. 143-146. 205 Vgl. Art. 41 lit. c) Satzung des Europarats; weitere Beispiele bei Krzysztof Skubiszewski, International Legislation, in: Bernhardt (FN 9), vol. II, S. 1255 (1256). 206 Vgl. Art. 155 Abs. 4, 316 Abs. 5 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (FN 81).

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In anderen Fällen treten mehrheitlich beschlossene Regelungen für alle Mitgliedstaaten einer internationalen Organisation oder für alle Vertragsparteien in Kraft, soweit sie nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eine gegenteilige Erklärung abgegeben haben (opting out). Zum Beispiel kann die Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch Mehrheitsbeschluss auf diese Weise u. a. Vorschriften (regulations) zur Seuchenbekämpfung erlassen 207 . In diesen wenigen Fällen w i r d - auf der Grundlage vorgängiger vertraglicher Regelungen, die die davon betroffenen Staaten einverständlich getroffen haben - die völkervertragliche Rechtsetzung auf die Staatengemeinschaftsebene hochgestuft. Diese handelt durch bestimmte Mehrheiten von Staaten, was die Rechtsetzung erleichtert und das Verfahren verkürzt. Auf diese Weise können für notwendig oder gar dringlich erachtete Rechtsanpassungen schneller in Kraft treten, da einzelne retardierende Staaten den Prozess nicht zu hemmen vermögen und nicht der langsamste Staat das Tempo der Karawane bestimmt. Zugleich lässt sich trotz einzelner widerstrebender Staaten die Rechtseinheit wahren, die für den transnationalen Verkehr i n einer globalisierten Welt zum Teil wünschenswert, im Satzungsrecht internationaler Organisationen unumgänglich ist. dd) Grenzen der Vertragsfreiheit Die Dispositionsfreiheit der Staaten beim Abschluss 2 0 8 von völkerrechtlichen Verträgen findet ihre Grenze zum einem bei den Staatengemeinschaftsgütern 209 . Die betreffenden Regelungen werden - wie schon erwähnt - als ius cogens angesehen. Dies sind nach der Definition von Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention Normen des allgemeinen Völkerrechts, „die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt" werden als Normen, von denen „nicht abgewichen werden darf .. . " 2 1 0 . Was aber auf der Ebene der Staa207 Art. 21 f. i.V.m. Art. 60 WHO-Satzung (BGBl. 1974 II, S. 43); ähnlich kann der Rat der Internationalen Zivilluftfahrtsorganisation (ICAO) Richtlinien (standards) zur Erhöhung der Sicherheit des Luftverkehrs erlassen, deren Geltung die Staaten für sich ausschließen können, Art. 54 lit. 1 i.V.m. 52 und 38 Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt (BGBl. 1956 II, S. 411). Siehe auch Art. 10 Abs. 2 des Wiener Übereinkommens zum Schutz der Ozonschicht bezüglich weiterer Anlagen zu dem Vertrag oder seinen Protokollen (BGBl. 1988 II, S. 92); weitere Beispiele bei Skubiszewski (FN 205), S. 1257 f. 208 Dies bezieht Vorbehalte ein, die bezüglich des Vertrags erklärt werden und Abweichungen von ius cogens erlauben sollen, dazu Jochen Abr. Frowein, Reservations and the International ordre public, in: Jerzy Makarczyk (Hrsg.), Theory of International Law at the Threshold of the 21st Century: Essays i n Honour of Krzysztof Skubiszewski (1996), S. 403 (411). 209 Dazu oben II.4.a) (S. 492).

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tengemeinschaft als Ganzer geregelt ist, kann nur auf dieser Ebene abgeändert werden, nicht von einzelnen Staaten allein. Damit würden die von der Staatengemeinschaft als unverzichtbar angesehenen Grundregeln des staatlichen Miteinanders angetastet 211 . Eine weitere Grenze für das Völkervertragsrecht ist die Charta der Vereinten Nationen, die als Verfassung der Staatengemeinschaft verstanden w i r d 2 1 2 und die alle aus ihr resultierenden Verpflichtungen mit Vorrang vor sonstigem Völkerrecht ausstattet (Art. 103 UN-Charta). Auch hier gilt, dass Rechtsänderungen nur im Wege einer Änderung der Charta - also nur von einer großen Staatenmehrheit - herbeigeführt werden können, nicht aber von einzelnen Staaten.

ee) Lösung von vertraglichen Verpflichtungen Neben der stets möglichen, einverständlichen Beendigung oder (vorübergehenden) Suspendierung 213 von Verträgen, können sich Staaten auch einseitig von ihren Bindungen lösen. Hierfür stehen die Kündigung oder der Rücktritt zur Verfügung, sofern der Vertrag dies ausdrücklich zulässt oder die Vertragsparteien eine Lösung vom Vertrag auf diese Weise zumindest beabsichtigt haben (Art. 54, 56 Wiener Vertragsrechtskonvention). Ist dies nicht der Fall, kann der Vertrag nur bei grundlegend veränderten Umständen (clausula rebus sie stantibus) einseitig beendet werden (Art. 62 Wiener Vertragsrechtskonvention).

210 Das ius cogens-Konzept hat sich mit der Wiener Vertragsrechtskonvention und dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Fall Barcelona Traction (FN 87) allgemein durchgesetzt, wenngleich sowohl i n der Begründung des zwingenden Charakters dieser Norm als auch i n deren tatbestandlicher Abgrenzung noch zahlreiche Unklarheiten verblieben sind, vgl. dazu Lauri Hannikainen, Peremptory Norms (lus Cogens) i n International Law: Historical Development, Criteria, Present Status (1988); Kadelbach (FN 124). 211 Ebenso Daniel E. Khan/Andreas Paulus, Gemeinsame Werte in der Völkerrechtsgemeinschaft, in: Ingo Erberich (FN 2), S. 217 (239). 212 Vgl. Lassa Oppenheim/Hersch Lauterpacht, International Law, Vol. I, 8. Aufl. 1955, S. 420; Alf Ross, Constitution of the United Nations: Analysis of Structure and Function (1950), S. 40; Simma (FN 88), S. 258-283; Tomuschat (FN 80), S. 8-18; ders., International Law as the Constitution of Mankind, in: International Law on the Eve of the Twenty-First Century (1997), S. 37-50; Verdross /Simma (FN 3), S. V I I f.; kritische Auseinandersetzung mit diesem Verständnis der UNCharta - den Verfassungsbegriff jedoch einseitig an das deutsche Verständnis im nationalen Recht anlehnend - bei Paulus (FN 84), S. 285-318. 213 Ein Beispiel für die Möglichkeit einverständlicher Suspendierung vertraglicher Verpflichtungen findet sich i n Art. 22 der Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten im Rahmen der Welthandelsorganisation, dazu oben II.4.c)aa) (S. 506) und F N 154.

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b) Völkergewohnheitsrecht Völkergewohnheitsrecht entsteht durch die vom Rechtsbewusstsein (opinio iuris sive necessitatis) getragene, internationale Ü b u n g 2 1 4 von Völkerrechtssubjekten 215 . Entgegen der schon auf Hugo Grotius und Christian W o l f f 2 1 6 zurückgehenden und von der sozialistischen Völkerrechtslehre wieder aufgegriffenen 217 pactum tacitum-Theorie bedarf es weder der Praxis noch der Rechtsüberzeugung aller Staaten der Welt oder einer bestimmten Region, um universelles oder regionales Völkergewohnheitsrecht entstehen zu lassen. Ohne hier auf Details eingehen zu müssen 2 1 8 , ist anerkannt, dass zumindest eine weit verbreitete Rechtsüberzeugung und Übung genügen 2 1 9 , wenn die übrigen Staaten sich verschweigen. Eine gewisse Majorisierung ist somit beim Völkergewohnheitsrecht möglich 2 2 0 , das daher dem Subsidiaritätsgedanken weniger Rechnung trägt als das Vertragsrecht. Die einzelnen Staaten können sich jedoch der Bindung an einen entstehenden Völkergewohnheitsrechtssatz entziehen, indem sie sich ihm beharrlich widersetzen (persistent objection) 2 2 1 . Der Widerspruch darf aber weder zeitlich noch räumlich beschränkt bleiben 2 2 2 .

214 Vgl. den Internationalen Gerichtshof im Fall North Sea Continental Shelf, ICJ Reports 1969, 3 (44): „Not only must the acts concerned amount to a settled practice, but they must also be such, or be carried out in such a way, as to be evidence of a belief that this practice is rendered obligatory by the existence of a rule of law requiring it. The need for such a belief, i.e., the existence of a subjective element, is implicit i n the very notion of the opinio iuris sive necessitatis. The States concerned must therefore feel that they are confirming to what amounts to a legal obligation."; ICJ Reports 1986, 14 (98) — Military and Paramilitary Activities i n and against Nicaragua: „The Court must satisfy itself that the existence of the rule i n the opinio iuris of States is confirmed by practice"; Restatement (Third) of the Foreign Relations Law (FN 40), § 102 (2): Völkergewohnheitsrecht „results from a general and consistent practice of States followed by them from a sense of legal obligation." 215 A n der Bildung von Gewohnheitsrecht sind nicht nur Staaten, sondern auch internationale Organisationen und deren zum Teil staatsunabhängigen Organe beteiligt, vgl. Schreuer (FN 58), S. 456. 216 Siehe hierzu Alfred Verdross, Entstehungsweisen und Geltungsgrund des universellen völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts, ZaöRV 29 (1969), 635 (636 f.). 217 Grigorij Tunkin, Völkerrechtstheorie (1972), S. 143 ff. 218 Vgl. dazu Verdross/Simma (FN 3), §§ 549-588. 219 ICJ Reports 1969, 3 (42 f.). 220 Jonathan I. Charney, Universal International Law, American Journal of International Law 87 (1993), 529 (536-538). 221 ICJ Reports 1951, 116 (131) - Fisheries. 222 Näher dazu Allott (FN 75), S. 39; Charney (FN 220), S. 538-542; Tomuschat (FN 78), S. 327-330.

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c) Allgemeine Rechtsgrundsätze Die gemäß Art. 38 Abs. 1 lit. c) des Statuts des Internationalen Gerichtshofs zu den Völkerrechtsquellen zählenden, allgemeinen Rechtsgrundsätze sind zwar nicht notwendig „staatenunabhängig", wohl aber weitgehend gelöst von einem aktuellen rechtsetzenden Willen. Dies gilt sowohl dann, wenn man Rechtsgrundsätze nach einem eher positivistischen Verständnis durch Vergleich der nationalen Rechtsordnungen und der ihnen zugrunde liegenden Leitprinzipien e r m i t t e l t 2 2 3 , als auch dann, wenn man sie von einem eher naturrechtlichen Ansatz aus dem Rechtsbewusstsein der zivilisierten Völker ableitet. Letzterer wurde bereits im Redaktionskomitee für das Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs vertreten 2 2 4 und w i r d jetzt wieder vom Internationalen Gerichtshof aufgegriffen, wenn dieser etwa auf „certain general and wellrecognized principles, namely: elementary considerations of human i t y " 2 2 5 rekurriert oder Billigkeit und Gerechtigkeit i n das Völkerrecht inkorporiert: „Equity as a legal concept is a direct emanation of the idea of justice. The Court whose task is by definition to administer justice is bound to apply it. ...; the legal concept of equity is a general principle directly applicable as l a w . " 2 2 6

Lediglich wenn man es genügen lässt, dass sich die Anerkennung eines allgemeinen Grundsatzes auch unabhängig von der nationalen Rechtsetzung etwa i n Gestalt einer einverständlich oder doch nahezu einverständlich und mit rechtsbegründendem Willen angenommenen Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen äußern k a n n 2 2 7 , kommt ein starkes volitives Element zum Tragen, an dem auch alle Staa223 i n diesem Sinne etwa Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (FN 34), S. 199. 224 Nachweise bei Fastenrath (FN 19), S. 101. 225 ICJ Report 1949, 4 (22) - Corfu Channel; ähnlich nimmt der I G H im Nicaragua-Fall Bezug auf „fundamental general principles of humanitarian law", ICJ Reports 1986, 14 (113 f.). 226 ICJ Reports 1982, 18 (60) - Continental Shelf (Tunisia/Libyan Arab Jamahiriya); ebenso ICJ Reports 1985, 13 (39) - Continental Shelf (Libyan Arab Jamahiriya/Malta); vgl. auch Restatement (Third) of the Foreign Relations Law (FN 40), vol. I (1986), § 102, commentary, S. 29, wo unter den Völkerrechtsquellen aufgeführt wird: m. Equity as general principle. Reference to principles of equity, i n the sense of what is fair and just, is common to major legal systems and has been accepted as a principle of international law i n several contexts ... That principle is not to be confused w i t h reference to ,equity', and distinctions between law and equity as separate bodies of law, in Anglo-American jurisprudence." Vgl. auch Thür er (FN 132), S. 600 f., mit weiteren Beispielen aus der neueren Judikatur internationaler Gerichte. 227 So insbesondere Alfred Verdross, Les principes généraux dans le système des sources du droit international public, i n : Recueil d'études de droit international. En hommage Paul Guggenheim (1968), S. 521 (525 f.); Verdross /Simma (FN 3), §§ 606, 639; Dahm/Delbrück/Wolf rum (FN 43), S. 66 (mit dem Vorbehalt, dass der Grundsatz auch tatsächlich angewandt wird).

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ten gleichermaßen beteiligt sind. Dieser Auffassung ist die Zustimmung jedoch weitgehend versagt geblieben, da die Generalversammlung der Vereinten Nationen so zu einem Weltgesetzgeber werden könnte 2 2 8 . Unverkennbar tendiert die Rechtsquellenlehre i m Völkerrecht jedoch zur Aufweichung „harter" Kriterien. So ist etwa die Lehre vom „instant customary l a w " 2 2 9 , die von einer spontanen Entstehung von Gewohnheitsrecht allein durch die Entwicklung einer entsprechenden Rechtsüberzeugung und eventuell einer einzigen Bestätigung der Regel durch Staatenpraxis ausgeht 2 3 0 , nicht weit entfernt von einer gesetzgeberischen Rolle der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Verschiedene Konsenstheorien sprechen ihr diese Rolle uneingeschränkt z u 2 3 1 . d) Sekundäres Organisationsrecht Unbestritten können Organbeschlüsse internationaler Organisationen jedoch i n bestimmten Fällen verbindliches Völkerrecht schaffen. Dies gilt zum einen für das interne Organisationsrecht, etwa den Erlass von Verfahrensregeln oder die Aufstellung von Programmen für die Tätigkeit der Organisation. Dieser Bereich ist aus dem Blickwinkel des Subsidiaritätsprinzips allerdings uninteressant. Anders verhält es sich, wenn der Organisation in der Satzung die Kompetenz eingeräumt wird, auch im Außenverhältnis gegenüber ihren M i t gliedern Recht zu setzen. Bekanntestes Beispiel dafür ist neben den supranationalen Organisationen, die hier nicht zu behandeln sind, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Er kann verbindliche Beschlüsse fassen, die gemäß Art. 25 UN-Charta von den Mitgliedstaaten zu befolgen sind. Da die Befolgungspflicht eine Verpflichtung aus der Charta ist, geht sie sogar nach Art. 103 UN-Charta anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen vor. Der Sicherheitsrat kann damit als Staatengemeinschaftsorgan über den Staaten völkerrechtsverbindlich agieren. 228 Diese Kompetenz ist der Generalversammlung nur vereinzelt zugesprochen worden, etwa von T. Olawale Elias, Modern Sources of International Law, in: Transnational Law i n a Changing Society: Essays i n Honor of Philip C. Jessup (1972), S. 34 (51); etwas zurückhaltender Richard Falk, On the Quasi-legislative Competence of the General Assembly, American Journal of International Law 60 (1966), 782 (785). 229 Bin Cheng, United Nations Resolutions on Outer Space: „Instant" International Customary Law?, Indian Journal of International Law 5 (1965), 23 ff. 230 So etwa Michael Akehurst, Custom as a Source of International Law, British Yearbook of International Law 47 (1974/75), 1 (13). Allgemein w i r d heute anerkannt, dass eine starke Rechtsüberzeugung schwache Praxisnachweise zu kompensieren vermag, vgl. Rudolf Bernhardt, Ungeschriebenes Völkerrecht, ZaöRV 36 (1976), 50 (66). 231 Näher dazu Fastenrath (FN 19), S. 110-114; zur quellentheoretischen Diskussion siehe dort auch S. 95-104, 114-119.

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Zum Schutz der Staatengemeinschaftsgüter Frieden und Sicherheit erscheint die Anhebung der Entscheidungsbefugnis auf die Ebene der Staatengemeinschaft und die Ausschaltung der meisten Staaten vom Willensbildungsprozess 232 durchaus sachgerecht. e) Einseitige Rechtsgeschäfte Seit dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs i n den Nuclear TestsFällen 2 3 3 w i r d allgemein anerkannt, dass auch einseitige Rechtsakte, insbesondere Versprechen, völkerrechtlich verbindlich sein können 2 3 4 . Da immer nur der Handelnde sich selbst bindet, ist dem Subsidiaritätsgedanken hier i n vollendeter Weise Rechnung getragen. 2. Regelungstechniken und Grenzen des völkerrechtlichen Geltungsanspruchs

Der Umfang der staatlichen Bindung durch Völkerrecht hängt sowohl vom Inhalt der völkerrechtlichen Normen als auch von der Reichweite des völkerrechtlichen Geltungsanspruchs ab. Ersterer kann den Staaten mehr oder weniger Spielraum lassen (oder geben), letzterer bezieht sich auf das Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht und damit auf die Fähigkeit der Staaten, innerstaatlich die Befolgung von völkerrechtlichen Normen auszuschließen. In beiden Fällen geht es um die auf der unteren, einzelstaatlichen Ebene verbleibende Autonomie. a) Regelung zwischenstaatlicher Verhältnisse; unmittelbar nicht unmittelbar anwendbares Völkerrecht

und

Am wenigsten w i r d die staatliche Sphäre durch Regelungen berührt, die das Verhältnis der Staaten untereinander betreffen wie das Gewaltund Interventionsverbot oder der diplomatische Verkehr. Dies ist das klassische ius inter gentes, das Koexistenzrecht. I m Zeichen sich verstärkender Kooperation der Staaten ist das Völkerrecht aber immer mehr mit Normen angereichert worden, die Bürger begünstigen oder berechtigen und damit innerstaatliche Rechtsverhältnisse tangieren. Erste Beispiele dafür waren Niederlassungs-, Handels- und Schifffahrtsverträge. 232 Das heißt nicht, dass die Zusammensetzung des Sicherheitsrats nicht diskussionswürdig ist und diskutiert w i r d (vgl. Bardo Fassbender, U N Security Council Reform and the Right of Veto. A Constitutional Perspective [19981, S. 195 ff.). Unbestritten ist aber, dass dieses Organ um seiner Funktionsfähigkeit willen klein bleiben, d.h. die große Mehrheit der Staaten ausschließen muss. 233 ICJ Reports 1974, 253 ff., 457 ff. 234 Vgl. Fastenrath (FN 19), S. 104-106.

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Solche Verträge können i n unterschiedlicher Art ausgestaltet werden. Sie können zum einen die vertragschließenden Staaten verpflichten, in ihren nationalen Rechtsordnungen sicherzustellen, dass die im Vertrag vorgegebenen Ziele erreicht, die darin etwa vorgesehene Rechtsstellung von Ausländern begründet oder Rechte und Pflichten von Bürgern statuiert werden (sog. non self-executing treaties 2 3 5 ). Hier bleibt den Staaten den Subsidiaritätsgedanken aufnehmend - ein mehr oder weniger großer, ihre Souveränität schonender Ausgestaltungsspielraum. Dieser w i r d ihnen genommen bei den sog. self-executing treaties 2 3 6 . Sie weisen eine solche Regelungsdichte auf, dass sie ohne ergänzende, nationale Normsetzung für Gerichte und Verwaltung anwendungsfähig sind. Den Staaten bleibt also nichts als die Ausführung des Vertrags. In der völkerrechtlichen Normsetzung gibt es einen deutlichen Trend zu immer detaillierteren und unmittelbar anwendbaren Regelungen. Dies ist nicht nur den stark gestiegenen Austauschbeziehungen zwischen den Staaten geschuldet, auf die sich - selbst geringfügig - unterschiedliches nationales Recht hemmend auswirkt. Vielmehr sind die Staaten zunehmend zusammengewachsen und haben ein einheitliches Rechtsbewusstsein entwickelt. Dies lässt sich gut an der Entwicklung des Sklavereiverbots zeigen: Die im Anhang X V zur Wiener Kongressakte enthaltene „Déclaration des puissances sur l'abolition de la traite des nègres" 2 3 7 betont zwar, dass Sklaverei mit den Prinzipien der Humanität und der universellen Moral unvereinbar sei, beschränkt sich aber auf ein Versprechen, auf die Abschaffung des Sklavenhandels hinzuwirken. Die in der Folge abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge begnügten sich zunächst damit, die Handelswege auf Hoher See, d.h. auf staatsfreiem Gebiet zu unterbrechen 2 3 8 - eine Regel, die bis heute i n Art. 99 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen 2 3 9 fortbesteht. Bis hin zur letzten großen Vereinbarung auf diesem Gebiet, der Brüsseler Generalakte von 1890 2 4 0 , ging es immer nur um das Verbot des Sklavenhandels, nicht der Sklaverei selbst. Die innerstaatlichen Verhältnisse waren damit gar nicht tangiert. Dies änderte sich erst mit dem Übereinkommen betreffend die Sklaverei aus dem Jahr 1926 2 4 1 , das die Vertragsparteien zusätzlich zur Verhin235 Näher dazu Michael Schweitzer, Staatsrecht III, 7. Aufl. 2000, Rn. 439. 236 Näher dazu a.a.O., Rn. 438. 237 Parry (FN 9), vol. 63, S. 473. 238 Zur Geschichte des Sklavereiverbots siehe Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988, S. 651-672. 239 BGBl. 1994 II, S. 1799. 240 RGBl. 1892, S. 605.

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derung und Unterdrückung des Sklavenhandels verpflichtete, „ i n zunehmendem Maße und sobald als möglich auf die vollständige Abschaffung der Sklaverei i n allen ihren Formen hinzuarbeiten" (Art. 2 lit. b). Die Staaten mussten also, um die Sklaverei zu beenden, noch entsprechende Gesetze erlassen, wobei allerdings keine Fristen vorgegeben wurden. Ein unmittelbares Verbot der Sklaverei formulierte erst Art. 4 der A l l gemeinen Erklärung der Menschenrechte 242 von 1948 und später i n vertraglich verbindlicher Form Art. 8 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte 2 4 3 . b) Innerstaatliche

Wirkung

von Völkerrecht

Unmittelbare Anwendungsfähigkeit völkerrechtlicher Normen - neben Vertragsbestimmungen kommen hierfür auch Regelungen aus anderen Völkerrechtsquellen in Betracht - bedeutet aber noch nicht, dass man sich innerstaatlich auch darauf berufen kann. Denn über die hierfür notwendige innerstaatliche Geltung der völkerrechtlichen Normen entscheidet nicht das Völkerrecht, sondern das nationale Recht. I n Deutschland ist mit den Art. 25 und 59 Abs. 2 Satz 1 GG weitgehend 2 4 4 Vorsorge getroffen, dass unmittelbar anwendbare Völkerrechtsnormen auch innerstaatlich gelten und somit unmittelbar wirksam werden können. Dies ist aber nicht in allen Staaten so. I n England beispielsweise gilt das Völkergewohnheitsrecht zwar als „law of the land", ist also innerstaatlich ohne weiteres anwendbar, völkerrechtliche Verträge binden jedoch nur die Krone. Deren Inhalt w i r d erst durch die Aufnahme in ein parlamentarisches Gesetz innerstaatlich verbindlich 2 4 5 . Es ist allerdings fragwürdig, ob es weiterhin gerechtfertigt ist, die Entscheidung über die innerstaatliche Geltung von Völkerrecht durch die einzelnen Staaten, d.h. auf der untersten Entscheidungsebene treffen zu lassen. Wenn sich nämlich ein internationales ius cogens herausgebildet 241 RGBl. 1929 II, S. 63. 242 i n deutscher Übersetzung abgedruckt in: Simma/Fastenrath (FN 36), S. 5 ff. 243 A.a.O., S. 25. 244 Anderes gilt für Verwaltungsabkommen gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GG, die allerdings nur selten unmittelbar anwendbare Normen enthalten, da völkerrechtliche Verträge dadurch i n der Regel zu Gesetzgebungsverträgen i.S.d. Art. 59 Abs. 2 Satz GG werden (siehe dazu Ondolf Rojahn, Rn. 25 zu Art. 59, in: Ingo von Münch/Philip Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 5. Aufl. 2001). Auch verbindliche Beschlüsse des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gelten nicht unmittelbar i n Deutschland. Weiterhin gehen nach h.M. spätere Gesetze früheren Verträgen (bzw. den gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erlassenen Vertragsgesetzen) vor, so dass die dauerhafte Anwendung von völkerrechtlichen Verträgen im nationalen Rechtsraum nicht gesichert ist (vgl. Rojahn, a.a.O., Rn. 37). 245 Vgl. Dieter Blumenwitz, Einführung i n das anglo-amerikanische Recht, 6. Aufl. 1998, S. 59 ff.

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hat, das von der internationalen Staatengemeinschaft i n „ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt w i r d " und von dem „nicht abgewichen werden d a r f " 2 4 6 , diese Rechtsnormen also einen universalen Geltungsanspruch erheben, kann dieser nicht in deren Binnenbereich zur Disposition der Staaten stehen. Dies gilt umso mehr, als das ius cogens sich nicht in Normen für das zwischenstaatliche Verhältnis erschöpft (für das übrigens teilweise auch im nationalen Recht Vorsorge getroffen werden muss 2 4 7 ), sondern insbesondere mit den Menschenrechten ein gemeinsames Recht für die gesamte Menschheit schafft, womit das Völkerrecht zum Teil wieder zu einem ius gentium geworden ist. Schon dem Begriff nach, aber auch nach seinem Sinn und Zweck muss es i n den Staaten gelten - und zwar mit Vorrang vor dem nationalen Recht 2 4 8 . Die zunehmende Verschränkung von Völkerrecht und nationalem Recht legt ebenfalls ein Überdenken der Dichotomie von Völkerrecht und nationalem Recht nahe. Letzteres ist zu einem guten Teil durch ersteres determiniert oder auch umgekehrt: Völkerrecht ist zu einem guten Teil international abgestimmte, nationale Gesetzgebung 249 . Funktional bildet beides insoweit eine Einheit. Weiterhin verliert i m Zeichen der Globalisierung, wie schon erwähnt, die staatliche Binnen-/Außendifferenzierung an Bedeutung 2 5 0 . Die transnationalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen lassen sich - unter Absicherung durch das Völkerrecht - an den staatlichen Grenzen nicht mehr aufhalten. Die Staaten geraten so i n wechselseitige 246 Art. 53 Wiener Vertragsrechtskonvention. 247 So bringt das Interventionsverbot nach den konkreten Ausformungen, wie sie i n der Friendly Relations-Declaration (FN 66) formuliert sind, staatliche Verhinderungspflichten mit sich, etwa die Verhinderung subversiver oder terroristischer Übergriffe auf fremdes Staatsgebiet. Insoweit muss sich ein Staat also gesetzliche Eingriffsmöglichkeiten verschaffen und sie auch innerstaatlich umsetzen. 248 Ebenso Stephan Hobe, in: Karl Heinrich Friauf/Wolfram Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz (Loseblatt), Art. 25 Rn. 33; siehe dazu auch Fastenrath, Die „Internationalisierung" des deutschen Grundgesetzes - wie weit trägt die Entgrenzung des Verfassungsstaats?, in: Rainer Pitschas/Shigeo Kisa (Hrsg.), Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts (erscheint demnächst); Daniel Thürer, Internationales „Rule of Law" - innerstaatliche Demokratie, Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht 4 (1995), 455 (464466). Der hier vertretenen Auffassung folgend lässt Art. 139 Abs. 3 der schweizerischen Bundesverfassung (AS 1999, S. 2556) keine Volksinitiativen zu, die zwingendes Völkerrecht verletzen. 249 Dazu Wilfried Fiedler, Quantitative und qualitative Aspekte der Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in völkerrechtliche Verträge, in: Rudolf Geiger (Hrsg.), Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht vor dem Hintergrund zunehmende Verdichtung der internationalen Beziehungen (2000), S. 11 (13-15); vgl. auch Fastenrath (FN 248); Paul Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung, DVB1. 1999, 637 (646 f.). 250 Dazu Fastenrath (FN 26), S. 18-24, 32-51, 62-70; ders. (FN 248); Thürer (FN 248), S. 457 ff.

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Abhängigkeit voneinander, der einzelstaatliche politische und rechtliche Gestaltungsspielraum w i r d eingeschränkt. Der Souveränitätsbegriff, der die Systemgrenze zwischen staatlicher Binnen- und Außensphäre rechtlich wie politisch m a r k i e r t 2 5 1 , also auch die Systemgrenze zwischen Völkerrecht und nationalem Recht, w i r d immer mehr zu einer formalen Größe. Es ist daher an der Zeit, die Ausdifferenzierung von Entscheidungsebenen, angefangen von der einzelstaatlichen über die staatengemeinschaftliche (bi-, multi- oder omnilateral) bis hin zur organschaftlichen im Rahmen internationaler Organisationen, als funktionale Differenzierung eines umfassenden politisch-rechtlichen Systems zu sehen. Die Konsequenz wäre eine monistische Sichtweise des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht 2 5 2 mit zumindest teilweiser, unmittelbarer und vorrangiger Geltung des Völkerrechts im nationalen Recht 2 5 3 . Die dualistische Sichtweise ist ein K i n d des Nationalismus, der Triepel in Deutschland bezeichnenderweise an der Wende zum 20. Jahrhundert zum Durchbruch verholfen h a t 2 5 4 . 3. Grundsatz der Selbstinterpretation

Völkerrechtssätze sind - wie alle anderen Rechtssätze auch - interpretationsfähig und -bedürftig. Das gilt gleichermaßen für Vertragsbestimmungen und einseitige Willenserklärungen wie für Völkergewohnheitsrechtssätze und allgemeine Rechtsgrundsätze 255 . Selbst eindeutig erscheinende Formulierungen bedürfen der Auslegung. Denn entgegen der auf Emer de Vattel zurückgehenden acte c l a i r - D o k t r i n 2 5 6 ist die Eindeutigkeit des Wortsinnes i n einem bestimmten Rechtssatz nicht der Anfang, sondern das Ergebnis eines Interpretationsprozesses 257 . Bezüglich völkerrechtlicher Verträge ergibt sich das schon daraus, dass sie das Ergebnis eines Willensbildungsprozesses sind und dem staatlichen Willen des251 Siehe Dieter Wyduckel, Rechts- und staatstheoretische Voraussetzungen und Folgen des Westfälischen Friedens, in: Olav Moorman van Kappen/Dieter Wyduckel (Hrsg.), Der Westfälische Friede in rechts- und staatstheoretischer Perspektive, Rechtstheorie 29 (1998), S. 211. 252 Näher dazu Schweitzer (FN 235), S. 10-16. 253 Ebenso Allott (FN 75), S. 37 f.; vgl. auch Thürer (FN 248), S. 468-474; bzgl. völkerrechtlicher Verträge i.E. ebenso Klaus Vogel, Wortbruch im Verfassungsrecht, JZ 1997, 161-167. 254 Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht (1899). 255 Zur Interpretationsfähigkeit des Gewohnheitsrechts und der allgemeinen Rechtsgrundsätze auf Grund ihrer Verbalisierung siehe Fastenrath (FN 19), S. 206210. 256 de Vattel (FN 7), Buch II, Kap. XVII, § 263. 257 Fastenrath (FN 19), S. 182 mit weiteren Nachw.; a.A. Rudolf Bernhardt, Interpretation in International Law, in: ders. (FN 9), vol. II, S. 1416 (1420, 1425).

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halb bei der Auslegung eine erhebliche Bedeutung zukommt. So ist nach Art. 31 Abs. 4 Wiener Vertragsrechtskonvention abweichend vom objektiven Erklärungswert einem Ausdruck eine besondere Bedeutung beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben. Nach Art. 31 Abs. 3 sind Auslegungsvereinbarungen zwischen den Vertragsparteien ebenso zu berücksichtigen wie die Anwendung des Vertrags, i n der sich das Normverständnis der Parteien offenbart. Völkerrechtssätze bieten aus verschiedenen Gründen i n der Regel einen besonders breiten Interpretationsspielraum: (1) Ihre normative Dichte ist üblicherweise deutlich geringer als die staatlicher Gesetze. (2) Verträge sind zumeist zwei- oder mehrsprachig abgefasst, Gewohnheitsrechtssätze und allgemeine Rechtsgrundsätze gibt es in zahllos vielen sprachlichen Fassungen; wegen der fehlenden Deckungsgleichheit von Begriffen in verschiedenen Sprachen ist die begriffliche Klarheit im Völkerrecht vermindert. (3) Das Rechtsverständnis ist geprägt von den nationalen Rechtskulturen und deren Methoden; diese konkurrieren im Völkerrecht miteinander, woran auch die Auslegungsregeln in Art. 31 und 32 Wiener Vertragsrechtskonvention wegen deren Offenheit nur wenig ändern258. (4) Das Völkerrecht ist kein durchstrukturierter Korpus von rechtlichen Bestimmungen, sondern besteht zu einem großen Teil aus inhaltlich sehr unterschiedlichen Rechtsbeziehungen zwischen einzelnen Staat e n 2 5 9 , was die Ausbildung einer einheitlichen Dogmatik erschwert. (5) Es fehlt an einer generellen obligatorischen Gerichtsbarkeit; und selbst wo es sie gibt, scheuen die Staaten den Gang zu internationalen Gerichten oder Schiedsgerichten. Entsprechend wenig kann die internationale Gerichtsbarkeit zur Vereinheitlichung des Normverständnisses beitragen. 258 Vgl. den VI. Report der International Law Commission zum Entwurf der Vertragsrechtskonvention (Special Rapporteur Sir Humphrey Waldock ): „The Commission was fully conscious ... of the undesiderability - if not impossibility of confining the process of interpretation w i t h i n rigid rules, and the provisions ... when read together, as they must be, do not appear to constitute a code of rules incompatible w i t h the required degree of flexibility. ... In a sense, all ,rules' of interpretation have the character of »guidelines' since their application in a particular case depends so much on the appreciation of the context and the circumstances of the point to be interpreted." (Yearbook of the International Law Commission 1966, vol. II, S. 51 [94 para. 1]); siehe auch Fastenrath (FN 19), S. 201 mwN. 259 Zur Einheit und zum „System" des Völkerrechts siehe Fastenrath (FN 19), S. 149-151.

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Mangels einer übergeordneten rechtsanwendenden oder kontrollierenden Instanz haben die Normadressaten die Völkerrechtssätze selbst zu interpretieren und können dabei die ihnen gegebenen Spielräume nutzen. Letztlich können sie aber noch darüber hinausgehen. Da jedes Völkerrechtssubjekt für die Durchsetzung seiner Rechte selbst verantwortlich ist, steht es ihm grundsätzlich frei, auf Rechte zu verzichten oder im Streitfall Kompromisse auszuhandeln. Individuelle Anwendung oder auch Abweichungen vom Recht bleiben damit im Einzelfall mögl i c h 2 6 0 . Dass darüber auf der untersten Ebene entschieden werden kann, trägt dem Subsidiaritätsgedanken Rechnung. Selbst wo es mit einer obligatorischen Gerichtsbarkeit die Möglichkeit zu autoritativen Bedeutungsfestsetzungen gibt, w i r d diese nicht i n vollem Umfang genutzt. So gesteht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Staaten häufig eine „margin of appreciation" z u 2 6 1 und lässt damit - dem Subsidiaritätsprinzip folgend - auf der unteren Entscheidungsebene divergierende Rechtsvorstellungen gelten. Andererseits gibt es auch durchaus auf eine Vereinheitlichung des Normverständnisses zielende Tendenzen. Eine besondere Rolle spielt dabei das sog. soft law, das zwar als solches kein verbindliches Recht ist, aber völkerrechtliche Begriffe definieren oder abstrakte Rechte und Pflichten konkretisieren kann. Beispielhaft seien hierfür genannt die KSZE-Schlussakte 2 6 2 , die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Resolutionen: „Universal Declaration of Human R i g h t s " 2 6 3 , die Friendly Relations-Declaration 2 6 4 , die „Definition of Aggression" 2 6 5 und die Resolution über die „Inadmissibility of Intervention in the Domestic Affairs of States and the Protection of their Independence and Sovereignty" 2 6 6 . Generell hat sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen zu einem Sprachrohr der Staatengemeinschaft entwickelt und zu einem Platz, an dem Verständnishorizonte 260 Dazu bereits oben IV.l.a)ee) (S. 520). 261 Vgl. etwa Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Series A 24, S. 22 Handyside; i n diesem Sinne auch die Wiener Erklärung und Aktionsprogramm der Weltmenschenrechtskonferenz von 1993, wo zwar die Verpflichtung der Staaten zur Einhaltung der Menschenrechte wiederholt, zugleich aber darauf hingewiesen wird, dass „the significance of national and regional peculiarities and various historical, cultural and religious backgrounds must be borne in mind" (World Conference on Human Rights, The Vienna Declaration and Programme of Action, 1993, S. 30; deutsche Übersetzung in: Europa-Archiv 1993, D 498 [500]). 262 Abgedruckt in: Fastenrath (FN 146), A . l . 263 Abgedruckt in: Simma/ Fastenrath (FN 36), S. 5 ff. 264 Siehe F N 66. 265 Resolution 3314 (XXIX) der UN-Generalversammlung, General Assembly Official Records, 29th Session, Supp. No. 31, S. 142 ff. 266 Resolution 2131 (XX) der UN-Generalversammlung, General Assembly Official Records, 20th Session, Supp. No. 14, S. 11 ff.

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angeglichen werden. Dies prägt auch die Interpretation der Völkerrechtssätze 2 6 7 . Insoweit w i r d den Staaten durch „Sprachregelungen" auf der Staatengemeinschaftsebene Bewegungsspielraum genommen 2 6 8 . Für einen reibungslosen Ablauf der Austauschbeziehungen zwischen den Staaten ist dies auch umso notwendiger, je stärker sie werden. Eine Angleichung der Verständnishorizonte und Definition völkerrechtlicher Begriffe findet aber nicht nur auf der „höheren" Staatengemeinschaftsebene statt, sondern kommt sozusagen auch von unten: von der „community of international lawyers". M i t ihren Schriften führen sie einen weltweiten Diskurs, der das Völkerrecht mitprägt; die opinio iuris doctorum ist weit mehr als ein von Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut konzediertes „Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen" 2 6 9 . An diesem internationalen Meinungsbildungsprozess wirken darüber hinaus andere Personen und Organisationen mit wie etwa die Nichtregierungsorganisationen (NGOs). V. Zusammenfassung und Ausblick: Konstitutionalisierung des Völkerrechts und die Wiederkehr des ius gentium 1. Das Völkerrecht befindet sich i n einer Umbruchphase. Die alten, auf der souveränen Gleichheit der Staaten beruhenden, „privatrechtlichen" Strukturen des Völkerrechts werden zunehmend überlagert durch öffentlich-rechtliche Elemente. Dieser public law-approach zeigt sich zum einen in der Einführung eines rechtlichen Stufenbaus mit dem ius cogens an der Spitze, darunter die mit Vorrang ausgestattete Charta der Vereinten Nationen und dann das „einfache" Völkerrecht sowie das sekundäre Organisationsrecht. M i t diesem Stufenbau zieht ein verfassungsrechtliches Denken i n das Völkerrecht e i n 2 7 0 . Es werden einzelne Rechtsgüter und Leitziele der in267 Fastenrath (FN 19), S. 178-181; ders., Relative Normativity i n International Law, European Journal of International Law 4 (1993), 305 (312-315); Karl Zemanek, Is the Term ,Soft Law' convenient?, in: Hafner/Loibl/Rest/Sucharipa-Behrmann/Zemanek (Hrsg.), Liber amicorum Professor Seidl-Hohenveldern - in honour of his 8 0 t h birthday (1998), S. 843 (860 f.). Treffend spricht Schreuer (FN 58), S. 451 f., davon, dass ,,[t]he General Assembly of the United Nations has become the world's clearinghouse for ideas and sentiments w i t h an agenda covering practically all matters of international legal concern." 268 Zum Teil ist Organen internationaler Organisationen sogar eine allgemein verbindliche Interpretationskompetenz verliehen worden, so etwa dem Executive Board des International Monetary Fund (Art. 29 IMF-Statut; BGBl. 1952 II, S. 638; Neufassung von 1976: BGBl. 1978 II, S. 13), den Direktoren und dem Gouverneursrat der Weltbank (Art. I X Gründungsabkommen; BGBl. 1952 II, S. 664), dem Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Hercegowina (Art. V Agreement on the Civilian Implementation of the [Dayton] Peace Settlement; International Legal Materials 1996, S. 110). 269 Ausführlich dazu Fastenrath (FN 19), S. 123 f.

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ternationalen Gemeinschaft mit höherer Geltungskraft verankert, die den Handlungsspielraum der einzelnen Völkerrechtssubjekte einengen und damit die Frage nach der Subsidiarität i m Völkerrecht sinnvoll erscheinen lassen. Welche Regelungen sollen auf der universalen, regionalen oder sonst partikulären Staatengemeinschaftsebene - möglicherweise ohne Lösungsmöglichkeit der einzelnen Staaten aus den betreffenden Verpflichtungen - getroffen werden bzw. inwieweit soll den Staaten ein Bewegungsspielraum verbleiben? Dass diese Frage für die grundlegenden egeln staatlichen und menschlichen Miteinanders sowie für die gemeinsamen Leitvorstellungen über die künftige Entwicklung i n ersterem Sinne beantwortet wird, ist mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip nicht zu beanstanden. Diese Frage darf aber nicht auf die Rechtsetzungsebene begrenzt bleiben. In Betracht zu ziehen ist auch die Interpretations- und Anwendungsebene völkerrechtlicher Bestimmungen, die den Normadressaten Möglichkeiten individueller Adaptionen lässt. Die Globalisierung der Lebensverhältnisse führt allerdings zu einer Angleichung der Verständnishorizonte, die zum Teil auch autoritativ mittels soft law herbeigeführt wird, was eine Verminderung der einzelstaatlichen Anwendungsspielräume zur Folge hat. 2. Ausfluss verfassungsrechtlichen Denkens ist zweitens der Wandel der staatsfreien Gebiete zu Staatengemeinschaftsräumen. An die Stelle freier Nutzung durch die Staaten oder privater Personen t r i t t ein Nutzungsregime. Dessen Regelung auf Staatengemeinschaftsebene ist grundsätzlich gerechtfertigt, weil sich nur so eine Verteilungsgerechtigkeit knapp gewordener Güter erreichen lässt. Fraglich ist allerdings, wer mit welcher Verbindlichkeit solche Nutzungsregime erlassen kann. I n Betracht kommt ein gemeinschaftliches Handeln aller Staaten (was sich bislang als unerreichbar erweisen hat) oder die Betrauung eines internationalen Organs mit dieser Aufgabe, die aber einverständlich erfolgen müsste. A n diesem Erfordernis scheitert etwa die Legitimität der Meeresbodenbehörde, da die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen nicht von allen Staaten ratifiziert wurde. Es bleibt demnach nur die treuhänderische Festlegung eines Nutzungsregimes durch einzelne Staaten 2 7 1 . Dass diese i m Sinne des Gemeinwohls tätig werden wollen, lässt sich regelmäßig in den Präambeln entsprechender Verträge nachlesen. Für Staaten, die nicht Partei des vertrag270 Siehe dazu Jochen Abr. Frowein, Konstitutionalisierung des Völkerrechts, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 39 (2000), S. 427 ff.; Simma (FN 88), S. 221-384; Thürer (FN 248), S. 455-478. 271 Dazu Eckart Klein, Statusverträge i m Völkerrecht (1980), S. 131-224.

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liehen Nutzungsregimes sind, entsteht eine Bindung jedoch nur, wenn sie die Regelungen zumindest stillschweigend akzeptieren. Denkt man den public law-approach konsequent zu Ende, können nicht an das Nutzungsregime gebundene Staaten diesem aber nicht den (privatrechtlichen) Grundsatz der Staatenfreiheit aus dem Lotus-Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofs entgegen halten. Denn dem öffentlichrechtlichen Ansatz entspricht es, von einer territorial, personal und funktional definierten Kompetenzsphäre des Staates auszugehen, innerhalb derer sich die Ausübung seiner Hoheitsgewalt zu halten h a t 2 7 2 . Die Handlungsfreiheit des Staates besteht also nur insoweit, wie sie sich auf eine entsprechende Kompetenz stützen kann. Daran aber fehlt es i n Räumen, die einverständlich der Staatengemeinschaft zugeordnet wurden. 3. Drittens zeigt sich der public law-approach i n der Ausbildung von objektiven Rechtsregimen, die das Völkerrecht aus dem bilateralen Rechte-Pflichten-Verhältnis des Westfälischen Systems lösen. Beispiele hierfür sind nicht nur die Nutzungsregime für Staatengemeinschaftsräume, sondern insbesondere der internationale Menschenrechtsschutz und - noch in der Entwicklung - der globale Umweltschutz. Um solche Verpflichtungen operabel zu machen, bedarf es jedoch eines Organs, das das Gemeinschaftsinteresse durchsetzen kann. Die Staatengemeinschaft verfügt auf universaler Ebene mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aber nur i m Sicherheitsbereich über ein solches Organ, auf regionaler Ebene mit den Menschenrechtsgerichtshöfen auch im Bereich des Menschenrechtsschutzes. I m Übrigen bleibt nichts anderes, als alle Staaten zu Hütern der Gemeinschaftsinteressen zu machen, wie es sich i n dem Konzept der Verpflichtungen erga omnes niedergeschlagen hat. Nachdem die International Law Commission in der ersten Lesung ihrer Artikelentwürfe zur Staatenverantwortlichkeit noch jeden Staat auch zur zwangsweisen Durchsetzung solcher Verpflichtungen ermächtigte, räumt sie bei Verstößen gegen ius cogens den nicht in ihren eigenen Rechten verletzten Staaten nunmehr ausdrücklich nur noch das Recht ein, die Beendigung der Rechtsverletzung und eine Entschädigung der Geschädigten zu verlangen, lässt aber offen, ob ein Recht zur zwangsweisen Durchsetzung besteht oder sich entwickelt. Lediglich in Notstandsfällen dürfen alle Staaten eingreifen. Unabhängig davon, welcher dieser Lösungswege sich durchsetzt, ist doch offensichtlich, dass das materielle Völkerrecht hier Regelungen auf die Staatengemeinschaftsebene gehoben hat, ohne hinreichende organi272 Albert Bleckmann, Die Handlungsfreiheit der Staaten: System und Struktur der Völkerrechtsordnung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht 29 (1978), 173 (185 ff.); ders., Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre: Vom Kompetenz- zum Kooperationsvölkerrecht (1995), S. 821-844.

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satorische Vorkehrungen auf derselben Ebene zur Durchsetzung der Verpflichtungen zu treffen. Dies gilt i n gleicher Weise in den Fällen, in denen ein Staat nicht eine Verpflichtung, sondern ein Recht gegenüber der Staatengemeinschaft hat. Solange die Gemeinschaft abstrakt bleibt, ist nicht gesichert, dass die Staaten als deren Teil den Verpflichtungen nachkommen. 4. Ein weiteres Anwendungsfeld für den public law-approach werden viertens die transnationalen gesellschaftlichen Beziehungen sein. Diese sind nicht mehr eine Resultante der völkerrechtlichen Beziehungen zwischen sich grundsätzlich als abgeschlossen definierenden Staaten, weshalb die Welt sich auch nicht mehr adäquat als Staatengemeinschaft begreifen lässt. Transnationale Akteure sind vielmehr zu einem eigenständigen Bestandteil der „internationalen Gemeinschaft" 2 7 3 geworden; ihr Handeln können die Staaten einzeln oder auch in Kooperation miteinander nur noch begrenzt regulieren. Eine Lösung dieses Problems kann nur entweder i n einer völkervertraglich koordinierten Gesetzgebung aller (relevanten) Staaten oder i n einer unmittelbaren Bindung transnationaler Akteure an Völkerrecht gefunden werden. Da ersteres kaum erreichbar ist, gehen die Bemühungen in die zweite Richtung 2 7 4 . Eine Bindung etwa von Multinationalen Unternehmen an Menschenrechte, insbesondere auch an die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums verlangt jedoch nach Konkretisierungen. Die bisherigen Arbeiten an sog. codes of conduct 2 7 5 , die im Rahmen der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen geleistet wurden, sind in dieser Hinsicht allerdings wenig ermutigend. Prinzipiell erscheint es aber als der richtige Weg, mangels eines anderen Weltgesetzgebers diejenigen transnationalen Akteure unmittelbar dem Völkerrecht zu unterwerfen, die sich dem Zugriff der Staaten entziehen, i n denen sie agieren. Das Gleiche muss gelten, wenn Staaten ihre Kontrollfunktion vernachlässigen (z.B. sklavereiähnliche Zustände zulassen). Eine solche „Umgehung" des Staates und seiner Rechtsordnung ist gerechtfertigt, soweit die Fragmentierung der Welt in Staaten ihre Bedeutung verloren hat und Privatpersonen nicht mehr durch die Staaten mediatisierbar sind oder Staaten auf ihrem Territorium zwingendes Völkerrecht nicht um- und durchsetzen. Ein erster Schritt i n diese Richtung ist mit den crimina iuris gentium bereits getan. 273 Einen Überblick über die Konzeptionen der „internationalen Gemeinschaft" gibt Paulus (FN 84), S. 98-124. 274 Dazu Kirsten Schmalenbach, Multinationale Unternehmen und Menschenrechte, ArchVR 39 (2001), S. 57 (63 f.). 275 Dazu Ernst-Ulrich Petersmann, Codes of Conduct, in: Bernhardt (FN 9), vol. I (1992), S. 627-632.

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5. Die quantitativ eher spärlichen public law-Elemente des Völkerrechts: das ius cogens und die Charta der Vereinten Nationen sowie die objektiven Regime, bilden ein neues ius gentium. In dieses haben die Staaten sowohl ihr nationales Recht als auch ihre i n den klassischen völkerrechtlichen Formen des Westfälischen Systems mit wechselseitigen Rechten und Pflichten vollzogene zwischenstaatliche Kooperation einzupassen. Völkerrecht und nationales Recht sind damit Teile einer einheitlichen Rechtsordnung, in der zumindest das ius cogens nicht nur dem übrigen Völkerrecht, sondern auch dem nationalen Recht übergeordnet ist. In einer Zeit schwindender Binnen-/Außendifferenzierung des Staates ist es nicht zu verstehen, wenn nur ius cogens-widriges Völkerrecht nichtig sein sollte, nicht aber nationales Recht. Der Gedanke einer durch einen Souveränitätspanzer abgeschirmten Binnensphäre des Staates 2 7 6 ist nichts als eine Schimäre übersteigerten nationalstaatlichen Denkens: Souveränität gibt es immer nur im Rahmen des Völkerrechts, nicht gegen dieses. 6. M i t dem Wandel des materiellen Völkerrechts: der Ausbildung eines normativen Stufenbaus, der Zuordnung von Räumen und Rechtsgütern zur gesamten Menschheit und der Schaffung objektiven Rechts, hat das Organisationsrecht nicht Schritt gehalten. Staatengemeinschaftsorgane zur Sicherung und Durchsetzung des Gemeinwohls oder zur Verwaltung von Gemeinschaftsräumen fehlen weithin. Die zahlreichen internationalen Organisationen dienen ganz überwiegend der zwischenstaatlichen Koordination und sind damit den Interessen der Mitgliedstaaten verpflichtet. Auch zwischen den internationalen Organisationen gibt es keine Hierarchien. Damit bleibt der Schutz von Staatengemeinschaftsgütern und -räumen weitgehend den einzelnen Staaten überlassen, die sich i n einer Art actio popularis oder actio pro socio für das Gemeinwohl einsetzen. Trotz aller Gefahren, die mit der Selbsteinschätzung der Sach- und Rechtslage durch die jeweils handelnden Staaten verbunden sind, ist dies wohl unvermeidbar. Zu Recht sind die Staaten nicht bereit, sich das Heft aus der Hand nehmen zu lassen. Herrschaft lässt sich auf internationaler Ebene noch nicht hinreichend demokratisch legitimieren und demokratische Verantwortlichkeit nicht organisieren. Legitimations- und Verantwortlichkeitsdefizite gibt es freilich auch nach jetzigem Stand: Die Folgen des Handelns einzelner Staaten bzw. ihrer Organe haben nicht allein die deren Herrschaft legitimierenden Völker zu tragen 2 7 7 . 276 So Albert Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht (1975), S. 228. 277 Zu diesem Problemkreis Brun-Otto Bryde, Auf welcher politischen Ebene sind welche Probleme vorrangig anzugehen?, in: B. Sitter-Liver (Hrsg.), Herausgeforderte Verfassung: Die Schweiz im globalen Kontext (1999), S. 223 ff.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 537 - 562 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

SUBSIDIARITÄT UND SOUVERÄNITÄT ALS PRINZIPIEN GLOBALER RECHTLICHER UND POLITISCHER ORDNUNG Von Dieter Wyduckel, Dresden I. Jede moderne rechtliche und politische Ordnung bedarf des Rekurses auf einen kategorialen Fundus an Begriffen und Prinzipien, mit deren Hilfe sie sich Klarheit über ihr Regelsystem und ihr normatives Selbstverständnis verschafft. Sowohl die Subsidiarität als auch die Souveränität sind diesem Grundbestand als Ordnungs- und Differenzierungskategorien zuzurechnen, weil und insofern sie auf die Bauform, die Struktur und die Funktion rechtlich und politisch institutionalisierten menschlichen Gemeinschaftslebens verweisen, für dessen begrifflich-konzeptionelle Erfassung beide nicht nur bedeutsam, sondern offenbar unverzichtbar sind. Dabei zielen Subsidiarität und Souveränität auf Unterschiedliches, ja auf den ersten Blick Unvereinbares. Die erstere ist Ausdruck einer Ordnungsvorstellung, die durch die Pluralität verschiedener rechtlicher, politischer und gesellschaftlicher Ebenen charakterisiert ist, wohingegen die Letztere auf der Annahme beruht, dass nur eine Ebene, der Staat, das höchste und vor allem allein maßgebliche System rechtlicher Regelbildung und politischer Entscheidungsfindung darstellt. Weil dies so ist, sind Subsidiarität und Souveränität nicht ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen. Das lässt sich auch an ihrem kategorialen Status zeigen. Während w i r der Subsidiarität ohne weiteres den Charakter eines Prinzips zusprechen, w i r d die Souveränität gerade nicht als Prinzip, sondern als Dogma verstanden, so dass sie als etwas Unverrückbares erscheint. Die darin zum Ausdruck kommende Differenz ist, sofern man sie sich zu eigen macht, folgenreich, weil Prinzipien im Unterschied zu Dogmen, die gelten oder nicht gelten, i n höherem oder geringerem Maße erfüllt sein können, m.a.W. abwägungsfähig sind 1 . Bliebe es bei dieser Ausgangsbestimmung, wäre es in der Tat schwierig, Subsidiarität und Souveränität schlüssig auf einer Ebene zueinander i n Beziehung zu

ι Vgl. Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/Br. 1992, S. 120. Siehe auch Franz Reimer, Verfassungsprinzipien. Ein Normtyp im Grundgesetz, Berlin 2001 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 857), S. 174 f.

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setzen. Probleme scheinen dabei weniger im Subsidiaritätsprinzip als vielmehr im Souveränitätsbegriff zu liegen, vor allem dann, wenn man ihn in der bezeichneten rigiden Weise versteht. Jedoch ist dies keineswegs zwingend. Unter Souveränität w i r d seit jeher sehr Verschiedenes verstanden, so dass die Verwendung des Begriffs eine terminologische Klarheit und Geschlossenheit assoziiert, die so gar nicht gegeben ist 2 . Hinzu kommt, dass im Zeichen offener Staatlichkeit die Souveränität zunehmend als fragmentiert erscheint, ja ihr zentraler Bezugssubjekt, der Staat, selbst in Frage gestellt ist 3 . Vom Standpunkt des Subsidiaritätsprinzips stellen sich die Probleme nicht in gleicher Schärfe, weil die Subsidiarität weniger festgelegt ist als die Souveränität und von vornherein eine terminologische Bedeutungsbreite auf weist, unter die sich Vieles subsumieren lässt 4 . Zudem ist die Bezogenheit auf den Staat weniger eng, weil die Subsidiarität zum einen nicht existentiell auf diesen verweist und ihr zum anderen ein gesellschaftlich-gemeinschaftlicher Bezug eignet, der sie auch zum sozialphilosophischen Prinzip macht 5 . Damit ist noch nichts darüber gesagt, ob Subsidiarität und Souveränität auch einen über den Bereich staatlicher Ordnung hinausweisenden Bezug haben, m.a.W. globaler Erstreckung fähig sind. Was die Souveränität angeht, kann immerhin darauf verwiesen werden, dass sie über die nach Innen gerichtete Dimension hinaus auch eine äußere Erstreckung besitzt, also nicht nur binnendifferenzierend, sondern auch außendifferenzierend wirkt. Jedoch kommt ihr unter diesem Aspekt mehr abgrenzend-trennender als integrativer Charakter zu mit der Folge, dass eine Übertragung des Souveränitätsmodells auf andere, insbesondere interund transnationale Institutionalisierungen nicht ohne Weiteres i n Betracht gezogen werden kann.

2 Vgl. Wyduckel, La soberania en la historia de la dogmatica alemana, in: Ramon Punset (Hrsg.), Soberania e constitución, Oviedo 1998 (Fundamentos. Cuadernos monogrâficos de teoria del estado, derecho pùblico e historia constitucional, 1), S. 203 ff. 3 Michael W. Hebeisen, Souveränität i n Frage gestellt. Die Souveränitätslehren von Hans Kelsen, Carl Schmitt und Hermann Heller i m Vergleich, Baden-Baden 1995; Peter Saladin, Wozu noch Staaten? Zu den Funktionen eines modernen demokratischen Rechtsstaats in einer zunehmend überstaatlichen Welt, Bern 1995, S. 28 ff. Zurückhaltender Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten. Grundlinien einer Rechts- und Staatstheorie, Tübingen 1998, S. 125, der ungeachtet des Plädoyers für eine transmoderne Staatstheorie offenbar an der Souveränitätsidee als unverzichtbarem Baustein des modernen Staatsdenkens festhalten will. 4 Vgl. Arno Waschkuhn, Was ist Subsidiarität?, Opladen 1995, S. 10. 5 Vgl. Peter Koslowski, Subsidiarität als Prinzip der Koordination der Gesellschaft, in: Knut Wolfgang Nörr/Thomas Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit. Zur Reichweite eines Prinzips in Deutschland und Europa, Tübingen 1997, S. 39 ff.

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Das Subsidiaritätsprinzip scheint demgegenüber aufgrund seiner offeneren Struktur schon eher geeignet, über den je besonderen Staat hinaus Anwendung zu finden. Es zielt anders als das machtzentrierte Souveränitätsdogma gerade darauf ab, staatlicher Allgewalt und Anmaßung durch dazu geeignete organisatorische Maßnahmen nach Innen wie Außen vorzubeugen und lenkt so den Blick über den engeren Bereich des Staates hinaus und zwar in doppelter Weise: einmal in Richtung auf den Bereich der Gesellschaft (Binnenaspekt), zum anderen auf außer- und überstaatliche politische Institutionalisierungen (Außenaspekt), mit der Folge dass eine etatistische Verengung schon vom Ansatz her vermieden wird. Zwar ist das inzwischen auf europäischer Ebene verankerte Subsidiaritätsprinzip (Art. 3 b = Art. 5 neu EGV) nicht ohne weiteres aus einer ganz bestimmten rechtlichen oder sozialethischen Tradition herleitbar, doch deutet die darin institutionell angelegte Verflechtung von staatlichem und gemeinschaftlichem Recht auf eine wechselseitige Durchdringung der Rechtsebenen6, die hiermit sehr wohl vereinbar ist. Aber auch über den europäisch-regionalen Bezug hinaus scheint das Subsidiaritätsprinzip als allgemeines Strukturprinzip relevant zu sein. So wird seine Anwendung im Rahmen der Aufgabenverteilung auch i m internationalen System nicht ausgeschlossen, wenn und insofern die staatliche Problemlösungskapazität an Grenzen stößt 7 . Hierbei handelt es sich im hermeneutischen Vorgriff zunächst um erste Annahmen oder Hypothesen, die noch genauer zu belegen sein werden. Angestrebt ist nicht oder nicht i n erster Linie eine Untersuchung unter staats-, europa- oder völkerrechtlichem Aspekt, sondern vielmehr eine rechts- und staatstheoretische Analyse, die unter Einbeziehung ihrer politik- und gesellschaftstheoretischen Implikationen am Beispiel zweier grundlegender, rechtlicher und politischer Kategorien einen Bezugsrahmen für über den je einzelnen Staat hinausgehende Überlegungen skizzieren will. Wenn im Folgenden auf diesem Hintergrund Subsidiarität und Souveränität ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit als Prinzipien globaler rechtlicher und politischer Organisation erwiesen werden sollen, so sind, ausgehend von der Souveränitätsvorstellung, beide zunächst einmal je für sich auf ihren Status, ihre Genese und ihre Funktion hin zu untersuchen (II., III.), um alsdann danach zu fragen, unter welchen Voraussetzungen sie weltweit zueinander i n Beziehung gesetzt werden 6 Vgl. Roland Bieber, Subsidiarität im Sinne des Vertrages über die Europäische Union, in: Nörr/Oppermann, Subsidiarität (FN 5), S. 165 ff. (182). ? Vgl. Stephan Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz. Eine Studie zur Wandlung des Staatsbegriffs der deutschsprachigen Staatslehre im Kontext internationaler institutionalisierter Kooperation, Berl i n 1998 (Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für internationales Recht an der Universität Kiel, Bd. 122), S. 441.

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können und welche rechtlichen und politischen Folgerungen sich daran knüpfen lassen (IV.). II. Der Souveränitätsgedanke beruht auf der Annahme, dass ein gedeihliches menschliches Zusammenleben nur dann möglich ist, wenn eine zentrale Herrschaftsgewalt etabliert wird, die das Gemeinschaftsleben kraft ihres Steuerungs- und Zwangspotentials ordnet und lenkt. Nicht von ungefähr gilt die Gesetzgebungskompetenz, d.h. die Fähigkeit, allgemeine, für alle verbindliche Regeln aufzustellen, als ihr wichtigstes Merkmal 8 . Die Souveränität ist aufs Engste mit dem Staat als Ausdruck umfassender politischer Herrschaftsgewalt verknüpft bis hin zu der Annahme, dass Staatlichkeit ohne Souveränität a limine ausgeschlossen ist. Dies lässt sich auch an den Merkmalen ablesen, die der Souveränität zugeschrieben werden. Mit ihr w i r d das Zuhöchstsein, die Unabhängigkeit und die Ursprünglichkeit sowie die Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit staatlicher Entscheidungsgewalt nach Innen wie nach Außen assoziiert, ja sie w i r d als Voraussetzung staatlich-politischer Einheit überhaupt betrachtet. Die Souveränität erscheint so als Inbegriff der Einzigartigkeit des Staates als Herrschaftsform sowie der Einheit von Staat und Staatsgewalt 9 . Nach Innen gewandt bedeutet Souveränität das Zuhöchstsein im Staate insofern, als es neben der als souverän begriffenen Staatsgewalt eine gleiche andere Gewalt nicht geben darf 1 0 . Nach Außen gerichtet zielt die Souveränität auf die (Befehls-)Unabhängigkeit des Staates im Sinne der Freiheit von Weisungen anderer staatlicher Organisationen 11 . Wenn daher zwischen innerer und äußerer Souveränität unterschieden wird, so ist diese Unterscheidung zwar begrifflich ebenso möglich wie sachlich angezeigt, doch handelt es sich nicht um zwei verschiedene Souveränitäten, sondern um unterschiedliche Aspekte ein und desselben Phänomens, die unmittelbar aufeinander bezogen sind 1 2 . Das Souveränitätskonzept ist von seiner Genese her ein europäisches, das eng mit der Nationalstaatsbildung und der Idee einer hierarchisch8 Vgl. Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Frankfurt a.M. 1970, S. 333 ff. 9 Vgl. Karl Doehring, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Heidelberg 1991, S. 108, Rn. 258; Thomas Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Berlin 1995, S. 122; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. 851 ff. 10 Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass es neben ihr überhaupt noch andere Gewalten gibt. Vgl. Albrecht Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, Heidelberg 1987, § 15, Rn. 35. u Vgl. Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht, 2. Aufl., Bd. 1/1, Berlin 1989, S. 216. 12 Randelzhofer (FN 10), § 15, Rn. 24.

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zentralen politischen Organisationsstruktur verknüpft ist, die auf einen letzten und höchsten Zurechnungspunkt zielt. Entstehungsgeschichtlich w i r d der Souveränitätsbegriff im Allgemeinen auf Jean Bodin zurückgeführt, der ihn im Sinne einer höchsten, von den Gesetzen entbundenen Gewalt bestimmt h a t 1 3 . Dies ist der Sache nach nicht ungerechtfertigt, weil Bodin die Souveränität als erster systematisch erfasst und verortet h a t 1 4 , jedoch sollte man sich im Klaren darüber sein, dass die Souveränität von ihm nicht „erfunden" worden ist. Die Ursprünge des Souveränitätskonzepts reichen i n die Legistik und Kanonistik des späteren Mittelalters zurück, ja lassen sich bis in die römischrechtlich und christlichjüdisch geprägte Antike zurückverfolgen 15 . Jedoch vollzieht sich ihre Zuspitzung und Konzeptualisierung erst im Übergang zur frühen Neuzeit mit der Ausbildung der Vorstellung, dass eine höchste, absolute und ursprüngliche Gewalt essentielles Attribut politischer Herrschaft ist. Darin stimmen die Vertreter ganz unterschiedlicher politischer Theorien von Bodin über Hobbes bis hin zu Rousseau weitgehend überein, unabhängig davon, wem die Souveränität als Träger am Ende zugesprochen, sowie davon, ob sie nun neuaristotelisch, neustoisch oder rational-vertraglich begründet wird. Dies ist die eine Seite. Auf der anderen Seite w i r k t die so anspruchsvolle formulierte Souveränität merkwürdig schillernd. Schon Bodin bejaht ungeachtet des für ihn zentralen Absolutheitskriteriums eine Begrenzung der Herrschaftsgewalt durch göttliches und natürliches Recht sowie durch grundlegende Reichsgesetze16. Aber auch sonst gehört zum weitgehend einvernehmlichen alteuropäischen Konsensus, dass die eigentlich so umfassend und fordernd bestimmte Souveränität nicht völlig schrankenlos ist. Die mit der Souveränität bezeichnete Problematik zielt demnach nicht auf die Institutionalisierung einer schlechthin unumschränkten Gewalt, sondern vielmehr darauf, Freiheit und Bindung in ein angemessenes Verhältnis zu setzen, anders gesagt: politische Herrschaftsgewalt einerseits zu etablieren, andererseits wiederum mit den Mitteln des Rechts zu kontrollieren. Die dabei von Anfang an zutage tretenden Widersprüchlichkeiten und Paradoxien sind zum einen autorenspezifischer A r t 1 7 , zum anderen dem 13 Jean Bodin, De Republica l i b r i sex, ed. Frankfurt 1594, lib. I, cap. 8, S. 123. In der i m Jahre 1576 erschienenen französischen Erstausgabe w i r d die Souveränität als „puissance absolue" bezeichnet. Vgl. Les six livres de la République, éd. Paris 1583, Neudr. Aalen 1961, liv. I, chap. 8, S. 122. 14 Vgl. F. H. Kinsley , Sovereignty, London 1966, S. 121. is Vgl. Wyduckel , Princeps Legibus solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, Berlin 1979 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 30), S. 32 f.; Kenneth Pennington, The Prince and the Law, 1200-1600. Sovereignty and Rights in the Western Legal Tradition, Berkeley 1993, S. 8 ff. 16 Bodin, De Republica (FN 13), lib. I, cap. 8, S. 159 ff., ebd. lib. I, cap. 8, S. 139 ff.

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Souveränitätsdenken schlechthin eigen und beschäftigen die rechts- und staatstheoretische Diskussion auch in einer grundlegend gewandelten Welt bis i n unsere Tage. Es sind vor allem drei Problemkomplexe, die vom Standpunkt des herkömmlichen Souveränitätskonzepts nicht ohne weiteres lösbar erscheinen: (1) das föderale oder Bundesstaatsproblem, (2) das konstitutionelle oder Verfassungsproblem, sowie schließlich (3) das Problem zwischenstaatlicher und überstaatlicher Ordnung. (1) Die Verortung der Souveränität im Bundesstaat wirft notwendig Zuordnungsfragen auf. Geht man davon aus, dass Staat und Souveränität essentiell miteinander verbunden sind, und weiter, dass der Bundesstaat ein wiederum aus Staaten zusammengesetzter Staat ist, w i r d klärungsbedürftig, ob die Souveränität dem Einzelstaat, dem Bund oder aber beiden, etwa im Sinne eines übergreifenden Gesamtstaates, zuzuordnen ist. Die Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten, weil unter den Geltungsbedingungen der Souveränität als eines notwendigen Staatsmerkmals auf der einen Seite die Staatlichkeit der Glieder, auf der anderen die des Bundes zur Debatte steht. Der Rechts- und Staatslehre hat die Zuordnungsfrage seit jeher Probleme bereitet, die nach wie vor nicht befriedigend gelöst sind 1 8 . Einer der Gründe für die begrifflichsystematischen Schwierigkeiten liegt darin, dass der Souveränitätsbegriff sich nicht am föderal gegliederten Gemeinwesen, sondern am Einheitsoder Zentralstaat ausgebildet hat, i n dem die Souveränität nur einmal zugewiesen werden kann und Misch- oder Teilungsformen grundsätzlich ausgeschlossen sind. Da die staatstheoretische Reflexion sich normativ ganz überwiegend am Souveränitätsmodell ausrichtete und dieses zum Maßstab auch für andere staatliche Organisationsformen erhob, war die komplexe Struktur gegliederter Gemeinwesen nur schwer erfassbar. Dies lässt sich schon am Beispiel des Alten Reiches beobachten, das sich mit seinen vielfältigen regionalen Gliederungen sowie dem Dualismus von Reich und Ständen dem vornehmlich an Frankreich orientierten Souveränitätsmodell weitgehend entzog, weil es eher einem status mixtus entsprach, der mit den Kategorien des Souveränitätsbegriffs nicht ohne weiteres zu verorten war und deshalb von Samuel von Pufendorf in der bekannten Formel als irregulär und monströs apostrophiert wurde 1 9 . 17 Vgl. zu Bodin Peter Cornelius Mayer-Tasch, der i n der Einführung zur deutschen Bodin-Übersetzung, Bd. 1, München 1981, S. 11 ff. (38), von einer systemimmanenten Inkonsequenz' spricht. Siehe auch J. H. M. Salmon, The Legacy of Jean Bodin. Absolutism, Populism or Constitutionalism, in: History of Political Thought 17 (1996), S. 500 ff. (501 ff.). 18 Vgl. Otto Kimminich, Der Bundesstaat, in: HStR I (FN 10), § 26, Rn. 1 ff. (8 ff.).

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Gleichwohl ist immer wieder versucht worden, Bundesstaatlichkeit und Souveränitätsdogma miteinander zu vereinbaren. Eine der Möglichkeiten besteht darin, die Souveränität bundesstaatlich zu teilen mit der Folge, dass sowohl die Glieder als auch das Ganze souverän bleiben. Dieses Lösungsmodell ist verschiedentlich erwogen worden 2 0 , steht allerdings im Gegensatz zur klassischen Souveränitätslehre, insbesondere zum Dogma von der Unteilbarkeit der Souveränität, läuft m.a.W. darauf hinaus, den Souveränitätsbegriff zu relativieren, wenn nicht gar dem Wort Calhouns entsprechend To divide sovereignty is to destroy it ganz aufzugeben 21 . Eine andere Lösungsmöglichkeit stellt deshalb auf die funktionale Differenzierung der Souveränität ab, die diese selbst formal intakt lässt, jedoch die damit verbundenen Befugnisse i n Form unterschiedlicher Kompetenzen verschiedenen Trägern zuweist. Diesem Modell lässt sich das us-amerikanische Konzept der Federalist Papers zuordnen, das darauf abzielt, unitarisch-nationale und gliedstaatliche Belange auf der Grundlage verfassungsrechtlicher Gewaltendifferenzierung in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen 2 2 . Dabei w i r d die Souveränität nicht, wie vielfach angenommen, geteilt - dies stünde zu den Prämissen des Souveränitätsbegriffs im Gegensatz - , die Konzeption des Federalist setzt vielmehr bereits jenseits des tradierten Souveränitätsbegriffs an, indem verschiedene Kompetenzen nach Maßgabe der Verfassungsordnung funktional den Gliedstaaten einerseits, dem Bundesganzen andererseits zugeordnet werden. Dies geschieht im Rahmen einer Kompetenzordnung, in der das klassische Souveränitätsdogma bereits erheblich aufgeweicht ist.

19 Samuel von Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches, hrsg. u. übers, von Horst Denzer, Frankfurt a. M. 1994, Kap. VI, § 9. 20 In Deutschland vor allem in der Bundesstaatstheorie des 19. Jahrhunderts, so z.B. von Karl Friedrich Wilhelm von Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, 3. Aufl., Leipzig 1880, mit einer Einleitung hrsg. von W. Pöggeler, Hildesheim 1998, S. 25 f. sowie Beilage IV. Vgl. für die Schweiz Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre (FN 9), S. 272 f. 21 Vgl. John C. Calhoun, A Discourse on the Constitution and Government of the United States, in: ders., Works, ed. by Richard K. Crallé, vol. 1, New York 1851, Nachdr. ebd. 1968, S. 108 ff. (146): „Sovereignty is an entire thing - to divide, is, - to destroy i t " . Dazu Wyduckel, Föderalismus als rechtliches und politisches Gestaltungsprinzip bei Johannes Althusius und John C. Calhoun, in: Giuseppe Duso/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hrsg.), Konsens und Konsoziation i n der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Berlin 1997 (Rechtstheorie, Beiheft 16), S. 259 ff. (278). 22 Vgl. Martin Diamond, The Federalist on Federalism: „Neither a National Nor a Federal Constitution. But a Composition of Both", in: The Yale Law Journal 86 (1976/77) , S. 1273 ff., auch in: Kermit L. Hall (Hrsg.), Federalism: A Nation of States. Major Historical Interpretations, New York 1987 (United States Constitutional and Legal History, vol. 3), S. 227 ff.

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In einem weiteren Sinne sind diesem Modell auch die einschlägigen Überlegungen der älteren deutschen Reichsstaatsrechtslehre zuzurechnen, die die ständestaatliche und territoriale Realität des Reiches auf der Grundlage einer doppelten Souveränität zu erfassen suchen. Dabei soll dem Kaiser und König die personale, den Ständen, die zugleich Landesherren sind, die reale Majestät zukommen. Auch hier handelt es sich nicht um eine Souveränitätsteilung, sondern eine Art Funktionengliederung, die auf der Grundlage einer Souveränität des Reichsganzen verschiedenen Trägern unterschiedliche Funktionen zuweist 2 3 . So wurde es - zumindest begriff lieh-theoretisch - möglich, einerseits dem fortbestehenden persönlich-monarchischen Machtanspruch des Kaisers, andererseits der längst faktisch etablierten ständisch-territorialen Reichswirklichkeit gerecht zu werden, ohne dabei auf die weiter als verbindlich erachtete Kategorie der Souveränität zu verzichten. Eine noch weitergehende Problemlösung geht schließlich von der Vorstellung einer Entkoppelung von Staat und Souveränität aus, der zufolge beide getrennt sind, so dass konsequenterweise zwischen souveränen und nichtsouveränen Staaten zu unterscheiden ist. Dieser Lösungsvorschlag des bundesstaatlichen Problems ist aus der kontroversen staatsrechtlichen und staatstheoretischen Diskussion des 19. Jahrhunderts hervorgegangen und kann sich sowohl auf Paul Laband als auch und vor allem auf Georg Jellinek berufen, der die Souveränität i m Rahmen seiner DreiElemente-Lehre des Staates neu verortet hat. Konstitutiv für die Staatlichkeit sind dieser Vorstellung folgend die Elemente des Gebiets, des Volks und der Herrschaftsgewalt, während der Souveränität als nur formaler, nicht notwendiger Eigenschaft der Staatsgewalt keinerlei staatskonstituierende Funktion zukommt, weil sie nur mehr das Ausmaß der Fähigkeit zu rechtlicher Selbstbestimmung und freiwilliger Selbstbindung zum Ausdruck bringt 2 4 . Das Problem der Souveränität i m Bundesstaat w i r d auf diese Weise lösbar, freilich um den Preis einer Aufgabe der essentiellen Verbindung von Staat und Souveränität mit der Folge, dass Staat und souveräner Staat nicht länger identifiziert werden können 2 5 . Dies macht i n äußerster Konsequenz - noch über Jellinek hinausgehend - auch Hugo Preuß deutlich, wenn er die Forderung erhebt, 23 Zu dieser der Sache nach auf Althusius zurückgehenden Lehre siehe Rudolf Hoke. Althusius und die Souveränitätstheorie der realen und der personalen Majestät, in: Karl-Wilhelm Dahm/Werner Krawietz/Dieter Wyduckel (Hrsg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Berlin 1988 (Rechtstheorie, Beiheft 7), S. 235 ff. 2 4 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, hier benutzt i n der dritten, von Walter Jellinek herausgegebenen Auflage, 7. Neudr., Bad Homburg v. d. H. 1960, S. 474 ff. Zu Laband siehe Staatsrecht, Bd. 1, 4. Aufl., Tübingen 1901, S. 66 ff. 2 5 Wyduckel, La soberania (FN 2), S. 258 f. sowie Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen 2000 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 28), S. 297 ff.

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den Souveränitätsbegriff aufgrund der mit ihm verbundenen Schwierigkeiten und Widersprüche als einen historischen, nicht mehr zeitgemäßen Begriff aufzugeben und aus der Dogmatik des Staatsrechts ganz zu eliminieren 2 6 . Derartige Auffassungen waren und sind noch keineswegs herrschend, lassen aber charakteristische Modifikationen des Souveränitätsdogmas erkennen, das sich infolge veränderter rechtlicher und politischer Gegebenheiten zunehmend von seinen Ursprüngen zu emanzipieren und zu wandeln beginnt. (2) Die Souveränität steht aber nicht nur in einem schwer auflösbaren Spannungsverhältnis zum föderalen Gedanken, sondern auch zu dem der Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit. Dies folgt aus dem Absolutheitsanspruch, der dem klassischen Souveränitätsbegriff eigen ist. Das daraus resultierende Spannungsverhältnis zum Recht lässt sich wegen des mit der Souveränität verbundenen Rechtsetzungs- und Gewaltmonopols begrifflich und strukturell nicht ohne weiteres beheben. Einerseits bedarf die zur Rechtsetzung befugte souveräne Instanz naturgemäß weitgehender Freiheit gegenüber der bestehenden Rechtsordnung, wenn die Setzung neuen Recht möglich sein soll. Andererseits erweist sich gerade unter diesen Voraussetzungen eine rechtliche Beschränkung souveräner Herrschaftsgewalt als notwendig, soll sie nicht zur Willkür werden. Bloße Absichtsbekundungen reichen dazu ebenso wenig aus wie ein Appell an die bindende Kraft natürlichen oder göttlichen Rechts. Soll eine rechtliche Beschränkung wirksam eingefordert werden können, bedarf es entsprechender verfassungsrechtlicher Vorkehrungen, nicht zuletzt deshalb, weil eine extrakonstitutionelle souveräne Gewalt sich über bestehende Regeln leicht hinwegsetzen könnte. Nicht ohne Grund ist deshalb betont worden, innerhalb des Verfassungsstaats könne es keinen Souverän geben, d.h. niemanden, der die ungeteilte, unbedingte und unbeschränkte Macht besitzt, Recht zu durchbrechen und zu schaffen 27 . Unter den Geltungsbedingungen einer Verfassung die Souveränitätsfrage aufwerfen, heißt so gesehen in der Tat »revolutionären Sprengstoff' an den Verfassungsstaat legen 28 . Eine Fokussierung und Zuspitzung des Souveränitätsproblems auf den Ausnahmezustand im Sinne Carl Schmitts kann von daher schwerlich in Betracht kommen 2 9 . In jedem Verfassungskonflikt wäre sonst die Souveränitätsfrage aufgeworfen und 26 Hugo Preuß, Gemeinde,, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, Neudr. Aalen 1964, S. 100 ff. (135). 27 Vgl. Martin Kriele, Einführung i n die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimationsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 5. Aufl., Opladen 1994, S. 121 ff. 28 Kriele, Einführung (FN 27), S. 123. 29 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 5. Aufl., unveränd. Nachdr. der 2. Aufl. 1934, Berlin 1990, S. 11.

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der jeweilige Souverän unmittelbar präsent. Die Verfassung wäre dann nicht - oder jedenfalls nicht in erster Linie - Verfassungsgesetz, sondern Ausdruck jenes Gesamtzustandes politischer Einheit und Ordnung, in dem Faktizität und Dezision die entscheidenden Größen sind, ordnende und rechtlich geordnete Gewalt gegeneinander ausgespielt werden mit der Folge, dass der regulative Charakter von Recht und Verfassung verkürzt würde 3 0 . Das Souveränitätsproblem ist i m Verfassungsstaat aber keineswegs völlig aufgehoben. Es bleibt im Verhältnis von Verfassung und verfassunggebender Gewalt, von pouvoir constitué und pouvoir constituant , auf einer anderen Ebene erhalten, w i r k t also in einem weiteren Sinne als unauf hebbares Spannungs Verhältnis von Recht und Macht fort 3 1 . Damit ist dann freilich nicht mehr allein die Frage nach der Geltung des positiv gesetzten staatlichen Rechts, sondern auch und zugleich die nach der Legitimation souveräner Herrschaftsgewalt und ihrer Trägerschaft angesprochen. Die Souveränitäts- und die Legitimationsfrage, d.h. das Macht- und das Rechtfertigungsproblem, hängen somit auf das Engste zusammen, können vor allem nicht nur eindimensional beantwortet werden 3 2 . (3) Die Souveränität ist schließlich als nur dem Staat zukommende höchste und unabhängige Gewalt nicht ohne weiteres mit dem Gedanken zwischen- und suprastaatlicher rechtlicher Bindung vereinbar. Auch hier stehen Absolutheit, Zuhöchstsein und Unabhängigkeit staatlicher Herrschaftsgewalt zum Gedanken rechtlicher Bindung i m Gegensatz. Selbst eine freiwillige staatliche Herrschaftsentäußerung würde dem nicht abhelfen können, da die mit der Souveränität verbundenen Rechte - folgt man der klassischen Begriffsbestimmung - unveräußerlich und unübertragbar sind. Im Außenverhältnis der Staaten stehen sich insofern unabhängige Höchstgewalten, d.h. Souveräne gegenüber. Thomas Hobbes hat daraus durchaus konsequent den Schluss gezogen, dass zwischen den Staaten der Naturzustand fortdauere, und auch Pufendorf w i l l mangels einer normsetzenden zwischenstaatlichen Instanz das Völkerrecht nicht

30 Vgl. Matthias Kaufmann, Recht ohne Regel? Die philosophischen Prinzipien i n Carl Schmitts Staats- und Rechtslehre, Freiburg i. Br. 1988 (Reihe Praktische Philosophie, Bd. 26), S. 19. Siehe auch Luzius Wildhaber, Entstehung und Aktualität der Souveränität, in: Georg Müller (u.a. Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel. Festschrift für Kurt Eichenberger, Basel 1982, S. 131 ff. (140): „Souverän ist, wer über den Normalzustand entscheidet (und wer schon i m Normalzustand festlegt, wer über den Ausnahmezustand entscheidet)". 31 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1991 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 953), S. 90 ff. 32 Vgl. Kriele, Einführung (FN 27), S. 19.

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als souveränitätsbeschränkendes positives Recht gelten lassen 33 . Wenn später im Anschluss an Hegel das Völkerrecht als äußeres Staatsrecht oder Außenstaatsrecht verstanden w i r d 3 4 , so w i r k t darin trotz des anderen argumentativen Ansatzpunkts eine Auffassung fort, die das Völkerrecht nach staatsrechtlichen Kriterien beurteilt, m.a.W. alles positive Recht ausschließlich auf der Grundlage und nach Maßgabe staatlicher Souveränität begreift und zuordnet. In der Einsicht, dass ein wirkliches Völkerrecht so schwerlich zu begründen ist, steht der Souveränitätsbegriff spätestens seit der Zeit der Aufklärung i m Zeichen der Zurücknahme und Abschwächung. Maßgeblich hierzu beigetragen hat Emer de Vattel, der - auf Erkenntnissen aufbauend, wie sie bereits Grotius und Wolff erzielt hatten - die Souveränität nicht über die Unbeschränktheit herrschaftlicher Gewalt, sondern über ihre Selbstbestimmtheit definiert, die dann gegeben ist, wenn eine staatliche Gemeinschaft sich durch eigene Gesetze selbst regiert 3 5 . Auf diese Weise w i r d die Selbstorganisationsfähigkeit des Staates, nicht hingegen die Freiheit von rechtlichen Bindungen, zum entscheidenden K r i terium völkerrechtlicher Souveränität. Es ist heute weithin anerkannt, dass der Souveränitätsbegriff mit der Existenz zwischenstaatlichen Rechts nur dann vereinbar ist, wenn er modifizierend relativiert w i r d 3 6 . A m deutlichsten t r i t t die Relativierung, ja Erosion des Souveränitätsbegriffs im suprastaatlichen Bereich zu Tage. Aufgrund der verfassungsrechtlich eingeräumten Kompetenz, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen, ist es möglich geworden, im herkömmlichen Sinne klassische Souveränitätsrechte einer anderen öffentlichen Gewalt anzuvertrauen, was zum tradierten Souveränitätsverständnis offensichtlich im Widerspruch steht. Gewiss kann man im Rekurs darauf, dass es sich, etwa im Rahmen der Euro33 Vgl. im Einzelnen Wyduckel, Recht, Staat und Frieden im Jus Publicum Europaeum, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Zwischenstaatliche Friedenswahrung i n Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln 1991 (Münstersche Historische Forschungen, Bd. 1), S. 185 ff. (189 ff.). Siehe auch Peter Schröder, Völkerrecht und Souveränität bei Thomas Hobbes, in: Martin Peters/ders. (Hrsg.), Souveränitätskonzeptionen. Beiträge zur Analyse politischer OrdnungsVorstellungen im 17. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2000 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 119), S. 41 ff. (45 ff.). Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 330 ff., übrigens unter Aufnahme der These vom Naturzustand der Staaten untereinander (§ 333). 35 Emer de Vattel, Le droit des gens, ou principes de la loi naturelle, Neuchâtel 1774, liv. I, cap. 1, § 4, S. 25. Dazu Heinhard Steiger, Solidarität und Souveränität oder Vattel reconsidered. In: Ekkehard. Stein/Heiko Faber (Hrsg.), Auf einem Dritten Weg. Festschrift für Helmut Ridder zum 70. Geburtstag, Neuwied 1989, S. 97 ff. (99). 36 Vgl. etwa Ignaz Seidl-Hohenveidern/Torsten Stein, Völkerrecht, 10. Aufl., Köln 2000, § 2, Rn. 6 f.

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päischen Gemeinschaften, nur um die Übertragung begrenzter Einzelzuständigkeiten handle, an der Vorstellung einer plenitudo potestatis klassischer Staatsgewalt weiter festhalten 37 . Doch erscheint dies eher als Defensivposition, zumal wenn man bedenkt, dass die Souveränität als Führungsgröße ersichtlich i m Rückgang begriffen ist, während an ihre Stelle zunehmend der neue Leitbegriff der Subsidiarität t r i t t (dazu sogleich), auch wenn klärungsbedürftig ist, wie beide sich zueinander verhalten. Aber auch dann, wenn die hier skizzierten Problemstellungen, die mit dem Souveränitätsdenken verbunden sind - föderales, konstitutionelles und zwischen- bzw. überstaatliches Problem - zureichend geklärt wären, bleibt noch immer die Frage, wem die Souveränität als Träger oder Subjekt zukommen soll. Hier macht sich von Anfang an eine - i m Übrigen fortdauernde - Doppeldeutigkeit bemerkbar, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Souveränität zum einen dem Staate selbst, zum anderen zugleich bestimmten Trägern oder Subjekten staatlicher Gewalt zugesprochen wird, m.a.W. das Verhältnis von Staats- und Organsouveränität in der Schwebe bleibt. Die Spannweite der unterschiedlichen Theorieansätze, die stets auch eine politisch-legitimatorische Komponente einschließen, reicht vom monarchisch-absoluten L'Etat c'est moi über die Sovereignty of Parliament bis hin zum revolutionären L'Etat c'est nous der Volkssouveränität, um schließlich i m Frühkonstitutionalismus i n eine abstrakt-fiktive Staatssouveränität einzumünden, die kompromisshaft keinen bestimmten Träger mehr namhaft machen kann oder will. Auch wenn seit Aufklärung und Revolution grundsätzliches Einverständnis darüber besteht, dass unter den Bedingungen der Demokratie die Souveränität des Volkes und die des Staates weitgehend zur Deckung gebracht werden können, so ist das Souveränitätsmodell damit rechts- und staatstheoretisch noch keineswegs völlig ausgereizt, weil immer noch die Möglichkeit einer gleichsam subjektlosen Souveränität des rechtlichen Regelsystems im Sinne der kelsen'schen Rechts- und Grundnormlehre mitzubedenken ist, in der das Spannungsverhältnis von Recht und Staat gleichsam aufgehoben scheint 3 8 . A l l dies deutet auf die Vielschichtigkeit und Wandlungsfähigkeit des Souveränitätsbegriffs hin, der zwar in vielem fragwürdig geworden ist, gleichwohl aber nicht ohne weiteres ad acta gelegt werden kann.

37 Vgl. Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., München 1999, Rn. 905. 38 Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, 2. Aufl., Tübingen 1928, 2. Neudr. Aalen 1981, S. 87; ders., Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 102 ff.; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, Nachdr. ebd. 1992, S. 200 ff., 294, 334.

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III. Anders als die staatszentrierte Souveränitätsvorstellung ist das Subsidiaritätsprinzip schon vom Ansatz her offener angelegt und mit ganz unterschiedlichen Gemeinschaftsbildungen vereinbar. Der Staat erscheint so immer schon auf ein politisches und gesellschaftliches Umfeld bezogen, von dem her er Sinn und Funktion empfängt 39 . Auf diesem Hintergrund kann das Subsidiaritätsprinzip sowohl im Verhältnis von Staat und Gesellschaft als Regulativ wirken als auch eine den darin angelegten Dualismus überwindende gemeinschaftsbezogene Bedeutung annehmen 4 0 . Versucht man seinen wesentlichen Gehalt zu bestimmen, so w i r d man daran anknüpfen, dass dem Subsidiaritätsprinzip strukturell ein Mehrebenendenken eigen ist, das bei den je kleineren Einheiten ansetzt, ohne dabei das Ganze aus den Augen zu verlieren. Entscheidend ist hierbei weniger die Idee einer hierarchischen Ordnung als vielmehr die einer Vernetzung unterschiedlicher Ebenen, die man sich so vorzustellen hat, dass auf der Grundlage gemeinsamer Aufgaben- und Zielbezogenheit die jeweils kleinere Einheit grundsätzlich Vorrang genießt, dies aber nicht im Sinne einer nur partikularistischen Interessenwahrnehmung, sondern eines institutionalisierten Zusammenspiels, das sowohl den Belangen der kleineren Einheiten als auch denen des darauf aufbauenden Ganzen gerecht wird. Nicht ohne Grund w i r d der enge Zusammenhang zwischen den Prinzipien der Subsidiarität und der Solidarität betont, die beide in der Tat aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig ergänzen 41 . Das Subsidiaritätsprinzip bringt so im Gegensatz zur Souveränitätsvorstellung weniger Trennendes als vielmehr Verbindendes zum Ausdruck, ist demnach nicht auf Abwehr, sondern auf gegenseitige Hilfe und Unterstützung angelegt und gewinnt auf diese Weise eine spezifisch gemeinschaftsbildende und -fördernde Funktion. Das Subsidiaritätsprinzip weist aufgrund der ihm eigenen Flexibilität sowie der mit ihm verbundenen strukturellen Mehrstufigkeit eine hohe Affinität zum föderalen Prinzip auf 4 2 , die es für gegliederte Ordnungen 39 Grundlegend zum Gesamtkomplex der Subsidiarität Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 2. Aufl. mit Nachtrag: Die Zeitperspektive 2001: Subsidiarität - das Prinzip und seine Prämissen, Berlin 2001 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 80). Siehe auch in diesem Band, S. 129 ff. 40 Wie sie z.B. dem kommunitaristischen Denken eigen ist. Vgl. Waschkuhn, Subsidiarität (FN 4), S. 109 ff. 41 Vgl. Christian Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip i n der Europäischen Union, 2. Aufl., Baden-Baden 1999 (Schriften des Europa-Instituts der Universität des Saarlandes - Rechtswissenschaft, Bd. 10), S. 25 6., 185 ff. sowie ders. in diesem Bande S. 371 ff. 42 Ohne allerdings mit diesem identisch zu sein.Vgl. Francesco Paolo Casavola, Da federalismo alla sussidiarità: le ragioni di un principio, in: Nörr/Oppermann,

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besonders attraktiv macht. Staatliche Gemeinwesen, die selbst föderal organisiert sind, werden daher eine besondere Nähe zum subsidiären Denken haben und sich im Umgang mit ihm leichter tun. Zwar ist auch eine subsidiäre Ordnung nicht föderaler Art möglich und vorstellbar, doch w i r d dies nur dann in Betracht kommen, wenn ein gewisses Maß an Flexibilität und dementsprechend an Dezentralisierung und Autonomie gegeben ist. Da das Subsidiaritätsprinzip sich nicht auf die institutionalisierten Einheiten menschlichen Zusammenlebens beschränkt, sondern auch auf die individuellen Belange durchgreift, d.h. den Einzelmenschen im Blick hat, kommt ihm eine spezifisch personalistische Funktion zu, die ebenso würde- wie freiheitssichernd w i r k t 4 3 . Aber auch zum Demokratiegedanken lassen sich vom Subsidiaritätsprinzip her Verbindungslinien ziehen. Dies ergibt sich einmal aus dem Vorrang zu Gunsten der je kleineren Gemeinschaften, zum anderen aus den individuellen Bezügen, die den Einzelnen nicht oder nicht nur als Objekt staatlicher Gewalt, sondern auch als tätiges Subjekt erscheinen lassen, das dazu aufgerufen ist, seine Geschicke mitzugestalten. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt insofern, dass Entscheidungen möglichst auf einem Level erfolgen, der dem Bürger am nächsten i s t 4 4 . Entstehungsgeschichtlich w i r d das Subsidiaritätsprinzip im Allgemeinen auf die christlich-katholische Soziallehre und ihren Niederschlag in den päpstlichen Enzykliken zurückgeführt 4 5 . Es ist in der Tat von hier aus für Staat und Gesellschaft wirkmächtig geworden, hier wurde der modernen Welt das Thema gestellt 46 . Jedoch reichen seine Ursprünge sehr viel weiter zurück, sind im schon im griechisch-aristotelischen Denken nachweisbar 47 und vielleicht so alt wie die menschliche GemeinSubsidiarität (FN 5), S. 1 ff. (11 f.). Siehe auch Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip (FN 41), S. 157, der den Föderalismus als angewandtes Subsidiaritätsprinzip versteht. 43 Vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip (FN 39), S. 271 ff. 44 Vgl. hierzu Peter Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: Alois Riklin/Gerard Batliner (Hrsg.), Subsidiarität. Ein interdisziplinäres Symposium, Vaduz 1994 (Liechtenstein, Politische Schriften, Bd. 19), S. 267 ff. (291), der Subsidiarität und Demokratie unter dem Aspekt der Bürgernähe zueinander i n Verbindung setzt. Siehe auch Neil MacCormick, Democracy, Subsidiarity, and Citizenship i n the »European Commonwealth', in. ders. (Hrsg.), Constructing Legal Systems, Dordrecht 1997, S. 1 ff. (24) sowie Alois Baumgartner, „Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär". Zur anthropologischen und theologischen Begründung der Subsidiarität, in: Nörr/ Oppermann, Subsidiarität (FN 5), S. 22 sowie Waschkuhn, Subsidiarität (FN 4), S. 62 ff. (64). 45 Siehe dazu i n diesem Band eingehend Ansgar Hense, Der staats- und europarechtliche Gehalt des Subsidiaritätsprinzips in den päpstlichen Enzykliken, S. 401 ff. 46 Vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip (FN 39), S. 16.

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schaftsbildung selbst 48 . Gleichwohl hat das christlich-religiöse Moment das Subsidiaritätsprinzip in besonderer Weise geprägt. Wenn Carl Schmitt sagt, dass alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe sind 4 9 , so lässt sich dies - und zwar ganz unabhängig davon, ob man die mitgedachten politisch-theologischen Implikationen teilt oder nicht - auch vom Subsidiaritätsprinzip sagen, jedenfalls insoweit, als es in seiner Genese - ebenso übrigens wie die Souveränitätsvorstellung 50 - wesentliche Impulse durch das theologische Denken erfahren hat. Bedarf dies für den Katholizismus keiner weiteren Begründung, so ist weniger bekannt, dass das Subsidiaritätsprinzip auch eine protestantisch-reformatorische Wurzel hat. Dies gilt wenn überhaupt i n nur sehr eingeschränktem Sinne für das Luthertum, umso mehr aber für den reformierten Protestantismus, i n dem ein Denken in den Kategorien der Subsidiarität sowohl praktisch als auch theoretisch verwurzelt i s t 5 1 . Dabei sollte nicht übersehen werden, dass eine subsidiär geprägte Praxis - anders als im Katholizismus - zunächst im innerkirchlichen Raum ansetzt und erst dann auf die staatliche Sphäre übertragen w i r d 5 2 . Wenn i n diesem Zusammenhang immer wieder der Name des Johannes Althusius fällt, so ist das nicht unberechtigt 5 3 . Althusius, der zu bedeutendsten Vgl. Chantal Millon-Delsol , L'Etat subsidiaire. Ingérence et non-ingérence de l'Etat: Le principe de subsidiarité aux fondements de l'histoire européenne, Paris 1992, S. 15 ff. sowie dies., La bonne étoile de la subsidiarité, i n diesem Band, 5. 85 ff. 48 Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Subsidiaritätsprinzip, in: Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 7, Freiburg i. Br. 1962, Sp. 826 ff. (826): „Die Sache ist uralt, nur der Name ... ist neu". Siehe auch Otfried Höffe, Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, in: Nörr/Oppermann, Subsidiarität (FN 5), S. 49 ff. (56 ff.). 49 Carl Schmitt, Politische Theologie, 5. Aufl., Berlin 1990, S. 49. so Hinsichtlich ihrer Ableitung aus der omnipotentia Dei. Vgl. Wyduckel, Princeps legibus solutus (FN 15); S. 99 f.; ders., Pienipotenz, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 1769 ff. si Dazu Röhls, Die Subsidiarität i n der reformierten Konfessionskultur, i n diesem Band, S. 37 ff. 52 Vgl. das Beispiel der Emder Synode von 1571, auf der für den Aufbau der reformierten Kirchen und ihr Verhältnis zueinander im Sinne der presbyterialsynodalen Kirchenverfassung bestimmt wurde, dass keine Gemeinde über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone den Vorrang oder die Herrschaft zu beanspruchen habe, sowie des Weiteren, dass Provinzial- und Generalsynoden gehalten seien, den Beschlüssen der Konsistorien und unteren Synodalgliederungen nicht ohne Not vorzugreifen. Vgl. Heinrich Schmidt, Geschichte der Stadt Emden, Bd. 1: Von 1500 bis 1575, Leer 1994, S. 161 ff. (246), J. F. Gerhard Goeters, Genesis, Formen und Hauptthemen des reformierten Bekenntnisses i n Deutschland, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung i n Deutschland Das Problem der „Zweiten Reformation", Gütersloh 1986, S. 44 ff. (54), sowie Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip (FN 41), S. 30 Anm. 34 m.w.N. 53 Vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip (FN 39), S. 37 ff.; Stefan Ulrich Pieper, Subsidiarität. Ein Beitrag zur Begrenzung der Gemeinschaftskompetenzen, Köln

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Vertretern eines frühen, spezifisch reformierten Rechts- und Politikdenkens gehört, knüpft i n vielem an Vorstellungen an, wie sie für ein an der Subsidiarität orientiertes Denken charakteristisch sind, ja stellt seine ganze Gemeinwesenkonzeption darauf ab 5 4 . Das Gemeinwesen erschließt sich ihm anders als seinem Gegenspieler Bodin nicht oder nicht in erster Linie als ein Ergebnis hierarchischer Machtkonzentration, sondern als dynamischer Prozess konsensualer und sozietaler Institutionalisierung, der zunächst die jeweils kleinsten privaten Verbindungen i n Ehe, Familie, Verwandtschaft und Beruf in den Blick fasst, um von dort ausgehend erst dann zu den größeren Gemeinschaftsbildungen der Gemeinde, Region und des gesamten Gemeinwesens i m spezifisch öffentlichen Sinne zu gelangen 55 . Auf die einheitsbildende Souveränität w i r d dabei nicht verzichtet. Sie kommt aber nicht wie bei Bodin dem Herrscher, sondern unter Subsidiaritätsgesichtspunkten durchaus konsequent - der gegliederten Gemeinschaft als einem komplex strukturierten Ganzen zu und ist zudem nicht nur durch natürliches und göttliches Recht, sondern darüber hinaus auch durch positives Recht, genauer: die Fundamentalgesetze des Gemeinwesens begrenzt, ja w i r d durch diese überhaupt erst begründet 5 6 . Die subsidiär angelegte Ordnung ist mit anderen Worten i n ein fundamentalgesetzlich unterfangenes Gemeinschaftsganzes eingebettet, i n dem die Souveränität zum Souveränitäts recht - jus majestatis wird, das für das Gemeinwesen rechtlich grundlegend ist, ihm als verfassungseinsetzende Gewalt - potestas iuris regni statuendi - aber gleichsam vorausliegt 57 . Schon dies zeigt, dass und wie Subsidiarität und Souveränität aufeinander beziehbar sind und miteinander vereinbart werden können, freilich zugleich, dass ihre Kompatibilität davon abhängt, i n welchem Maße 1994 (Völkerrecht, Europarecht, Staatsrecht, Schriftenreihe, Bd. 6), S. 47 f.; Waschkuhn, Subsidiarität (FN 4), S. 22 ff.; Höffe, Subsidiarität (FN 48), S. 53. 54 Vgl. Thomas O. Hüglin, Althusius - Vordenker des Subsidiaritätsprinzips, in: Riklin/Batliner, Subsidiarität (FN 44), S. 97 ff.; ders., Early Modern Concepts for a Late Modem World. Althusius on Community and Federalism, Waterloo/Ontario 1999, S. 152 ff. Siehe hierzu auch Corrado Malandrino, Die Subsidiarität i n der Politica und im praktisch-politischen Handeln des Johannes Althusius, i n diesem Bande, S. 237 ff. 55 Althusius, Politica methodice digesta, hier zitiert nach der dritten Aufl. Herborn 1614, Nachdruck Aalen 1981, bes. cap. V Nr. 1, I X , Nr. 5. Siehe zu Leben und Werk des Althusius Wyduckel, Johannes Althusius, in: Bernhard Großfeld u.a. (Hrsg.), Westfälische Jurisprudenz. Beiträge zur deutschen und europäischen Rechtskultur. Festschrift aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Juristischen Studiengesellschaft Münster, Münster/New York 2000, S. 95 ff. 56 Althusius, Politica (FN 55), cap. X I X , Nr. 49. 57 Althusius, Politica (FN 55), cap. I X , Nr. 12 f., 16 ff. Es ist deshalb Althusius und nicht Bodin, bei dem die Anfänge verfassungsrechtlichen Denkens zu suchen sind. Anders Michael Stolleis, Die Idee des souveränen Staates, in: Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens, Berlin 1996 (Beihefte zu „Der Staat", H. 11), S. 63 ff. Siehe dazu auch meinen Diskussionsbeitrag ebd. S. 89 f.

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der Souveränitätsbegriff flexibilisiert und modifiziert wird. Beide Kategorien sind tief im europäischen rechtlichen und politischen Denken verwurzelt, jedoch hat das Subsidiaritätsprinzip - nicht zuletzt dank der Positivierung i m europäischen Gemeinschaftsrecht - inzwischen eine Funktion erlangt, die i n manchem den Platz einnimmt, den über lange Zeit hinweg die SouveränitätsVorstellung besetzt hat. Man muss sich hierbei allerdings i m Klaren darüber sein, dass die positivrechtliche Verankerung des Subsidiaritätsprinzips zunächst im Maastrichter Unionsvertrag, später dann i n Art. 5 EGV nur einen - allerdings bedeutsamen Ausschnitt seines Sinns und Bedeutungsgehalts ausmacht. Das Subsidiaritätsprinzip hat sich insoweit gegenüber seinen geistesgeschichtlichen Wurzeln in der Tat verselbständigt 58 und eine mehr rechtstechnische Bedeutung angenommen, obwohl die Ablösung von den Ursprüngen weder vollständig vollzogen ist noch ganz vollziehbar wäre. Auch unabhängig von der Positivierung auf europäischer Ebene besteht der prinzipielle Charakter der Subsidiarität und der damit verbundene weitergehende politik- und gesellschaftstheoretische Anspruch somit fort. Dies ist auf den Charakter der Subsidiarität als eines Prinzips zurückzuführen, das nicht vollständig positivierbar oder einlösbar ist, sondern eine gleichsam stets präsente überschießende Innentendenz bewahrt. Wenn man dem Subsidiaritätsprinzip i m europarechtlichen Sinne heute den Charakter einer rechtlich handhabbaren Kompetenzausübungs- und Kompetenzabgrenzungsschranke zuschreibt 59 , so geschieht dies aus dem Bestreben heraus, seiner nach wie vor unbestimmten Begrifflichkeit einen subsumtionsfähigen Gehalt abzugewinnen. Welche Kompetenzen genau gemeint sind, ist dabei jedoch weithin offen. Die kontroversen Auseinandersetzungen um die Rechtsnatur und den Status der Gemeinschaft dauern daher an und lassen noch keineswegs klar erkennen, in welcher Weise die Rechts- und Interessensphären i m Einzelnen voneinander abzugrenzen sind. Genau deshalb oszilliert das Subsidiaritätsprinzip zwischen einer europäischen »Zauberformel· 60 , die die zahlreichen Probleme wenn nicht zu lösen, so doch zu überdecken scheint, und einer ganz anderen Bedeutung, in der es den Charakter einer »Souveränität wider Willen' anzunehmen scheint, die weniger auf Kooperation als vielmehr auf Abgrenzung zielt und i n der die partikularistischen Interessen der Mitgliedstaaten gegen den eigentlichen Sinn der Subsidiarität als eines beiderseitigen, d.h. auf Gegenseitigkeit angelegten Prinzips ausgespielt werden. 58 Georg Lienbacher in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden 2000, Art. 5 EGV Rn. 2. 59 Lienbacher in: Schwarze, EU-Kommentar (FN 58), Art. 5 EGV Rn. 1. 60 Lienbacher (FN 58), Art. 5 EGV Rn. 2.

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Soll die Souveränität i n diesem veränderten Kontext weiter einen Sinn behalten, so ist es zum einen erforderlich, sich ihrer rechtsbegrifflich neu zu vergewissern, zum andern sie auf ihre Europatauglichkeit hin zu prüfen. Gewiss sind die Mitgliedstaaten formal souverän (so gen. „Herren der Verträge") 61 , doch haben sie in zunehmenden Maße Hoheitsbefugnisse abgegeben, wie nicht zuletzt an der Einführung einer gemeinsamen Währung sinnfällig deutlich wird. Damit scheint ein qualitativer Sprung erreicht, der es am Ende schwer macht, den einstigen „Mastbaum" der staatlichen Souveränität von einem bloßen „Zahnstocher" zu unterscheiden 62 . Dies ist keine nur begriffliche Frage, sondern auch eine solche des Wandels des politisch-sozialen Substrats der Souveränität, m.a.W. ihres Realitätsbezugs, den gerade die Souveränitätstheoretiker so sehr betonen 63 . Von einer Vorrangigkeit der Souveränitäts Vorstellung gegenüber dem Subsidiaritätsprinzip kann unter diesen Bedingungen kaum mehr die Rede sein. Zum einen, weil die Souveränitätsdiskussion offensichtlich im Bereich des europäischen Rechts anders als in früheren Zeiten keine zentrale Rolle mehr spielt, zum anderen, weil das Subsidiaritätsprinzip offen oder latent im Rahmen eines Paradigmenwechsels als problemlösende Formel und Schlüsselbegriff längst an die Stelle der Souveränität getreten ist. Dass der Souveränitätsbegriff damit nicht jede Bedeutung verloren hat, w i r d noch zu zeigen sein, ebenso, ob und inwieweit die am Beispiel Europas gewonnenen rechtlichen und politischen Erfahrungen universalisierbar sind, d.h. auch eine globale Dimension besitzen. IV. Souveränität und Subsidiarität gehören zum begrifflich-theoretischen Arsenal eines auf europäischem Boden erwachsenen rechtlichen und politisch-sozialen Denkens, das auf die Eigenart und Struktur institutionalisierten menschlichen Gemeinschaftslebens gerichtet ist. Staat und Staatlichkeit kommt dabei eine zentrale Rolle zu, nicht zuletzt deshalb, weil man über lange Zeit hinweg davon ausging, dass die staatliche die einzige, ja perfekte Form des Gemeinschaftslebens sei, neben der andere Organisationsformen an Bedeutung zurücktreten, wenn sie denn überhaupt in Betracht kommen.

61 Oppermann, Europarecht (FN 37), Rn. 218. 62 In Anspielung auf eine ältere, auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und die Stellung des Kaisers gemünzte Formulierung Veit Ludwig von Sekkendorffs (Jus Publicum Romano-Germanicum, Frankfurt 1687, S. 304). 63 Vgl. Gör g Haverkate, Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, München 1992, S. 43.

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Inzwischen ist der Staat im Zeichen wachsender politischer, w i r t schaftlicher und rechtlicher Interdependenzen längst nicht mehr einziger Akteur auf der Ebene der Gemeinschaftsbildung. Herkömmliche, als feststehend betrachtete Kompetenzen werden sowohl unter regionalem Aspekt nach unten als auch unter supranationalem und internationalem Aspekt nach oben abgegeben. Gleichwohl dauert eine Betrachtungsweise fort, in der eine substanzhafte Staatsvorstellung wirksam ist, die die eingetretenen Veränderungen nur partiell verarbeitet. Die Frage nach neuen ,Kleidern des Staates' 64 erscheint im Zeichen seiner Entzauberung 65 , der Entstaatlichung und Deregulierung, sinkender Steuerungsfähigkeit 66 sowie einer wachsenden Einebnung des Dualismus von Staat und Gesellschaft nicht unberechtigt, w i r d aber auch vor dem Hintergrund von FunktionsVerlusten 67 relevant, die in einer zunehmend vernetzten Welt den normativ als impermeabel gedachten Drei-Elemente-Staat Jellineks 6 8 als ausschließlichen und einzigen Orientierungspunkt in Zweifel ziehen und damit Folgeprobleme auch für seine Verortung im supra- und internationalen Rahmen aufwerfen. So ist fraglich geworden, ob der auf seine Souveränität bedachte nationale Einheitsstaat schlechthin zum Maßstab für alle politischen Gemeinschaftsbildungen gemacht werden kann. Wie stark die überkommene Vorstellungswelt gleichwohl noch wirksam ist, zeigt sich in besonderer Weise, wenn der Eindruck genährt wird, Staatlichkeit werde im Rahmen überstaatlicher Institutionalisierungen nur ,heraufgezont', würde sich m.a.W. auf einer höheren Ebene wiederholen, ansonsten aber in überkommener Form erhalten bleiben 6 9 . Die diesbezügliche Diskussion steht in der Tat im Zeichen einer gleich doppelten etatistischen Verengung, die zur merkwürdigen Paradoxie führt, sich die künftige Europäische Union zum einen nur staatsartig vorstellen zu können, während der zu Grunde liegende Etatismus gerade dies ver64 Vgl. Rüdiger Voigt, Des Staates neue Kleider. Entwicklungslinien moderner Staatlichkeit, Baden-Baden 1996. 65 Vgl. Helmut Willke, Entzauberung des Staates, Königstein/Ts. 1983; Saladin, Wozu noch Staaten? (FN 3), S. 13; Hasso Hof mann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung, in: Juristenzeitung 54 (1999), S. 1065 ff. (1069). 66 Vgl. Dieter Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, Baden-Baden 1990. 67 Vgl. Stefan Breuer, Der Staat. Entstehung, Typen, Organisation, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 289 ff. Zur in diesem Zusammenhang bedeutsamen Frage, welche argumentative Funktion dem Staat heute zukommt, siehe die beeindruckende dogmengeschichtliche, staatstheoretische und verfassungsrechtliche Analyse von Christoph Möllers, Staat als Argument, München 2000 (Münchener Universitätsschriften, Reihe der Juristischen Fakultät, Bd. 154). 68 Vgl. Kersten, Georg Jellinek (FN 25), S. 10, 34. 69 Hierzu kritisch Christian Tomuschat, Das Endziel der europäischen Integration. Maastricht ad infinitum?, in: Deutsches Verwaltungsblatt 111 (1996), S. 1073 ff. (1074); Wyduckel, La soberanla (FN 2), S. 291 f.

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bietet 7 0 . Die etatistische Sichtweise erscheint unter supra- und internationalem Aspekt aber auch deshalb wenig einleuchtend, weil der Staat im tradierten Sinne begrifflich und funktional auf ganz bestimmte Problemlagen bezogen ist, die sich so nicht unbesehen verallgemeinern lassen. Eine ,Heraufzonung' von Staatlichkeit wäre schließlich auch vom Standpunkt der klassischen Staatsmerkmale problematisch, weil die unterschiedlichen, sozio-kulturell und historisch geprägten Begriffe von Volk und Nation sich auf überstaatliche Gemeinschaftsbildungen nicht ohne Bedeutungs- und Sinnverluste übertragen lassen. Dies gilt besonders für einen ethnisch und national überformten Volksbegriff, der im Blick auf ein gesamteuropäisches Unionsvolk schwerlich verallgemeinerungsfähig wäre, von noch weitergehenden, ins Globale zielenden Überlegungen ganz zu schweigen. Von daher ist begründete K r i t i k an der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geübt worden, die in diesem Punkt in der Tat nicht ohne Widersprüche argumentiert 71 . Aber auch im internationalen Rahmen ist nicht davon auszugehen, dass der überkommene Staat, etwa i n Form einer weltstaatlichen civitas maxima am Ende unverkürzt wiederkehren werde, einmal abgesehen davon, ob ein derartiger Super-Leviathan überhaupt wünschenswert wäre. Die Globalisierung, verstanden als Eröffnung eines Welthorizonts, als komplexe Zunahme und Verdichtung der weltweiten politisch-sozialen, nicht nur: wirtschaftlichen Beziehungen, ist gleichwohl unhintergehb a r 7 2 . Der i n die Defensive geratene nationale Territorialstaat ist angesichts dieser Herausforderung in ein verändertes Umfeld gestellt, in dem die herkömmlichen rechtlichen und politischen Mechanismen nicht mehr i n der gewohnten Weise greifen mit der Folge, dass neue, vor allem interund transnationale Konzeptionen ins Blickfeld rücken 7 3 . Auf diesem Hintergrund ist das Bewusstsein dafür im Zunehmen begriffen, dass globale Probleme nicht durch einzelne Staaten lösbar sind, selbst wenn sie über erhebliche Machtressourcen verfügen. Das Völkerrecht reagiert 70 So Roland Lhotta, Der Staat als Wille und Vorstellung. Die etatistische Renaissance nach Maastricht und ihre Bedeutung für das Verhältnis von Staat und Bundesstaat, in: Der Staat 36 (1997), S. 189 ff. (192 f.). 71 BVerfGE 89 (1989), S. 155 ff. Dazu kritisch J. H. H. Weiler, The State „über alles". Demos, Telos and the German Maastricht Decision, in: Ole Due (u.a. Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Baden-Baden 1995, Bd. 2, S. 1651 ff. (1671); positiver in der Einschätzung Neil MacCormick, The Maastricht-Urteil: Sovereignty Now, in: Frank Fleerackers (u.a. Hrsg.), Law, Life and the Images of Man. Modes of Thought i n Modern Legal Theory. Festschrift for Jan Broekman, Berlin 1996, S. 447 ff., abwägend Tomuschat (FN 69), S. 1078 ff. 72 Vgl. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt a.M. 1997, S. 29 f.; Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 14 f. 73 Vgl. für die Europäische Union Armin von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, Baden-Baden 1999 (Forum Rechtswissenschaft, Bd. 28), allerdings ohne Bezug zum Subsidiaritätskonzept.

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auf diese Veränderungen, indem kooperationsrechtliche Strategien gegenüber koordinationsrechtlichen Verfahrensweisen an Gewicht gewinnen 7 4 . Desgleichen beginnt i n dem Maße, i n dem Gemeinschaftsaufgaben an Bedeutung zunehmen, die Erkenntnis wieder hervorzutreten, dass das Völkerrecht nicht nur ius inter gentes, sondern seinem ursprünglichen Sinn nach auch und vor allem ius gentium i m Sinne eines allen Völkern gemeinsamen Rechts i s t 7 5 . Für das Verständnis und die Zuordnung von Souveränität und Subsidiarität kann dieser Wandlungsprozess nicht ohne Folgen bleiben. So w i r d heute kaum mehr bestritten, dass auch die äußere Souveränität mit rechtlicher Bindung vereinbar sein kann. Die völkerrechtsbegrenzende Souveränität der nationalstaatlichen Epoche t r i t t damit zugunsten des die Souveränität i n vielfältiger Hinsicht begrenzenden Völkerrechts zurück 7 6 . Diese Zurücknahme ermöglicht wiederum, vom absoluten Anspruch der Souveränität abzurücken, um sie zumindest teilweise auf trans- und internationaler Ebene abwägungsfähig zu machen. Für die klassische Souveränitätsvorstellung erschien dies nur schwer möglich. Hatte sie doch auf die Einzigartigkeit des Staates als Herrschaftsform sowie die Impermeabilität von Staat und Staatsgewalt gesetzt. Gerade dieser mit dem tradierten Souveränitätsgedanken verbundene Anspruch auf uneingeschränkte staatliche Letztzuständigkeit stellt sich im Zeichen wachsender politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Interdependenzen i n zunehmendem Maße als prekär dar, die Souveränität als perforiert, erodiert und aus dem Zentrum gerückt 7 7 . Der überkommene Begriff der Souveränität kann unter diesen Umständen ebenso wie das Souveränitätsdogma zur Lösung der jetzt und künftig im Zeichen der Subsidiarität sich stellenden Probleme aufgrund seiner Defizite und.Widersprüche nur noch bedingt beitragen. Das heißt nicht, dass alle Traditionsbestände damit obsolet geworden wären. Es bedarf i m Zeichen des Rechts offener Staaten, d.h. der Öffnung nationaler Staatlichkeit nach Innen und Außen 7 8 allerdings einer Neukonzeptualisierung, die erstens 74 Vgl. Knut Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl., München 1999, § 3 Rn. 19 ff. 75 Vgl. Max Käser, lus gentium, Köln 1993 (Forschungen zum Römischen Recht, 40), S. 10 f.; Wilhelm Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl., BadenBaden 1988, S. 45; Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht (FN 36), Rn. 72 f. 76 Vgl. Knut Ipsen, Völkerrecht (FN 74), § 2, Rn. 66. Zurückhaltender Wolfgang Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 2. Aufl., Berlin 2001, Rn. 20 f. 77 Vgl. Joseph A Camilleri/Jim Falk, The End of Sovereignty? The Politics of a Shrinking and Fragmenting World, Hants 1992; Hebeisen, Souveränität (FN 3), S. 652; Ludger Kühnhardt, Stufen der Souveränität. Staatsverständnis und Selbstbestimmung i n der „Dritten Welt", Bonn 1992, S. 330 ff. (338); Peter Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl., Wien 1996, S. 14 ff. 78 Di Fabio, Das Recht offener Staaten (FN 3), S. 145 ff.; Hobe, Der offene Verfassungsstaat (FN 7), S. 409 ff.

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diese Traditionsbestände, auch im Hinblick auf Alternativen, einer k r i t i schen Prüfung unterzieht, zweitens nach Begriff und Funktion der Souveränität im Rahmen eines modifizierten Theoriedesigns fragt, um dieses schließlich drittens in den rechtlichen und politisch-sozialen Rahmen einzupassen, auf den es bezogen ist. Nicht von ungefähr w i r d gefordert, die Souveränität, wenn sie denn noch einen fassbaren Sinn haben soll, angesichts tiefgreifender und weltweiter Veränderungen i m Kräftefeld von Recht, Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wenn nicht aufzugeben, so doch i m Zeichen der ,Entsouveränisierung' neu zu verorten bzw. rechts-, staats- und sozialtheoretisch zu reformulieren 79 . In einem gewissen Gegensatz dazu steht freilich das Beharrungsvermögen, mit dem das verschiedentlich als anachronistisch qualifizierte Kriterium der Souveränität sich ungeachtet aller K r i t i k weiterhin i n der juristischen wie außerjuristischen Diskussion zu behaupten vermag, ja sowohl im rechtlichen als auch im politischen Sprachgebrauch weiterhin präsent i s t 8 0 . Es empfiehlt sich schon i m Hinblick auf ganz praktische Bedürfnisse deshalb nicht, den Begriff aus der wissenschaftlichen Terminologie ganz zu verbannen 81 . Angesichts der Schwierigkeiten, die sich aus dem überkommenen Souveränitätsverständnis ergeben, sollte die Souveränität jedoch nicht länger ontologisch-substanzhaft in dem Sinne verstanden werden, als ob sie eine Sache wäre, die man veräußern oder teilen kann, desgleichen nicht als eine Eigenschaft, die man, wie Jellinek meinte, dem Staate oder einem seiner Elemente materiell zusprechen könnte. Eine modifizierte Souveränität wäre vielmehr als Abgrenzungs- und Differenzierungskriterium 82 zu fassen, dessen Funktion darin besteht, staatliche Gemeinwesen in ihrer rechtlichen und politischen Identität untereinander sowie von anderen Organisationsformen des Gemeinschaftslebens zu unterscheiden, ohne sie damit i m Sinne der Impermeabilität voneinander zu trennen. Im Innenverhältnis hätte dies auf der Grundlage der jeweiligen Rechts- und Verfassungsordnungen zu geschehen, in denen die Souveränität nur mehr in Form von Kompetenzen in Erscheinung tritt, i m Außenverhältnis 79 Vgl. Erhard Denninger, Vom Ende nationalstaatlicher Souveränität i n Europa, in: Juristenzeitung 23 (2000), S. 1121 ff. (1125 ff.), der für den notwendigen Abschied von der Souveränität plädiert. Zurückhaltender Saladin, Wozu noch Staaten? (FN 3), S. 32 ff. (35). 80 Vgl. Otwin Massing, Souveränität - ein unverzichtbarer Anachronismus?, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat?, Baden-Baden 1993, S. 51 ff. (90 ff.). 81 So im Ergebnis auch Manfred Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems für die Wissenschaft vom öffentlichen Recht, in: Der Staat 36 (1997), S. 381 ff. 398). 82 Die Souveränität als Grenzbegriff hat bereits Carl Schmitt ins Spiel gebracht, sie jedoch ganz im Hinblick auf den Ausnahmezustand verengt. Vgl. Politische Theologie (FN 29), S. 11.

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anhand der entsprechenden regional- oder internationalrechtlichen Normen und Rechtsgrundsätze, so dass die Souveränität i m ersteren Fall zur Verfassungsautonomie, i m letzteren zur Völkerrechtsunmittelbarkeit w i r d 8 3 . Beide Regelungsebenen sind dabei nicht als dualistisch nebeneinander, sondern i m Sinne eines gemäßigten Monismus als ineinander stehend vorzustellen 84 . Die so bestimmte Souveränität ist Ausdruck der Rechtssubjektivität i m Innen- wie im Außenverhältnis und ermöglicht eine Aussage darüber, ob eine staatliche Gemeinschaftsordnung sich im Verhältnis zu anderen staatlichen oder außer- und überstaatlichen Ordnungen als identisch, d.h. als sinnhaft geordnete rechtliche und politische Handlungsstruktur erweisen lässt 8 5 . Souveränität wäre demnach nicht Voraussetzung der Staatlichkeit, sondern Ergebnis gelungener staatlicher oder auch überstaatlicher Identitätsbildung. Es erschiene jedoch verfehlt anzunehmen, die Souveränität ließe sich im Sinne Kelsens völlig im rechtlichen Regelsystem auflösen 86 . Wie schon ihre Genese zeigt, kommt ihr zugleich eminent politische Funktion zu. Selbst der demokratische Verfassungsstaat (der global keineswegs die Regel ist) kann Souveränitätsanmaßungen oder -anfechtungen ausgesetzt sein, die die Souveränität als Einbruchsstelle von Macht und Politik in das Recht erscheinen lassen. Die Souveränität lässt sich demnach nicht völlig rechtlich vereinnahmen, sondern erweist sich in mehrfacher Weise als eine für sehr unterschiedliche, ihrerseits wiederum begründungsbedürftige Ziele und Zwecke offene Grenzkategorie: zwischen Recht und Politik ebenso wie zwischen Recht und sozialer Rechts Wirklichkeit, sowie auf reflexiver Ebene zwischen Normativität und Faktizität. Die Legitimitätsfrage ist deshalb nicht zu Unrecht als die Innenseite der Souveränitätsfrage bezeichnet worden, die zugleich die nach den Souveränitätsbedingungen einschließt 87 . Die Souveränität w i r d damit zu einer abgestuften, relativen Kategorie 8 8 , gewinnt m.a.W. den Charakter eines in höherem oder geringerem Maße erfüllbaren Prinzips, so dass sich die Möglichkeit eröffnet, die Souveränitätsfrage unter den Bedingungen der Subsidiarität, d.h. unter dem Aspekt komplex gegliederter rechtlicher und politischer Ordnungen neu zu stellen. 83 Vgl. Ipsen, Völkerrecht (FN 74), § 2, Rn. 66. 84 Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht (FN 36), Rn. 549 ff. 85 Ob hierfür ein ,Gerüst des Unbezweifelten' vorausgesetzt werden muss, wie Werner von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, Berlin 1965, S. 264, annahm, erscheint allerdings zweifelhaft. 86 Vgl. Hebeisen, Souveränität (FN 3), S. 235. 87 Vgl. dazu Kriele, Einführung i n die Staatslehre (FN 27), S. 19. 88 Vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht (FN 11), S. 217; Saladin, Wozu noch Staaten? (FN 3), S. 35; Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht (FN 36), § 2, Rn. 6 f.; Vitzthum, Völkerrecht (FN 76), Rn. 45; Wildhaber, Souveränität, (FN 30), S. 145.

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Die Souveränität bleibt der Subsidiarität dabei i n dem Sinne vorgelagert, als zunächst bei der Souveränitäts- als der Identitätsfrage anzusetzen ist, um sodann die nach der inneren Bauform und Macht- bzw. Zuständigkeitsverteilung anzuschließen 89 . So ergibt sich ein doppelter Zusammenhang, der einmal auf die Einheit und Unverwechselbarkeit der jeweiligen rechtlichen und politischen Ordnung und ihre Ansprüche zielt, zum anderen auf ihre Gliederungsprinzipien, um sodann beide abwägend und zugleich optimierend aufeinander zu beziehen. Souveränität und Subsidiarität ergänzen sich so verstanden, wobei der letzteren ein Modus des Ausgleichs von Souveränitätskonkurrenzlagen im Sinne der jeweils kleineren, ja kleinsten kompetenten sozialen Einheit zukommt oder doch zukommen kann 9 0 . Namens der Subsidiarität können so auch inhaltlich-materielle Forderungen erhoben werden, die ein staatlich organisiertes rechtliches und politisches System daran erinnern, Monopoloder Absolutheitsansprüchen, vor allem aber totalitären Allmachtsversuchungen zu widerstehen. Umgekehrt ist wiederum keineswegs auszuschließen, dass die Subsidiarität in politischer Absicht zu partikularen Souveränitätszwecken instrumentalisiert wird, doch wäre dies ein apokrypher Gebrauch, der darauf hindeutet, dass das tradierte Souveränitätsdenken im Sinne einer höchsten und einzigartigen Gewalt manifest oder latent noch wirksam ist. A l l dies w i r d nur greifen können, wenn die Subsidiarität auch als universales Prinzip betrachtet werden kann, das nicht nur im abendländisch-europäischen Bereich Gültigkeit besitzt, sondern wirklich globaler Geltung fähig ist. Dies ist nicht zuletzt eine rechtliche, genauer: völkerrechtliche Frage. Die Völkerrechtslehre hat bisher eher abwartend-zurückhaltend auf das Subsidiaritätsprinzip reagiert. Seine völkerrechtliche Geltung w i r d aber keineswegs negiert, sondern für durchaus möglich und sinnvoll gehalten, ja z.T. bereits von seiner Implementierung als Ordnungsprinzip ausgegangen 91 . So kann das Subsidiaritätsprinzip ungeachtet der souveränen Gleichheit der Staaten gem. Art. 2 Nr. 1 U N Charta im Verhältnis von Mitgliedstaaten und Internationalen Organisationen sehr wohl Wirkung entfalten. Dies gilt namentlich für solche Bereiche, die wie die Friedenswahrung, der Menschenrechts- und Umweltschutz als kollektive Aufgaben die Problemlösungsfähigkeit einzelner

89 Siehe auch Koslowski, Subsidiarität (FN 5), S. 39 ff. (48), der wohl eine Rangfolge zu Gunsten des Demokratie- und Souveränitätsprinzips annehmen will, i n der die Subsidiarität als Metaprinzip erscheint. 90 Vgl. Günther Lottes, Subsidiarität und Souveränität i n den Staatsbildungsprozessen im Westeuropa der Frühen Neuzeit, in: Riklin/Batliner, Subsidiarität (FN 44), S. 243 ff. (247). 91 Vgl. Hobe, Der offene Verfassungsstaat (FN 7), S. 393 ff. (399 ff.) sowie umfassend Ulrich Fastenrath, Subsidiarität im Völkerrecht, i n diesem Bande, S. 475 ff.

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Staaten übersteigen. Dem Subsidiaritätsprinzip käme hier ähnlich wie im europäischen Gemeinschaftsrecht die Funktion einer Kompetenzverteilungsregel zu, der zufolge diejenige Gemeinschaft als zuständig anzusehen ist, die eine Aufgabe jeweils besser zu erfüllen vermag 9 2 . Dies setzt nicht notwendig ein hierarchisch geprägtes Über-/Unterordnungsverhältnis voraus, sondern entspricht eher einem Mehrebenenmodell, i n dem verschiedene, ineinanderstehende Entscheidungsebenen miteinander kooperieren, ohne dass a priori eine nationalstaatliche Staatsaufgabenstruktur zu Grunde gelegt würde 9 3 . Auch hier kann auf eine legitimatorisch-begleitende Reflexionsebene nicht verzichtet werden, die insbesondere den Zusammenhang von Menschenrechten, Konstitutionalität, Demokratie und Selbstbestimmung im Blick hält. Das Subsidiaritätsmodell ist somit auf Rahmenbedingungen angewiesen, ohne die die i n ihm angelegte Funktionalität leer läuft. Der Staat erscheint nach allem nicht länger als einzigartige Organisationsform des Gemeinschaftslebens oder gar als autonomer Gegenspieler der Gesellschaft, sondern als eines von verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen, dem zwar weiterhin zugemutet wird, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen, dies jedoch eher i m Sinne einer Entscheidungsprärogative als eines Entscheidungsmonopols. Die Frage der Bezeichnung der unterschiedlichen Gemeinschaftsformen sollte demgegenüber nicht überbetont werden, sofern man sich nur bewusst hält, dass der herkömmliche Staatsbegriff nicht mehr die alleinige Führungsgröße sein kann. An die staatliche Steuerungskapazität dürfen unter diesen Voraussetzungen keine überzogenen Anforderungen gerichtet werden. I m Gegenteil, supra- und internationale Institutionalisierungen führen zu neuen Formen politischer Organisation in einem mehr polyzentrischen Sinn, i n dem die Vorstellung von einem einzigen Herrschaftssystem, das alle Regierungsfunktionen i m Hinblick auf ein gegebenes Volk oder Territorium kontrolliert, aufgegeben i s t 9 4 . Ein als flexibles politisches System begriffener Staat w i r d i m Zeichen rechtlicher Deregulierung und gesellschaftlicher Selbststeuerung, die zur Subsidiarität im komplementären Verhältnis steht, weniger auf eine souveränitätsgeleitete imperative Gestaltung als auf konsensual-kooperative Strategien setzen und damit seine Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit nach Innen wie nach Außen nicht mindern, sondern u.U. beträchtlich steigern 95 . 92 Vgl. im Einzelnen Hobe, Der offene Verfassungsstaat (FN 7), S. 400 ff.; Fastenrath, Subsidiarität (FN 91), S. 492 ff. 93 Hobe, Der offene Verfassungsstaat (FN 7), S. 413 f., 442. 94 Hans Lindahl, Sovereignty and Symbolization, in: Rechtstheorie 28 (1997), S. 347 ff. (S. 349); Richard Bellamy /Dario Castiglione, Building the Union: The Nature of Sovereignty i n the Political Architecture of Europe, in: MacCormick, Constructing Legal Systems (FN 44), S. 91 ff. (113).

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Die Subsidiarität kann somit eine Antwort auf die Globalisierung sein, ohne die Souveränität leugnen zu müssen. Die kleineren und die jeweils größeren rechtlichen und politischen Einheiten dürfen dabei nicht in einen unüberbrückbaren Gegensatz gebracht oder gar gegeneinander ausgespielt werden. Die kommunitaristische Antwort auf die Globalisierung, die auf die kleineren und lokalen Einheiten abstellt, bleibt auf diesem Hintergrund unzureichend, weil sie Gefahr läuft zu verkennen, dass die Welt selbst i n der kleinsten Gemeinschaft i n irgendeiner Weise involviert ist, also nicht ausgeschlossen werden kann 9 6 . Gewiss lassen sich mit Begriffen allein die großen rechtlichen und politischen Fragen der Welt nicht lösen, doch können sie Veränderungen anzeigen, die auf einen strukturellen Wandel deuten und so perspektivische Einsichten vermitteln. Souveränität und Subsidiarität sind nach allem nicht verzichtbar, dies jedoch unter Voraussetzung, dass die erstere nicht als einengende nationale ,Zwangsjacke' 97 , sondern als flexibles juristisches und politisches Instrument verstanden wird, das es i n Abwägung mit den Ansprüchen der Subsidiarität ermöglicht, gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen im Zeichen zunehmender globaler Verflechtung identifizierend oder differenzierend zu begegnen.

95 Vgl. Bellamy /Castiglione, Building the Union (FN 94), S. 104. Siehe auch Calliess in diesem Bande, S. 389. 96 Bellamy /Castiglione, Building the Union (FN 94), S. 111. 97 Vgl. Tomuschat (FN 69), S. 1078.

RECHTSTHEORIE Beiheft 20, S. 563 - 564 Duncker & Humblot, 12165 Berlin

MITARBEITERVERZEICHNIS Black, Antony, Prof. Dr., University of Dundee, Department of Politics, Nethergate, Dundee, DD 1 4 ΗΝ, Scotland UK, Großbritannien Blickle, Peter, Prof. Dr., Universität Bern, Historisches Institut, Länggassstraße 49, CH-3000 Bern 9 Colise , Mauro, Prof. Dr., Università di Napoli Federico II, Dipartimento di Sociologia, Vico Monte della Pietà 1,1-80138 Napoli Calliess , Christian, Priv.-Doz. Dr. M.A.E.S. (Brügge) LL.M.Eur., Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Postfach 151150, D-66041 Saarbrücken Delsol, Chantal, Prof. Dr., 46 Boulevard Saint-Michel, F-75006 Paris Fastenrath, Ulrich, Prof. Dr., Technische Universität Dresden, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht, D-01062 Dresden Hense, Ansgar, Dr., Technische Universität Dresden, Juristische Fakultät, D-01062 Dresden Hüglin, Thomas O., Prof. Dr., Wilfrid Laurier University, Department of Political Science, Waterloo, Ontario, Canada, N2L 3C5 Isensee, Josef, Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Bonn, Juridicum, Adenauerallee 24-42, D-53113 Bonn Klueting, Harm, Prof. Dr., Universität Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln-Lindenthal Krawietz, Werner, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult., Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Rechtssoziologie, Rechts- und Sozialphilosophie, Bispinghof 24/25, D-48143 Münster Lakoff, Sanford, Prof. Dr., University of California, San Diego, Department of Political Science, 9500 Gilman Drive, La Jolla, CA 92039-0521, USA Malandrino, Corrado, Prof. Dr., Università „A. Avogadro" del Piemonte Orientale, Facoltà di Scienze politiche, Corso T. Borsalino 50, 1-15100 Alessandria Mikluscdk, Pavel, Dr. habil., Kozikova 1, 84105 Bratislava-Devin, Slowakei Moorman van Kappen, Olav, Prof. em. Mr. Dr. h.c., „Hofstetten", Zutphensestraatweg 70, NL-6955 A K Ellecom Nitschke, Peter, Prof. Dr., Hochschule Vechta, FB Geistes-, Kultur- und Sozial Wissenschaften, Postfach 1533, D-49364 Vechta Odermatt, Katharina, Lie., Kilchbühl 6, CH-6390 Engelberg Pernthaler, Peter, Univ.-Prof. Dr., Universität Innsbruck, Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft, Innrain 80, A-6020 Innsbruck

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Mitarbeiterverzeichnis

Pieper, Stefan Ulrich, Priv. Doz. Dr., Bundesministerium des Inneren, Referat V 1 b, Alt-Moabit 101 D, D-10559 Berlin Röhls, Jan, Prof. Dr., Universität München, Fakultät für Evangelische Theologie, Schellingstraße 3 / I I I Vgb., D-80799 München Scattola, Merio, Dr., Galleria Caracas 2 C, 1-36067 San Giuseppe di Cassola de Wall, Heinrich, Prof. Dr., Universität Erlangen, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Hans-Liermann-Institut für Kirchenrecht, Hindenburgstraße 34, D-91054 Erlangen Walther, Manfred, Prof. Dr., Universität Hannover, Lehrgebiet Philosophie und Rechtsdidaktik, Königsworther Platz 1, D-30167 Hannover Würtenberger, Thomas, Prof. Dr., Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht, Abt. Staatsrecht, Europaplatz, D-79098 Freiburg Wyduckel, Dieter, Prof. Dr., Technische Universität Dresden, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsgeschichte, Allgemeine Rechts- und Staatslehre, Staatskirchenrecht, D-01062 Dresden