Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht: Eine Einführung in die Problematik des Analogieverbots [1 ed.] 9783428439461, 9783428039463


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German Pages 269 Year 1977

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Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht: Eine Einführung in die Problematik des Analogieverbots [1 ed.]
 9783428439461, 9783428039463

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VOLKER KREY

Studien zum Gesetzesvorhehalt im Strafrecht

Schriften zum Strafrecht Band 26

Studien zum Gesetzesvorhehalt im Strafrecht Eine Einführung in die Problematik des Analogieverbots

Von

Dr. Volker Krey o. Profeasor an der Unlversltlt Trler

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

© 1977 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 03941; 7

Meinen Eltern in Dankbarkeit

Vorwort In einer Zeit, die mir durch die Tendenz zur Stärkung der Richtermacht gegenüber dem Gesetz gekennzeichnet zu sein scheint, gilt es sich zurückzubesinnen auf jene Verfassungsnormen und -prinzipien, die der Richtermacht Schranken ziehen. Zu ihnen zählt namentlich der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt (Art. 10311 GG), aus dem das strafrechtliche "Analogieverbot" hergeleitet wird; dieses steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Sie ist im wesentlichen auf dem Stand von 1975/76. Mein besonderer Dank gilt meinem Lehrer, Herrn Prof. Dr. G. Warda, der das Entstehen der Arbeit von Beginn an verständnisvoll und mit wertvollen Anregungen gefördert hat. Für die kritische Durchsicht des Manuskripts habe ich meinen Mitarbeitern, Herrn Akademischer Rat Dr. H.-L. Günther und Herrn Richter W. Weiss zu danken. Zugleich schulde ich ihnen sowie meinen Mitarbeitern Referendarin M. Fröhlinger, stud. jur. G. Hoffmann und meiner Sekretärin K. Weidmann Dank für die Hilfe beim Korrekturlesen. Der Justizminister Rheinland-Pfalz, Herr O. Theisen, und der Freundeskreis der Universität Trier haben sich großzügig an den Druckkosten beteiligt. Ihnen möchte ich auch an dieser Stelle danken. Schließlich möchte ich auch Herrn Senator Prof. Dr. J. Broermann für die freundliche Aufnahme meiner Schrift in sein Verlagsprogramm Dank sagen. Trier, im Dezember 1976

VoZker Krey

Inhaltsübersicht Einleitung

19 Erster Abschnitt PROBLEMSTELLUNG Kapite~

1

Herkömmliche Unterscheidung zwischen ridlterlicher Rechtsfindung secundum und praeter legem und ihre Bedeutung § 1. Darlegung dieser Differenzierung ..... . ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Rechtsfindung secundum legern ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

24 24

H. Rechtsfindung praeter legern ..................................

24

§ 2. Bedeutung der Differenzierung zwischen Rechtsfindung secundum

und praeter legern für die Gesetzesbindung des Richters im Strafrecht 26 1. Der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt -

Art. 103 H GG -

. . . . ..

1. Bedeutung des Analogieverbots ............................

2. Geltungsbereich des Analogieverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Materielles Strafrecht ....................... . .......... b) Strafprozeßrecht ........................................ c) Ordnungswidrigkeitenrecht .......................... . . ..

26 27 29 30 35 36

H. Der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts ............... . .. 37 1. Bedeutung dieses Gesetzesvorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 37 2. Reichweite des öffentlich-rechtlichen Gesetzesvorbehalts im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 41 § 3. Grenzziehung zwischen der richterlichen Rechtsfindung secundum

und praeter legern ................................................

43

1. Zur übergreifenden Bedeutung dieser Problemstellung . . . . . . . . ..

43 43 44 44

1. Strafrecht

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Zivilrecht ..................................................

11. Zu den Abgrenzungskriterien im einzelnen .................... 45 1. Abstellen auf den Wortsinnn des Gesetzes als Auslegungsschranke .................................................. 45 2. Gegner der Lehre vom Gesetzeswortsinn als Grenze der Rechtsfindung secundum legern ............................ 49

Inhaltsübersicht

10

3. Der gesetzliche bzw. gesetzgeberische Regelungszweck als zusätzliche Auslegungsschranke neben dem Wortsinn des Gesetzes...................................................... 53 Kapitel 2

Zum Zusammenhang der Unterscheidung zwischen richterlicher Rechtsfindung secundum und praeter legem mit hergebrachten Vorstellungen von der Gesetzesanwendung als Erkenntnisakt § 1. Rechtsfindung secundum und praeter legem als Stufen des rechts-

schöpferischen Anteils des Richters an der Bildung des Entscheidungsobersatzes ........................................................ 55 I. Rechtsfindung secundum legem ................................ 1. Zur Subsumtion als rein logischem Schluß .................. 2. Rechtsschöpferischer Charakter der Gesetzesauslegung? ...... a) Zum Auslegungsbild in dogmengeschichtlicher Sicht ... . .. b) Zum Verständnis der Gesetzesauslegung als Erkenntnisakt im heutigen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

55 55 56 56

11. Rechtsfindung praeter legern ..................................

76

§ 2. Zur Unterscheidung zwischen Rechtsfindung secundum legem und

Rechtsfortbildung

67

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

77

I. Darlegung dieser Differenzierung ..............................

77

11. Zur vermittelnden Ansicht von Larenz

78

Kapitel 3

Zur Deutung der Gesetzesauslegung als normbUdendem (normvollendendem) Akt § 1. Die Konkretisierung von Generalklauseln als normbildender (norm-

vollendender) Akt ................................................

80

I. Zum Begriff der Generalklausel ..............................

81

11. Die Generalklausei als gesetzliche Ermächtigung zur Bildung richterlichen Fallrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Gründe für die Verwendung von Generalklauseln bei der Gesetzgebung ................................................ 2. Zur Konkretisierung von Generalklauseln als Normergänzung 3. Generalklauseln und richterliches Fallrecht . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Zusammenfassung.......................................... § 2. Zur normbildenden (normvollendenden) Bedeutung der Auslegung

81 82 87 90 96

kasuistischer Regelungen ..........................................

97

I. Zum Begriff der kasuistischen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

97

H. Unbestimmte und normative Rechtsbegriffe als gesetzliche Ermächtigung zur richterlichen Rechtsfortbildung im Sinne einer Normvollendung .............................................. 97

Inhaltsübersicht

11

1. Die Auslegung unbestimmter und normativer Rechtsbegriffe

als Normergänzung ........................................ 97 2. Gesetzesnormen mit unbestimmten und normativen Rechtsbegriffen als Ermächtigung zur normvollendenden Bildung richterlichen Fallrechts ........................................ 100 3. Die Strafrechtsnorm als Produkt arbeitsteiligen Zusammenwirkens von Gesetzgebung und Rechtsprechung bei der Normbildung .................................................... 101 Kapitel 4

Kritische stimmen zur herkömmlichen Differenzierung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern § 1. Zur Kritik an der Unterscheidung zwischen Rechtsfindung secundum

und praeter legem ................................................ 108 I. Mennicken .................................................... 108 11. Esser

108

111. Kriele

109

IV. Hans-Peter Schneider

........................................ 110

§ 2. Konsequenzen dieser Kritik für den Gesetzesvorbehalt des Strafrechts

(Art. 103 11 GG) und des öffentlichen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 110 Zweiter Abschnitt DIE GESETZESNORM ALS REGELUNGSRAHMEN FüR DIE RICHTERLICHE RECHTSFINDUNG SECUNDUM LEGEM KapitelS

Zur Deutung der Gesetze als Regelungsrahmen § 1. Die Rechtsnorm als gesetzliche Ermächtigung zur Rechtsfortbildung

innnerhalb ihres Rahmens ........................................ 113 I. Zum Wesen der Rechtsnorm .................................. 113 11. Zur Deutung der Rechtsnorm als Regelungsrahmen im Schrifttum 1. Oskar v. Bülow ............................................ 2. Esser ...................................................... 3. Friedrich Müller 4. Lemmel 5. Nickel 6. Arthur Kaufmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7. Wolfgang Meyer 8. Niklas Luhmann

§ 2. Zum Verhältnis der hier vertretenen Ansicht zu Kelsens Normver-

116 116 116 117 117 117 117 118 118

ständnis .......................................................... 121

12

Inhaltsübersicht I. Kelsens Deutung der Gesetzesnorm als Regelungsrahmen

121 124

Ir. Kritik Kapitel 6

Der "mögliche Wortsinn" des Gesetzes als formale Begrenzung des gesetzlirhen Regelungsrabmens § 1. Zum möglichen Wortsinn des Gesetzes als Auslegungsgrenze

127

I. Rechtsprechung und Lehre zur Wortlautgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . .. 127 1. Befürworter der Ansicht vom möglichen Wortsinn der Rechts-

norm als Auslegungsgrenze ................................ 127 a) Lehre .................................................. 127 b) Rechtsprechung ........................................ 134

2. Kritische Stimmen zur These, der mögliche Wortsinn des Gesetzes sei Auslegungsgrenze ................................ 140 a) Lehre ......................... . ........................ 140 b) Rechtsprechung ........................................ 144 Ir. Eigene Stellungnahme

146

§ 2. Zur Orientierung am heutigen "Sprachgebrauch des täglichen Lebens"

bei der Feststellung des möglichen Wortsinns der Rechtsnorm ...... 154 I. Der allgemeine Sprachgebrauch als Auslegungsgrenze .......... 154

Ir. Zur Orientierung am heutigen Sprachgebrauch ................ 162 § 3. Beispiele für die überschreitung oder "Unterschreitung" der Wort-

lautschranke im Strafrecht ........................................ 163 I. überschreitung ................................................ 163 1. Wortsinnüberschreitungen bei der Gesetzesauslegung in der

Rechtsprechung des BGH .................................. 163

2. Norminterpretationen im Schrifttum, die den Rahmen des mög..: lichen Wortsinns überschreiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 164 11. "Unterschreitung" des möglichen Wortsinns

167

§ 4. Ausnahmen von der Wortlautgrenze? ..................... . ........ 168

I. Stellungnahmen in Rechtsprechung und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . .. 168 1. Druckfehler ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 168

2. Redaktionsversehen ........................................ 169 Ir. Kritik ................................................. . ...... 171 1. Druckfehler

171

2. Redaktionsversehen ....................... . .......... . ..... 171

13

Inhaltsübersicht

172

II!. Ergebnis Kapitel 7

Die rechtspolitische Wertentscheidung des Gesetzgebers als materiale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens § 1. Zum Streit zwischen objektiver und subjektiver Auslegungstheorie .. 173

1. Meinungsstand ................................................ 174

1. Subjektive Theorie ................................... . .... 174

2. Objektive Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175 3. Methodensynkretismus der Rechtsprechung

................ 176

4. Vermittelnde Ansichten zum Streit zwischen subjektiver und objektiver Theorie ........................................ 179 5. Kritische Stimmen zur herkömmlichen Auslegungstheoretik .. 181 II. Eigene Stellungnahme ........................................ 182 1. Auslegung als gegenwartsbezogene Ausfüllung des gesetzli-

chen Regelungsrahmens .................................... 182

2. Die rechtspolitische Wertung des Gesetzgebers als Auslegungsschranke .................................................. 184 3. Anmerkung zur "Andeutungstheorie" ...................... 186 4. Ergebnis

.................................................. 187

5. Beispiele für die Auslegungsschranke "rechtspolitische Wertentscheidung des Gesetzgebers" ............................ 187 § 2. Die rechtspolitische Wertentscheidung des Gesetzgebers als Leitlinie

und Schranke der Gesetzesauslegung .............................. 188

§ 3. Zum Problem der Feststellung der gesetzgeberischen Wertentschei-

dung

............................................................ 190

§ 4. Ausnahmen von der Begrenzung der Gesetzesauslegung durch die

rechtspolitische Wertung des Gesetzgebers? ........................ 192 Kapitel 8

Rechtsfindung secundum legem als Normbildung innerhalb des Bereichs gesetzlicher Regelungsrahmen § 1. Die Unterscheidung richterlicher Rechtsfortbildung innerhalb gesetz-

licher Regelungsrahmen von der außerhalb solcher Rahmen erfolgenden und ihr Verhältnis zur herkömmlichen Differenzierung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern ........................ 195

§ 2. Differenzierung zwischen der Feststellung des gesetzlichen Rege-

lungsrahmens und seiner Ausfüllung bei der Rechtsfindung secundum legern ............................................................ 197

Inhaltsübersicht

14

Dritter Abschnitt ART. 103 II GG UND DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHE GESETZESVORBEHALT ALS SCHRANKEN FüR DIE PRAETER LEGEM ERFOLGENDE RECHTSFINDUNG IM STRAFRECHT Kapitel 9

Zur Bedeutung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts als Schranke für die Redttsfortbildung au8erhalb gesetzlicher Regelungsrahmen § 1. Rechtsprechung und Lehre zum Verständnis des strafrechtlichen Ana-

logieverbots ...................................................... 199 I. Zur herrschenden Deutung des strafrechtlichen Analogieverbots 199 11. Kritische Stimmen ............................................ 200 111. Bindung des Richters an den .. Willen des historischen Gesetzgebers" im Geltungsbereich des Art. 10311 GG? .................. 202 IV. Zusammenfassung ............................................ 203

§ 2. Art. 103 11 GG als Verbot strafbegründender oder -schärfender

Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen ........ 204 I. Normtheoretische Begründung ................................ 204

11. Verfassungsrechtliche Begründung ............................ 1. Zum Grundgedanken des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts a) Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür b) Strafrechtliches Analogieverbot und demokratisches Prinzip 2. Folgerungen aus dem Grundgedanken des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts für dessen Verständnis .................... a) Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür b) Demokratisches Prinzip .. , ............................... 111. Zusammenfassung

206 206 207 210 213 213 214 214

Kapitel 10

Reichweite des strafremtlimen Analogieverbots § 1. Zum Geltungsbereich des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im ma-

teriellen Strafrecht ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 215 I. Deliktsfolgen 1. Strafen .................................................... 2. Maßregeln der Besserung und Sicherung .................... 3. Auflagen und Weisungen .................................... a) Auflagen (§ 56 b StGB) .................................. b) Weisungen (§§ 56 c, 56 d StGB) ............................

215 215 218 220 220 221

11. Straftatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 221 1. Zu Welzels These der Ausklammerung von .. Abgrenzungsformeln" aus dem Schutzbereich des Analogieverbots ............ 221

15

Inhaltsübersi('ht 2. Zur Problematik der §§ 315 I Nr. 4, 315 b I Nr. 3 StGB ("ähnlicher, ebenso gefährlicher Eingriff") ........ . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Unechte Unterlassungsdelikte .............................. 4. Blankettstrafgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Zum Analogieverbot bei Akzessorietät strafrechtlicher Begriffe zum Zivilrecht bzw. öffentlichem Recht ................

223 225 226 227

II1. Allgemeiner Teil .............................................. 228 IV. Strafzumessungsrecht (Regelbeispiele für "besonders 'schwere Fälle") ........................................................ 237 § 2. Zur Geltung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im Strafverfah-

rensrecht

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 237

I. Ordnungsgeld, Ordnungshaft .................................. 237 II. Anwendbarbarkeit im Bereich der Normen über die Verfolgbarkeit des Täters? .............................................. 238 Kapitel 11

Der öffentlich-rechtliche Gesetzesvorbehalt als Schranke für die RechtsforibUdung außerhalb gesetzlidler Regelunltsrahmen im Strafredlt § 1. Reichweite des öffentlich-rechtlichen Gesetzesvorbehalts im Strafrecht 240 § 2. Der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts als "Analogieverbot" .. 241

1. Normtheoretische Erwägungen ................................ 241 II. Parallelität des öffentlich-rechtlichen Gesetzesvorbehalts zum strafrechtlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 242 III. Grundgedanke des öffentlich-rechtlichen Gesetzesvorbehalts .... 243 1. Schutz der individuellen Freiheit vor obrigkeitlicher Willkür 243 2. Demokratisches Prinzip .................................... 243 IV. Ergebnis ................................................... . .. 244

Thesen Literaturverzeichnls

246

.................................................. 249

Sachregister .................. . ....................................... 266

Abkürzungsverzeichnis a.A.

aaO AcP AE

a.E. a.F. AG Anm. AöR ARSP AT BayObLG BayVGH BFH BGB BGBI BGH BGHSt BT BVerfG BVerfGE DB Diss. DOV DRiZ DVBI E 1962 EGStGB FamRZ GA GG GS GVG

h.A.

h.L. h.M.

i. d. F. i. S. v.

JA JöR JR JuS JZ LK MDR

anderer Ansicht am angegebenen Ort Archiv für die civilistische Praxis Alternativentwurf eines Strafgesetzbuches am Ende alte Fassung Amtsgericht Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Allgemeiner Teil Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bundesfinanzhof Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt (Teil, Seite) Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Besonderer Teil Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Der Betrieb Dissertation Die öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt Entwurf eines Strafgesetzbuchs (Bundestagsvorlage) Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Goltdammers Archiv für Strafrecht Grundgesetz Großer Senat Gerichtsverfassungsgesetz herrschende Ansicht herrschende Lehre herrschende Meinung in der Fassung im Sinne von Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Leipziger Kommentar Monatsschrift für Deutsches Recht

Abkürzungsverzeichnis n.F. NJW Ost. RichterZ OGHSt OLG RG RGSt SchwZStrR SJZ SK StGB StPO StuW StVG ZPO ZRP ZStW

2 Krey

=

17

neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Osterreichische Richterzeitung Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone in Strafsachen Oberlandesgericht Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Süddeutsche Juristen-Zeitung Systematischer Kommentar zum StGB Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Steuer und Wirtschaft Straßenverkehrsgesetz Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einleitung § 1. In der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre unterscheidet die herrschende Auffassung bekanntlich drei Stufen richterlicher Rechtsfindung: Die Rechtsfindung secundum legern (Auslegung), praeter legern (gesetzesergänzende Lückenfüllung) und contra legern (Gesetzeskorrektur, Auflehnung des Richters gegen das Gesetz)l. Mit dieser herkömmlichen Differenzierung verbinden sich unter dem Gesichtspunkt der Gesetzesbindung des Richters im wesentlichen zwei Fragenkomplexe: 1. Ist die Rechtsfindung praeter legern im Geltungsbereich des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts ("nullum crimen sine lege", Art. 103 II GG) und des öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalts (nach dem hoheitliche Eingriffe in die Rechte des Bürgers nur auf Grund eines Gesetzes erfolgen dürfen)! ausgeschlossen? Soweit man dies bejaht, stellt sich die Anschlußfrage nach der Abgrenzung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern.

2. Ist durch die Verfassungs- und Gesetzesnormen, nach denen die Richter "dem Gesetz unterworfen" (Art. 97 I GG; §§ 1 GVG, 25 DRiG) bzw. "an Gesetz und Recht gebunden" (Art. 20 III GG) sind, die Rechtsfindung contra legern verboten? Soweit man das annimmt, gelangt man zum Problem der Abgrenzung der - durch diese Normen nicht berührten - Rechtsfindung praeter legern von der contra legern erfolgenden. Gegenstand der vorliegenden Arbeit wird der erstgenannte Problemkreis sein, und zwar soweit er das (materielle und formelle) Strafrecht betrifft; dagegen werden die Probleme der Rechtsfindung contra legern 1 So insbesondere Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 105, 134; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 17 - 19, 21 f. Anm. 17, 31 ff., 197; Säcker, ARSP 1972, S. 216, 227, 235; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 574; Krey, NJW 1970, S. 1908; Promm, JuS 1975, S. 302; RothStielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, S. 32, 34, 42, 83, 89; Bender, JZ 1957, S. 599 f.; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 62; Schack, JuS 1961, S. 269, 272 - 273; Fuss, Zur richterlichen Prüfung von Gesetz und Gesetzesanwendung, S. 15 (a. E.); vgI. weiter Eckardt, Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 71. Siehe auch Göldner,

Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 74 f., 170,215. Larenz (Methodenlehre, S. 350 ff., 402 ff.) nennt neben der "Auslegung" und der "Ausfüllung von Gesetzeslücken" als dritte Stufe richterlicher Rechtsfindung die "Rechtsfortbildung über den Plan des Gesetzes hinaus (gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung)" . Zur Kritik an dieser herkömmlichen Unterscheidung der drei Stufen richterlicher Rechtsfindung im neueren Schrifttum vgI. Kapitel 4. 2 Dazu unten, Kapitell, § 2 II 1; Kapitel 11.

Einleitung

20

hier nicht behandelt. So verlockend es auch sein mag, eine Monographie zur "Gesetzesbindung des Richters" in Angriff zu nehmen, die beide Fragenkomplexeumfaßt, also die Einschränkung derRichtermacht durch Gesetzesvorbehalte einerseits und die Problematik der Auflehnung des Richters gegen das Gesetz andererseits, - ein solches Vorhaben ließe sich nicht in einer Monographie verwirklichen, sollte diese nicht nach ihrem Umfang jedes Maß sprengen. § 2. Thema unserer Abhandlung ist also die Frage der Beschränkung der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem im Strafrecht durch Gesetzesvorbehalte, wobei neben dem strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt auch der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts für hoheitliche Eingriffe zu berücksichtigen sein wird; denn wo solche Eingriffe im Bereich des materiellen oder formellen Strafrechts erfolgen, ohne von Art. 103 II GG erfaßt zu werden - z. B. im Strafprozeßrecht Zwangsmaßnahmen wie die Festnahme nach § 127 StPO -, ist der öffentlichrechtliche Gesetzesvorbehalt einschlägig!!. Ungeachtet jener Berücksichtgung des öffentlichrechtlichen Vorbehalts des Gesetzes wird aber im Mittelpunkt der Arbeit die Frage stehen, ob (und wieweit) der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt die richterliche Rechtsfinung praeter legern ausschließt, während jener öffentlichrechtliche Vorbehalt des Gesetzes nur am Rande behandelt wird: Die Frage, ob der öffentlichrechtliche Gesetzesvorbehalt ein Analogieverbot enthält - und zwar in dem Sinne, daß er dort, wo es um die Begründung oder Verschärfung hoheitlicher Eingriffe in die Rechte des Bürgers geht, die behördliche oder richterliche Rechtsfortbildung praeter legem4 ausschließt -, geht zwar auch den Strafrechtler an, etwa im Hinblick auf strafprozessuale Grundrechtseingriffe; diese Frage in monographischer Breite zu klären, ist aber nicht seine Aufgabe, sondern die des Öffentlichrechtlers. Daher beschränkt sich die vorliegende Arbeit darauf, zu dem Problem der Begrenzung der behördlichen und richterlichen Rechtsfindung durch den öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalt den Meinungsstand zu umreißen und den eigenen Standpunkt sowie die Begründung dafür zu skizzieren. § 3. Hauptgegenstand der vorliegenden Monographie ist also die Problematik, ob (und wieweit) der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legern durch den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt (Art. 103 II GG) Schranken gezogen sind; und insoweit ist die Abhandlung nichts ande-

3 4

Vgl. unten, Kapitel 1, § 2 II 2; Kapitel 11, § 1. Und erst recht die contra legern erfolgende.

Einleitung

21

res als eine Monographie zur Bedeutung des strafrechtlichen "Analogieverbots"5: Von den vier Verboten, die der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt nach Art. 103 II GG beinhaltet, nämlich Rückwirkungsverbot, Verbot allzu unbestimmter Strafgesetze, Verbot strafbegründenden bzw. -schärfenden Gewohnheitsrechts sowie Analogieverbot6 , betrifft nur letzteres unsere Frage nach der Zulässigkeit der richterlichen gesetzesergänzenden Lückenfüllung im Strafrecht, während die anderen drei Verbote jene Frage nicht zum Gegenstand haben. Dies gilt auch für das Verbot strafbegründenden bzw. -schärfenden Gewohnheitsrechts; denn bei der Anwendung von gewohnheitsrechtlichen Rechtssätzen geht es nicht um richterliche Rechtsfindung praeter legern, vielmehr schließen einschlägige Normen des Gewohnheitsrechts die Annahme einer Regelungslücke als Voraussetzung der Rechtsfinung praeter legern aus7 : Notwendige Bedingung für das Bestehen einer solchen Lücke ist nämlich, daß der zu entscheidende Fall unter keine "passende Rechtsnorm", sei es des geschriebenen Rechts (Gesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen), sei es des Gewohnheitsrechts, subsumiert werden kann. Von jenen vier Verboten des Art. 103 II GG soll daher allein das Analogieverbot Gegenstand der folgenden Untersuchung sein. Danach läßt sich das Thema unserer Abhandlung dahin präzisieren: Ihr Hauptgegenstand ist die Problematik des strafrechtlichen Analogieverbots. Das Schwergewicht der Arbeit wird dabei zum einen auf der Frage nach dem Wesen der Gesetzesauslegung und damit zugleich auf der nach dem Wesen der auszulegenden Gesetzesnorm liegen, da beide Fragen untrennbar zusammengehören, zum anderen auf der Abgrenzung zwischen Gesetzesauslegung und gesetzesergänzender Lückenfüllung; dies deswegen, weil wir zu dem Ergebnis gelangen, daß sowohl der strafrechtliche wie auch der öffentlichrechtliche Gesetzesvorbehalt in ihrem Geltungsbereich die richterliche Rechtsfindung - soweit es um Strafbegründung (oder Strafschärfung) bzw. um sonstige Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers geht - auf den Bereich der Norminterpretation beschränken und die gesetzesergänzende Lückenfüllung ausschließen. § 4. Daß bereits zwei strafrechtliche Habilitationsschriften das Analogieverbot des Art. 103 II GG zum Gegenstand hatten - nämlich die 5 Was mit diesem Begriff gemeint ist, wird die folgende Untersuchung (insbesondere in Kapitel 1, § 2 I 1 und Kapitel 9) ergeben. S Siehe unten, Kapitel 1, § 2 I. 7 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 39; Engisch, Der Begriff der Rechtslücke, S. 88.

22

Einleitung

Untersuchungen von Sax8 und H. L. Schreiber' -, schließt, wie wir meinen, die Berechtigung einer weiteren monographischen Untersuchung nicht aus: Gegenüber der Monographie von Sax kommt die hier vorliegende Abhandlung weitgehend zu abweichenden Ergebnissen; und zudem behandelt sie Fragestellungen - wie die Bedeutung des Gesetzesvorbehalts des öffentlichen Rechts im Strafrecht -, die bei Sax ausgeklammertsind. Die Arbeit von Schreiber ist nach Thema und Schwerpunkt eine umfassende Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Satzes "nullum crimen sine lege", die zudem ihr Hauptgewicht nicht auf das Analogieverbot legt, sondern der Erörterung des Rückwirkungsverbots, des Verbots allzu unbestimmter Strafgesetze und des Verbots von Gewohnheitsrecht im Grundsatz gleiches Gewicht beimißt wie der des Analogieverbots. Demgegenüber treten in unserer Abhandlung rechtshistorische Fragestellungen zurück - was angesichts der Untersuchung von Schreiber sachgerecht erscheint - und wird, wie oben ausgeführt, von den aus dem Grundsatz "nullum crimen sine lege" hergeleiteten Prinzipien nur das Analogieverbot behandelt. § 5. Nach Anspruch und Anliegen ist die vorliegende Untersuchung im Kern eine Apologie (Verteidigungsschrift) zugunsten des strafrechtlichen Analogieverbots, das wir als Verbot strafbegründender oder -schärfender Rechtsfortbildung über den Rahmen der Gesetzesauslegung hinaus verstehen, wobei dieser Rahmen durch den möglichen Wortsinn des Gesetzes und die ratio legis begrenzt wird. Uns geht es nicht in erster Linie darum, wissenschaftliches Neuland zu betreten, sondern darum, der wachsenden Tendenz zur ausdrücklichen oder doch faktischen Preisgabe des Analogieverbots10 entgegenzutreten. Denn wir halten diese Tendenz aus normtheoretischen und verfassungsrechtlichen Gründen für eine verhängnisvolle Fehlentwicklung, mit der man sich nicht etwa resignierend abfinden, sondern die man entschieden bekämpfen sollte - wie es die vorliegende Arbeit versucht. Das strafrechtliche "Analogieverbot" (1953). Gesetz und Richter. Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege (1976). 10 Von einigen Autoren wird das strafrechtliche Analogieverbot expressis verbis negiert; andere Stimmen in Rechtsprechung und Lehre halten zwar verbal am Analogieverbot fest, geben es aber - wie uns scheint - faktisch auf, indem sie dem Richter auch dort, wo es um Strafbegründung oder -schärfung geht, die Überschreitung des Normtextes gestatten. Siehe Kapitell, § 2 I 1; Kapitel 6, § 3 I; Kapitel 9, § 1 11. Vgl. auch die resignierende Feststellung Nauckes (Tendenzen der Strafrechtsentwicklung, S. 50): "Allgemein kann man sagen, daß gegenüber dem Problem der Bindung des Strafjuristen an das Gesetz, gegenüber dem Satz nullum crimen, nulla poena sine lege Verlegenheit, ja Ratlosigkeit herrscht." 8

v

Einleitung

23

Eine Abhandlung, die allen Tendenzen zur Stärkung der Richtermacht gegenüber dem Gesetz zum Trotz am herkömmlichen Analogieverbot festhält und damit den Straf juristen an den Normtext bindet soweit es um strafbegründende oder -schärfende Rechtsfortbildung geht -, wird dem Einwand begegnen, dem kriminalpolitischen Bedürfnis nach möglichst lückenloser Erfassung aller strafwürdigen Taten durch die Strafgesetze nicht gerecht zu werden. Wer so argumentiert, sei daran erinnert, daß ein vom Gesetzesvorbehalt (Art. 103 II GG) geprägtes, d. h. rechtsstaatliches Strafrecht nie lückenlos sein kann: Wer ein freiheitlich-rechtsstaatliches Strafrecht bewahren will, muß in gewissem Umfang Strafbarkeitslücken in Kauf nehmen - und dieser Preis ist nun wirklich nicht zu hoch!

Erster Abschnitt

Problemstellung Kapitell

Herkömmliche Unterscheidung zwischen richterlicher Rechtsfindung secundum und praeter legem und ihre Bedeutung § 1. Darlegung dieser Differenzierung I. Rechtsfindung secundum legem

Bei der ersten Stufe richterlicher Rechtsfindung, der secundum legern erfolgenden, soll es sich nach der herkömmlichen Lehre um die sogen. "unmittelbare Anwendung"1 eines Gesetzes handeln, wobei dessen Sinn durch Auslegung (Interpretation) zu ermitteln sei 2 • Die Auslegung der Gesetze wird damit zur "Wegweiserin der Rechtsfindung secundum legem"3: In zivilrechtlichen oder öffentlichrechtlichen Rechtsstreitigkeiten oder in Strafprozessen wird eine für die richterliche Entscheidung erhebliche Rechtsfrage dann durch Rechtsfindung secundum legern gelöst, wenn der problematische Fall unter den Tatbestand einer " passenden " Gesetzesnorm subsumiert werden kann'; ob dies möglich ist, hängt von dem durch Auslegung zu erhellenden Sinn der Norm ab 5 • 11. Rechtsfindung praeter legem

Um die zweite Stufe richterlicher Rechtsfindung, nämlich die praeter legern erfolgende, soll es sich bei der gesetzesergänzenden Lückenfüllung handeln1: 1 Im Gegensatz zur nur "entsprechenden" (analogen) Anwendung einer Norm; vgl. näher unten, II sowie § 3 II la (2). 2 So u. a. Engisch aaO, S. 105; Canaris aaO, S. 19 ff.; Larenz aaO, S. 298 ff., 350 ff. 3 Engisch aaO. , Näher zur "Subsumtion" Engisch aaO, S. 55 - 57, 68 - 70; Larenz aaO, S. 257 ff.; Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, S. 101 ff. S Engisch und Zippelius aaO. 1 So insbesondere Engisch aaO, S. 134; Canaris aaO, S. 17 f.; Bender aaO, S. 599; vgl. weiter Larenz aaO, S. 350 ff.; Säcker aaO; Zippelius aaO, S. 68 ff., 73 f.

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

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Die "unmittelbare Anwendung" eines Gesetzes scheidet in solchen Fällen wegen Vorliegens einer Regelungslücke aus 2 ; solche Lücken können und müssen die Richter aber - soweit nicht ein Verbot der Lückenfüllung entgegensteht, z. B. (nach h. A.) Art. 103 11 GG3 schon wegen des "Justizverweigerungsverbots" schließen4 • Als Mittel der Lückenfüllung werden dabei insbesondere die entsprechende Anwendung einer nicht "unmittelbar anwendbaren" Gesetzesnorm, d. h. die sogen. "Gesetzesanalogie"5, daneben die sogen. "teleologische Reduktion'" genannt. Bei letzterer handelt es sich um die "Zurockführung einer von dem Zweck oder dem Grundgedanken der gesetzlichen Regelung her gesehen zu weit gefaßten Norm auf den ihr sinngemäß zukommenden Anwendungsbereich"7. Die teleologische Reduktion dient dabei der Füllung der sogen. "verdeckten Lücken"8; eine solche liegt vor, wenn eine nach ihrer ratio zu weit gefaßte Norm "einer Einschränkung bedarf, die das - insoweit lückenhafte - Gesetz vermissen läßt"'. Als weiteres Mittel der Rechtsfindung praeter legem wird u. a. noch die "Rechtsanalogie"lO angeführt, die aus einer Mehrzahl einzelner gesetzlicher Regeln durch Induktion allgemeine Rechtsgrundsätze ableitet und diese auf Fälle anwendet, "die unter keine der Gesetzesvorschriften fallen"l1. aaO. Dazu unten, § 2 I 1. 4 Siehe Engisch aaO, S. 136, 155; Larenz aaO, S. 352, 357, 389; Säck.er aaO, S.235. 5 Die ganz h. A. versteht unter "Analogie" (Gesetzesanalogie) die gesetzesergänzende Lückenfüllung mittels entsprechender Anwendung einer Norm, d. h. sie unterscheidet die "Auslegung des Gesetzes" (die sich im Rahmen der Rechtsfindung secundum legern hält) und die "analoge Anwendung des Gesetzes" (als Mittel zur Rechtsfindung praeter legern); demgegenüber wird insbesondere im neueren Schrifttum - von namhaften Autoren die Unterscheidbarkeit von (teleologischer) Auslegung und Analogie geleugnet. Vgl. dazu unten, § 3 II 2. 6 Zu dieser Larenz aaO, S. 377 ff.; Canaris aaO, S. 45 Anm. 119, 83 Anm. 90, 136 - 138, 151; Engisch aaO, Anm. 163 a (5. 254 [a. E.] f.); Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 221; Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers ... , S. 41; Tipke/Kruse, § 1 StAnpG, A 41 d; Kruse, Steuerrecht, S. 97; Bogs aaO, S. 46; eingehend jetzt Suppert, Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen Lage", S. 189 ff. (m. w. N.). 7 Larenz, NJW 1965, S. 5. 8 Larenz, Methodenlehre, S. 362, 365, 377 ff.; Canaris, Engisch und Kruse aaO; Suppert aaO, S.190 Anm. 288. • Larenz aaO, S. 377 ff. 10 Dazu Engisch aaO, S. 147 (m. w. N. in Anm. 173, s. 258); Dubischar, S. 131 f.; Tipke/Kruse, § 1 StAnpG, A 32 f.; Wolff/Bachof, § 28 1Ir d (S. 163); kritisch zum Begriff der Rechtsanalogie Sax, Das strafrechtliche "Analogieverbot", S. 102 ff. U Enneccerus/Nipperdey, § 5811 1 b (S. 340); Engisch aaO. 2

3

26

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

Wie dargelegt ist die Gesetzesauslegung "Wegweiserin" zur Rechtsfindung secundum legern; für die pTaeteT legern erfolgende richterliche Rechtsfindung, also die gesetzesergänzende Lückenfüllung, hat diese Schlüsselfunktion der Begriff der Regelungslückel!. Er wird üblicherweise umschrieben mit "planwidriger Unvollständigkeit des Gesetzes"l3. Dies Merkmal unterscheidet Regelungslücken von sonstigen Mängeln (man nennt letztere auch "Fehler") der gesetzlichen Normierung. Nur erstere sind der Rechtsfindung praeter legern zugänglich u . Werden dagegen letztere (also "Fehler") vom Richter behoben, so bedeutet dies gemäß der herkömmlichen Terminologie eine GesetzesbeTichtigung (Gesetzeskorrektur)15; sie stellt als contra legern erfolgende richterliche Rechtsfindung deren dritte Stufe dar. § 2. Bedeutung der Differenzierung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legem für die Gesetzesbindung des Richters im Strafrecht

Daß die Verfassungs- und Gesetzesnormen, nach denen der Richter "dem Gesetz unterworfen" (Art. 97 I GG; §§ 1 GVG, 25 DRiG) bzw. "an Gesetz und Recht gebunden" (Art. 20 111 GG) ist, eine gesetzesergänzende Lückenfüllung durch die Rechtsprechung nicht ausschließen, ist heute allgemeine Meinung: Jene Normen sind nicht für die richterliche Rechtsfindung praeter legem, sondern nur für die contTa legem erfolgende relevant. Dies bedeutet aber nicht, daß es keine verfassungs rechtlichen Schranken für die gesetzesergänzende Lückenfüllung gibt. Vielmehr enthält unser Verfassungsrecht Vorschriften, die nach h. M. die richterliche Rechtsfindung praeter legem in bestimmten Bereichen eingrenzen: I. Der strafremtlime GesetzesvorbehaIt - Art. 103 11 GGFür den Bereich des Strafrechts ist hier in erster Linie Art. 103 11 GG zu nennen, der bestimmt: "Eine Tat kann nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurdei." CanaTis aaO, S. 17 f.; 19 ff.; 31 ff.; 197. Vgl. für alle Engisch aaO, S. 137 ff.; CanaTis aaO, S. 31 ff., 197 f.; LaTenz aaO, S. 354 ff.; Arthur Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts im Lichte der Hermeneutik, S. 266. U aaO; vgl. weiter TipkelKTuse, § 1 StAnpG, A 23. 15 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 134. 1 Vgl. weiter § 1 StGB; Art. 7 I der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europ. MRK) vom 4. 11. 1950, BGBI (1952) II, 1%

13

685f.

1.

Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

2'1

Danach ist die berühmte strafrechtliche Parömie "nullum crimen sine lege"2 geltendes Verfassungsrecht. Nach herrschender Interpretation beinhaltet sie vier Verbote, nämlich das der Rückwirkung von Strafgesetzen zum Nachteil des Täters (Rückwirkungsverbot), das Verbot allzu unbestimmter Strafgesetze (Bestimmtheitsgebot), das Verbot strafbegründenden bzw. strafschärfenden Gewohnheitsrechts sowie das Verbot strafbegründender bzw. strafschärfender Analogie (Analogieverbot)l.

1. Bedeutung des Analogieverbots Dieses Analogieverbot beinhaltet nach seinem herkömmlichen Verständnis eine Schranke für die richterliche Rechtsfindung praeter legern im Strafrecht: Soweit es um Strafbegründung (bzw. -schärfung) geht, soll der Richter auf Rechtsfindung secundum legern beschränkt sein. Er habe durch Auslegung, deren Rahmen er dabei ausschöpfen dürfe, festzustellen, ob und gegebenenfalls welche strafbegründenden (bzw. -schärfenden) Gesetze auf den zu entscheidenden Fall "unmittelbar anwendbar" seien. Ergebe sich bei dieser Prüfung, daß es an einer Strafnorm fehle, unter die der Fall subsumiert werden könne, so sei dem Richter die strafbegründende (bzw. -schärfende) gesetz es ergänzende Lückenfüllung versagt4 • a) Dies Verbot der Rechtsfindung praeter legern bezieht sich nun nicht etwa - wie die Bezeichnung Analogieverbot vermuten lassen könnte allein auf die Lückenfüllung mittels Analogie (und zwar "Gesetzesanalogie" sowie "Rechtsanalogie"), sondern gilt nach h. A. ganz allgemein für die strafbegründende (bzw. -schärfende) gesetzesergänzende Lükkenfüllung 5 ; d. h. es erfaßt z. B. auch die Rechtsfindung praeter legern mittels teleologischer Reduktion". Folglich ist der Begriff des strafrecht! Die Formulierung "nullum crimen, nulla poena sine lege" geht bekanntlich auf Feuerbach (Lehrbuch, § 20 I) zurück. 3 An dieser Stelle seien für alle MaunzlDüriglHerzog, Art. 103 GG Rdnr. 109, 111 ff., SchönkelSchröder, § 1 StGB Rdnr. 10 - 16, H. L. Schreiber, SK § 1 Rdnr. 3 - 25, sowie Grünwald, ZStW Bd. 76 (1~4), S. 1 ff., genannt. 4 Auf diese Bedeutung des Analogieverbots als Schranke der Rechtsfindung praeter legern, d. h. der gesetzesergänzenden Lückenfüllung, weisen mit der notwendigen terminologischen Deutlichkeit insbesondere hin: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 177; ders., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 120; Larenz, über das Verhältnis von Interpretation und richterlicher Rechtsfortbildung, S. 404; Säcker, ARSP 1972, S. 235; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S. 231; Wiedemeyer, Theoretische Begründung und praktische Durchführung des strafrechtlichen Analogieverbots, S. 73; vgl. weiter den schweizerischen Strafrechtler Schwander, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, S. 60 Rdnr. 114, und den Österreicher Kunst, Juristische Blätter, 1971, S. 332. 5 aaO. 6 Hierauf zuerst hingewiesen zu haben, ist das Verdienst von Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 154 Anm. 44, 193; ebenso neuerdings

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

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lichen Analogieverbots jedenfalls insoweit ungenau, als er zu eng ist, da er von dem nach herrschender Auffassung bestehenden Verbot der Rechtsfindung praeter legern zu Lasten des Täters nur die mittels Analogie erfolgende erfaßt. Darüber hinaus könnte der Begriff Analogieverbot als Ausdruck eines Verbots der gesetzesergänzenden Lückenfüllung zugleich zu weit gefaßt sein 7 , nämlich dann, wenn man Analogie nicht als Mittel der Rechtsfindung praeter legern definiert, sondern unter Analogie ganz allgemein die Rechtsfindungsmethode des "abwägenden Typenvergleichs" , des "Fallvergleichs", des "Schlusses vom Ähnlichen auf Ähnliches" versteht8 : Diese Methode des Typen- oder Fallvergleichs soll - wie an späterer Stelle auszuführen ist - , nach neueren rechtstheoretischen Erkenntnissen auch die Auslegung und damit den Bereich der Rechtsfindung secundum legern beherrschen, so daß auch diese "analogisch" verfahren müsse 9 ; daher könnte durch die Bezeichnung Analogieverbot der Eindruck entstehen, als schließe Art. 103 11 GG dieses "analogische Verfahren" auch bei der Auslegung aus, erfasse also auch die sogen. "innertatbestandliehe Analogie"10.

Suppert aaO (oben, § 1 II Anm. 6), S. 191 ff.; zum Problem: teleologische Reduktion und Art. 103 II GG, vgl. noch Hruschka, JR 1968, S. 455; ders. JuS 1968,

S. 558 f.

Dazu Jescheck, AT S. 106. Jescheck aaO: Analogie ist nichts anderes als ein Schluß verfahren der juristischen Logik, das wie überall im Recht so auch im Strafverfahren nicht nur "in bonam partem" verwendet wird. Vgl. weiter die folgende Anm. D Vgl. dazu insbesondere Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 144 ff. (149); ders., Einführung in die juristische Methodenlehre, S. 73 ff.; ders., NJW 1967, S. 2231; Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, S. 140 ff. Aus dem strafrechtlichen Schrifttum sind zu nennen: Arthur Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache", S. 3 - 5,31; Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 118, 136, 162 f.; Stratenwerth, AT Rdnr. 89; H. Mayer, AT (1967) S. 37; Jescheck aaO; Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 102; Roxin, ZStW Bd. 83 (1971), S. 377; Arzt, Die Strafrechtsklausur, S. 9, 13; H. L. Schreiber, SK § 1 Rdnr. 24; Wiedemeyer aaO (oben Anm. 4), S. 38, 181; Danckert, Die Grenze zwischen der extensiven Auslegung und der Analogie im Strafrecht, S. 46 Anm. 111. Vgl. weiter Sax: "Rechtliche Analogie ist ein ausschließlich im Bereich teleologischer Gesetzesauslegung sich vollziehendes lögischrechtliches Schlußverfahren" (Das strafrechtliche Analogieverbot, S. 148; ders. Grundsätze der Strafrechtspflege, Fußn. 292, S. 1002 f.). 10 Der Terminus "innertatbestandliche Analogie" bezeichnet das "analogische Verfahren" des abwägenden Typenvergleichs (Fallvergleichs), soweit dieses nicht der gesetzesergänzenden Lückenfüllung dient, sondern der Auslegung der Gesetze (näher Wiedemeyer aaO., S. 13, 19, 20 f., 30, 98, 181). Zur Unterscheidung von "innertatbestandlicher Analogie" und Analogie als Mittel der Rechtsfindung praeter legem vgl. schon Eick, Die Analogie im Strafrecht, S. 18; weiter Jescheck aaO; H. Mayer, SJZ 1947 Sp. 16; ders., Die gesetzliche Bestimmtheit der Tatbestände, S. 273; Welzel, Lehrbuch S. 22 (a. E.); Schünemann aaO (oben, Anm. 4), S. 271. Diese innertatbestandliche Analogie wird nach h. A. vom strafrechtlichen Analogieverbot als Schranke gesetzesergänzender Lückenfüllung nicht erfaßt 7

8

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

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Deshalb ist schon an dieser Stelle klarzustellen, daß man unter dem nach h. A. durch die Parömie "nullum crimen sine lege" (Art. 103 II GG) garantierten Analogieverbot überwiegend ein Verbot der gesetzesergänzenden Lückenfül~ung versteht - nicht weniger und nicht mehrl l . b) Diese terminologische KlarsteIlung ist für die - an späterer Stelle erfolgende - Auseinandersetzung mit den Autoren erforderlich, die das Bestehen eines strafrechtlichen Analogieverbots anzweifeln; solche Kritiker des Analogieverbots gibt es, insbesondere in jüngster Zeit, genug 12 • Bei der Auseinandersetzung mit ihnen wird sich aber zeigen, daß die Kritik des Analogieverbots häufig ins Leere geht, nämlich nicht dem Verbot gesetzesergänzender Lückenfüllung gilt, sondern einem - von der herkömmlichen Auffassung gar nicht behaupteten - Verbot der Fallvergleichung als "analogischem Verfahren" auch bei der Auslegung, also einem Verbot auch der innertatbestandlichen Analogie13 •

2. Geltungsbereich des Analogieverbots Wer mit der herrschenden Auffassung der Verfassungsnorm des Art. 103 II GG ein Verbot der gesetzesergänzenden Lückenfüllung zu Lasten des Straftäters entnimmtl 4, sieht sich mit der weiteren Frage nach der Reichweite dieser Beschränkung der richterlichen Rechtsfindung praeter legern - für die im folgenden trotz ihrer oben erwähnten terminologischen Ungenauigkeit die vertraute Bezeichnung Analogieverbot beibehalten werden sollkonfrontiert. (vgl. hier nur die eben genannten Autoren; a. A. aber anscheinend Rupert Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, S. 236). 11 Vgl. oben, Anm. 4, sowie Anm. 10. 12 Hier sind aus dem strafrechtlichen Schrifttum der Nachkriegszeit zu nennen: Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, S. 56 f.; Sax, Das strafrechtliche Analogieverbot, S. 152 ff.; ders., Grundsätze der Strafrechtspflege, Anm. 292, S. 1002 f.; Arthur Kaufmann aaO, S. 3 - 5, 31, 41; Kielwein, Grundgesetz und Strafrechtspflege, S. 133 (a. E.) - 135; Stratenwerth, AT Rdnr. 89 f.; Mittermaier, SchZStrR Bd. 63 (1948), S. 403 ff. (416 f., 428); vgl. weiter Hassemer aaO, S. 161 ff.; Hruschka aaO; kritisch auch Müller-Dietz, Verfassungsbeschwerde und richterliche Tatbestandsauslegung im Strafrecht, S. 47; (zum schweizerischen Schrifttum vgl. unten § 3 II 2 mit Anm. 28; Kapitel 6, § 1 I 1 a [3], [b]).

Aus dem nichtstrafrechtlichen Schrifttum sind anzuführen: Heller aaO, S. 137 ff. (142); Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, S. 103 Anm. 126; Zimmermann, GA 1955, S. 342 f. 13 Das gilt insbesondere für Hruschka und Hassemer aaO. 14 Zum Standpunkt des Verf. vgl. eingehend Kap. 9, § 2.

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

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a) Materielles Strafrecht Hierbei geht es im Bereich des materiellen Strafrechts im wesentlichen um folgende Probleme: (1) Deliktsfolgen

Das StGB enthält in §§ 1 und 2 den Satz "nullum erimen sine lege" und den Satz "nulla poena sine lege"15, erfaßt also die Tatbestandsvoraussetzung und die Deliktsfolgen (jedenfalls soweit es sich bei diesen um Strafen und nicht um bloße Maßregeln der Besserung und Sicherung

handelt); ob auch Art. 103 II GG neben dem "nullum erimen sine lege"Satz zugleich den "nulla poena sine lege" enthält, ist streitig16 . Diese Frage ist nicht nur von theoretischer Bedeutung; denn Art. 103 II GG bindet auch den Gesetzgeber, während § 2 StGB einer Aufhebung oder Einschränkung durch Gesetz zugänglich wäre. Es geht also um die Frage, ob das strafrechtliche Analogieverbot mit verfassungsrechtlicher Garantie auch für die Strafdrohung gilt.

Wer mit der ganz h. A. diese Frage bejaht, stößt zugleich auf die nächste: Bezieht sich Art. 103 II GG auch auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung?

Was das Rückwirkungsverbot betrifft, wird dies ganz überwiegend verneint17 ; andernfalls wäre auch § 2 VI StGB verfassungswidrig. Gilt nun für das Analogieverbot etwas anderes 18? (Oder ist zwar nicht speziell aus Art. 103 II GG, aber aus allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen ein Verbot der gesetzesergänzenden Lückenfüllung zu Lasten des Täters auch für Maßregeln der Besserung und Sicherung abzuleiten1'?) Im Anschluß an die "Strafen" und "Maßregeln" sind auf der Deliktsfolgenseite noch die Auflagen und Weisungen zu nennen (§§ 56 b; 56 e, 15 Nach ganz h. A. beinhaltet bereits § 1 nicht nur den Satz nullum crimen sine lege, sondern auch den Satz nulla poena sine lege; aber selbst wenn diese Meinung nicht zuträfe, wäre letzterer Satz jedenfalls durch § 2 im StGB ver-

ankert.

18 Die ganz h. M. bejaht diese Frage; zum Meinungsstand vgI. die Nachweise bei SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 8; Maunz/Dürig/Herzog, Art. 103 GG Rdnr. 108 Anm.1. 17 Für alle BGHSt 24, 103, 106 (mit kritischer Anm. von Fr.-Chr. Schroeder, JR 1971, S. 379); SchönkelSchröder aaO; MaunzlDüng/Herzog aaO, Rdnr. 117. Demgegenüber soll nach Bruns (GA 1959, S. 207 f.; NJW 1959, S. 1395) Art. 103 II GG auch für die Maßregeln gelten; das Rückwirkungsverbot klammert er bei seinen Ausführungen aber aus (NJW aaO, Anm. 9). 18 So etwa BGHSt 18, 136, 139 f.; SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 36; H. L. Schreiber, SK § 1 Rdnr. 25; Tröndle, LK (9. Auf1.), § 2 StGB Rdnr. 9; Faller, DB 1972, S. 1757. 18 Dafür MaunzlDüriglHerzog aaO; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz,

S. 79 f.

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

31

56 d StGB)20. Sie sollen gemäß einer neueren - insbesondere von Bruns entwickelten - Auffassung der Sache nach eine "neue selbständige Sanktion des modernen Kriminalrechts" darstellen, das nunmehr "dreispwrig" mit Strafen (1. Spur), Maßregeln (2. Spur) sowie Auflagen und Weisungen (3. Spur) arbeite21 . Wieweit für diese 3. Spur aus Art. 103 II GG (oder zumindest aus allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen) ein Analogieverbot abzuleiten sei, ist ein weiteres Problem im Rahmen der Frage nach den Schranken richterlicher Rechtsfindung praeter legern bei den Deliktsfolgen22 • (2) Tatbestand

Neben diesen Fragen zur Rechtsfolgenseite der Strafgesetze gibt eswas häufig übersehen wird - selbst auf der Tatbestandsseite hinsichtlich der Reichweite des Analogieverbots Probleme: Einmal wird, z. B. von Welzel 23 , die Ansicht vertreten, das Analogieverbot beziehe sich nicht auf solche Merkmale auf der Tatbestandsseite, die lediglich als "Abgrenzungsformeln" eine "allgemeinere Bestimmung an eine zuvor geregelte engere Bestimmung" anschlössen. Als Beispiel nennt Welzel u. a. die Formulierung in § 246 StGB: " ... die er in Besitz oder Gewahrsam hat." Unterschlagung sei jede Zueignung ohne Gewahrsamsbruch; daß der Täter bei der Zueignung die Sache "in Besitz oder Gewahrsam gehabt habe", sei entgegen dem Wortsinn des Gesetzes nicht erforderlich, da dieses Merkmal lediglich eine - sprachlich mißlungene Abgrenzungsformel gegenüber der "engeren Bestimmung" des § 242 StGB darstelle24 • Zum anderen ist problematisch, ob solche Strafbestimmungen dem Analogieverbot gerecht werden, die wie §§ 315 I Nr. 4 und 315 bI Nr. 3 StGB im Anschluß an eine Beschreibung einzelner strafbarer Handlungen (§§ 315 I Nr. 1 - 3; 315 b Nr. 1, 2) den Richter ermächtigen, "ähnliche, §§ 24 a - c StGB a. F. Bruns, GA 1959, S. 208 f.; ders. NJW 1959, S. 1394 f.; ähnlich J. Baumann, GA 1958, S. 193 ff. (196); Jescheck, AT S. 625 f. m. w. N.; MaunzlDürig/Herzog aaO, Anm. 1; abweichend die noch h. M., vgl. u. a. Maurach, AT S. 865 f. 20

!1

2! Zur Frage der Geltung des "nullum crimen nulla poena sine lege"-Satzes für Auflagen und Weisungen sei hier zunächst auf Bruns (aaO) sowie den AE AT (Begründung zu §§ 41 f.) einerseits, Maunz/Dilrig/Herzog (aaO, Rdnr. 118) und Dreher (§ 56 b Anm. 1) andererseits verwiesen: Bruns und der AE bejahen diese Frage offenbar für Auflagen und Weisungen, während Maunz/ DÜrig/Herzog und Dreher meinen, Art. 103 II GG sei für Auflagen und Weisungen nicht einschlägig. Differenzierend dagegen Schönke/Schröder, § 56 b Rdnr. 15; § 56 c Rdnr. 3 (vgl. auch Stree aaO, S. 144 Anm. 26). 23 Lehrbuch, S. 21; JZ 1952, S. 617 f. Z4 Problem der sogen. "berichtigenden Auslegung" des § 246 StGB. Vg!. hierzu näher Bockelmann, Ist eine berichtigende Auslegung des § 246 StGB statthaft?; weitere Nachweise bei Krey, Strafrecht, Besonderer Teil 2. Bd. S.60f.

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

ebenso gefährliche Eingriffe" zu bestrafen. Soweit hier von einzelnen Autoren von "gesetzlicher Zulassung der Analogie"25 gesprochen wird, darf nicht übersehen werden, daß der Strafgesetzgeber den Richter von der Beachtung des Art. 10311 GG nicht entbinden kann2il •

Im Anschluß an die Problematik des "ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriffs" ist schließlich noch die Streitfrage zu nennen, wieweit die Bestrafung des unechten Unterlassungsdelikts mit dem Verbot der Rechtsfindung praeter legern zum Nachteil des Täters vereinbar ist. Dazu seien an dieser Stelle nur die folgenden Stichworte genannt: "Das Grundproblem" der unechten Unterlassungsdelikte "ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Nichthinderung des Eintritts eines tatbestandsmäßigen Erfolges seiner Herbeiführung gleichgestellt werden kann"27. Zu dieser Frage bestimmt jetzt § 13 StGB n. F. - in Kraft seit dem 1. 1. 1975 - in Absatz 1: "Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt!8, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht2u." Vor Inkrafttreten dieser Norm war die Gleichstellungsproblematik gesetzlich ungeregelt, wurde aber von Rechtsprechung und h. L. sachlich im wesentlichen in gleicher Weise behandelt, wie jetzt in § 13 StGB. Einige Autoren sahen darin einen Verstoß gegen das Analogieverbot30 ; 25 So Klug, Juristische Logik, S. 102; Kratzsch, GA 1971, S. 74 f.; Bockelmann, Strafrecht AT, S. 17; weiter Bindokat, JZ 1969,541 f. 26 Einzelne Autoren halten §§ 315 I Nr. 4 und 315 b I Nr. 3 StGB für unvereinbar mit dem Analogieverbot des Art. 103 11 GG und daher für verfassungswidrig: So schon Jescheck, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 9. Bd. S. 268; eingehend Stöckel, Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht, S. 124 -126, 133, 142 ff.; Isenbeck, NJW 1969, S. 174 ff. Anders aber die h. M.; vgl. für alle BGHSt 22, 365, 366 f.; Cramer, Straßenverkehrsrecht, § 315 b Rdnr. 16; Schafheutle und Schäfer, Niederschriften aaO, S. 268 f.; Schönke!Schröder, § 315 b Rdnr. 12 b. 27 J escheck, AT S. 454. 28 Hier wird das Erfordernis der Garantenpjlicht des Unterlassenden statuiert. 28 Diese "Entsprechungsklausel" ist nach h. M. nur für solche Tatbestände von Bedeutung, in denen nicht schon die Erfolgsherbeiführung als solche, "sondern nur die Herbeiführung auf bestimmte Art und Weise tatbestandsmäßig ist"; so u. a. Jescheck, AT S. 475 f.; Rudolphi, SK § 13 Rdnr. 18. 30 Armin Kaufmann, Die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, S. 282, 319; ders. JuS 1961, S. 173, 175 f.; Grünwald, ZStw Bd. 70 (1958), S. 416 ff.; H. Mayer, AT (1967), S. 80 ff. Anders dagegen die h. A., vgl. u. a. Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, und Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz "nullum crimen sine lege", m. w. N. Differenzierend Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 18 f.

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sie hielten die Bestrafung der unechten Unterlassungsdelikte aus den Strafbestimmungen für die "entsprechenden" Begehungsdelikte für eine strafbegründende Rechtsfindung praeter legern. Die heute h. M. geht davon aus, etwaige Bedenken gegen die Gleichstellung unechter Unterlassungs delikte mit den fraglichen Begehungstaten aus dem Analogieverbot seien jedenfalls mit Inkrafttreten des § 13 StGB hinfällig geworden31 • Für die Reichweite des Analogieverbots im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen der Strafnormen ist endlich noch auf die BZankettstrafgesetze 32 hinzuweisen: Gilt das Verbot richterlicher Rechtsfindung praeter legern bei Strafbegründung und -schärfung auch für die (außerstrafrechtlichen) Bestimmungen, die das Blankett ausfülZen33 ? Daneben stellt sich noch eine weitere Frage, nämlich die nach der Reichweite des Analogieverbots für solche Merkmale der Straftatbestände, bei denen eine Akzessorietät des Strafrechts im Verhältnis zum Zivilrecht (bzw. zum öffentlichen Recht) besteht; als Beispiel sei hier der Begriff der "Fremdheit" der Sache in §§ 242, 246, 249 StGB genannt, für den die Eigentumsverhältnisse nach bürgerlichem Recht maßgeblich sein sollen: Ist in solchen Fällen das Zivilrecht für den akzessorischen Begriff auch dann maßgeblich, wenn dessen Vorliegen sich nicht durch Auslegung bürgerlichrechtlicher Normen ergibt, sondern durch das Eingreifen praeter legern entwickelter Rechtsinstitute z. B. "Sicherungseigenum"_34? (3) Allgemeiner Teil des StGB Die Probleme, die sich bei der Frage nach der Reichweite des Analogieverbots im materiellen Strafrecht ergeben, sind damit für die Rechtsfolgenseite sowie die Tatbestandsvoraussetzungen skizziert. Es ist daher 31

Vgl. für alle Roxin, in: Roxin/Stree/Zipf/Jung, S. 2; SchönkelSchröder,

§ 13 Rdnr. 5.

32 Von Blankettstrafgesetzen spricht man bei Gesetzen, "die nur eine Strafdrohung enthalten, hinsichtlich der Voraussetzungen aber, an die die Strafe geknüpft wird, auf andere Vorschriften verweisen ... Ihre Eigenart gegenüber den normalen Strafgesetzen besteht darin, daß sich die Beschreibung der ge- oder verbotenen Handlung, also der Merkmale des Tatbestandes, nicht oder zumindest nicht vollständig in der Strafnorm selbst, sondern an einer anderen Stelle befindet" (Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 5; ähnlich BOH St 6, 30, 40 f.). Dabei kann das Blankettstrafgesetz ("Blankettstrafdrohung") bezüglich des Verbots- bzw. Gebotsinhalts auf andere Gesetze, auf Rechtsverordnungen oder gar auf bloße Verwaltungsakte verweisen (Jescheck, AT S. 86). 33 Siehe dazu etwa Sand rock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, S. 43 f., Anm. 118 (m. w. N.). 34 Dazu Sandrock aaO, S. 48 f., Anm. 134; SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 42; J. Baumann, Der strafrechtliche Schutz bei den Sicherungsrechten des modernen Wirtschaftsverkehrs, S. 201 ff.

:1 Krey

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an der Zeit, auf die besonders streitige Problematik der Geltung des Analogieverbots im Allgemeinen Teil des StGB hinzuweisen, genauer formuliert: der Geltung dieses Verbots für die dort geregelten sachlichrechtlichen Verbrechensvoraussetzungen - und zwar insbesondere für die Regelung über Versuch und Teilnahme sowie über das Strafanwendungsrecht35 • Weiterhin ist hier die Frage der Bedeutung des Verbots der Rechtsfindung praeter legem zum Nachteil des Täters für die Rechtfertigungs-, Schuldausschließungs- und Entschuldigung-, Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe zu nennen. Zu diesem Problemkreis wird einmal die Auffassung vertreten, Art. 10311 GG beziehe sich hinsichtlich der materiellrechtlichen Verbrechensvoraussetzungen allein auf die Strajtatbestände des Besonderen Teils des StGB (sowie der strafrechtlichen Nebengesetze); für den Allgemeinen Teil des StGB habe er keine BedeutungM. Wer mit der heute h. L.37 dem nicht folgt, muß klären, wieweit das Analogieverbot die Regelungen des Allgemeinen Teils umfaßt; bezüglich dieser Frage sind die Anhänger der h. L. nämlich von einem einheitlichen Standpunkt weit entfernt. (4) Strafzumessungsrecht

Was das Strafzumessungsrecht betrifft, scheint nur dem Bestimmtheitsgebot, nicht aber dem Analogieverbot Bedeutung zuzukommen sieht man von der Bindung an den gesetzlichen Strafrahmen ab. Doch trügt dieser Schein. Denn soweit der Gesetzgeber im Rahmen der Strafzumessungsregeln für "besonders schwere Fälle" zu deren Exemplifizierung sogen. Regelbeispiele (vgl. insbesondere § 243 StGB)38 verwendet, 35 Strafanwendungsrecht sind: Das "internationale Strafrecht", §§ 3 -7 StGB; das "innerdeutsche Strafanwendungsrecht", d. h. das im Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR geltende (vgl. Krey, Zum innerdeutschen Strafanwendungsrecht) ; das "interlokale Strafrecht", das bei Rechtsverschiedenheit innerhalb der Bundesrepublik gilt. 38 So insbesondere Maurach, AT S. 111 (a. E.); Jagusch, LK (8. Aufl.), § 2 Anm. 1 b; Tröndle, LK (9. Aufl.) , § 2 Rdnr. 10; Hardwig, ZStW Bd. 78 (1966), S. 8 f.; Suppert, Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen Lage", S. 298 (weitere Nachweise dort, Anm. 291). 37 Vgl. insbesondere J. Baumann, AT S. 160 i. V. m. 124; 161; Jescheck, AT S. 107; Bockelmann, AT S. 17; Eser, Strafrecht 1, S. 40; H. L. Schreiber, SK § 1 Rdnr. 7, 25; Roxin, Nieders. Ärzteblattl965, S. 165 ff.; Krey aaO, S. 88 ff. (für das Strafanwendungsrecht); vgl. weiter Kohlrausch!Lange, § 46 Anm. VII 2 a; Schönke!Schröder, § 1 Rdnr. 43; Schröder, Die Koordinierung der Rücktrittsvorschriften, S. 384; Kratzsch, GA 1971, S. 65 ff. (m. w. N. S. 67 Anm. 22). 38 Zum Charakter des § 243 als bloßer Strafzumessungsregel BGH NJW 1970, 1196 f.; WesseIs, Zur Problematik der Regelbeispiele für "schwere" und "besonders schwere Fälle", S. 297 - 299 (m. w. N.).

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ist im Hinblick auf das Analogieverbot die Frage zu beantworten, wieweit diese Gesetzestechnik der Regelbeispiele mit Art. 103 II GG harmoniert. Diese Frage stellt sich deswegen, weil die Regelbeispiele dann eine Art "Analogiewirkung"30 entfalten, wenn der Richter vor der Frage steht, ob trotz Nichtvorliegens eines Regelbeispiels ein besonders schwerer Fall angenommen werden kann. In solchen Situationen kommt es nämlich darauf an, ob "Unrecht und Schuld (des keinem Regelbeispiel zu subsumierenden Falles) gegenüber dem Durchschnittsfall" des Delikts (also bei §§ 242, 243 StGB: des Diebstahls) "so wesentlich erhöht sind, daß die Anwendung lediglich des Regelstrafrahmens unangemessen wäre"40; dabei dienen die Regelbeispiele nach h. A. dem Richter als "Bewertungsmaßstab" : "Die Ähnlichkeit des fraglichen Falles mit einem der Regelbeispiele, verbunden mit Gleichwertigkeit mit diesen nach dem Gewicht von Unrecht und Schuld führt grundsätzlich zur Annalme des § 243 StGB. Aber auch bei Fehlen jener Ähnlichkeit kann ausnahmsweise ein besonders schwerer Fall vorliegen, nämlich dann, wenn jedenfalls jene Gleichwertigkeit gegeben ist; diese ist also letztlich der maßgebliche Bewertungsmaßstab41 ." Diese "Analogiewirkung" der Regelbeispiele gilt es am Analogieverbot des Art. 103 II GG zu messen42 • b) Strafprozeßrecht Soviel zur Reichweite des Analogieverbots im materiellen Strafrecht. Demgegenüber soll diese Schranke der richterlichen Rechtsfindung praeter legem im Bereich des formellen Strafrechts nach h. M. keine Bedeutung haben43 • (1) Doch gibt es abweichende Stimmen: J. Baumann befürwortet eine Anwendung des Analogieverbots für diejenigen strafprozessualen Bestimmungen, welche die Verfolgbarkeit des Täters betreffen, insbesondere für die Regelung der Verfolgungsverjährung« . Krey, Strafrecht BT, 2. Bd. S. 43 m. w. N. Lackner, § 46 Anm. 2 b, bb. 41 Krey aaO (m. w. N.); kritisch Arzt, JuS 1972, 515 f . • 2· Vgl. einerseits SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 37, andererseits Arzt aaO. 43 So u. a. BVerfG E 25, 269, 287; Jescheck, AT S. 107; SchönkelSchröder, 17. Aufl. (1974), § 2 Rdnr. 58; Tröndle, LK (9. Aufl.), § 2 Rdnr. 9. •• Der Aufstand des schlechten Gewissens, S. 15; Grenzen der individuellen Gerechtigkeit im Strafrecht, S. 122 f.; AT S. 126; Grundbegriffe und System des Strafrechts, S. 34 f. Ebenso jetzt SchönkelSchröder (18. Aufl.), § 1 Rdnr. 44 i. V. m. § 2 Rdnr. 8, für den Strafantrag. 39 40

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Wie er meint, sei beim Analogieverbot nicht zwischen materiellem und prozessualem Recht zu unterscheiden, sondern zwischen den "Voraussetzungen der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit" einerseits und den Verfahrensvorschriften, die nicht die Verfolgbarkeit beträfen, andererseits; nur für letztere sei das strafrechtliche Analogieverbot irrelevant45 • Nach dieser Ansicht ist also der Streit, ob die Vorschriften über die Verfolgbarkeit des Täters - also über die Verfolgungsverjährung, Strafantrag, Verfolgungsermächtigung u. ä. prozeßrechtZicher Natur sind (h. M.) oder nicht, für die Anwendbarkeit des Analogieverbots bedeutungslos; dies hebt Baumann auch besonders hervor4 6 • (2) Im übrigen gibt es noch einen weiteren möglichen Geltungsbereich des strafrechtlichen Analogieverbots im Strafverfahrensrecht: Soweit es um die Verhängung von "Ordnungsgeld" bzw. "Ordnungshaft geht4 7 - beides, im Gegensatz zum "Zwangsgeld" bzw. zur "Zwangshaft", repressiven Sanktionen48 - , soll nach allgemeiner Ansicht das Analogieverbot einschlägig sein4'. c) Ordnungswidrigkeitenrecht

Im Anschluß an diese Hinweise zur Reichweite des Analogieverbots im materiellen und formellen Strafrecht sei noch erwähnt, daß Art. 103 II GG auch im Ordnungswidrigkeitenrecht gilt50 • 45

Baumann aaO.

Die Frage der Geltung des Anatogieverbots für die Vorschriften über die Verfolgbarkeit des Täters berührt sich mit der nach der Anwendbarkeit des Rückwirkungsverbots für diese Vorschriften: Während die h. M. dem Rückwirkungsverbot für die von ihr als prozeßrechtlich gedeuteten Bestimmungen über die Verfolgungsverjährung keine Bedeutung beimißt, gehen Adolf Arndt, J. Baumann, Grünwatd und H.-L. Schreiber von einer Geltung des Rückwirkungsverbots für die Verfolgungsverjährung aus, und zwar unabhängig davon, ob diese sachlich-rechtlicher oder prozeßrechtlicher Natur ist (Nachweise bei Schreiber, ZStW Bd. 80 (1968), S. 348 ff., insbes. S. 349 f., 365). 47 Vgl. etwa §§ 51, 70 StPO, 178 GVG, 890 ZPO. 48 Vgl. die Begründung zum Entwurf eines EG StGB (Einleitung, II 12), BT-Drucksache 7/550, S. 195 f.; Göhter, NJW 1974, 826. 49 So zu den repressiven "Ordnungsstrafen" alten Rechts (das EG StGB hat den Begriff der "Ordnungsstrafen" ausgemerzt und durch "Ordnungsgeld" bzw. "Ordnungshaft" ersetzt; BT-Drucksache aaO): OLG Neustadt, NJW 1957, S. 1155 f.; zustimmend Hamann/Lenz, Art. 103 GG Anm. B 3; Maunz/Dürig/ Herzog, Art. 103 Rdnr. 114 f. Zu § 890 ZPO (a. F.) ebenso Btomeyer, Unterlassungsanspruch ... , S. 696 f.; Hamann/Lenz aaO. 50 BGH St 24, 54, 62 ("Teerfarben-Entscheidung"); Cramer, Grundbegriffe des Rechts der Ordnungswidrigkeiten, S. 23 f.; Göhter, § 3 OWiG Anm. 1; Rot48

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11. Der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts

Als verfassungsrechtliche Schranke für die Rechtsfindung praeter legern durch den Strafrichter kommt neben Art. 103 II GG noch der Gesetzesvorbehalt für hoheitliche Eingriffe in Rechte des Bürgers in Betramt. 1. Bedeutung dieses Gesetzesvorbehalts

Mit diesem Gesetzesvorbehalt hat es folgende Bewandnis: Nach allgemeiner Ansicht ist Bestandteil unserer Verfassungsordnung der Satz, daß hoheitliche Eingriffe in die Rechte des Bürgers nur aufgrund von Gesetzen erfolgen dürfen 1• Dieser Vorbehalt des Gesetzes für staatliche Eingriffe in die Rechtssphäre der Bürger ist beispielsweise im Steuerrecht als Grundsatz der "Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung"! - nullum tributum sine lege 3 - , im allgemeinen Verwaltungsrecht als "Erfordernis der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für belastende Verwaltungsakte"t bekannt. Was Eingriffe in Grundrechte angeht, enthält das Grundgesetz eine Reihe von Spezialvorschriften (spezielle Gesetzesvorbehalte) : Art. 2 II S. 2; Art. 5 II; Art. 6 III; Art. 8 II; Art. 10 II; Art. 11 II; Art. 12 I S. 2; Art. 13 II, III; Art. 14 I S. 2, III S. 2; Art. 16 I S. 2; Art. 104 I GG5. berg, § 3 Rdnr. 1; zweifelnd aber Steindorff, S. 237 - 239. D. h. § 3 OWiG - der nach ganz h. M. wie § 1 StGB ein Analogieverbot beinhaltet (Cramer aaO; Göhler, § 3 Anm. 3 C; Haniel, § 3 Erl. 2; H. Meier, § 3 Anm. 2; RebmannlRothlHerrmann, § 3 Anm. 4; Rotberg, § 3 Rdnr. 6) - ist

verfassungsrechtlich abgesichert. 1 Vgl. u. a. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts ... , S. 205; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 88 f.; MaunzlDüriglHerzog, Art. 20 GG Rdnr. 130, Art. 103 GG Rdnr. 117; Erichsen, Staatsrecht, S. 21 ff.; ErichsenlMartens, S. 158; Anschütz, VerwArch 1906, S. 325; Jesch, AöR 1957, S. 245; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte ... , S. 27 ff., 93; WolfflBachof, Verwaltungsrecht I, § 30 III (S. 183 - 185); Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, S. 27; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 80; BVerfG E 8,166 f. Zur Terminologie siehe Krebs, Vorbehalt des Gesetzes ... , S. 11 (m. w. N.). 2 Dieser Grundsatz folgt aus §§ 3 und 38 Abgabenordnung (AO 1977). Er ist aber zugleich "als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips im Bereich des Abgabenwesens" geltendes Verfassungsrecht (BVerfG E 19, 253, 267); auch Papier aaO, S. 177 - 179, 214 f., leitet den steuerrechtlichen Gesetzesvorbehalt aus dem Rechtsstaatsprinzip ab. 3 Tipke, Steuerrecht, S. 25. 4 WolfflBachof aaO. 5 Die Besonderheit des Art. 104 I liegt in dem Erfordernis eines förmlichen Gesetzes; vgl. BVerfG E 14, 174, 176; 29,183,195. Außerhalb der Reichweite des Art. 104 I GG genügen nach h. A. grundsätzlich alle Gesetze im materiellen Sinne, also auch Rechtsverordnungen und Satzungen; sogar (vorkonstiutionelles) Gewohnheitsrecht soll - anders als beim strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG - hoheitliche Eingriffe decken können (vgl. BGH St 11, 241; BVerfG E 34, 293, 303 - "SchilyBeschluß" -; WolfflBachoff aaO).

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Soweit (ausnahmsweise) bei Eingriffen in die Rechte des Bürgers keiner dieser speziellen Gesetzesvorbehalte einschlägig ist, gilt der - aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitendeS - allgemeine Vorbehalt des Gesetzes für belastende Hoheitsakte7• a) Vergleicht man diesen Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts mit Art. 103 II GG, so wird deutlich, daß beide miteinander verwandt sind: Die Bestrafung eines Bürgers bedarf ebenso wie ein sonstiger hoheitlicher Eingriff in seine Rechtssphäre einer gesetzlichen Grundlage. So gesehen ist Art. 103 II GG lediglich eine spezielle Regelung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts des öffentlichen RechtsB. Wenn nun der Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG nach herkömmlicher Interpretation ein Analogieverbot im Sinne eines Verbots der richterlichen Rechtsfindung praeter legern zum Nachteil des Täters enthält, stellt sich für den allgemeinen Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts die Frage: Bede}ltet auch dieser eine entsprechende Schranke der richterlichen gesetzesergänzenden Lückenfüllung, schließt er also für die Begründung (bzw. Verschärfung) hoheitlicher Eingriffe in die Rechte des Bürgers die Rechtsfindung praeter legern aus? Diese Frage nach dem Bestehen eines Analogieverbots im Geltungsbereich des Gesetzesvorbehalts im öffentlichen Recht ist noch weitgehend ungeklärt'; sie ist aber auch für den Strafrechtler gewichtig, da ja ihrer Natur nach auch das Straf-, Strafprozeß- und Strafvollzugsrecht zum öffentlichen Recht gehören. b) Ob der Gesetiesvorbehalt für hoheitliche Eingriffe in Rechte des Bürgers ein Analogieverbot beinhaltet oder nicht, ist eine nur im Steuerrecht von Rechtsprechung und Lehre eingehender behandelte Frage. Dabei geht die heute h. M. dahin, der Gesetzesvorbehalt - oder genauer: das Prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung - bedeute ein Analogieverbot; m. a. W. der Richter dürfe nicht im Wege der

Jesch aaO; weitere Nachweise bei Papier aaO, S. 27 Anm. 1. Von einigen Autoren wird dagegen die Ansicht vertreten, die Problematik des öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalts sei abschließend im Grundrechtsteil des GG geklärt (so Papier, S. 27 - 30, 93 (m. w. N.), im Anschluß an K. Vogel; dahingestellt bei Krebs aaO, S. 132a. E., 133). Demgegenüber ist mit der h. A. festzuhalten : Das Erfordernis der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für hoheitliche Eingriffe in die Rechte des Bürgers (Vorbehalt des Gesetzes) ist im Rechtsstaatsprinzip verankert. Die oben angeführten speziellen Gesetzesvorbehalte als Sonderregelungen für spezielle Grundrechte sind ihrerseits auf das Rechtsstaatsprinzip zurückzuführen. 8 Hierauf weisen insbesondere Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, S. 40, Tiedemann, Tatbestandsfunktion im Nebenstrafrecht, S. 193, Jescheck, AT S. 98 (a. E.)f., und Germann, Primat des Gesetzes, S. 246 (für das schweizerische Recht) hin. I Eingehend zu dieser Frage jetzt Sandrock aaO (oben, I Anm. 33), S. 27 ff., 32 ff.; Papier aaO, S. 171 ff. 8

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gesetzesergänzenden Lückenfüllung neue Steuertatbestände schaffen10• Dem entspricht die häufige Hervorhebung der Parallelität des steuerrechtlichen zum strafrechtlichen Prinzip der Tatbestandsgebundenheitl1 • c) Außerhalb des Steuerrechts sind Rechtsprechung und Lehre dagegen von der Herausbildung einer herrschenden Überzeugung des Inhalts, der Gesetzesvorbehalt umfasse ein Analogieverbot, weit entfernt: (1) Allerdings hat das BVerfG12 - gegen den BGH13 - zu der Spezialnorm des Art. 104 I GG entschieden, dem von ihr statuierten Gesetzesvorbehalt werde durch eine "analoge Anwendung" freiheitsbeschränkender Gesetze nicht genügt; dabei spricht das Gericht ausdrücklich von dem "Analogieverbot des Art. 104 I GG"14.

Aus der Begründung dieser Entscheidung ergibt sich aber nicht, ob das BVerfG über Art. 104 I GG hinaus ganz allgemein für den Gesetzesvorbehalt bei hoheitlichen Eingriffen ein Analogieverbot annehmen würde; denn das Gericht stellt in seiner Begründung auf die "Verschärfung des schon in Art. 2 11 S. 2 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalts durch Art. 104 I GG" ab l6 •

10

So eingehend Papier, Die flnanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte, S.

171 ff., 214; Tipke/Kruse, § 1 StAnpG, A 30; Tipke, StuW 1972, S. 268 f.; ders. Steuerrecht, S. 25 - 27,32 - 34; Kruse, Steuerrecht, S. 96; Flume, StbJb 1967/68, S. 65 f.; Vogel/Walter, Bonner Kommentar, Art. 105 GG Rdnr. 135; Kohlmann,

Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafgesetzen, S. 283; ebenso wohl Kühn/Kutter, § 1 StAnpG Anm. 2 a (a. E.). So offenbar auch die neuere Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH 97, 147, 150; weitere Nachweise bei Papier, S. 171 Anm. 2, Tipke, StuW 1972, S. 265 f. Anm. 14 f.).

Ebenso BVerfG E 21,1,4; vgl. auch BVerfG E 13, 318, 328: Es sei "unter dem Verfassungsprinzip des Rechtsstaats" bedenklich, "wenn der Steuertatbestand vom Richter neu geschaffen oder ausgeweitet" werde; denn das Steuerrecht werde von der Idee der "primären Entscheidung des Gesetzgebers über die Steuerwürdigkeit bestimmter generell bezeichneter Sachverhalte getragen" und lebe dementsprechend "aus dem Diktum des Gesetzgebers". Ein Verbot der richterlichen "Gesetzesergänzung" zum Nachteil des Steuerpflichtigen nimmt auch Meier-Hayoz, Berner Kommentar, Art. 1 Rdnr. 58 (S. 104) - zum schweizerischen Recht - an. Gegen die Annahme eines steuerrechtlichen Analogieverbots sind Paulick, Lehrbuch S. 102 f., 105 f.; Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, S. 32 - 38, 42; ders. DB 1973, S. 265. 11 Vgl. nur Germann aaO; Kohlmann aaO, S. 281 ff.; Tiedemann aaO, S. 191 Anm. 53; 193; Tipke, Steuerrecht, S. 25. 1!

13 14 15

E 29, 183, 195 f. BGHSt 22, 58, 65 f. BVerfG aaO, S. 197. aaO, S. 195 (a. E.).

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Die Frage, ob der Gesetzesvorbehalt der richterlichen Rechtsfindung praeter legern Schranken zieht, stand jüngst im Mittelpunkt einer weiteren Entscheidung des BVerfG, nämlich im sogen.· "Schily-Beschluß"16: Dort ging es um die Bedeutung des Gesetzesvorbehalts aus Art. 12 I S. 2 GG für das Problem, ob das Strafgericht einem der Teilnahme an der Tat verdächtigen Rechtsanwalt (Wahlverteidiger) die Verteidigungsbefugnis entziehen könne; diese Frage war seinerzeit nicht gesetzlich geregelt l7 • Zu diesem Problem hatte der BGH1s angenommen, es fehle zwar an einer "ausdrücklichen" gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, doch könne die Entziehung der Verteidigungsbefugnis gestützt werden auf "Sinn und Zweck einer Reihe von Bestimmungen der Prozeßordnung sowie der BRAO"; m. a. W. der BGH sah eine solche richterliche Rechtsfindung praeter legern mittels "Rechtsanalogie"19 als dem Gesetzesvorbehalt genügendan. Hiermit hat der BGH nach Meinung des BVerfG die aus dem Gesetzesvorbehalt des Art. 12 I S. 2 GG resultierenden "verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung" verkannt20 ; auf eine solche Rechtsanalogie könne die Entziehung der Verteidigungsbefugnis nicht gestützt werden. Diese Feststellung des BVerfG läßt freilich für unser Problem - ob der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts ein Analogieverbot beinhaltet - wichtige Fragen offen: Einmal die, ob eine richterliche Lückenfüllung mittels "Rechtsanalogie" über den Sonderfall der Entziehung der Verteidigungsbefugnis hinaus ganz allgemein dem Gesetzesvorbehalt nicht genüge; diese Frage läßt das BVerfG dahinstehen 21 . Zum anderen bleibt ungeklärt, wie es mit richterlicher Rechtsfindung praeter legern mittels Gesetzesanalogie steht. (2) In der Rechtsprechung ist die Frage nach der Bedeutung des öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalts als Schranke der gesetzesergänzenden Lückenfüllung also noch nicht hinreichend beantwortet. Im

16

BVerfG E 34, 293.

Zur heutigen Rechtslage siehe §§ 138 a - c StPO n. F. Beschluß v. 25. 8. 1972, NJW 1972, S. 2140. 10 Zur "Rechtsanalogie" vgl. oben, § 1 II. 20 BVerfG aaO, S. 301 f. Zustimmend u. a. Schumann, JZ 1973, S. 315. 21 Das Gericht führt dazu (für Eingriffe in die Berufsfreiheit) aus: "Zweifelhaft ist bereits, ob grundrechtsbeschränkende Rechtsnormen, die der Richter lediglich unter Berufung auf Sinn, Zweck und Grundgedanken einzelner Gesetzesbestimmungen gewinnt ... dem Gesetzesvorbehalt des Art. 12 II S. 2 GG genügen. Dies braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden." 17 18

1.

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Schrifttum halten sich die Stimmen, die aus dem Gesetzesvorbehalt ein Analogieverbot herleiten22 , und die ablehnenden Äußerungen 23 im wesentlichen die Waage. Die Frage bedarf also der Klärung. Sie herbeizuführen, ist freilich in erster Linie Aufgabe des Offentlichrechtlers; doch möchte die vorliegende Arbeit dazu durch Skizzierung des eigenen Standpunkts und seiner Begründung - unten, Kapitel 11, § 2 - einen bescheidenen Beitrag leisten. 2. Reichweite des öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalts im Strafrecht Für den Strafrechtler ergibt sich nach diesen Hinweisen zur möglichen Bedeutung des öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalts als Schranke richterlicher Rechtsfindung praeter legern die Fragestellung nach seiner (Gesetzesvorbehalt) Reichweite im Strafrecht. Da Strafrecht und Strafprozeßrecht ihrer Natur nach öffentliches Recht sind24, werden grundsätzlich auch in diesen Rechtsgebieten hoheitliche Eingriffe in die Rechte des Bürgers von jenem Gesetzesvorbehalt erfaßt. a) Im Anwendungsbereich des Art. 103 II GG25 kommt allerdings dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt des öffnetlichen Rechts keine Bedeutung zu; denn Art. 103 II GG stellt für seinen Anwendungsbereich die Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts für hoheitliche Eingriffe dar. Dagegen ist der besondere Gesetzesvorbehalt für freiheitsbeschränkende Maßnahmen (Art. 104 I GG) auch im Geltungsbereich des Art. 103 II GG relevant; denn Art. 104 I - der auch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe erfaßt26 - verlangt ein förmliches Gesetz, wäh2! So Gerhardt Anschütz, VerwArch 1906 (Bd. 14), S. 324 ff.; Furler, VerwArch 1928 (Bd. 33), S. 351; Hamann/Lenz, Art. 20 GG Anm. B 9 c; MaunzlDürigl Herzog, Art. 103 GG Rdnr. 117; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 80; Papier aaO, S. 179; weiter Wuttke, NJW 1972,1887 (zum "Schily-Fall Ebenso für das schweizerische Recht Meier-Hayoz, Berner Kommentar, Art. 1 Rdnr. 56 (S. 104). 23 So W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 88 ff., 151 f.; Forsthojj, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S. 167; Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, S. 27 - 32, 42, 54; ders. DB 1973, S. 265 (a. E.); vgl. weiter Seebode, NJW 1972, 2257, 2258 (zum "Schily-Fall und Klaus Anschütz, Die Entziehung der Verteidigungsbefugnis, S. 49, die ebenfalls von der Möglichkeit ausgehen, im Wege der gesetzesergänzenden Analogie in Rechtspositionen einzugreifen. 24 Jescheck, AT S. 11. 25 Siehe dazu oben, § 2 I 2. 28 BVerjG E 14, 174, 186 (m. w. N.): "Auch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ist eine Freiheitsbeschränkung im Sinne des Art. 104 I S. 1 GG. Wenn der Strafausspruch auch isoliert betrachtet die Freiheit noch nicht beschränkt, bildet er doch zusammen mit U ).

U ),

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1.

Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

rend Art. 103 II sich mit einem materiellen Gesetz (also auch Rechtsverordnung27 und selbst kommunale Satzung28) begnügt. b) Wo der Anwendungsbereich des Art. 103 II GG endet, gilt für die hoheitlichen Eingriffe im Bereich des materiellen und formellen Strafrechts der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts. (1) Für das materielle Strafrecht ist dieser daher für die Deliktsfolgen relevant, soweit sie nicht vom Analogieverbot des Art. 103 II GG erfaßt werden29 • (2) Im Bereich des Strafverfahrensrechts erfaßt der öffentlichrechtliche Gesetzesvorbehalt insbesondere die "prozessualen Zwangsmaßnahmen"30, darüber hinaus aber alle sonstigen hoheitlichen Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgerg31. Für Freiheitsbeschränkungen ist dabei die Spezialnorm des Art. 104 I GG zu beachten. Wir haben jetzt die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern für die Gesetzesbindung des Richters im Strafrecht skizziert. Hieran schließt sich die weitere Frage an, wie diese Stufen der richterlichen Rechtsfindung abzugrenzen sind.

der ihm folgenden Strafvollstreckung einen Gesamtvorgang des Freiheitsentzugs." 27 BVerfG aaO, S.185 f. Dabei sind aber an die gesetzliche Ermächtigungsnorm (Art. 80 GG) strenge Anforderungen zu stellen: "Der Gesetzgeber muß die Ermächtigung zur Strafandrohung unzweideutig aussprechen und dabei Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung so genau umreißen, daß die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aus der Ermächtigung und nicht erst aus der auf sie gestützten Verordnung voraussehbar sind" (BVerfG aaO). Ebenso jetzt BVerfG E 32, 345, 362. 28 BVerfG E 32 aaO. !O Dazu oben, § 2 I 2 a (1). 30 Vgl. Peters, Strafprozeß, S. 350. Eb. Schmidt gebraucht für die Geltung des Gesetzesvorbehalts für prozessuale Zwangsmaßnahmen die plastische Formulierung: "nulla coactio sine lege" (DRiZ 1962, S. 406). (Ein Beispiel für die Bedeutung des Gesetzesvorbehalts für prozessuale Zwangsmaßnahmen bietet Krey, ZRP 1971, S. 225 [r. Sp.]). '1 Hier war vor Einführung der §§ 138 a - c StPO n. F. besonders aktuell die Problematik: Gesetzesvorbehalt und Entziehung der Verteidigungsbefugnis - "Schily-Fall" -; vgl. oben, II 1 c (1).

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§ 3. Grenzziehung zwischen der richterlichen Rechtsfindung secundum und praeter legem

I. Zur übergreifenden Bedeutung dieser Problemstellung

1. Strafrecht Solange man in ständiger Rechtsprechung und h. L. aus Art. 103 II GG ein Analogieverbot - oder genauer: ein Verbot der gesetzesergänzenden Lückenfüllung zuungunsten des Täters ableitett, ist die Grenzziehung zwischen der richterlichen Rechtsfindung secundum legern und der praeter legern erfolgenden ein strafrechtliches Grundproblem. Aber auch unabhängig von dem Verfassungssatz "nullum crimen sine lege" ist diese Grenzziehung für den Strafrechtler bedeutsam, nämlich im Hinblick auf den - auch im Strafrecht einschlägigen2 - Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts für hoheitliche Eingriffe in die Rechte des Bürgers, soweit man diesem ein Verbot der Begründung oder Verschärfung solcher Eingriffe mittels gesetzesergänzender Lückenfüllung durch die vollziehende oder rechtsprechende Gewalt entnimmfl. Um diese Abgrenzung zwischen ("unmittelbarer") Anwendung des Gesetzes und gesetzesergänzender Lückenfüllung geht es der Sache nach, wenn bei den Verfechtem des strafrechtlichen Analogieverbots von der Grenzziehung zwischen ,,(erlaubter) Auslegung und (verbotener) Analogie" die Rede ist4 • Doch ist diese Gegenüberstellung terminologisch ungenau: Richtig ist zwar, daß Rechtsfindung secundum legern nach herkömmlicher Lehre voraussetzt, daß der Richter den zu entscheidenden Fall unter den Tatbestand einer "passenden" Norm subsumieren kann 5 ; da Voraussetzung für diese Subsumtion ist, ob die Norm "paßt", und dies von ihrem durch Auslegung zu ermittelnden Sinn und Bedeutungsumfang abhängt, kann man zum Zwecke sprachlicher Vereinfachung von der Abgrenzung zwischen " Auslegung " und Rechtsfindung praeter legern sprechen. D. h. es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn statt von den Grenzen der Rechtsfindung secundum legern von den "Grenzen der Auslegung" (als der "Wegweiserin zur Rechtsfindung secundum legern")' gesprochen wird. Nachweise unten, Kapitel 9, § 1. Siehe oben, § 2 11 2. 3 aaO, 1 b, c. 4 So u. a. bei Wessels, AT S. 10. S Vgl. oben, § 1 I. e aaO. 1

!

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Ungenau ist aber die Gegenüberstellung Auslegung/Analogie, und zwar auch dann, wenn man dabei Analogie als Mittel der gesetzesergänzenden Lückenfüllung (und nicht als rechtlich-logisches Schlußverfahren des "Fallvergleichs") versteht7 ; denn es geht um die Abgrenzung der Rechtsfindung secundum legern gegenüber jeder Form der Rechtsfindung praeter legern, mag diese mittels Gesetzesanalogie, Rechtsanalogie oder teleologischer Reduktion erfolgen8 • Folglich sind von den Anhängern des Analogieverbots nicht nur Auslegung und Analogie, sondern auch Auslegung und teleologische Reduktion voneinander abzugrenzen'. 2. Öffentliches Recht

Die Grenzziehung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern ist aber nicht nur für den Strafrechtler bedeutsam. Sie ist vielmehr auch ein Kernproblem des öffentlichen Rechts, nämlich insoweit, als man aus dem Gesetzesvorbehalt für hoheitliche Eingriffe ein Analogieverbot ableitet1o • 3. Zivilrecht

Und schließlich ist die fragliche Abgrenzung auch im Zivilrecht relevant: Zwar ist dort grundsätzlich die gesetzesergänzende Lückenfüllung uneingeschränkt sta!tthaft 11 ; es gibt aber Vorschriften, die Ausnahmen von diesem Grundsatz enthalten und dem Richter die gesetzesergänzende Lückenfüllung verwehren, also ein Analogieverbot aufstellen. Dies gilt z. B. für §§ 16 und 28 Ehegesetz12 sowie nach einer verbreiteten Ansicht für § 253 BGB1!. Siehe oben, § 2 I 1 a. Vgl. oben, § 1 II und § 2 aaO. D Vgl. dazu jetzt Suppert, Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen Lage", S. 190. 10 Siehe oben, § 2 II 1. U Palandt/Danckelmann, Einleitung V 3 vor § 1 BGB; StaudingerlBrändl, Einleitung Rdnr. 66 ff. vor § 1 BGB. 12 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 184; Palandtl Diederichsen, § 28 EheG Anm. 2. 13 So u. a. PalandtlHeinrichs, § 253 Anm. 1; Bötticher, MDR 1963, S. 360; Engisch, Einführung in das juristische Denken, Anm. 180 (S. 260); Löffler, NJW 1962, S. 226; abweichend u. a. Canaris aaO, S. 187 f. Der BGH hat sich demgegenüber seit dem "Herrenreiter-Urteil" (BGHZ 26, 349 ff. = NJW 1958, S. 827) in ständiger Rechtsprechung über §§ 253, 847 BGB hinweggesetzt, indem er bei schweren Verletzungen des "allgemeinen Persönlichkeitsrechts" Ansprüche auf Ersatz des "immateriellen Schadens" zuerkannte; vgl. näher dazu Giesen, NJW 1971, 801 f. (mit eingehenden Nachweisen von Rechtsprechung und Lehre). Zu dieser Judikatur vgl. jetzt BVerfG, Beschl. v. 14. 2. 1973, BVerfGE 34, 269, 279 ff.: 7

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D. h. auch im bürgerlichen Recht ist im Hinblick auf solche Ausnahmeregelungen die Grenzziehung zwischen Auslegung und gesetzesergänzender Lückenfüllung bedeutsam. Demgemäß haben wir es bei dieser Grenzziehung mit einem Problem zu tun, daß nicht nur den Strafrechtler, sondern auch den Öffentlichrechtier und den Zivilrechtier angeht. 11. Zu den Abgrenzungskriterien im einzelnen

Sichtet man Rechtsprechung und Lehre zum Problem der Abgrenzung zwischen richterlicher Rechtsfindung secundum und praeter legern, so ergibt sich, daß es sich dabei um eine der strittigsten Fragen der juristischen Methodenlehre handelt.

1. Abstellen awf den Wortsinn des Gesetzes als Auslegungsschranke überwiegend sieht man das maßgebliche Abgrenzungskriterium im Gesetzeswortlaut, wobei die übliche Formulierung dahin geht, der "mögliche Wortsinn" der Norm bilde ihre Auslegungsschranke14 • Diese Auffassung bedarf der Verdeutlichung: a) Wie die Umgangssprache, so ist auch die Gesetzessprache, die sich ja - sieht man von Zahlen, chemischen Formeln u. ä. sowie von rechtstechnischen Kunstbegriffen wie Hypothek und Nießbrauch ab - der Sprache des täglichen Lebens bedienen muß, regelmäßig mehrdeutig 15 ; alle Rechtsbegriffe - mit Ausnahme von Zahlen, chemischen Formeln u. ä. - sind mehr oder weniger unbestimmt 18• Die fragliche Rechtsprechung des BGH sei mit dem GG vereinbar; zustimmend u. a. Kübler, JZ 1973, 667 f.; a. A. etwa Knieper, ZRP 1974, 138. 14 So insbesondere Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 73, 83, 146, 149; Anm. 81 c (S. 221); Anm. 106 b (S. 231 f.); Larenz, Methodenlehre, S. 309 f., 329, 332 f.; Fr. Müller, Juristische Methodik, S. 75, 105, 140 f., 195; Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, S. 39 (a. E.); Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, S. 23, 31, 52 f., 73. Ebenso die h. L. im strafrechtlichen Schrifttum sowie die strafrechtliche Rechtsprechung (Nachweise dazu, sowie weitere Nachweise aus der nichtstrafrechtlichen Rechtsprechung und Lehre, unten, Kapitel 6, § 1 I 1). Die Formel vom "möglichen Wortsinn" geht auf Heck (AcP Bd. 112 [1914], S. 33) zurück; doch wird bei ihm die Wortlautschranke bis zur faktischen Bedeutungslosigkeit relativiert (vgl. AcP aaO, S. 138 ff., insbesondere S. 156). Zu den abweichenden Stimmen vgl. unten, 2. 15 Heck aaO, S. 46 f., 173; ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 52, 60. 16 So zutreffend Engisch aaO; Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, S. 25; NoZl, JZ 1963,299; Th. Vogel, Zur Praxis und Theorie der richterlichen Bindung an das Gesetz im gewaltenteilenden Staat, S. 32.

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

Zur Veranschaulichung dieser semantischen17 Mehrdeutigkeit der Rechtsbegriffe wird im rechtstheoretischen Schrifttum das auf Heck zurückgehende Bild vom "Begriffskern" und "Begriffshof" verwandt1 8 : Jeder Begriff der Sprache des täglichen Lebens und damit grundsätzlich auch jeder Rechtsbegriff besitze einen in seiner Bedeutung gewissen Begriffskern, der von einem "nach den Rändern zu immer mehr verschwimmenden" Begriffshof umgeben werdeiv. Dieses Bild von Begriffskern und -hof ist gut geeignet, um die h. A. vom Wortsinn des Gesetzes als Schranke zwischen Auslegung und Rechtsfindung praeter legem zu verdeutlichen: (1) Es gibt Fälle, die vom Wortsinn eines Rechtsbegriffs (unter Berücksichtigung von dessen Zusammenspiel mit den anderen in der fraglichen gesetzlichen Regelung verwendeten Begriffen) klar erfaßt werden; Warda20 spricht hier anschaulich von "Fällen positiver Gewißheit". Als Beispiel nennt LaTenz den Begriff "Kinder einer Person", bei dem die leiblichen Kinder den "Kernbereich" der sprachlichen Vorstellung bilden sollenl l• Die herkömmliche Unterscheidung zwischen bestimmten und unbestimmten Rechtsbegriffen ist insoweit also irreführend; vielmehr kann man grundsätzlich nur zwischen relativ bestimmten und besonders unbestimmten Rechtsbegriffen differenzieren. 17 Unter "Semantik" versteht man diejenige Teildisziplin der Sprachtheorie, deren Gegenstand das "Verhältnis von sprachlichem Ausdruck und sprachlich Ausgedrücktem" ist (vgl. E.-J. Lampe, Juristische Semantik, S. 2 f. m. w. N.; W. Becker, AcP Bd. 171 [1971], S. 510, 517). 18 Heck aaO. IV Heck aaO; CanaTis, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 22; Engisch aaO; EnnecceTuslNippeTdey, § 58 I 1 (S. 337); GöldneT, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 39; LenckneT, JuS 1968, S. 256; Fr.-Chr. SchToeder, JZ 1969,777; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 186; WiedemeyeT, Theoretische Begründung und praktische Durchführung des strafrechtlichen Analogieverbots, S. 159 -162; Jesch, AöR 1957 (82. Bd.), S. 172 ff., 176, 177, 186; J. Ipsen,Richterrecht, S. 64; DubischaT, Vorstudien ... , S. 91; Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers ... , S. 19. LaTenz (Methodenlehre, 2. Aufl. 1969, S. 302) spricht vom sprachlichen "Kern- und Randbereich". Kritisch zur Lehre vom Begriffskern und -hof aber Kruse, Steuerrecht, S. 87; Haft, JuS 1975, S. 481. 20 aaO, S. 27. 21 Larenz aaO. Wie mir scheint, ist der Begriffskern der Gesetzesformulierung "Kinder einer Person" aber noch enger als LaTenz annimmt: Volljährige Abkömmlinge einer Person werden vom sprachlichen Bedeutungskern des Begriffs "Kinder einer Person" nicht mehr erfaßt. (Dies war z. B. im Rahmen des § 181 I Nr. 2 StGB a. F. bedeutsam, wo eine zwar nicht herrschende, aber zutreffende Auffassung unter den "Kindern" i. S. dieser Norm nur minderjährige verstand; so z. B. SchönkelSchTödeT (13. Aufl. 1967), § 181 Rdnr. 6; a. A. BGHSt 17,230,235; jeweils m. w. N.).

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

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Den Gegensatz zu den vom Begriffskern abgedeckten Fällen bilden diejenigen, die vom Wortsinn des Gesetzes nicht mehr erfaßt werden, die also sprachlich beim besten Willen nicht mehr dem fraglichen Begriff zugeordnet werden können; als Beispiel sei hier im Anschluß an Blei der Begriff "Bahnhof" genannt, unter den Flughäfen nicht subsumiert werden konnten 22 • Zwischen dem Begriffskern und dem vom fraglichen Rechtsbegriff sprachlich keinesfalls mehr abgedeckten Bereich (Fälle negativer Gewißheit) liegt der Begriffshof: Er umfaßt die Fälle, bei denen der mögliche Wortsinn des Gesetzes ihre Subsumtion nicht fordert, aber ihr auch

nicht entgegensteht. Hierfür nennt Larenz23 im Hinblick auf den Rechtsbegriff "Kinder einer Person" als Beispiel Adoptiv-, Stief- und Pflegekinder, die dem Begriffshof der fraglichen Gesetzesformulierung unterfallen sollen.

(2) Wird nun bei der richterlichen Rechtsfindung eine Norm auf einen Fall angewandt, der ihr sprachlich nicht mehr zugeordnet werden kann, also auch vom Begriffshof der fraglichen Gesetzesausdrücke nicht mehr erfaßt wird, so ist nach h. M. der Rahmen der Rechtsfindung secundum legem verlassen - mag auch die ratio legis für die Anwendung der Norm streiten. D. h. wird der mögliche Wortsinn des Gesetzes, dessen äußerste Grenze durch den "Außenrand" des Begriffshofs umschrieben wird, unter Berufung auf Sinn und Zweck des Gesetzes überschritten, so soll nicht mehr Auslegung des Gesetzes vorliegen, sondern analoge Gesetzesanwendung als Mittel der Rechtsfindung praeter legem24 •

Neben einer solchen Überschreitung der Wortsinnsgrenze gibt es entsprechend eine Art "Unterschreitung" des Wortsinns: Wird aus dem sprachlichen Bedeutungskern eines Rechtsbegriffs "eine bestimmte Fallgruppe herausgenommen und dadurch dem Tatbestand eine Einschränkung contra verbum legis subinteIligiert" - m. a. W. wird die Anwendung der nach dem Kernbereich des Wortsinns passenden Norm auf diese Fallgruppe abgelehnt -, so soll von einer bloßen Auslegung des Gesetzes keine Rede mehr sein können, sondern der Rahmen der Rechtsfindung secundum legem nicht anders als bei überschreitungen des Wortsinns verlassen sein25 • Erfolgt dabei eine solche "Berichtigung des sprachlichen Bedeutungskerns"26 ("Unterschreitung des Wortsinns") ge22

Blei, AT S. 32 (unter Hinweis auf § 243 I Nr. 4 StGB a.F.).

aaO. Vgl. hier nur Larenz und Zippelius (oben, Anm. 14); Suppert, Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen Lage", S. 77 ff. (m. w. N.). Weitere Nachweise pro und contra unten, Kapitel 6, § 1 I 1. U Suppert aaO, S. 190; Dahm, Deutsches Recht, S. 42; Canaris aaO, S. 82 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 377 f.; ders. über das Verhältnis von Interpretation und richterlicher Rechtsfortbildung, S. 384; ders. NJW 1965, S. 5. 28 Suppert und Canaris aaO. !3

24

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

stützt auf die ratio legis, so soll Rechtsfindung praeter legern mittels teleologischer Reduktion vorliegen27 • Die h. A. läßt sich also dahingehend präzisieren: Grenze der Rechtsfindung secundum legern ist der "mögliche W ortsinn" des Gesetzes. Wird eine Norm unter Berufung auf die ratio legis auf Fälle angewendet, die sich auch dem Begriffshof nicht mehr zuordnen lassen, so ist die Schranke zwischen Auslegung und gesetzesergänzender Analogie überschritten; über die Grenze zwischen Auslegung und teleologischer Reduktion hinaus gelangt demgegenüber der Richter dann, wenn er aus dem Begriffskern "im Wege der sogen. Kernberichtigung"28 eine bestimmte Fallgruppe herausnimmt, d. h. die nach ihrem sprachlichen Bedeutungskern passende Norm unter Berufung auf deren Sinn und Zweck auf die fragliche Fallgruppe nicht anwendet. b) Die so charakterisierte h. L. von der Wortsinnschranke wirft insbesondere folgende Fragen auf: (1) Kommt es auf den "natürlichen Sprachgebrauch", den "Sprachgebrauch des täglichen Lebens", an oder dürfen dessen Schranken unter Berufung auf Eigengesetzlichkeiten der Rechtssprache überschritten werden29 ?

(2) Gibt es Ausnahmen von der Wortsinnbindung bei der richterlichen Rechtsfindung secundum legern, etwa bei Druckfehlernllo , Redaktionsversehen1l1 u. ä. 32 oder wegen nach Erlaß des Gesetzes eingetretener technischer N euentwicklungen33 ?

Beide Fragen sind streitig und bedürfen der näheren Untersuchung. So die in Anm. 25 Genannten. 28 Suppert und Canaris aaO. 29 Dazu insbesondere J. Baumann, MDR 1958, S. 394 ff., Dubischar, Vorstudien ... , S. 94, Burkhardt, JZ 1971, 355, Krey, Strafrecht BT 1. Bd. S. 79, BGH St 22, 235, - die auf die natürliche Wortbedeutung als Auslegungsgrenze abstellen -; abweichend insbesondere R. Schmitt, JZ 1969, S. 305 (weitere Nachweise pro und contra unten, Kapitel 6, § 2 I). 30 Bejahend u. a. Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 459 f.; Mezger, Strafrecht, S. 80; Rittler, Lehrbuch des österreichischen Strafrechts, 1. Bd. 27

S.35.

31 Dafür u. a. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 169 f.; Jescheck, AT S. 125; Säcker, ARSP 1972, S. 219; Stöckel, Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht, S. 85; weiter H. Mayer, AT (1967) S. 37; Malaniuk, Lehrbuch des Strafrechts, 1. Bd. S. 41 (für das österreichische Recht); weiter RG St 40, 191, 195 f. - in casu aber nur zugunsten des Straftäters -; zustimmend zu dieser Entscheidung Mezger aaO. Dagegen ausdrücklich Binding aaO., S. 460 - 463; Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 86 ff. (88); ders. JZ 1973, S. 278, Anm. 6; Rittler aaO.

Hier kommen u. a. in Betracht: Motivirrtümer des Gesetzgebers; dazu BGH St 1, 74, 79; Bockelmann, Ist

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

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2. Gegner der Lehre vom Gesetzeswortsinn als Grenze der Rechtsfindung secundum legem

Gegen die dargelegte h. A. - Grenze der Auslegung sei der mögliche Wortsinn des Gesetzes - haben sich freilich zahlreiche Autoren gewandt34, wobei die Kritik sich insbesondere im neueren strafrechtlichen Schrifttum verstärkt hat. Unter diesen Gegnern der Wortsinnschranke ist wie folgt zu differenzieren: a) Viele von ihnen halten am strafrechtlichen Analogieverbot fest und unterscheiden weiterhin zwischen zulässiger Auslegung und unzulässiger Gesetzesanalogie35 • Dabei bleibt aber häufig unklar, worin diese Autoren das Abgrenzungskriterium zwischen einer "unmittelbaren" und einer nur entsprechenden ("analogen") Anwendung des Gesetzes sehens6 • Soweit sich zu dieser Frage klare Stellungnahmen finden, wird von den einen auf den" Willen des Gesetzgebers" abgestellt3 7, von den anderen auf "Sinn und Zweck des Gesetzes"38, d. h. auf die ratio legis, verstanden als "heutigen objektiven Normsinn". eine berichtigende Auslegung des § 246 StGB statthaft?, MDR 1953, S. 3 ff.; Roth-Stielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, S. 76. Irrtümer des Gesetzgebers über die Bedeutung eines Rechtsbegriffs; vgl. BGH St 15, 138, 141; weiter BVerfG E 11, 139, 148 f. 33 Vgl. dazu näher Roxin (ZStW Bd. 83 [1971], S. 378) zu BGH St 10, 375-: Die Wortlautgrenze dürfe (auch zum Nachteil des Täters) dort überschritten werden, "wo technische Entwicklungen funktionsidentische zeitgenössische Äquivalente geschaffen" hätten. Ebenso Jescheck aaO. 34 Vgl. Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, S. 71, 79; Bender, JZ 1957, S. 599; G. Boehmer, Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung, 2. Buch 1. Abteilung, S. 167 f.; Bringewat, Funktionales Denken im Strafrecht, S. 136 f., 162 f.; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl " ., S.194; Göhler, § 3 OWiG Anm. 3B; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses ... , S. 274 a. E.; Mayr, DAR 1974, S. 65; RebmannlRothlHerrmann, § 3 OWiG Anm. 7; H.-P. Schneider, DÖV 1975, S. 450, 452; Steindorf, Politik des Gesetzes als Auslegungsmaßstab ... , S. 232 Anm. 49; 234 (a. E.) f., 237. Ebenso anscheinend de Asua, ZStW Bd. 63 (1951), S. 196 (a. E.); Hassemer, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 190 f., 211; Maurach, AT S. 104; ders. JZ 1964, S. 536; Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, S. 38 - 41; Jagusch, LK (8. Aufl.), § 2 Anm. I 3 a; Töndle, LK (9. Aufl.), § 2 Rdnr. 23. So auch die unten, Anm. 41 genannten Autoren. Zu Heck siehe oben, Anm. 14. Zur Rechtsprechung vgl. unten, Kapitel 6, § 1 I 2 b. 35 So u. a. Bartholomeyczik aaO, S. 80; Bender und Boehmer aaO; Bringewat aaO, S. 101; Göhler aaO, Anm. 3 C; Kohlmann aaO, S. 149, 290 Anm. 5; RebmannlRothlHerrmann aaO, Anm. 4; Schneider aaO; vgl. weiter de Asua aaO; Maurach, AT S. 108 ff.; Jagusch aaO, Anm. I 1; Tröndle aaO, Rdnr. 1 ff., 7; Heck, AcP Bd. 112 (1914), S. 129, 196. 38 Das gilt etwa für Göhler, RebmannlRothlHerrmann und Schneider aaO. 37 So besonders deutlich Bender aaO; ähnlich Bartholomeyczik aaO, S. 80, und wohl auch Boehmer aaO. 38 So Maurach, AT. S. 104; ebenso anscheinend Sandrock aaO., S. 41. 4 Krey

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

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Autoren, die zwar einerseits die Lehre ablehnen, Auslegungsschranke sei der mögliche Wortsinn des Gesetzes, anderseits aber (im Hinblick auf Art. 103 11 GG) an der Unterscheidung Auslegung ! Gesetzesanalogie festhalten wollen, finden sich also unter den Anhängern der "subjektiven Theorie"s8 - nach der maßgebliches Auslegungsziel die Ermittlung des Willens des historischen Gesetzgebers ist und unter den Vertretern der "objektiven Theorie"40 - nach der die Auslegung die "gegenwärtige Bedeutung des Gesetzes", dessen "heutigen Zweck" zu ermitteln hat. b) Demgegenüber lehnen andere Kritiker der Wortsinngrenze zugleich mit dieser auch die Unterscheidung zwischen Auslegung des Gesetzes auf der einen und Gesetzesanalogie auf der anderen Seite ab41 ; und entsprechend differenzieren sie nicht zwischen Auslegung und teleologischer Reduktion. Dabei wird behauptet, zwischen der - teleologisch ausgerichteten4l Auslegung und der Gesetzesanalogie könne aus den folgenden Gründen nicht unterschieden werden: 39 Vgl. dazu u. a. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 88 f., 95, 105; Anm. 106 b, S. 230 ff.; Enneccerus!Nipperdey, § 54 (S. 324 ff.); weiter Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 185 f., 202 f., 214; ders. JZ 1967, S. 371 f.; vgl. aber auch die - resignierende - Stellungnahme Nauckes in: Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, S. 281 ff.

Eingehende Darstellung (und Kritik) der subjektiven Theorie jetzt bei

Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, S. 19 ff., 30 ff. (m. w. N.). Vgl. näher unten, Kapitel 7, § 1. 40 Dazu u. a. Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 454 ff.; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 210 ff.; Stratenwerth, Zum Streit der Auslegungstheo-

rien. Nähere Darstellung (und Kritik) bei Mennicken aaO, S. 24 ff., 48 ff. (m. w.

N.).

Vgl. näher unten, Kapitel 7 aaO. Hier sind zu nennen: Sax, Das strafrechtliche Anologieverbot, S. 80, 91, 134, 148 f., 152 ff. (irreführend aber S. 82); ders. Grundsätze der Strafrechtspfiege, Anm. 292 (S. 1002 f.); Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, S. 56 f.; Arthur Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache", S. 3 - 5,31,41; Strathenwerth, AT, Rdnr. 89 f.; Mittermaier, SchwZStrR 1948, S. 405, 422, 427; Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, S. 136 ff., 142; Mennicken aaO, S. 14 f., 103, Anm. 126. Germann unterscheidet zwischen zulässiger Analogie als "Mittel sinngemäßer Auslegung", möge diese auch den Wortlaut des Gesetzes sprengen, und unzulässiger Analogie als Mittel einer "über die Wertung des Gesetzes", über seinen Sinn, hinausgehenden "freien Rechtsfindung" (zum schweizerischen Recht); in: Methodische Grundfragen, S. 8, 120 -124, 135 (a. E.) f.; SchwZStrR 1963, S. 90 f.; Schweizerisches Strafgesetzbuch, S. 4 f.; wie Germann auch Zimmermann, NJW 1956, S. 1264, und GA 1955, S. 342 f. Vgl. jetzt auch Naucke, ZRP 1969, S. 9 (linke Sp.), Sax folgend. Zu Schmidhäusers Sondermeinung unten im Text, d. 42 Zur teleologischen Auslegung vgl. näher Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht; Engisch aaO., S. 74 ff., 79 ff. (m. w. N.). 41

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

51

Zum einen werde auch die Auslegung des Gesetzes von der "allgemeinen Rechtsfindungsmethode" des "abwägenden Typenvergleichs" , des "Fallvergleichs", also des "Schlusses vom Ähnlichen auf Ähnliches" beherrscht, verfahre also "analogisch"43. Und zum anderen sei sowohl für die sog. "unmittelbare" wie für die "analoge" Anwendung einer Norm entscheidend, ob die ratio legis diese Anwendung fordere«; da der Gesetzeswortlaut keine Auslegungsschranke bilde, fehle somit jedes Abgrenzungskriterium für die herkömmliche Unterscheidung Auslegung/Gesetzesanalogie46 • Nach dieser Lehre ist das strafrechtliche Analogieverbot dahingehend

eingeschränkt, daß jede Rechtsfindung einschließlich der von der herkömmlichen Auffassung Gesetzesanalogie genannten - sowie die teleologische Reduktion - statthaft ist, solange sie nur Sinn und Zweck der angewandten Norm entspricht; unzulässig ist demnach nur die von der ratio legis nicht mehr gestützte Rechtsfindung4>6 - die von den Vertretern dieser Lehre als "freie Rechtsfindung" praeter legern bezeichnet wird 47 • Hiernach ist also das maßgebliche Abgrenzungskriterium zwischen Auslegung und der vom Analogieverbot erfaßten Gesetzesergänzung die ratio legis der fraglichen Norm, wobei man diese ratio legis ganz überwiegend im Sinne der "objektiven Theorie" (vgl. oben) als heutigen Normzweck48 versteht. e} Vergleicht man die eben - b} - geschilderte Lehre mit der oben a} - dargelegten, so scheint ihr Unterschied auf den ersten Blick ge~ehen gravierend zu sein.

-

43 So Heller aaO, S. 140 ff.; Kaufmann und Stratenwerth aaO; Sax, Das strafrechtliche "Analogieverbot", S. 148; ders. Grundsätze der Strafrechtspfiege aaO. 44 Sax aaO. 45 Vgl. u. a. Sax aaO; Naucke, ZRP aaO. 48 So Sax, Sauer, Mittermaier und Germann aaO (oben, Anm. 41); ähnlich Stratenwerth aaO, Rdnr. 89. Kaufmann aaO, S. 41, stellt auf den "dem gesetzlichen Tatbestand zugrundeliegenden Unrechtstypus" als Schranke zulässiger Auslegung ab; so schon Sax, Grundsätze aaO, S. 1008 f. 47 Sax, Das strafrechtliche "Analogieverbot", S. 153; Stratenwerth, Germann und Zimmermann aaO. 48 So insbesondere Stratenwerth aaO (vgl. dazu weiter oben, Anm. 40); Germann aaO (maßgeblicher Vertreter der objektiven Theorie im schweizerischen Schrifttum; vgl. nur: Probleme und Methoden der Rechtsfindung, S. 96 ff). Zimmermann (aaO) dagegen ist ein Anhänger der subjektiven Theorie; vgl. NJWaaO. Vermittelnd Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 298 (a. E.); weiter Sax, Das strafrechtliche "Analogieverbot", S. 63 ff., 69 ff.

52

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

Denn diese - a) - hält ja (verbal) an der Differenzierung Auslegung / Gesetzesanalogie fest und meint, die Gesetzesanalogie werde durch Art. 103 II GG ausgeschlossen, während jene - b) - davon ausgeht, die teleologische Auslegung umfasse auch die "Gesetzesanalogie", die demgemäß von der Parömie "nullum crimen sine lege" nicht tangiert werde. Schaut man indessen näher hin, sO ergibt sich, daß beide Lehren der Sache nach im wesentlichen dasselbe besagen: überschreitungen des Gesetzeswortsinns sind auch zuungunsten des Täters zulässig; erst wenn die Anwendung einer Strafrechtsnorm nicht mehr durch Sinn und Zweck des Gesetzes gedeckt werde - bzw., so die Anhänger der subjektiven Theorie unter den Kritikern der Wortsinnschranke, dem Willen des Gesetzgebers widerspreche - sei der Bereich (zulässiger) Auslegung verlassen und der (verbotener) Gesetzesergänzung erreicht. Gegenüber dieser sachlichen übereinstimmung verblaßt der oben dargelegte Unterschied bezüglich der Differenzierung Auslegung/Gesetzesanalogie zu einer nur terminologischen Divergenz: die einen - b) verstehen (im Einklang mit der h. L.49) unter Gesetzesanalogie eben die Anwendung einer Norm auf Fälle, die zwar nicht mehr vom Gesetzeswortsinn erfaßt werden, deren Gleichstellung mit den vom Wortsinn gedeckten aber dem gesetzlichen - bzw. gesetzgeberischen - RegeZungszweck entspricht50 ; demgegenüber beruht die unter a) geschilderte Lehre auf einem abweichenden Analogiebegriff51 . d) Ein weiterer Gegner der h. M., Auslegungsschranke sei der Wortsinn des Gesetzes, ist Schmidhäuser52 ; seine Auffassung unterscheidet sich von jener der anderen Kritiker dieser h. A. wie folgt: Schmidhäuser differenziert zwar zwischen "erlaubter Auslegung und verbotener Analogie"53, verweist aber für deren Abgrenzung auf die (subjektive) "Wertung des Gesetzesanwenders": Das "Verbot der Analogie zuungunsten des Täters" bestehe für die Strafrechtspraxis nur insoweit, "als sie selbst eine Lücke im Gesetz anerkenne"; 49 Vgl. hier nur Engisch aaO (oben, Anm. 39), S. 142 ff., 145 m. w. N.); Suppert aaO (oben, Anm. 24), S. 83. 50 So insbesondere Sax, Das strafrechtliche "Analogieverbot", S. 148 ff.; ders. Grundsätze der Strafrechtspflege aaO. 51 Vgl. dazu näher BarthoZomeyczik aaO (oben, Anm. 35), S. 79 f.: Die Analogie ergreife Fälle jenseits der gesetzgeberischen Zwecksetzung (zu ihm kritisch Sax, Das strafrechtliche "Analogieverbot", S. 150 ff.); vgl. weiter Bender und Boehmer aaO (oben, Anm. 35). 52 AT 2/4 (S. 23 f.), 5/42, 43 (S. 110 - 113); er unterscheidet zwischen "Wortlauttatbestand und Auslegungstatbestand". 53 AT 5/24 (S. 99 f.), 5/42, 43 (aaO).

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

53

vom Analogieverbot bleibe nur dies übrig: Wo der Gesetzesanwender meine, es handle sich nicht mehr um Auslegung, da beginne die verbotene Analogie 54 •

3. Der gesetzliche bzw. gesetzgeberische Regelungszweck als zusätzliche Auslegungsschranke neben dem Wortsinn des Gesetzes Wir haben gesehen, daß nach h. A. der Bereich der Auslegung und damit der Rechtsfindung secundum legern verlassen ist, sobald der Rahmen des möglichen Wortsinns des Gesetzes überschritten wird, während nach anderen Auffassungen allein der gesetzliche - bzw. gesetzgeberische Regelungszweck die Auslegungsschranke bildet. Diese Gegenüberstellung könnte zu dem Mißverständnis führen, als sei nach h. M. allein der Wortsinn die Auslegungsgrenze - so wie für die abweichenden Ansichten allein der Regelungszweck die Auslegung beschränkt. Tatsächlich ist aber der Richter nach der Lehre von der Wortsinnschranke keineswegs von der Bea'Chtung des gesetzlichen - bzw. gesetzgeberischen - Regelungszwecks entbunden. Vielmehr ist diese Lehre dahingehend zu präzisieren: Einerseits soll der Bereich der Rechtsfindung secundum legern bei Überschreitung des Wortsinnrahmens auch dann verlassen sein, wenn diese überschreitung sich auf die ratio legis stützt. Andererseits soll aber der Richter nicht etwa - solange er den Rahmen des möglichen Wortsinns beachtet - den gesetzlichen Regelungszweck vernachlässigen dürfen 55 ; wie die Wortsinnüberschreitung bedeute vielmehr auch die Mißachtung der ratio legis, daß der Rahmen der Auslegung verlassen werde 58 • M. a. W.: Auch nach der h. A. vom möglichen Wortsinn des Gesetzes als Abgrenzungskriterium zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern hat der Richter bei der Auslegung die ratio legis - bzw. den Willen des Gesetzgebers57 - zu respektieren; nur ist ihm dort, wo die

Schmidhäuser aaO, 5/43 (S. 112). Vgl. u. a. Jescheck, Studium Generale 1959, S. 113; Kunst, Juristische Blätter 1971, 332 (zum österreichischen Recht); vgl. weiter SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 48; Welzel, Lehrbuch, S. 22; Wessels, AT S. 10. 58 Jescheck und Kunst aaO; a. A. Hassemer, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 191 f.; Prümm, JuS 1975, S. 303. 57 Auf den Willen des historischen Gesetzgebers als Auslegungsschranke neben dem Wortsinn des Gesetzes stellen ab u. a.: H. Mayer, AT (1967), S. 36 f.; ders., SJZ 1947, Sp. 16 und 18 (zur Wortlautschranke) ; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S. 256 - 258, 271, 364 f.; weiter Spies, DRiZ 1956, S. 170. Ebenso Engisch aaO (oben, Anm. 14, 39); EnnecceruslNipperdey, § 54 (S. 324 ff.), § 57 (S. 335). Vgl. auch (als Vertreter der Wortsinngrenze, der zum Streit zwischen subjektiver und objektiver Theorie eine vermittelnde Ansicht befürwortet) Dahm, Deutsches Recht, S. 42, 45 f. Vgl. weiter Fr.-Chr. Schroeder, JZ 1969, S. 778 (r. Sp.), Krey, Zum innerdeutschen Strafanwendungsrecht, S. 124. 54

55

54

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 1

gesetzesergänzende Lückenfüllung ausgeschlossen ist, verwehrt, unter Berufung auf den Regelungszweck einer Norm deren möglichen Wortsinn zu überschreiten.

Naucke aaO (oben, Anm. 39), der aus Art. 103 II GG die Bindung der Auslegung an den Willen des Gesetzgebers abgeleitet hat (vgl. aber jetzt - resignierend - in: Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, S. 281 ff.), ist kein Vertreter der Wortsinnschranke (vgl. Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 194; ZRP 1969, S. 9, 1. Sp.).

Kapitel 2

Zum Zusammenhang der Unterscheidung zwischen richterlicher Rechtsfindung secundum und praeter legem mit hergebrachten Vorstellungen von der Gesetzesanwendung als Erkenntnisakt § 1. Rechtsfindung secundum und praeter legem als Stufen des rechtsschöpferischen Anteils des Richters an der Bildung des Entscheidungsobersatzes

Auch heute noch verbindet sich mit der Differenzierung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern weitgehend die Vorstellung, diese Unterscheidung bezeichne qualitativ divergierende Stufen des rechtsschöpferischen Anteils des Richters an der Gewinnung seines Entscheidungsobersatzes. I. Rechtsfindung secundum legem

Bei der secundum legern erfolgenden Rechtsfindung als der "unmittelbaren Anwendung einer passenden Gesetzesnorm" soll die Aufgabe des Richters darin bestehen, mittels Auslegung den Sinn und Bedeutungsumfang der fraglichen Norm zu erkennen und anschließend den zu entscheidenden Fall unter diese zu subsumieren1•

1. Zur Subsumtion als rein logischem Schluß Dabei ist diese Subsumtion lediglich ein "Urteil im logischen Sinne"2. ein rein logischer, also unschöpferischer Schluß, wie das folgende Muster zeigt: (1) Der Mörder soll mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden; (2) M hat einen Mord begangen, ist ein Mörder;

(3) also soll M mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden 3• Satz (1) nennt man dabei den "Obersatz"4; Satz (2) ist der sogen. "Untersatz"5; Satz (3) - der Syllogismus - bedeutet die eigentliche SubsumtionG• 1 Siehe oben, Kapitel 1, § 1 I. ! Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 49; Dubischar, Vorstudien ... , S. 103. a Beispiel nach Engisch aaO; ebenso Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 18; HeUer, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, S. 68 f. 4 Engisch aaO und S. 63 ff.; Knele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 48. 5 aaO. o Engisch aaO, S. 49; Hassemer, Heller und Kriele aaO.

56

1.

Abschn.: Problemstellung - Kap. 2

Diese ist damit nichts anderes als ein "Anwendungsfall dessen, was die Schullogiker ,modus barbara' nennen"7: Wenn a der Fall ist, gilt b; a ist der Fall; also gilt b.

2. Rechtsschöpferischer Charakter der Gesetzesauslegung? Da - wie wir gesehen haben - die Subsumtion ein rein logischer Schluß ist, kommt für eine rechtsschöpferische Funktion des Richters bei der Rechtsfindung secundum legern nur die Gesetzesauslegung in Betracht. Indessen wird auch heute noch die richterliche Norminterpretation von vielen als bloßer Erkenntnisakt gedeutet; dies bedarf näherer Darlegung, an deren Anfang zum besseren Verständnis ein Abriß über das Ausbildungsbild in dogmenhistorischer Sicht stehen soll8. a) Zum Auslegungsbild in dogmengeschichtlicher Sicht (1) Die mechanistische Richteridee des aufklärerischen Rechtsdenkens (a) Nach Mantesquieu - auf den bekanntlich die "Gewaltenteilung" als Verfassungsprinzip zurückgeht - sollte die richterliche Rechtsfindung einen ausgesprochen unschöpferischen Charakter haben 9 : Dem Richter komme nur die Funktion eines "Sprachrohrs des Gesetzes" zu: "Les juges ne sont que la bauche qui prononce les paroIes de la loi" ("De l'Esprit des Lois", 1748, XI. Buch Kap. 6). Für einen rechts schöpferischen Anteil des Richters an der Rechtsfindung war gemäß dieser Konzeption kein Platz; Aufgabe der Rechtsprechung sollte es vielmehr allein sein, den Buchstaben des Gesetzes anzuwenden. 7 Engisch aaO. Zum "modus barbara" vgl. näher Heller aaO, S. 68 f.; Klug, Juristische Logik, S. 48. 8 Die folgenden Ausführungen a) - sind nach Anspruch und Charakter im wesentlichen nicht mehr als die Darstellung der Ergebnisse dogmenhistorischer Forschung anderer, nicht aber selbst Beitrag zu solcher Forschung; denn diese ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit (was u. a. auch im Hinblick auf die unten, Anm. 8, angeführten Untersuchungen von Schreiber und Küper sachgerecht erscheint). 9 Zum folgenden vgl. die Darstellung bei Küper, Die Richteridee der Strafprozeßordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen, S. 44 - 50; H. L. Schreiber, Gesetz und Richter. Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, S. 53 ff. Montesquieu konnte "die Ausdrücke nicht schroff genug wählen, um die völlig unschöpferische Natur der richterlichen Entscheidungstätigkeit zu kennzeichnen" (Radbruch!Zweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 166; Küper aaO, S. 48).

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 2

57

Nach diesem Verständnis der Funktionsteilung zwischen Gesetzgebung und rechtsprechender GewaWo wäre der Richter praktisch nur noch eine Art "Subsumtionsautomat"l1. (b) Montesquieus "mechanistische Richteridee"12 wurde bald integrierender Bestandteil des aufklärerischen Rechtsdenkens. Insbesondere Beccaria l3 - einer der namhaftesten Rechtsdenker des aufklärerischen Rationalismus - übernahm siel'. Und er ging dabei insoweit noch einen Schritt weiter, als er ausdrücklich ein Auslegungsverbot postulierte: Dem Richter sollte die Interpretation des Gesetzes verwehrt seinl5 . Sein tiefes Mißtrauen gegen einen rechtsschöpferischen Anteil der Richterpersönlichkeit bei der Rechtsfindung drückte Beccaria dabei recht drastisch aus: Ließe man die Auslegung zu, so sei die Rechtsanwendung abhängig von guter oder schlechter Laune, guter oder schlechter Verdauung des Richters u. ä. Faktorenl8. Mit einem solchen Auslegungsverbot war der Richter nun vollends bei der Rechtsgewinnung auf die Funktion eines Subsumtionsautomaten beschränktl7. (c) Dies Richterbild prägte in der Folge noch Gesetze der späten Aufklärungsepoche: U. a. in Gesetzen der französischen Revolutionszeit wurde unter Einführung des "reIere legislatif"18 der Rechtsprechung die Auslegung des Gesetzes verboten19 • Auch für die Reform und Kodifikation des prewßischen Rechts war in der Cabinetsordre Friedrich des Großen vom 14. 4. 1780 ein striktes Auslegungsverbot vorgesehen20 ; es hieß dort: 10 Montesquieu selbst sah nach seiner Auffassung von der Funktion der Justiz durchaus folgerichtig - in der rechtsprechenden Gewalt keine echte Staatsgewalt "im Sinne einer Herrschaft von Menschen über Menschen" (vgl. E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 32; Küper aaO, S. 47; Schreiber aaO); vielmehr sprach er von ihr als "... en quelque fa!;on nulle" (De l'Esprit des Lois aaO; zitiert nach Schreiber aaO). 11 Küper aaO, S. 49 (m. w. N. in Anm. 88). 12 Küper aaO, S. 50.

13

1738 - 1794.

Vgl. näher Küper aaO, S. 50 - 55 (m. w. N.). Dreher, Strafrecht seit 1763, S. 40; Küper aaO, S. 52f.; v. Wächter, Über Gesetzes- und Rechtsanalogie, S. 413. 18 Vgl. Dreher und Küper aaO. 17 "Bei Beccaria hat klarer als bei Montesquieu - das aufklärerische Subsumtionsdogma seine Formulierung gefunden" (Küper aaO, S. 51). 18 Bei Zweifeln über den Sinn der Gesetze sollte die Rechtsprechung danach die "Gesetzgebungskommissionen" anrufen. 19 Näher bei Küper aaO, S. 55 - 57 (m. w. N.); H. L. Schreiber aaO (oben, Anm. 9), S. 67 - 75. 20 Schreiber, S. 85 f.; Küper aaO, S. 63. 14

15

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 2

"Dagegen werden Wir nicht gestatten, daß irgendein Richter ... Unsere Gesetze zu interpretieren, auszudehnen oder einzuschränken ... sich einfallen lasse"ZI. In das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 wurde dann allerdings ein solches Verbot jeder Interpretation des Gesetzes nicht mehr aufgenommen 22 • Dagegen findet sich zum Bayerischen Strafgesetzbuch vom 26. 5. 1813 wieder ein Auslegungsverbot: Das Publikationspatent vom 19. 10. 1813 untersagte "allen Staatsdienern und Privatgelehrten", einen "Kommentar über das Strafgesetzbuch in Druck zu geben"!3. (d) Daß dies "mechanistische Richterbild" aus der Zeit des "aufklärerischen Kodifikationsoptimismusses" wirklichkeitsfremd, naiv war, damals wie heute und in Zukunft nicht realisierbar, ist bekannt und bedarf keiner weiteren Begründung als der: Um den Richter bei der Rechtsfindung auf die Funktion eines Subsumtionsautomaten beschränken zu können, der das Gesetz nicht interpretieren darf und braucht, müßten alle Rechtsgebiete in dem Sinne kodifiziert sein, daß die Kodifikationen für jede denkbare gegenwärtig und zukünftig auftretende Rechtsfrage eine Antwort bereithalten - und zwar eine ohne jede Auslegung aus dem Gesetz eindeutig abzulesende Antwort. Solche Kodifikationen, der Wunschtraum des aufklärerischen Rationalismus - und heute der von Phantasten, die Rechtsfindung möglichst weitgehend "automatisieren", von Computern erledigt sehen möchten-, sind aus mehreren Gründen nicht denkbar. Einmal wegen des notwendig abstrakt-generellen Charakters der Rechtsnormen. Zum anderen wegen der grundsätzlichen sprachlichen Mehrdeutigkeit jeden Rechtsbegriffes24 ; denn die "der Wirklichkeit zugewandte Sprache" und so auch die grundsätzlich auf deren Verwendung angewiesene "Rechtssprache" sind "nicht auf Eindeutigkeit hin angelegt" (Arthur Kaufmann)26. Und schließlich wegen der faktischen UnU Zitiert nach Schreiber aaO, Anm. 26. Die Cabinetsordre fährt anschließend fort: "Sondern er (Richter) muß, wenn sich in der Folge Zweifel oder Mängel an den Gesetzen ... finden, der GesetzCommission davon Nachricht geben ... ". D. h. das Interpretationsverbot sollte mit einem "refere legislatif gekoppelt werden. 22 Vgl. näher Küper aaO, S. 65. 23 Vgl. bei Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspfiege, S. 266 (a. E.) f.; Schreiber aaO, S. 119. Die amtlichen "Anmerkungen zum Strafgesetzbuche für das Königreich Bayern" sollten alle sonstige Kommentierung überflüssig machen. 24 Dazu oben, Kapitell, § 3 111 a. 25 Die Geschichtlichkeit des Rechts im Lichte der Hermeneutik, S. 270.

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 2

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möglichkeit, alle gegenwärtigen, und der denknotwendigen Unmöglichkeit, alle zukünftigen möglicherweise auftretenden Rechtsfragen zu erkennen. Daher werden Auslegungsverbote ("Kommentierungsverbote") heute mit Fug und Recht als "Denkmäler gesetzgeberischer Naivität" bezeichnet 28 • (2) Zum Auslegungsbild Savignys (a) Savigny - dem Begründer der "historischen Rechtsschule"27 - gebührt das Verdienst, ganz wesentlich dazu beigetragen zu haben, daß das "mechanistische Richterbild" des aufklärerischen Kodifikationsoptimismusses schon bald als verfehlt beurteilt wurde. Insbesondere in seiner berühmten Streitschrift "Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" (1814) und in seinem Aufsatz "Stimmen für und wider neue Gesetzbücher" (1817) kritisierte er den Kodifikationsoptimismus!8 und machte die Unsinnigkeit von Auslegungsverboten (Kommentierungsverboten) deutlichU • Damit war das aufklärerische Subsumtionsideal überwunden und der Weg frei für rechtstheoretische Forschungen zur GesetzesausZegurng. Die Frage nach dem schöpferischen Anteil des Richters bei der Anwendung des Gesetzes auf den zu entscheidenden Fall konnte also in der Folge nicht mehr einfach mit der These verneint werden, die Aufgabe der Rechtsprechung erschöpfe sich in der syllogistischen Subsumtion30 • Vielmehr konnte es jetzt nur noch darum gehen, ob und wieweit die Interpretation der Gesetze ein reiner Erkenntnisakt sei, oder ob die Gewinnung des Entscheidungsobersatzes mittels Gesetzesauslegung rechtsschöpferischen Charakter habe. Was diese Frage angeht, hat Savignys Methodenlehre bis heute Einfluß behalten; sein Standpunkt hierzu soll daher kurz skizziert werden: 26 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 93 (mit dem Hinweis auf weitere Auslegungsverbote); Arthur Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache", S. 3. Auch die Verweisung auf die Möglichkeit, das Gesetz in allen Zweifelsfragen vom Gesetzgeber authentisch interpretieren zu lassen ("refere legislatif"), vermag diese Beurteilung der Interpretationsverbote nicht zu ändern: "Eine solche Regelung hätte sich in kürzester Zeit als völlig unpraktikabel erwiesen, wenn sie ernst genommen worden wäre, da dann an übriges Regieren kaum mehr zu denken gewesen wäre" (Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 61 unter Hinweis auf Savigny). 27 Dazu u. a. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 348 ff., 377 ff.; Eric Wolf, Große Rechtsdenker, S. 467 ff. !8 Vgl. näher bei Wieacker aaO, S. 390 ff.; Küper aaO, S. 147. 20 Näher Küper aaO, S. 147, 149, 150; vgl. weiter bei Kriele aaO. 30 Vgl. aber Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 41: "Die Jurisprudenz vernichtet sich selbst, wenn sie nicht unbedingt daran festhält, daß die Gesetzesauslegung die Ermittlung der richtigen Subsumtion i. S.

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(b) Savignys Auslegungslehre findet sich in seinem von Jakob Grimm nachgeschriebenen Marburger Kolleg (1802/1803)31 und in Band I seines "Systems des heutigen Römischen Rechts"32. Ohne daß wir hier auf Einzelheiten seiner Methodenlehre eingehen können - etwa auf seinen bekannten Kanon an Auslegungselementen 33 oder auf seine Unterscheidung zwischen der Auslegung der Kodifikationen seiner Zeit und der im weiteren Sinne verstandenen, die Gesetzesergänzung mittels Analogie mitumfassenden "interpretatio" der römisch-rechtlichen Quellen des corpus iuris34 - , läßt sich doch dies feststellen:

Savigny sah in der Auslegung keine rechtsschöpferische Tätigkeit, sondern einen Erkenntnisakt35 : Unter Auslegung verstand er die "Rekonstruktion des dem Gesetz innewohnenden Gedankens"36. Diese "Rekonstruktion" bezeichnete Savigny zwar als "freye Geistesthätigkeit"37; denn nach seiner Auslegungslehre hatte der Richter ja u. a. das "System", den "inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft", zu berücksichtigen (systematisches Auslegungseledes syllogischen Schlusses ist." Diese Formulierung erweckt den Anschein, als wolle Forsthoff das aufklärerische Subsumtionsdogma zu neuem Leben erwecken. Wie ich meine, würde man mit dieser Deutung dem wirklichen Anliegen Forsthoffs nicht gerecht: Ihm geht es darum, die Justiz, deren "Entfesselung" er schildert und bedauert, durch strikte Beschränkung auf die von Savigny dargelegten Auslegungselemente (vgl. dazu unten, Anm. 33) zu disziplinieren; insbesondere hat er der Wertungsjurisprudenz den Kampf angesagt (vgl. näher Forsthoff aaO; ders. Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 34, 39 f.). In diesem Kontext dürfte die oben zitierte - freilich äußerst mißverständlich formulierte - These nur dieses Postulat des "Zurück zu Savigny!" bedeuten. (Daß die fragliche These auch so verstanden wirklichkeitsfremd ist [vgl. die Kritik von Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 32 f.; 82, Anm. 37; 164 f., Anm. 56 f.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 15; 21; 37 Anm. 31; 49 f.; 56; 81], steht auf einem anderen Blatt.) 31 Unter dem Titel: "Savigny, Juristische Methodenlehre" herausgegeben von G. Wesenberg (1951). Näher zu diesem Kolleg Larenz, Methodenlehre, S. 11 ff. 32 Hierzu näher Larenz aaO. 33 Dazu neben Larenz aaO eingehend Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 67 ff., 81 ff. 34 Vgl. näher Kriele aaO, S. 68 -70. 35 Küper aaO (oben, Anm. 9), S. 149 ff., insbes. S. 156; vgl. auch Kriele aaO, S. 67 ff. 36 Savigny, Methodenlehre (oben Anm. 31), S. 17 ff.; System des heutigen Römischen Rechts (im folgenden zitiert: System), Bd. I, S. 212 ff.; vgl. näher Larenz, aaO, S. 12, 16; Kriele aaO, S. 67. 37 System Bd. I, S. 207, 209.

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ment)38. Aber Savigny ging dabei davon aus, diese "freie Geistestätigkeit" erfordere keine rechtsschöpferische Wertentscheidung des Richters, sondern lediglich begriffliche Deduktionen im Rahmen eines formallogisch gedachten Rechtssystems 39 ; und so sprach er durchaus folgerichtig von der "rein logischen Interpretation"40. Demgemäß sollte dem Richter bei der Auslegung die Rücksicht auf das gerechte Ergebnis grundsätzlich verwehrt seinH ; zudem sollte er nur ausnahmsweise auf den Grundgedanken des Gesetzes abstellen dürfen42 • Küper kann daher im Ergebnis nur zugestimmt werden, wenn er zu folgender Beurteilung des Richterbildes von Savigny kommt 43 :

"So vermochte Savigny, trotz aller Opposition gegen die Richteridee der Aufklärung, nicht zu einer grundlegend neuen Vorstellung von richterlicher Rechtsfindung zu gelangen. Das mechanistische Moment, das der Richteridee der Aufklärung anhaftete, hatte sich zwar verflüchtigt, der geistigen Tätigkeit des Richters wurde mit dem Systemgedanken größere Freiheit und höherer Wert zuerkannt; gleichwohl blieb Rechtsanwendung für Savigny ein Erkenntnisakt, ein logisches Schlußverfahren, aus dem jedes willensmäßige, wertende, irrationale Moment ausgeklammert war." (3) Begriffsjurisprudenz Savignys Vorstellung vom (im wesentlichen) logisch strukturierten Auslegungsakt konnte solange nicht überwunden werden, wie die Begrijjsjurisprudenz44 des 19. Jahrhunderts das Feld beherrschte:

Der Begründer der klassischen Begriffsjurisprudenz war Puchta 45 ; seine Bedeutung für die juristische Methodenlehre lag darin, daß er "mit eindeutiger Bestimmtheit die Rechtswissenschaft seiner Zeit auf den Weg des logischen Systems im Sinne einer ,Begriffspyramide' verwies und damit ihre Entwicklung zur ,formalen Begriffsjurisprudenz' entschied"46. Diese Vorstellung des Rechtssystems als eines logischen Sy38 Savigny, Methodenlehre aaO, S. 18,25; System Bd. I, S. 213 f.; vgl. näher Kriele aaO, S. 81, 84. 39 Vgl. näher Küper aaO, S. 154 - 156 (m. w. N.). 40 Methodenlehre aaO, S. 15 (dazu Küper aaO). 41 Dazu näher bei Kriele aaO, S. 68; Küper aaO, S. 155.

42 So insbesondere in der "Methodenlehre", weniger rigoros im "System" (vgl. die Darstellung bei Larenz aaO, S. 13, 17). 43 aaO, S. 155 (a. E.) f. 44 Als ihre Repräsentanten seien hier namentlich Puchta, Windscheid und der frühe Jhering genannt. Näher zur Begriffsjurisprudenz Larenz, Methodenlehre, S. 20 ff.; vgl. auch Dubischar, Vorstudien ... , S. 21- 23. Die Bezeichnung "Begriffsjurisprudenz" hat Heck - ihr entschiedener Gegner- geprägt (Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912, S. 13 ff.; AcP Bd. 112 - 1914 - , S. 2 f.). 45 Dazu eingehend Larenz aaO; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 399 ff. 46 Larenz aaO, S. 21 f.; siehe auch Dubischa.r aaO.

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stems führte zum Bild der Rechtsfindung als formal-begrifflichen Denkens, als Deduktion47 ; danach konnte Auslegung der Gesetze als begriffliche Deduktion nur als bloßer Erkenntnisakt gewertet werden. Solange die Begriffsjurisprudenz nicht überwunden war4 8 , blieb dies Richterbild vorherrschend. Die Auslegung der Gesetze deutete man zwar als geistige Leistung, aber als logische Schlußverfahren, also deduktives Erkennen des Normsinng4'. (4) Interessenjurisprudenz (a) Die Begriffsjurisprudenz gilt heute als ad acta gelegt: Bedeutsam für ihre überwindung war zunächst Jherings endgültige Abkehr von ihr insbesondere in seinem Werk "Der Zweck im Recht"50. Das bleibende Verdienst dieses Werkes liegt in der Hinwendung des Rechtsdenkens zur sozialen Wirklichkeit, der "Erklärung des Rechtes aus realen Ursachen", genauer: aus gesellschaftlichen Zwecken51 • Jeder Rechtsnorm schrie Jhering "eine inhaltliche Beziehung auf einen bestimmten der Gesellschaft förderlichen Zweck zu, um dessentwillen sie besteht"52. Damit war der Weg geöffnet für die Erkenntnis, daß die Auslegung die Norm auch in ihrer sozialen Funktion als Mittel zur Verfolgung sozialer Zwecke würdigen müsse; d. h. das Fundament für die Forderung nach teleologischer Gesetzesauslegung war geschaffen53 • In der Folge hat sich insbesondere die Interessenjurisprudenz 54 , die an Jherings Entdeckung des Zwecks im Recht anknüpfen konnte, nach Kräften bemüht, der Begriffsjurisprudenz endgültig den Garaus zu machen. WieackeT aaO, S. 400 f. Noch Windscheid (dazu näher Larenz aaO, S. 29 ff.) und anfangs auch noch JheTing (vgl. näher bei LaTenz aaO, S. 26 ff.; WieackeT aaO, S. 450 f.) 47

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waren dem Denken der Begriffsjurisprudenz verhaftet. Jhering wandelte sich dann aber zu einem entschiedenen Gegner der Begriffsjurisprudenz, die er zuerst in seinen "vertraulichen Briefen eines Unbekannten an die Herausgeber der Preußischen Gerichtszeitung" (1861 - 66) verhöhnte (vgl. dazu Wieacker aaO; LaTenz aaO, S. 48). 40 Vgl. näher KüpeT, Die Richteridee der Strafprozeßordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen, S. 163 f. mit Nachweisen. 50 Der erste Band erschien im Jahre 1877. Zu JheTings Abwendung von der Begriffsjurisprudenz siehe bereits oben, Anm. 48. 51 Näher dazu bei Larenz aaO, S. 47 ff.; Wieacker aaO, S. 452 f. 52 Vgl. Larenz aaO. 53 Larenz aaO, S. 52 (a. E.). 54 Zu ihr näher die eingehende Darstellung bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 180 ff. (dort Anm. 247 umfassende Literaturnachweise); LaTenz aaO, S. 53 ff.; WieackeT aaO, S. 574 f.; BoehmeT, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, H. Buch 1. Abteilung, S. 190 ff.

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finden Bei Heck - dem Begründer der Interessenjurisprudenz55 wir die herbe Schelte: "Der methodische Quietismus hat in der Herrschaft der Begriffsjurisprudenz für Rechtsprechung und Wissenschaft schlimme Früchte getragen; und an derselben Stelle qualifiziert Heck die Begriffsjurisprudenz als "Inversionsmethode" ab s,. Die entschiedene Abwendung der Interessenjurisprudenz von der Begriffsjurisprudenz liegt dabei in folgendem: Nach jener sind die Gesetze "die Resultanten der in der Rechtsgemeinschaft einander gegenübertretenden und um Anerkennung ringenden Interessen materieller, nationaler, religiöser und ethischer Richtung"; in dieser Erkenntnis, sagt Heck, bestehe der Kern der Interessenjurisprudenz57 • Daraus zieht er für die Gesetzesauslegung die Konsequenz: Die "den Lebensinteressen am besten entsprechende Form der Gesetzesauslegung" stelle sich als eine "historische Interessenforchung" dar; über die menschlichen Vorstellungen, die bei der Gesetzgebung hervorgetreten seien, hinaus müsse der Richter auf die "für das Gesetz kausalen Interessen" zurückgreifen58• Die "kausalen Interessen" betrachtet Heck dabei als "Tatsachen (im Sinne des positivistischen Wissenschaftsbegriffs)"59 und wertet daher die Auslegung, d. h. "historische Interessenforschung", als auf "reale Erkenntnis" gerichtete Tätigkeit60 . (b) Diese Konzeption bezeichnet Heck als "genetische Interessentheorie"61. Hätte sein Rechtsdenken sich hierauf beschränkt, so wäre die Deutung der Gesetzesauslegung als begrifflicher Deduktion durch die Begriffsjurisprudenz lediglich ersetzt worden durch das Bild des Auslegenden als eines nach historischen Tatsachen Forschenden. Die Auslegung wäre dann erst recht als reiner, unschöpferischer Erkenntnisakt zu deuten". Doch tritt bei Heck neben das dargelegte "kausale Rechtsdenken" eine weiterführende Erkenntnis, die über seine "genetische Interessenjuris55 Von Hecks einschlägigen Werken sind hier insbesondere bedeutsam: Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP Bd. 112 (1914), S. 1 - 318; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz (1932). Neben Heck sind als Hauptvertreter der Interessenjurisprudenz Heinrich Stoll und Müller-Erzbach zu nennen (vgl. Nachweise bei Larenz aaO, S. 53). 58 AcP aaO, S. 2 f. 51 AcP, S. 17. 5B AcP aaO, S. 8, 50, 59 ff.; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 107 (Hervorhebungen von Heck). 59 Vgl. Larenz aaO, S. 56. 80 Heck, AcP aaO, S. 50 (Hervorhebung vom Verf.). 81 Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 73. 82 Heck, AcP aaO: "Die Auslegung ist eine historische Forschung, gerichtet auf reale Erkenntnis."

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prudenz" hinaus- und zur heute herrschenden Wertungsjurisprudenz hinführt63 . Heck hat nämlich neben die Formulierungen, in denen er die "Interessen" als Kausalfaktoren für die gesetzlichen Verbote und Gebote schildert, andere gestellt, in denen die "miteinander ringenden Lebensinteressen" Objekt der gesetzgeberischen Wertung sind1l4 : Er bezeichnet es als Zweck der gesetzlichen Normen, diese Interessen "abzugrenzen"65; und er erkennt dabei, daß diese Abgrenzungsaufgabe, dies Bevorzugen bzw. Zurücksetzen bestimmter Interessen zur Regelung der Interessenkollisionen, auf einer "Abwägung der angeschauten Interessen" beruht66 . Jene Abwägung aber erfordere eine "Wertung der Interessen"67, und zwar genauer: eine Wertung durch den Gesetzgeber. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung ist der eigentliche Schlüsselbegriff der Rechtstheorie von Heck; denn für ihn bedeutet die Bindung des Richters an das Gesetz eine unbedingte Bindung an die Wertungen des Gesetzgebers 68 • Damit ist Heck trotz der oben zitierten Formulierungen, die den Richter bei der Auslegung in die Rolle des nur nach historischen Fakten Forschenden zu verweisen scheinen, letztlich doch über dieses Bild unschöpferischer, erkennender Interpretation hinausgelangt. Da er sieht, daß "der Gesetzgeber die menschlichen Interessen nach Werturteilen abgrenzen will", postuliert Heck für die Rechtsprechung die Aufgabe, "dieses Endziel durch seine Fallentscheidung zu verwirklichen"68. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe qualifiziert Heck nun als durchaus schöpferische, nicht mehr nur erkennende Tätigkeit - und zwar nicht 63 Zur Weiterentwicklung der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz vgl. näher Engisch aaO, S. 180 ff., 187 f.; Henkel, Rechtsphilosophie, S. 229 f.; Larenz aaO, S. 128 ff.; Wieacker aaO, S. 574 ff.; Boehmer aaO. Stoll war es, der bereits im Jahre 1931 den Begriff "Wertungsjurisprudenz" geprägt hat (vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz S. 40 Anm. 109; Henkel aaO, S. 230 Anm. 2). Zur Wertungsjurisprudenz vgl. näher unten, b. 64 Zum folgenden vgl. näher Larenz aaO, S. 57 f. 65 Heck, AcP aaO, S. 17; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 106. 66 AcP aaO, S. 94 (a. E.); S. 96 spricht Heck von den Rechtsnormen als "Resultat einer Interessenabwägung" . 67 AcP aaO, S. 18; Begriffsbildung aaO. Vgl. weiter Müller-Erzbach, Wohin führt die Interessenjurisprudenz (1932), S. 8: Die Interessen könnten sich bei der Bildung des Rechts "nicht ohne weiteres auswirken wie die Kräfte der Natur ... sondern nur dann auf die Rechtsbildung einwirken, "wenn sie in einem Auslese- und Bewertungsverfahren für würdig befunden" seien, "vom Recht geschützt zu werden". Und bei Stoll lesen wir: Jeder Rechtssatz enthalte ein "Werturteil über die ihm zugrundeliegenden Interessengegensätze" (Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz, S. 67). 68 AcP aaO, S. 13, 159,220 ff., 226,230; Begriffsbildung aaO, S. 9 f.; 106, 200 ff. 69 Begriffsbildung aaO, S. 106.

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erst im Bereich der Gebotsergänzung oder Gebotskorrektur, sondern bereits im Bereich der Gesetzesanwendung:

Heck unterscheidet bei der Gewinnung des Entscheidungsobersatzes durch den Richter "zwei logisch verschiedene Elemente"7o: Die "historische Erkenntnis des Gebotsinhalts" und die "Verarbeitung dieser Erkenntnis zur Bildung des für diese Entscheidung erforderlichen Gebots"; beide Elemente sollen sich dabei "in der praktischen Durchführung auf das engste berühren". Und in dieser "praktischen Durchführung" der Aufgabe der Gesetzesanwendung erkennt er nun den "emotional wertenden" Anteil der Richterpersönlichkeit71 • Danach hat Heck letztlich die Vorstellung von Auslegung als einem reinen Erkenntnisakt überwunden, so widersprüchlich sein Rechtsdenken in vielen Punkten auch erscheinen mag. (5) Freirechtsbewegung (a) Mit der Interessenjurisprudenz verband die "Freirechtsbewegung"72 der gemeinsame Kampf gegen die Begriffsjurisprudenz73 . Beide erkannten die rechtsschöpferische Bedeutung der Rechtsprechung bei der Rechtsgewinnung. Was die beiden Richtungen schied, war die Frage der Gesetzestreue : "Ihre Wege trennten sich dort, wo die Freirechtler die gesetzliche Gebundenheit des Richters zu früh und ohne Not preisgaben und durch subjektive Rechtsfindung ersetzen wollten" (Boehmer)14. Entscheidendes Merkmal für die Freirechtsbewegung im eigentlichen Sinne war nämlich noch nicht die bloße Erkenntnis, daß Rechtsfindung - auch im Falle der Anwendung einer einschlägigen Norm - grundsätzlich eine rechtsschöpferische, rechts bildende Leistung sei, was Oskar Bülow (im Jahre 1885) in die Worte kleidete: Vgl. zum folgenden Heck, AcP aaO, S. 90, 99 - 103. aaO, S. 101 - 103. 72 Zu ihr vgl. näher Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 49, 133, 183, Anm. 151 c, 152 (S. 250 f.); ders., Die Idee der Konkretisierung, S. 183 ff., 188 ff.; Boehmer, Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, 11. Buch 1. Abteilung, S. 158 ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 63- ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 64 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 579 ff.; Arthur Kaufmann, JuS 1965, S. 1 ff.; Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 9 f., 116 ff., 200 ff. Siehe jetzt auch D. Moench, Die methodologischen Bestrebungen der Freirechtsbewegung auf dem Wege zur Methodenlehre der Gegenwart (1971). Die Bezeichnung "Freirechtsbewegung" ist aufgrund eines Vortrags von Eugen Ehrlich von 1903 (Freie Rechtsfindung und Freie Rechtswissenschaft) entstanden. Hauptvertreter der Freirechtsbewegung im eigentlichen Sinne als "Wendung zum Voluntarismus" - dazu unten im Text - sind Kantorowicz, Fuchs und Isay (dazu u. a. Larenz aaO, S. 66 f. m. w. N.). 73 Vgl. Boehmer aaO, S. 190; Engisch aaO, S. 183. 74 aaO. 70

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Gesetze seien nur "eine Vorbereitung, ein Versuch zur Bewirkung einer rechtlichen Ordnung"75; jede Rechtsstreitigkeit stelle "ein eigentümliches Rechtsproblem dar, für welches sich die zutreffende Rechtsbestimmung im Gesetze noch nicht fertig vorrätig" finde und "auch nicht mit der absoluten Sicherheit eines zwingenden logischen Schlusses aus den gesetzlichen Bestimmungen ableiten" lasse78 • Vielmehr müsse der Richter das "vom Gesetz nur begonnene Rechtsordnungswerk fortführen und vollenden"77.

Billow kam damit zu der berühmten - für seine Zeitgenossen unerhörten, heute wieder hochaktuellen - These: "Nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt schafft dem Volke sein Recht78."

In diesen Feststellungen zur rechtsgestaltenden, faktisch normbildenden Tätigkeit der Dritten Gewalt erschöpfte sich aber die eigentliche Freirechtsbewegung nicht. Für sie ist vielmehr kennzeichnend die Wendung zum Voluntarismus in den Schriften von Kantorowicz 7t , Fuchs80 und Isay81. (b) Diese Autoren stellten - nicht nur im Sinne einer deskriptiven Feststellung, sondern auch als Postulat - die These auf, richterliche Rechtsgewinnung beruhe weitgehend auf dem Wollen des Richters; sie sei irrational, von seinem subjektiven Rechtsgefühl getragen. Den Rechtsnormen sollte neben der richterlichen Eigenwertung bei der Rechtsfindung nur noch eine Kontrollfunktion im Sinne einer nachträglichen Zurückführung der zuvor vom Richter aus dem Rechtsgefühl gefundenen Entscheidung auf das Gesetz zukommen82 • 75 Gesetz und Richteramt, S. 45; auf S. 3 bezeichnet Billow das Gesetz als "nur ein Plan, nur ein Entwurf einer zukünftigen, erwünschten Rechtsordnung". 78 aaO, S. 32. 77 aaO, S. 4. 78 aaO, S. 48. 78 Hier ist besonders seine unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius erschienene Schrift "Der Kampf um die Rechtswissenschaft" (1906) zu nennen. (Nachweis seiner weiteren Schriften bei Larenz aaO, S. 66 Anm. 62. Ein Band ausgewählter Schriften von Kantorowicz ist 1962 unter dem Titel "Rechtswissenschaft und Soziologie", herausgegeben von Th. Wilrtenberger, erschienen.) 80 Von ihm sind u. a. zu nennen: "Schreibjustiz und Richterkönigtum" (1907); "Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz" (1909). (Nachweis der weiteren Schriften bei Larenz aaO, S. 66 Anm. 63. 1965 erschien eine Auswahl von Veröffentlichungen von Fuchs unter dem Titel "Gerechtigkeitswissenschaft", herausgegeben von A. S. Foulkes und Arthur Kaufmann, mit einer - in JuS 1965, 1 ff. nachgedruckten - Einleitung des letzteren.) 81 Rechtsnorm und Entscheidung (1929). (Zu ihm näher Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 188 ff.; ders., Einführung in das juristische Denken,

S.49.)

82 Vgl. hierzu Kantorowicz -

79) - , S. 21 (a. E.) f., 24, 32.

zitiert nach Wilrtenberger aaO (oben, Anm.

Für Fuchs ist die folgende Formulierung kennzeichnend: "In der Menge der zweifelhaften Rechtsfälle ist der der gemeinen Meinung der gescheiten Menschen entsprechende gesunde Menschenverstand, das allgemeine Rechtsgefühl, eine nicht nur beachtenswerte, sondern die in erster Linie zu befra-

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Wieweit dabei die Freirechtsbewegung die richterliche Eigenwertung in dem Sinne über das Gesetz stellen wollte, daß die Rechtsfindung contra legem zulässig sein sollte, kann hier dahinstehen83 • An dieser Stelle genügt die Feststellung, daß die eigentliche Freirechtsbewegung "den königlichen Richter ins Regiment bringen"84 und damit das Extrem der "Gesetzesanwendung als Erkenntnisakt" (Begriffsjurisprudenz) durch das entgegengesetzte Extrem der Rechtsfindung aus dem subjektiven Rechtsgefühl des Richters ersetzen wollte. Diese Wendung zum Irrationalismus hat die Freirechtsbewegung nach dem Urteil der herrschenden Rechtstheorie zu einer Fehlentwicklung werden lassen85 • b) Zum Verständnis der Gesetzesauslegung als Erkenntnisakt im heutigen Schrifttum Wir wollen unseren dogmengeschichtlichen Abriß zur Frage nach dem rechtsschöpferischen Charakter der Gesetzesauslegung hier abbrechen und uns der Gegenwart zuwenden. . Bekanntlich wird die Rechtstheorie heute von der aus der Interessenjurisprudenz hervorgegangenen t Wertungsjurisprudenz beherrscht2 • gende Rechtsquelle. Sie muß geprüft werden an den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und Billigkeit" (Recht und Wahrheit, S. 14; zitiert nach Arthur Kaufmann aaO - oben, Anm. 80 -, JuS 1965, S. 6). Isay aaO (oben, Anm. 81): Der Gerechtigkeitswert sei für den Verstand "schlechthin unfaßbar"; da nun die richterliche Entscheidung Gerechtigkeit anstrebe, entstehe sie "irrational", werde also vom "Rechtsgefühl des Richters erzeugt" (S. 18, 25, 59). Die Begründung der Entscheidung aus dem Gesetz sei eine "Fiktion" (S. 117). Als Sekundärliteratur hierzu seien u. a. Larenz aaO, S. 66 f., Engisch aaO (oben, Anm. 81), Wieacker aaO, Kaufmann aaO und Kriele aaO genannt. 83 Dazu einerseits Arthur Kaufmann aaO (S. 3 m. w N), der von der dem Anliegen der Freirechtsbewegung Unrecht tuenden - "Contra-legern Fabel" spricht; andererseits Less, Vom Wesen und Wert des Richterrechts, S. 15; Wieacker aaO, S. 580. Vgl. weiter Engisch, Einführung aaO, S. 133 u. Anm. 151 c (S. 250); Boehmer aaO, S. 176 ff. (m. w. N.). 8& Engisch aaO. 85 Vgl. nur Boehmer aaO, S. 190; Engisch aaO; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 130, 139 (a. E.); Kriele aaO, S. 65; Larenz aaO, S. 66 - 68; Wieacker aaO, S. 581. 1 Siehe oben, a) (4) (b). ! Dazu bereits oben, a), Anm. 63. Vgl. weiter: Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 21 (a. E.) f., 23, 41, 46 f., 88, 91 f.; Coing, Juristische Methodenlehre, S. 41, 44 f.; ders., JZ 1951, S. 485 (a. E.); Engisch aaO, S. 27 f.; Esser, Grundsatz und Norm, u. a. S. 4, 59, 304; ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 9, 11, 23, 51 Anm. 13, 54, 56, 59, 102 (a. E.) f., 104, 117, 159 ff., 164, 211; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 93 f., 124 ff., 135; Henkel, Einführung in die Rechtsphilo-

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(1) Nach ihrem heutigen Verständnis sind Gesetze Bewertungsnormen:

Das Recht hat nämlich die Funktion, "das Sozialleben zu ordnen und in einer guten Verfassung zu erhalten"3; es erfüllt diese Aufgabe, indem es "Anforderungen an das Verhalten der Rechtsunterworfenen im Sozialbereich stellt"4. Die Rechtsordnung ist also Verhaltensordnung, damit Sollensordnungs. Demgemäß werden die Gesetzesnormen als Sollenssätze bezeichnet6 ; in diesem Sinne charakterisiert man sie als "Bestimmungsnormen"7. Gesetzliche Verbote und Gebote gründen sich nun auf Billigungen und Mißbilligungen, also auf Bewertungen8 • Daher wird allgemein hervorgehoben, das Gesetz als "Bestimmungsnorm" sei "gar nicht denkbar" ohne das Gesetz als Bewertungsnorm9 • Aus diesem Grunde spricht man heute überwiegend von der Doppelfunktion der Gesetzesnorm 10 ; Diese sei Bestimmungs- und Bewertungsnorm, d. h. einerseits ein Imperativ l l , der den Rechtsunterworfenen ein bestimmtes Verhalten vorschreibt, andererseits als Ausdruck einer Wertung (nämlich der des Gesetzgebers) Bewertungsmaßstab für menschliches Verhalten l2 • "Wesen des Rechts" ist es also, "Wertentscheidungen zu treffen"13, und folglich sind die Gesetze Ausdruck rechtspolitischer Wertungen. (a) Die Aufgabe der richterlichen Rechtsfindung muß demnach letztlich darin liegen, "Wertungen verstehend nachzuvollziehen, zu Ende zu denken und schließlich, auf einer letzten Stufe, selbst vorzunehmen"14. sophie, S. 230 ff., 259; Raiser, NJW 1964, S. 1202, 1207 (Anm. 29); Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 432 ff., 435 ff., 444, 473 f.; Zippelius, Das Wesen des Rechts, u. a. S. 1, 12, 47, 50, 65, 110, 116 f., 145, 149. Kritisch Forsthoff (vgl. oben, a), Anm. 30). 3 Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 59 (weiter S. 18 ff., 27). 4 aaO; weiter Bockelmann, Einführung in das Recht, S. 23. 5 Henkel aaO, S. 27; Bockelmann aaO; Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 58. ß Bockelmann aaO; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 21; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 220; Zippelius, Einführung in die Juristische Methodenlehre, S. 9 ff. 7 J. Baumann, AT S. 267; Engisch aaO, S. 27; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 34; Henkel aaO, S. 61; Mezger, GS Bd. 89, S. 207 ff. (240 f.); Radbruch aaO, S. 136. S Engisch aaO. 9 Siehe die in Anm. 7 genannten Autoren. 10 Baumann, Esser und Mezger aaO. 11 Zur sog. "Imperativentheorie" , nach der das Recht "in der Substanz aus Imperativen besteht", vgl. - befürwortend - Engisch aaO, S. 22 ff.; ders., Logische Studien, S. 6; Die Idee der Konkretisierung, S. 93; Bockelmann aaO, S. 23; Radbruch aaO, S. 136, 220; kritisch aber Larenz, Methodenlehre, S. 235 ff.; ders., Der Rechtssatz als Bestimmungssatz, S. 158 ff.; Henkel aaO, S. 66 f.; Hruschka aaO, S. 58 Anm. 3; vgl. auch Esser aaO, S. 33 f. 12 So die in Anm. 7 Genannten. 13 Canaris aaO, S. 23. 14 aaO.

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Und insbesondere für die Gesetzesauslegung folgt aus der Natur der Rechtsnormen als Bewertungsnormen, daß sie als "wertbezogener und wertverwirklichender Vorgang"15 zu verstehen ist: Das Zurückgehen auf die der auszulegenden gesetzlichen Regelung zugrundeliegende Wertung bezeichnet Engisch als "für das rechte Verständnis und die Inhaltsbestimmung der Rechtssätze von größter Bedeutung"18; Auslegung ist demnach auf die "Durchsetzung der gesetzlichen Wertentscheidung gerichtet"17, also "zu einem guten Teil Wertauslegung"18. Außer der hinter der zu interpretierenden Einzelnorm stehenden Wertentscheidung hat der Richter aber bei der Gesetzesauslegung darüber hinaus die Wertungen der Gesamtrechtsordnung 19 zu berücksichtigen. Denn gemäß dem Gedanken der "Einheit der Rechtsordnung"20 ist bei jeder Norminterpretation die Einbettung der Einzelregelung in das Rechtssystem zu berücksichtigen; dieses aber ist nicht formal-logischer oder axiomatisch-deduktiver Natur, sondern wertungsmäßiger, axiologischer Art21 . Canaris kann daher feststellen: "Faßt man das (,innere') System der Rechtsordnung als axiologisches oder teleologisches!!, so liegt die Bedeutung dieses Systems für die Rechtsgewinnung geradezu auf der Hand; denn das Systemargument ist dann nur eine besondere Form einer teleologischen Begründung, und als solche muß es ohne weiteres zulässig und relevant sein. Man kann daher durchaus von einer ,teleologischen oder wertungsmäßigen Ableitungseignung' des Systems sprechen, sofern man nur beachtet, daß ,Ableitung' nicht im Sinne logischer Deduktion, sondern im Sinne wertungsmäßiger Zuordnung zu verstehen ist23 ." Eine so gedeutete "systematische", die Wertentscheidung der Gesamtrechtsordnung beachtende Auslegung ist insbesondere die verfassungsRüthers aaO, S. 435; Göldner aaO, S. 93 f. Einführung in das juristische Denken, S. 28. 17 Rüthers aaO, S. 444. 18 Henkel aaO, S. 259. 19 Rüthers aaO, S. 435 f.; Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, S. 21 ff.; Canaris aaO, S. 88, 91. 20 Dazu grundlegend Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung (1935). Ein Beispiel für die Bedeutung dieses Interpretationsgesichtspunktes bietet die Auslegung des Begriffs der Rechtswidrigkeit der Amtshandlung in § 113 StGB durch Krey, Strafrecht BT 1. Bd. S. 140 f., W. Meyer, NJW 1972, S. 1845 ff., NJW 1973, 1074 f., und Wagner, JuS 1975, 224. 21 Dazu näher Canaris aaO, S. 20 ff. (21 a. E. - f.), 41 ff. Canaris bezeichnet dieses Systemverständnis zugleich als "teleologisches", wobei er in diesem Zusammenhang teleologisch "nicht in dem engeren Sinne der bloßen Mittel-Zweck-Verknüpfung, sondern im weitesten Sinne jeder Zweck- und Wertverwirklichung" versteht ("also etwa in dem Sinne, in dem man die Wertungsjurisprudenz auch mit teleologischer Jurisprudenz gleichsetzt"), S. 41. 22 Siehe Anm. 21. 23 Canaris aaO, S. 88; S. 91. 15

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konforme, also an den Wertungen des Grundgesetzes ausgerichtete In-

terpretation 24 • Bei der Berücksichtigung der Gesamtrechtsordnung ist schließlich noch zu beachten, daß zu dieser neben den Gesetzen und Verfassungsnormen noch die geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsprinzipien25 gehören, also Topoi wie Treu und Glauben, Zumutbarkeit/Unzumutbarkeit u. ä. !4 Zu dieser Deutung der "verfassungskonformen Auslegung" vgl. u. a. Haak, Normenkontrolle und verfassungskonforme Auslegung des Richters, S. 229, 232, 233, 234, 236, 304; Wintrich, 'Ober Eigenart und Methode verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, S. 249; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 28 III c 3 (S. 162); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 32; Spanner, AöR 1966, S. 507, 535; Schmidt-Salzer, DÖV 1969, S. 98; Eckardt, Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 14 Anm. 18; Paulick, Auslegung und Rechtsfortbildung im Steuerrecht, S. 172; Zippelius, Einführung in die juristi-

sche Methodenlehre, S. 53 ff. (58). Die verfassungskonforme Auslegung ist vom BVerfG - sowie vom BayVerfGH - zunächst als normerhaltendes Prinzip entwickelt worden: Im Hinblick auf Normenkontrollverfahren stellte das BVerfG den Satz auf, ein Gesetz sei nicht verfassungswidrig, wenn eine Auslegung möglich sei, die im Einklang mit dem Grundgesetz stehe (E 2, 282; weitere Nachweise zur Rechtsprechung u. a. bei Haak, S. 3; Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung, S. 3; Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 151 - 164). Noch heute sieht man weitgehend in dieser normerhaltenden Funktion der verfassungskonformen Gesetzesauslegung deren Hauptbedeutung (vgl. z. B. Haak, S. 123 Anm. 77; Hesse aaO; Herzog, BayVerwBl. 1959, S. 276; Schack, JuS 1961, S. 270; kritisch Burmeister, S. 8 ff., 31 ff., 127 f.); noch enger J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 169 -171, der die "verfassungskonforme Auslegung" ausschließlich als normerhaltendes Prinzip versteht. Demgegenüber ist festzustellen, daß - unabhängig von der Normenkontrolle - ganz allgemein die richterliche Rechtsfindung an den Wertentscheidungen der Verfassung zu orientieren ist; diese Bedeutung der verfassungskonformen Auslegung als eines allgemeinen Interpretationsprinzips wird insbesondere bei der "verfassungskonformen Konkretisierung" von Generalklauseln und normativen Rechtsbegriffen deutlich (vgl. dazu BVerfG E 7, 198, 209 - "Lüth-Urteil" -; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 47, 65; Krey, Strafrecht, Besonderer Teil, l.Bd. S. 108 (a. E.) f., 115 m. w. N.; ders., NJW 1970, S. 1909). !5 Unter "Rechtsprinzipien" versteht man solche bei der richterlichen Rechtsfindung zu beachtenden "Gesichtspunkte für die Problemlösung" "Topoi" -, deren Eigenart in folgendem besteht: Sie sind nicht zu Rechtssätzen, unter die man subsumieren kann, konkretisiert, stellen aber - teils im Gesetz oder der Verfassung ausdrücklich verankerte ("geschriebene"), teils nur rechtsdogmatisch entwickelte ("ungeschriebene") - Bestandteile der positiven Rechtsordnung dar; vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 151; grundlegend zur Bedeutung der Rechtsprinzipien für die Rechtsgewinnung Esser, Grundsatz und Norm, S. 39 ff., 50 - 52 und öfter. Beispiele für Rechtsprinzipien bieten u. a.: Der Grundsatz von Treu und Glauben; das Schuldprinzip im Strafrecht; der Gleichheitssatz; das Sozialstaatsprinzip; die ZumutbarkeitlUnzumutbarkeit (zu letzerem eingehend Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip) ; die Gesichtspunkte Strafwürdigkeit und Strafbedürfnis (dazu Blei, Henkel-Festschrift 1974, S. 109 ff.; Krey, Strafrecht, BT 2. Bd. S. 54, 73).

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D. h. ein ganzer "Kosmos von Wertungen" ist bei der Norminterpretation bedeutsam. (b) Diese Einsichten der Wertungsjurisprudenz haben die Erkenntnis zur Folge, daß nicht nur Generalklauseln und "klassische normative Rechtsbegriffe" . - z. B. im Bereich des Strafrechts u. a. "böswillig" (§§ 90 a, 223 b StGB), "sexuelle Handlung, die im I:Iinblick auf das geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit ist" (§§ 174 i. V. m. 184 c StGB n. F.), "aus niedrigen Beweggründen" (§ 211 StGB)!8wertausfüllungsbedürftig sind, sondern daß grundsätzlich jeder Rechtsbegriff normativ zu verstehen ist27 und bei seiner Auslegung daher eine Bewertung erfordert: Begriffe wie der Tod eines Menschen, "Beischlaf" u. ä., die man früher als deskriptiv charakterisiertel8 , bedürfen in Zweifelsfällen ebenso einer "bewertenten Interpretation" wie etwa der Rechtsbegriff der "sexuellen Handlung von einiger Erheblichkeit" (vormals: "Unzucht")2t. (2) Nach diesen Feststellungen der Wertungsjurisprudenz müßte die Vorstellung von der Gesetzesauslegung als Erkenntnisakt eigentlich so sollte man meinen - überwunden sein durch die Einsicht, schon bei der Rechtsfindung secundum legern sei ein mehr oder weniger großer rechtsschöpferischer Anteil des Richters bei der Gewinnung seines Entscheidungsobersatzes gegeben; oder genauer formuliert: seien erkennende Einsicht in die vorliegenden rechtlichen Wertungen und wertender Anteil des Richters bei der Konkretisierung der Norm im Hinblick auf den zu entscheidenden Fall verwoben. Indessen finden sich immer noch Äußerungen im heutigen Methodenschrifttum, die in der Gesetzesauslegung einen Erkenntnisakt zu sehen scheinen: (a) Hier ist an erster Stelle Forsthoff zu nennen, der die Wertungsjurisprudenz kritisierflo und die Rückkehr zu den "alten, bewährten ReZ8 Weitere Beispiele bei Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz "nullum crimen sine lege", S. 125 Anm. 64. 27 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 59; Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, S. 392 f.; E.-J. Lampe, Juristische Semantik, S. 25 f.; Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, S. 24 f. 28 So übrigens heute noch Engisch, Einführung in das juristische Denken, S.109. 2D Zum Todesbegriff vgl. die seit der ersten Herztransplantation erfolgte Entwicklung, die zum Abstellen auf den Gehirntod führte; dazu eingehend Geilen, Medizinischer Fortschritt und juristischer Todesbegriff, S. 373 ff. (396 a. E.); Neuhaus, Medizinische Probleme bei der Todeszeitfeststellung nach erfolgloser Reanimation, S. 397 ff.; Lüttger, JR 1971, S. 309 ff. Zum Rechtsbegriff des "Beischlafs" siehe BGH St 16, 175 (gegen BGH NJW 1959, S. 1091) zu § 173 I StGB. so Siehe bereits oben, a), Anm. 30.

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geln der juristischen Hermeneutik" fordert, deren "klassische Darstellung" sich in Savignys "System" finde31 . Forsthoff gelangt dabei zu der folgenden erstaunlichen These: "Die Jurisprudenz vernichtet sich selbst, wenn sie nicht unbedingt daran festhält, daß die Gesetzesauslegung die Ermittlung der richtigen Subsumtion im Sinne des syllogistischen Schlusses ist"32. Dieses Postulat einer "strikten Technizität der Rechtsprechung"33 läßt sich nur in seiner politischen Bedingtheit richtig bewerten; denn während Forsthoff die richterliche Gesetzesauslegung dergestalt in Fesseln legen will, soll die vollziehende Gewalt bei der Gesetzesinterpretation freier sein34 • Hier verbindet sich also eine verwaltungsfreundliche Tradition mit Mißtrauen gegen die Richtermacht3 5 • Mit seiner Kritik an der Wertungsjurisprudenz steht Forsthoff im wesentlichen allein, aber sein Richterbild findet sich ähnlich auch bei anderen Autoren. So postuliert Class38 für das Strafrecht, das Gesetz müsse in dem Sinne alleinige Rechtsquelle sein, daß bei der Bestrafung "die Konkretisierung jeder Fallentscheidung" unter Ausschluß eines rechtsschöpferischen Anteils des Richters bei der Obersatzbildung "vom Gesetz selbst determiniert" sei und zwar in dem Sinne determiniert, daß die "Kongruenz des Sachverhalts mit den Begriffsmerkmalen des Gesetzes im logischen Schlußverfahren" dargelegt werde. Die strafbegründende Gesetzesanwendung dürfe "nur auf logische Deduktion gegründet werden". Sieht man von diesen extremen Äußerungen ab, die Gesetzesanwendung noch als logisch-deduktives Verfahren zu deuten scheinen, so bleiben immer noch beachtliche Äußerungen im heutigen rechtstheoretischen Schrifttum zu registrieren, die in der Auslegung im wesentlichen einen Akt der Rechtserkenntnis sehen und nicht einen rechtsschöpferischen Akt der Normbildung oder genauer: Der konstitutiven Weiterbildung der angewandten Norm bei ihrer Konkretisierung im Hinblick auf die Fallentscheidung. (b) Die Deutung der Gesetzesauslegung als Erkenntnisakt findet sich in erster Linie bei Vertretern der "subjektiven" Auslegungstheorie, nach der Auslegungsziel der Wille des historischen Gesetzgebers ist3 7 • 31 Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 34, 39 f. 32 Siehe näher oben, a), Anm. 30. 33 So die zutreffende Charakterisierung bei Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 27 (a. E.). 34 Vgl. Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 83 ff. 35 Vgl. näher Kriele aaO, S. 27 ff. 36 Generalklauseln im Strafrecht, S. 137 (Hervorhebungen vom Verf.). 37 Zur "subjektiven Theorie" vgl. bereits oben, Kapitell, § 3 11 2 a.

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Unter diesem "Willen des Gesetzgebers" verstehen nämlich die einen dessen Gebotsvorstellungen (Inhaltsvorstellungen)38: Hier ist insbesondere Naucke zu nennen. Nach seiner Auffassung hat die Auslegung im Anwendungsbereich des Art. 103 II GG lediglich die Funktion, die Bedeutung zu ermitteln, "die der historische Gesetzgeber den Merkmalen eines Tatbestandes gegeben" habe39 ; diese "historische Auslegung" sei also lediglich Erforschung dessen, "was ein wirklicher Gesetzgeber in den einzelnen Tatbestandsmerkmalen gedacht" habe40 • Auch Coing versteht unter Gesetzesauslegung - die er von der "Fortbildung des Gesetzes" unterscheidet - die Ermittlung der Lösung, die der Gesetzgeber für die fragliche Fallgestaltung wollte 41 • Demgemäß nimmt er eine Regelungslücke im Gesetz bereits an, "wenn eine bestimmte Fallgestaltung und die damit gegebenen Probleme vom Gesetzgeber nicht oder nicht vollständig gesehen worden sind und daher aus dem Gesetz auch mit den Mitteln der Auslegung für die damit aufgeworfenen Probleme keine sachgemäße Lösung zu finden ist"4!. Ein solches Abstellen auf die Inhaltsvorstellungen des Gesetzgebers43 bedeutet zwangsläufig, daß die Gesetzesinterpretation im wesentlichen zu einem Akt historischer Forschung nach empirischen Fakten wird, also zu einem reinen Erkenntnisakt. Andere Anhänger der subjektiven Theorie halten demgegenüber nicht die gesetzgeberischen Inhaltsvorstellungen für maßgeblich, sondern die mit dem auszulegenden Gesetz verfolgten rechtspolitischen Zwecke sowie die der Norm zugrundeliegende Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers44 • Danach wäre Rechtsfindung secundum legern als ("unmittelbare") Anwendung einer Gesetzesnorm die Konkretisierung der gesetzgeberischen Wertung im Hinblick auf den zu entscheidenden Fall 38 Hier wirkt die Orientierung am empirischen Willen des historischen Gesetzgebers in der "psychologischen Rechtstheorie" Bierlings nach (zu dieser näher Larenz, Methodenlehre, S. 42 f.). 8D Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 189; weiter JZ 1967, S. 371 (vgl. aber auch die - resignierende - Stellungnahme Nauckes, in: Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht). 40 Zur Lehre vom strafbaren Betrug aaO, S. 214; siehe weiter S. 202. 41 Juristische Methodenlehre, S. 36, 49, 52. 42 aaO, S. 52. 43 Auch in der strafrechtlichen Rechtsprechung finden sich vereinzelt dahingehende Äußerungen. Vgl. etwa OGH St 3, 44 ff., 47 f. Vgl. weiter BGH St 2, 99, 103 f.: Es könne "zweifelhaft sein, ob reine 1nhaltsvorstellungen die Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung für alle Zeiten zu binden vermögen". 44 So insbes. EnnecceruslNipperdey, § 54 (S. 324 ff.); H. Mayer, AT (1953), S. 84; AT (1967), S. 36; Roth-Stielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, S. 57 ff.; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 181 f.; vgl. weiter Engisch, Methoden der Strafrechtswissenschaft, S. 50.

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durch den Richter. Eine solche Wertverwirklichung läßt sich meine - nicht mehr als reiner Erkenntnisakt deuten.

wie ich

Doch finden sich Stimmen, die dies anders zu sehen scheinen: Nach Roth-Stielow ist Auslegung lediglich "Nachschau des Bildes, das sich der Gesetzgeber von der sozialen und ethischen Struktur der Erscheinungen des Rechtslebens seiner Zeit gemacht hat, und Erkenntnis der wertbetonten Zweckvorstellungen, nach denen er diese Erscheinungen hat ordnen wollen"45. Wei ter ist hier Säcker zu nennen, der geltend macht: "Vom Standpunkt moderner Kommunikationstheorie geben die Normen, die die in der raum-zeitlich abgegrenzten Wirklichkeit vorkommenden Sachverhaltstypen regeln sollen, nicht mehr an Informationen her, als in sie vom Gesetzgeber hineingedacht ist.

Auslegung im strikten kommunikationstheoretischen Sinne gestattet nur tautologische Umformung zwecks Klarstellung des vorgegebenen Norminhalts48• " Säckers Anliegen hierbei ist es offensichtlich, dem "Etikettenschwindel" vorzubeugen, den er annimmt, wenn unter der Bezeichnung "Auslegung" subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen des Richters zu einer Erweiterung oder Verengung "des durch die gesetzgeberische Wertentscheidung tatbestandlich erfaßten und typisierten Erfahrungsbereichs" führen 47. Besonders hervorzuheben ist auch noch Engisch 48 mit seiner These, die richterliche "Bewertung", die normative ("wertausfüllungsbedürftige") Rechtsbegriffe forderten, sei "eine Sache der Erkenntnis". (c) Autoren, die Gesetzesauslegung als Erkenntnisakt deuten, gibt es aber nicht nur unter den Anhängern der "subjektiven Theorie". Vielmehr wird auch von anderen Rechtstheoretikern im Sinne der klassischen Gewaltenteilungslehre an der Vorstellung festgehalten, zwischen der Normsetzung durch die Legislative und der Normanwendung durch die dritte Gewalt sei wie folgt strikt zu differenzieren: Die erste Gewalt setze die Norm; die Rechtsprechung aber ermittle bei der Rechtsfindung secundum legern durch Auslegung Sinn und Bedeutungsumfang der Norm und wende sie anschließend an. Diese Rechtsfindung sei kein rechtsschöpferischer Beitrag des Richters zur rechtspolitischen Gestaltung der Sozialordnung in arbeitsteiligem Zusammenwirken mit dem Gesetzgeber, sei keine Festsetzung: "ius esto!", sondern nur die Feststellung: "ius est"4'. 45 Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, S. 58 (Hervorhebungen vom Verf.). 48 ARSP 1972, S. 218 (a. E.). 47 Vgl. Säcker aaO, S. 215 ff., 219 Anm. 15. 48 Einführung in das juristische Denken, S. 125 (a. E.), 127.

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Einige anschauliche Zitate sollen dieses belegen: Flume50 meint, die rechtspolitische "Gestaltung der Sozialordnung" gehöre in die "ausschließliche Zuständigkeit des parlamentarischen Gesetzgebers". Der "Jurist als solcher" und damit auch der Richter habe kein Mandat zur Entscheidung über "Sachziele"; seine Aufgabe sei es, festzustellen: ius est. Die Rechtsprechung sei daher "im politischen Sinne in der Tat ein pouvoir en quelque facon nulle". H. J. HiTsch - der an die Rechtsprechung die Forderung "Zurück zum Gesetz!" stellt61 - geht davon aus, die Interpretation auch nach der objektiven Auslegungstheorie sei nur "Ermittlung dessen, was nach dem bestehenden Recht Rechtens" seis2, und habe keine rechtsschöpferische Funktion. Besonders hervorzuheben ist hier seine These: "Wenn eine staatliche Ordnung die Funktionsteilung nach dem Gewaltenteilungsprinzip vorsieht, wie das glücklicherweise bei uns der Fall ist, so bedeutet die Iminspruchnahme rechtsschöpferischer Tätigkeit durch die Rechtspflege, daß sie Aufgaben der Legislative an sich reißt und damit bezüglich der Rechtsetzung die Teilung beider Gewalten verwischt5S." WaTda - einer der entschiedensten Gegner der Vorstellung eines Tatbestandsermessens im Strafrecht54 - macht geltend, der Richter habe den "Inhalt der Norm, nach der er seine Entscheidungen zu richten hat", durch Auslegung zu "ermitteln", nicht durch einen "eigenen Willensakt" praktisch selbst zu bestimmen; alles andere sei ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung55. Bei der Auslegung gehe es um die Ermittlung des "einen richtigen Ergebnisses"58 als der vom Gesetz geforderten Lösung. Mit diesem Gesichtspunkt, daß Auslegung auf Ermittlung des Gesetzessinnes mit der Maßgabe gerichtet sei, daß sie die Feststellung der "einen richtigen, vom Gesetz geforderten Lösung" anstrebe, haben wir nun den eigentlichen Kern der Vorstellung von Gesetzesauslegung als Erkenntnisakt angesprochen. Denn das ist ihre entscheidende Aussage: Die Auslegung hat den als schon feststehend gedachten Inhalt und Bedeutungsumfang der Norm zu ermitteln, wobei die vom Interpreten vorgenommene Auslegung zutreffend oder unzutreffend ("richtig" oder 4D Siehe Flume, Richter und Recht, K 26. 50 aaO, K 11, 12, 18, 25 f. (im Anschluß an Windscheid). 51 JR 1966, S. 342 (a. E.). 6! aaO, S. 338 (r. Sp.). 53 aaO, S. 339. 54 Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, S. 27 ff., 45, 81 mit eingehenden Nachweisen pro und contra. Wie WaTda jetzt auch u. a. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 94; Lemmel, Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen im Besonderen Teil des Strafrechts, S. 49 f. (m. w. N.); W. FTisch, NJW 1973, S. 1345 ff. Zum Problem des Tatbestandsermessens vgl. auch unten, Kapitel 3, § 2 II 3 b (2). 55 WaTda aaO, S. 41. 58 aaO, S. 31 ff. Dies soll nach WaTda auch bei normativen Rechtsbegriffen und Generalklausein der Fall sein (S. 32 f., 35, 37).

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 2

"falsch") sein kann - es soll eben nur "die eine richtige Auslegung" geben57 • Dies Auslegungsbild auch bei Autoren zu finden, die das Interpretationsziel in der Ermittlung des "heutigen objektiven Normsinnes" sehen ("objektive Theorie"), überrascht, und zwar aufgrund folgender überlegung: Wer die Auslegung nicht auf den "Willen des historischen Gesetzgebers" fixiert, sondern annimmt, die Bedürfnisse der Gegenwart könnten zu einem Bedeutungswandel der Norm "entsprechend der Bewegung und Wandlung in der Zeit" führen, ohne daß sich der Gesetzestext verändert hat, ist mit der Frage zu konfrontieren: Wie soll man sich das eigentlich vorstellen, einen Bedeutungswandel der Norm, den der Richter im wesentlichen nur noch erkennend nachvollzieht? Ist es nicht vielleicht die Rechtsprechung, die diesen Wandel initiiert58 ? Doch soll dem an dieser Stelle noch nicht nachgegangen werden; wir werden auf diese Fragestellung zurückkommen. (3) Zusammenfassung Faßt man zusammen, was wir bis hierher an Stellungnahmen zur Frage nach dem rechtsschöpferischen Charakter der Gesetzesinterpretation zusammengetragen haben, so ergibt sich folgendes Bild: Eine verbreitete Auffassung wertet die Auslegung als Erkenntnisakt, gerichtet auf Ermittlung des als schon festsehend gedachten Inhalts und Bedeutungsumfangs der anzuwendenden Norm. Sie sieht die Interpretation nicht als normbildenden Anteil des Richters an der Gewinnung seines Entscheidungsobersatzes, deutet diesen also nicht als Produkt arbeitsteiliger Normsetzung durch Gesetzgebung und Rechtsprechung. 11. Rechtsfindung praeter legem

Dies Auslegungsbild führt zu der Vorstellung, daß Rechtsfindung secundum legern - als "unmittelbare Anwendung" einer dem Richter schon vorgegebenen Norm - und Rechtsfindung praeter legern - als 57 An dieser Vorstellung halten neben Warda noch u. a. fest: Engisch aaO; Larenz, Methodenlehre, S. 300 - 302; Lemmel aaO, S. 50; Sarstedt, NJW 1964, S. 1757; Frisch aaO; Engisch, Kar! Peters und der Ermessensbegriff, S. 16 -19,

36 ff. (39). Zu den Kritikern dieser Meinung vgl. unten, Kapitel 3, § 2 II Anm. 34. 58 Vgl. hier nur Schwerdtner, Rechtstheorie 1971, S. 74: "Wie die Gesetze ihren Sinn ändern können, ist ein Rätsel. Der Richter vollzieht diesen Wandel nicht mit, sondern initiiert ihn." Weiter A. Arndt, NJW 1963, 1279: "Sich mittels der Fiktion, das Gesetz besitze einen objektivierten Willen, einzureden, im Gesetz sei bereits alles vorgedacht gewesen, was Rechtsleben und Rechtsprechung ... daraus entwickeln, ist als pseudojuristische Quacksalberei zu bezeichnen."

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gesetzes ergänzende Lückenfüllung - qualitativ divergierende Stufen des rechtsschöpferischen Anteils des Richters bei der Gewinnung seines Entscheidungsobersatzes sind: Erst bei der praeter legern erfolgenden Rechtsfindung bedarf es eines normbildenden Anteils des Richters bei der Lösung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage, eben einer "Ergänzung der unvollständigen gesetzlichen Regelung". § 2. Zur Unterscheidung zwischen Rechtsfindung secundum legem und Rechtsfortbildung I. Darlegung dieser Differenzierung

Der Deutung der Gesetzesauslegung als Erkenntnisakt entspricht die immer noch vertretene Differenzierung zwischen Interpretation einerseits und Rechtsfortbildung andererseits 1 • Mit dieser Unterscheidung hat es folgende Bewandtnis: Allgemein zugegeben wird heute, daß ungeachtet des Verfassungsprinzips der Gewaltenteilung zu den Funktionen der Rechtsprechung auch die Rechtsfortbildung zählt, also die Weiterentwicklung des geltenden Rechts durch Richterspruch; diese Aufgabe der dritten Gewalt ist auch vom Gesetzgeber in §§ 137 GVG, 45 II 2 ArbGG, 11 IV VwGO, 11 IV FGO, 43 SGG2 anerkannt worden. Dabei geht man aber vielfach von der Vorstellung aus, rechtsfortbildender Natur seien grundsätzlich erst die gesetzesergänzende Lückenfüllung und - soweit sie statthaft ist - die Gesetzeskorrektur. 1 So u. a. Coing, Juristische Methodenlehre, S. 36, 49, 52; Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, S. 14; Stern, NJW 1958, S. 1435; Schack, JuS 1961, S. 269; vgl. weiter GöLdner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 67 ff., 83; Wieacker, Gesetz und Richterkunst, S. 6 (a. E.); H. Arndt, Richterliche Rechtsfortbildung im Disziplinarrecht, S. 12. Ebenso Enneccerus/Nipperdey, § 54 II 1 d (S. 328 [a. E.], Anm. 16); doch wird ihre Ansicht dadurch erheblich eingeschränkt, daß sie bei "unbestimmten Rechtsbegriffen" sowie "Generalklauseln" von Lücken intra legern sprechen und deren Schließung als Rechtsfortbildung bezeichnen (§ 58 - S. 336 ff., insbes. Anm. 5). Zu den Gegenstimmen vgl. unten, KapiteZ 3, zu der vermittelnden Lehre von Larenz unten im Text II. 2 § 137 GVG war das Vorbild der weiteren genannten Normen; jene Bestimmung geht zurück auf das Gesetz vom 28. 6. 1935 (RGBl. I, 844). Zu diesem Gesetz vgl. RG St 72, 91, 93 (GS): "Wie sich hieraus (§ 137 GVG) ergibt, ist eine der Aufgaben der Großen Senate, das Recht fortzubilden. Hiermit ist den Großen Senaten gegenüber den bestehenden Gesetzes kein größeres Maß von Freiheit aZs anderen Ger'ichten gegeben worden" (Hervorhebung vom Verf.).

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 2

Diesen Standpunkt beschreibt LarenzS mit den folgenden Worten: "Die Interpretation einer Norm, so meint man, stelle nur klar, was diese Norm nach dem ihr innewohnenden Sinn, unabhängig von der Tätigkeit des Auslegers, besagt. Sie füge der Norm nichts hinzu, noch ändere sie etwas an ihrem feststehenden Inhalt; sie lasse die Norm also so, wie sie bereits vorher gegolten hat. Dagegen bedeute die ,Fortbildung' des geltenden Rechts durch die Gerichte schon dem Wortsinn nach eine Veränderung. In das Ganze der bis dahin in Geltung stehenden Rechtssätze wird ein neuer Rechtssatz eingeführt, durch den eine bis dahin bestehende ,Lücke' geschlossen wird. Einerlei, ob dadurch die bestehende Regelung ergänzt ... oder ob eine Norm ... durch Hinzufügung einer im Gesetz nicht vorgesehenen Ausnahme eingeschränkt wird, immer wird dadurch das bestehende Ganze der Rechtssätze inhaltlich verändert." 11. Zur vermittelnden Ansicht von Larenz

1. Larenz selbst hält terminologisch noch an der Differenzierung zwischen Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung fest, räumt aber ein, zwischen beiden bestehe nur ein "gradueller Unterschied", und kommt zu der Feststellung, Auslegung sei der Sache nach häufig bereits Fortbildung des Rechts!:

Die Auslegung eines Rechtssatzes durch die Gerichte lasse ihn "nicht einfach so bestehen, wie er vorher bereits (faktisch, d. h. als angewandter Satz) galt". Der Interpret wolle zwar - und diese Absicht mache "eben die typische Haltung des nur Interpretierenden aus" - lediglich die Bedeutung auffinden, die "bereits vorher als die allein zutreffende im Text beschlossen" liege; aber solange diese von der Rechtsprechung noch nicht erkannt sei, sei sie für die Rechtspraxis noch nicht in der Welt2 • 2. Mit diesen Feststellungen steht Larenz auf der Schwelle zwischen der "altehrwürdigen" Deutung der Gesetzesauslegung als Erkenntnisakt und den seit Bülow 3 nicht mehr verstummenden und nach Essers bahnbrechendem Werk "Grundsatz und Norm" (1956)4 immer stärker die rechtstheoretische Diskussion beherrschenden Stimmen, die der Interpretation einen rechtsfortbildenden - oder genauer: normvollendenden - Cararkter zusprechen5 • 3 über das Verhältnis von Interpretation und richterlicher Rechtsfortbildung, S. 384. 1 aaO, S. 385 ff., 392; ebenso NJW 1965, S. 1; JuS 1971, S. 453; Methodenlehre, S. 350 f. 2 Methodenlehre, S. 350 f. 3 Zu ihm oben, § 1 12 a (5) (a). , Der Titel heißt ungekürzt: "Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Zivilrechts." 5 Vgl. hier nur Bülow aaO; Schwerdtner aaO, S. 79. Eingehend unten, Kapitel 3.

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Abschn.: Problemstellung - Kap. 2

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Dies letztgenannte Auslegungsbild kann man vereinfachend auf die Formel bringen: Richterliche Gesetzesinterpretation ist grundsätzlich immer auch Rechtsfortbildung, Weiterbildung und damit der Sache nach Ergänzung (Vervollständigung) des anzuwendenden Gesetzes. Daß eine solche Deutung der Normauslegung die herkömmliche Unterscheidung zwischen Rechtsfindung secundum legem als schlichter Normanwendung und Rechtsfindung praeter legem als Normergänzung tangiert, liegt auf der Hand. Daher wollen wir uns jetzt diesem Auslegungsbild zuwenden.

Kapitel 3

Zur Deutung der Gesetzesauslegung als normbildendem (norm vollendendem) Akt Was mit dieser Deutung der Gesetzesanwendung gemeint ist, findet sich bereits bei Bülow in seiner berühmten Schrift "Gesetz und Richteramt" (1885) so anschaulich niedergelegt, daß wir erneut! auf ihn zurückkommen wollen: Bülow schreibt!, das Gesetz als nur "abstraktes Rechtsgebot" könne lediglich der "Entwurf zur Bewirkung einer rechtlichen Ordnung" sein; demgegenüber falle der Rechtsprechung die Aufgabe zu, die an das "wirkliche Rechtsleben" nicht heranreichende abstrakte Gesetzesnorm im Hinblick auf die Bedürfnisse des konkreten Falles "zu Ende zu denken": Im Gesetz komme "der rechtsordnende Wille der Staatsgewalt noch nicht zum Abschluß"; "vollendet trete er erst in opn richterlichen Rechtssprüchen heraus". Danach gilt bereits für den Bereich der "Anwendung" gesetzlicher Regelungen: "Nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt schafft dem Volk sein RechtS." Diese rechtstheoretische Konzeption vom normvollendenden Charakter der Auslegung (Schwerdtner)4 soll im folgenden näher dargelegt werden. § 1. Die Konkretisierung von Generalklauseln als

normbildender (normvollendender) Akt Die These von der normvollendenden Natur der Gesetzesanwendung läßt sich am leichtesten am Beispiel der Generalklauseln 5 verdeutlichen.

Siehe schon oben, Kapitel 2, § 1 12 a (5). Vgl. insbesondere S. 3 f., 7, 42 - 48. 3 Billow aaO, S. 48. 4 Rechtstheorie 1971, S. 79. 5 Eingehende Schrifttumsnachweise zur Problematik der Generalklauseln bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, Anm. 140 (S. 247 f.). Speziell zum Strafrecht vgl. u. a. Cl ass, Generalklauseln im Strafrecht, und jetzt Naucke, über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht (1973). 1

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

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I. Zum Begriff der Generalklausei

Obwohl man häufig die Bezeichnung "Generalklausel" für besonders unbestimmte normative Rechtsbegriffe verwendet findet, kommt jener doch eine eigene Bedeutung zu. Man versteht "Generalklausel" nämlich als "Gegenbegriff einer kasuistischen Tatbestandsbildung"6:

Kasuistisch gefaßte Regelungen sind z. B. im Berei.ch des Strafverfahrensrechts § 140 I Nr. 1 - 8 StPO, im Bereich des materiellen Strafrechts u. a. §§ 315 I Nr. 1 - 3, 315 b I Nr. 1 - 2 StGB; diese Bestimmungen sind jeweils durch eine Generalklausel ergänzt, nämlich § 140 11 StPO, §§ 315 I Nr. 4, 315 b I Nr. 3 StGB. Klassische Generalklauseln sind u. a. im Zivilrecht §§ 826, 242 BGB, im Bereich des öffentlichen Rechts insbesondere § 40 I Verwaltungsgerichtsordnung 7 sowie die polizeirechtliche Generalklausel8 ; im Strafrecht war insbesondere § 360 I Nr. 11 StGB (Grober Unfug) zu nennenD. Daß dabei die Unterscheidung zwischen kasuistischer Tatbestandsfassung und Generalklausel nur idealtypisierend erfolgen kann und die übergänge fließend sind, verdeutlicht Engisch am Beispiel des § 224 StGB: Gegenüber der Aufzählung: "Verlust des Sehvermögens auf einem oder beiden Augen, des Gehörs, der Sprache oder der Zeugungsfähigkeit" erscheine die Tatbestandsalternative "Verlust eines wichtigen Gliedes des Körpers" fast wie eine Generalklausepo. Ungeachtet dieser Relativität unserer Differenzierung zwischen Generalklausel und kasuistischer Tatbestandsbildung ist diese Unterscheidung doch für das Verhältnis Gesetzgebung / Rechtsprechung bei der Normbildung bedeutsam. Denn jedenfalls bei Generalklauseln ist heute weitgehend anerkannt, daß für ihre Anwendung mehr als nur eine erkennende Interpretation erforderlich ist, daß vielmehr die Konkretisierung von Generalklauseln rechtssetzenden Charakter trägt: 11. Die Generalklausel als gesetzliche Ermächtigung zur Bildung richterlichen Fallrechts

Bei Hedemann findet sich in seiner berühmten Schrift "Die Flucht in die Generalklauseln" (1933) die plakative Charakterisierung der Gene6 So besonders Engisch aaO, S. 118 ff.; Fritz Werner, Zum Verhältnis von gesetzlichen Generalklauseln und Richterrecht, S. 197 (a. E.); ähnlich J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 65. 7 VwGO. 8 Vgl. § 14 des Preuß. PVG und die heute geltenden Landesgesetze (z. B. für Nordrhein-Westfalen §§ 15, 20 Polizeigesetz i. d. F. der Bekanntmachung vom 28. 10. 1969, GV NW S. 740). D § 360 I Nr. 11 StGB ist seit dem 1. 1. 1975 aufgehoben; vgl. jetzt §§ 117 - 119 OWiG. 10 Engisch aaO, S. 120.

6 Krey

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ralklausel als "ein Stück offen gelassener Gesetzgebung"1. Diese Charakterisierung führt zur Deutung der Generalklausel als Delegierung von Normbildungsaufgaben an die Rechtsprechung; hierzu lesen wir bei

Engisch:

Weil der Gesetzgeber nicht alle Rechtsprobleme vorausbedenken könne, bedürfe er "der Hilfe des Richters". Dieser müsse "dasjenige denkend erfassen, was der Gesetzgeber von der Höhe seiner Abstraktion aus nicht in den Blick" bekomme. "Teilweise" sei sich der Gesetzgeber "seiner Unzulänglichkeit bewußt" und trete die Entscheidung, die er selbst treffen könnte und sollte, dem Richter in Gestalt einer ... Generalklausel ab 2 • Dies Bild der Generalklausel als "Rechtssetzungsermächtigung"3 wollen wir nun etwas genauer betrachten: 1. Gründe für die Verwendung von Generalklauseln bei der Gesetzgebung

Es sind die verschiedensten Gründe, die den Gesetzgeber dazu bewegen können, statt eine kasuistische Regelung zu setzen, eine Generalklausel zu verwenden. a) Beginnen wir mit dem ärgerlichsten, für den Hedemanns kritisches Wort von der "Flucht in die Generalklauseln"4 zutrifft, nämlich dem Ausweichen vor einer politischen Grundsatzentscheidung, dem Rückgriff auf die Generalklausel als Kompromiß im Gesetzgebungsakt. Dazu schreibt Bosch 5 : 1

S.58.

Die Idee der Konkretisierung, S. 183. In diesem Sinne äußern sich u. a.: Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 69: Die Generalklausel sei "Ermächtigung zur Bildung richterlichen Fallrechts" . Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, S. 7: GeneralklauseIn sind "nicht nur ein Stück offengelassener Rechtsprechung im Sinne Hedemanns. Sie sind zugleich die Ermächtigung an den Richter zur eigenen Normbildung. Sie erlauben und verlangen eine Entscheidung auf eine vom Gesetzgeber gestellte, aber nicht beantwortete Frage". (Ebenso Kruse, Steuerrecht, S. 83 f.) Less, Vom Wesen und Wert des Richterrechts, S. 25 f.: Die "Ausfüllung" von Generalklauseln sei Ausübung "einer Art delegierter Gesetzgebungsgewalt". Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 52 - 55, 267 f.; 460: Generalklauseln seien "Ermächtigungsnormen" zur Bildung von Richterrecht. Vgl. weiter Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, S. 45 ff.; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 63 ff., 121; Herbert Heinrich, Rechtsfortbildung durch die Revisionssenate des BVerwG außerhalb des Beamtenrechts, 2

3

S.43.

Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 56, spricht von den Generalklausein als "Blankettnormen". 4 Siehe oben im Text. Vgl. zum folgenden jetzt auch Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung im Zivilrecht, S. 21. 5 FamRZ 1966, S. 62. Siehe jetzt auch Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, S. 13.

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"Der heutige Gesetzgeber - ein Spiegelbild der pluralistischen Gesellschaft - vermeidet ... in der Regel grundsätzliche Entscheidungen, richtet sein Werk lieber rein pragmatisch aus oder offeriert uns "offene Tatbestände". Dort, wo im Zusammenhang mit regelungsbedürftigen Rechtsfragen politische Gegensätze hart aufeinanderstoßen, wo man in den gesetzgebenden Körperschaften, in den Parteien oder im Volk von einer einheitlichen oder doch deutlich dominierenden politischen Wertung weit entfernt ist, weicht man oft einer klaren gesetzlichen Regelung, die es gegen alle Widerstände durchzukämpfen gälte, aus - sei es durch Verzicht auf gesetzliche Regelung, wofür das Arbeitskampfrecht ein trauriges Beispiel bildet; sei es durch Verwendung von Generalklauseln (oder, was weitgehend auf dasselbe hinausläuft, von Normen mit sehr unbestimmten normativen Rechtsbegriffen) - . Im ersteren Fall wird .die erforderliche Regelung offen, im zweiten "verdeckt" ganz bzw. weitgehend der Rechtsprechung übertragen, die ihr dann im Wege der Bildung richterlichen Fallrechts nachzukommen sucht. Für eine solche Flucht in die Generalklausel als Flucht vor der politischen Verantwortlichkeit ist kennzeichnend, daß die gesetzliche "Normierung" sich im wesentlichen in der Verweisung auf die "Zumutbarkeit" , "Billigkeit", "Verwerflichkeit", "Unsittlichkeit" u. ä. erschöpft. Solche "Regelungen" sind nämlich im politischen Bereich konsensfähig, weil sie selbst wenig oder nichts entscheiden, sondern die Entscheidung auf den Richter delegieren. Beispiele für solches Ausweichen in die Generalklausel gibt es genug. Hier seien u. a. genannt: Im Bereich des Strafrechts das Festhalten an einer § 226 a StGB entsprechenden Regelung im E 1962 (§ 152)8; (die Ersetzung der Formulierung "Verstoß gegen die guten Sitten" (§ 226 a StGB) durch "Verwerflichkeit" ist dabei ein lediglich "kosmetischer" Eingriff ohne sachliche Relevanz7). Im Familienrecht, für das nach dem Urteil von Bosch8 heute generalklauselartige Regelungen charakteristisch sind, kann man etwa auf §§ 1381, 1383 BGB verweisen. 8 § 152 E 1962 lautet: "Willigt der Verletzte in die Körperverletzung ein, so ist die Tat nur dann rechtswidrig, wenn sie nach den Umständen, namentlich im Hinblick auf die Beweggründe und die Ziele des Täters und des Verletzten sowie die angewandten Mittel und den voraussehbaren Umfang der Verletzung, trotz der Einwilligung verwerflich ist." Die "Verdeutlichung" der Verwerflichkeitsklausel durch den ab "namentlich" beginnenden Teil des § 152 (dazu näher die amtliche Begründung) vermag am Charakter dieser Regelung als vager Generalklausei nichts zu ändern. 7 Das räumt die Begründung zu § 152 ein. 8 aaO. Bosch zählt das Familienrecht daher zu den "unterentwickelten Gebieten der Rechtsordnung" (aaO). 6·

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b) Als weiteren Grund für das Absehen von kasuistischer Regelung und die Flucht in die Generalklausel benennt CZass das Ausweichen vor der Entscheidung von Streitfragen, die zwar regelungsbedürftig sind, aber als in der Rechtswissenschaft noch nicht hinreichend geklärt erscheinen9 • Ein Beispiel hierfür soll nach ctass § 226 a StGB, eingefügt durch Gesetz v. 26. 5. 1933 (RGBI I, 295), bilden. Weiterhin ließen sich aus dem StGBlo die Vorschriften über Täterschaft (§ 25)11 sowie über "Begehen durch Unterlassen" (§ 13) anführen. Bei den bisher angeführten Gründen mag man noch von einer "Flucht des Gesetzgebers in die Generalklausel" sprechen können. Häufig erscheint jedoch die Wahl einer Generalklausel statt einer kasuistischen Regelung als sachgerecht; das gilt insbesondere für die folgenden Gründe für die Verwendung generalklauselartiger Vorschriften: c) Der Gesetzgeber will Rechtsgüter wie die "öffentliche Ordnung" (im Sinne der polizeirechtlichen Generalklausel) oder den sozialen Achtungsanspruch des Bürgers (§ 185 StGB) schützen. Hier muß das Gesetz - wie Roxin treffend hervorhebt - auf Generalklauseln zurückgreifen; Roxin führt dazu aus 12 : "Die in der Bevölkerung herrschenden Vorstellungen über das, was unerläßliche Voraussetzung gedeihlichen mitmenschlichen Zusammenlebens ist und damit die öffentliche Ordnung ausmacht - oder die Auffassung darüber, welche Verhaltensweisen den sozialen Achtungsanspruch des einzelnen antasten, also beleidigend sind -, verändern sich fortlaufend und weisen auch vielfältige örtliche Verschiedenheiten auf ... Da der Gesetzgeber sich hier dem Fluß der Allgemeinauffassung anpassen will, wäre ein inhaltlich festgelegter ... Begriff unbrauchbar." Nur die generalklauselartige Regelung bietet in solchen Fällen "die Möglichkeit, der Dynamik der sozialen Wertungen gerecht zu werden"13: Das Gesetz gibt der Rechtsprechung ein Blankett, das sie entsprechend den sozialen Wandlungen mit wechselndem Inhalt füllen kann. Charakteristisch für Fälle wie die genannten ist, daß die zu schützenden Rechtsgüter nicht mehr im wesentlichen fest umrissen sind, wie dies bei "klassischen Rechtsgütern" wie Leben, Gesundheit, Freiheit, den Aufenthaltsort zu verändern, u. ä. der Fall ist, sondern durch einen "fließenden Inhalt" entsprechend dem Wandel der sozialen Verhältnisse und Anschauungen gekennzeichnet sind. Generalklauseln im Strafrecht, S. 129. In der ab 1. 1. 1975 geltenden Fassung. 11 Vgl. demgegenüber den detaillierteren Regelungsvorschlag von Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 595. 12 aaO, S. 114. 13 Roxin aaO. 9

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Hierher gehört beispielsweise noch - wie Lenckner 14 zu Recht hervorhebt - der Schutz der Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung vor "sozial inadäquatem Zwang" durch § 240 StGB: Will man ein solches Rechtsgut durch das Strafrecht schützen, so kann man auf ein Korrektiv nach Art der Generalklausel des § 240 II StGB auch dann nicht verzichten, wenn man den Kreis der Nötigungsmittel- wie § 170 E 1962 es vorsieht - einschränktl5 ; und so hält der E 1962 denn auch in § 170 II an derVerwerflichkeitsklausel des § 240 II StGB fest. Denn bei einem derartig gemeinschaftsbezogenen Rechtsgut wie dem vom Nötigungsverbot geschützten folgt aus der Natur der Sache, daß der Bereich des Strafwürdigen nur arbeitsteilig von Gesetzgebung und Rechtsprechung festgelegt werden kann - und zwar von letzterer insbesondere durch Konkretisierung der Verwerflichkeitsklausel im Wege der Bildung richterlichen Fallrechts. Der große Strafsenat des BGHu hat hierzu mit erfreulicher Offenheit bekannt: Im Rahmen des § 240 II StGB falle dem Richter die Aufgabe zu, "an Stelle des Gesetzgebers durch unmittelbare Wertung zu entscheiden, ob die tatbestandsmäßige Nötigung im Einzelfall rechtswidrig ist oder nicht". d) Ein weiterer Grund für die Zunahme generalklauselartiger Tatbestände bildet im Strafrecht noch eine Entwicklung, "die man mit dem Schlagwort von· der ,Ethisierung des Strafrechts' zu kennzeichnen pflegt" 17. Als Beispiele seien hier insbesondere Tatbestände wie §§ 223 b, 315 c StGB erwähnt, deren Unrechtsgehalt im wesentlichen durch Gesinnungsmerkmale wie "böswillig", "roh" oder "rücksichtslos" konstituiert wird. Solche Begriffe sind letztlich Blankette, die den Richter ermächtigen wollen, entsprechend dem Wandel der sozialen Verhältnisse und Wertungen den Bereich des Strafwürdigen festzusetzen. e) Am bedeutsamsten für das Vordringen der Generalklauseln aber ist eine Entwicklung, die man als "Grundströmung" des heutigen Rechtsdenkens bezeichnen kann: Gemeint ist die immer stärkere Hinwendung zu der einen Tendenz der Gerechtigkeit, nämlich zur individualisierenden Gerechtigkeit, d. h. JuS 1968, S. 254. Lenckner aaO, Anm. 49. Vgl. weiter Roxin, JuS 1964, S. 373 ff. Demgegenüber will der AE mit seiner "völlig neuartigen Konzeption des Nötigungstatbestandes" (Begründung zu § 116 AE) auf eine Beibehaltung der Verwerflichkeitsklausel verzichten. 18 BGH St 2, 194, 196. 17 Vgl. näher Lenckner aaO, S. 254 f. (m. w. N.). 14

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zur Billigkeit im Sinne von Einzelfallgerechtigkeit18 , auf Kosten der Rechtssicherheit gewährleistenden anderen, generalisierenden Tendenz der Gerechtigkeit. Dieser "Vormarsch" der Billigkeit, des ius aequum, ist bekannt1 9 ; daher kann sich die Darstellung hier auf eine kurze Skizzierung beschränken: Die Gerechtigkeit, neben der Rechtssicherheit eine der - in Henkels Terminologie - "Grundtendenzen der Rechtsidee"20, hat zwei Gesichter: einmal die generalisierende, zum anderen die individualisierende, was man die "Polarität der Gerechtigkeitsidee" nennt21 • Mit der generalisierenden Tendenz hat es dabei folgende Bewandtnis: Die abstrakt generelle Gesetzesnorm erfaßt eine unbestimmte Vielzahl von Fällen, die der Gesetzgeber "nur in ihrer begrenzten Gleichartigkeit" sehen kann, wobei er von den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles absehen muß22. Demgegenüber zielt die individualisierende Gerechtigkeit ("Billigkeit") darauf, dem jeweiligen Einzelfall gerecht zu werden 23 • Vereinfachend läßt sich nun feststellen, daß kasuistische Regelungen, die relativ bestimmte und zudem stärker deskriptiv als normativ strukturierte Rechtsbegriffe verwenden, zwar mehr Rechtssicherheit verbürgen, aber für besondere Umstände des Einzelfalles weniger offen sind. Dagegen ist die Generalklausel (und ähnlich der sehr unbestimmte normative Rechtsbegriff) ein klassisches Mittel, um dem Richter die Verwirklichung der Einzelfallgerechtigkeit zu ermöglichen. Die Generalklausel wird daher gerade auch im Sinne einer Anweisung an den Richter verwandt, den Besonderheiten des Einzelfalles gerecht zu werden24 • 18 Verf. folgt hier der Terminologie von Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 323 ff., 327; ebenso Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 127 (weitere Nachweise pro und contra bei Henkel aaO). 10 Für das Strafrecht vgl. jetzt die eindrucksvolle Darstellung bei Naucke, über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, insbesondere S. 15. 20 Henkel aaO, S. 300 f., 339 ff. ZI aaO. 22 Henkel aaO, S. 325, unter Hinweis auf Aristoteles (Nikomachische Ethik, V 14); vgl. weiter Radbruch aaO. 23 aaO. u So u. a. Henkel aaO, S. 356 ff. Treffend auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 131: "In verschiedener Art und in verschiedenem Maße ist der Rechtsanwender durch das Billigkeitsrecht, das "ius aequum", das in den ... Generalklauseln steckt, dazu berufen, nicht bloß durch Auslegung und Subsumtion, sondern auch durch "Wertungen" ... das Recht im Einzelfall zu finden." Zum "Drang zur Einzelfallgerechtigkeit" als Grund für die Verwendung von Generalklauseln siehe jetzt auch Diederichsen (oben, Anm. 4), S. 49.

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Dies gilt insbesondere auch für das "Vordringen von Generalklauseln im Strafrecht", das Naucke, Lenckner u. a. Autoren auf das "nicht abwendbare Bestreben nach individueller Gerechtigkeit, nach materialer Bewertung auch der entlegendsten Details einer Straftat zugunsten und zu Lasten des Täters" zurückführen2s • Diese Aufzählung von Gründen für die Wahl generalklauselartiger Normierungen an Stelle detaillierter kasuistischer Regelungen dürfte die These von der Generalklausel als Delegierung von Normbildungsaufgaben an den Richter deutlich gemacht haben.

2. Zur Konkretisierung von Generalklauseln als Normergänzung Im folgenden wollen wir die These vom normbildenden (normvoZZendenden) Charakter der Konkretisierung von Generalklauseln 26 weiter vertiefen: a) Generalklauseln (sowie sehr unbestimmte und normative Rechtsbegriffe) werden von einer zwar nicht herrschenden, aber verbreiteten Ansicht als Regelungslücken bezeichnet, wobei man regelmäßig von "Lücken intra legern" spricht27 ; und demgemäß wird von dieser Lehre

Naucke aaO. Ähnlich Lenckner aaO, S. 255. Zur Terminologie: Von "Konkretisierung" der Generalklauseln bei ihrer Anwendung durch den Richter sprechen u. a.: Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 77, 79; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 29; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 85; Krey, Strafrecht, Besonderer Teil, 1. Bd. S. 108, 115. (Darüber hinaus verwenden viele auch für kasuistische Regelungen den Terminus der "Konkretisierung" der Norm durch ihre Anwendung: So u. a. Engisch aaO; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 312; Weber-Lortsch, Zur Rechtsfortbildung durch die Revisionssenate des BVerwG, S. 56; Zippelius, NJW 1964, S. 1983, 1985; Larenz, NJW 1965, S. 3; ders., JuS 1971, S. 450; Betti, Die Problematik der Auslegung in der Rechtswissenschaft; Küper, Die Richteridee der StPO, S. 6; Göldner aaO; Fr. Müller, Juristische Methodik, S. 13, 53, 63, 73, 97, 108 und durchgehend; Bringewat, Funktionales Denken ... , S. 21 f.). Kritisch aber Kruse, Steuerrecht: Dieser Terminus verwische den tatsächlichen Befund, nämlich die rechtsetzende Bedeutung der Gesetzesanwendung; S. 87. !7 So insbesondere das schweizerische Schrifttum: Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, S. 119 ff.; ders., Grundlagen der Rechtswissenschaft, S. 96 f.; Meier-Hayoz, Lücken intra legern, S. 151 ff. Aus dem deutschen Schrifttum vgl. EnnecceruslNipperdey, § 58 (S. 336 ff.); Kruse, Steuerrecht, S. 96; Noll, JZ 1963, S. 299 (weitere Nachweise bei Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 26 f.). Von "Lücke" schlechthin (nicht "intra legern") sprechen Baumann, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 77, 79; Säcker, ARSP 1972, S. 215. Kritisch aber die h. A.; vgl. u. a. Canaris aaO, S. 28 f., 197, 200 (der aber einräumt, daß Generalklauseln "Wertungslücken" darstellen; in: Systemdenken und Systembegriff, S. 133 f.; dazu weiter Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 267); Engisch aaO, S. 137; ders., Der Begriff der Rechtslücke, 25

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die Ausfüllung von Generalklauseln als Gesetzesergänzung charakterisiert, und zwar als Gesetzesergänzung "intra legem"28, da sie im Rahmen eines gesetzlichen Blanketts erfolge. Dieser Deutung der Generalklauseln und ihrer "Anwendung" kann man in ihrem sachlichen Gehalt nach den vorstehenden Ausführungen schwerlich widersprechen; denn diese zeigten ja, daß Generalklauseln "ein Stück offengelassener Gesetzgebung" und zugleich die gesetzliche Ermächtigung zur Bildung rechtsfortbildenden richterlichen Fallrechts sind. b) Damit ergibt sich der Sache nach eine Parallelität zwischen den sogenannten bewußten Regelungslücken 29 - bei denen der Gesetzgeber wissentlich auf jede Regelung verzichtet hat, um sie der Rechtsprechung zu überlassen - und den Generalklauseln, bei denen die "gesetzliche Regelung" lediglich ein Blankett zur Ausfüllung durch die JudikaJtur darstellt: In beiden Fällen hat der Gesetzgeber die Normierung ganz oder weitgehend dem Richter überlassen, - wobei der Unterschied einmal darin liegt, daß die richterliche "Gesetzesergänzung" bei der Generalklausel im Rahmen eines gesetzlichen Blanketts erfolgt, zum anderen darin, daß bei den Generalklauseln regelmäßig noch eine Art Richtlinien/unktion des Gesetzes anzunehmen ist: Der Gesetzgeber benennt immerhin noch selbst die "Rechtsprinzipien"l10 - z. B. "Treu und Glauben"; "soziale Rechtfertigung" einer Kündigung; "Unsittlichkeit"; "Zumutbarkeit" -, die den Richter bei der gerechten Entscheidung des Einzelfalles leiten sollen. Dies dürfte es rechtfertigen, bei der Ausfüllung von Generalklauseln deren normbildenden Charakter präziser als Normvollendung zu kennzeichnen. S. 88; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 105 f.; Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 282. Ebenso auch Bender, JZ 1957, S. 600. Weitere Nachweise bei Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 28 Anm.49. 28 So u. a. Enneccerus/Nipperdey, Germann und Kruse; ähnlich Baumann und Säcker (vgl. oben Anm. 27). 29 Von "unbewußten Lücken" spricht man, wenn der Gesetzgeber die Unvollständigkeit der von ihm geschaffenen Regelung nicht erkannt hat, was regelmäßig der Fall ist. Der Gesetzgeber kann aber auch bewußt eine Rechtsfrage offen gelassen haben, um ihre Lösung Rechtsprechung (und Lehre) zu überlassen ("bewußte Lücke"); - vgl. Canaris aaO, S. 134 f. (m. w. N.); Engisch, Der Begriff der Rechtslücke, S. 89; Enneccerus/Nipperdey, S. 58 (S. 338); Larenz, Methodenlehre, S. 364. Ein strafrechtliches Beispiel für eine "bewußte Lücke" bildet die bekannte Problematik der Wahlfeststellung (vgl. Canaris aaO und Jescheck, AT S. 115, beide mit Nachweis der Gesetzesmaterialien); grundlegend dazu jetzt H.-L. Günther, Verurteilungen im Strafprozeß trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel, S. 28 und 107. 30 Zu diesen oben, Kapitel 2, § 1 I 2 b (1) (a).

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c) Die dargelegte Parallelität zwischen den bewußten Regelungslükken und Generalklauseln führt uns zu der Frage: Wieweit kann man angesichts dieser Parallelität noch an der herkömmlichen Unterscheidung der Rechtsfindung secundum legern von der gesetzesergänzender Lückenfüllung festhalten? Damit verbindet sich im Hinblick auf das von der h. M. aus Art. 103 II GG - und weitgehend auch aus dem öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalt - hergeleitete Verbot der gesetzesergänzenden Lückenfüllung 31 die weitere Frage: Ist es sachgerecht, dem Richter die Gesetzesergänzung etwa durch Gesetzesanalogie, teleologische Reduktion oder Rechtsanalogie zu verwehren, wenn man ihm die der Sache nach ebenfalls "gesetzesergänzende" Ausfüllung von Generalklauseln grundsätzlich auch im Geltungsbereich des strafrechtlichen (bzw. öffentlichrechtlichen) Gesetzesvorbehalts gestattet? Man könnte gegenüber dieser Fragestellung einwenden, Art. 103 II GG beinhalte ja neben dem "Analogieverbot" auch den Grundsatz der Bestimmtheit der Strafgesetze (und entsprechend fordere ja auch der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts, daß die gesetzliche Eingriffsermächtigung hinreichend präzisiert sei)32; daher seien Generalklauseln im Geltungsbereich des strafrechtlichen (bzw. öffentlichrechtlichen) Gesetzesvorbehalts ausgeschlossen. Indessen darf dabei nicht übersehen werden, daß dieser Grundsatz der Bestimmtheit von Strafgesetzen (bzw. sonstiger Eingriffsnormen) in der Rechtswirklichkeit das Vordringen der Generalklausel nicht verhindert hat 33• Das BVerfG hat trotz ständiger verbaler Bekenntnisse zum Grundsatz der Gesetzesbestimmtheit im Strafrecht34 noch keine strafrechtliche Generalklausel für verfassungswidrig erklärt, sondern selbst die Strafbestimmung über "groben Unfug" (§ 360 Nr. 11 StGB a. F.; dazu oben, I Anm. 9) - geradezu ein Paradebeispiel für eine Generalklausel - als mit Art. 103 II GG vereinbar angesehen 35• Alle Kritik im Schrifttum an generalklauselartigen Strafgesetzen S6 hat hieran nichts ändern können. 31 Vgl. dazu oben, Kapitell, § 2 I 1 (zu Art. 103 II GG) und II 1 (zum öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalt). 32 Zum strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot vgl. oben, Kapitell, § 2 I vor 1), und die unten, Anm. 34 genannten Entscheidungen des BVerfG. Zum Bestimmtheitsgebot für gesetzliche Ermächtigungen zu hoheitlichen Eingriffen vgl. u. a. BVerfG E 8,275,325: Das Rechtsstaatsprinzip fordere, daß Eingriffsnormen "nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt" seien. 33 Dazu eindrucksvoll jetzt Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht. Im Bereich der Eingriffsverwaltung wird selbst die vage polizeirechtliche Generalklausel (oben, I Anm. 8) in ständiger Rechtsprechung für hinreichend bestimmt gehalten. 34 So BVerfG E 11,234; 14,245,251; 25,269,285; 26, 41; 28, 175, 183. 35 BVerfG E 26, 41, mit ablehnender Besprechung von Fr. ehr. Schroeder, JZ 1969, S. 775 ff. Bemerkenswert ist dabei, daß das BVerfG seine Entscheidung maßgeblich

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Die Frage nach der Bedeutung der Feststellung, die Konkretisierung von Generalklauseln sei der Sache nach gesetzes ergänzende Lückenfüllung - wenn auch im Rahmen eines gesetzlichen Blanketts für die herkömmliche Differenzierung zwischen Gesetzesanwendung und Lückenfüllung soll hier noch nicht vertieft werden; die Darstellung wird darauf zurückkommen37 • 3. GeneraZkZauseZn und richterliches FaUrecht

Die in der Ausfüllung von Generalklauseln liegende Normbildung (Normvollendung) wird üblicherweise näher als Bildung richterlichen FaUrechts charakterisiert38 • Diesem Begriff wollen wir uns nun zuwenden: a) Bekanntlich stellt man Rechtsordnungen mit weitgehend kodifiziertem Recht (statute law) solchen gegenüber, deren Recht weitgehend ohne Rückhalt an Kodifikationen von den Richtern gesetzt worden ist (judge-made-law, case-law). Von statute law geprägt - so wird gesagt - , sei das kontinentaleuropäische Recht, der angelsächsische Rechtskreis dagegen vom case law 31 • damit begründet, die Stiafnorm wider den "groben Unfug" sei "durch eine jahrzehntelange gefestigte Rechtsprechung hinreichend präzisiert worden". Danach wäre Bülows These: "Nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt schafft dem Volk sein Recht" (dazu oben, Kapitel 3, vor § 1), auch für die Straftatbestände anerkannt. Kritisch zu dieser Begründung Schroeder aaO, S. 778; Hanack, JZ 1970, S. 44. (Anders als das BVerfG hat der BayVerfGH bereits mit dem Bestimmtheitsgebot für Straftatbestände Ernst gemacht: Eine Strafnorm des bayerischen Gesetzes Nr. 3 vom 16. 10. 1945, die den mit Strafe bedrohte, der "gegen die öffentliche Ordnung verstößt oder gegen die Interessen der alliierten Streitkräfte oder eines ihrer Mitglieder handelt", wurde in beiden Alternativen als zu unbestimmt und daher mit Art. 104 I Bay. Verfassung - einer Art. 103 11 GG entsprechenden Vorschrift - unvereinbar behandelt. Vgl. BayVGH N. F. Bd. 4 [1951] 11, 194 ff., und Bay GVBI 1953, 75 f.). 3e Vgl. insbesondere H. Mayer, Die gesetzliche Bestimmtheit der Tatbestände, in: Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 1, S. 259 ff.; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassun~srechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften; Lenckner, JuS 1968, S. 149 ff., 304 ff.; Schroeder aaO; Woesner, NJW 1963, S. 273 ff. Weitere Nachweise bei Lemmel, Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen im Besonderen Teil des Strafrechts und der Grundsatz nullum crimen sine lege, S. 35 ff. 37 Vgl. unten, § 2 Il 3 c; Kapitel 8, § 1 Ill. 38 So u. a. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 69; vgl. weiter Esser, Grundsatz und Norm, S. 151 f. 39 Vgl. u. a. Radbruch, Der Geist des englischen Rechts; Blumenwitz, Einführung in das Anglo-Amerikanische Recht; Cl. M. Schmitthoff, JZ 1967, S. 1; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 178 - 180 (m. w. N. Anm. 244, S. 276 f.).

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Wir können diese idealtypisierende Gegenüberstellung des kontinentaleuropäischen und des angelsächsischen Rechtssystems hier nicht vertiefen 40 ; ihre Erwähnung war nur deswegen wichtig, weil sie vielen den Blick dafür verstellt, in welchem Umfang auch unsere Rechtsordnung vom "Richterrecht" geprägt ist: Unser Recht läßt sich schon lange nicht mehr im wesentlichen aus den Kodifikationen ablesen; der Jurist, der auf eine Rechtsfrage Antwort sucht, findet sie in der Praxis im Regelfall nur noch in den Kommentaren und Lehrbüchern. Fachzeitschriften und Entscheidungssammlungen, wo er sich über die Rechtsprechung informiert41 • Das berühmte Wort des amerikanischen Juristen Oliver Holmes: "The Prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law"«!, trifft der Sache nach weitgehend auch für unser Recht zu; "law in action" ist, was die Rechtsprechung für Recht hältfll • Diese Erkenntnis ist inzwischen so sehr Allgemeingut der modernen Rechtstheorie geworden, daß es des eingehenderen Nachweises nicht mehr bedarf; nur soviel sei zur Verdeutlichung gesagt: (1) Bekannt ist das "Phänomen des Mwsterprozesses, der heute offenbar zu einer allgemeinen Erscheinungsform unseres modernen Lebens geworden ist"«, was uns zeigt, in welchem Umfang die beteiligten Verkehrs kreise nicht mehr nur vom Gesetzgeber, sondern gerade auch 40 Hier sei insbesondere auf Esser, Grundsatz und Norm (u. a. S. 18, 140 ff., 183 ff., 275 ff.), sowie Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 243 ff., verwiesen, die eine zunehmende Annäherung beider Rechtskreise feststellen. 41 Vgl. nur Rehfeld/Rehbinder, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 124; Esser aaO, S. 151; Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, S. 386; Fritz Werner, Über Tendenzen der Entwicklung von Recht und Gericht in unserer Zeit, S. 153. Vgl. auch Struck, Topische Jurisprudenz, S. 35 (a. E.) f.: "Übrigens ist interessant zu beobachten, daß viele Kommentare ... inhaltlich Rechtsprechungskommentare sind. Mit dieser simplen Feststellung ließe sich die Darstellung und Kritik des üblichen Normverständnisses beginnen." 4! In: Collected Legal Papers, New York 1952, 172 f. (zitiert nach Starck, JZ 1972, S. 611). 43 Siehe dazu etwa: Bockelmann, Einführung in das Recht, S. 123: "Für die Rechtsgenossen gibt es in der Tat kein anderes Recht als das, welches die Gerichte ihnen geben." Rehfeld/Rehbinder aaO: Das Gesetz sei "für die Praxis eben das, was die Rechtsprechung aus ihm zu machen weiß". Vgl. weiter Esser aaO, S. 18 (a; E.) f., 23 f. und durchgehend; Arthur Kaufmann, JuS 1965, S. 7. U Robert Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, S.25.

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von der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Bildung von "Normen" für ihr zukünftiges Verhalten erwarten 45 • Ein Beispiel für einen solchen "Musterprozeß" aus jüngster Zeit bietet im Bereich des Strafrechts die berühmte Entscheidung des BGH vom 9. 12. 1966 zur rauschbedingten absoluten Fahruntüchtigkeit4G : Bis zu dieser Entscheidung hatte das Gericht bei Kraftwagenfahrern absolute Fahruntüchtigkeit erst ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,5 %0 angenommen; dieser Grenzwert wurde nun durch den neuen von 1,3 %0 ersetzt. Und dieser höchstrichterliche Spruch wurde in der Folge von den Strafverfolgungsbehörden und von den Verkehrsteilnehmern in gleicher Weise als Rechtsänderung akzeptiert, wie wenn der Gesetzgeber den neuen Grenzwert festgelegt hätte. Ein weiteres strafrechtliches Beispiel für einen Musterprozeß stellt noch das bekannte "Laepple-Urteil" des BGH vom 8. 8. 1969 dar47 , das u. a. für den Problemkreis "Nötigung durch Straßenblockade bei Demonstrationen" die schlimme Rechtsunsicherheit beseitigte, die durch eine Unzahl voneinander divergierender Urteile unterer Gerichte entstanden war. Was immer man von diesem Urteil halten mag - die vielfache Kritik, die es erfahren hat48 , vermochte daran nichts zu ändern, daß den Leitsätzen dieser Entscheidung zum Problem "Nötigung und Demonstrationsfreiheit" faktisch die Bedeutung der Bildung von rechtlichen Verhaltensnormen zukam. Deren vielfache Mißachtung bei späteren Demonstrationen besagt hiergegen gar nichts - entsprechenden Gesetzesnormen wäre in gleicher Weise die Gefolgschaft versagt worden. (2) Wie sehr man in der Rechtswirklichkeit das geltende Recht als Produkt von Gesetz und richterlichem Fallrecht erkennt, zeigen neben dem "Phänomen des Musterprozesses" auch die folgenden Feststellungen:

Im Rahmen des Amtshaftungsrechts bedeutet das Abweichen des Beamten von einer "gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung" grundsätzlich in gleicher Weise eine schuldhafte Amtspflichtverletzung wie ein "Verstoß gegen den klaren, bestimmten und völlig eindeutigen Gesetzeswortlaut" bei der Amtshandlung49. Fischer aaO. Weiter Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 167: "In bestimmter Hinsicht, in kriminalpolitischen, wirtschafts- und handelsrechtlichen Fragen im Wettbewerbs- und nun auch im Verwaltungsrecht, erwartet die öffentliche Meinung geradezu den Mut zu einer richtungsweisenden Entscheidung durch die Gerichtsbarkeit." Zum Phänomen des Musterprozesses vgl. auch J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 222. 4G BGH St 21, 157. 47 BGH St 23, 46 (zur Straßenbahnblockade in Köln im Jahre 1966). 48 Vgl. u. a. Eilsberger, JuS 1970, S. 164 ff.; Ott, NJW 1969, S. 2023; Kreuzer, NJW 1970, S. 670; vgl. weiter Krey, Strafrecht BT 1. Bd. S. 99 - 102; ders JuS 45

1974, S. 4 2 3 . / 49 Vgl. BGH NJW 1968, S. 2144, 2145; Palandt/Thomas, § 839 Anm. 6 (m. w. N.).

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Ähnlich soll bei der Vertragshaftung des Rechtsanwalts gegenüber seinem Mandanten die Unkenntnis der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung grundsätzlich in gleicher Weise Fahrlässigkeit begründen wie die Unkenntnis klarer gesetzlicher Regelungen 50 • (3) Die Erkenntnis, in welchem Umfang das geltende Recht das Produkt von Präjudizien ist, hat im Strafrecht ihren stärksten Ausdruck in der immer stärker an Boden gewinnenden Lehre gefunden, die für strafbegründende bzw. -schärfende Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine (analoge) Anwendung des für strafbegründende bzw. -schärfende Gesetzesänderungen geltenden Rückwirkungsverbots fordern 51 • Diese Forderung wird, um die richterliche Rechtsfortbildung nicht zu behindern, verbunden mit dem Vorschlag "eines neuen Entscheidungsstils" durch Verwendung einer "Von-nun-an-Klausel": Diese soll ankündigen, daß das Gericht in Zukunft eine schärfere Auslegung der fraglichen Strafrechtsnorm zugrunde legen wird5!. b) Daß insbesondere den Generalklauseln für die Bildung des richterlichen Fallrechts maßgebliche Bedeutung zukommt53, ist bekannt und 50

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PalandtlHeinrichs, § 276 Anm. 4 c ("Rechtsanwalt") m. w. N. So insbesondere Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das

verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafgesetzen, S. 270 ff., 289 ff., 321; eine Anregung hierzu hatte vor Kohlmann bereits Dürig gegeben (MaunzIDürigIHerzog, Art. 103 GG Rdnr. 112 Anm. 2). Ebenso Naucke, NJW 1968, S. 758 ff., 2321 ff.; weiter Hanack, JZ 1970, S. 44 Anm. 38; MüHer-Dietz, Verfassungsbeschwerde und richterliche Tatbestandsauslegung im Strafrecht, S. 47 f., 50; Straßburg, ZStw Bd. 82 (1970), S. 948 ff. Weitere Nachweise bei Lemmel, aaO (oben, Anm. 36), S. 141 ff. Eingehend jetzt H. L. Schreiber, JZ 1973, S. 713. Gross, GA 1971, S. 13 ff., 19, leitet ein solches Rückwirkungsverbot aus dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot (und letztlich aus dem Rechtsstaatsprinzip) ab. Schröder will ein Rückwirkungsverbot für strafbegründende bzw. -schärfende Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung nur ausnahmsweise anerkennen, nämlich dann, "wenn eine völlig konforme Rechtsprechung ihre Entscheidung zu bestimmten Fragen formelhaft festgelegt" habe; als Beispiel nennt er den Wechsel von der 1,5 %0- zur 1,3 %o-Grenze in der Rechtsprechung zur rauschbedingten absoluten Fahruntüchtigkeit (dazu oben im Text); in: SchönkelSchröder, 17. Aufl. 1974, §2 Rdnr. 15, 15a; ebenso jetzt Eser ill. SchönkelSchröder, 18. Auf!. 1976, § 2 Rdnr. 9, 9 a. J. Baumann, AT S. 124 f., vertritt ein solches Rückwirkungsverbot für Fälle, in denen "die Abweichung von der bisherigen Auffassung von einer Bedeutung ist, die ein Eingreifen des Gesetzgebers hätte erwarten lassen". Gegenüber diesen Ansichten lehnen Rechtsprechung und noch h. L. ein Rückwirkungsverbot für Änderungen der strafrechtlichen Rechtsprechung schlechthin ab (Nachweise bei LemmeZ aaO, Schröder aaO, Gross aaO, S. 13; RudoZphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum ... , S. 107 f., Anm. 42); anders jetzt aber LG DüsseZdorf, NJW 1973, 1054. 52 Dazu im Anschluß an MaunzlDilriglHerzog aaO - eingehend KohZmann aaO, S. 28'9 ff., 321. 53 Vgl. näher Esser aaO (oben Anm. 45), S. 187; RehfeZd aaO (oben Anm. 41), S. 111; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 460.

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

bedarf nach unseren Darlegungen zur Deutung der Generalklausel als Ermächtigung zur richterlichen Normbildung (Normvollendung) keiner näheren Erläuterung mehr. Hier genügt abschließend der Hinweis auf ein Wort von Rehfeld54 : "Auch wir haben, heute in Deutschland, judge-made-Iaw. Man schlage einen beliebigen Kommentar zu §§ 138, 157, 242, 826 BGB oder zu § 1 UWG auf, und man hat es vor sich." Diese Funktion der Generalklausel als Anstoß für die Bildung von in Präjudizien enthaltenem "Richterrecht" mag auf den ersten Blick nicht ohne weiteres mit ihrer klassischen Aufgabe vereinbar sein, dem Richter die Verwirklichung der Einzelfallgerechtigkeit (Billigkeit) zu ermöglichen 55 • Indessen zeigt sich, daß Billigkeitsrechtsprechwng im Wege der Ausfüllung von Generalklauseln ihrerseits wieder zur "Generalisierung und Institutionalisierung des Generalklauselrechts" drängt 58 : Im Wege der Konkretisierung der Generalklauseln werden in der Rechtsprechung allmählich mehr oder weniger klare Regeln herausgebildet, die ähnlich den Gesetzen abstrakt-genereller Natur sind. Diese Tendenz zur Regelbildung auch im ius aequum kommt deutlich genug in den Leitsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Ausdruck, oder genauer formuliert, in ihren "tragenden Entscheidungsgründen" . Diese werden in aller Regel von den beteiligten Verkehrskreisen in der Folge ähnlich als rechtliche Regelung bewertet wie eine gesetzliche Klarstellung57 , - zumal durch verfahrensrechtliche Normen wie u. a. §§ 121 H, 136 GVG, 546 H S. 2 ZPO grundsätzlich Gewähr für eine gewisse Kontinuität der höchstrichterlichen Rechtsprechung gegeben ist. c) Die Darstellung hat gezeigt, daß die (höchstrichterliche) Judikatur bei der Ausfüllung von Generalklauseln richterliches Fallrecht bildet; dieses judge-made-Iaw findet sich in den höchstrichterlichen Präjudizien. Streitig ist nun, ob man solches Fallrecht als Rechtsquelle kennzeichnen kann58, oder ob es erst bei einer Verfestigung zu Gewohnheitsrecht eine Rechtsquelle bildet59 • aaO. Zu dieser Aufgabe der Generalklausel siehe oben im Text, II 1 e. 58 Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 360; weiter S. 331; vgl. auch Rüthers aaO, S. 467 (mit Rechtsprechungsnachweisen). 57 Dazu treffend Rüthers, aaO, S. 465 (a. E.): "Rechtsfortbildende Grundsatzurteile der oberen Bundesgerichte sind fast regelmäßig Anlaß zu kritischen Betrachtungen in der Literatur. Ihre faktische Normwirkung für das Rechtsleben wird dadurch nicht berührt" (Hervorhebung vom Verf.). 58 So insbesondere Kruse, Das Richterrecht als Rechtsquelle des innerstaatlichen Rechts, S. 3 ff., 12, 15 f., 20; ders. Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, S. 123 ff.; ders. Steuerrecht, S. 84; Adomeit, Rechtsquellenfragen im 54 55

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

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Soweit es bei diesem Streit allein um terminologische Fragen geht, soll er uns hier nicht beschäftigen60 • Denn uns genügt die Erkenntnis, daß der Richter bei der "Anwendung" von Generalklauseln seinen Entscheidungsobersatz im Gesetz nicht fertig vorfindet oder im Wege einer als Erkenntnisakt verstandenen Interpretation aus dem Gesetz ableitet, sondern im Rahmen des "Blanketts Genera:lklausel" die fallentscheidende Norm einem Präjudiz entnimmt oder selbst bildet: In beiden Fällen - beim Zugrundelegen eines Präjudizes sowie bei der Bildung des Entscheidungsobersatzes unabhängig von Präjudizien - ist es die Rechtsprechung, die aus der Generalklausel die "fertige Norm" schafft6t • Und diese Erkenntnis der normbildenden (norm vollendenden) Funktion der Judikatur zu den Generalklauseln sowie die Feststellung, in welchem Umfang die so gesetzten Normen als "law in action" neben dem Gesetz die Rechtswirklichkeit prägen, sind unabhängig davon, ob man diesem richterlichen Fallrecht die Bezeichnung "Rechtsquelle" gibt oder nicht. Neben dem nur terminologischen hat die Frage nach der Rechtsquellennatur des richterlichen Fallrechts noch einen sachlichen Gehalt, der das Problem der Bindung des Richters an Präjudizien betrifft82 • Dieser Frage können wir aber nicht näher nachgehen. Hier muß - gegenüber einer neueren These von der "praesumtiven Verbindlichkeit der Präjudizien" als Rechtsprinzip (Kriele)63 die folgende KlarsteIlung genügen: Arbeitsrecht, S. 37 ff.; Less, Von Wesen und Wert des Richterrechts, S. 66 f.; vgl. weiter Radbruch/Zweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 48; Coing, JuS 1975, S. 277; Stratenwerth, Zum Streit der Auslegungstheorien, S. 271 f.; Rasehorn, NJW 1972, S. 81; Redeker, NJW 1972, S. 411 f.; Egon Schneider, MDR 1967, S. 7. Vgl. auch Bringewat, ZStW Bd. 84 (1972), S. 606 ff.: "Richterrecht" sei insoweit Rechtsquelle, als "neugeschaffene Rechtsinstitute" (z. B. im Strafrecht die Rechtsfigur des Fortsetzungszusammenhangs) bei der Rechtsfindung verwandt würden. Zu Kriele siehe unten, im Text und Anm. 63. 59 So die h. M., vgl. u. a.: Enneccerus!Nipperdey, § 42 (S. 275); Larenz, Methodenlehre, S. 424; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 69; Esser, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, u. a. S. 118 f.; ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 192 -194; Scholz, DB 1972, S. 1775 ff.; vgl. auch Welzel, An den Grenzen des Rechts, S. 17 Anm. 64; Merten, DVBl1975, S. 683. 60 Vgl. dazu Esser, Gerichtsgebrauch aaO: Er bezeichnet die Frage, ob das Richterrecht "auch" eine Rechtsquelle sei, als "unfruchtbar". 61 Vgl. Esser, Vorverständnis aaO, S. 194; vgl. auch in: Grundsatz und Norm, S.287. 62 Dazu (als Vertreter der These vom judge-made-law als Rechtsquelle) eingehend Kruse, Das Richterrecht aaO, S. 15 - 17. 63 Theorie der Rechtsgewinnung, S. 243 ff., 259 ff. Gemeint ist mit dieser "präsumtiven Verbindlichkeit der Präjudizien" folgendes: Nach Kriele hat die Rechtsprechung neben der Gesetzesbindung eine zusätzliche Bindung anerkannt, nämlich die an Präjudizien; diese Bindung sei aber nur eine präsumtive, was besagen will: von einem Präjudiz dürfe der Richter

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

Von gesetzlichen Ausnahmeregelungen - z. B. § 31 I BVerfGG64, §§ 358 I StPO, 565 II ZPO - abgesehen ist der deutsche Richter nicht an Präjudizien gebunden, sondern nur an "Gesetz und Recht" (Art. 20 III, 97 I GG; §§ 1 GVG, 25 DRiG)85. Das judge-made-Iaw hat also für die Rechtsprechung grundsätzlich keine rechtliche Bindungswirkung. In der Rechtswirklichkeit ist aber festzustellen, daß die Gerichte sich grundsätzlich an (höchstrichterlichen) Präjudizien orientieren; dies erlaubt es, eine faktische "präsumtive Verbindlichkeit der Präjudizien" als rechtssoziologische Tatsache anzunehmen 66 • Und diese soziologische Geltung der Präjudizien67 ist schon Grund genug, von richterlichem Fallrecht zu sprechen.

4. Zusammenfassung Unsere Ausführungen haben ergeben: Generalklauseln sind "ein Stück offengelassener Gesetzgebung", also der Sache nach Regelungslücken; ihre Ausfüllung ist daher sachlich gesehen "gesetzesergänzende Lückenfüllung", freilich nur "intra legem", da im Rahmen der Generalklausel als gesetzlichem Blankett erfolgend. Konkretisierung von Generalklauseln ist danach normbildende (normvollendende) Tätigkeit. Im Verhältnis Gesetz/Rechtsprechung delegiert die Generalklausel Normbildungsaufgaben an den Richter; entsprechend nur abweichen, wenn er "gute, vernunftrechtliche Gründe" dafür geltend machen könne (eingehend zur Frage, wann der Richter danach eine "präjudizielle Rechtsnorm" erweitern, einengen oder preisgeben dürfe, äußert sich Kriele auf S. 275 ff., 279 ff., 286 ff.). Kriele stellt dabei ausdrücklich klar, daß er diese präsumtive Verbindlichkeit der Präjudizien nicht nur als soziologische Tatsache, sondern als "Prinzip unseres positiven Rechts" sieht (S. 248). Wie Kriele jetzt auch Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 28 IV b (S. 165). Kriele zuneigend auch Hilger, überlegungen zum Richterrecht, S. 116. Kritisch dagegen u. a. Larenz, Methodenlehre, S. 423 Anm. 144. 64 Gesetz über das BVerfG i. d. F. der Bekanntmachung vom 3. 2. 1971 (BGBI I, 105). § 31 I dieses Gesetzes lautet: "Die Entscheidungen des BVerfG binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden." Bekanntlich soll sich nach Ansicht des BVerjG diese Bindungswirkung auf die tragenden Gründe seiner Entscheidungen erstrecken (dazu eingehend mit Nachweisen pro und contra Knele aaO, S. 290 ff.). 85 Vgl. u. a. Esser, Vorverständnis aaO, S. 192; Welzel aaO. Insoweit ist m. E. an der Regelung in Art. 97 I GG, §§ 1 GVG, 25 DRiG, die den Richter an das "Gesetz" binden, und Art. 20 III GG, der von Bindung an "Gesetz und Recht" spricht, nichts zu deuteln: Was immer man unter "Recht" i. S. des Art. 20 III GG verstehen mag, Präjudizien sind damit jedenfalls nicht gemeint. 68 Kriele (aaO) ist also im rechtssoziologischen Befund zuzustimmen, nicht aber in dessen rechtlicher Bewertung. 81 Welzel aaO.

1.

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dieser Delegierung bildet die (höchstrichterliche) Judikatur in ihren Präjudizien richterliches Fallrecht (judge made law). Danach ist die Vorstellung von "Gesetzesanwendung" im Sinne der Anwendung einer "fertigen Norm" für die generalklauselartigen Gesetze illusionär. § 2. Zur normbildenden (normvollendenden) Bedeutung der Auslegung kasuistischer Regelungen I. Zum Begriff der kasuistisdlen Regelung

Die Darstellung hat oben Generalklausel und kasuistische Regelung als "Gegenbegriffe" vorgestellt; sie hat aber zugleich hervorgehoben, daß diese Unterscheidung nur idealtypisierend erfolgen kann und die übergänge fließend sind 1• Diese Relativität der Differenzierung zwischen kasuistischer Tatbestandsbildung und generalklauselartiger wird insbesondere deutlich, wenn die erstere sehr unbestimmte normative Rechtsbegriffe verwendet - z. B. "Staatsgeheimnis"; "böswillig"; "rücksichtslos"; "pornographische" Schriften, Ton- oder Bildträger; "sexuelle Handlung, die im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit ist"! -'-. Diese Relativität der Gegenüberstellung Generalklausel/kasuistische Normierung führt zu der These: Wie die "Anwendung" von Generalklauseln ist grundsätzlich auch die von sonstigen Normen kein Erkenntnisakt, sondern normbildender (normvollendender) Natur; dieser These wollen wir uns im folgenden zuwenden. 11. Unbestimmte und normative Redltsbegriffe als gesetzliche Ermächtigung zur richterlichen Rechtsfortbildung im Sinne einer Normvollendung 1. Die Auslegung unbestimmter und normativer Rechtsbegriffe als Normergänzung

Was die vorstehenden Ausführungen zu den Generalklauseln ergeben haben, trifft in mehr oder weniger abgeschwächtem Maße auch für kasuistische Regelungen mit unbestimmten und wertausfüllungsbedürftigen (normativen) Rechtsbegriffen zu: Auch bei der "Anwendung" solcher kasuistischer Normierungen ermittelt der Richter seinen Entscheidungsobersatz nicht im Wege einer Siehe oben, § 1 I. Vgl. §§ 93 ("Staatsgeheimnis"); 90 a, 223 b ("böswillig"); 315 c ("rücksichtslos"); 184 ("pornographisch"); 174 ff. i. V. m. 184 c StGB ("sexuelle Handlung"). 1

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7 Krey

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nur erkennenden Interpretation; vielmehr ist auch hier der Entscheidungsobersatz - die "fertige Norm" (Esser)1 - ein Produkt der im Rahmen des angewandten Gesetzes erfolgenden richterlichen Normbildung oder genauer: Ein Produkt arbeitsteiligen Zusammenwirkens von Gesetzgebung und richterlicher NormvoHendung; dies bedarf näherer Begründung: Sehr unbestimmte und normative Rechtsbegriffe werden von einer verbreiteten Auffassung wie Generalklauseln als Regelungslücken bezeichnet, und zwar üblicherweise als "Lücken intra legem", da ihre Ausfüllung im Rahmen einer Gesetzesnorm erfolge; und demgemäß wird ihre "Auslegung" von dieser Lehre als Gesetzesergänzung intra legem qualifiziert 2 • In terminologischer Hinsicht mag man gegen diese Deutung der unbestimmten und normativen Rechtsbegriffe Einwände erheben 3 ; ihrer sachlichen Aussage kann man dagegen nur zustimmen. Denn es bedarf nicht mehr als einiger Beispiele, um nachzuweisen, daß unbestimmte und normative Rechtsbegriffe der rechtsfortbildenden Normergänzung (oder besser: Normvollendung) im Wege der Auslegung bedürfen. Als erstes Beispiel hierfür sei die zahlenmäßige Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe genannt4: Gesetze, die wie §§ 248 a (und 257 111 S. 2; 259 11; 263 IV; 265 a 111; 266 111) oder früher 370 I Nr. 5 StGB ("Mundraub") auf die Geringwertigkeit einer Sache abstellen, bedürfen der "normvollendenden", normergänzenden richterlichen Festsetzung, wo die Wertgrenze zu ziehen sei: Ob diese in der Regel bei 20, 25 oder 30 DM liegt, läßt sich dem Gesetz nicht entnehmen, sondern wird normbildend von der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung im Wege ergänzender Wertung bestimmt5• Diese "gesetzesergänzende" Funktion der richterlichen "Quantifizierung" von Rechtsbegriffen wird besonders anschaulich in dem Urteil des BayObLG vom 23. 11. 1972 zu den Begriffen "geringe Menge" bzw. "nicht geringe Menge" im Sinne von § 11 V bzw. IV Nr. 5 Betäubungsmittelgesetz (BetäubMG)6. 1 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 194. 2 Siehe oben, Kapitel 3, § 1 II 2 a (mit Anm. 27, 28). 3 Zu den kritischen Stimmen vgl. oben, Kapitel 3 aaO, Anm. 27. 4 Hierzu jetzt eingehend Haueisen, NJW 1973, S. 641 ff. (am Beispiel der Rechtsprechung des BSG). 5 Vgl. dazu insbesondere OLG Hamm, NJW 1970, S. 1387, NJW 1971, S. 1954; dazu näher Blei, JA 1971, StR S. 211 f. (zu § 370 I Nr. 5 a. F.). Zur "Geringwertigkeit" i. S. des § 248 a StGB n. F. vgl. m. w. N. Krey, Strafrecht BT 2. Bd., S. 56 f. e Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln i. d. F. der Bekanntmachung vom 10. 1. 1972 (BGBI I, 1). Das Urteil des BayObLG ist veröffentlicht in NJW 1973, S. 669 (mit kritischer Anm. von T. Schneider, NJW 1973, S. 1425). Zu den Begriffen der "geringen Menge" und der "nicht geringen Menge" i. S. des BetäubungsMG vgl. jetzt auch BGH NJW 1976, S. 1800 f.

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

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Das Gericht kommt dabei im Wege ergänzender rechtspolitischer Wertentscheidung zu der Ansicht, zwischen dem "Ende der ,geringen Menge' und dem Beginn der ,nicht geringen Menge'" müsse es einen "gewissen Zwischenraum" geben, und setzt fest: Bei Betäubungsmitteln i. S. des § 1 I Nr. 1 d BetäubMG (Indischer Hanf) und i. S. des § 1 IV Nr. 3 (Haschisch) liegt eine geringe Menge i. S. des § 11 V vor, wenn der vom Konsumenten üblich erweise zu zahlende Preis 20 DM nicht übersteigt. Eine nicht geringe Menge i. S. des § 11 IV Nr. 5 ist dann gegeben, wenn der Konsumentenpreis mehr als 1 000 DM beträgt." Deutlicher als mit diesem Urteil kann man Bülows schon wiederholt erwähnte These, "nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt schafft dem Volk sein Recht" - und dies auch im Bereich der Straftatbestände - , nicht belegen. Ein weiteres anschauliches Beispiel für den normvollendenden Charakter der Auslegung bei unbestimmten und normativen Rechtsbegriffen bot der wertausfüllungsbedürftige Begriff der Unzucht 7 • Die zahlreichen, häufig heftig umstrittenen Entscheidungen hierzu beweisen den normbildenden (normvollendenden) Charakter der Gesetzesauslegung solcher normativen Rechtsbegriffe deutlicher als viele Worte: Wenn der BGH etwa zu § 181 I Nr. 2 StGB a. F. urteilte, auch der Geschlechtsverkehr Verlobter, "die ernsthaft zur Ehe entschlossen und sich ihrer Verantwortung bewußt sind", sei grundsätzlich unzüchtig8, oder wenn das Gericht unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung statuierte, "Spezialpräservative, Wirkpolster und Salben, die beim Geschlechtsverkehr zur Reizsteigerung oder Reizverlängerung" dienten, seien nicht im Sinne des § 184 I Nr. 3 StGB a. F. zum unzüchtigen Gebrauch bestimmt', so handelte es sich nicht um bloß deklaTatoTische Feststellungen eines bereits vor den fraglichen Urteilen feststehenden Gesetzesinhalts. Vielmehr wird in solchen Urteilen die "fertige Norm" konstitutiv vom Richter gesetzt. D. h. im Rahmen der jeweiligen Norm ist zur Bildung des Entscheidungsobersatzes eine ergänzende, normvollendende Wertung des "Gesetzesanwenders" erforderlich. 7 Vgl. §§ 174 StGB a. F. (an seine Stelle ist jetzt der Begriff der "sexuellen Handlung von einiger Erheblichkeit im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut" getreten; §§ 174 ff. i. V. m. 184 c StGB n. F.). 8 BGH St 6, 46 (GS); BGH St 17, 230. Eine Ausnahme wollte der Große Senat für den Fall zulassen, daß der Eheschließung "zwingende Hindernisse" entgegenstehen, die von den Verlobten nicht zu verantworten seien und in absehbarer Zeit nicht behoben werden könnten. Im Anschluß daran hat der BGH später entschieden (BGH St 17 aaO): Der Geschlechtsverkehr Verlobter sei auch dann unzüchtig, wenn der Eheschließung ein behebbares Ehehindernis im Wege stehe, das "von einer rechtsstaatlichen Ordnung aus anzuerkennen sei". g BGH St 24, 318 ("Beate-Uhse-Fall"), gegen BGH vom 9. 1. 1962, 1 StR 346/61.

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

Danach ergibt sich für das Verhältnis Gesetzgebung/Rechtsprechung bei der Anwendung von Rechtsnormen mit unbestimmten und normativen Rechtsbegriffen: Den Inhalt der Gesetze bilden in der Rechtswirklichkeit Gesetzgebung

und Rechtsprechung in arbeitsteiligem Zusammenwirken10 ; im Rahmen

der "angewandten Norm" schafft Richterrecht im Wege ergänzender Wertentscheidungen die "fertige Norm"ll. Ecker hat hierfür die anschauliche Formel geprägt: "Das Recht wird in und mit der Auslegung12."

2. Gesetzesnormen mit unbestimmten und normativen Rechtsbegrijfen als Ermächtigung zur normvollendenden Bildung richterlichen Fallrechts Diese Feststellungen erklären die in der heutigen Rechtstheorie verbreitete These, ähnlich den Generalklauseln, nur in mehr oder weniger abgeschwächtem Maße, seien auch kasuistische Normierungen mit unbestimmten und normativen Rechtsbegriffen gesetzliche Ermächtigungen zur Bildung richterlichen Fallrechts 13 • Solche Normierungen sind nach den Worten Friedrich Müllers "stets auch Kompetenznormen", die der Rechtsprechung die Legitimation geben, den zu entscheidenden Fall "durch normorientiertes Entwickeln der Entscheidungsnorm aus der allgemeinen Rechtsnorm zu ordnen"14. Und so ist es in der Tat: Denn nach der Natur der Sache ist es unmöglich, in den abstrakt-generellen Normen der Gesetze für alle heute und 10 Dazu u. a. A. Arndt, NJW 1963, S. 1279 f.; Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, S. 8; Brüggemann, JR 1963, S. 164, 169; NoH, JZ 1963, S. 301; Rehfeld/ Rehbinder, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 124 (a. E.) f.; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 231; H. P. Schneider, DÖV 1975, S. 447, 449; kritisch aber Merten, DVB11975, S. 681. lt Esser, Vorverständnis aaO, S. 194. Vgl. weiter die unten, Anm. 18 f. genannten Autoren. 12 JZ 1969, S. 477. Meyer-Ladewig hat dies wie folgt formuliert: "So legt sich ein Kranz von Entscheidungen ... um eine Norm mit der Wirkung, daß nicht mehr das Gesetz, sondern das Gesetz in der durch die Entscheidungen ergänzten ... Form nachfolgenden Entscheidungen zugrundegelegt wird. Jede der gerichtlichen Entscheidungen hat ... eine Rechtsschöpfung zum Inhalt.... Das Gesetz wird fortgebildet. Auf diese Weise wächst das Gesetz langsam, Stück für Stück." (MDR 1962, S. 262 - a. E. - f.) 13 So insbesondere Kruse, Das Richterrecht aaO, S. 7 f., 10; ders. Steuerrecht, S. 83 f., 88; Friedrich MüHer, Juristische Methodik, S. 127; Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, S. 45 ff.; A. Arndt aaO, S. 1279; Redeker, NJW 1'972, S. 412; weiter Dando, Das Legalitätsprinzip und die Rolle der Rechtsprechung und der Theorien, S. 40; H. Heinrich, Rechtsfortbildung durch die Revisionssenate des BVerwG, S. 43; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 63 ff., 121, 160. 14 Müller aaO.

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zukünftig denkbaren Rechtsfragen klare Antworten bereitzustellenis. Folglich gibt es auch für den gewaltenteiligen Rechtsstaat bei der Normbildung grundsätzlich keine andere Wahl als den Weg der Arbeitsteilung: Wenn die Gesetze schon grundsätzlich nicht so gefaßt werden können, daß ihre "Anwendung" nur ein Erkenntnisakt ohne konstitutive normfortbildende (normergänzende, normvollendende) Relevanz ist, so führt kein Weg an einer Einbeziehung der Rechtsprechung in den Prozeß der Normbildung vorbei. Diese Einbeziehung aber ermöglichen die Generalklauseln, die unbestimmten und normativen Rechtsbegriffe; sie öffnen die Gesetzesnorm für eine normfortbildende ergänzende Wertung des Richters, der damit - im Rahmen des "angewendeten" Gesetzes - die Änderungen der sozialen Verhältnisse und Anschauungen sowie die besonderen Umstände des Einzelfalles berücksichtigen kann. Zusammenfassend läßt sich also sagen: Die Auslegung unbestimmter und normativer Rechtsbegriffe durch die Rechtsprechung, vor allem die höchstrichterliche, trägt der Sache nach gesetzesergänzenden, normvollendenden Charakter; den Entscheidungsobersatz findet der Richter bei solchen mehr oder weniger "offenen" Normen nicht fertig im Gesetz vor, sondern bildet ihn im Rahmen des Gesetzes. So entsteht nicht nur bei der Ausfüllung von Generalklauseln, sondern auch bei der Anwendung kasuistischer Regelungen mit unbestimmten und normativen Begriffen richterliches Fallrecht 16 : Man schlage nur einen Kommentar zum StGB, zur StPO, zum BGB oder anderen Gesetzbüchern auf, und man hat es vor sich. 3. Die Strafrechtsnorm als Produkt arbeitsteiligen Zusammenwirkens von Gesetzgebung und Rechtsprechung bei der Normbildung a) Die außerordentliche Tragweite jener Erkenntnisse wird nun erst richtig deutlich, wenn man bedenkt, daß grundsätzlich jeder Rechtsbegriff "unbestimmt" und wertausfüllungsbedürftig ("normativ") ist wie bereits oben ausgeführt wurde17 • Daraus folgt nämlich, daß im Grundsatz jede Auslegung Rechtsfortbildung, Normergänzung, Normvollendung ist18• 15 Dazu oben, Kapitel 2, § 1 I 2 a (1). Siehe auch Anschütz, VerwArch 1906, S. 322 f.; Arthur Kaufmann, JZ 1975, S. 339; ders. Die "ipsa res justa", S. 37 f.; Dubischar, Vorstudien zur Rechtswissenschaft, S. 75. l' Zu diesem Begriff näher oben, § 1 II 3. 17 Dazu oben, Kapitell, § 3 II 1 a; Kapitel 2, § 1 12 b (1) (b). 18 Vgl. hierzu insbesondere: Bülow (zu ihm näher oben Kapitel 2, § 1 I 2 a (5); Kapitel 3 - vor § 1 -); Esser, Vorverständnis aaO, S. 194 und durchgehend (u. a. S. 53, 59 Anm. 26, 118, 132, 167, 194); ders. Grundsatz und Norm, durchgehend (u. a. S. 19, 23 f., 285 - 287); Kruse aaO; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 460; Schwerdt-

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1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

Auch für den Bereich der Rechtsfindung secundum legem gilt daher grundsätzlich: Sie ist der Sache nach bereits gesetzesergänzende Weiterbildung des geltenden Rechts. Dies gilt auch im Geltungsbereich des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts (Art. 103 II GG)19, so daß J. Baumann 20 feststellen kann: "Die Rechtswirklichkeit und der effektive Umfang des Bereichs des Strafbaren ist eine Funktion von Gesetz und richterlicher Auslegung." Das ist offenbar auch der Standpunkt der Rechtsprechung von BGH und BVerfG, wie die folgenden Entscheidungen belegen: Zu § 240 II StGB stellte der Große Strafsenat des BGH fest, hier falle dem Richter die Aufgabe zu, "an Stelle des Gesetzgebers durch unmittelbare Wertung zu entscheiden", wann eine rechtswidrige Nötigung vorliege21 • Zum strafprozessualen Legalitätsprinzip (§ 152 StPO) urteilte das Gericht, für den Inhalt der Strafgesetze seien "ihre Auslegung und ständige Anwendungspraxis durch die Gerichte maßgebend" und daher dürfe sich die Anklagebehörde über eine "feste höchstrichterliche Rechtsprechung" nicht hinwegsetzenu . ner, Rechtstheorie 1971, S. 79; weiter: Bachof, Ecker und Rehfeld aaO; A. Arndt aaO, S. 1274, 1279 f.; Brüggemann aaO; RadbruchlZweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 168 ff.; Struck, Topische Jurisprudenz, S. 35 (a. E.) f., 60, 63, 77; H. P. Schneider, DÖV 1975, S. 447 f. Vgl. auch Larenz: "Die Gerichte bilden das Recht fort, indem sie es anwenden" (NJW 1965, S. 1; ebenso: über das Verhältnis von Interpretation und richterlicher Rechtsfortbildung, S. 386 f., 392; JuS 1971, S. 453). Vgl. weiter Betti, Die Problematik der Auslegung in der Rechtswissenschaft, S. 209 ff., 216: Auslegung bedeute eine "komplementäre Ergänzung",

eine "Anreicherung" des ausgelegten Gesetzes, die es an die Veränderungen der sozialen Wirklichkeit anpasse. Dies Auslegungsverständni! llat sich mehr und mehr auch unter den Strafrechtlern durchgesetzt; vgl. unten im Text und Anm. 19. 11 So u. a. Dando aaO; Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, S. 387 - 389; ders. JuS 1965, S. 8; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafgesetzen, S. 241 - 246, 276; Küper, Die Richteridee der Strafprozeßordnung, S. 3 ff.; Lemmel, Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen im Besonderen Teil des Strafrechts und der Grundsatz nullum crimen sine lege, S. 68 -70; Meyer-Ladewig aaO; Müller-Dietz, Verfassungsbeschwerde und die richterliche Tatbestandsauslegung im Strafrecht, S. 44 (a. E.) ff.; Noll aaO; Schröder, Gesetz und Richter, S. 14 -16; vgl. auch Welzel, Die Frage nach der Rechtsgeltung, S. 17; weiter Karl Peters, Gutachten für den 41. Deutschen Juristentag, S. 6. zu Grenzen der individuellen Gerechtigkeit im Strafrecht, S. 124. 11 BGH St 2, 194, 196. Z! BGH St 15,155,158 ff. Dieses Urteil ist sehr umstritten. Die von ihm behandelte Problematik war Thema des 45. Deutschen Juristentages 1964 und blieb auch dort kontrovers; vgl. dazu das Gutachten von Nowakowski, die Referate von Herrmann und Schwalm und die Diskussion (Verhandlungen des 45. Dt. Juristentages). Weitere Nachweise zu diesem Fragenkreis bei Kern/Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 46; Sarstedt, NJW 1964, S. 1752.

1.

Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

103

Das BVerjG stellte bei seiner Entscheidung, § 360 I Nr. 11 StGB a. F. ("Grober Unfug") entspreche dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG, maßgeblich auf die angebliche "Präzisierung des Tatbestandes in jahrzehntelanger gefestigter Rechtsprechung" ab!3. Das Ergebnis unserer Ausführungen ist also in Rechtsprechung und Lehre von vielen anerkannt und lautet: Auch die Auslegung von Strafrechtsnormen trägt grundsätzlich in mehr oder weniger weitem Umfang rechtsfortbildenden, normvollendenden, kurz: normbildenden Charakter. Was strafbar ist, bestimmen also Gesetzgeber und Rechtsprechung in arbeitsteiligem Zusammenwirken. Demgemäß können wir in Abwandlung eines schon wiederholt zitierten Wortes von BüloW 24 feststellen: Nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt setzen den Bereich des Strafbaren fest. b) Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse sei hier noch eine ergänzende Klarstellung angefügt: Die Erkenntnis der normfortbildenden (norm vollendenden) Funktion der richterlichen Gesetzesauslegung bedeutet keineswegs eine Wendung zum Voluntarismws nach Art der Freirechtsbewegung25 • (1) Wir sind uns zwar bewußt, daß sich bei der "ergänzenden Wertentscheidung", die für die normergänzende Komponente der Interpretation grundsätzlich erforderlich ist, das volitive Element - d. h. der Anteil der Richterpersönlichkeit, der subjektiven Eigenwertung des Richters - niemals gänzlich ausschließen läßt und daß von daher seine Gesetzesauslegung vielfach von "volitiven Elementen" geprägt ist26 • Es läßt sich ja einfach nicht leugnen, daß der Richter regelmäßig - bewußt Vgl. oben, § 1 II Anm. 35. Vgl. oben, Kapitel 2, § 1 12 a (5) (a); Kapitel 3 vor § 1. U Dazu oben, Kapitel 2 aaO (b). !8 Dies volitive Element heben u. a. hervor: Esser, Grundsatz und Norm, S. 256; Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 39; Küper, Die Richteridee der Stpo, S. 13 f., 16 f., 18 f.; Säcker, ZRP 1971, 145 ff.; Dahm, Die Zunahme der Richtermacht im modernen Strafrecht, S. 15 ff., 19 f;; Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, S. 18 ff., 22 (a. E.); Waider, Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen für Methodologie und Systematik des Strafrechts. S. 210 f.; Redeker, NJW 1972, S. 410 f., 413; Lemmel, Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen im Besonderen Teil des Strafrechts und der Grundsatz nullum crimen sine lege, S. 62 ff., 70, 133; Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz "nullum crimen sine lege", S. 125 -132. Vgl. weiter Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 96; Schwerdtner, Rechtstheorie, 1971, S. 73, 225, 235. Siehe auch Kelsen. Reine Rechtslehre. S. 351; - näher zur Bedeutung der Reinen Rechtslehre für das Auslegungsverständnis unten, Kapitel 5, § 2. Kritisch gegenüber der These, die richterliche Rechtsfindung habe auch volitiven Charakter, Merten, DVBI 1975, S. 682. Z3

24

104

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

oder unbewußt - mit einem gewissen "Vorverständnis", d. h. mit seinen Vorstellungen von der sachgerechten Fallentscheidung, an die auszulegende Norm herantritt27 • Dies Vorverständnis hat nun naturgemäß vielfach Einfluß auf das Rechtsfindungsergebnis, die Bildung des Entscheidungsobersatzes: Es kann schon bei der Suche nach möglicherweise einschlägigen Normen den Blick des Richters in bestimmte Bahnen lenken 28, insbesondere aber die Methodenwahl 29 steuern, was schon durch den sogenannten "Methodensynkretismus" (Methodenpluralismus) der Praxis belegt wird. Mit diesem "Methodensynkretismus" der Rechtsprechung ist die bekannte Tatsache gemeint, daß die Gerichte in manchen Urteilen der subjektiven Theorie eine deutliche Absage erteilen und sich über den "Willen des Gesetzgebers" hinwegsetzen, sich dadurch aber nicht gehindert sehen, in anderen Entscheidungen wieder maßgeblich auf den "Willen des Gesetzgebers" abzustellen30• (2) Daß richterliche Auslegung danach auch von volitiven Elementen geprägt ist, besagt aber nicht, die Gesetzesauslegung sei in ihrer normfortbildenden Komponente am subjektiven Rechtsgefühl des Richters als Wertmaßstab auszurichten, d. h. dem Richter sei grundsätzlich bei der Gesetzesinterpretation ein Tatbestandsermessen eingeräumt. Als "Tatbestandsermessen" bezeichnet man die Einräumung von Ermessen als Wahlmöglichkeit zwischen mehreren rechtlich gleichwertigen Lösungen nicht erst bei der Festsetzung von Rechtsfolgen, sondern bereits bei der Beurteilung der Frage, ob die Tatbestandsvoraussetzungen für den Ausspruch jener Rechtsfolgen vorliegen31 • Ein solches Tatbestandsermessen ist jedenfalls für die richterliche Gesetzesauslegung unserem Rechtssystem grundsätzlich fremd32 : 27 Zum Problem des richterlichen Vorverständnisses vgl. insbesondere Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 28 f., 77, 135 ff., 140, 147 (zu ihm u. a. Schwerdtner, JuS 1972, S. 357). Esser stimmen im wesentlichen zu: Arthur Kaufmann, Richterpersönlichkeit und richterliche Unabhängigkeit, S. 302 - 304, 306; Roth, JuS 1975, S. 619; Rupp, NJW 1973, S. 1770, 1773. 28 Dazu u. a. Esser aaO, S. 28 f., 77; Engisch, Einführung in das juristische Denken, Anm. 36 (S. 200 f.) m. w. N. 20 Vgl. nur Esser aaO, S. 7, 121 ff., 136; Engisch aaO; Häberle, JZ 1971, S. 145; Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, S. 13 (a. E.) f. 30 Dazu näher unten, Kapitel 7, § 1 13. 31 Eingehend zum Begriff des Tatbestandsermessens Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, S. 13 ff.; Frisch, NJW 1973, 1345 ff. 32 Gegen ein solches Tatbestandsermessen haben sich für das Strafrecht insbesondere ausgesprochen: Warda aaO, S. 27 ff., 45, 81, und jetzt Frisch aaO, beide m. w. N.; ebenso u. a. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 194; Lemmel aaO, S. 50 f. Soweit sich Gegenstimmen finden, beruhen sie teilweise auf einem abweichenden Verständnis des "Ermessens"; vgl. dazu eingehend Warda, S. 1 ff., 13 ff.

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

105

(a) Die Annahme, der Richter könnte (beipielsweise bei der Feststellung der Voraussetzungen eines Straftatbestandes) die Tatbestandsmäßigkeit (und damit die Strafbarkeit) eines Verhaltens nach seinem Ermessen sowohl bejahen als auch verneinen, wobei beides in gleicher Weise "richtig" und also revisionssicher wäre, ist schon mit den einschlägigen Normen des Revisionsrechts - z. B. §§ 337 StPO, 549 ZPO, 137 VwGO - nicht vereinbar.33. (b) Aber auch den Revisionsgerichten ist gesetzlich kein Tatbestandsermessen bei der Interpretation der Rechtsnormen eingeräumt: Zwar läßt sich die These von der "einen richtigen Auslegung"34 nicht halten, wenn man sie in dem Sinne versteht, diese "richtige Interpretation" sei im Wege eines Erkenntnisaktes aus dem Gesetz abzulesen; denn dem steht die normbildende (normvollendende) Komponente der Auslegung entgegen. Doch wird unser Rechtssystem von der Grundidee beherrscht, daß unbestimmte und normative Rechtsbegriffe die Rechtsfindung nicht dem Ermessen des Richters anheimstellen, sondern daß dieser erst in allerletzter Linie auf sein irrationales, subjektives Rechtsgefühl abstellen darf. Leitlinie für die normvollendende Auslegungskomponente müssen vielmehr soweit irgend möglich rationalere, objektivere Wertmaßstäbe sein. (c) Als solche kommen insbesondere die der anzuwendenden Norm zugrundeliegende rechtspolitische Wertentscheidung35, daneben die "Wertungen der Gesamtrechtsordnung"36 - vornehmlich der Verfassung - in Betracht, dazu die Rechtsprinzipien37 ; ergänzend zu diesen Ob es für die Verwaltungsbehörden neben dem Rechtsfolgeermessen auch Fälle von Tatbestandsermessen gibt (oder ob den Verwaltungsbehörden auf der Tatbestandsseite allenfalls - und auch das nur ausnahmsweise - ein "Beurteilungsspielraum" eingeräumt ist) muß hier dahinstehen (zu dieser Frage vgl. aus jüngster Zeit den Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. 10. 1971, NJW 1972, S. 1411 - mit kritischer Anm. Kloepfer - ; Bachof, JZ 1972, S. 641. Siehe auch TipkelKruse, § 1 AO, A 13: Im Geltungsbereich des steuerrechtlichen Gesetzesvorbehalts gebe es kein Tatbestandsermessen. Dagegen bejaht W. Schmidt, NJW 1975, S. 1753 ff., die Möglichkeit von Tatbestandsermessen). 33 Dazu Warda aaO, S. 28; Frisch aaO, S. 1346 (a. E.). 34 Dazu oben, Kapitel 2, § 1 12 b (2) (c), mit Anm. 57. Kritisch zu dieser These u. a. Bachof aaO, S. 645, Anm. 25; Schwerdtner, Rechtstheorie 1971, S. 68, 71, 80, 88; Zippelius, NJW 1964, S. 1983. Gegen die Vorstellung der "einen richtigen Auslegung" ist insbesondere auch Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 349, 353; ihm folgend Ringhofer, Interpretation und Reine Rechtslehre, S. 205 (näher zur Bedeutung der Reinen Rechtslehre für das Rechtsanwendungsverständnis unten, Kapitel 5, § 2). 35 Zu ihrer Bedeutung als materialer Auslegungsschranke und zugleich Leitlinie für die Interpretation unten, Kapitel 7, § 2. 36 Dazu oben, Kapitel 2, § 1 12 b (1) (a). 37 Zu diesen oben, Kapitel 2 aaO.

106

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

Wertungsmaßstäben des positiven Rechts treten noch "standards" wie "der redliche Kaufmann", "der umsichtige und ordentliche Verkehrsteilnehmer" u. ä.38 ; weiterhin sind gegebenenfalls die Verkehrssitte, Usancen, in der Gemeinschaft herrschende sittliche überzeugungen usw. zu berücksichtigen:!l. Alle diese Maßstäbe sind allerdings nicht in der Lage, die richterliche Wertung voll zu determinieren; aber sie sind doch geeignet, in mehr oder weniger starkem Maße Leitlinien für die Auslegung zu bieten und dem Richter den vorschnellen Rückgriff auf seine subjektive Eigenwertung zu verwehren. Und selbst dort, wo die Rechtsprechung auf ihre Eigenwertung zurückgeworfen ist, da objektivere Maßstäbe nicht mehr weiterhelfen, darf diese Eigenwertung nicht nach dem subjektiven Belieben des Richters erfolgen, sondern muß auf "Konsensfähigkeit" ausgerichtet sein 40 , was besagen will: Sie muß sich um Plausibilität, um überzeugungskraft gegenüber der Rechtsgemeinschaft bemühen. Daß diese knappen Hinweise mehr Fragen offenlassen als beantworten, ist uns bewußt. Doch ist eine vertiefende Studie zu dem Grundanliegen der modernen Rechtstheorie, die ergänzenden Wertentscheidungen der Rechtsprechung bei der Rechtsfindung an objektiven Maßstäben auszurichten'!, hier nicht möglich. Uns ging es an dieser Stelle allein um die Klarstellung, daß Generalklauseln, unbestimmte und normative Rechtsbegriffe die Rechtsprechung zwar zur Normfortbildung, Normvollendung ermächtigen, daß für diese richterliche Funktion aber nicht das subjektive Ermessen des Richters den Wertungsmaßstab abgeben darf42 • 38

Zur Bedeutung solcher "standards" für die Rechtsfindung vgl. vor allem

Esser, Grundsatz und Norm, S. 96 ff., 150, 224.

3D Siehe etwa BGH St 23, 40 ("Fanny-Hill-Urteil"); diese Entscheidung stellte zur Frage der Unzüchtigkeit einer Schrift (§ 184 StGB a. F.) maßgeblich auf die "tiefgreifende und nachhaltige Änderung der allgemeinen Anschauungen über die Toleranzgrenze gegenüber geschlechtsbezogenen Äußerungen" ab. Hierzu eingehend Hanack, JZ 1970, S. 41 ff. 40 Dazu grundlegend Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 9, 24 f., 84, 115; weiter S. 202 ff. (kritische Auseinandersetzung mit Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969). Vgl. auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, der die Richter für den ihrer Wertung "verbleibenden Entscheidungsspielraum" auf die "vernunftrechtliche Plausibilität" des Ergebnisses verweist; S. 314 (Leitsatz 18) und S. 315 (Leitsatz 21 a. E.) sowie durchgehend. 41 Siehe etwa Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, S. 6. 42 Anders etwa Venzlaff, "Ober die Schlüsselstellung des Rechtsgefühls bei der Gesetzesanwendung: Er meint, als "letztlich bestimmender Faktor" bei der richterlichen Rechtsgewinnung sei das subjektive Rechtsgefühl des Richters anzuerkennen (S. 57 ff., 62). Dagegen teilen unseren Standpunkt u. a. J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 68; Zippelius, Legitimation durch Verfahren?, S. 300 f.

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 3

107

c) Die Erkenntnis des norm bildenden, normergänzenden Charakters der Gesetzesauslegung führt uns nun zu der entscheidenden Frage: Welche Auswirkungen hat diese Erkenntnis für die herkömmliche Unterscheidung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern? Oder präziser gefragt: Welchen Sinn hat es, zwischen der "unmittelbaren Anwendung des Gesetzes" und der gesetzesergänzenden Lückenfüllung zu unterscheiden, wenn bereits die Normauslegung als "Wegweiserin zur Rechtsfindung secundum legern" der Sache nach grundsätzlich erst die "fertige Norm" bildet, also normergänzend, normvollendend ist? Und was bedeutet der verfassungsrechtliche Gesetzesvorbehatt im Strafrecht (Art. 103 II GG) - sowie der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts für hoheitliche Eingriffe -, wenn nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt auch im Geltungsbereich dieser Gesetzesvorbehalte die Normen bilden? Diese Fragestellung ist es, die mehrere Autoren zu kritischen Äußerungen gegen die hergebrachte Unterscheidung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern geführt hat. Ihnen soll die Darstellung sich im folgenden Kapitel zuwenden, bevor sie sich43 um die eigene Antwort auf die aufgeworfenen Fragen bemüht.

43

Im Zweiten und Dritten Abschnitt.

Kapitel 4

Kritische Stimmen zur herkömmlichen Differenzierung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern § 1. Zur Kritik an der Unterscheidung zwischen

Rechtsfindung secundum und praeter legern I. Mennicken

Die klarste Absage an die herkömmliche Differenzierung zwischen der richterlichen Rechtsfindung secundum legern und der gesetzesergänzenden Lückenfüllung findet sich bei Mennickent, der diese Unterscheidung rundweg ablehnt; seinen Standpunkt begründet er dabei wie folgt: Einmal hebt er hervor, Auslegung sei schon Rechtsfortbildung; bereits bei der Gesetzesinterpretation erfolge "eine - wenn auch verdeckte Lückenfüllung"2; Auslegung setze "dasselbe wertende Urteil des Richters voraus, wie es für die Rechtsfindung praeter legern allgemein anerkannt" sei3 • An diesem "phänomenologischen Befund" könne die Rechtsdogmatik nicht vorbeigehen4 • Die Differenzierung zwischen Auslegung und Rechtsfindung praeter legern habe danach keinen Sinn mehr. Zum anderen macht Mennicken geltend, die von der h. M. angenommene Grenze zwischen Gesetzesinterpretation und gesetzesergänzender Lückenfüllung, der "mögliche Wortsinn" der Rechtsnorm, sei "fließend"5 und damit - das ist von ihm mit dieser Feststellung offenbar gemeint - gegenstandslos. 11. Esser

Während sich bei Mennicken eine klare, entschiedene Ablehnung der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Auslegung und gesetzesergänzender Lückenfüllung findet, ist Essers Standpunkt zu dieser Diffe1 2

3 4

5

Das Ziel der Gesetzesauslegung, S. 101. aaO. S. 103. S. 101 Anm. 115. S. 102; S. 14 f., 46.

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 4

109

renzierung weniger bestimmt. Aber daß er ihr kritisch gegenübersteht, läßt sich nicht verkennen: Esser spricht von der "Scheinproblematik eines Judizierens praeter legem"6 und dem "nicht definierbaren Unterschied zwischen Auslegung und Lückenfüllung"7. Die Gründe für diese kritische Stellungnahme liegen offenbar in folgendem: Gerade Esser ist einer der entschiedensten Wegbereiter für die Einsicht in den normbildenden, normergänzenden, rechtsfortbildenden Charakter der "Gesetzesanwendung"8. Auf dieser Einsicht beruht offensichtlich seine These von dem "nicht definierbaren Unterschied zwischen Auslegung, Lückenfüllung und Fortbildung"9. Und zudem erkennt Esser - wenn ich ihn recht verstanden habe die herschende Meinung vom Wortsinn des Gesetzes als tauglichem Abgrenzungskriterium zwischen Auslegung und Rechtsfindung praeter legern nicht antu. 111. Kriele

Als Kritiker der Differenzierung zwischen richterlicher Rechtsfindung secundum und praeter legern ist schließlich noch Kriele zu nennen: Auf den ersten Blick hat es zwar den Anschein, als wolle er an jener Unterscheidung festhalten 11 • Er meint nämlich, sie habe bei der "sekundären Legitimierung der juristischen Ergebnisse am Gesetz ihren Ort"12. Tatsächlich bezeichnet er aber diese Differenzierung als "jiktiv"13, wobei er zur Begründung geltend macht: Das von der h. M. angenommene Abgrenzungskriterium für die fragliche Unterscheidung, der "mögliche Wortsinn des Gesetzes", sei derart fließend, daß es praktisch gar nichts mehr bedeutel4 • Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 117. S. 117 Anm. 6; weiter S. 175. 8 So in Grundsatz und Norm, u. a. S. 23 f., S. 84 (a. E.) f., S. 119 (und durchgehend); Vorverständnis aaO, u. a. S. 33 f., 39, 45, 56 f., 59, 194 (und durchgehend). 9 Siehe oben, Anm. 7. 10 Vgl. Vorverständnis aaO, S. 194. 11 Vgl. Theorie der Rechtsgewinnung, S. 312, Leitsatz 8; S. 221. 12 S. 312 aaO. 8

7

13

S.256.

S. 223: "Das Abgrenzungskriterium ,möglicher Wortsinn' ist nicht nur zwar vage aber immerhin noch brauchbar. Es ist vielmehr so vage und durch die Möglichkeit technischer Festlegung des Wortsinns so manipulierbar, daß es praktisch gar nichts mehr bedeutet." 14

110

1. Abschn.: Problemstellung - Kap. 4

IV. Hans-Peter Schneider Er spricht von der "fragwürdigen methodologischen Unterscheidung zwischen Rechtsfortbildung intra, praeter und contra legem"15. Zur Verdeutlichung des Standpunkts von Schneider seien hier seine Ausführungen zum Verhältnis Gesetzesauslegung/Rechtsfortbildung wiedergegeben: "Wenn der Richter nicht nur bei der gesetzesergänzenden ,Lückenfüllung', sondern schon bei jeder einfachen Gesetzesauslegung (namentlich bei der Konkretisierung von Generalklauseln und sog. ,normativen Rechtsbegriffen') ... ,wirkliches Recht' überhaupt erst herstellt, dann folgt daraus die prinzipielle Unmöglichkeit, zwischen Rechtsanwendung, Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung noch sinnvoll zu unterscheiden18." § 2. Konsequenzen dieser Kritik für den Gesetzesvorbehalt des Strafrechts (Art. 103 11 GG) und des öffentlichen Rechts?

1. Wer die Unterscheidung zwischen Auslegung des Gesetzes und gesetzesergänzender Lück.enfüllung kritisiert, muß sich der Frage stellen: Welche Bedeutung kommt dann eigentlich noch dem Verfassungsgebot des Art. 103 H GG (nullum crimen sine lege) und dem Gesetzesvorbehalt für hoheitliche Eingriffel in Freiheit und Eigentum zu? Sollen etwa Strafen, strafprozessuale Zwangsmaßnahmen oder andere hoheitliche Eingriffe auf Gesetzesanalogie oder gar auf Rechtsanalogie gestützt werden können? H. 1. Mennicken nimmt zu jener Frage wie folgt Stellung: Das strafrechtliche "Analogieverbot" bedeute keine Bindung des Richters an den Gesetzeswortsinn 2 ; die analoge Anwendung von Strafgesetzen sei durch Art. 103 H nicht eingeschränkts. Vielmehr sei das strafrechtliche "Analogieverbot" in das "Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit" mit der Maßgabe einzuordnen, daß "die Grenze zulässiger teleologischer Auslegung" durch Abwägen der Rechtswerte (Gerechtigkeit und Rechtssicherheit) in jedem Einzelfall zu ermitteln sei·. Diese letztere These Mennickens läßt mehr Fragen offen, als sie beantwortet. Wirklich klar ist nur, daß er die "formale Auslegungsgrenze" 15 Döv 1975, S. 443, 450. Dabei ist mit "Rechtsfortbildung intra legern" offensichtlich die im Wege der Gesetzesauslegung erfolgende gemeint. 18 DÖV 1975, S. 447. 1 Dazu oben, Kapitel 1, § 2 II. : Mennicken, aaO, S. 14; S. 103 Anm. 126. a Das ergibt sich aus seiner Zustimmung zu der oben - Kapitel 1, § 3 II 2 b, mit Anm. 41 -, dargelegten Ansicht von Sax; vgl. Mennicken, S. 103 Anm. 126. , S. 84; 103 mit Anm. 126.

1.

Abschn.: Problemstellung - Kap. 4

111

Wortsinn des Gesetzes nicht akzeptiert. Im übrigen aber erscheint sein Verständnis des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts als nicht hinreichend verdeutlicht. 2. Was Esser betrifft, so bleibt ungewiß, welche Konsequenzen sich für ihn aus seinen Vorbehalten gegen die Unterscheidung der Rechtsfindung secundum legern von der praeter legern erfolgenden für das strafrechtliche "Analogieverbot" - das er in "Grundsatz und Norm" als "fundamentale Rechtswahrheit" gewürdigt hat5 sowie für den Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts ergeben. 3. Diese für Esser getroffene Feststellung gilt entsprechend auch für Kriele, wenn ich ihn recht verstanden habe: Wie Esser äußert - soweit ersichtlich - auch er sich nicht näher zur Problematik des "Analogieverbots" oder des öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalts. 4. Auch bei Schneider wird nicht hinreichend deutlich, welche Konsequenzen sich aus der Kritik an der Differenzierung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung praeter Zegem für den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt (Art. 103 I! GG) und den Vorbehalt des Gesetzes für hoheitliche Eingriffe ergeben: Zwar geht Schneider davon aus, Art. 103 I! GG beinhalte ein "striktes Analogieverbot" , das die richterlichen Möglichkeiten "selbständiger Rechtsfindung stark einschränke"'. Und er meint zudem, die richterliche Entscheidungsmacht werde auch durch den öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalt begrenzt7. Eine nähere Präzisierung dieser Schranken richterlicher Rechtsfortbildung wird von Schneider aber nicht geleistet. Vielmehr wird die Ansicht, der mögliche Wortsinn des Gesetzes sei Auslegungsschranke, ausdrücklich verworfen 8 • Damit hinterläßt Schneider beim Leser Ratlosigkeit; denn der Leser fragt sich, wie die Kritik an der Unterscheidung Auslegung/RechtsfortbiZdung praeter Zegem zu dein Bekenntnis zu einem "strikten Analogieverbot" im Strafrecht paßt - ohne auf diese Frage Antwort zu erhalten. II!. Gegenüber dieser Kritik an der Differenzierung zwischen richterlicher Rechtsfindung secundum legern (Gesetzes auslegung) und praeter legern (gesetzesergänzende Lückenfüllung) sind wir der folgenden überzeugung: 5 6

7 B

S.154. DOv 1975, S. 450. S.449. S.450.

112

1.

Abschn.: Problemstellung - Kap. 4

1. An jener Unterscheidung ist auch heute noch - ungeachtet der Einsicht in den rechtsfortbildenden (normvollendenden) Charakter der Interpretation - festzuhalten;

2. die fragliche Differenzierung ist für die Deutung des Gesetzesvorbehalts nach Art. 103 II GG und das Verständnis des öffentlichrechtliehen Gesetzesvorbehalts entscheidend: Jene Gesetzesvorbehalte beschränken die richterliche Rechtsfortbildung in ihrem Geltungsbereich auf den Rahmen der Gesetzesauslegung und schließen die - über diesen Rahmen hinausgehende - Rechtsfindung praeter legern aus. Das bedarf näherer Darlegung, und diese ist Gegenstand der folgenden Abschnitte.

Zweiter Abschnitt

Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen für die richterliche Rechtsfindung secundum legem Kapitel 5

Zur Deutung der Gesetze als Regelungsrahmen § 1. Die Rechtsnorm als gesetzliche Ermächtigung zur Rechtsfortbildung innerhalb ihres Rahmens I. Zum Wesen der Rechtsnorm 1. Die Darstellung hatte an früherer Stelle die Rechtsnorm als Bestimmungs- und Bewertungsnorm charakterisiertl • Die späteren Ausführungen zum normbildenden (normvollendenden) Wesen der Gesetzesauslegung hatten dann die folgenden für das Normverständnis bedeutsamen Erkenntnisse erbracht2 :

Generalklauseln und kasuistische Regelungen mit unbestimmten und normativen Rechtsbegriffen sind keine "fertigen" Normen, deren Sinn und Bedeutungsumfang dem Richter bereits vorgegeben sind und von ihm im Wege einer als Erkenntnisakt verstandenen Gesetzesauslegung lediglich festgestellt werden. Vielmehr sind jene gesetzlichen Regelungen noch "unfertig" in dem Sinne, daß sie der normfortbildenden, normergänzenden, normvollendenden Auslegung (Konkretisierung) im Hinblick auf den zu entscheidenden Fall bedürfen. Dabei beinhalten Generalklauseln sowie unbestimmte und normative Rechtsbegriffe die gesetzliche Ermächtigwng zu dieser richterlichen Rechtsfortbildung im Rahmen der anzuwendenden Gesetzesnorm. Da nun grundsätzlich jeder Rechtsbegriff - in mehr oder weniger starkem Maße - unbestimmt und normativ ist, stellt folglich im Grundsatz jede sogen. "Gesetzesanwendung" einen solchen normbildenden (normvollendenden) Akt dar. Das Verständnis der Rechtsnorm als Bestimmungs- und Bewertungsnorm ist demgemäß wie folgt zu präzisieren: Gesetze als Bestimmungs- und Bewertungsnormen sind grundsätzlich nicht mehr als nur Regelungsentwürfe, die der normvollendenden Kon1 2

Kapitel 2, § 1 12 b (1). Vgl. Kapitel 3.

8 Krey

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 5

kretisierung durch Bildung richterlichen Fallrechts bedürfen, und zugleich die gesetzlichen Ermächtigungen an den Richter zu dieser Normvollendung als "Rechtsfortbildung im Rahmen der anzuwendenden Norm". Danach ist die Rechtsnorm als Regelungsrahmen zu charakterisieren3 • 2. Der Rechtsnorm als Regelungsrahmen für die richterliche Rechtsfortbildung kommt dabei eine Doppelfunktion zu: a) Einmal die bereits hervorgehobene Delegationsfunktion des Gesetzes, die darin liegt, daß unbestimmte und normative Rechtsbegriffe den Richter zu ihrer Konkretisierung im Wege der Bildung richterlichen Fallrechts ermächtigen, also Normbildungsaufgaben delegieren. Daraus resultiert, daß die richterliche Rechtsfortbildung, soweit sie innerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen (intra legern) erfolgt, zunächst eine formale, äußere Legitimation durch das "angewendete" Gesetz erfährt, die in seiner Kompetenzzuweisung liegt. b) Zum anderen kommt der Gesetzesnorm als Regelungsrahmen aber auch eine materiale, inhaltliche Legitimationswirkung für die richterliche Rechtsfortbildung intra legern zu. Denn das Gesetz als Regelungsrahmen ist ja kein inhaltsleeres Blankett, keine bloße Sprachhülse4 : (1) Selbst bei Generalklauseln und kasuistischen Regelungen mit sehr unbestimmten, wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen gibt es für die Frage ihrer Anwendbarkeit Fälle positiver und negativer Gewißheit, d. h. Fälle, bei denen es vernünftigerweise klar ist, daß sie von der fraglichen Regelung erfaßt werden, und Fälle, bei denen nicht ernstlich angezweifelt werden kann, daß diese Regelung für sie keine Geltung beansprucht. Selbst bei einem so vagen Rechtsbegriff wie dem der "sexuellen Handlung von einiger Erheblichkeit" (§ 184 c StGB n. F.) lassen sich derartige Fälle positiver bzw. negativer Gewißheit feststellen: Sicherlich fällt der Beischlaf unter den Begriff der "sexuellen Handlung" im Sinne des § 176 I StGB; umgekehrt ist der flüchtige Wangenkuß gewiß keine "sexuelle Handlung" im Sinne dieses Strafgesetzes. (2) Was solche Fälle positiver Gewißheit angeht, kann man von dem "Bedeutungskern" der Rechtsnorm sprechen, und was Zweifelsfälle betrifft - FäHe weder positiver noch negativer Gewißheit -, vom "Bedeutungshof" der gesetzlichen Regelung5 • Dieser Bedeutungshof der Rechtsnorm ist der eigentliche Bereich des Gesetzes als Regelungsrahmen, der richterlicher normvollendender Konkretisierung bedarf. Schrifttumsnachweise unten, 11. Vgl. auch unten, Kapitel 7, § 111 2 a; § 2. 5 Analog der Unterscheidung Begriffskern/Begriffshof für die semantische Seite der Norm. 8 4

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Bei dieser Konkretisierung nun kommt dem Gesetz als Regelungsrahmen eine Richtlinienfunktion zu; mit dieser Richtlinienfunktion hat es folgende Bewandtnis: (a) Bei der normfortbildenden richterlichen Entscheidung der Frage, ob eine gesetzliche Regelung auf den zu entscheidenden Fall (X) anzuwenden ist, muß Ausgangspunkt die Vergegenwärtigung des Bedeutungskernes der Rechtsnorm sein. Die entscheidungserhebliche Fragestellung geht anschließend dahin: Ist es unter Berücksichtigung des Regelungszwecks der fraglichen Norm, der ihr zugrundeliegenden rechtspolitischen Wertung sachgerecht oder nicht, den Fall X den von dieser Norm zweifelsfrei erfaßten Fällen gleichzustellen? Maßgeblich für die Ausfüllung (Konkretisierung) der Gesetzesnorm als Regelungsrahmen im Wege der Bildung richterlichen Fallrechts ist demnach die Rechtsfindungsmethode des "abwägenden Typenvergleichs", des "Fallvergleichs" , des "Schlusses vom Ähnlichen auf Ähnliches "6; diese Rechtsfindungsmethode beherrscht also bereits den Bereich der Gesetzesauslegung7 oder genauer, den Bereich der normfortbildenden Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens. (b) Danach läßt sich die Richtlinienfunktion des Gesetzes für die richterliche Ausfüllung von gesetzlichen Regelungsrahmen dahin umschreiben, daß diese Rechtsfortbildung intra legem beherrscht wird von der "analogischen" Methode des Fallvergleichs, des Schlusses vom Ähnlichen auf Ähnliches, wobei dieser "analogische Schluß" ausgeht von dem Bedeutungskern der fraglichen Rechtsnorm und ausgerichtet ist an ihrer ratio legis, an ihrem Regelungszweck, an der ihr zugrundeliegenden rechtspolitischen Wertung. c) Zusammenfassend läßt sich also die Bedeutung des gesetzlichen Regelungsrahmens für die ihn ausfüllende richterliche Normkonkretisierung als Delegationsfunktion und Richtlinienfunktion charakterisieren; dabei entfaltet das Gesetz bei der richterlichen Rechtsfortbildung (Normvollendung) innerhalb seines Rahmens durch die Delegationsfunktion eine formale, durch seine Richtlinienfunktion eine materiale Legitimationswirkung 8 • Dazu bereits oben, Kapitell, § 2 I 1 a mit Nachweisen. So insbesondere Zippelius, HeUer, Arthur Kaufmann, Hassemer, Stratenwerth, Jescheck, Hruschka, Roxin, Wiedemeyer, Danckert und Sax (vgl. oben, Kapitell aaO, Anm. 9; vgl. weiter aaO, Anm.l0). So jetzt auch Arzt, Die Strafrechtsklausur, S. 9 (= JuS 1970, S. 513): "Man fragt danach, ob der Sachverhalt den evident von der Norm erfaßten Sachverhalten genügend ähnlich" ist, um seinerseits unter die Norm zu fallen (Hervorhebungen vom Verf.). 8 Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse: Mit der "Richtlinienfunktion" des gesetzlichen Regelungsrahmens und der auf ihr beruhenden materialen Legitimationswirkung ist keineswegs gemeint, daß bei der "Gesetzes8 7



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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 5 11. Zur Deutung der Redatsnorm als Regelungsrahmen im Schrifttum

Die dargelegte Deutung der Gesetzesnorm als Regelungsrahmen für die herkömmliche "Gesetzesanwendung" genannte richterliche Rechtsgewinnung findet sich in mehr oder weniger großer inhaltlicher übereinstimmung bereits bei anderen Autoren; hier seien insbesondere genannt1 :

1. Oskar v. Biilow An erster Stelle ist hier Biilow ("Gesetz und Richteramt", 1885) zu erwähnen; ihn haben wir schon an früherer Stelle zu Wort kommen lassen!, so daß hier die folgende knappe Feststellung genügen kann:

Biilow sieht in der Gesetzesnorm lediglich den "Entwurf zur Bewirkung einer rechtlichen Ordnung", den der Richter im Hinblick auf die Bedürfnisse des konkreten Falles "zu En.de zu denken" habe. Diese Vorstellung vom Gesetz als Regelungsentwurf, der der normvollendenden richterlichen Konkretisierung bedarf, deckt sich im wesentlichen mit unserem Bild der Gesetzesnorm als Regelungsrahmen.

2. Esser Bereits in seinem großen Werk "Grundsatz und Norm" spricht Esser von der "Gesetzesformulierung" als einem "Rahmen", einem "Schema", dessen Wirksamkeit von der Jurisprudenz abhänge3 ; an anderer Stelle bezeichnet er die Gesetzesnorm dort als "Modell" für den "richterlich zu bildenden Gebotsinhalt"4. Dieses Normverständnis findet sich dann durchgehend in Essers späterem Werk "Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung": anwendung" die richterliche Rechtsfindung durch das Gesetz vollinhaltlich

determiniert sei. Vielmehr will die Formel von der Richtlinienfunktion nicht

mehr besagen als dies: Die rechtsfortbildende (normvollendende) Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens erfolgt ja nicht im "gesetzesfreien Raum", ohne jede inhaltliche (materiale) Auswirkung der Gesetzesnorm auf das Rechtsfindungsergebnis. Sondern das Gesetz bietet - ohne dieses Ergebnis richterlicher Normkonkretisierung voll programmieren zu können - durch seinen Bedeutungskern und seine ratio Maßstäbe, Anhaltspunkte, eben: Leitlinien für den Richter, nicht weniger, aber auch nicht mehr; denn daß auch die "ratio legis", der "Regelungszweck", die der Norm zugrundeliegende "rechtspolitische Wertung" grundsätzlich keine "Zauberformeln" sind, mit denen der Richter neu auftretende Rechtsfragen ohne ergänzende Eigenwertung lösen könnte, ist jedem bekannt, der die Rechtssprechung verfolgt. 1 Zu Kelsen vgl. unten, § 2. 2 Siehe Kapitel 2, § 1 12 a (5) (a); Kapitel 3 vor § 1. a S.292. 4 aaO, S. 256.

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Dort umschreibt er die Gesetzesnorm mit den Formulierungen "Regelungsmuster"5, "Regelungsmodell"e, "sachbestimmtes Ordnungsmodell'" und "Raster"8. Alle diese Begriffe sollen der Sache nach dasselbe aussagen, nämlich die "Unfertigkeit" der Gesetzesnorm, die der normbildenden (normvollendenden) Konkretisierung durch die Judikatur bedarf, zum einen, und eine Art Richtlinienfunktion des Gesetzes bei der "Rechtsfortbildung innerhalb seines Rahmens" zum anderen. 3. Friedrich Müller

Wie bei Esser findet sich auch bei Müller die Charakterisierung der Rechtsnorm als "sachbestimmtes Ordnungsmodell"u, das noch der richterlichen Konkretisierung als "normorientiertem Entwickeln der Entscheidungsnorm" bedarf10• 4. Lemmel

Er hebt den rechtsfortbildenden Charakter der Gesetzesauslegung hervorl l und kommt dann zu der These: Das Gesetz sei für den Strafrichter nur eine unter mehreren Erkenntnisquellen, ja es bilde "überhaupt nur den Rahmen für die Rechtsprechung"I:!. 5. Nickel

Wie unsere Darstellung wertet Nickel die Konkretisierung unbestimmter und normativer Rechtsbegriffe im Strafrecht als eine "im Verhältnis zum Strafgesetzgeber und zum Strafgesetz kooperative strafrichterliche Rechtsfindung" und spricht dabei von den Strafgesetzen als "Rahmen"13. 6. Arthur Kaufmann

Auch bei ihm findet sich das Bild von der Auslegung als "einem Stück punktueller Rechtsfortbildung" innerhalb des Gesetzes als "Rahmen"u. S.31,56, 114, 117,136,165,187,200. s. 31, 56. , S.31. 8 S.200. D Juristische Methodik, S. 47,70,109, 111, 126 (a. E.), 193. 10 aaO, S. 127. 11 Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen im Besonderen Teil des Strafrechts und der Grundsatz nullum crimen sine lege, S. 68 - 70. 11 aaO, S. 170 (Hervorhebung von Lemmel). 18 Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz "nullum crimen sine lege", S. 177 f. 14 Gesetz und Recht, S. 387. 5

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7. Wolfgang Meyer Die Deutung der Gesetzesnorm als Regelungsrahmen findet sich jetzt besonders klar bei Meyer 15 : Er spricht von dem Gesetz als "Rahmen und Spielraum eigenverantwortlicher Entscheidung" für den Richter. Und demgemäß unterscheidet er bei der Gesetzesauslegung zwischen zwei Fragen: (1) Was hat der Gesetzgeber bereits entschieden? (2) Wie ist der verbleibende Spielraum für die normergänzende, normvollendende richterliche Rechtsfindung auszufüllen?

8. Niklas Luhmann a) In seiner "Rechtssoziologie" findet sich die Formulierung von dem "Deutungsspielraum" der Gesetzesnorm, den diese der richterlichen Rechtsfindung biete u1 • Danach scheint es, als könne sich unser Normverständnis auch auf Luhmann stützen. b) Indes darf nicht übersehen werden, daß Luhmanns Rechtsdenken geprägt ist von einer Deutung des Verhältnisses zwischen Gesetzgebung und richterlicher Rechtsfindung, die wir mit Esser l7 und Schwerdtner 18 nicht zu teilen vermögen: Luhmann nimmt nämlich für das Verhältnis Gesetzgebung/Rechtsprechung eine noch "sehr viel weitergehende funktionale Differenzierung des Rechtsentscheidungsprozesses" an, als sie der "herkömmlichen Lehre von der Gewaltenteilung" vorgeschwebt habe19. Die Gesetzgebung sieht er als "programmierende", die richterliche Rechtsfindung dagegen als "programmierte Entscheidung" an20 • Typischerweise handele der Gesetzgeber nur unter "Zweckprogrammen", die "mehr oder weniger wn,bestimmt vorgegeben seien bis zur Aufgabe, das Gemeinwohl zu fördern"; dabei habe die Legislative für Folgen ihrer Rechtsentscheidungen politisch einzustehen21 . Demgegenüber erfolge die richterliche Entscheidung grundsätzlich unter "konditionaler Programmierung"!2, was besagen wolle: Der heutige Jurist finde seine Entscheidungsaufgabe "typisch konditional programmiert vor und nicht primär durch Zwecke ... festgelegt"; sein Programm habe die Form "Wenn-Dann", und seine JuS 1973, S. 203. Rechtssoziologie, Bd. 2 S. 231. 17 Vgl. Vorverständnis und Methodenwahl aaO, S. 202 ff., insbesondere S. 209 (a. E.) ff. 18 Rechtstheorie 1971, S. 71 - 73. 19 Rechtssoziologie, S. 240. zo aaO, S. 240 - 242; ders. AöR 1969, S. 1 ff., 3 (Hervorhebungen vom Verf.). !1 Rechtssoziologie, S. 241 (Hervorhebungen vom Verf.). !2 aaO, S. 227 ff.; ders. AöR aaO. 15 18

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Aufgabe sei es herauszufinden, ob die "Wenn-Bedingungen" erfüllt seien23 • Dabei sei der Richter von der "Prüfung aller wertrelevanten Folgen seiner Entscheidung entlastet" 24, trage auch keine rechtspolitische Mitverantwortung für die Ergebnisse seiner "programmierten" Gesetzesanwendung. Diese Deutung der richterlichen "Gesetzesanwendung" als vom Gesetz "programmierter Entscheidung", bei der die Rechtsprechung davon entlastet sei, die Folgen ihrer Entscheidung zu berücksichtigen, und bei der teleologische Erwägungen nur hilfsweise nötig seien 25 , ist nicht eben wirklichkeitsnah: Zwar täte man Luhmann Unrecht, wollte man sein Bild von der programmierenden Normsetzung und der programmierten Normanwendung dahin verstehen, als sei die letztere stets vom Gesetz inhaltlich voll determiniert, also nur ein Erkenntnisakt; dem steht schon Luhmanns oben erwähnte Formulierung vom Deutungsspielraum der Rechtsnorm entgegen2t• Sein Richterbild berücksichtigt aber nicht hinreichend, in welchem Umfang heute die Rechtsfortbildung durch den Richterspruch erfolgt - ja aufgrund der Natur der Sache, die zu arbeitsteiligem Zusammenwirken von Gesetzgebung und Rechtsprechung bei der Normbildung zwingt, erfolgen muß. Luhmanns Differenzierung zwischen programmierender und programmierter Rechtsentscheidung - auch wenn sie nur idealtypisierend gemeint ist - wird nicht genügend der rechtstheoretischen Erkenntnis gerecht, nach der Rechtsnormen mit unbestimmten und normativen Rechtsbegriffen - und damit grundsätzlich alle Rechtsnormen - die Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung innerhalb ihres Rahmens ermächtigen. Schwerer wiegt aber, daß Luhmann die entscheidende Bedeutung teleologischer, wertender Erwägungen bei der richterlichen Rechtsfindung verkennt; gerade hierin zeigt sich, daß sein Verständnis von richterlicher "Gesetzesanwendung" nicht dem Stand rechtstheoretischer Forschung entspricht. Und schließlich bedarf noch Luhmanns These der Richtigstellung, die wertrelevanten Folgen seiner Entscheidung brauche der Richter grundsätzlich nicht zu berücksichtigen und für sie treffe ihn auch keine rechtspolitische Verantwortung. AöR aaO (Hervorhebung vom Verf.). Rechtssoziologie aaO, S. 232; weiter AöR aaO. Ähnlich Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 31 ff. (35, 38), 48, 49. 25 aaO. Diese Vorstellung findet sich auch in Luhmanns Schrift "Legitimation durch Verfahren" (1969); dazu Esser aaO, S. 202 ff., S. 209 (a. E.) f. 28 Vgl. auch Rechtssoziologie, S. 264, wo Luhmann von der durch gesetzliche "Entscheidungsprogramme schon stark reduzierten" - aber eben noch nicht aufgelösten - "Komplexität" spricht. !S U

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Richtig ist zwar, daß es "zwingend zum Stil der juristischen Entscheidungsarbeit unter konditionalen Programmen (gehört), daß mit dem Wenn auch das Dann gesetzt ist"27; ebenfalls zutreffend ist, daß die Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge in die rechtspolitische Verantwortung des Gesetzgebers fällt. Luhmann ist aber folgendes entgegenzuhalten:

Bei der richterlichen Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens ist es legitim, auch rechtspolitische - im Strafrecht: kriminalpolitische - Erwägungen anzustellen oder genauer: im Rahmen der Rechtsnorm die sozial richtigste Lösung zu suchen 28 . Eine solche "ergebnisbezogene Auslegung"29 erfordert aber naturgemäß, daß der Richter auch die Ergebnisse, d. h. in erster Linie die generell zu erwartenden Folgen im sozialen Umfeld, bei seiner Rechtsfindung wertend berücksichtigt. Und was Luhmanns Leugnen der rechtspolitischen Mitverantwortung des Richters für sein Auslegungsergebnis betrifft, so ist gewiß richtig, daß der unabhängige Richter nicht politisch verantwortlich für seine Rechtsentscheidungen ist30 ; daß er aber schon bei der "Gesetzesanwendung" wegen des Rechtssoziologie, S. 231. Zur Notwendigkeit kriminalpolitischer Erwägungen bei der Gesetzesauslegung im Strafrecht vgl. nur Arzt, Die Strafrechtsklausur, S. 12 - 19 (= .TuS 1970, S. 567 f.), und insbesondere auch Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem (u. a. S. 10 ff.). Allgemein zur ergebnisbezogenen Auslegung, d. h. zur Folgenorientierung der Normkonkretisierung, die in Anm. 29 genannten Autoren, zudem Diederichsen, Die "reductio ad absurdum", S. 157 ff., 175 ff. (mit Beispielen aus dem Strafrecht auf S. 159 f., 175 f.). !O Zur "ergebnisbezogenen Auslegung" vgl. insbesondere: Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, S. 7 f., 123, 134, 136, 195, 210 und durchgehend: Esser spricht von "finaler Rechtsfindung" im Sinne "begleitender Ergebniskontrolle" (aaO, S. 136, 139 [a. E.] f., 143, 159, 170). Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 214 (a. E.) f., 220, ~21, 272 ("Kalkulation der Normkonsequenzen"). Betti, Die Problematik der Auslegung in der Rechtswissenschaft, S. 207: Unter mehreren möglichen Interpretationen eines Gesetzestextes gebühre jener der Vorzug, "die den ethischen Forderungen oder sozialen Bedürfnissen der Gemeinschaft am ehesten gerecht wird". Ebenso Betti, Allgemeine Auslegungslehre, S. 610. Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, S. 389; NoH,.TZ 1963, S. 301; Schwerdtner, Rechtstheorie 1971, S. 87; Stark, .TZ 1973, S. 609; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 16 f.; Waider, Zur Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen für Methodologie und Systematik des Strafrechts, S. 226 (a. E.); Wiedenbrüg, .TuS 1973, S. 420. Zum Abstellen auf das vernünftige, gerechte Ergebnis bei der Gesetzesauslegung in der Rechtsprechung vgl. nur BGH St 5, 136, 138 (a. E.) f., sowie - als Paradebeispiel ergebnisbezogener Auslegung - RG St 74, 84 (Badewannen-Fall); zu dieser Entscheidung des RG instruktiv Hartung, .TZ 1954, 27

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S.430.

Kritisch zur ergebnisbezogenen Auslegung u. a. Roth-Stielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, S. 49. 30 Dem steht schon seine persönliche Unabhängigkeit (Art. 97 GG; §§ 25 ff. DRiG) entgegen.

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grundsätzlich rechtsfortbildenden (normvollendenden) Charakters der Gesetzesauslegung eine rechtspolitische Mitverantwortung für seine Rechtsfindung trägt, läßt sich schwerlich leugnen31 • c) LUlhmanns zutreffende Formulierung von dem "Deutungsspielraum", den die Rechtsnorm der richterlichen Rechtsfindung biete, wird danach durch seine Unterbewertung der rechtsfortbildenden Komponente bei der Normkonkretisierung relativiert.

§ 2. Zum Verhältnis der hier vertretenen Ansicht zu Kelsens Normverständnis

I. Kelsens Deutung der Gesetzesnorm als Regelungsrabmen 1. Das Normverständnis Kelsens 1 beruht auf seiner Lehre vom "Stufenaufbau der Rechtsordnung"2; diese Lehre besagt für das Verhältnis von angewandter Rechtsnorm und richterlicher Normanwendung folgendes:

Wie in "Anwendung der Verfassung" durch die Legislative die Setzung der einfachgesetzlichen Rechtsnormen erfolge, so erzeuge der Richter in "Anwendung" dieser Gesetzesnormen rangniedere Normen: In beiden Fällen werde durch die "Anwendung" ranghöherer Normen eine rangniedere gebildet; und in beiden Fällen sei also "Rechtsanwendung zugleich Rechtserzeugung"3. Der Unterschied zwischen diesen beiden Fällen sei nur ein "quantitativer, kein qualitativer", und er bestehe nur darin, Schwerdtner aaO, S. 73, 235; Esser aaO, S. 18,27,174,190,196. Rechtssprechung ist also letztlich auch "ein politisches Geschäft": Schwerdtner aaO, S. 232, 234; Esser, Grundsatz und Norm, S. 125; Säcker, ZRP 1971, S. 147, 149; Fritz Werner, Das Problem des Richterstaates, S. 194 (in den "Bemerkungen zur Funktion der Gerichte in der gewalten teilenden Demokratie", S. 171, spricht Werner aber - zu Unrecht - vom Strafrecht als "unpolitischem Bereich"); Benda-Kreuzer, JZ 1972, S. 498; Redeker, NJW 1972, S. 413; Kern/Wolff, Gerichtsverfassungsrecht, S. 98; Henkel, Bemerkungen zum Verhältnis von Recht und Politik, S. 45 f. Aus dieser Erkenntnis resultiert die Diskussion um die demokratische Legitimation der Dritten Gewalt; dazu insbesondere Säcker aaO, S. 145 ff.; vgl. weiter Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, S. 37 f.; Schwerdtner aaO, S. 235; Scholz, DB 1972, S. 1776 f. (mit Anm. 82); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts S. 219; A. Arndt, NJW 1963, S. 1280; Redeker, NJW 1972, S. 414; v. Unruh, Richteramt und politisches Mandat, S. 21; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 196 ff., 204; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S. 32 f., 65, 99, 174; Dubischar, Vorstudien zur Rechtswissenschaft, S. 123; Merten, DVBI 1975, S. 682; H.-P. Schneider, DÖV 1975, S. 447, 452. 1 Zur "Reinen Rechtslehre" Kelsens vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 74 ff. mit Niichweis von Kelsens Schriften. 2 Dazu Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228 ff. a aaO, S. 240, weiter S. 346 ff., 351 (Hervorhebung vom Verf.). 31

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"daß die Bindung des Gesetzgebers in materieller Hinsicht eine viel geringere ist als die Bindung des Richters, daß jener bei der Rechtsschöpfung verhältnismäßig viel freier ist als dieser"4. Ungeachtet dieses "quantitativen" Unterschieds sei aber eben auch der Richter NOTmschöpfeT; und auch er sei "bei dieser Funktion relativ frei"5: Denn die Normen höherer Ordnung - also im Verhältnis angewandtes Gesetz / richterliche Gesetzesanwendung die Gesetzesnorm regelten zwar nicht nur das "Verfahren, in dem die niedere Norm gesetzt werde", sondern könnten darüber hinaus "auch den Inhalt der zu setzenden Norm" - also das Rechtsfindungsergebnis bei der Gesetzesanwendung - "bestimmen"o. Diese inhaltliche Determinierung sei aber niemals vollständig, könne es schon wegen des abstrakt-generellen Charakters von Gesetzen und wegen ihrer grundsätzlichen sprachlichen Mehrdeutigkeit nicht sein7 •

Kelsens Einsicht, daß die Norm höherer Stufe den Akt, durch den sie angewandt werde, "nicht nach allen Richtungen hin" binden könne8 , führt ihn zu der Feststellung: Die Norm höherer Stufe habe im Verhältnis zu dem sie anwendenden Akt "immer nur den Charakter eines durch diesen Akt auszufüllenden Rahmens"9. Für Kelsen ist die Gesetzesnorm danach lediglich ein Regelungsrahmen für die richterliche Normbildung, so daß er sagen kann: "Daß ein richterliches Urteil im Gesetz begründet ist, bedeutet in Wahrheit nichts anderes, als daß es sich innerhalb des Rahmens hält, den das Gesetz darstellt10•" 2. Bei der richterlichen " Anwendung " dieses gesetzlichen Regelungsrahmens unterscheidet Kelsen nun zwischen der Feststellung dieses Rahmensl l - oder anders ausgedrückt: der Feststellung, welchen Spielraum das Gesetz der ergänzenden Wertentscheidung des Richters beläßt -, einerseits und der Ausfüllung dieses Rahmens andererseits l2 ; diese Differenzierung ist grundlegend für sein Verständnis von Gesetzesauslegung: aaO, S. 351. aaO (Hervorhebung vom Verf.). 8 aaO, S. 347. 7 aaO, S. 347 f. 8 aaO. • aaO, und S. 349, 351 (Hervorhebung vom Verf.). 10 aaO, S. 349. 11 aaO, S. 349 - 353. In der Sache ebenso jetzt W. MeyeT (oben, § 1 II 7). 12 Kelsen aaO. 4

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a) Die Funktion der Gesetzesinterpretation - die Kelsen als reinen Erkenntnisakt deutet13 - soll sich nach seiner Meinung in der Feststellung des gesetzlichen Rahmens erschöpfenl4 • Das Ergebnis einer Gesetzesinterpretation könne - wie er meint - "nur die Feststellung des Rahmens sein", den das zu interpretierende Recht darstelle, und damit "die Erkenntnis mehrerer Möglichkeiten", die innerhalb dieses Rahmens gegeben seienl5 • Die "möglichen Bedeutungen der Rechtsnorm herauszustellen", den richterlichen Entscheidungsspielraum, den sie biete, festzustellen, mehr vermöge die - "bloß erkenntnismäßige" - rechtswissenschaftliche Interpretation nichtiG. b) Was die Ausfüllung des festgestellten Rahmens der Gesetzesnorm angeht, meint Kelsen, diese Komponente der richterlichen Gesetzesanwendung erfolge nach dem "freien Ermessen des Richters"17; sie sei ein "Willensakt, in dem das rechts anwendende Organ eine Wahl (treffe) zwischen den durch die erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten"18: "Das anzuwendende Recht - so sagt Kelsen - bildet nur einen Rahmen, innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Anwendung gegeben sind, wobei jeder Akt rechtmäßig ist, der sich innerhalb dieses Rahmens hält, den Rahmen in irgendeinem möglichen Sinne ausfüllt I8."

Kelsen wendet sich damit entschieden gegen die Vorstellung von der "einen richtigen Auslegung" und stellt dem seine These entgegen, es gebe vom positiv rechtlichen Standpunkt aus keine Methode für die "richtige" Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens, für die Auswahl unter den in diesem Rahmen liegenden "Auslegungsmöglichkeiten"; jede dieser Möglichkeiten entspreche dem positiven Recht, und der Richter wähle unter ihnen nach seinem rechtspolitischen Ermessen aus20 • Danach ist für die rechtswissenschaftliehe Methodenlehre bei der Gesetzesanwendung außerhalb des Bereichs bloßer Rahmenfeststellung aaO. aaO. IG aaO, S. 349. 18 aaO, S. 352 f. 17 aaO, S. 347, 349 ff. (Hervorhebung vom Verf.). 18 aaO. Danach geht Kelsen von einem generell bestehenden richterlichen Tatbestandsermessen aus (zu diesem vgl. bereits oben, Kapitel 3, § 2 II 3 b [2]). Wie Kelsen jetzt auch Ringhofer, Interpretation und Reine Rechtslehre, 13 14

S.205. 19 20

Kelsen aaO, S. 348 (a. E.). aaO, S. 347, 348 (a. E.), 351, 353.

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kein Raum%l: Die Frage, wie der gesetzliche Regelungsrahmen zu füllen sei, ist für Kelsen denn auch "kein rechtstheoretisches Problem"2.2. Diese Beschränkung der Aufgabe juristischer Interpretation beruht auf Kelsens Postulat der "Methodenreinheit", die seiner "Reinen Rechtslehre" zugrunde liegt: Kelsen hält den wissenschaftlichen Charakter der Jurisprudenz nur dann für gewährleistet, wenn diese sich von jeder Beeinflussung durch Tatsachenwissenschaften (insbesondere Soziologie) einerseits und von jeder Verknüpfung mit der Ethik andererseits freihältu; und dieser positivistischen Konzeption entspricht auch seine Ausklammerung rechtspolitischer Wertungen aus der Rechtstheorie!4. 11. Kritik

1. Es ist das Verdienst Kelsens, mit ungewöhnlicher Klarheit die Natur der Gesetzesnorm als Regelungsrahmen und den normbildenden Charakter seiner Ausfüllung durch die Rechtsprechung herausgestellt zu haben. Auch die von uns als "Delegationsfunktion" bezeichnete Komponente des gesetzlichen Regelungsrahmens1 läßt sich auf Kelsen stützen; denn die Delegation von Normbildungsaufgaben durch den gesetzlichen Regelungsrahmen auf den Richter und die daraus resultierende "formale Legitimationswirkung" dieses Rahmens für seine normvollendende Konkretisierung durch die Rechtsprechung ist ja eine der Grundaussagen von Kelsens "Stufentheorie" . Und letztlich wird auch die von uns "Richtlinienfunktion"2 genannte mehr oder weniger weitgehendeaber (grundsätzlich) "niemals vollständige" - inhaltliche Determinationswirkung der angewandten Gesetzesnorm auf das Rechtsfindungsergebnis bei der Gesetzesanwendung bereits von Kelsen hervorgehoben 3• 2. a) Widerspruch fordert jedoch Kelsens Wendung zum Voluntarismus bei der Frage nach der sachgerechten Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens. Hier begibt Kelsen sich praktisch auf das rechtstheoretische Niveau der Freirechtsbewegung4, wenn er diese Rahmenausfüllung in das rechtspolitische Ermessen des Richters stellt, d. h. dessen subjektives Rechtsgefühl zum alleinigen Maßstab macht. Dieser geaaO, S. 348 - 353. "Die Frage, welche der im Rahmen des anzuwendenden Rechtes gegebenen Möglichkeiten die "richtige" ist, ist - voraussetzungsgemäß - überhaupt keine Frage der auf das positive Recht gerichteten Erkenntnis, ist kein rechtstheoretisches, sondern ein rechtspolitisches Problem" (Kelsen aaO, S. 3508. E.). U Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 73 -76. !4 Kelsen aaO, S. 349 - 353, und oben, Anm. 22. lOben, § 1 I 2 a, c. ! Oben, § 1 aaO, b, c mit Anm. 8. 3 Kelsen aaO, S. 347, 351. 4 Zu dieser oben, Kapitel 2, § 1 I 2 a (5). 21

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nerellen Einräumung eines richterlichen Tatbestandsermessens 5 bei der Gesetzesanwendung ist entschieden zu widersprechen, wobei hier auf unsere oben8 dargelegten Einwände gegen die Annahme eines solchen richterlichen Ermessens verwiesen wird. b) Kelsens Zumutung, die Rechtswissenschaft solle sich auf die Aufgabe beschränken, durch Interpretation den Rahmen festzustellen, den die Gesetzesnorm der normvollendenden Rechtsfortbildung durch den Richter biete, und sie solle darauf verzichten, die Probleme der sachgerechten Ausfüllung dieses Rahmens als ihr Forschungsobjekt zu sehen, ist mit Larenz7 zu entgegnen: "Eine solche Beschränkung der Auslegung widerspricht allem, was die Rechtswissenschaft allenthalben und jederzeit tut. Man kann sich schwerlich eine Jurisprudenz vorstellen, die ihre Aufgabe in solcher Weise einengen ließe." Der entscheidende Grund für dieses Urteil über Kelsens Verständnis von Rechtswissenschaft liegt dabei in folgendem: Wie ausgeführt will Kelsen aus der Rechtswissenschaft rechtspolitische Erwägungen strikt ausscheiden und sie von (rechts-)soziologischen und ethischen Erwägungen freihalten. Dies " puristische " Verständnis von Jurisprudenz ist seit Jherings Entdeckung des (rechtspolitischen) Zweckes im RechtS, Hecks "Interessenjurisprudenz"l1 und deren Weiterbildung zur "Wertungsjurisprudenz"lO überholt. e) So ist Kelsens Rechtstheorie insoweit ein Rückschritt hinter die bleibenden Erkenntnisse von Jhering, von Heck und der Wertungsjurisprudenz; ein Rückschritt insbesondere auch gegenüber dem Grundanliegen der modernen Rechtstheorie, die wertenden Erwägungen des Richters bei der Rechtsfortbildung (innerhalb und auch außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen) soweit irgend möglich an objektiven, rationalen Maßstäben auszurichten und nicht vorschnell resignierend den Rückzug auf das subjektive Rechtsgefühl des Richters anzutretenl l . Siehe oben, I Anm. 18. Vgl. Kapitel 3, § 2 II 3 b (2). 7 aaO, S. 86 (a. E.). 8 Dazu Kapitel 2, § 1 12 a (4) (a). 9 Kapitel 2, § 1 12 a (4). 10 Kapitel 2 aaO, (b); Kapitel 2 aaO, 2 b. 11 Vgl. nur Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (durchgehend), und Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (durchgehend); Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, S. 6, 53 - 64. Vgl. jetzt aber auch Venzlaff, Über die Schlüsselstellung des Rechtsgefühls bei der Gesetzesanwendung (1973), S. 57 - 62, der im Ergebnis mit Kelsen übereinstimmt. 5

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3. Zusammenfassend läßt sich also sagen: In der Deutung der Gesetzesnorm als Regelungsrahmen für die richterliche Rechtsfindung stimmen wir mit KeZsen überein. Aber wir sehen anders als er nicht nur die Feststellung dieses Rahmens, sondern auch die Problematik seiner Ausfüllung als Aufgabe der Jurisprudenz12 ; und wir meinen, daß jene richterliche Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens nicht einfach nach dem subjektiven Rechtsgefühl des Richters als Richtigkeitsmaßstab erfolgen darf.

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Vgl. auch unten, Kapitel 8, § 2.

Kapitel 6

Der "mögliche Wortsinn" des Gesetzes als formale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens Was man herkömmlich "Gesetzesanwendung" nennt, hat sich im Verlauf der Darstellung als grundsätzlich normbildender (normvollendender) Akt erwiesen, als Rechtsfortbildung innerhalb des angewandten gesetzlichen Regelungsrahmens; Anwendung einer Gesetzesnorm bedeutet danach Ausfüllung (Konkretisierung) ihres Regelungsrahmens. Bei dieser richterlichen Rechtsfindung entfaltet das Gesetz als Regelungsrahmen - wie ausgeführt - kraft seiner Delegationsfunktion eine "formale", kraft seiner Richtlinienfunktion eine "materiale" Legitimationswirkung a ). Diese Legitimierungswirkung des Gesetzes für die richterliche Rechtsfindung, die sich in seinem Rahmen hält, führt nun zu der Frage nach den Abgrenzungskriterien zwischen der richterlichen Rechtsfortbildung innerhalb des gesetzlichen Regelungsrahmens und der außerhalb eines solchen Rahmens erfolgenden; jener Frage nach den Schranken des gesetzlichen Regelungsrahmens wollen wir im folgenden nachgehen. Diese Schranken bezeichnen dabei zugleich die Grenzen der "Gesetzesauslegung" , wenn man - wie hier - diesen Terminus für die Ausfüllung (Konkretisierung) des gesetzlichen Regelungsrahmens beibehält. § 1. Zum möglichen Wortsinn des Gesetzes als Auslegungsgrenze I. Reehtsprechung und Lehre zur Wortlautgrenze

1. Befürworter der Ansicht vom möglichen Wortsinn der Rechtsnorm als Auslegungsgrenze Wie bereits ausgeführt! wird überwiegend angenommen, der Gesetzeswortlaut oder genauer: der "mögliche Wortsinn" des Gesetzes, sei Auslegungsgrenze. Diese Ansicht soll im folgenden näher belegt werden. a) Lehre (1) Vberschreitung der Wortsinngrenze (a) Fälle, die einer Rechtsnorm sprachlich nicht mehr zugeordne~ werden können, die also weder vom Begriffskern noch vom Begriffshof2 a) Vgl. oben, Kapitel 5, § 1 I 2. Kapitel 1, § 3 11 1.

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der fraglichen Rechtsbegriffe erfaßt werden, lassen sich nach h. L. nicht im Wege der Gesetzesauslegung in den Geltungsbereich der Norm einbeziehen: Gleichgültig, ob die ratio legis für die Anwendbarkeit des Gesetzes streite, sein möglicher Wortsinn bezeichne die Grenze der Normauslegung. Diese Lehre ist insbesondere im Strafrecht herschend3 - und wohl auch im Ordnungswidrigkeitenrecht4 - , wo man überwiegend im möglichen Wortsinn des Gesetzes das Abgrenzungskriterium zwischen Gesetzesauslegung und Gesetzesanalogie sieht5 • Darüber hinaus ist die These von der Wortsinngrenze aber auch außerhalb des strafrechtlichen Schrifttums zum Analogieverbot (Art. 103 II GG) dominierend6 • Zum Bild vom Begriffskern und -hof vgl. Kapitell aaO, 1 a. So u. a. bereits Dahm, Die Zunahme der Richtermacht im modernen Strafrecht, S. 8; Robert v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. II S. 38 mit Anm. 38; Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 48. So heute Jescheck, AT S. 125; ders. Studium Generale 1959, S. 113; Blei, AT S. 31 f.; Welzel, Lehrbuch S. 22; WesseIs, AT S. 11; SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 48, 63; KohlrauschlLange, § 2 Anm. III B 1; Krey, Strafrecht BT, 1. Bd. S. 50, 79; 2. Bd. S. 61; Eser, Strafrecht I, S. 40 f.; Schreiber, SK § 1 Rdnr. 24. Ebenso Engisch, Methoden der Strafrechtswissenschaft, S. 62 f., 66; H. Mayer, SJZ 1947, Sp. 16, 18; Roxin, ZStW 1971 (Bd. 83), S. 377; ders. Strafrecht und Strafrechtsreform, S. 227; ders. Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 32; Fr.-Chr. Schroeder, JZ 1969, S. 776 f.; Stree, JuS 1961, S. 51; eingehend jetzt Suppert, Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen Lage", S. 77 ff.; Günther, Verurteilungen im Strafprozeß trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel, S. 139 ff.; Küper, JuS 1975, S. 635; Bockelmann, MDR 1953, S. 3 ff.; Dreher, NJW 1972, S. 1642 (r. Sp. ); GTÜnwald, ZStw 1958 (Bd. 70), S. 417; ders. ZStW 1964 (Bd. 76), S. 2; Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 88, 102; ders. JZ 1973, S. 14; RadbruchlZweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 153 f.; Burkhardt, JZ 1971, S. 355; Giehring, GA 1973, S. 17; Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz "nullum crimen sine lege", S. 134, HO, 173; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S. 271, 365; ders. JA 1975, StR 175; Schwalm, Der objektivierte Wille des Gesetzgebers, S. 58 - 60; Stökkel, Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht, S. 84 f.; Waider, Die Bedeutung der Lehre von den subektiven Rechtfertigungselementen für Methodologie und Systematik des Strafrechts, S. 81 Anm. 78. So auch die Dissertationen von Danckert, Die Grenze zwischen der extensiven Auslegung und der Analogie im Strafrecht, S. 96 ff., und Wiedemeyer, Theoretische Begründung und praktische Durchführung des strafrechtlichen Analogieverbots, S. 73, 75 f., 111, 130, 156, 181 f. J. Baumann stellt auf die "natürliche Wortbedeutung" - die er der "äußersten Grenze der Wortbedeutung" gegenüberstellt - als Auslegungsgrenze ab: MDR 1958, S. 394 ff.; AT S. 156 f.; Grundbegriffe und System des Strafrechts, S. 34; Grenzen der individuellen Gerechtigkeit im Strafrecht, S. 123 f. Zum österreichischen und schweizerischen Schrifttum vgl. unten im Text (3). 4 Vgl. etwa Cramer, Grundbegriffe des Rechts der Ordnungswidrigkeiten, S. 25; Faller, DB 1972, S. 1758 f.; Meier, § 3 OWiG Anm. 2. 5 Siehe oben, Kapitell, § 3 II 1 a (2). 8 So insbesondere Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 73, 83, 104, 146, 149; Anm. 81 c (S. 221), Anm. 106 b (S. 231 f.); ders. Der Begriff der Rechtslücke, S. 88; Larenz, Methodenlehre, S. 309 f., 329, 332 f.; ders. NJW 1965, 2

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(b) Zur Begründung dieser Lehre wird geltend gemacht: Gegenstand der Norminterpretation sei der Gesetzestext 1 ; nur ihm komme die "Autorität des vorn Gesetzgeber Angeordneten" zu8 ; von Gesetzesauslegung und damit von Gesetzesanwendung könne daher grundsätzlich keine Rede mehr sein, wenn der Wortsinn der Norm, der von ihr semantische erlaBte Bereich, überschritten werde. Gesetzliche Anordnungen seien zu ihrer Mitteilung auf die Sprache angewiesen, nur in Worten könne der Sinn des Gesetzes Ausdruck finden10; mehr als die sprachlich möglichen Auslegungsalternativen .könne die Interpretation also nicht aus dem Gesetz ableiten. Die Bindung der Auslegung an den möglichen Wortsinn sei auch ein Gebot der Rechtssicherheit l l ; erst diese Bindung an ein "objektivierbares Kriterium" gebe der Gesetzesanwendung eine äußere Begrenzung, die um der Rechtssicherheit, der "Orientierungsgewißheit" der Betroffenen willen unverzichtbar sei. Auch aus "rechtsstaatlichen Gründen" sei das Kriterium des möglichen Wortsinns unentbehrlich, da dieses das "einzig objektiv nachprüfbare Merkmal" sei, das "mit einer gewissen Sicherheit erkennen lasse, wo die Verantwortung des Richters für selbstgeschaffenes Recht" beginne 12 •

s.

5; ders. Über das Verhältnis von Interpretation und richterlicher Rechtsfortbildung, S. 404; Fr. Müller, Juristische Methodik, S. 75, 105, 114 f., 140 f., 195; Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, S. 23, 31, 52 f., 73; ebenso Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, s. 19 - 23, 197; ders. Systemdenken, S. 91 Anm. 23, 95; Dahm, Deutsches Recht, S. 42, 52 f.; Maunzl DüriglHerzog, Art. 103 Rdnr. 112 (a. E.); EnnecceruslNipperdey, § 57 (S. 335); Forsthojj, Verwaltungsrecht, S. 161; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 102, 213 f., 215 Anm. 35; Hamann/Lenz, Das Grundgesetz, Einführung S. 111; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 68; ders. Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 54; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, S. 30; Krey, NJW 1970, S. 1908; Malkewitz, NJW 1971, S. 2289; Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, S. 39 (a. E.): Spieß, DRiZ 1956, S. 170; Tipke, StuW 1972, S. 265 f.; ders. Steuerrrecht, S. 81 f.; TipkelKruse, § 1 StAnpG, A 20 e 41 b; Papier, Die ftnanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte ..., S. 175 (mit Anm. 24), 176; Prümm, JuS 1975, S. 301- 303; Merten, DVBI 1975, S. 680; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 236, 237 (an anderer Stelle meint er aber, nur der "eindeutige Wortlaut" sei Auslegungsschranke; so S. 194). Zu Heck, auf den die Formel vom "möglichen Wortsinn" des Gesetzes zurückgeht, siehe oben, Kapitell, § 3 II Anm. 14. 7 So Larenz; Methodenlehre, S. 299; Göldner aaO, S. 102; Stree, JuS 1961, S. 51; Jescheck, Lehrbuch S. 124 (a. E.) f.; Krey, Zum innerdeutschen Strafanwendungsrecht, S. 124. 8 Stree aaO; Canaris. Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 20, 22, 197. • Zur "Semantik" vgI. oben, Kapitell, § 3 II, Anm. 17. 10 VgI. Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, S. 23; Jescheck aaO; ders. Studium Generale 1959, S. 113. 11 So Zippelius und Günther aaO; Fr. Müller aaO (oben, Anm. 6), S. 141; Roxin, ZStW 1971 (Bd. 83), S. 377; vgI. auch Waid er aaO (oben, Anm. 3). 12 Jescheck, Lehrbuch S. 125. 9 Krey

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(2) "Unterschreitung" der Wortsinngrenze

Befaßt man sich näher mit der Lehre vom möglichen Wortsinn des Gesetzes als Auslegungsschranke, so fällt auf, daß die Anhänger dieser Lehre weitgehend nur den Fall einer Extension der Norm über ihren Wortsinn hinaus im Auge zu haben scheinen; dies kommt besonders deutlich darin zum Ausdruck, daß der Gesetzeswortlaut regelmäßig nur als Abgrenzungskriterium zwischen Auslegung und Gesetzesanalogie herausgestellt wird. Doch wird von mehreren Autoren auch der Fall einer "Unterschreitung" des Wortsinns hervorgehoben1s : So meint Dahm l4 , die "Grenze der eigentlichen Auslegung nach oben und nach unten" bilde der mögliche Wortsinn. Was darüber hinausgehe, sei keine Auslegung mehr; ebenso sei der Bereich der Interpretation verlassen, wo "umgekehrt" der Richter hinter der denkbar engsten sprachlichen Bedeutung der Norm zurückbleibe, "also einen Sachverhalt ausschließe, den das Gesetz, nach seinem Wortlaut verstanden, auf jeden Fall hätte einschließen müssen". Wird so die Anwendung einer nach ihrem sprachlichen Bedeutungskern ("Begriffskern") passenden Gesetzesnorm für eine bestimmte Fallgruppe abgelehnt, d. h. erfährt diese Norm durch den Richter eine nach ihrem Wortlaut nicht vorgesehene Einschränkung, so soll der Rahmen des möglichen Wortsinns und damit der Auslegung in gleicher Weise verlassen sein wie bei seiner überschreitung l5. Eine solche Einschränkung ("Unterschreitung" der Wortlautschranke) mag nach dieser Lehre als "teleologische Reduktion"16 zulässig sein, sie stellt aber jedenfalls keine Gesetzesanwendung mehr dar l7 • (3) Zum österreichischen und schweizerischen Schrifttum (a) Österreich Wie im deutschen gilt auch im österreichischen Strafrecht der Grundsatz "nullum crimen sine lege": Vor dem 1. 1. 1975 war dieser strafrechtliche Gesetzesvorbehalt in Art. IV des Kundmachungspatents 18 zum ÖStG enthalten; Art. IV lautete: "Nach Maßgabe dieses Strafgesetzes kann vom Tage seiner Wirksamkeit angefangen nur dasjenige als Verbrechen, Vergehen oder Übertretung be13

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Dazu oben, Kapitel 1, § 3 11 1 a (2) mit Anm. 25 - 28. Deutsches Recht, S. 42. Vgl. Larenz, NJW 1965, S. 5. Zu dieser oben, Kapitel 1, § 1 11 und § 3 aaO. So Canaris, Dahm, Larenz und Suppert (oben, Kapitel 1, § 3 11 Anm. 25). Vom 27. 5.1852.

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handelt und bestraft werden, was in demselben ausdrücklich als Verbrechen, Vergehen oder übertretung erklärt wird." Aus jenem Gesetzesvorbehalt wurde allgemein ein Verbot strafbegründender bzw. -schärfender Analogie abgeleitet19 • Die sich daraus ergebende Frage nach den Abgrenzungskriterien zwischen erlaubter Gesetzesauslegung und verbotener Analogie wurde dabei ganz überwiegend so beantwortet: Die Schranke der Gesetzesinterpretation sei der Gesetzestext; diese Wortsinngrenze unterscheide die Auslegung der Norm von der Gesetzesanalogie20 • Habe die ratio legis im Wortlaut des Gesetzes einen unvollkommenen - weil zu engen - Ausdruck gefunden, so könne man diesem übelstand im Anwendungsbereich des Analogieverbots nur durch eine Neufassung des Gesetzes Rechnung tragen21 • Seit dem 1. 1. 1975 ist das neue österreichische Strafgesetzbuch vom 23. 1. 1974 in Kraft; dieses hat den Grundsatz "nullum crimen sine lege" in § 1 verankert, der in Abs. 1 bestimmt: "Eine Strafe oder vorbeugende Maßnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die unter eine ausdrückliche gesetzliche Strafdrohung fällt und schon zur Zeit ihrer Begehung mit Strafe bedroht war." Wie schon aus Art. IV des erwähnten Kundmachungspatents wird auch aus diesem § 1 StGB ein Analogieverbot abgeleitet, wobei man die Grenze zwischen erlaubter Gesetzesauslegung und verbotener Analogie zum Nachteil des Täters im "möglichen Wortsinn" des Gesetzes sieht22 • (b) Schweiz Wie das deutsche und österreichische Strafrecht wird auch das der Schweiz von dem rechtsstaatlichen Grundsatz nullum crimen sine lege beherrscht; Art. 1 des schweizerischen StGB (vom 21. 12. 1937) setzt nämlich fest: "Strafbar ist nur, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht." Nach einer verbreiteten Auffassung schließt dieser strafrechtliche Gesetzesvorbehalt die Analogie zu Lasten des Straftäters aus23 , wobei man 18 Rittler, Lehrbuch des österreichischen Strafrechts, 1. Bd. S. 33 f.; Malaniuk, Lehrbuch, S. 36; Foregger-Serini, Art. IV Kundmachungspatent (KP), Anm. II; Kaniak, Art. IV KP, Anm. 3 ff.; Kunst, Juristische Blätter 1971, S. 332. Ebenso die Rechtsprechung, vgl. Nachweise bei Kaniak aaO. 20 Rittler und Kunst aaO; Malaniuk aaO, S. 40; eingehend Foregger, ÖJZ

1960, S. 290 ff. Zweifelnd aber - wenn ich ihn recht verstanden habe - Burgstalter, Österreichische Richterzeitung, 1974, S. 3 (r. Sp.) m. w. N. pro und contra. !1 Malaniuk aaO. 22 So Leukauf/Steininger, § 1 Anm. 2, 3; Reissig/Kunst, § 1 Anm. 1. 23 Schwander, Das schweizerische Strafgesetzbuch, S. 59 Rdnr. 111; S. 60 f. Rdnr. 114; Kelter, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswort-

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im Wortlaut des Gesetzes das Abgrenzungskriterium zwischen der Auslegung und der Analogie sieht": Es sei unzulässig, sich auf die ratio legis zu berufen, um über den Text hinauszugehen25 • Zur Begründung dieser Ansicht beruft man sich insbesondere auf das Wort "ausdrücklich" in Art. 1 StGB28; dieses Wort wolle "jede Sophistik und Rabulistik, jede Fiktion und Konstruktion zum Zwecke der Erweiterung des Gesetzesinhalts" verhindern 27 • Diese Auffassung ist aber keineswegs herrschend. Denn namhafte Autoren, insbesondere Germann28 - zudem auch das Schweizerische Bundesgericht20 - , sehen im Wortsinn des Gesetzes keine Auslegungsgrenze, sondern meinen: Der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt bedeute nicht, daß der Verbrecher "sich hinter dem Wortlaut des Gesetzes verschanzen" könneso; vielmehr dürfe die Gesetzesauslegung auch im Anwendungsbereich des Art. 1 StGB über den möglichen Wortsinn des Gesetzes hinausgehen, sofern der Sinn der auszulegenden Rechtsnorm solche Extension deckes1 • "Höher als der Wortlaut des Gesetzes" ständen "sein Sinn und Zweck"s2. Für den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt soll danach nicht die Unterlauts, S. 239 - 241; Jost, SchwZStrR 1950, S. 369, 370 (a. E.); MeieT-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S. 15; ders., Berner Kommentar, S. 102 Rdnr. 51; ThoTmann/OveTbeck, Art. 1 Rdnr. 2, 7. 24 Schwander, S. 60 f. aaO, und S. 63 Rdnr. 120; Keller aaO; vgl. auch Hüppi, Die Methoden zur Auslegung von Statuten, S. 50 f. Demgegenüber meint MeieT-Hayoz, Art. 1 StGB verbiete zwar die strafbegründende Analogie, nicht aber die "über den Gesetzeswortlaut hinausgehende extensive Interpretation" (Berner Kommentar aaO). 25 Schwander aaO, S. 61 Rdnr. 114. 25 Schwander und KelleT aaO. 27 KeIleT aaO m. w. N. 28 In: Schweizerisches Strafgesetzbuch, S. 3, 4; Methodische Grundfragen, S. 68, 121; Probleme und Methoden der Rechtsfindung, S. 104 ff.; Grundlagen der Rechtswissenschaft, S. 79; SchwZStrR 1963, S. 89 f.; ebenso H. Schultz, SchwZStrR 1957, S. 51 f.; Waiblinger, Die Bedeutung des Grundsatzes "nullum crimen sine lege", S. 225 (a. E.) f.; 238, 240 ff. Zu MeieT-Hayoz vgl. oben, Anm.24. 2D Nachweise bei Germann, Schweizerisches Strafgesetzbuch aaO. 30 GeTmann, Methodische Grundfragen, S. 68. 31 GeTmann und WaiblingeT aaO (oben, Anm. 28). 32 Germann, Probleme aaO, S. 104. Siehe jetzt auch Schultz, Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, S. 78 f.: Die "ausdehnende Auslegung" über den Wortlaut des Gesetzes hinaus sei auch dort zulässig, wo sie sich strafbegründend oder -schärfend auswirke (dies gelte aber nicht, soweit der Normtext "in den drei Amtssprachen eindeutig und übereinstimmend" sei).

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scheidung zwischen Rechtsfindung im Rahmen des möglichen Wortsinns und der außerhalb dieses Rahmens erfolgenden von Bedeutung sein, sondern die Differenzierung zwischen der "sinngemäßen Auslegung nach den gesetzlichen Wertungen" und der über die Wertungen des Gesetzes hinausgehenden "freien Rechtsfindung": Nur letztere - die Germann auch als "selbständig wertende Rechtsfindung praeter legern" bezeichnet - werde vom strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt ausgeschlossen33 • Analogie, die über den Wortlaut des Gesetzes hinausführe, aber nicht über seinen Sinn, werde daher von Art. 1 StGB nicht berührt84 • Nach Germann soll die Analogie aber, da sie ein rein "formales Verfahren" (Schluß von Ähnlichem auf Ähnliches) sei, in gleicher Weise der Gesetzesauslegung wie auch der "freien Rechtsfindung" dienen können; im letzteren Fall stehe ihr Art. 1 StGB entgegen 3li• Anders als im deutschen und österreichischen Strafrecht hat sich also im schweizerischen keine herrschende überzeugung vom Gesetzeswortsinn als Auslegungsschranke gebildet. Der Grund hierfür dürfte letztlich in der Mehrsprachigkeit der Schweiz liegen38 : Das StGB ist in allen drei Amtssprachen (deutsch, französisch, italienisch) verkündet, und alle drei Gesetzestexte sind gleichwertig. Da sie in Einzelfällen divergieren können, liegt die Versuchung nahe, allein im Sinn des Gesetzes - unter Vernachlässigung des Normtextes - die Auslegungsgrenze zu sehen. Daß man damit dem Wortsinn des Art. 1 StGB, der ja eine "ausdrückliche" ("expressement", "espressamente") Strafdrohung verlangt, Gewalt antutl'7, braucht die Gegner der Wortsinnschranke nicht zu beunruhigen; denn nach ihrer Ansicht kann sich ja der Auslegende über den Gesetzestext hinwegsetzen, also bei der Interpretation des Art. 1 StGB über dessen Wortsinn.

33 Germann, Schweizerisches Strafgesetzbuch, S. 5; Methodische Grundfragen, S. 8, 67, 121, 124, 135 (a. E.) f.; SchwZStrR aaO, S. 90 f., 93, 97. 34 aaO. 35 Schweizerisches Strafgesetzbuch und Methodische Grundfragen aaO; ebenso Waiblinger aaO, S. 254 f. 38 Vgl. Germann, Grundlagen der Rechtswissenschaft aaO: Nach schweizerischem Recht könne schon wegen der Gleichwertigkeit der drei Geseztestexte der Wortsinn der Rechtsnorm als Schranke der sinngemäßen Auslegung nicht in Frage kommen. Waiblinger aaO, S. 244 (a. E.) f.: Der "wirkliche Sinn des Gesetzes" sei, auch wenn er in keinem der drei Gesetzestexte zum Ausdruck komme, maßgeblich; denn gerade die "häufigen Abweichungen der drei Gesetzestexte" zeugten von der "Untauglichkeit des Gesetzeswortlauts als Grenzkriterium". 37 So beklagt Keller (aaO, S. 240): "In unserem Schrifttum wurde das Wörtchen ,ausdrücklich' sehr oft souverän ignoriert."

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b) Rechtsprechung (1) Zur Bedeutung methodologischer Äußerungen der Praxis (a) Vielfach wird gesagt, den methodologischen Äußerungen der Rechtsprechung komme für die Rechtstheorie kein großes Gewicht zu:

In der Praxis seien nämlich die Rechtsfindung und ihre methodengerechte Begründung "oft recht verschiedene Vorgänge"38. Der Richter neige dazu - wie insbesondere auch Autoren, die in der Rechtsprechung tätig sind, hervorheben -, seinen Entscheidungsobersatz mehr nach dem "Gefühl für das Richtige als aufgrund von theoretisch-methodischen Erwägungen" zu bilden39 ; die methodologische Begründung sei dann sekundär4°. Das Rechtsfindungsergebnis stehe also vielfach schon fest, bevor es für die Entscheidungsbegründung "methodengerecht" abgeleitet werde41 • Wegen dieses Zusammenhanges zwischen "Vorverständnis und Methodenwahl" des Richters 42 sei eine Analyse der rechtstheoretischen Thesen der Gerichte ohne sonderlichen Erkenntniswert und praktischen Gewinn43 • Denn je nach dem, welches Ergebnis der Richter bei seiner Rechtsfindung ansteuere, falle die sekundäre methodologische Begründung aus, was die widersprüchlichsten rechtstheoretischen Aussagen selbst in der Rechtsprechung ein und desselben obersten Gerichtshofs des Bundes bzw. der des BVerfG zur Folge habe44 • (b) Dazu sei nur soviel gesagt: In der Tat läßt sich nicht leugnen, daß das Vorverständnis des Richters - d. h. seine Vorstellungen von der sachgerechten Fallentscheidung E. Schneider, MDR 1967, S. 10. 3. Jescheck, Studium Generale 1959, S. 108; ebenso Schneider aaO; RothStielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, S. 47 (a. E.); vgl. weiter Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, S. 13 (a. E.) f.; Scheuerle, Rechtsanwendung, S. 167; Bender, JZ 1957, S. 593 (a. E.) f. 40 Kriele spricht hier von der "sekundären Legitimierung der juristischen 38

Ergebnisse am Gesetz"; in: Theorie der Rechtsgewinnung, S. 312. Vgl. weiter Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S.7. 41 Vgl. Naucke, Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, S. 278 f.; Roth-Stielow, Egon Schneider und Bender aaO; Häberle, JZ 1971, S.145. 4! Dazu insbesondere Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 7,121 ff., 136; Engisch, Einführung in das juristische Denken, Anm. 36 (S. 200 f.); Häberle aaO. Vgl. bereits oben, Kapitel 3, § 211 3 b (1). 48 Vgl. H. Heinrich, Rechtsfortbildung durch die Revisionssenate des BVerwG, S. 21: "Die Auslegung durch das BVerwG wurde, soweit ersichtlich, noch nicht allgemein untersucht. Der Erkenntniswert einer kritischen Analyse wäre wohl auch nicht sonderlich hoch zu veranschlagen und vermutlich ohne praktischen Gewinn." 44 Vgl. u. a. Naucke aaO; Fr. Müller, Juristische Methodik, S. 20 ff., 41 (a. E.) f.; Heinrich aaO; Bender aaO.

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vielfach einen mehr oder minder großen Einfluß auf die Methodenwahl haben wird, was schon durch den sogenannten "Methodensynkretismus" (Methodenpluralismus) der Praxis belegt wird 45 • Gleichwohl ist für den Rechtstheoretiker die Analyse der methodologischen Äußerungen der Praxis unentbehrlich, und zwar aus den folgenden Gründen: Einmal gilt auch für die juristische Methodik, daß die Rechtswirklichkeit von der Rechtsprechung geprägt wird; eine rechtswissenschaftliche Methodenlehre, welche die Praxis ignoriert, ist daher nicht nur für diese weitgehend wertlos 4S • Zum anderen ist für die sachgerechte, überzeugende Lösung von Rechtsproblemen, zu denen ja auch die Fragen der Rechtsanwendungsmethode gehören, eine gegenseitige Beeinflussung von Theorie und Praxis förderlich, wie die Erfahrung lehrt. Methodologische Lehrmeinungen nun bleiben solange wirkungslose Theorie, wie sie in der Praxis, die das law in action prägt, nicht beachtet werden; sollen solche Lehrmeinungen, die ja unabhängig von ihrer Resonanz in der Rechtsprechung "richtig" sein können, die Rechtswirklichkeit mitbeeinflussen, so gilt es also, die Praxis für sie zu gewinnen. Das nun setzt den wissenschaftlichen Dialog mit der Praxis voraus; mit überzeugungskraft kann diesen aber nicht führen, wer achtlos an den Bedürfnissen und Nöten des Richters vorbeigeht und ignoriert, welche methodologischen Thesen die Rechtsprechung zur Entscheidungsbegründung verwendet. Wer diesen Erwägungen den Zusammenhang zwischen "Vorverständnis und Methodenwahl" bei der richterlichen Rechtsfindung entgegenhält, muß sich sagen lassen, daß es gewiß auch in der Rechtswissenschaft diesen Zusammenhang gibt: Spätestens bei der kritischen Auseinandersetzung mit methodologischen Lehren im Rahmen der Lösung wirklicher oder gedachter Fälle läßt sich auch beim Theoretiker - ebenso wie beim Praktiker - nicht ausschließen, daß seine Vorstellungen von einer gerechten Fallösung Einfluß auf seine Beurteilung einschlägiger rechtstheoretischer Lehren gewinnen. Niemand ist aber bislang auf die Idee gekommen, wegen dieses Zusammenhanges zwischen "Vorverständnis und Methodenwa;hl" auch in der Rechtswissenschaft deren Thesen zur Methodik als nicht besonders gewichtig einzustufen; warum soll dann für die Judikatur etwas anderes gelten? Und was den Vorwurf betrifft, in der Praxis fänden sich die widersprüchlichsten Äußerungen zur Methodik, so ist zu erwidern: Das Bild, 45 Dazu oben, Kapitel 3, § 2 II 3 b (1) a. E. -. 48 Die modisch gewordene aber ganz entschieden zu weit gehende These, die "akademische Methodenlehre sei für die Praxis wertlos" (so insbesondere Esser, Vorverständnis aaO; Schwerdtner, JuS 1972, S. 357; vgl. auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 37 ff.), wird meist mit dem ebenfalls zu pauschalen - Vorwurf begründet, die "akademische Methodenlehre" ignoriere die Praxis.

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das die Literatur zu Methodenproblemen dem Praktiker bietet, ist dergestalt, daß er - vereinfacht gesagt - feststellen muß: "Alles ist streitig"47. Der Wissenschaft stände es daher nicht gut zu Gesicht, wollte sie allzusehr auf der Vielzahl divergierender, teils auch widersprüchlicher, methodologischer Thesen der Rechtsprechung "herumreiten", um diese Thesen abzuwerten. (2) Rechtsprechung zur Wortsinnschranke

Die folgende Darstellung wird sich auf die Judikatur der Strafsenate des

RG und des BGH sowie der Senate des BVerfG beschränken'8. Eine solche

Auswahl widerspricht - wie ich meine - nicht der Thematik der Arbeit und drängt sich angesichts der unübersehbaren Fülle von Entscheidungen, die sich mit Fragen der Auslegungsschranken befassen, geradezu auf; die Einbeziehung des BVerfG beruht auf der herausgehobenen Stellung dieses Gerichts, das ja aufgrund von Verfassungsbeschwerden die Beachtung des Art. 103 II GG durch die Strafjustiz überprüfen kann n . (a) RG

Das RG hat in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, der Grundsatz "nullum crimen sine lege" schließe eine strafbegründende bzw. -schärfende Überschreitung des Gesetzeswortsinns aus: Besonders hervorzuheben sind hier die bekannten Entscheidungen zur Frage, ob die unbefugte Entziehung von elektrischer Energie als Diebstahl strafbar sei50• Das Gericht meinte dazu, der Gesetzeswortlaut des § 242 StGB stehe einer Anwendung dieser Strafnorm entgegen, da elektrische Energie keine "körperliche Sache im strengen, natürlichen Sinne" sei; über diesen Wortsinn hinauszugehen sei dem Strafrichter wegen des strafrechtlichen "Analogieverbots" untersagt5!. Diese Urteile, die Straflosigkeit der unbefugten Stromentziehung bedeuteten, nötigten den Gesetzgeber zum Erlaß eines "Gesetzes betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit" vom 9. 4. 190051 (heute: § 248c StGB). Die Ansicht des RG, der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt ("nullum crimen sine lege") verbiete die Überschreitung des Gesetzeswortlauts zu Lasten des Täters, wird auch in den Entscheidungen des Gerichts zu § 2 StGB i. d. F. der NS-Novelle vom 28. 6. 193553 deutlich: 47 Das dürfte bereits Kapitel 1 der vorliegenden Arbeit deutlich gemacht haben. - Zudem sei daran erinnert, daß gelegentlich ein und derselbe Autor an einer Stelle bestimmte methodologische Positionen vertritt, sie aber an anderer Stelle nicht ernst nimmt; vgI. dazu etwa unten, Kapitel 6, § 3 12 a (1). 48 Siehe aber unten, Kapitel 11, § 2 IV, Anm. 1, zur Rechtsprechung des BFH. n Dazu Art. 93 I Nr. 4 a GG. 50 RG St 29,111; 32,165. 51 RG St 32 aaO, S. 185. Weitere zustimmende Entscheidungen zur Wortsinnschranke sind u. a. RG St 40, 332; 62, 369 (372). 52 RGBl. I, 228. 53 RGBI. I, 838.

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Durch diese Novelle hatte § 2 StGB die folgende Fassung erhalten: "Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbare Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft." Das RG sah den Zweck dieser Neufassung des § 2 StGB nun darin, jene solle den Strafrichter in die Lage versetzen, "unbeabsichtigte Lükken des Gesetzes zu schließen und Fälle zu erfassen, auf die der Wortlaut des Gesetzes an sich nicht zutrifft"5'. M. a. W.: Die aus der ursprünglichen Fassung des § 2 abgeleitete Wortsinnschranke bei der Gesetzesauslegung sei durch die Novelle von 1935 beseitigt worden. (b) BGH Auch in der Rechtsprechung der Strafsenate des BGH wird ganz überwiegend davon ausgegangen, die Grenze zwischen erlaubter Gesetzesauslegung und (im Geltungsbereich des Art. 103 II GG ausgeschlossener) Rechtsfindung über den Rahmen der Auslegung hinaus bilde der Wortsinn des Gesetzes. Hier seien an erster Stelle solche Entscheidungen angeführt, die eine bestimmte Auslegung verwerfen, da sie der fraglichen Norm sprachlich nicht mehr zugeordnet werden könne: Mit Urteil vom 6. 9. 196855 hat cias Gericht zu § 223 a StGB festgelegt, unbewegbare Gegenstände (z. B. eine Gebäudewand) schieden als "Werkzeuge" im Sinne dieser Norm aus. Denn das "natürliche Sprachempfinden" wehre sich dagegen, "eine feste Wand, gewachsenen Boden oder Fels" als "Werkzeug" zu bezeichnen; die Gegenmeinung widerspreche dem Gesetzeswortlaut und sei schon deswegen verfehlt. In seinem Urteil vom 13. 5. 1969 hat der BGH58 sich gegen die Auffassung gewandt, für das Tatbestandsmerkmal der "Entführung wider Willen" (§ 236 a. F., jetzt § 237 StGB) sei bei einer geisteskranken Frau deren Wille unbeachtlich, und entschieden, maßgeblich sei der "natürliche Wille" der Geisteskranken. Die Ansicht von der rechtlichen Unbeachtlichkeit dieses (natürlichen) Willens "erweitere in unzulässiger Weise den Tatbestand", da sie das Merkmal "wider Willen" in das "ohne Einwilligung" umdeute. Neben solchen Urteilen, die in casu eine bestimmte Interpretation eines Gesetzes deswegen ablehnen, weil sie den Gesetzeswortsinn überschreite57, gibt es noch eine Fülle weiterer Entscheidungen des Gerichts, die sich zur Wortsinnschranke der Gesetzesauslegung bekennen - und zwar dadurch, daß sie hervorheben, die ihrem Spruch zugrunde5' RG St 70, 173, 175; 70, 367, 369; 71, 223 f.; 71, 347, 348; 73, 385, 386; ebenso RG St 71,196 f.; 72, 91, 93; 74, 44, 45 (Hervorhebung vom Verf.). 55 BGH St 22, 235 (mit ablehnender Anm. Schmitt, JZ 1969, S. 304). 58 BGH St 23, 1, 3. 57 Vgl. neben den in Anm. 55 f. genannten noch BGH St 19, 158, 162; 20, 104, 107.

Siehe jetzt auch BGH, Urt. v. 26. 5. 1976, NJW 1976, S. 1698 f. - zum Merkmal "Absetzen" i. S. des § 259 StGB -.

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gelegte Auslegung halte sich noch im Rahmen zulässiger Interpretation, sei noch keine Gesetzesanalogie, da sie vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt werde 58 • Besonders anschaulich sind dabei die folgenden Formeln: "Innerhalb der Grenzen des sprachlich Möglichen" sei jeder Begriff nach Sinn und Zweck der fraglichen Norm auszulegen5'. Kein Gesetz vertrage eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprächen; denn es sei "nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist", der mit den Lebensverhältnissen fortschreite und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten wolle - "solange dies nicht die Form sprengt, in die er gegossen ist"80.

Die Strafsenate des BGH haben die These von der Wortsinngrenze der Gesetzesauslegung dabei nicht nur im Geltungsbereich des Art. 103 II GG vertreten, sondern u. a. auch bei der Interpretation von Normen der StP081. (c) BVerfG

Besonders bedeutsam ist hier der bereits an früherer Stelle erwähnte Beschluß vom 13. 10. 1970 zum Gesetzesvorbehalt für Freiheitsbeschränkungen (Art. 104 I GG)1I2: Dort ging es um die Frage, ob ein Haftbefehl in "analoger Anwendung" des § 10 DAG ergehen dürfe; die "unmittelbare" Anwendung dieser Norm schied nämlich nach Ansicht des Gerichts aus, da ihr der Gesetzeswortlaut entgegenstehe83 • Jene Frage wurde vom BVerfG dabei mit der Begründung verneint, wie Art. 103 11 beinhalte auch Art. 104 I GG ein Analogieverbot. Einschlägige Entscheidungen des Gerichts speziell zum strafrechtlichen Analogieverbot, die auf den Normtext als Interpretationsschranke hinweisen, finden sich dagegen, soweit ersichtlich, nicht: Daß Art. 103 II GG ein Analogieverbot beinhalte, wird stets nur obiter dictum und demgemäß ohne Stellungnahme zur Abgrenzung Auslegung/Analogie festgestellt84 • Doch gibt es eine Reihe von Sprüchen des BVerfG, die ganz 58 BGH st 1, 1, 3; 1, 158, 167 f.; 3, 300, 303; 4, 144, 148; 10, 157, 159 f.; 14, 165; 21, 101, 104 (a. E.) f.; 22, 14, 16 f.; 23,286, 292; 24, 352, 355. BGH, Urt. v. 16. 6. 1976, NJW 1976, S. 1900 - zu § 259 StGB -. 51 BGH St 3 aaO; 4 aaO. 80 BGH st 10 aaO; 19 aaO (Hervorhebung vom Verf.). Mit dieser "Form" ist offensichtlich der Gesetzestext gemeint, was in beiden

Entscheidungen deutlich wird. 81 BGH St 4, 308, 310 (GS) zu § 140 I Nr. 5 StPO - spricht von Auslegung "innerhalb der durch den Wortlaut gezogenen Grenzen". Vgl. weiter BGH St 23, 331, 333. 62

BVerfG E 22, 183, 195 - 197.

Vgl. oben, Kapitell, § 2 II 1 c (1). 83 BVerfG aaO, S. 195. 84 Vgl. BVerfG E 14, 174, 185; 25, 269, 285; 26, 41, 42; 29 aaO, S. 196.

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allgemein im Gesetzeswortlaut eine Schranke der Gesetzesauslegung sehen: So führt das Gericht in seinem Beschluß vom 13. 6.1958 85 aus: "Soweit nicht der Zweck des Gesetzes oder der Gesetzeswortlaut entgegenstehen, haben die Gerichte derjenigen Auslegung den Vorzug zu geben, die im Einklang mit dem Grundgesetz steht." Auch andere Entscheidungen stellen maßgeblich darauf ab, die ihren Sprüchen zugrundegelegte ("verfassungskonforme") Norminterpretation sei noch mit dem Normtext vereinbar68• Vereinzelte Urteile und Beschlüsse des Gerichts, die hiervon abzuweichen scheinen, da in ihnen bei der "verfassungskonformen" Auslegung die Wortsinnüberschreitung für zulässig gehalten wirdG7 , dürften darauf beruhen, daß das BVerfG den Terminus der" verfassungskonformen Auslegung" weitgehend i. S. von verfassungskonformer Rechtsfindung schlechthin verwendet 88 , also insbesondere auch für die verfassungskonforme Analogie gebraucht: Dies gilt besonders für den Beschluß vom 24. 5. 196768, in dem das Gericht ein und dieselbe verfassungskonforme Rechtsfindung an einer Stelle als "analoge Anwendung" bezeichnet70, an anderer Stelle dagegen als "Auslegung über den Wortlaut hinaus"71. es E 8, 38, 41; ähnlich BVerfG E 36, 264, 271. E 3, 213, 221 (a. E.) f.; E 9,194,200; 18, 224, 236.

88 87

E 22, 28, 37; 30, 83, 88 f.; 35, 263, 278 f.

Auch im Rahmen der "verfassungskonformen", d. h. an den Wertentscheidungen des Grundgesetzes ausgerichteten Rechtsfindung wird in der Lehre weitgehend zwischen Rechtsfindung secundum legern, gesetzesergänzender Lückenfüllung und Rechtsfindung contra legern differenziert und demgemäß die "verfassungskonforme Lückenfüllung" von der "verfassungskonformen Auslegung" (i. e. S.) (einerseits und der "verfassungskonformen Gesetzeskorrektur" andererseits) unterschieden. So etwa Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, S. 62; Fuss, Zur richterlichen Prüfung von Gesetz und Gesetzesanwendung, S. 15; Krey, NJW 1970, S. 1908 f.; Michel, JuS 1961, S. 274, 279 (a. E.) f.; Schack, JuS 1961, S. 269, 270, 272; vgl. auch Cramer, Das Zeugnisverweigerungsrecht von Presse und Rundfunk, S. 38 f.; Eckardt, Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 71. Andere Autoren dagegen und insbesondere weitgehend die Rechtsprechung verwenden den Begriff der "verfassungskonformen Auslegung" für alle Fälle verfassungskonformer Rechtsfindung durch den Richter, auch wenn der Sache nach gesetzesergänzende Lückenfüllung (oder gar Gesetzeskorrektur) vorliegt: So u. a. Haak, Normenkontrolle und verfassungskonforme Gesetzesauslegung des Richters; Schmidt-Salzer, DÖV 1969, S. 97, 98, 101; Spanner, AöR !966, S. 503 ff. Zur Rspr. vgl. u. a. BVerfG E 2, 336, 341; 22, 28, 35 - 37. 69 E 22 aaO. 70 aaO, S. 35 (a. E.). 71 aaO, S. 37. Vgl. weiter BVerfG E 35, 263, 277 f., wo das Gericht von einer "Regelungs88

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2. Kritische Stimmen zur These, der mögliche Wortsinn des Gesetzes sei Auslegungsgrenze a) Lehre (1) Die zahlreichen Gegner der herkömmlichen und noch herrschenden These vom möglichen Wortsinn des Gesetzes als Auslegungsschranke haben wir bereits an früherer Stelle vorgestellt72 ; darauf sei hier verwiesen. Zu jenen Autoren ist der Sache nach auch Kriele zu rechnen: Er meint zwar, die herrschende Methodenlehre verdiene Zustimmung, wenn sie im möglichen Wortsinn des Gesetzes die Schranke der "Auslegung im eigentlichen Sinne" finde 73 • Diese Aussage relativiert er aber dadurch faktisch bis zur Bedeutungslosigkeit, daß er anschließend behauptet7': "Das Abgrenzungskriterium ,möglicher Wortsinn' ist nicht nur ,zwar vage', aber immerhin noch brauchbar. Es ist vielmehr so vage und durch die Möglichkeit technischer Festlegung des Wortsinns so manipulierbar, daß es praktisch gar nichts mehr bedeutet." Befaßt man sich näher mit dem Schrifttum zur Frage, ob sich die Gesetzesauslegung im Rahmen des möglichen Wortsinns der Gesetze halten müsse, so fällt auf:

Die Auffassung, diese Frage sei - selbst im Geltungsbereich des Art. 103 11 GG - zu verneinen, gewinnt insbesondere im strafrechtlichen Schrifttum immer mehr an Boden. Hatte es noch lange Zeit nach dem Erscheinen der Habilitationsschrift von Sax ("Das strafrechtliche Analogieverbot", 1953), die für jene Auffassung focht7 5 , den Anschein gehabt, als werde Sax hiermit ohne größere Resonanz bleiben76 , so hat in letzter Zeit seine Meinung soviele namhafte Anhänger gefunden, daß die Möglichkeit, sie könne sich im Schrifttum durchsetzen und die Rechtsprechung für sich gewinnen, nicht mehr von der Hand zu weisen ist: Für die h. M. ist Gefahr im Verzuge.

lücke" spricht (S. 277 a. E.), die es im Wege "verfassungskonformer Auslegung" schließt. Auch hier wird der Begriff der verfassungskonformen Auslegung also so weit verstanden, daß er die gesetzesergänzende Lückenfüllung mit umfaßt. 7! Kapitell, § 3 11 2. Vgl. jetzt auch Bringewat, GA 1973, S. 365: "In besonderen Ausnahmefällen" dürfe der Normanwender - auch im Geltungsbereich des Art. 103 11 GG über den "Konkretisierungsspielraum, den der Normtext einräumt", hinausgehen. Zum schweizerischen Schrifttum siehe oben, Kapitel 6, § 1 11 a (3) (b). 73 Theorie der Rechtsgewinnung, S. 221 (a. E.) f. 74 aaO, S. 223. 75 Vgl. oben, Kapitell, § 3 aaO, b, c. 78 So glaubte Stree noch im Jahre 1960, die Ansicht von Sax als "früher gelegentlich vertretene Gegenmeinung" bewerten zu können (Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 78 Anm. 258).

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(2) Welche Gründe sind es nun, die für die Ablehnung der herrschenden These vom Gesetzeswortsinn als Auslegungsgrenze geltend gemacht werden? (a) Hier ist nun die erstaunliche Feststellung zu treffen, daß eine nähere Begründung für diese Ablehnung vielfach fehlt oder daß Scheinbegründungen geboten werden; mit der Anführung solcher Scheinbegründungen wollen wir die Darstellung der geltend gemachten Argumente beginnen: Insbesondere im strafrechtlichen Schrifttum wird die Ablehnung der Wortsinnschranke überwiegend mit Kritik am strafrechtlichen "Analogieverbot" verbunden77 • Man sagt, alle Rechtsanwendung verfahre der Sache nach "analogisch ", da bereits die Gesetzesauslegung von der Rechtsfindungsmethode des Fallvergleichs, des "Schlusses vom Ähnlichen auf Ähnliches" beherrscht werde78 ; zwischen Auslegung und Analogie bestehe daher kein Unterschied, und folglich sei für den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt nicht die Unterscheidung Gesetzesauslegung/Gesetzesanalogie, sondern die zwischen Auslegung nach Sinn und Zweck der Norm und der darüber hinausgehenden "freien Rechtsfindung" maßgeblich79 • Dieser Argumentation ist entgegenzuhalten: Es trifft zwar zu, daß grundsätzlich nicht nur die Gesetzesanalogie, die unter Berufung auf die ratio legis den Anwendungsbereich der Norm über deren sprachlichen Rahmen hinaus ausdehnt, sondern auch die innerhalb dieses Rahmens verbleibende Gesetzesauslegung von der Rechtsfindungsmethode des "Schlusses vom Ähnlichen auf Ähnliches" beherrscht wird, d. h. in diesem Sinne "analogisch" strukturiert ist80 • Aber diese Erkenntnis besagt doch nichts dagegen, zwischen der "analogisch" gesteuerten Rechtsfindung innerhalb des sprachlichen Rahmens der Rechtsnorm und der außerhalb dieses Rahmens erfolgenden zu differenzieren. Letztlich eine Scheinbegründung ist weiterhin auch eine Argumentation, die man auf die Formel: "Höher als ihr Wortlaut stehen Sinn und Zweck der Norm" bringen kann 81 : Vgl. oben, Kapitell, § 3 aaO. aaO; zur These vom "analogischen" Charakter der Gesetzesauslegung vgl. bereits oben, Kapitell, § 2 I 1 a; Kapitel 5, § 1 12 b (2) (a). 7e Als Autor, der sich im wesentlichen auf diese Argumentation beschränkt, ist etwa Stratenwerth (AT Rdnr. 89) zu nennen. 80 Vgl. oben Anm. 78. 81 Auf einen solchen Vorrang der ratio legis vor ihrem Text wobei der Regelungszweck teils im Sinne der "objektiven Theorie", teils im Sinne der "subjektiven" verstanden wird - stellen u. a. ab: Sax, Das strafrechtliche Analogieverbot, S. 83 ff., 87 f., 148; 152 ff. (er macht 77

78

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Sicherlich ist es zutreffend, daß jedenfalls außer halb des Anwendungsbereichs von Gesetzesvorbehalten die richterliche Funktion der Rechtsfortbildung grundsätzlich nicht darauf beschränkt ist, die gesetzlichen Regelungsrahmen auszufüllen (zu konkretisieren), also der Richter insbesondere nicht daran gehindert ist, den Anwendungsbereich gesetzlicher Regelungen über ihren Wortsinn hinaus auszudehnen, wenn der Regelungszweck hierfür spricht. Aber für die These, dieser - grundsätzlich bestehende Vorrang der ratio legis von ihrem Text gelte schlechthin (also auch im Anwendungsbereich des Art. 103 II GG) bedarf es einer zusätzlichen Begründung. Denn auch im Rahmen der teleologischen, d. h. auf die ratio legis gestützten Rechtsfindung kann ja die Unterscheidung zwischen der vom Normtext noch gedeckten ("Auslegung") und der ihn überschreitenden ("Gesetzesanalogie") ihren Platz haben. Dieser Einwand gegen die Argumentation: "Höher als der Wortlaut des Gesetzes steht sein Regelungszweck", richtet sich im übrigen sowohl gegen die Stimmen, die "Sinn und Zweck" des Gesetzes im Sinne der "objektiven Theorie" verstehen, wie gegen die, welche auf die "subjektive Theorie" abstellen 82 • (b) Neben den angeführten Argumenten, die - wie uns scheint nicht hinreichend schlüssig sind, finden sich im wesentlichen die folgenden weiteren Gründe für die Ansicht, die Gesetzesauslegung brauche sich nicht im Rahmen des möglichen Wortsinnes der Norm zu halten: Einmal wird geltend gemacht, die Formel vom möglichen Wortsinn des Gesetzes als Interpretationsschranke sei "ungeeignet, irgendeine faßbare Auslegungsbegrenzung herbeizuführen" (Sax)83; Arthur Kaufmann spricht in demselben Sinne von der "völligen Undurchführbarkeit einer praktikablen Abgrenzung"84. Und Kriele hält das Abgrenzungskriterium des möglichen Wortsinns für "nicht nur zwar vage, aber immerhin brauchbar", sondern für so vage, "daß es praktisch nichts mehr bedeute"85. aber daneben auch weitere Argumente geltend; vgl. unten im Text -

(b) -);

Germann (oben, 1 a (3) (b) - zum schweizerischen Recht -); weiter Bender, JZ 1957, S. 599; G. Boehmer, Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung, S. 167 f.; Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, S. 71; Zimmermann, NJW 1956, S. 1264. 81 Zur "objektiven" und "subjektiven Theorie" vgl. oben, Kapitell, § 3 II 2 a; unten, Kapitel 7, § 1. 8a aaO, S. 80 - 83. So auch H. P. Schneider, DOV 1975, S. 450, 452. 84 Analogie und "Natur der Sache", S. 3 f. 85 Vgl. oben, 2 a (1) mit Anm. 74.

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Begründet wird dies mit der mangelnden Exaktheit des allgemeinen Sprachgebrauchs, so daß die Grenzen des "möglichen Wortsinns" auch dann nicht bestimmbar seien, wenn man auf die Umgangssprache abstelle86 • Weiterhin wird ausgeführt, Auslegung sei ihrer Natur nach ein "typologisches" Verfahren, und darum sei die Grenze zwischen Gesetzesinterpretation und der über ihren Rahmen hinausgehenden ("freien") Rechtsfindung der "dem gesetzlichen Tatbestand zugrundeliegende Un-

rech tstypus"81.

Diese Lehre wird wie folgt begründet: Rechtsfindung - so sagt Arthur Kaufmann8s - sei "Angleichung von Gesetzesnorm und wirklichem Lebenssachverhalt"; solche Angleichung erfordere einen "Mittler zwischen Sollen und Sein"; dieser Mittler sei dabei die "Natur der Sache". Diese sei der "Topos, in dem sich Sein und Sollen begegnen", sei die "Mitte zwischen Sachgerechtigkeit und Normgerechtigkeit und als solche der eigentliche Träger des objektiven rechtlichen Sinnes, um den es bei aller Rechtserkenntnis gehe". Die Natur der Sache nun verweise auf den "Typus", d. h. das Denken aus der Natur der Sache sei "typologisches Denken"89. Als Beispiele für "Typen" werden dabei u. a. angeführt: Die Beleidigung; der Mord als besonders schwere Form der vorsätzlichen Tötung; die gefährliche Körperverletzung8o • Der Typus unterscheide sich auf der einen Seite vom abstrakt-allgemeinen Begriff; denn anders als dieser sei er "nicht deftnierbar, sondern nur explizierbar"; der Begriff sei geschlossen, der Typus offen 91 • Auf der anderen Seite sei der Typus aber auch vom "nur Individuellen" zu differenzieren 92 • Aufgabe des Gesetzgebers sei es nun, Typen zu beschreiben; doch sei eine genaue Beschreibung unmöglich, da der Typus stets inhaltsreicher 88 Sax aaO, S. 83. 87 So Arthur Kaufmann aaO, S. 35 ff., 41; ähnlich Sax, Grundsätze der Strafrechtspftege, S. 1008 ff., und, diesem zustimmend, Naucke, ZRP 1969, S. 9 (1. Sp. - a. E. -): Nach Kaufmann (aaO) ist die Auslegung auch im Strafrecht nicht durch den Normtext begrenzt, sondern findet ihre Schranke allein "an dem Unrechtstypus, der dem gesetzlichen Tatbestand zugrundeliegt" . Sax (aaO) stellt auf den "Wertverletzungstypus" ab; dieser - und nicht der Normtext - sei "Sitz der Freiheitsgarantie" des Art. 103 II GG. 88 aaO, S. 35. 89 aaO, S. 37 (m. w. N.). Eingehend zum Problemkreis "Tatbestand und Typus" die so benannte Monographie von Hassemer. 90 Kaufmann aaO, S. 38 - 40. Näher zur rechtstheoretischen Figur des Typus Hassemer aaO, S. 109 ff. (m.w.N.). 81 Kaufmann aaO, S. 37. 92 aaO, S. 38.

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als der abstrakt-allgemeine Begriff seis3 • Daher - und dies ist die entscheidende Aussage dieser Lehre - müsse die Rechtsprechung die Begriffe, mit denen der Gesetzgeber die Typen zu umschreiben suche, wo jene sich als zu eng erwiesen, sprengen, "um den Lebenswirklichkeiten gerecht werden zu können"". Zur Ablehnung der h. A., der Gesetzeswortsinn begrenze die Interpretation, wird schließlich noch geltend gemacht: Diese Meinung widerspreche der Aufgabe der Normauslegung, die Gesetzesnorm "anzupassen an die wandelbaren jeweiligen Bedürfnisse des sozialen Zusammenlebens"; diese Aufgabe verkenne, wer meine, die Norminterpretation in äußere (formale) Grenzen fassen zu müssen (Sax)95:

"Ein Recht" - so sagt Hellervs - "das angewandt wird, lebt und entwickelt sich mit den Lebensverhältnissen, deren Ordnung es dient. Das Leben aber spottet der Schranken, die sich gegen die inneren Gesetze dieses Lebens stellenD7." b) Rechtsprechung Während das RG - wie gezeigt! -- in ständiger Rechtsprechung den Normtext als Abgrenzungskriterium zwischen Gesetzesanwendung und Gesetzesanalogie im Strafrecht behandelt hat, ist die Rechtsprechung der Strafsenate des BGFP zu dieser Frage uneinheitlich: Zwar haben wir gesehen, daß in der Judikatur dieser Senate ganz überwiegend auf den Wortsinn des Gesetzes als Auslegungsbegrenzung abgestellt wird; aber es gibt auch abweichende Entscheidungen: Hier seien vor allem solche Urteile bzw. Beschlüsse genannt, die Wortlautüberschreitungen bei der Gesetzesauslegung auch dort für zulässig halten3 , wo sich solche Extension zu Lasten des Straftäters auswirkt. Das bekannteste Beispiel für eine solche Entscheidung ist das Urteil des BGH vom 13. 9. 1957' zu § 3 I Nr. 6 des Preußischen Gesetzes betreffend den .3 aaO, S. 39. 04 aaO, S. 40 (a. E.) f. 05 Das strafrechtliche Analogieverbot, S. 88. VgI. auch Mittermaier, SchwZStrR 1948, S. 427. •s Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, S. 142 (a. E.). 07 Zu solchen "Schranken" gehört für Heller auch der Normtext (vgI. S. 136 f.). lOben, 1 b (2) (a). % Zum Standpunkt des BVerfG vgI. oben, aaO (c). 3 Ob dabei wirklich in jedem Einzelfall der Rahmen des möglichen Wortsinns verlassen ist oder ob die fraglichen Entscheidungen den Normtext nur zu eng verstanden haben, soll dahinstehen. 4 BGH St 10, 375.

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ForstdiebstahL Nach dieser Norm wird die Strafe für den Forstdiebstahl verschärft, "wenn zum Zwecke des Forstdiebstahls ein bespanntes Fuhrwerk, ein Kahn oder ein Lasttier mitgebracht ist". Das Gericht stellt nun dem im Gesetz genannten "bespannten Fuhrwerk" Kraftfahrzeuge gleich und führt zur Begründung aus: Dem Wortlaut nach falle ein Kraftfahrzeug zwar nicht unter die fragliche Norm, wohl aber nach ihrem Sinn. Neben diesem vielzitierten5 Urteil, das selbst für die Auslegung von Straftatbeständen den Gesetzeswortsinn nicht als Auslegungsgrenze akzeptiert, gibt es noch einige Entscheidungen des BGR zu Vorschriften des Allgemeinen Teils des StGB, die - zu Lasten des Täters - eine Auslegung über den Rah-

men des Gesetzeswortlauts hinaus für statthaft halten:

Hier sei an erster Stelle das Urteil vom 24. 8. 19728 zur Einziehung nach

§ 40 II Nr. 1 StGB a. F. erwähnt, wobei hervorzuheben ist, daß dieser Ein-

ziehung Strafcharakter z11kam7 • Jenes Urteil geht davon aus, die Anwartschaft des Täters auf Erwerb des Eigentums an einer Sache, die er einem Dritten zur Sicherheit übereignet habe, könne anstelle der Sache nach § 40 II Nr. 1 StGB eingezogen werden. Das Gericht führt dazu aus, der Gesetzeswortlaut "scheine zwar einer solchen Auslegung entgegenzustehen", da die Sache selbst und nicht das Anwartschaftsrecht das Tatwerkzeug gewesen sei; dieses Bedenken schlage aber nicht' durch, da die fragliche Auslegung sich auf den Gesetzeszweck stützen könne. Auch hier wird also die Überschreitung des Wortsinns der Norm8 unter Berufung auf deren ratio legis als statthaft erklärt. Während es sich bei der zuletzt genannten Entscheidung noch um ein strafbegründendes Beiseiteschieben des Normtextes handelt, geht es bei den folgenden Beschlüssen um den Wortsinn als Interpretationsschranke bei der Anordnung von "Maßregeln der Besserung und Sicherung", die keine Strafen im eigentlichen Sinne sind: Der Beschluß vom 11. November 19549 betraf die Interpretation des § 42m I StGB a. F. Nach dieser Vorschrift war eine der Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis, daß der Täter zu einer "Strafe verurteilt oder lediglich wegen Zurechnungsunfähigkeit freigesprochen" wurde; der BGR entschied nun, für das Merkmal "zu Strafe verurteilt" genüge die Ahndung mit einem Zuchtmittel im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes (§§ 13 ff.). Durch den Gesetzeswortlaut sei die Auslegung nämlich nicht begrenzt; vielmehr komme es allein auf Sinn und Zweck der zu interpretierenden Norm an. 5 VgI. u. a. Grünwatd, ZStW Bd. 76 (1964), S. 3; Jescheck, AT S. 125; Roxin, ZStW Bd. 83 (1971), S. 378; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S. 365; weiter Blei, AT S. 32; Wetzet, Lehrbuch, S. 22; SChönkelSchröder, § 1 Rdnr. 63. S BGR St 25,10,11 (mit kritischer Anm. von Eser, JZ 1973, 170). 7 Dazu SchönkelSchröder, 17. Aufl. 1974, Rdnr. 10 -12 vor § 40; Dreher, 34. Aufl. 1974, § 40 Anm. 2. Eingehend zur Rechtsnatur der Einziehung Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum (1969), S. 61 ff. S VgI. Eser, JZ aaO: Das Urteil bedeute eine "bedenkliche Wegführung vom Wortlaut des Gesetzes". D BGR St 6, 394, 396. Dazu eingehend Larenz, Methodenlehre, 2. AufI. 1969, S.313.

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Ebenfalls um § 42 m StGB a. F. - und zwar um Abs. 3 10 - ging es in dem Beschluß des Großen Senats vom 7. 11. 195511• Der vorlegende Strafsenat des BGH hatte die fragliche Regelung in dem Sinne "wörtlich genommen", daß er (wie auch der Oberbundesanwalt) annahm, § 42 m III erlaube dem Richter die Anordnung der Sperrfrist nur gegenüber dem Inhaber einer Fahrerlaubnis. Dagegen entschied der Große Senat, aufgrund des § 42 m StGB könne der Richter eine (selbständige) Sperrfrist auch aussprechen, wenn der Täter noch keine Fahrerlaubnis besitze; zur Begründung führte der Große Senat aus: Aus der Entstehungsgeschichte des § 42 m StGB ergebe sich kein Anhalt dafür, der Gesetzgeber habe den Fall eines Täters ohne Fahrerlaubnis bedacht. "Schon deswegen" komme der "bloßen Wortfassung des Gesetzes keine ausschlaggebende Bedeutung zu". In einem solchen Fall greife der "klar und eindeutig" zu ermittelnde Gesetzessinn "gegenüber einer nicht völlig geglückten Wortfassung ohne weiteres durch". Nach dieser Vorstellung von Entscheidungen der Strafsenate des BGH12, die sich ausdrücklich über die Lehre, Auslegungsgrenze sei der mögliche Wortsinn des Gesetzes, hinwegsetzen, bleibt noch festzustellen, daß es daneben Urteile des Gerichts gibt, die sich zwar nicht expressis verbis vom Gesetzestext lossagen, deren Auslegungsergebnis sich aber gleichwohl nicht mehr im Rahmen des möglichen Wortsinns des Gesetzes hält. Die letzteren dürfen aber nicht einfach mit ersteren in einen Topf geworfen und sollen auch an dieser Stelle nicht näher dargelegt werden13 ; denn eine rechtstheoretische Lehre zu verwerfen - das ist etwas anderes als sie zu akzeptieren, auch wenn man sie nicht stets "ohne Fehl und Tadel" durchführt. 11. Eigene Stellungnahme

Was man herkömmlich Gesetzesauslegung nennt, hatte sich im Verlauf der Darstellung als Ausfüllung (Konkretisierung) des gesetzlichen Regelungsrahmens erwieseni. Demnach findet die Norminterpretation dann im möglichen Wortsinn des Gesetzes ihre Schranke, wenn sich feststellen läßt: Formale (äußere) Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens ist der mögliche Wortsinn der Norm. § 42 m III (S. 1 und 2) StGB a. F.lautete: "Die Fahrerlaubnis erlischt mit der Rechtskraft des Urteils. Das Gericht bestimmt im Urteil eine Frist, vor deren Ablauf die Verwaltungsbehörde keine neue Fahrerlaubnis erteilen darf." 11 BGH St 10, 94. 12 Auch in der Rechtsprechung der Strafsenate der Oberlandesgerichte finden sich immer wieder Äußerungen, die eine Begrenzung der Auslegung durch den möglichen Wortsinn des Gesetzes ablehnen (vgl. u. a. OLG Koblenz, NJW 1974, S. 1433 f.; OLG Hamburg, MDR 1975, S. 687). 13 Vgl. aber unten, § 3 I 1. 1 Siehe Kapitel 3; Kapitel 5. 10

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Diese Feststellung ist in der Tat möglich und geboten, und zwar aus den folgenden Gründen: 1. a) Gesetze sind in erster Linie Texte, oder anders formuliert: in Worte gefaßte Befehle. Gegenstand des Gesetzesbeschlusses2 , der Ausfertigung und Verkündungl' ist allein der Gesetzestext. Die ihm zugrundeliegenden Wertungen, die mit ihm verfolgten rechtspolitischen Zwecke - dies alles ist für sein Verständnis zwar unentbehrlich; aber die "Autorität des vom Gesetzgeber Angeordneten" kommt nur dem Gesetzestext zu4 • Danach läßt sich sagen: Nur die richterliche Rechtsfindung, die sich im Rahmen der möglichen sprachlichen Bedeutungen des angewandten Gesetzes, also im Rahmen von dessen möglichem Wortsinn hält, kann sich "unmittelbar auf die Autorität des Befehls des Gesetzgebers berufen"5. Wenn nun die Autorität des vom Gesetzgeber Angeordneten auf den beschlossenen und verkündeten Normtext beschränkt ist, bedeutet dies im Hinblick auf die oben dargelegte "formale Legitimationswirkung" des gesetzlichen Regelungsrahmens für die ihn konkretisierende richterliche Rechtsfindung6, daß diese Legitimationswirkung nur in Frage kommt, solange jene Normkonkretisierung noch mit dem Gesetzestext vereinbar ist. b) Ein weiteres Argument für unsere These, daß der mögliche Wortsinn der Norm ihren Regelungsrahmen begrenzt, ist kommunikationstheoretischer Natur: Will der Gesetzgeber seine Befehle mitteilen, so muß er sich der Sprache bedienen7 ; ein anderes Verständigungsmittel steht ihm grundsätzlich nicht zu Gebote. Daher können Normen ihren Adressaten - d. h. in erster Linie die Betroffenen, daneben die normanwendenden Organe nicht mehr an Informationen über das vom Gesetzgeber Gewollte geben, als die Sprache erlaubt. Mehr Auslegungsalternativen, als der mögliche Wortsinn zuläßt, bietet das Gesetz also nicht. Dazu Art. 78 GG. Siehe Art. 82 GG. 4 Ebenso Canaris und Stree (vgl. oben, I Anm. 8). 5 Vgl. Canaris aaO, S. 20. 8 Dazu oben, Kapitel 5, § 1 I 2 a, c. 7 Hierauf weisen wie ausgeführt - etwa Zippelius und Jescheck hin (vgl. oben, I Anm. 10). Näher zur Angewiesenheit auf die Sprache bei der Normsetzung: Forsthoff, Recht und Sprache, S. 1 ff.; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 34, 46 - 49, 50; Reinhard v. Hippel, Gefahrenurteile und Prognoseentscheidungen in der Strafrechtspraxis, S. 6: "Recht gibt es nur in der Form von Sprachzeichen. " Vgl. auch Ernst J. Lampe, Juristische Semantik. 2

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Auf die "Delegationsfunktion " des gesetzlichen Regelungsrahmens s bezogen besagt jener kommunikationstheoretische Ansatz: Die äußere Begrenzung der Delegation der Normbildungsaufgabe, den gesetzlichen Regelungsrahmen auszufüllen, bildet der mögliche Wortsinn des zu konkretisierenden Gesetzes; denn die fragliche Ermächtigung des Richters zur Normvollendung ist ja zu ihrer Mitteilung auf die Sprache angewiesen, kann also rechtlich nicht weiter reichen als semantisch (sprachlich). c) Weitere Argumente, die zur Begründung der These vom Normtext als Auslegungsschranke in Betracht kommen, beziehen sich im wesentlichen auf die spezielle Problematik des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts. Sie sollen daher hier noch zurückgestellt werden 9 • Denn uns geht es an dieser Stelle um die allgemeine - für alle Gebiete der Rechtsdogmatik in gleicher Weise zu beantwortende - Frage, wo die äußere Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens zu finden sei, und noch nicht um das spezielle Problem, welche Bedeutung der Differenzierung zwischen richterlicher Rechtsfortbildung innerhalb und außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen für Art. 103 II GG (und den Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts) zukomme: Die übliche Folgerung: Grenze der Gesetzesauslegung sei der Gesetzeswortlaut, also verbiete Art. 103 II GG die Wortsinnüberschreitung zu Lasten des Täters - bzw. umgekehrt: Die Interpretation der Norm dürfe deren Text überschreiten, also stehe Art. 103 II GG der Extension des Strafgesetzes über den Gesetzestext hinaus nicht entgegen versteht sich ja nur dann von selbst, wenn man den Begriff "Auslegung" allein auf die Problematik des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts hin ausrichtet, also per definitionem die Interpretationsschranken allein nach den der richterlichen Rechtsfortbildung durch Art. 103 II GG gezogenen Grenzen bestimmt. Demgegenüber geht es uns an dieser Stelle um einen für Strafrecht, öffentliches Recht und Zivilrecht in gleicher Weise verbindlichen Begriff der Auslegung, verstanden als normvollendende Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens; um die für alle Gebiete der Rechtsdogmatik Geltung beanspruchende Unterscheidung zwischen der Rechtsfindung innerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen ("Gesetzesanwendung") und der außerhalb solcher Regelungsrahmen erfolgenden, und um die Abgrenzungskriterien für jene Differenzierung. Diese ist nämlich auch unabhängig von den besonderen Problemen des Art. 103 II GG und des Gesetzesvorbehalts des öffentlichen Rechts (sowie der vereinzelten Analogieverbote im Zivilrecht10) schon im Hinblick auf die richterliche Argumentationslast bei der Rechtsfortbildung bedeutsam; denn wegen der dargelegten Legitimationswirkung des gesetzlichen RegelungsrahDazu Kapitel 5 aaO. Zu ihnen unten, Kapitel 9, § 2. 10 Dazu oben, Kapitell, § 3 I 3.

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mens für die ihn konkretisierende Rechtsfindung 11 dürfte diese Argumentationslast bei der Rechtsfortbildung innerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen grundsätzlich geringer sein als bei der außerhalb solcher Rahmen erfolgenden1!. 2. Die Argumente der Gegner der herrschenden These, Auslegungsschranke sei der mögliche Wortsinn des Gesetzes, haben wir bereits erwähnt; dabei haben wir einige dieser Argumente als unschlüssig verworfen, nämlich einmal den Hinweis auf den "analogischen" Charakter der Auslegung, zum anderen die Behauptung, "höher als der Wortlaut des Gesetzes stehe die ratio legis"13. Denn beide Argumente können wie sich zeigte - nicht begründen, warum es nicht sachgerecht sein soll, innerhalb der Rechtsfortbildung nach der Methode des "abwägenden Typenvergleichs" bzw. innerhalb der an dem gesetzlichen Regelungszweck, der gesetzlichen Wertung orientierten teleologischen Rechtsfortbildung zu unterscheiden zwischen der im Rahmen des möglichen Wortsinns erfolgenden und der diesen Rahmen sprengenden l4 • Und insbesondere sind jene Argumente nicht geeignet, unsere Erkenntnis in Frage zu stellen, daß der Normtext die äußere Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens bezeichnet. Erforderlich bleibt danach an dieser Stelle nur noch die Auseinandersetzung mit folgenden Argumenten der Gegner der h. A.: a) Was die These angeht, Gesetzesauslegung sei ein "typologisches" Verfahren und daher könne sie nicht im Gesetzeswortsinn ihre Schranke finden, sondern nur im jeweiligen Verhaltenstypus l5 , so ist dem folgendes entgegenzuhalten: Es mag zutreffen, daß Rechtsfindung auch dem jeweils einschlägigen Typus als dem "Mittler zwischen Sein und Sollen" gerecht werden muß, Kapitel 5, § 1 I 2 a - c. Vgl. auch Canaris aaO, S. 20 f. Ähnlich jetzt auch Dubischar, Vorstudien zur Rechtswissenschaft, S. 119; Prümm, JuS 1975, S. 302 (1. Sp.). 13 Siehe oben, Kapitel 6, § 1 12 a (2) (a). 14 Vgl. auch SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 63: "Wenn auch richtig ist, daß alle Rechtsanwendung auf dem Prinzip der Ahnlichkeit aufbaut, schließt dies 11

12

doch nicht aus, einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Auslegung und Analogie zu bestimmen: Die Auslegung bleibt innerhalb des durch den Tatbestand gezogenen begrifflichen Rahmens" (Hervorhebungen vom Verf.). 15 Siehe oben, Kapitel 6, § 1 12 a (2) (b). Gegen Arthur Kaufmanns These, dies gelte auch im Anwendungsbereich des Art. 103 II GG, haben sich insbes. Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, S. 142, 150 (Anm. 69), 267 (Anm. 403), und Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 161 f., ausgesprochen. Eingehende Kritik jener These Kaufmanns jetzt auch bei Suppert, Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen Lage", S. 79 ff. Gegen das Abstellen auf den "Wertverletzungstypus" als "Sitz der Freiheitsgarantie" des Art. 103 II GG bei Sax (vgl. oben, I Anm. 87) vgl. u. a. Suppert, aaO, S. 82 Anm. 219 m. w. N.

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also zumindest auch typologisch strukturiert ist. Daraus folgt aber entgegen Arthur Kaufmann keineswegs, daß die Norminterpretation notwendig die Rechtsbegriffe "sprengen" müsse, wo diese sich - gemessen an dem hinter der Norm stehenden Typusals zu eng erweisen. Kaufmann übersieht bei dieser Folgerung nämlich zum einen, daß es grundsätzlich im rechtspolitischen Ermessen des Gesetzgebers steht, die ihm bei seiner Regelung vorschwebenden "offenen" Typen - z. B. "Mord als besonders schwere Form der vorsätzlichen Tötung"16 - näher einzuengen, also auf näher umschriebene und nur noch im Rahmen des möglichen Wortsinns des Gesetzes offene Tatbestände zu reduzieren l7• Demgegenüber scheint Kaufmann von der Vorstellung einer weitgehenden Bindung des Gesetzgebers an vorgegebene Typen auszugehen, was dem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nicht gerecht wird.

Und zum anderen wird in Kaufmanns Lehre verkannt, daß es auch im Rahmen einer typologisch ausgerichteten Rechtsfindung im Hinblick auf die hier herausgestellte Legitimationswirkwng des Normtextes für die von ihm noch gedeckte richterliche Rechtsfortbildung18 sachgerecht ist, diese Rechtsfortbildung von der den Normtext überschreitenden zu unterscheiden. Wie schon der Hinweis auf den "analogischen" Charakter der Gesetzesauslegung und wie die These, "höher als der Text der Norm stehe ihr Regelungszweck", so vermag also auch das Argument, Auslegung sei ein "typologisches" Verfahren, an unserer Feststellung nicht zu rütteln: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes ist formale (äußere) Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens; und da wir Auslegung als Konkretisierung dieses Rahmens verstehen, ist demnach der mögliche Wortsinn der Norm Schranke ihrer Auslegung. b) Das nächste Gegenargument, mit dem die Darstellung sich auseinanderzusetzen hat, geht dahin, die Bindung der Norminterpretation an den Normtext widerspreche der Funktion der "Auslegung", die Gesetze den wechselnden sozialen Bedürfnissen und Wertungen anzupassen 19 • Auch dieser Argumentation ist zu widersprechen: (1) Die Aufgabe, das Recht dem Wandel der sozialen Wirklichkeit anzupassen, kommt in erster Linie dem demokratisch legitimierten und 18 17

Dies Beispiel des Typus nennt Kaufmann aaO, S. 38. Vgl. auch Suppert, Studien zur Notwehr und notwehrähnlichen Lage,

S.80. 18

19

Zu dieser Legitimationswirkung oben Kapitel 5 aaO. So Sax und Heller (vgl. oben, I 2 a, a. E.).

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politisch verantwortlichen20 Gesetzgeber zu; dem Richter, der nicht politisch verantwortlich gemacht werden kann, fällt diese Aufgabe zwar auch zu, aber nur ergänzend, d. h. nur dort, wo die Legislative ihm dafür Raum gelassen hat21 • Diesen Raum für die richterliche Rechtsfortbildung bieten zunächst die Gesetze als Regelungsrahmen, die der richterlichen Ausfüllung nach den wechselnden sozialen Verhältnissen bedürfen. Auf eine solche Rechtsfortbildung innerhalb der gesetzlichen Regelungsrahmen ist freilich die Aufgabe der Rechtsprechung, das Recht dem sozialen Wandel anzupassen, nicht beschränkt; denn zumindest dort, wo keine besonderen Gesetzesvorbehalte - z. B. Art. 103 II GG - eingreifen, ist auch die Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen (praeter legern) statthaft. Doch darf die grundsätzliche Zulässigkeit auch dieser Rechtsfortbildung praeter legern nicht dazu verführen, auf eine Differenzierung zwischen der Rechtsfortbildung innerhalb der Gesetze als Regelungsrahmen und der praeter legern zu verzichten. Die Legitimität und Autorität jener Rechtsfortbildung (intra legern) ist nämlich auf Grund der formalen und materialen Legitimationswirkung des Gesetzes für die seinen Rahmen konkretisierende Rechtsfindung grundsätzlich größer als die der Rechtsfindung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen. Je mehr sich die Rechtsfortbildung durch die dritte Gewalt vom Gesetz entfernt, desto größer ist daher auch die Argumentationslast des Richters. Und da wir gesehen haben, daß der Normtext die äußere Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens bildet, halten wir es für sachwidrig, die den Normtext sprengende Rechtsfortbildung noch als "Normanwendung", als "Auslegung" einzustufen. Denn durch diese Einordnung erweckt man den Anschein, als bewege man sich noch im Rahmen eines einschlägigen Gesetzes, als sei der Richterspruch noch voll "von der Autorität des vom Gesetz Angeordneten" gedeckt, obwohl doch in Wirklichkeit mit dem Sprengen des Textes der Norm zugleich deren Rahmen verlassen ist. D. h. man verAbgeordnete und Parteien müssen sich ja dem Wähler stellen. Dazu Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 311: "Die gesetzgebende Gewalt hat kein Rechtsetzungsmonopol, sondern nur eine Rechtssetzungsprärogative. Das Verhältnis von Gesetz- und Verfassungsgeber einerseits und Richter andererseits ist demgemäß nicht das von Rechtssetzer und Rechtsanwender. Vielmehr hat der Richter eine ... rechtsschöpferische Gewalt." Dieser jedenfalls außerhalb von Gesetzesvorbehalten (z. B. Art. 103 II GG) zutreffenden Feststellung fügt Kriele aber die entscheidende Einschränkung hinzu: "Der Gesetz- und Verfassungsgeber kann aber die Entscheidung jeder rechtspolitischen Frage an sich ziehen und dem Juristen entweder Richtpunkte setzen oder auch detaillierte Vorschriften machen. Soweit er von 20 21

seiner Prärogative Gebrauch gemacht hat, ist der Jurist an seine Entscheidungen gebunden" (Hervorhebungen von Kriele).

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schleiert die rechtspolitische Verantwortung des Richters für solche "Anpassungen der Gesetze an den Wandel der sozialen Bedürfnisse", die den Normtext beiseiteschieben, wenn man dieser Rechtsfortbildung noch die Prädikate "Gesetzesanwendung", "Gesetzesauslegung" verleiht. (2) Letztlich dürfte die angegriffene Argumentation - wer im Normtext die Auslegungsgrenze sehe, werde dem Rechtsfortbildungsauftrag der dritten Gewalt nicht gerechtdarauf beruhen, daß ihre Vertreter die Auslegungsschranke allein im Hinblick auf Art. 103 II GG bestimmen22 : Man geht davon aus, "Auslegung" bezeichne diejenige Stufe innerhalb des Bereichs der richterlichen Rechtsfindung, die Art. 103 II GG noch zulasse. Und da man auch im Anwendungsbereich des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts den Normtext als lästige Fessel der richterlichen Anpassung des Rechts an den sozialen Wandel sieht, entwickelt man eben einen Auslegungsbegriff, der dem "Ärgernis" Normtext23 die Bedeutung nimmt. Demgegenüber halten wir es - wie ausgeführt24 - für richtiger, die rechtstheoretischen Grundbegriffe " Gesetzesanwendung" , " Gesetzesauslegung" mit Anspruch auf Verbindlichkeit für die gesamte Rechtsdogmatik an dem Wesen der Rechtsnorm als Regelungsrahmen und nicht an den Sonderproblemen des Art. 103 II GG auszurichten; d. h. wir vertreten einen normorientierten Begriff der Interpretation, der auch unabhängig von der Problematik des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts gilt. e) Das letzte Gegenargument gegen unsere Bindung der Auslegung an den Normtext, das noch der Erörterung bedarf, besagt: Die Formel vom "möglichen Wortsinn als Interpretationsschranke" sei ungeeignet, irgend eine faßbare Grenze zu bezeichnen25 • (1) Richtig ist, daß die Schranke zwischen den Fällen, die einem Rechtsbegriff unter Berücksichtigung von dessen Kontext sprachlich noch zugeordnet werden können, und jenen Fällen, die vom Normtext nicht mehr gedeckt werden, "fließend" ist26• Zum einen nämlich ist jene Schranke grundsätzlich nicht klar und eindeutig, so daß immer wieder Zweifelsfragen auftreten. Und zum anderen kann sich der Sprachgebrauch des täglichen Lebens wandeln.

Das wird bei Sax und Heller aaO (oben, I 2 a, a. E.) besonders deutlich. Sax bezeichnet die h. A., Auslegungsgrenze sei der mögliche Wortsinn, als "Ärgernis" (Das strafrechtliche Analogieverbot), S. 93 (a. E.), 134. U Oben, Kapitel 6, § 1 II 1 c. 25 So Sax, Arthur Kaufmann und Kriele; vgl. oben I 2 a (2) (b) mit Anm. 22

23

83 - 85.

28 Das wird von den Vertretern der h. M. durchweg eingeräumt; vgl. nur Canaris. Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 23 m. w. N.

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Ein besonders anschauliches Beispiel für einen solchen Wandel bietet der Rechtsbegriff der "Waffe". Mochte die Umgangssprache noch im letzten Jahrhundert mit dem Ausdruck Waffe nur solche Gegenstände bezeichnen, die durch "Hieb, Stoß, Stich, Wurf oder Schuß" eine "mechanische" Einwirkung auf den Körper eines anderen erzielen sollten, so werden heute unter Waffen nach allgemeinem Sprachgebrauch entsprechend der technischen Entwicklung auch solche Mittel verstanden, die auf chemischem Wege zu Verletzungen führen. Demgemäß hat der BGH zu Recht solche chemisch wirkenden Mittel (in casu: Salzsäure) entgegen der Rechtsprechung des RG als Waffen i. S. des § 250 I Nr. 1 StGB a. F. behandeltt7• Die Erkenntnis, daß unser Abgrenzungskriterium möglicher Wortsinn vage ist, bedeutet aber keineswegs, daß es damit inhaltsleer und folglich tunlichst preiszugeben sei. Zwar bietet sich - wie hier - stets das Argument an: "Die Grenzen lassen sich nicht klar bestimmen!", wenn man eine rechtlich relevante Abgrenzung nicht akzeptieren will; "aber es gibt überall den Grenzfall und die letzte Zone des Zweifels"28. Daher ist nicht entscheidend, ob das Abgrenzungskriterium möglicher Wortsinn des Gesetzes vage ist, sondern ob es - wie behauptet wird "so vage (ist), daß es praktisch gar nichts mehr bedeutet"!'. (2) Dieser Behauptung, die Formel "möglicher Wortsinn" bezeichne keine irgendwie faßbare Abgrenzung, ist aber entschieden zu widersprechen30 • Denn unter der Voraussetzung, daß man für diese Formel auf den Sprachgebrauch des täglichen Lebens, auf die natürliche Wortbedeutung abstellt und dabei den heutigen Sprachsinn maßgeblich sein läßt, zeigt eine lebensnahe Betrachtungsweise:

Es gibt soviele Fälle, in denen Konsens darüber zu erzielen ist, sie könnten einer Norm sprachlich nicht mehr zugeordnet werden - mögen im übrigen auch gute Gründe für die Anwendung jener Norm sprechen -, daß die These von der "völligen Unbrauchbarkeit der Wortsinnschranke" der Sprachwirklichkeit nicht gerecht wird. Dies sei im folgenden Paragraphen (§ 2) anhand von Beispielen nachgewiesen31 •

27 28

2' 30

BGH St 1, 1 (mit Nachweis der abweichenden Rspr. des RG). Struck, Topische Jurisprudenz, S. 102. Sax, Kaufmann und Kriele aaO. Wie hier jetzt auch Prümm, JuS 1975, S. 303; vgl. auch Gössel, Die Straf-

rechtsgewinnung als dialektischer Prozeß, S. 45. 31 Siehe auch unten, § 3.

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§ 2. Zur Orientierung am heutigen "Sprachgebrauch des täglichen Lebens" bei der Feststellung des möglichen Wortsinns der Rechtsnorm I. Der allgemeine Spradlgebrauclt als Auslegungsgrenze

1. Nach Kriele ist das Abgrenzungskriterium "möglicher Wortsinn" des Gesetzes nicht nur vage, sondern zu allem überfluß auch "durch die Möglichkeit technischer Festlegung des Wortsinns manipulierbar"; auch deswegen sei es praktisch ohne Bedeutung 1 • Diese These geht von der verbreiteten Überzeugung aus, maßgeblich für die Wortsinnschranke der Gesetzesauslegung sei nicht der allgemeine Sprachgebrauch, sondern die "juristische Wortbedeutung", der "rechtliche Sprachgebrauch", der "technisch-juristische Sprachsinn"2: Der juristische Sprachgebrauch könne den Rahmen des "möglichen Wortsinns" eines Gesetzes über den vom allgemeinen Sprachgebrauch noch gedeckten Bereich hinaus ausweiten 3 • M. a. W.: Der Richter dürfe sich bei der Gesetzesauslegung unter Berufung auf einen als weiterreichend angenommenen technisch-juristischen Sprachgebrauch über den Rahmen hinwegsetzen, den der allgemeine Sprachgebrauch bezeichne. 2. Demgegenüber stellen, insbesondere im strafrechtlichen Schrifttum, viele Autoren und überwiegend auch die strafrechtliche Judikatur auf den allgemeinen Sprachgebrauch ab, wenn es um die W ortsinnschranke der Gesetzesauslegung geht: a) Besonders Baumann4 hat mit Nachdruck die überzeugung vertreten, für den möglichen Wortsinn als Begrenzung der Auslegung komme es auf die "natürliche Wortbedeutung" an; denn anderenfalls würde man eine Art "Geheimrecht" schaffen. Engisch5 hat sich dem grundsätzlich angeschlossen, und zwar mit der Begründung, Normadressat sei die Allgemeinheit, also müsse im Grundsatz die allgemein verständliche natürliche Sprachbedeutung ausschlaggebend sein6 • Andere Autoren sprechen statt von der "natürlichen Wortbedeutung" von der "Umgangssprache"7, vom "Sprachgebrauch des täglichen LeTheorie der Rechtsgewinnung, S. 223. So Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 53 f.; Schmitt, JZ 1969, S. 305; vgl. weiter Kriele aaO, S. 222; Binding, Handbuch, S. 463 f.; Jescheck, AT S. 121; ebenso offenbar auch RG St 37, 333; so jetzt auch Es er, Strafrecht 1, S. 40 (Rdnr. 57). 3 Henkel aaO; im Ergebnis ebenso u. a. Eser aaO. 4 MDR 1958, S. 394 ff.; AT S. 156 f.; Grundbegriffe, S. 34; Grenzen der individuellen Gerechtigkeit im Strafrecht, S. 123 f. 5 Methoden der Strafrechtswissenschaft, S. 355. 8 Ebenso Burkhardt, JZ 1971, S. 355. 7 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S.365. t

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bens"8 oder vom "allgemeinen Sprachgebrauch"9, wenn es um die nähere Präzisierung der Formel vom "möglichen Wortsinn" als Interpretationsschranke geht. Stets aber ist dieselbe Aussage gemeint: Wer sich unter Berufung auf eine angenommene technisch-juristische Wortbedeutung über die Schranken des allgemeinen Sprachgebrauchs hinwegsetzt, verläßt den Bereich der Gesetzesauslegung. b) Auch das RG und der BGH haben in mehreren Entscheidungen auf den allgemeinen Sprachgebrauch als Auslegungsschranke abgestellt. So lehnte das RG die Anwendung des § 242 StGB auf die Entziehung elektrischer Energie ab, da Strom nach dem "Sprachgebrauch des gewöhnlichen Lebens" keine "Sache" sei und man diesen Sprachgebrauch bei der Gesetzesauslegung zu respektieren habe10• Und der BGHI1 entschied unter Berufung auf das "natürliche Sprachempfinden", eine mit einem Gebäude fest verbundene Wand sei kein "Werkzeug" i. S. des § 223 a StGB. Neben diesen Urteilen, in denen die Anwendung von Strafgesetzen abgelehnt wurde, weil sie die fraglichen Fälle nach der natürlichen Wortbedeutung als Kriterium sprachlich nicht mehr erfaßten, gibt es viele Entscheidungen, in denen hervorgehoben wird, die dem Richterspruch zugrundegelegte Norminterpretation werde vom allgemeinen Sprachgebrauch noch gedecktl z.

3. Zu der dargelegten Problematik, ob man - was die Auslegungsschranke "möglicher Wortsinn" der Norm betrifft - einen "juristischen" Sprachgebrauch gegen den allgemeinen ausspielen könne, ist folgendes zusagen: a) (1) Wenn wir oben festgestellt haben l3 , daß Gegenstand des Gesetzesbeschlusses (Art. 78 GG) allein der Gesetzestext ist und daß dem GeDubischar, Vorstudien zur Rechtswissenschaft, S. 94, stellt auf die "umgangssprachlichen Verständigungsmöglichkeiten .. ab. 8 Krey, BT 1. Bd. S. 68. 9 Wiedemeyer, Theoretische Begründung und praktische Durchführung des strafrechtlichen Analogieverbots, S. 138, 174; Foregger, OJZ 1960, S. 290 ff. (zum österreichischen Strafrecht). Kritisch zu der Vorstellung einer juristischen Fachsprache, die man gegen den allgemeinen Sprachgebrauch ausspielen könne, auch Haft, JuS 1975,

S. 481 (a. E.) f. 10 RG St 32, 165 (173). 11 BGH St 22, 235, 236 (mit kritischer Anm. Schmitt aaO). 12 So u. a. BGH St 1, 1, 3; 3, 300, 303; 14, 165, 167.

In diesem Zusammenhang sei auch auf solche Entscheidungen des BGH verwiesen, die zur Ermittlung der Auslegungsgrenze "möglischer Wortsinn" Grimms Deutsches Wörterbuch zu Rate ziehen (und damit auf den allgemeinen Sprachgebrauch abstellen); so u. a. BGH St 22, 14, 16; 24, 352, 355; weiter BGH St 14, 55,57. J3 Vgl. § 1 Il 1 a, b.

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setzgeber grundsätzlich auch gar kein anderes Verständigungsmittel als die Sprache zu Gebote steht, so ist diese Feststellung jetzt wie folgt zu präzisieren: Das Verständigungsmittel Sprache, das auch dem Gesetzgeber vorgegeben ist, läßt sich nicht "auseinanderdividieren" in eine "juristische" und eine "allgemeine" Sprache. Vielmehr gibt es nur eine einheitliche Sprache, die sich an jedermann richtet und für jedermann das einzige Verständigungsmittel im sozialen Zusammenleben ist (selbst Gebärden und ähnliche Äußerungen durch "konkludentes Verhalten" haben ja semantische Bedeutung; denn sie sind " Äußerungen " , erzeugen also sprachliche Vorstellungen wie das gesprochene oder geschriebene Wort). Diese einheitliche Sprache hat nun allerdings Bereiche unterschiedlicher Zugänglichkeit: Neben der gewöhnlichen Umgangssprache mit ihren Worten, die grundsätzlich jedermann versteht, gibt es unzählige Ausdrücke, die nur den Angehörigen bestimmter Berufe ohne weiteres zugänglich sind; man denke nur an die Fachausdrücke ("termini technici") der Mediziner, Naturwissenschaftler und Techniker oder an die Terminologie der heutigen Soziologie. Zudem gibt es - insbesondere im Bereich sozialer Subkulturen (z. B. bei Strafhäftlingen) - das Phänomen von Ausdrucksweisen, die grundsätzlich nur den Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen verständlich sind. Immer handelt es sich aber um das eine Verständigungsmittel "Sprache". Daß es in dem weiten Rahmen dieses Kommunikationsmittels Bereiche unterschiedlicher Zugänglichkeit gibt, bedeutet für die Normsetzung: Die Verwendung von solchen Ausdrucksweisen, die ohne weiteres nur Angehörigen eines bestimmten sozialen Milieus vertraut sind, verbietet sich von selbst. Demgegenüber ist bei der Abfassung von Gesetzen der Gebrauch von solchen Worten, die entweder schlechthin oder doch in ihrem Sachzusammenhang grundsätzlich nur für Fachleute verständlich sind, häufig unumgänglich. D. h. das Gesetz verwendet nicht nur solche Begriffe, die im täglichen Leben in ihrer Bedeutung jedermann zugänglich sind; sondern manchmal erfordert die Natur der geregelten Materie auch den Gebrauch medizinischer, naturwissenschaftlicher, technischer o. ä. Fachausdrücke. Ob es aber um Worte der alltäglichen Umgangssprache des Bürgers oder um solche Fachausdrücke geht, stets handelt es sich um verbale Kommunikationsmittel; und für solche ist bei Beobachtung der Lebenswirklichkeit die Feststellung erlaubt: Es gibt einen weiten Bereich, in dem sich Konsens darüber erzielen läßt, welche Sachverhalte von einem Wort unter Berücksichtigung seines Kontextes sprachlich zweifelsfrei erfaßt werden, welche mit ihm möglicherweise gemeint sind und welche man ihm sprachlich beim besten Willen nicht mehr zuordnen kann. M. a. W.: Es gibt Fälle positiver Gewißheit ("Begriffskern"), Fälle negativer Gewißheit und dazwischen den Bereich des "Begriffshofs".

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Diese Unterscheidung ist - wie sich zeigen wird (unten, b) - für das Verständnis des angeblichen Gegensatzes zwischen "juristischem" und "allgemeinem" Sprachgebrauch von Bedeutung; sie soll daher an den folgenden Beispielen verdeutlicht werden: (2) Zunächst gibt es zahlreiche Worte, die - zumindest in einem bestimmten Kontext - weitgehend eindeutig und daher, als Rechtsbegriffe verwandt, relativ "bestimmt" sind, nämlich u. a. Worte wie "Mann"/"Frau" - hier kann es im wesentlichen Zweifel nur bei Hermaphroditen (Zwitter) oder bei Transsexuellen nach der sogen. "operativen Geschlechtsumwandlung"14 geben; "Beischlaf" - hier ist sprachlich klar, daß stets eine Vereinigung der Geschlechtsteile erforderlich ist, und zweifelhaft kann allenfalls sein, in welchem Umfang das männliche Glied in das weibliche Geschlechtsorgan eingedrungen sein muß1S. Schon die Umgangssprache kennt also Begriffe, die weitgehend "eindeutig" sind, d. h. bei denen nur ein schmaler Begriffshof als Bereich zwischen den Zonen positiver und negativer semantischer (sprachlicher) Gewißheit besteht. Und daß wissenschaftliche oder technische Fachausdrücke sogar typischerweise in diesem Sinne weitgehend "bestimmt" sind, folgt schon aus ihrer Funktion. Wichtiger aber als die dargelegte Tatsache, daß viele Worte, jedenfalls in einem bestimmten Kontext, sprachlich relativ scharfe Konturen aufweisen, ist aber die folgende Beobachtung: Zumindest diejenigen Ausdrücke des Kommunikationsmittels "Sprache", die nach ihrer Sprachfunktion stärker deskriptiven als normativen Charakter haben, bieten grundsätzlich eine breite Zone negativer Gewißheit und erlauben daher, als Rechtsbegriffe verwandt, eine hinreichend klare negative Abgrenzung des Geltungsbereichs des gesetzlichen Regelungsrahmens. Wenn z. B. der Straftatbestand des § 142 StGB a. F. (Verkehrsunfallflucht) als Tathandlung die "Flucht" des Täters erforderte, so ließ dieser Begriff zwar nach seiner sprachlichen Reichweite viele Fragen offen ts • Gleichwohl erfüllte er eine bedeutsame negative Abgrenzungsfunktion: Er schränkte nämlich den Bereich der strafbaren Unfallflucht zumindest insoweit eindeutig ein, als "Flucht" stets eine räumliche Entfernung vom Unfallort verlangte; sonstige Maßnahmen zur Vereitelung des Feststellungsinteresses anderer Unfallbeteiligter genügten danach nicht17• 14 Zur rechtlichen Problematik der Transsexualität vgl. u. a. Walter, JZ

1972, S. 263 (m. w. N.); BGH JZ 1972, S. 281. t5 Dazu BGH St 16, 175 (gegen BGH NJW 1959, S. 1091). t8 VgI. bei SchönkelSchröder, 17. AufI. 1974, § 142 Rdnr. 18 - 21 (m. w. N.).

17 Selbst die problematischen Entscheidungen des BGH zur Verkehrsunfallflucht nach § 142 StGB a. F. bei Verletzung der sog. "Rückkehrpflicht" (vgI. BGH St 14, 213, 217 f.; 18, 114, 118; dazu kritisch u. a. Cramer, Straßenverkehrsrecht, § 142 StGB Rdnr. 34; Schröder aaO, Rdnr. 23 m. w. N. pro

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Und selbst ein so relativ unbestimmter Ausdruck wie "Waffe oder anderes gefährliches Werkzeug" (§ 223 a StGB), der einen weiten sprachlichen Rahmen für Zweifelsfragen offenläßt, bietet insoweit eine durchaus brauchbare Begrenzung des Bereichs, den diese Norm erfassen soll, als man z. B. bloße Körperteile (Faust, Fuß) oder unbewegliche Sachen (z. B. eine Hauswand, gegen die der Täter das Opfer stößt) dem Begriff "Waffe oder anderes gefährliches Werkzeug" sprachlich beim besten Willen nicht mehr zuordnen kann1s. Selbst bei solchen (Rechts-)Begriffen, die vornehmlich normativer Natur sind - z. B. "sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit"18; "schwere Eheverfehlung" (§ 43 EheG) -, gibt es unter Berücksichtigung ihres Kontextes Fälle positiver und negativer Gewißheit: Für die "sexuelle Handlung" haben wir dies bereits gezeigt20 ; und was die "schwere Eheverfehlung" angeht, so erfaßt dieser Begriff gewiß Fälle schwerer körperlicher Mißhandlung des Ehepartners und gewiß nicht den flüchtigen Wangenkuß, den ein Ehepartner auf einer Karnevalsfeier einer Person anderen Geschlechts versetzt. D. h. selbst sehr unbestimmte normative (Rechts-)Begriffe sind sprachlich nicht völlig konturenlos. b) Unserer Unterscheidung zwischen solchen Fällen, in denen der zu entscheidende Sachverhalt sprachlich zweifelsfrei von einer Norm erfaßt bzw. nicht erfaßt wird (Fälle positiver bzw. negativer Gewißheit), und den Fällen, bei denen jener Sachverhalt dem Begriffshof der fraglichen Norm zuzuordnen ist, kommt nun für das rechte Verständnis vom Verhältnis des "juristischen" zum "allgemeinen" Sprachgebrauch die folgende Bedeutung zu: (1) In Fällen positiver bzw. negativer Gewißheit lassen sich juristischer und allgemeiner Sprachgebrauch nicht trennen.

(a) Wer eine Norm auf einen Lebenssachverhalt anwendet, der ihr sprachlich beim besten Willen nicht mehr zugeordnet werden kann, verläßt stets den Rahmen ihres "möglichen Wortsinns": Da die Rechtsbegriffe ja, wie ausgeführt, aus dem Stoff der einen einheitlichen Sprache gebildet sind, indem sie entweder - und das ist und contra) knüpfen stets an eine vorhergehende räumliche Entfernung vom Unfallort an (zur Vereinbarkeit dieser Rspr. mit dem möglichen Wortsinn der Norm vgl. unten im Text, § 3 I 1). lS Dazu, daß bloße Körperteile keine "Werkzeuge" i. S. des § 223 a StGB sind, siehe SchönkelSchröder, Rdnr. 4, und die Glosse von E. Foth, JZ 1973, S.69.

Zum Problem: unbewegliche Sachen als "Werkzeug", vgl. -

BGH St 22, 235. 19 §§ 174 ff. i. V. m. 184 c StGB n. 20 Oben, Kapitel 5, § 1 I 2 b (1).

F.

wie hier -

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der Regelfall - Worte der Umgangssprache des täglichen Lebens wie "Waffe", "Kind", "Wald" u. ä. oder - sofern die Regelungsmaterie dies gebietet - wissenschaftliche oder technische Fachtermini verwenden, können sie aus kommunikationstheoretisehen Gründen nie eine weiterreichende Bedeutung haben, als diese Worte unter Berücksichtigung ihres Kontextes erlauben: Man kann mittels eines Kommunikationsmittels nicht mehr mitteilen, als dies Mittel zuläßt. Der technisch-juristische Sinn eines Rechtsbegriffs kann also, wenn er der Umgangssprache entnommen ist, nicht über den äußersten Rahmen der möglichen Bedeutungen hinausgehen, die sich auch im niehtjuristisehen Sprachgebrauch noch mit ihm verbinden können; und insbesondere gilt diese Begrenzung der möglichen Sinngehalte eines Rechtsbegriffs durch den außerjuristischen Wortsinn bei Fachausdrücken der Wissenschaft und Technik. Das besagt: Wo nach dem nicht juristischen Wortsinn ein Fall negativer Gewißheit vorliegt, kann man diese sprachliche Schranke des gesetzlichen Regelungsrahmens nicht unter Berufung auf eine angeblich weiterreichende "juristische" Wortbedeutung hinwegdisputieren. (b) Und auch im umgekehrten Fall, dem positiver Gewißheit, gilt dies Verbot, die Auslegungsschranke "möglicher Wortsinn" durch Berufung auf einen juristischen Sprachgebrauch zu überspielen: Wer eine Norm als - gemessen an ihrem Regelungszweck - sprachlich zu weitgefaßt empfindet und daher einen Fall, der ihrem Begriffskern zuzuordnen ist, aus ihrem Anwendungsbereich ausklammert, verläßt den Rahmen der Auslegung, da der mögliche Wortsinn der Norm eine solche Ausnahme nicht deckt; in derartigen Fällen liegt "teleologische Reduktion" (als Mittel der gesetzesergänzenden Lückenfüllung) vor21 • Solche Eingriffe in den sprachlichen Kernbereich von Gesetzen sollte man offenlegen22 und nicht unter Berufung auf einen angeblichen "juristischen" Sprachgebrauch als "Auslegung im Rahmen des möglichen Wortsinns" ausgeben. 21 Zur teleologischen Reduktion als Einschränkung des sprachlichen Kernbereichs eines Gesetzes vgl. bereits oben, Kapitell, § 3 H 1 a (2); Kapitel 6, § 1 I 1 a (2).

Vgl. weiter unten, § 3 H.

Ein Beispiel einer solchen Reduktion bot die Rechtsprechung des RG zu

§ 46 Nr. 2 StGB a. F. (dazu unten, § 3 H).

22 Dies jedenfalls im Hinblick auf Art. 103 II GG - dort, wo sich solche Eingriffe zu Lasten des Täters auswirken. Eine derartige teleologische Reduktion zu Lasten des Täters läge etwa vor, wenn man die (gegenüber §§ 211, 212) privilegierende Vorschrift des § 217 StGB in solchen Fällen nicht anwenden wollte, in denen die Täterin aus Habgier gehandelt oder ein anderes Mordmerkmal erfüllt hat.

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(2) Wenden wir uns nun der Bedeutung des angeblichen Gegensatzes zwischen "juristischer" und "allgemeiner" Wortbedeutung für die Fälle zu, die dem Begriffshof von Worten zuzuordnen sind.

Hier kann der "juristische" Sprachgebrauch eine Präzisierungsfunktion erfüllen: Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür bot § 142 StGB a. F., wo von einem "Verkehrsunfall" die Rede ist. Hierzu könnte man sprachlich unbedenklich Kollisionen beim Schiffsverkehr oder Skiunfälle zählen; gleichwohl lehnte der BGH eine Anwendung jener Strafnorm auf solche Unfälle mit Recht ab!3; denn nach der rechtspolitischen Wertung des Gesetzgebers meinte das Gesetz mit dem Begriff des Verkehrsunfalls nur Unfälle im Straßenverkehr!4. Solche Präzisierung von Rechtsbegriffen durch Einengung des weiten Rahmens, den das Verständigungsmittel Sprache bietet25 , ist eine der vornehmsten Aufgaben juristischer Begriffsbildung. Wer dagegen meint, der Rechtsanwender dürfe dem Gesetzestext erst Gewalt antun und dann solche Wortsinnüberschreitung unter Berufung auf ein vermeintliches Recht eigenständiger juristischer Begriffsbildung noch als Texttreue ausgeben, verkennt gründlich die Aufgabe der Auslegung als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens; diese Aufgabe liegt nicht in der Sprengung der sprachlichen Grenzen dieses Rahmens, sondern in dessen Ausfüllung: Rechtsprechung und Lehre verdeutlichen durch Konkretisierung der Norm deren Rechtsbegriffe; und das Mittel der Definition, das dazu verwandt wird, dient der Präzisierung der Rechtsbegriffe gegenüber der unbestimmteren Umgangssprache, nicht der Mißachtung letzterer. c) In den vorstehenden Ausführungen ist die Auseinandersetzung mit dem Problem: "juristischer oder allgemeiner Sprachgebrauch"? davon ausgegangen, daß über die Schranken des jeweils auszulegenden Rechtsbegriffs nach der " nicht juristischen Wortbedeutung" Einigkeit besteht. Für solche Fälle stellte sich die - zu verneinende - Frage, ob der Interpret den feststehenden Rahmen jener Wortbedeutung unter Berufung auf ein vermeintliches Recht eigenständiger juristischer Begriffsbildung sprengen dürfe. Zu berücksichtigen bleibt aber noch die breite "Zone möglicher Zweifel", die sich bei der Frage nach den Grenzen der nicht juristischen Wortbedeutung nicht leugnen läßt: In zahlreichen Fällen ist ja zweifelhaft !3 BGH St 14, 116, 118; zustimmend u. a. Cramer, aaO, Rdnr. 5; Schänke/ Schröder, 17. Aufl. 1974, § 142 Rdnr. 7 (a. A. - für Wasserstraßen - Dreher, 34. Aufl. 1974, Anm. 2; - für Skipisten - Kleppe, NJW 1967, S. 2194). 24 Dazu näher BGH aaO, S. 119 ff.

25 Ein weiteres Beispiel neben dem eben genannten liefert der Begriff des "Verkehrsteilnehmers" i. S. des § 1 StVO, der von Rechtsprechung und Lehre enger verstanden wird als im Sprachgebrauch des Alltagslebens (vgl. Cramer aaO. § 1 StVO Rdnr. 24 m. w. N.).

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- und auch streitig -, ob ein Begriff unter Berücksichtigung seines Kontextes einen bestimmten Sachverhalt noch deckt oder nicht. Was diese Zone möglicher semantischer Zweifel betrifft, kommt dem sogen. "juristischen" Sprachgebrauch eine Funktion zu, die sich als Klärung solcher Zweifelsfragen durch autoritative Entscheidung bezeichnen läßt, was besagen will: Aufgabe der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis ist es bei der Auslegung von Gesetzen nicht nur, den gesetzlichen Regelungsrahmen auszufüllen, sondern zugleich die Schranken dieses Regelungsrahmens zu bestimmen. Denn dort, wo zweifelhaft sein kann, ob der Normtext einen bestimmten Fall noch deckt oder nicht, dort also, wo die Schranken der möglichen sprachlichen Bedeutung eines Wortes auch unter Berücksichtigung seines Kontextes fließend sind, muß diese Frage jedenfalls dann, wenn sie entscheidungserheblich ist, geklärt werden. Dabei kommt letztlich der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung die Funktion zu, in der "Zone möglicher Zweifel" über den vom möglichen Wortsinn abgesteckten Rahmen durch autoritative Entscheidungen für Klärung zu sorgen; solche Entscheidungen konkretisieren dann als law in action!8, d. h. als das in der Rechtswirklichkeit geltende Recht, die Schranken des gesetzlichen Regelungsrahmens. Derartige (höchstrichterliche) Entscheidungen sind natürlich nicht der Kritik des Schrifttums entzogen; dieses mag in vielen Fällen mit guten Gründen rügen, die fragliche richterliche Entscheidung gehe von einem zu weiten oder zu engen sprachlichen Bedeutungsrahmen der Norm aus. Doch bleibt solche Kritik ohne Einfluß auf die Rechtswirklichkeit, wenn sie sich in der Praxis nicht durchzusetzen vermag. Dies bedeutet: Was die "Zone möglicher Zweifel" über die' semantische Reichweite von Normen und damit über die formale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens betrifft, haben die Juristen und letztlich die (höchstrichterliche) Rechtsprechung das Monopol zu Konkretisierung der Wortsinnschranke der Auslegung 27 • Diese Schranke verläuft in der Rechtswirklichkeit eben dort, wo die Rechtsprechung sie annimmt. Und damit ist es faktisch weitgehend der juristische Sprachgebrauch - oder genauer: der Sprachgebrauch der Rechtsprechung -, der für den möglichen Wortsinn des Gesetzes maßgeblich ist. Aber diese faktische Bedeutung des "juristischen" Sprachgebrauchs bei der Konkretisierung der Schranken, die der "mögliche Wortsinn" der Norminterpretation zieht, ändert nichts an der normativen Bindung 28

Zur Bedeutung des "Richterrechts" als law in action vgl. oben, Kapitel 3,

§ 1 II 3.

27 Vgl. auch Reinhard v. Rippel, Gefahrenurteile und Prognoseentscheidungen in der Strafrechtspraxis, S. 12.

11 Krey

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der Auslegung an den "allgemeinen" Sprachgebrauch, wobei diese Bindung besagt: Wenn ein im Gesetz verwandtes Wort nach allen seinen möglichen Sprachbedeutungen, die sich auch im nicht juristischen Sprachgebrauch noch mit ihm verbinden können, einen sozialen Sachverhalt nicht mehr erfaßt, kann dieser Sachverhalt nicht im Wege der Auslegung jenem Rechtsbegriff zugeordnet werden. 11. Zur Orieutieruug am heutigen Sprachgebrauch

Wenn wir in diesem Sinne den "allgemeinen Sprachgebrauch" (den man auch "Sprachgebrauch des täglichen Lebens"; "natürlichen Sprachgebrauch" u. ä. nennt) als Auslegungsschranke bezeichnet haben, ist noch eine ergänzende Klarstellung geboten, die dahin geht: Maßgeblich ist der heutige Wortsinn!, nicht der historische Sprachgebrauch der Zeit, in der das Gesetz erlassen wurde!!. Dies dürfte sich für die Anhänger der "objektiven Auslegungstheorie" , nach der die Auslegung ohne Bindung an den Willen des historischen Gesetzgebers den "heutigen objektiven Normsinn" ermitteln sol13, von selbst verstehen; und so sind es auch vornehmlich Vertreter der objektiven Theorie, die auf den heutigen Wortsinn abstellen. Aber auch wenn man der objektiven Auslegungstheorie nicht folgt, ist unser Abstellen auf den Sprachgebrauch der Gegenwart gerechtfertigt. Denn der "Wille des Gesetzgebers", der nach der subjektiven Theorie4 der Interpretation Schranken zieht, ist entgegen einer noch immer vereinzelt vertretenen Ansicht nicht mit den "Inhaltsvorstellungen" des Gesetzgebers und insbesondere nicht mit seiner Vorstellung von der möglichen sprachlichen Reichweite der von ihm verwandten Rechtsbegriffe gleichzusetzen5 • Vielmehr ist der "Wille des historischen Gesetzgebers", soweit er bei der Norminterpretation Beachtung verlangt, normativ zu verstehen, und zwar als der rechtspolitische Zweck, als die rechtspolitische Wertung des Gesetzgebers'. Eine so verstandene subjektive Theorie, die den Normanwender nicht an die 1 Vgl. BGH St 1, 1, 3; 14, 152, 154; J. Baumann, AT S. 154; Faller, DB 1972, S. 1758 (r. Sp.); Haak, Normenkontrolle und verfassungskonforme Gesetzesauslegung des Richters, S. 231; Maurach, AT S. 104; Mezger, Strafrecht, S. 85; Stöckel, Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht, S. 84 (a. E.) f.; vgl. weiter Schönke/Schröder, § 1 Rdnr. 51; ebenso im Grundsatz Larenz, Methodenlehre, S. 310 f. 2 Anders aber H. Mayer, AT (1953), S. 83 f.; ders., AT (1967), S. 36; G. u. D. Reinicke, NJW 1951 S. 683; R. Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, S.165. 3 Dazu bereits oben, Kapitell, § 3 11 2 a (a. E.). 4 Zu ihr bereits oben, aaO. S Anders aber Naucke (vgl. oben, Kapitel 2, § 1 12 b (2) (b) mit Anm. 39, 40). G Enneccerus/Nipperdey, H. Mayer, Roth-Stielow, Rüthers u. a. (vgl. oben,

Kapitel 2, § 1 aaO, mit Anm. 44).

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Vorstellung des historischen Gesetzgebers über die Bedeutung seiner Rechtsbegriffe bindet, sondern an die gesetzgeberische Wertung, erlaubt es, die Wortsinnschranke der Auslegung auf den heutigen Sprachgebrauch zu beziehen. Und nur dies Abstellen auf den Sprachgebrauch der Gegenwart kann dem Wesen der Rechtsnorm genügen: Denn als Regelungsrahmen will die Norm den rechtsanwendenden Organen ermöglichen, dem Wandel der sozialen Verhältnisse und Anschauungen gerecht zu werden. Diese Funktion des gesetzlichen Regelungsrahmens spricht dafür, daß der Normanwender einen etwaigen Wandel des Sprachgebrauchs - z. B. beim Begriff "Waffe" (§§ 223 a, 250 StGBF - berücksichtigen darf. Dies bedeutet zwar, daß die formale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens durch den "möglichen Wortsinn" des Gesetzes nicht starr ist, sondern sich im Laufe der Zeit entsprechend dem Wandel des Sprachgebrauchs verändern kann. Aber Gesetze sind eben nicht nur für gestern und heute, sondern auch für morgen erlassen; und diesem Geltungsanspruch der Gesetze muß gerecht werden, wer die Normauslegung durch den möglichen Wortsinn der Norm begrenzen will. § 3. Beispiele für die Vberschreitung oder "Unterschreitung" der Wortlautschranke im Strafrecht I. Vbersclueitung 1. Wortsinnüberschreitungen bei der Gesetzesauslegung in der Rechtsprechung des BGH

a) In seinem vielzitierten und bereits oben erwähnten I Urteil zum Preußischen Gesetz betreffend den Forstdiebstahl hat das Gericht Kraftfahrzeuge unter den Begriff "bespanntes Fuhrwerk" subsumiert und dabei selbst eingeräumt, der Normtext sei hier überschritten; und das ist er in der Tat: Zwar sind heute Kraftfahrzeuge an die Stelle von Pferde- oder Ochsengespannen getreten; doch ist der Wortsinn des Begriffs "bespanntes Fuhrwerk" noch heute auf letztere beschränkt!. b) Neben Entscheidungen des BGH, die offen bekennen, die ihnen zugrundegelegte Interpretation einer Norm überschreite deren TextlI, gibt es weitere Urteile und Beschlüsse des Gerichts, die sich bei der GeDazu BGH St 1, 1,3; Larenz aaO (m. w. N.). lOben, § 1 I 2 b mit Anm. 4. 2 Daß der BGH (aaO) den möglichen Wortsinn der Norm überschritten hat, nehmen u. a. an: Grünwald, Jescheck, Roxin und Schünemann (oben, § 1 I 2 b, Anm. 5; zweifelnd Schönke!Schröder, abweichend Blei und Welzel (oben, § 1 aaO). 3 Dazu oben, § 1 I 2 b. 7

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setzesauslegung vom Gesetzestext gelöst haben, dies aber nicht sehen oder doch nicht einräumen: Hierher gehören u. a. die bekannten Entscheidungen des Gerichts, die bei § 142 StGB a. F. eine strafbewehrte Rückkehrpflicht angenommen haben4 : . Das Gericht statuierte, aus dieser Strafnorm ergebe sich eine Verpflichtung zur Rückkehr an den Unfallort für diejenigen Unfallbeteiligten, die sich zunächst unvorsätzlich, erlaubt oder schuldlos vom Unfallort entfernt hätten; diese Rückkehrpflicht bestehe solange, als noch ein "räumlicher und zeitlicher Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen" gegeben sei, und ihre Verletzung sei als Unfallflucht (§ 142 StGB) mit Strafe bedroht. Für diese Rechtsprechung mögen gute kriminalpolitische Gründe gesprochen haben; doch im Wege der Auslegung als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens ließ sich eine Rückkehrpflicht aus dem Gesetz nicht ableiten5 • Denn § 142 StGB a. F. umschrieb die Tathandlung dahin, der Täter müsse sich den in dieser Norm genannten Feststellungen "durch Flucht entziehen". Von "Flucht" kann aber beim besten Willen nicht mehr gesprochen werden, wenn jemand nicht zum Unfall ort zurückkehrt, nachdem er sich in strafloser Weise entfernt hat. Folglich war jene Rechtsprechung zur Rückkehrpflicht mit dem möglichen Wortsinn des Gesetzes nicht mehr vereinbare und stellte daher Rechtsfortbildung außerhalb des gesetzlichen Regelungsrahmens von § 142 StGB a. F. dar.

2. Norminterpretationen im Schrifttum, die den Rahmen des möglichen Wortsinns überschreiten a) Ein "Paradebeispiel" hierfür bietet die sogen. "große berichtigende Auslegung" des § 246 StGB: Nach dem Text dieser Norm erfordert der Tatbestand der Unterschlagung die Zueignung einer Sache, die der Täter "in Besitz oder Gewahrsam hat". Dies Erfordernis wird von vielen dahin verstanden, der Täter müsse Alleingewahrsam (bzw. der Mittäter Mitgewahrsam) am Tatobjekt erlangt haben, bevor er es sich zueigne 7 ("strenge Auslegung"). Eine vermittelnde Auffassung hält demgegenüber zwar daran fest, Unterschlagung sei nur die Zueignung einer Sache, an der man Gewahrsam habe, 4

BGH St 14, 213, 217 f.; 18, 114, 118 ff.

Ebenso u. a. Cramer, Straßenverkehrsrecht, § 142 StGB Rdnr. 34, und Schönke/Schröder, 17. Aufl. 1974, Rdnr. 23; Schröder, NJW 1966, S. 1001; Schmidhäuser, JZ 1955, S. 433 ff. e So insbesondere Cramer aaO; Grünwald, ZStW Bd. 76 (1964), S. 3, 15; Roth-Stielow, NJW 1963, S. 1088 f.; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S. 366 f. 7 Nachweise bei Krey, BT 2. Bd. S. 60 f. S

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läßt aber genügen, daß Gewahrsamserlangung und Zueignung zeitlich zusammenfallen (sogen. "kleine berichtigende Auslegung")8. Die sogen. "große berichtigende Auslegung" geht nun noch einen Schritt weiter; .sie deutet die Formel: "Sache, die er (Täter) in Besitz oder Gewahrsam hat", um in ein - sprachlich "schlecht formuliertes" - bloßes Abgrenzungskriterium zum Diebstahl ohne den Charakter eines eigentlichen Tatbestandsmerkmals und kommt danach zu der These, § 246 StGB erfasse jede Zueignung ohne Gewahrsamsbruchu• (1) Daß diese (große) berichtigende Auslegung sich über den Normtext hinwegsetzt, liegt auf der Hand10 und wird von ihren Anhängern auch zugestanden. Begründet wird diese Textmißachtung einmal mit der Entstehungsgeschichte des § 246 11 : Die Ansicht, Unterschlagung sei jede Zueignung ohne Gewahrsamsbruch, entspreche dem Willen des Gesetzgebers und sei nur sprachlich "nicht voll geglückt". Indes hat Bockelmannl! überzeugend dargelegt, daß die Gesetzesmaterialien für die große berichtigende Auslegung nichts hergeben, so daß die Problematik, ob bei "Redaktionsversehen" eine "berichtigende Auslegung" unter Textmißachtung statthaft sei1 3, für § 246 unerheblich ist. Zum anderen werden kriminalpolitische Gründe geltend gemacht: Die (große) berichtigende Auslegung solle die anderenfalls auftretenden Strafbarkeitslücken im Bereich zwischen §§ 242 und 246 StGB schließenu. Und hier ist nun die erstaunliche Feststellung zu treffen, daß Anhänger dieser Auffassung zum Allgemeinen Teil des StGB ausführen, der Normtext begrenze die Auslegung, dann aber im Besonderen Teil bei § 246 StGB jene Interpretationsschranke aus kriminalpolitischen Gründen preisgeben15•

(2) Der Vorwurf der Mißachtung des Normtextes wird übrigens vereinzelt auch gegenüber der erwähnten kleinen berichtigenden Auslegung des § 246 StGB erhoben 1«!, aber wohl zu Unrecht.

Denn die äußersten Schranken der möglichen Wortbedeutung der Formel: "Zueignung einer Sache, die der Täter in Gewahrsam hat", sind noch nicht gesprengt, wenn man hierfür genügen läßt, daß Ge8 aaO. D So schon Binding, Lehrbuch I, S. 275 f.; weitere Nachweise bei Krey aaO. 10 Ebenso u. a. Bockelmann, MDR 1953, S. 3 ff.; Schünemann, JuS 1968, S. 116; Jescheck, Studium Generale 1959, S. 111-114. 11 Welzel, JZ 1952, S. 618. l! aaO. 13 Dazu unten im Text, § 4 I 2; 11 2. U Vgl. etwa SchönkelSchröder, § 246 Rdnr. 1. Eine Strafbarkeitslücke, die nur nach. der "großen berichtigenden Auslegung" zu schließen ist, liegt etwa in folgendem Fall vor: A verleiht dem B eine dem E gehörige Sache; später veräußert er sie an den gutgläubigen B. Vgl. dazu Krey aaO, S. 61. 15 Vgl. nur SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 48, 63 einerseits, § 246 Rdnr. 1 andererseits. 18 So die in Anm. 10 genannten Autoren.

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wahrsamserlangung und Zueignung zeitlich zusammenfallen (wie dies z. B. bei der Fundunterschlagung der Fall ist). Allerdings wird von J. Baumann17 geltend gemacht, man dürfe für das Kriterium "möglicher Wortsinn" nicht an die "äußerste Grenze der Wortbedeutung" der Rechtsbegriffe gehen, also nicht "ganz entfernt mögliche" sprachliche Deutungsmöglichkeiten genügen lassen; maßgeblich sei vielmehr die "der Allgemeinheit noch zugängliche Wortbedeutung". Das Anliegen, das hinter diesem restriktiven Verständnis der Wortsinnschranke steht, nämlich eine Aushöhlung dieser Auslegungsbegrenzung zu verhindern, ist nun gewiß verständlich. Indessen handelt es sich bei dem möglichen Wortsinn nur um ein negatives, formales Abgrenzungskriterium, das verhindern soll, daß man Normen über die Schranken ihres Textes hinaus extendiert und sich gleichwohl noch berühmt, nur "ausgelegt" zu haben, daß man also die Legitimationswirkung des gesetzlichen Regelungsrahmens in Anspruch nimmt, obwohl man diesen Rahmen verlassen hat. Und dieser negativen Abgrenzungsfunktion des Kriteriums "möglicher Wortsinn" genügt man auch, wenn man auf die äußersten Schranken der möglichen Wortbedeutungen abstellt. Im übrigen dürfte die von Baumann vorgenommene Differenzierung zwischen der "äußersten Grenze der Wortbedeutung" und dem auch "der Allgemeinheit noch zugänglichen Wortsinn" sprachlich kaum nachvollziehbar sein: Das Beispiel, das Bawmann anbietett 8 - chemisch wirkende Mittel seien keine "Waffen" nach diesem letzteren Wortsinn-, vermag jedenfalls nicht zu überzeugen; denn welcher Bürger wollte von "Begriffsverdrehung" sprechen, wenn man Salzsäure, mit der ein Räuber sein Opfer angreift, unter den Begriff "Waffe" (§ 250 I Nr. 2 StGB) subsumiert19? b) Als weiteres Beispiel einer Interpretation über den Rahmen des Normtextes hinaus sei u. a. die Meinung genannt, Hehlerei in der Begehungsform des "Absetzens" erfordere nicht, daß es tatsächlich zum Absatz gekommen sei, vielmehr genüge die Entfaltung einer den Absatz bezweckenden Tätigkeit20 • Vgl. oben, § 2 I Anm. 4. Grenzen der individuellen Gerechtigkeit im Strafrecht, S. 124. 18 Daß diese Subsumtion sich im Rahmen des möglichen Wortsinns des Begriffs "Waffe" (§§ 223 a, 244, 250 StGB) hält, ist ganz h. M.; vgl. nur BGH St 1,1,3; Larenz, Methodenlehre, S. 310 f. !O Jene Meinung vertreten unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers - Dreher und D. Meyer (Nachweise bei Krey, BT 2. Bd. s. 179); a. A. dagegen zu Recht die h. M.; vgl. BGH NJW 1976, 1698 f., Küper, JuS 1975, S. 633 ff., und Krey aaO (m. w. N.), die dabei auf den Normtext als Auslegungsschranke abstellen. 17

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c) Ebenfalls um Gesetzesauslegung, die vom möglichen Wortsinn der Norm nicht mehr gedeckt wird, handelt es sich bei der Ansicht, Unternehmen, die einen "Filmkassettenverleih" betreiben, seien als "Leihbüchereien" i. S. des § 184 I Nr. 3 StGB zu behandeln21 : Denn beim besten Willen läßt sich nicht sagen, der Begriff "Buch" umfasse nach allgemeinem Sprachgebrauch auch Filmkassetten. d) Mit dem Normtext unvereinbar ist schließlich auch die Meinung, § 81 c I StPO erlaube nicht nur Untersuchungen "an dem Körper" der fraglichen Person, sondern könne auch Untersuchungen nach Spuren im Körper, die einen Eingriff in das Körperinnere erforderlich machen, rechtfertigen22 • 11. "Unterscl1reitung" des möglichen Wortsinns

Nicht Auslegung, sondern allenfalls "teleologische Reduktion" als eines der Mittel der Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen (praeter legern) ist anzunehmen, wenn man die Anwendung einer nach ihrem sprachlichen Bedeutungskern (Begriffskern) passenden Gesetzesnorm für bestimmte Fälle ablehnt1 . Ein Beispiel für ein solches Zurückbleiben des Normanwenders hinter der denkbar engsten sprachlichen Bedeutung eines Gesetzes ("Unterschreiten" des Wortsinns) bot die Rechtsprechung des RG zu § 46 Nr. 2 StGB a. F.: Nach dem klaren Wortlaut dieser Vorschrift war der Rücktritt vom beendeten Versuch, bei dem der Täter den Erfolgseintritt durch eigene Tätigkeit abgewendet hatte, nur dann nicht strafbefreiend, wenn seine Handlung bereits entdeckt war. Das RG und Teile der Lehre wollten der objektiven Entdeckung aber den Fall gleichstellen, daß sich der Täter irrig entdeckt glaubte (oder aus sonstigen Gründen unfreiwillig handelte)!. Hier war m. E. der Rahmen des möglichen Wortsinns der Norm verlassen3 und konnte daher von Auslegung als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens keine Rede mehr sein. 21 Jene Ansicht vertreten u. a. OLG Karlsruhe, NJW 1974, S. 2015, 2016 f.; Fr.-Chr. Schroeder, Das neue Sexualstrafrecht, S. 66; Dreher, Anm. 3 C; a. A. zu Recht OLG Stuttgart, NJW 1976, S. 1109; Lackner, Anm. 3b; Laufhütte, JZ 1974, S. 48; Schönke/Schröder, Rdnr. 23. 22 Jener Meinung ist Sarstedt in: Löwe/Rosenberg, StPO, 22. Aufl. 1971, § 81 c Anm. 6; a. A. Kern/Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 171; Roxin, Strafprozeßrecht, Fall 146, b; Kleinknecht, § 81 c Anm. 2; K. Meyer in: Löwe/ Rosenberg, StPO, 23. Aufl. 1976, § 81 c Rdnr. 19 (unter zutreffender Berufung auf den Normtext). 1 So Canaris, Dahm, Larenz und Suppert (oben, Kapitell, § 3 II Anm. 25; vgl. weiter Kapitel 6, § 1 I 1 a (2). 2 RG St 38, 402, 404; 63, 158, 160; Busch, LK (9. Aufl.), § 46 Rdnr. 39; Dreher, 34. Aufl. 1974, § 46 Anm. 1 B b; Stratenwerth, AT Rdnr. 777; Warda-Faber, JuS 1965, S. 444, 448 Erl. 18 (m. w. N.); offengelassen in BGH St 21, 216, 217. 3 So Baumann, AT 5. Aufl., S. 521; Jescheck, Lehrbuch S. 411 (a. E.) f.; Kohl-

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 6

Vielmehr handelte es sich um Rechtsfindung praeter legem mittels teleologischer Reduktion'. Denn wenn der Täter "den Eintritt des zur Vollendung des

Verbrechens oder Vergehens gehörigen Erfolges durch eigene Tätigkeit abgewendet" hatte, war der Versuch nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes stets straflos, sofern die Handlung noch nicht entdeckt war. Wer hiervon unter Berufung auf Sinn und Zweck des § 46 StGB a. F. für Fälle, in denen der Täter sich irrig entdeckt glaubte, eine Ausnahme machen wollte, schränkte den Anwendungsbereich dieser Vorschrift contra verbum legis ein - eben das nennt man teleologische ReduktionS. § 4. Ausnahmen von der Wortlautgrenze? I. Stellungnahmen in Rechtspredlung und Lehre Viele Autoren halten die These, der mögliche Wortsinn des Gesetzes sei Auslegungsschranke, zwar grundsätzlich für richtig, wollen aber für bestimmte Fälle Ausnahmen zulassen: 1. Druckfehler

Von ihnen spricht man, wenn die Verlautbarung des Gesetzes im Gesetzblatt von dem in der "Originalurkunde" (d. h. der ausgefertig-

ten Gesetzesfassung1 , Art. 82 GG) festgestellten Gesetzestext abweicht!. Hier soll nach ganz h. M. nicht der publizierte, sondern der in der Originalurkunde enhaltene Normtext maßgeblich sein3 : Das auszulegende Gesetz sei der beschlossene und ausgefertigte Normtext, nicht ein beim Druck des Bundesgesetzblattes veränderter. Die Korrektur solcher Druckfehler bei der richterlichen Rechtsfindung bedeutet danach zwar eine Abweichung vom verkündeten, nicht aber vom wirklich Gesetz gewordenen Normtext der Originalurkunde. Binding hat diese Ansicht näher begründet; er schreibt':

"Der Publikationsbefehl geht dahin, den Inhalt der Originalurkunde durch Ausfertigung und Ausgabe beglaubigter Kopien zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Die Veröffentlichung (im Gesetzblatt) gilt also dem in der Originalurkunde niedergelegten Rechtswillen: und er und nur er wird durch sie zum Gesetze erhoben. Auch durch die falsche Veröffentlichung wird dem formellen rausch-Lange, Anm. VII 2a; SchönkelSchröder, 17. Aufl. 1974, § 46 Rdnr. 33 f.; Welzel, Lehrbuch S. 199. , Zu weiteren Beispielen einer teleologischen Reduktion im Strafrecht vgl. etwa oben, § 2 I 3 b, Anm.22, und Krey, BT 1. Bd. S. 162, 163 (Fall 59). 5 Vgt. oben, Kapitell, § 3 II 1 a (2). 1 Vgl. MaunzlDüriglHerzog, Art. 82 Rdnr. 1 mit Anm. 1. I Zum Druckfehler vgl. u. a. Binding, Handbuch, S. 459 f.; Enneccerusl Nipperdey, § 52 I (S. 322); Mezger, Strafrecht S. 80; Rittler, Lehrbuch des österreichischen Strafrechts, S. 35; J. Baumann, Einführung in die Rechtswis-

senschaft, S. 82. 3 So die in Anm. 2 Genannten. , aaO.

2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 6

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Erfordernis der Publikation genügt. Gesetz ist also der richtige Text geworden, und wie jede beglaubigte Kopie aus dem Original berichtigt werden muß, so auch diese (falsche Veröffentlichung)." Folgt man dem, so ist die Korrektur von Druckfehlern bei der Gesetzesauslegung kein Fall einer überschreitung des Gesetzestextes, sondern bedeutet lediglich ein textgetreues Zurückgehen auf den maßgeblichen Wortlaut der Originalurkunde, so daß sich danach die Frage, ob von dem Prinzip der Textbindung der Interpretation Ausnahmen zu machen seien, für die Behandlung von Druckfehlern nicht stellt.

2. Redaktionsversehen Bei ihm stimmt der verkündete Normtext mit dem beschlossenen und ausgefertigten überein; doch beruht der beschlossene Normtext auf einem Versehen des Gesetzgebers: Der Gesetzgeber hat versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt (oder bei einer Gesetzesänderung im Text belassen), als er zu verwenden gedachte (Larenz)5. Verschiedentlich wird allerdings der Begriff "Redaktionsversehen" nicht auf solche Fälle der versehentlichen "Abweichung vom gewollten Wortlaut"6 beschränkt, sondern in einem weiteren Sinne verstanden: Teils bezeichnet man als Redaktionsversehen schlechthin die Diskrepanz zwischen dem Willen des Gesetzgebers und dem Normtext, die insbesondere darin liegen könne, daß dieser - gemessen an dem mit der Norm verfolgten Zweck - zu eng geraten seF. Teils spricht man von ("sekundären") Redaktionsfehlern, wenn der "Sinn des Gesetzes deswegen keinen auf die Dauer hinreichenden Ausdruck gefunden hat, weil die spätere Entwicklung darüber hinweggegangen ist"8. Demgegenüber soll hier terminologisch differ~Jlziert werden zwischen den Fällen, in denen der Gesetzgeber nicht den Ausdruck wählte, den er wählen wollte - etwa weil man einen Gesetzesentwurf versehentlich sprachlich unverändert ließ, obwohl Einigkeit über die Notwendigkeit von Änderungen des Entwurfstextes bestanden hatte -, und solchen Fällen, in denen die beschlossene Textfassung auch die gewollte war - mag sie auch gemessen am Normzweck zu eng oder zu weit geraten sein. Nur bei ersteren soll von "Redaktionsversehen" gesprochen werden, und nur sie sind gemeint, wenn es im folgenden um die Frage geht: Gilt das Prinzip der Textbindung der Auslegung auch bei Redaktionsversehen ? 5 8

Methodenlehre, S. 387 (a. E.). EnnecceruslNipperdey aaO; ähnlich Binding aaO, S. 460 (a. E.) f.; Mezger,

aaO. 7 Vgl. Malaniuk, Lehrbuch des Strafrechts, S. 41; Jescheck, AT S. 125. 8 J escheck aaO.

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 6

Diese Frage wird überwiegend verneint·, und zwar von vielen selbst für die Norminterpretation im Geltungsbereich des Art. 103 II GGI0. Man räumt zwar ein, Gesetz sei der erklärte Wille, wie er im beschlossenen und ausgefertigten Normtext, d. h. in der Originalurkunde, zum Ausdruck gekommen sei, also nicht der davon abweichende gewollte, aber eben nicht beschlossene Textl l ; doch gleichwohl soll bei der Auslegung der erklärte gegenüber dem wirklich gewollten Gesetzestext zurücktreten. 3. Als weitere Ausnahme von dem Grundsatz, der mögliche Wortsinn sei Interpretationsbegrenzung, wird der Fall genannt, daß "technische Entwicklungen funktionsidentische zeitgenössische Äquivalente" für einen Gegenstand geschaffen haben, das Gesetz aber sprachlich nur diesen erfaßt, nicht aber jene "Äquivalente"1.2. Daher habe sich das - bereits erwähnte13 - Urteil des BGH, das Kraftfahrzeuge als "bespannte Fuhrwerke" i. S. des Preußischen Forstdiebstahlsgesetzes behandelte, noch im Rahmen der Gesetzesauslegung gehalten; denn "Lastwagen mit ihren vielen Pferdestärken (seien) wirklich die ,bespannten Fuhrwerke' unserer Zeit"14. 4. Daneben wird noch die Frage diskutiert, ob außerhalb von Redaktionsversehen sonstige gesetzgeberische Irrtümer - seien es Motivirrtümer l5, z. B. unzutreffende oder fehlende Vorstellungen über bestimmte Konsequenzen einer gesetzlichen Regelung U ; seien es irrige Anschauungen über die Reichweite eines Rechtsbegriffs l7 8 RG St 40, 191, 195 (a. E.) f.; Bockelmann, Ist eine berichtigende Auslegung des § 246 StGB statthaft, MDR 1953, S. 5; Enneccerus/Nipperdey aaO; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 169 f.; Jescheck aaO; Stöckel, Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht, S. 85; Malaniuk aaO (zum österreichischen Strafrecht); Mezger aaO; ebenso wohl Larenz aaO. Vgl. weiter Säcker, ARSP 1972, S. 219 (m. w. N.); Heck, AcP Bd. 112 (1914), S. 141 f., 145 f.; H. Mayer, AT (1967), S. 37. 10 So Bockelmann, Engisch, Jescheck, Stöckel und Malaniuk aaO. So schon Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, S. 196. Dagegen aber Binding aaO, S. 462 f.; Rittler aaO (zum österreichischen Strafrecht); Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 86 - 88; ders., JZ 1973, S. 278 mit Anm. 6. 11 Enneccerus/Nipperdey aaO. 1! Roxin, ZStW Bd. 83 (1971), S. 378. Ebenso in der Sache Jescheck aaO (er spricht von "sekundärem Redaktionsfehler", vgl. oben im Text, 2). 13 Oben, § 1 12 b mit Anm. 4; § 3 I 1 a. 14 Roxin aaO. 15 Dazu BGH St 1, 74, 79; Bockelmann, aaO; Roth-Stielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, S. 76; Mezger aaO. 18 Vgl. Stree, JuS 1969, S. 403, 405 (zu § 50 II StGB i. d. F. des EG OWiG von 1968, bei dessen Erlaß der Gesetzgeber die Auswirkungen auf die Verjährung übersehen hatte). 17 Vgl. BGH St 15, 138, 141; weiter BVerfG E 11, 139, 148 f.

2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 6

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legitimer Anlaß für eine Ausnahme von der Textbindung der Gesetzesauslegung sein können. Diese Frage wird ganz überwiegend verneint18 • 5. Nicht mehr lediglich um die Problematik möglicher Ausnahmen von dem Prinzip der Textbindung der Norminterpretation geht es bei der verbreiteten These: bei einer Divergenz zwischen "Wille und Erklärung" - d. h. zwischen dem gesetzgeberischen Zweck und seinem Ausdruck im Normtext - komme im Rahmen der Auslegung dem Willen Vorrang ZUlU. Vielmehr ist mit dieser These die Bindung der Interpretation an den möglichen Wortsinn preisgegeben und ersetzt durch die an den Willen des Gesetzgebers; für sie gilt daher unsere oben dargelegte Kritik20 an der Behauptung: "Höher als der Wortlaut des Gesetzes steht die - sei es im Sinne der subjektiven, sei es im Sinne der objektiven Theorie verstandene - ratio legis". 11. Kritik 1. Druckfehler

Was sie betrifft, halten wir es mit der dargelegten h. M.: Maßgeblich für den Normanwender ist bei einer Abweichung des im Gesetzesblatt publizierten Textes von dem beschlossenen und ausgefertigten der Originalurkunde letzterer; denn die Autorität des vom Gesetzgeber Angeordneten kommt nur dem durch den Gesetzesbeschluß sanktionierten Normtext zu, nicht den bei der Publizierung versehentlich ununterlaufenen Textabweichungen. Geht der Richter also bei solchen Druckfehlern auf den Text der Originalurkunde zurück, so handelt er textgetreu. 2. Redaktionsversehen Ihre Behandlung im Rahmen der Gesetzesauslegung muß davon ausgehen, daß der im Gesetzesbeschluß sanktionierte und dann in der Originalurkunde niedergelegte Normtext der e1·klärte Wille des Gesetzgebers ist. Nur dieser aber - und nicht der gewollte, aber eben nicht sanktionierte Text - ist Gesetz geworden; nur dem beschlossenen Text kommt die Autorität des vom Gesetzgeber Angeordneten zu. Daher ist - wie mir scheint - für die Frage der Texttreue der Auslegung der erklärte, nicht der nur gewollte aber nicht beschlossene, Normtext maßgeblich. Der sanktionierte Gesetzestext ist es, der den gesetzlichen RegelungsSo die in Anm. 15 - 17 genannten Entscheidungen und Autoren. So u. a. Heck, AcP aaO, S. 138 ff.; Goldschmitt, Einheit und Vielfalt des Begriffs der Normhandhabung, S. 198. Siehe jetzt auch Mayr, DAR 1974, S. 65; OLG Koblenz, NJW 1974, S. 1433 f. 20 Vgl. § 1 12 a (2) (a). 18

19

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2.

Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 6

rahmen begrenzt; und da Auslegung hier als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens verstanden wird, ist sie also auch im Falle von Redaktionsversehen durch den sanktionierten Text der Originalurkunde begrenzt. Die Berichtigung von Redaktionsversehen bei der Rechtsfindung ist allerdings - zumindest außerhalb des Geltungsbereichs von Gesetzesvorbehalten wie Art. 103 11 GG - grundsätzlich eine legitime Aufgabe des Richters; aber um "Auslegung" (als bloße Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens) handelt es sich bei solcher Textkorrektur nicht. 3. Wenn schon das Vorliegen eines Redaktionsversehens keine Ausnahme von der hier vertretenen These zu begründen vermag, die Auslegung sei durch den möglichen Wortsinn des Gesetzes begrenzt, so gilt dies erst recht für sonstige gesetzgeberische Irrtümer: Die überschreitung des Normtextes unter Berufung auf solche gesetzgeberischen Versehen mag zwar als Rechtsfindung außerhalb des gesetzlichen Regelungsrahmens zulässig sein (soweit nicht spezielle Gesetzesvorbehalte dem entgegenstehen); der Rahmen der Auslegung ist aber bei einer derartigen Textüberschreitung verlassen. Und schließlich vermag auch die Berufung auf technische Entwicklungen, die einen Normtext als zu eng erscheinen lassen, keine Ausnahme von dem Prinzip der Textbindung der Norminterpretation zu begründen: Wer eine Norm, die von "bespannten Fuhrwerken" spricht, auf Kraftfahrzeuge anwendet, wird nicht mehr innerhalb, sondern außerhalb des gesetzlichen Regelungsrahmens rechtsfortbildend tätig. 111. Ergebnis

Unsere These von der. Begrenzung der Gesetzesinterpretation, verstanden als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens, durch den möglichen Wortsinn des Gesetzes ist daher wie folgt zu präzisieren: Maßgeblich ist der in der Originalurkunde festgestellte sanktionierte Gesetzestext; von der Bindung der Auslegung an den möglichen Wortsinn dieses Textes gibt es keine Ausnahmen.

Kapitel 7

Die rechtspolitische Wertentscheidung des Gesetzgebers als materiale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens Die Frage nach der Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens und damit nach den Abgrenzungskriterien zwischen der richterlichen Rechtsfindung innerhalb und außerhalb eines solchen Rahmens ist mit unserer Feststellung: der mögliche Wortsinn der Norm begrenzt ihren Regelungsrahmen, noch nicht vollständig beantwortet. Denn dem Normtext kommt lediglich eine formale (äußere) Schrankenfunktion zu: Die Auslegung darf nicht den Bereich der sprachlichen Deutungsmöglichkeiten, die der Gesetzestext bietet, verlassen. Gesetzesnormen aber sind keine inhaltsleeren Blankette, keine bloßen Sprachhülsen, die der Richter mit beliebigem Inhalt füllen könnte 1 • Vielmehr gibt es neben dem formalen Abgrenzungskriterium "möglicher Wortsinn" für die Unterscheidung zwischen Rechtsfortbildung innerhalb und außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen noch eine materiale (inhaltliche) Begrenzung dieses Rahmens, und zwar die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers, die der auszulegenden Norm zugrundeliegt: Wird ein Gesetz auf einen Fall angewendet, obwohl dies der ihr zugrundeliegenden Wertentscheidung des Gesetzgebers widerspricht, so handelt es sich nicht mehr um eine bloße Auslegung als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens, sondern um Rechtsfortbildung außerhalb dieses Rahmens 2 , mag auch der Normtext jene Anwendung decken. Diese These von der materialen Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens durch die rechtspolitische Wertung des historischen Gesetzgebers, die ergänzend neben die formale Schranke "möglicher Wortsinn" tritt, ist wie folgt zu begründen: § 1. Zum Streit zwischen objektiver

und subjektiver Auslegungstheorie Eine eingehende Auseinandersetzung mit den (nahezu unzähligen) Äußerungen in Rechtsprechung und Lehre zu diesem Theorienstreit ist hier nicht möglich; sie würde eine eigene umfangreiche Monographie erfordern. Die fol1 2

Dahm, Deutsches Recht, S. 45. Sei es praeter, sei es contra legern.

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 7

gende Darstellung soll sich daher darauf beschränken, die entscheidenden Aussagen der subjektiven und objektiven Theorie zu nennen, vermittelnde Auffassungen mitzuteilen und anschließend die eigene Stellungnahme zu entwickeln. I. Meinungsstand

1. Swbjektive Theorie Nach ihr ist maßgebliches Auslegungsziel die Ermittlung des "Willens des historischen Gesetzgebers"l. Dabei besteht unter ihren heutigen Anhängern weitgehend darüber Einigkeit, daß mit diesem "Willen des Gesetzgebers" nicht die gesetzgeberischen Gebotsvorstellungen (Inhaltsvorstellungen) gemeint sind, sondern die vom Gesetzgeber mit der fraglichen Normierung verfolgten rechtspolitischen Zwecke, seine rechtspolitische Wertentscheidung2 • Wo die Rechtsfindung dieser Wertung des historischen Gesetzgebers nicht gerecht wird, ist nach der subjektiven Theorie der Bereich der Auslegung verlassen und liegt Rechtsfindung praeter (oder gar contra) legern vor.

1

Zur subjektiven Theorie vgl. bereits oben, Kapitel 1, § 3 H 2 a; Kapitel 2,

§ 1 12 b (2) (b); Kapitel 6, § 2 H.

Sie wurde im 19. Jahrhundert insbesondere von Windscheid und Bierling vertreten (vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 16 f., Anm. 4; 29 ff., 42 ff.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 88 f). Zu den "Subjektivisten" wird gewöhnlich auch Savigny gezählt (vgl. Engisch aaO; Enneccerus/Nipperdey, § 54 II, Anm. 2 (S. 324); Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, S. 19 f., Anm. 5; zweifelnd dagegen Larenz aaO, S. 16 f., Anm.4). Auch Heck gehört ins Lager der subjektiven Theorie: Für seine Rechtstheorie ist die gesetzgeberische Wertung ja der eigentliche Schlüsselbegriff; denn für Heck bedeutet die Bindung des Richters an das Gesetz eine unbedingte Bindung an die Wertungen des historischen Gesetzgebers (dazu oben,

Kapitel 2, § 1 12 a (4) (b).

Zu den Vertretern der subjektiven Theorie im heutigen Schrifttum sind u. a. zu rechnen: Engisch, Der Begriff der Rechtslücke, S. 93 Anm. 31; ders., Einführung in das juristische Denken, S. 88 f., 95, 105; Anm. 106 b (S. 230 ff.); Enneccerus/Nipperdey, § 54 (S. 324 ff.); Goldschmidt, Einheit und Vielfalt des Begriffs der Normhandhabung, S. 197 f.; H. Mayer, AT (1953), S. 84; ders., AT (1967), S. 36; Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, S. 185 f., 202 f., 214; ders., JZ 1967, S. 371 f. (vgl. aber auch Nauckes resignierende Stellungnahme in: Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, S. 281 ff.); RothStielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, S. 53, 57 ff.; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 182 f., 437; Säcker, ARSP 1972, S. 219, Anm. 15; ders. DB 1967, S. 2073 f.; ders., ZRP 1971, S. 146; Zimmermann, NJW 1956, S. 1262 ff.; so wohl auch Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 28 IV b 5 (S. 166); vgl. weiter Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, S. 48, 50 f., 53,59. Zur Rspr. des BGH und BVerfG vgl. unten im Text, 3. ! Dazu oben, Kapitel 2, § 1 12 b (2) (b); Kapitel 6 aaO.

2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 7

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2. Objektive Theorie Sie entläßt den Interpreten aus der Bindung an den "Willen des historischen Gesetzgebers" und stellt ihm die Aufgabe, den "heutigen objektiven Normsinn" des Gesetzes zu ermitteln3 • Dem "Willen des Gesetzgebers" soll dabei allenfalls die Bedeutung eines mehr oder weniger gewichtigen Anhaltspunktes für diesen objektiven Normsinn zukommen'.

Binding hat diesen Standpunkt sehr anschaulich in die Worte gekleidet: "Mit dem Momente der Gesetzespublikation, mit deren kategorischen Erklärung: wie es in dem Gesetze steht, so soll es Recht sein, verschwindet mit einem Schlage der ganze Unterbau von Absichten und Wünschen des geistigen Urhebers des Gesetzes, ja des Gesetzgebers selbst: und das Gesetz ruht von nun an auf sich ... , erfüllt von eigenem Sinn; oft klüger, oft weniger klug als sein Schöpfer, oft reicher, oft ärmer als dessen Gedanken4a." Durch diese Lösung des Gesetzes vom "Willen des historischen Gesetzgebers" soll es - um mit Radbruch zu sprechen - in der Lage sein, "in steter Entwicklung ... auf neue Rechtsbedürfnisse und neue Rechtsfragen veränderter Zeitverhältnisse mit neuen Bedeutungen" zu antworten 4b • Zu ihr bereits oben, Kapitell, § 3 11 2 a. Sie wurde im 19. Jahrhundert begründet von Binding, Wach und Kohler (dazu Larenz aaO, S. 34 ff.; zu Binding vgl. unten im Text). Insbesondere Radbruch hat sich dann entschieden für sie eingesetzt (Rechtsphilosophie, S. 210 ff.; RadbruchlZweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 255); vgl. unten im Text. Im heutigen Schrifttum sind zu den "Objektivisten" u. a. zu zählen: Betti, Die Problematik der Auslegung in der Rechtswissenschaft, S. 207, 214 ff.; ders., Allgemeine Auslegungslehre, S. 626 f., 633 (a. E.) f.; Cramer, Vermögensbegriff und Vermögensschaden im Strafrecht, S. 31; Esser, Grundsatz und Norm, S. 173 f., 176, 257 f., 285 und öfter; Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 292, 309 - 311; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 35, 38 und öfter; ders., Strafverfahrensrecht, S. 68; H. J. Hirsch, JR 1966, S. 338; Kruse, Steuerrecht, S. 91 f.; Schwalm, Der objektivierte Wille des Gesetzgebers, S. 50 ff.; ders., JZ 1970, S. 488; Stratenwerth, Zum Streit der Auslegungstheorien, S. 268 ff.; Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, S. 28 - 31; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 235. Ebenso Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, S. 66 ff., 74 ff .. 96 ff.; ders., Grundlagen der Rechtswissenschaft, S. 82 ff. (zum schweizerischen Recht). In den strafrechtlichen Lehrbüchern und den Kommentaren zum StGB sprechen sich für die objektive Theorie aus: u. a. Baumann, AT S. 154; Bockelmann, AT S. 19 f.; Eser, Strafrecht 1, S. 21 f.; KOhlrausch/Lange, § 2 Anm. III B 4; Lackner, § 1 Anm. 1 c; Maurach, AT S. 101 f.; Mezger, Strafrecht S. 85; Schmidhäuser, AT 5/31; Tröndle, LK (9. Aufl.) , § 2 Rdnr. 22, 24, 26, 28; Welzel, Lehrbuch S. 22; Wessels, AT S. 10; SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 52. Zur Rspr. des BGH und BVerfG vgl. unten im Text, 3. 4 aaO. 4a Handbuch, S. 454. 4b RadbruchlZweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 255; vgl. weiter Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 210 - 212. 3

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 7

Die Bedürfnisse der Gegenwart prägen daher nach der objektiven Theorie den Sinn der Rechtsnorm; diese kann also "entsprechend der Bewegung und Wandlung in der Zeit" veränderte Bedeutungen gewinnen, ohne daß sich der Gesetzestext verändert hat4c • Die objektive Theorie wird gewöhnlich als herrschend bezeichnet; ob zu Recht, erscheint mir angesichts des "Methodensynkretismusses" der Praxis - dazu unten, 3 - und des Vordringens vermittelnder Auffassungen - unten, 4·~zweifelhaft: 3. Methodensynkretismus der Rechtsprechung

BGH (Strafsenate) und BVerfG - auf diese Gerichte soll sich die folgende Darstellung beschränken haben sich zwar häufig programmatisch zur objektiven Auslegungstheorie bekannt; doch sind sie in vielen Entscheidungen von dieser Position abgewichen: a) BVerfG Berühmt ist die Stellungnahme in BVerfG E 1, 299, 312:

"Maßgeblich für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können." Spätere Entscheidungen dieses Gerichts haben sich dem angeschlossen6 ; und demgemäß wird von den Anhängern der objektiven Theorie gewöhnlich geltend gemacht, auch das BVerfG sei ihrer Auffassung6 • Indes finden sich neben Bekenntnissen zur objektiven Theorie in der Rechtsprechung dieses Gerichts auch zahlreiche Urteile und Beschlüsse, die - ebenso wie die subjektive Theorie - eine Auslegung gegen den Willen des Gesetzgebers ablehnen: Teils wird gesagt, der Norminterpretation seien Schranken gezogen, soweit ein "eindeutiger Wille des Gesetzgebers" vorliege7 ; teils wird statuiert, die Henkel aaO, S. 35, 38. E 10, 235, 244; 11, 126, 129 ff.; weiter E 18, 38, 45; 20, 283, 293; 32, 199, 244; so auch der Beschluß vom 14. 2. 1973, E 34,269,288 f. (zum Problem: Schmerzensgeld bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, §§ 253, 847 BGB). e So u. a. Baumann, Bockelmann und Wessels aaO. 7 Vgl. BVerfG E 3, 248, 252; 4, 144, 151; 4, 331, 351; 9, 89, 102; 9, 109, 118. 4C

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Auslegung dürfe "das gesetzgeberische Ziel" nicht "in einem wesentlichen Punkte verfehlen oder verfälschen"8. Häufig findet sich auch die Formulierung, die Interpretation dürfe nicht "Wortlaut und (eindeutigem) Willen des Gesetzgebers" widersprechenD. Zudem stellen zahlreiche andere Entscheidungen des Gerichts bei der Auslegung maßgeblich auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes ab10 • Folglich bewerten Ehmke, Friedrich Müller und andere zu Recht den Standpunkt des BVerfG als widersprüchlich; und sie halten daher die Bedeutung des programmatischen Bekenntnisses des Gerichts zur objektiven Theorie für seine Auslegungspraxis für gering l l . Aber diese Frage der Bedeutung jenes programmatischen Bekenntnisses kann man auch anders beurteilen: Seine Relevanz wird zwar durch die abweichenden Urteile und Beschlüsse des Gerichts relativiert. Aber für die methodologische Ableitung der Entscheidungen des Gerichts kommt jenem programmatischen Bekenntnis die Funktion einer "salvatorischen Klausel" zu: Wo man, um ein für gerecht gehaltenes Auslegungsergebnis erreichen zu können, den Willen des historischen Gesetzgebers beiseiteschieben möchte, kann man sich gut auf dieses Bekenntnis berufen. - Dagegen übergeht das Gericht seine programmatischen Entscheidungen für die objektive Theorie dort einfach mit Stillschweigen, wo es maßgeblich auf den Willen des Gesetzgebers abstellt -. Ein derartiger Methodensynkretismus mag freirechtlichem Denken, für das die Eigenwertung des Richters, sein subjektives Rechtsgefühl, den entscheidenden Maßstab für die Normkonkretisierung bildet12, unbedenklich erscheinen. Wer dagegen wie wir den vorschnellen Rückgriff auf das Rechtsgefühl des Normanwenders mißbilligt und ihn, soweit irgend möglich, bei der Auslegung an objektivere Maßstäbe binden möchte13, kann den Methodensynkretismus des BVerfG nur mit Unbehagen registrieren. Denn unter jenen objektiveren Maßstäben kommt den rechtspolitischen Wertentscheidungen des historischen Gesetzgebers und des Verfassungsgebers, die den Gesetzes- und Verfassungsnormen E 8, 28, 34. E 17,306,318 (a. E.) f.; E 18, 97,111; 19,248,253. 10 So u. a. E 2,266,276; 4, 299, 304 f.; 9, 124, 128; 32, 319, 330 ff.

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11 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 57 f.; Friedrich Müller, Juristische Methodik, S. 22 f., 146 (a. E.) f. Dagegen meint P. Schneider (Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 12), das programmatische Eintreten des Gerichts für die objektive Theorie sei nicht bloß ein "Lippenbekenntnis". 12 Zur "Freirechtsbewegung" vgl. oben, Kapitel 2, § 1 12 a (5). Wie diese stellt auch Kelsens "Reine Rechtslehre" auf das rechtspolitische Ermessen des Richters ab (dazu oben, KapitelS, § 2 I, 2 b; 11 2). 13 Oben, Kapitel 3, § 211 3 b; KapitelS, § 211 2.

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zugrundeliegen, ein besonderer Rang zu: Jene Wertungen bedeuten mehr als nur unverbindliche Topoi (Argumentationsgesichtspunkte), die man mal zur Begründung eines Auslegungsergebnisses heranziehen, ein andermal aber auch vernachlässigen könnte. Vielmehr kann von Auslegung als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens nur solange die Rede sein, wie sie noch im Geiste der gesetzgeberischen Wertung erfolgt. Gesetze sind ja nach der Erkenntnis der Wertungsjurisprudenz "Bewertungsnormen", also Ausdruck einer rechtspolitischen Wertentscheidung14 - und zwar, was man nicht hinwegdisputieren kann - der Wertung des Gesetzgebers. Wo man diese beiseiteschiebt, sollte man sich nicht noch berühmen, das Gesetz nur "auszulegen"; sondern hier sollte man von Rechtsfortbildung außerhalb des Regelungsrahmens des "angewendeten" Gesetzes sprechen und so offenlegen, daß man dem Normtext eine neue Wertung unterlegt hat. b) BGH (Strafsenate) Wie das BVerfG hat auch der BGH sich programmatisch zur objektiven Theorie bekannt. Besonders hervorzuheben sind hier die folgenden Stellungnahmen: "Maßgeblich für die Auslegung ist nicht, wie ihre Urheber oder Verfasser sie verstanden wissen wollten, sondern ihr wirklicher Sinngehalt" (BGH St 13, 5, 8); und weiter: "Kein Gesetz verträgt eine starre Begrenzung seiner Anwendbarkeit auf solche Fälle, die der vom Gesetzgeber ins Auge gefaßten Ausgangslage entsprechen; denn es ist nicht toter Buchstabe, sondern lebendig sich entwickelnder Geist, der mit den Lebensverhältnissen fortschreiten und ihnen sinnvoll angepaßt weitergelten will" (BGH St 10, 157, 159 f.)u. Doch neben Urteilen und Beschlüssen, die sich im Sinne der objektiven Theorie äußern10, finden sich auch solche, die maßgeblich auf den mit der auszulegenden Norm verfolgten "Zweck des Gesetzgebers"17, auf den "unmißverständlich erklärten gesetzgeberischen Willen"18 abstellen. Und in zahllosen Entscheidungen des Gerichts wird mit erstaunlicher Akribie die Entstehungsgeschichte einer Regelung dargelegt, um ihre Auslegung zu begründen 11. Auch die Haltung des BGH zum Problem "subjektive/objektive Theorie" läßt sich daher als Methodensynkretismus charakterisieren. 14 Zum Charakter der Rechtsnormen als Bewertungsnormen oben, Kapitel 2, § 1 12 b (1). 15 Wie BGH St 10 aaO auch BGH st 19, 158, 162. 18 So u. a. BGH St 13, 5, 8; 15, 118, 121; 17, 21, 23; 18, 156, 159; 18, 279, 282. 17 BGH St 2, 99, 103 (a. E.) f.; 4, 144, 146; 17, 240, 243; weiter 14, 116, 119 ff.; 24, 248 mit Anm. Schröder, NJW 1972, S. 778 f. 18 BGH St 1, 9, 10. 18 Vgl. nur BGH St 4, 308, 312 ff. (GS) zu § 140 I Nr. 5 StPO -; 20, 81 -

"Dr. Dohrn - Urteil" -.

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4. Vermittelnde Ansichten zum Streit zwischen subjektiver und objektiver Theorie Von den zahlreichen Äußerungen, die im Streit der Auslegungstheorien einen vermittelnden Standpunkt einnehmen ("Vereinigungstheorien")20, sollen hier nur solche hervorgehoben werden, die wie wir von der Begrenzung der Nonnausl~gung durch die rechtspolitische Wertung des historischen Gesetzgebers ausgehen: a) (1) Larenz!1 fordert eine "Synthese" aus subjektiver und objektiver Theorie; denn jede enthalte nur eine "Teilwahrheit". Diese "Synthese" führe dabei zu folgenden Ergebnissen:

Ziel der Gesetzesauslegung sei die Ermittlung des heute maßgeblichen Gesetzessinnes, nicht die des Willens des Gesetzgebers; denn das Gesetz sei auch objektiver und damit geschichtlich daseiender, in und mit der Zeit sich entwickelnder Geist; insoweit habe die objektive Theorie Recht. Aber auch diese komme nicht daran vorbei, daß der von ihr mit Recht so stark betonte Gesetzeszweck doch zunächst einmal der (subjektive) Zweck des historischen Gesetzgebers sei. Und wenn die Bindung der Gerichte an das Gesetz noch einen Sinn haben solle, dann könne es nur der sein, daß die Gerichte den im Gesetz erkennbar ausgedrückten zweüelsfreien Willen des Gesetzgebers, und das heiße "seinen Grundgedanken und Zweck", zu respektieren hätten. (2) Auch Sauer22 strebt nach einer "Vereinigung" beider Theorien:

"Sinn und Aufgabe eines Gesetzes (sei) es, die Lebensbedürfnisse befriedigend zu regeln; daher (müsse) es mit dem Wandel der Lebensverhältnisse und Lebensanschauungen mitgehen." Maßgeblich sei demnach der "objektiv verständliche Sinn des Gesetzes zur Zeit des Urteils". Doch sei dabei Voraussetzung, daß "mit dem ursprünglichen Geist des Gesetzes nicht voll gebrochen" werde. Denn anderenfalls werde das Gesetz nicht ausgelegt, sondern "entstellt, vergewaltigt, verfälscht". Daraus folge, daß man an einem veralteten Gesetz "durch keine Auslegungskünste" rütteln könne. (3) Dahm23 meint, im Prinzip treffe zwar die objektive Theorie das richtige; aber er fügt dem die Einschränkung hinzu:

"Doch hat die Auslegung sich vor Willkür zu hüten. Das Gesetz ist nicht eine leere Sprachhülse, die sich unter Berufung auf die Bedürfnisse der Zeit mit beliebigem Inhalt ausfüllen läßt. Zum mindesten in einer Hinsicht ist der Wille der wirklichen Gesetzgeber verbindlich, nämlich in der Bestimmung des Zwecks, der mit dem Gesetz erreicht werden soll ... unzulässig ist eine Aus20 Zu ihnen eingehend Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, S. 58 - 74 (m. w. N.); weiter Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 49 f. Eine solche vermittelnde Ansicht ist auch die Meinung, bei "alten Gesetzen" sei der objektiven Theorie, bei "jungen Gesetzen" sei der subjektiven Theorie zu folgen; so etwa Dubischar, Vorstudien zur Rechtswissenschaft, S. 122; ähnlich Blei, AT S. 28. U Methodenlehre, S. 302 - 305; vgl. auch S. 315. Vgl. weiter Larenz, Der Richter als Gesetzgeber?, S. 34 f., 42 f. 21 Juristische Methodenlehre, S. 297 f. n Deutsches Recht, S. 44 f. (Hervorhebungen von Dahm).

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legung, die den vom Gesetzgeber wirklich verfolgten Zweck außer Betracht läßt, ihn durch einen anderen ersetzt oder gar in sein Gegenteil verkehrt." (4) Wie Dahm bekennt sich auch RehjeZd24 grundsätzlich zur objektiven Auslegungstheorie. Er meint, der Wille des Gesetzgebers sei nur ErkenntnismitteZ, nicht Erkenntniszweck; aber er folgt der Sache nach insoweit der subjektiven Theorie, als er den Willen des Gesetzgebers als Auslegungsschranke wertet: Es liege nämlich auf der Hand, daß die objektive Auslegung in "unwissenschaftlichen Subjektivismus" ausarten könne. So müsse sie im Interesse der Rechtssicherheit wieder "ihre Grenze finden"; diese Grenze sei eben die, "bis zu welcher ... der Wille des historischen Gesetzgebers in seinem Werke" reiche. (5) Nach Jescheck25 muß man eine "Synthese zwischen subjektiver und objektiver Theorie" dadurch finden, "daß man dem im Gesetz, wenn auch nur andeutungsweise, ausgedruckten Willen des historischen Gesetzgebers als dem maßgeblichen Sinngehalt treu zu bleiben sucht, solange nicht zwingende Grunde der Gerechtigkeit oder auch einfach der Geist der Zeit die Wertentscheidung der Vergangenheit als überholt erscheinen lassen".

Diese letztere Einschränkung - die Auslegung dürfe dann dem Willen des Gesetzgebers untreu werden, wenn dieser dem heutigen Zeitgeist nicht mehr entspreche - relativiert allerdings J eschecks Postulat, man müsse eine Synthese der beiden Auslegungstheorien anstreben, ganz entschieden: Daß die heutigen Wertungen bei der Auslegung abweichenden des historischen Gesetzgebers vorgehen, ist ja gerade der entscheidende Punkt der objektiven Theorie. Demgegenüber geht unsere These dahin, um "Auslegung" handele es sich nicht mehr, wenn der Richter die Wertung des historischen Gesetzgebers unter Berufung auf heutige Anschauungen mißachtet. b} Auch Sax erkennt dem "Willen des Gesetzgebers" Bedeutung als Auslegungsgrenze zu: Er wendet sich zwar gegen "vermittelnde Theorien", die eine Synthese aus subjektiver und objektiver Theorie versuchen, und wirft ihnen "Methodenpluralismus" vorlS : Eine solche Synthese, so sagt Sax, gehe von der "Aufspaltung der Einheit ,Sinn' in die Disjunktion ,objektiver und subjektiver Sinn' als notwendigem Ansatz aus" und könne daher "nur durch einen Kunstgriff zwischen beiden eine Synthese schaffen"; sie "überbrucke" diese Disjunktion also, "beseitige" sie aber nicht!7. 24 Rehfeld/Rehbinder, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 98 (a. E.) f. (Hervorhebungen von Rehfeld/Rehbinder). 25 Lehrbuch, S. 123; vgl. auch Studium Generale 1959, S. 111. 28 Sax, Das strafrechtliche Analogieverbot, S. 69 f. 27 aaO, S. 65.

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Der Sache nach vereinigt aber auch Sax "objektive" und "subjektive" Elemente bei der von ihm vertretenen "umfassenden Methode der Sinnerforschung" : Er meint nämlich, bei der Frage nach dem Sinn des Gesetzes stelle sich sogleich eine "Relation ein, die drei Glieder miteinander (verbinde): den Schöpfer; das von ihm Geschaffene; den Deuter, der nach dem Sinn des von diesem Schöpfer Geschaffenen (frage)"; danach ergebe sich der Normsinn erst aus einer "Wechselbeziehung zwischen allen drei Gliedern"28. Damit gelangt Sax zu folgendem Verständnis des Zieles der Gesetzesauslegung: Es bestehe "in der Deutung des aus einem objektiven Element (dem "Willen des Gesetzes") und zugleich und untrennbar in doppelter Weise aus subjektiven Elementen (dem Willen des Gesetzgebers und dem irrationalen Beitrag des Deuters selbst) sich konstituierenden Sinnes des Gesetzes"29.

Dabei steckt das subjektive Element "Wille des Gesetzgebers" nach Sax den Rahmen der möglichen Deutungen des Gesetzes ab; denn Sax

bestimmt die Auslegungsschranke durch die Formel: "Die Auslegung findet ihre Grenze, wo die Entfaltung des objektiven Sinnelementes den durch das subjektive Sinnelement des ,Willens des Gesetzgebers' nach Gesamtumfang und Richtung abgesteckten Bereich möglicher Sinndeutung überschreitet3°. "

5. Kritische Stimmen zur herkömmlichen Auslegungstheoretik Die klassische Auslegungstheoretik, d. h. der Streit zwischen "Subjektivisten" und "Objektivisten", wird im neueren Schrifttum von vielen als überholt angegriffen 31 • a) Dabei wird im wesentlichen geltend gemacht: Wenn die subjektive Theorie als Auslegungsziel die Ermittlung des "Willens des Gesetzgebers" bezeichne und die objektive Theorie dem erwidere, Ziel der Interpretation sei die Ermittlung des objektiven "Willens des Gesetzes" (der heutige Normsinn), so beruhten beide auf einem überholten "Willensdogma"32. Denn Gesetzesinterpretation sei ja mehr als bloßer "Nachvollzug eines präexistenten (objektiven oder aaO, S. 63 f. (Hervorhebungen von Sax). aaO, S. 65 (Hervorhebungen von Sax). 30 aaO, S. 87 Ca. E.) f. 31 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, S. 22 ff.; Fr. Müller, Juristische Methodik, S. 24, 116 f., 125, 188 f.; Mennicken aaO (oben, Anm. 20), S. 75 ff., 83 ff., 106; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 99 (a. E.); Schwerdtner, Rechtstheorie 1971, S. 78 f.; vgl. weiter Arthur Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Rechts im Lichte der Hermeneutik, S. 267; A. Arndt, NJW 1963, S. 1279. 32 So u. a. Hesse und Müller aaO. !8

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subjektiven) Willens", ihr "Ziel" sei "nicht bereits real existent", bevor sie erfolge33 ; das ergebe sich aus den Erkenntnissen heutiger Rechtstheorie, nach der die Auslegung normvollendenden Charakter"4 habe. Die Gesetzesauslegung, verstanden als normvollendende Konkretisierung des Gesetzes, sei vielmehr ein problembezogenes (fallbezogenes) Verfahren, das problemgerechte (fallgerechte) Entscheidungen anzustreben habe 3s • b) Damit steIlt sich die Frage, ob der "Wille des Gesetzesgebers", wenn er schon nicht als "Auslegungsziel" in Frage kommt, wenigstens bei der problemorientierten Normkonkretisierung die Bedeutung einer Auslegungsschranke hat. Hierzu nun wird von den Kritikern der herkömmlichen Auslegungstheoretik weitgehend angenommen, der "Wille des historischen Gesetzgebers" sei nur ein nicht bindender Topos (Argumentationsgesichtspunkt), also keine Interpretationsschrankd". D. Eigene Stellungnahme

1. Auslegung als gegenwartsbezogene Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens a) Wie ausgeführt sind Generalklauseln sowie kasuistische Regelungen, die unbestimmte und normative Rechtsbegriffe verwenden, - also, da grundsätzlich alle Rechtsbegriffe mehr oder weniger unbestimmt und normativ sind, im Grundsatz alle Gesetzesnormen - Regelungsrahmen, die der normvollendenden Ausfüllung durch die Rechtsprechung bedürfen und zu dieser Ausfüllung ermächtigen. Diese Ermächtigung des Gesetzes an den Gesetzesanwender zur "Rechtsfortbildung innerhalb des gesetzlichen Regelungsrahmens" hat vornehmlich die Funktion, den sich wandelnden sozialen Bedürfnissen und Anschauungen gerecht zu werHesse aaO; zustimmend Schwerdtner aaO. Vgl. nur Hesse und Schwerdtner aaO. 35 Ehmke aaO, S. 99 f.; Hesse aaO, insbes. S. 26 ff. 38 So u. a. Ehmke, S. 59 f. Nach Hesse und Müller wird die Auslegung durch den Normtext und nicht durch den "Willen des Gesetzgebers" begrenzt (Hesse, S. 30 f.; Müller, S. 140 f., 193, 195 und öfter). Mennicken meint: "Ziel der Auslegung" sei ein solches Nonnverständnis, "das die im Einzelfall richtige Entscheidung ennöglicht". Zu der im Einzelfall richtigen Entscheidung gelange der Richter, "indem er insbesondere die Spannung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit nach Wägung und Wertung aller erreichbaren Gesichtspunkte nach einer Richtung" auflöse. Dabei sei der Gesichtspunkt "Rechtssicherheit" der von der subjektiven Theorie verfolgte, während die objektive Theorie Gerechtigkeit der Gesetzesanwendung anstrebe. Beide Anliegen habe der Richter im Einzelfall abzuwägen; hierbei dürfe er etwa entscheiden, daß die "individuelle Fallgerechtigkeit" die Preisgabe des Willens des Gesetzgebers verlange (aaO, S. 78 - 84, 106). 33

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den. Denn Gesetze sind ja grundsätzlich gerade auch mit Geltungsanspruch für die Zukunft erlassen. Daher ist es legitim, ihre Konkretisierung im Hinblick auf den zu entscheidenden Fall jeweils an den heutigen Interessen und Anschauungen auszurichten, soweit dies nicht den gesetzlichen Regelungsrahmen sprengt. Danach können wir Auslegung als gegenwartsbezogene Ausfüllung (Konkretisierung) des gesetzlichen Regelungsrahmens charakterisieren. Die objektive Theorie hat also mit ihrer These Recht, die Auslegung müsse gegenwartsbezogen sein. b) Aber gleichwohl vermögen wir ihr nicht zu folgen, und zwar aus zweierlei Gründen: (1) Die Formel jener Theorie: Ziel der Norminterpretation ist die Ermittlung des objektiven Willens des Gesetzes, verstanden als heutiger Normsinn, könnte zu dem Mißverständnis führen, als sei dieser heutige Normsinn etwas, das als bereits vor dem Akt der Normkonkretisierung feststehend lediglich aufzufinden sei, d. h. als sei Auslegung nur ein "Erkenntnis akt" . Demgegenüber ist mit den Kritikern der herkömmlichen Auslegungstheoretik (oben, I 5) hervorzuheben, daß die Auslegung normvollendenden Charakter hat, also "den heutigen objektiven Normsinn" nicht fertig vorfindet, sondern mitgestaltet; diese normbildende Bedeutung der Auslegung wird durch die Formulierung des Auslegungszieles durch die objektive Theorie verschleiert. Sehr scharf artikuliert Adolf Arndt1 diese Kritik an der objektiven Theorie, wenn er sagt: "Sich mittels der Fiktion, das Gesetz besitze einen objektivierten Willen, einzureden, im Gesetz sei bereits alles vorgedacht gewesen, was Rechtslehre und Rechtsprechung ... daraus entwickeln, ist als pseudojuristische Quacksalberei zu bezeichnen." Erichsen l nennt die Vorstellung vom objektiven Willen des Gesetzes "ein etwas exotisches Beispiel juristischer Phänomenologie". Und Schwerdtner S meint zu der These von dem sich wandelnden objektiven Normsinn: "Wie die Gesetze ihren Sinn ändern können, ist ein Rätsel. Der Richter vollzieht diesen Wandel nicht mit, sondern initiiert ihn." (2) Die objektive Theorie koppelt ihre Forderung nach gegenwartsbezogener Auslegung mit der These, dabei sei für den Interpreten der

NJW 1963, S. 1279. Staatsrecht I, 1. Auf!. 1972, S. 13. (Auch in der 2. Auf!. dieses Buchs, 1976, S. 17, rügt Erichsen, die objektive Theorie verschleiere den rechtsschöpferischen Anteil des Richters bei der Gesetzesauslegung). 3 Rechtstheorie 1971, S. 74. Ähnlich Arthur Kaufmann, Richterpersönlichkeit und richterliche Unabhängigkeit, S. 305. 1

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Wille des Gesetzgebers unmaßgeblich. Während jene Forderung Zustimmung verdient, ist dieser These zu widersprechen: Zwar ist richtig, daß der Norminterpret nicht an die Inhaltsvorstellungen des Gesetzgebers gebunden ist, daß also z. B. die Vorstellungen, die man 1876 beim Erlaß des § 223 a StGB mit dem Begriff "Waffe" verband, heute nicht mehr maßgeblich sind·; insoweit trifft die objektive Theorie das Richtige. Aber auch die heutigen Vertreter der subjektiven Theorie scheiden ganz überwiegend solche Gebotsvorstellungen des historischen Gesetzgebers aus, wenn sie von Bindung der Norminterpretation an den "Willen des Gesetzgebers" sprechen; vielmehr meinen sie mit diesem mißverständlichen Terminus den Regelungszweck, den der historische Gesetzgeber mit seiner Normierung verfolgte, seine - in dieser Zwecksetzung zum Ausdruck kommende - rechtspolitische Wertentscheidungs. Und in dieser Aussage: Gesetzesauslegung sei an den vom historischen Gesetzgeber verfolgten rechtspolitischen Regelungszweck, an die rechtspolitische Wertung des historischen Gesetzgebers gebunden, ist der subjektiven Theorie zu folgen:

2. Die rechtspolitische Wertung des Gesetzgebers als Auslegungsschranke Für die hier vertretene These, von Auslegung könne dort keine Rede mehr sein, wo der Richter die der auszulegenden Norm zugrunde liegende rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers mißachte, sprechen die folgenden normtheoretischen Erwägungen: a) Wie bereits hervorgehoben sind Gesetze keine inhaltsleeren Blankette, keine bloßen Sprachhülsen; sie sind vielmehr Bewertungsnormen, also Ausdruck einer rechtspolitischen Wertungs. Danach geht die heutige Wertungsjurisprudenz mit Recht davon aus, Auslegung sei ein "wertbezogener und wertverwirklichender Vorgang", sie sei auf die "Durchsetzung der gesetzlichen Wertentscheidung" gerichtet7. Und wenn man im Schrifttum sagt, unter den Auslegungsmethoden komme der teleologischen, d. h. am gesetzlichen Regelungszweck (ratio legis) ausgerichteten, ein besonderer Rang zu 8, so können wir diese Aussage mit der prä4

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Vgl. oben, Kapitel 7, § 1 11. aaO. Dazu oben, Kapitel 2, § 1 I 2 b (1).

Kapitel 2 aaO (a), mit Anm. 14 - 18. So insbesondere Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 91 f. mit Anm. 23; weiter Jescheck, Studium Generale 1959, S. 111; Kunst, Juristische Blätter 1971, S. 331 (zum österreichischen Recht); Engisch, Methoden der Straf7

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rechtswissenschaft, S. 61; Kruse, Steuerrecht, S. 92. Kritisch aber u. a. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 59; Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, S. 45; Waid er, Die Bedeutung

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zisierenden Feststellung unterstreichen: Der gesetzliche Regelungszweck als Ausdruck der gesetzlichen Wertung ist maßgebliche Leitlinie bei der richterlichen Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens; wer bei dieser Normkonkretisierung den gesetzlichen Regelungszweck und damit die gesetzliche Wertentscheidung mißachtet, "legt nicht aus, sondern legt was unter"D. Denn wenn man den materialen Gehalt des Gesetzesnämlich seinen rechtspolitischen Regelungszweck und also die in dieser Zwecksetzung ausgedrückte rechtspolitische Wertung - beiseiteschiebt, kann man schwerlich noch von bloßer Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens sprechen. Diese Begrenzungsfunktion der rechtspolitischen Wertentscheidung des Gesetzes ist nun aber im Sinne der subjektiven Theorie auf den historischen Gesetzgeber zu beziehen: Die "rechtspolitische Wertung des Gesetzes" ist ja nichts anderes als die Wertung des historischen Gesetzgebers; und der von der Norm verfolgte Regelungszweck (die ratio legis) ist nichts anderes als der vom Normsetzer gewollte. Die Vorstellung einer von der Wertentscheidung des Gesetzgebers losgelösten Wertung des Gesetzes ist nämlich in der Tat - um mit A. Arndt, Erichsen und Schwerdtner zu sprechen10_ eine Fiktion. Diese nun ist dazu geeignet zu verschleiern, daß der Richter, der bei der "Interpretation" einer Norm die rechtspolitische Wertung des historischen Gesetzgebers unter Berufung auf die "Wertung des Gesetzes" mißachtet, der "ausgelegten" Norm in Wirklichkeit eine normjremde Wertung unterlegt: Eine solche Mißachtung der Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers mag man unter Berufung auf höherrangige Wertungen des Verfassungsgebers, auf neuere Wertungen des heutigen Gesetzgebers, auf herrschende Wertvorstellungen in den beteiligten Verkehrskreisen oder gar auf subjektive Wertungen des Richters zu legitimieren suchen - eine objektivierte Wertung des "angewendeten" Gesetzes, die man gegen die Wertentscheidung des Gesetzgebers ausspielen könnte, gibt es dagegen nicht. Diese Erkenntnis läßt sich auch durch Formeln nicht erschüttern wie: "Schöpfer des Rechts" sei der "Gemeingeist als sich wandelnder objektiver Geist", der "den positivierten Rechtssatz mit neuen Sinngebungen ausstatten" könnel l . Denn mit solchen Formulierungen ändert man nichts an der Tatsache, daß es die Wertentscheidungen des Gesetzgebers der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen für Methodologie und Systematik des Strafrechts, S. 66 ff. (m. w. N.); Rüssmann, JuS 1975, S. 353; Wieacker, Ober strengere und unstrenge Verfahren der Rechtsfindung, S. 431. g Vgl. Jescheck, Lehrbuch S. 123, zur objektiven Theorie: "Allzu leicht erliegt der Ausleger, der den ,Willen des Gesetzes' zu erforschen glaubt, der Verführung des GoetheschenScherzwortes: ,Bei Auslegung seid frisch und munter, legt Ihr's nicht aus, so legt was unter' (Zahme Xenien)." 10 Oben, II 1 b (1) mit Anm. 1 - 3. U So aber Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 35.

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sind, die zum Erlaß der Gesetze führen, und die Wertentscheidungen der Gesetzesanwender, die es konkretisieren; eine neben diesen Wertungen stehende "Wertung des Gesetzes" als Bestandteil des "objektiven Geistes" existiert nicht in der Realität12• b) Unsere Ansicht, die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers sei als materiale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens Auslegungsschranke, bedeutet auch nicht eine untragbare Fesselung der Rechtsprechung bei ihrer Aufgabe, das Recht fortzubilden. Denn jene Ansicht setzt nur der richterlichen Rechtsfortbildung innerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen, also der gegenwartsbezogenen Normkonkretisierung Schranken; sie besagt aber nicht, daß richterliche Rechtsfindung schlechthin an die Wertungen des historischen Gesetzgebers gebunden ist. Denn die Rechtsfortbildungsfunktion der dritten Gewalt erschöpft sich ja jedenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs von speziellen Gesetzesvorbehalten wie Art. 103 II GG nicht darin, Gesetze anzuwenden, d. h. vorhandene gesetzliche Regelungsrahmen auszufüllen. Wenn wir also feststellen, von Auslegung könne nur dort die Rede sein, wo ihr Ergebnis noch mit der Wertung des historischen Gesetzgebers zu vereinbaren ist, so ist damit noch nicht ausgeschlossen, daß richterliche Rechtsfindung, die diesen Rahmen überschreitet - etwa unter Berufung auf höherrangige Wertungen des Verfassungsgebers oder neuere Wertungen des heutigen Gesetzgebersals Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen (praeter legern oder ausnahmsweise auch contra legern) zulässig sein kann. 3. Anmerkung zur "Andeutungstheorie"

Die Äußerungen in Lehre und Rechtsprechung, die den "Willen des historischen Gesetzgebers" bei der Auslegung für verbindlich halten, sind überwiegend mit der Einschränkung verbunden, dieser Wille müsse im Gesetzestext einen, und sei es auch nur unvollkommenen, Ausdruck gefunden haben; diese Einschränkung nennt man "Andeutungstheorie"13. 12 Damit soll nicht in Frage gestellt werden, daß die Wertungen von Gesetzgeber und Richter durch den jeweiligen Zeitgeist geprägt werden. 13 Die Andeutungstheorie vertreten u. a.: EnnecceruslNipperdey, § 54 11 (S. 325); Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, S. 39 (a. E.); Jescheck, Lehrbuch S. 123; Bachof, JZ 1966, S. 14; Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 297; H. Mayer, AT (1953), S. 84; WolfflBachof, Verwaltungsrecht I, § 28 IV b 3 (S. 165); Roth-Stielow, Die Auflehnung der Richter gegen das Gesetz, S, 72; Spanner, AöR 1966 (Bd. 91), S. 511; vgl. weiter Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 26 f.; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S. 272 f.; Schwalm, Der objektivierte Wille des Gesetzgebers, S. 59

(a. E.).

Aus der Rechtsprechung vgl. u. a.: BVerfG E 11, 126, 129 f.; 13, 261, 268;

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Ihr sachliches Anliegen geht dabei dahin auszuschließen, daß der Normanwender unter Berufung auf den "Willen des Gesetzgebers'" ein Auslegungsergebnis vertritt, das nicht mehr vom möglichen Wortsinn des Gesetzes gedeckt wird l4 ; d. h. man will verhindern, daß bei der Auslegung der Normtext nach dem Motto: "höher als der Text des Gesetzes steht der Wille des Gesetzgebers", beiseitegeschoben wird. Dies Anliegen der Andeutungstheorie ist auch das unsrige: Denn wir sind ja der Auffassung, daß sowohl der mögliche Wortsinn des Gesetzes als auch die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers den gesetzlichen Regelungsrahmen begrenzen und damit Auslegungsschranken sind; und daher kommen auch wir zu dem Ergebnis, daß man bei der Normauslegung dem "Willen des Gesetzgebers" nur soweit folgen darf, wie dies der Normtext noch erlaubt.

4. Ergebnis Zusammenfassend ist zum Meinungsstreit zwischen subjektiver und objektiver Theorie zu sagen: a) Die übliche Fragestellung: Ist Auslegungsziel die Ermittlung des "objektiven Willens des Gesetzes" (des heutigen Normsinns) oder des "Willens des Gesetzgebers"?, begegnet Bedenken, da sie nicht genügend berücksichtigt, daß die Auslegung als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens normvollendenden Charakter besitzt, also nicht lediglich einen fertig vorliegenden Normsinn zu ermitteln hat. b) Sieht man von jener Fragestellung nach dem Auslegungsziel ab, so ist der objektiven Theorie darin zuzustimmen, daß die Auslegung gegenwartsbezogen sein muß, der subjektiven Theorie darin, daß der vom historischen Gesetzgeber verfolgte Regelungszweck als Ausdruck seiner rechtspolitischen Wertung Auslegungsschranke ist.

5. Beispiele für die Auslegungsschranke "rechtspolitische Wertentscheidung des Gesetzgebers" a) § 142 StGB a. F. hatte die Flucht nach einem "Verkehrsunfall" pönalisiert. Ob der Begriff des Verkehrsunfalls dabei nur Unfälle im Straßenverkehr erfaßte, oder auch z. B. Unfälle im Schiffsverkehr (oder Skiunfälle), war streitigl . Der mögliche Wortsinn des Gesetzes stand BGH St 2,194,204 (GS); 8, 294, 298; 19, 206, 213; 24, 249, 252; 24, 369, 371. Kritisch zur Andeutungstheorie: Heck, AcP Bd. 112 (1914), S. 143 ff.; Bender, JZ 1957, S. 599 Anm. 27; D. und G. Reinicke, NJW 1952, S. 1033, NJW 1955, S. 1383; Säcker, ARSP 1972, S. 219 (m. w. N.); Zimmermann, NJW 1956, S. 1263. 14 Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 83. 1 Dazu oben, Kapitel 6, § 2 I 3 b (2) mit Anm. 23.

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 7

wohl einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Norm auf Verkehrsunfälle etwa auf Wasserstraßen nicht im Wege. Doch ging der vom Gesetzgeber verfolgte Regelungszweck nach Ansicht des BGH dahin, nur Unfälle im Straßenverkehr zu erfassen2 ; folgt man dem, so stand dieser gesetzgeberische Regelungszweck einer Einbeziehung von Verkehrsunfällen auf Wasserstraßen3 (und auf Skipisten) entgegen. Eine solche Einbeziehung hätte also den Rahmen bloßer Gesetzesauslegung verlassen. b) Das zweite Beispiel betrifft die sog. "Lehre von der negativen Typenkorrektur des Mordtatbestandes" ; diese Lehre besagt: Mörder ist nur, wer ein Mordmerkmal nach § 211 II StGB erfüllt und zugleich besonders verwerflich handelt'. Diese Auffassung widerspricht der rechtspolitischen Wertentscheidung des Gesetzgebers; denn dieser wollte in § 211 II StGB abschließend umschreiben, welche Fälle er "als besonders verwerflich und deshalb als Mord beurteilt"5, so daß nach Bejahung eines Mordmerkmals (§ 211 II StGB) für eine "ergänzende Verwerflichkeitsprüfung" kein Raum sein sollte6 • Damit bewegt sich die fragliche "negative Typenkorrektur" nicht mehr im Rahmen bloßer Konkretisierung (Auslegung) des § 211 StGB, sondern 'Stellt Rechtsfortbildung ,außerhalb des Regelungsrahmens dieses Strafgesetzes dar - mag es sich dabei um Rechtsfortbildung praeter oder gar contra legem7 handeln. § 2. Die rechtspolitische Wertentscheidung des Gesetzgebers als

Leitlinie und Schranke der Gesetzesauslegung Wenn wir oben statuiert haben, materiale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens sei die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers, so soll diese Feststellung nun noch näher verdeutlicht werden: Als formale Begrenzung jenes Rahmens steckt der "mögliche Wortsinn des Gesetzes" den Bereich möglicher Alternativen bei der Normkonkretisierung ab; aber für die Frage, welche unter mehreren durch den Normtext gedeckten Auslegungsalternativen zu wählen ist, gibt das Kriterium des möglichen Wortsinns nichts mehr her. Wollte man also allein im Text der Norm ihre Auslegungsschranke sehen, so könnte der Interpret den vom möglichen Wortsinn abgesteckten Rahmen mit beliebigem Inhalt füllen. Indes ein solches richterliches Ermessen besteht nicht: Ihm steht die materiale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens 2

3 4

5 6

7

BGH St 14, 116, 119 ff. (m. w. N.). Vgl. BGH aaO. Dazu Nachweise bei Krey, Strafrecht BT, 1. Bd. S. 28 f. BGH St 9, 385, 387 ff. (GS); Krey aaO. aaO. So Krey aaO.

2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 7

189

durch den vom historischen Gesetzgeber verfolgten Regelungszweck, durch seine in diesem ausgedrückte Wertung entgegen. Jene materiale Begrenzung läßt sich dabei durch die Formel veranschaulichen, die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers sei "Leitlinie und Schranke" der Gesetzesauslegung: I. Mit der "Leitlinienfunktion" jener gesetzgeberischen Wertung hat es folgende Bewandtnis: Wie bereits ausgeführt wird schon der Bereich der Normauslegung beherrscht von der "analogischen Methode" des Fallvergleichs, des "Schlusses von Ähnlichem awf Ähnliches"l. Letztlich geht es bei der Normkonkretisierung nämlich um die Frage, ob es sachgerecht ist, den zu entscheidenden Fall den Fällen gleichzustellen, über deren Einbeziehung in den Anwendungsbereich der auszulegenden Norm man sich im klaren ist. Für diese Rechtsfindungsmethode des Fallvergleichs nun bedarf es eines Wertungsmaßstabes; und hierfür bietet sich die ratio legis, verstanden als der vom historischen Gesetzgeber verfolgte Regelungszweck, an. Da dieser Ausdrudt der rechtspolitischen Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers ist, läßt sich daher sagen, sie sei Leitlinie (Richtlinie) bei der Auslegung.

Folglich kann man die Leitlinienfunktion jener gesetzgeberischen Wertung dahin umschreiben, daß diese bei der Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens nach der Methode des Fallvergleichs als Wertungsmaßstab dient. Damit ist die oben dargelegte Richtlinienfunktion, die dem Gesetz bei der richterlichen Konkretisierung seines Rahmens zukommt und durch die es für die Rechtsfindung innerhalb dieses Rahmens eine materiale Legitimationswirkung entfaltet!, letztlich in der Bedeutung der rechtspolitischen Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers als "Auslegungsleitlinie" begründet: Wenn die Rechtsnorm als Bewertungsnorm Ausdruck der gesetzgeberischen Wertung ist, so ist es deren Beachtung, die der Normanwendung die materiale (inhaltliche) Legitimationswirkung durch das Gesetz vermittelt - so wie es die Beachtung der Wortsinnschranke ist, durch welche die Gesetzesanwendung die "formale Legitimationswirkung" des Gesetzes 3 erfährt. 11. Was nun die "Schrankenfunktion" der rechtspolitischen Wertung des historischen Gesetzgebers angeht, so ist zu ihrer Verdeutlichung hervorzuheben: Jene Wertentscheidung dient zwar als Wertungsmaßstab bei der richterlichen Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens, vermag aber das Auslegungsergebnis nicht vollinhaltlich zu determinieren; "denn unter Wertungen kann man nicht subsumieren". Wenn z. B. die gesetzgeberische Wertentscheidung bei § 142 StGB a. F. dahin ging, mit dieser Norm das "Beweissicherungsinteresse der am Unfall Betei1 2

3

Vgl. Kapitell, § 2 I 1 a mit Anm. 8 f.; Kapitel 5, § 1 12 b (2) (a). Dazu oben, Kapitel 5, § 1 aaO, 2 b, c. Dazu oben, KapitelS aaO, 2 a, c.

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 7

ligten an der Feststellung der Unfallursache zur KlarsteIlung der (zivilrechtlichen) Verantwortlichkeit zu schützen", und auf dieser Wertung das Verbot der Unfallflucht beruhte, so waren mit jener Feststellung natürlich noch nicht all die Fragen geklärt, die das Merkmal "Flucht" aufwarf (etwa die Frage nach der zeitlichen Begrenzung der Wartepflicht).

Positiv gesehen vermag also die gesetzgeberische Wertentscheidung das Auslegungsergebnis nicht festzulegen, sondern nur als Interpretationsleitlinie zu dienen; aber negativ betrachtet stellt sie in dem Sinne eine Begrenzung der Auslegung dar, als der Interpret sie nicht mißachten, nicht beiseiteschieben, nicht durch eine andere Wertung ersetzen darf. § 3. Zum Problem der Feststellung der gesetzgeberischen Wertentscheidung

I. Bei diesem Problem ist bedeutsam, daß der heutige Gesetzgeber keine Einzelperson ist, sondern eine Personenmehrheit: das Parlament. Jene Tatsache bedeutet aber nicht, daß der "Wille des Gesetzgebers" verstanden als der vom Gesetzgeber verfolgte Regelungszweck, als seine rechtspolitische Wertentscheidung - ohne greifbare Realität seil. Zwar ist Larenz zuzustimmen, wenn er meint!: "Es wäre ersichtlich müßig, nach den Vorstellungen zu forschen, die sich alle an der Beschlußfassung beteiligten Personen von der Bedeutung dieser oder jener Gesetzesbestimmung gemacht haben.. Selbst wenn sich diese Vorstellungen ermitteln ließen, welche sollten maßgebend sein, wenn sie auseinandergehen?"

Aber gleichwohl gibt es einen sachgerechten Weg, nach dem Regelungszweck, den der Gesetzgeber mit der auszulegenden Norm verfolgte, und seiner diesem Zweck zugrundeliegenden Wertung zu forschen: Einmal nämlich besteht die Möglichkeit, daß man bei der parlamentarischen Beratung und Beschlußfassung über den fraglichen Gesetzesentwurf im Plenum des Bundestags (bzw. Reichstags, Landtags o. ä.) den Regelungszweck der zu erlassenden Norm ausdrücklich herausgestellt hat, ohne daß es gravierenden Widerspruch gab. Hierüber geben die 1 Wie hier u. a. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 95; Heck, AcP Bd. 112 (1914), S. 62 f., 105 ff. und öfter. Zutreffend sagt Larenz, Methodenlehre, 2. Aufl. 1969, S. 309 f. (in der Sache ebenso in der 3. Aufl., S. 316 f.): "Was wir als den ,Willen des Gesetzgebers' zu bezeichnen berechtigt sind, das sind i. d. R. nur die Zwecke und die grundlegenden rechtspolitischen Entscheidungen, die durch das Gesetz verwirklicht werden sollen. Von ihnen, so darf man annehmen, haben die zustimmenden Abgeordneten in der Tat ein deutliches Bewußtsein gehabt. Ihnen wollten sie durch ihre Zustimmung zu dem Gesetz Wirklichkeit verschaffen." Kritisch u. a. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung, S. 32 ff. I Methodenlehre, 2. Aufl. S. 308 (in der Sache ebenso 3. Aufl., S. 316 f.).

2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 7

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Protokolle über die fraglichen parlamentarischen Verhandlungen (z. B. die "Verhandlungen des Bundestages") Aufschluß3 • Und zum anderen halten wir es wie Engisch und andere Autoren mit der "vielgeschmähten Auffassung, daß eine Volksvertretung, die keinen besonderen eigenen Sinn bei der Beratung und Beschlußfassung des Gesetzes als maßgeblich herausstellt, denjenigen Sinn akzeptiert, den die eigentlichen Gesetzesverfasser (gemeint sind die Verfasser des Gesetzesentwurfs) dem von ihnen erarbeiteten gesetzlichen Text mit auf den Weg gegeben haben und den sie in der ,Begründung' kund getan haben (sogen. ,Paktentheorie')"' - wobei wir aber statt vom "Sinn" des Gesetzes von seinem Regelungszweck sprechen würden. D. h. dort, wo sich aus den Verhandlungen des Parlaments, das die Norm gesetzt hat, die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers nicht ergibt, ist auf die Gesetzesmaterialien zurückzugreifen 5 • II. Wenn freilich weder die parlamentarischen Verhandlungen noch die Gesetzesmaterialien jene Wertentscheidung klar erkennen lassen, sollte man nicht nach dem "mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers" forschen. Nur der tatsächlich vom historischen Gesetzgeber verfolgte RegeI BGH St 4, 308, 310 verweist auf die Bedeutung der "ausweislich der Sitzungsniederschriften unmittelbar bei den parlamentarischen Verhandlungen verlautbarten Auffassungen" i. V. m. dem bei den Lesungen im Plenum "mitgeteilten Verlauf der Ausschußberatungen" sowie dem bei diesen Lesungen "bekanntgegebenen Inhalt der Begründung" der Gesetzesvorlage; aus diesen Materialien ergebe sich der "Wille des Gesetzgebers" (Hervorhebungen vom Verf.). , Engisch aaO; für die Paktentheorie sind auch Roth-Stielow, Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, S. 70; Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, S. 41. Diese Theorie W\.irde ursprünglich von v. Wächter begründet und dann insbesondere von Bierling vertreten (vgl. bei Binding, Handbuch, S. 470 Anm. 3). Kritisch insbesondere Binding aaO, S. 471 f. (der von "Unfug" spricht); Mennicken aaO, S. 34; auch EnnecceruslNipperdey, § 55 (S. 329 f.); weitere Nachweise bei Engisch aaO, Anm. 106 (S. 230). Larenz wendet sich zwar gegen die Vorstellung, die Mitglieder des Gesetzgebungskörpers hätten sich i. d. R. diejenige Bedeutung zu eigen machen wollen, die die eigentlichen Gesetzesverfasser dem von ihnen erarbeiteten Text des beschlossenen Gesetzesentwurfs mit auf den Weg gegeben haben; dies sei eine Fiktion. Aber offenbar will er diese Kritik der Paktentheorie auf die "Inhaltsvorstellungen" der Entwurfsverfasser beziehen, während er ihr beizupflichten scheint, was die "Zwecke und grundlegenden rechtspolitischen Entscheidungen" betrifft, die durch das Gesetz verwirklicht werden sollen (Methodenlehre, 3. Aufl., S. 316 f.) und diese differenzierende Betrachtungsweise entspricht dem hier vertretenen Standpunkt. S Grundlegend zum "Materialienproblem" Heck aaO, insbesondere S. 105 ff. Zu Unrecht meint Brii.ggemann, Die Gesetzesmaterialien hätten heute fast "nur noch archivarisches Interesse" (JR 1963, S. 165); vgl. demgegenüber Bachof, DÖV 1975, S. 132 (m. w. N.), der zu Recht hervorhebt, daß die Rechtsprechung bei der Gesetzesauslegung oft maßgeblich auf die Gesetzesmaterialien abstellt - so z. B. OLG Köln, MDR 1975, S. 76 f.

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 7

lungszweck, nicht die mutmaßlich gewollte ratio legis, kommt nämlich als Auslegungsschranke in Betracht. Soweit sich der gesetzgeberische Regelungszweck nicht mit hinreichender Sicherheit ermitteln läßt, fehlt es eben an der dargelegten materialen Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens. Allerdings darf der Richter den vom möglichen Wortsinn der auszulegenden Norm bezeichneten Rahmen auch in einem solchen Fall nicht nach Belieben ausfüllen; ein "Tatbestandsermessen"l steht ihm also selbst dann nicht zu. Denn vor dem vorschnellen Rückgriff auf seine subjektive Eigenwertung hat der Normanwender sich an objektiven Bewertungsmaßstäben - insbesondere an den Wertungen des Grundgesetzes, an Rechtsprinzipien, "standards", herrschenden Wertungen in der Gemeinschaft u. ä.auszurichten, was wir bereits an früherer Stelle hervorgehoben haben!. Aber während der - mit hinreichender Sicherheit feststellbare - gesetzgeberische Regelungszweck bei der Konkretisierung der Norm einen speziell mit ihr verbundenen ("normbezogenen") Wertungsmaßstab bedeutet, sind jene übrigen - gegenüber dem subjektiven Rechtsgefühl des Richters - "objektiven" Wertungsmaßstäbe "normfremd". D. h. ist die gesetzgeberische Wertung nicht zu ermitteln, so muß der Interpret dem Gesetzestext eine andere ("normfremde") Wertung unterlegen. Gleichwohl möchten wir auch in solchen Fällen noch von Auslegung als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens sprechen3 : Nur die mit hinreichender Sicherheit feststellbare Wertung des historischen Gesetzgebers tritt als Auslegungsschranke neben den möglichen Wortsinn. Wo der Gesetzgeber dagegen nicht hinreichend deutlich gemacht hat, welchen rechtspolitischen Zwecken seine Normierung dienen sollte, kommt als von ihm (historischer Gesetzgeber) festgelegte Schranke des gesetzlichen Regelungsrahmens nur der Normtext in Betracht'. § 4. Ausnahmen von der Begrenzung der Gesetzesauslegung

durch die rechtspolitische Wertung des Gesetzgebers? I. Manche Autoren vertreten die Auffassung, die Gesetzesauslegung finde zwar grundsätzlich in der rechtspolitischen Wertung des historischen Gesetzgebers, in dem von ihm verfolgten Regelungszweck ihre Schranke; aber in bestimmten Au:snahmefällen entfalle diese Auslegungsbegrenzung. Als solche Ausnahmesituationen werden im wesentlichen angeführt: Die Verfassungswidrigkeit jener Wertung1 ; die "Entwicklung unserer Rechtsordnung"2 oder des "Zeitgeistes"3, die gesetzgeberische Wertentscheidungen 1 Dazu oben, Kapitel 3, § 2 11 3 b (2); Kapitel 5, § 2 11 2. Kapitel 3 aaO. Vgl. auch Engisch aaO, Anm. 106 b (S. 231 - unter Nr. 3 -). 4 Ebenso Engisch aaO. 1 So u. a. Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm, S. 213. 2 R. Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, S. 32 f. Vgl. auch Betti, Allgemeine Auslegungslehre, S. 633 f., 637 f. 3 Jescheck, Lehrbuch, S. 123. 2

3

2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 7

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der Vergangenheit als überholt erscheinen lassen; "zwingende Grunde der Gerechtigkeit"'. Auch das BVerfG hat zwar wiederholt - in Widerspruch zu seinem programmatischen Bekenntnis zur objektiven Auslegungstheorie5 statuiert, auch die verfassungskonforme Interpretation sei an das "gesetzgeberische Ziel" gebunden, hat dem aber die Einschränkung beigefügt: Diese Schranke verfassungskonformer Auslegung sei noch gewahrt, wenn man von der "Absicht des Gesetzgebers das Maximum dessen (aufrechterhalte), was nach der Verfassung aufrechterhalten werden konnte", gleichgültig, ob jene Absicht hierüber hinausging'. Allerdings wird diese Einschränkung ihrerseits wieder durch die Bedingung

relativiert, keinesfalls dürfe dabei "das gesetzgeberische Ziel in einem wesent-

lichen Punkte verfehlt oder verfälscht" werden7•

11. Demgegenüber räumen andere zwar ein, höherrangige Wertungen des Verfassungsgebers oder neuere Wertungen des heutigen Gesetzgebers oder allgemein der Wandel der sozialen Verhältnisse und Anschauungen könnten eine Mißachtung überholter Wertentscheidungen des historischen Gesetzgebers durch den Rechtsanwender legitimieren; aber dann liege nicht mehr Auslegung des Gesetzes vor, sondern Rechtsfortbildung außerhalb des Rahmens der Auslegung, nämlich Rechtsfortbildung praeter oder contra legem' . Dies ist insbesondere der Standpunkt der sogen. "progressiven Rechtsfindungsmethode" ("mehrstufige Rechtsfindung")!. Und es ist auch der unsrige: Wer wie wir das Gesetz als Bewertungsnorm deutet, und zwar als Ausdruck der rechtspolitischen Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers, kann sich nicht dazu verstehen, eine "Gesetzesanwendung", bei der - aus welchen Gründen auch immerder Richter die mit hinreichender Sicherheit feststellbare gesetzgeberi( aaO. Dazu oben, § 1 I 3 a. e BVerfG E 8, 28, 34; 9, 194, 200; zustimmend etwa Göldner aaO, S. 213 Anm.21. 7 BVerfG E 8 aaO. 1 So insbesondere Engisch, Einführung in das juristische Denken, Anm. 106 b (S. 230 - 232), der ausführt: "Jede Entfaltung von Rechtsgedanken, die sich mit dem vom Gesetzgeber klar ersichtlich Gewollten in Widerspruch bringt, ist nicht mehr "Auslegung", sondern ... bedarf besonderer Legitimation als Lückenergänzung (oder) Rechtsfindung contra legern." VgI. weiter Enneccerus/Nipperdey, § 59 (S. 344 ff.); Horst Arndt, Richterliche Rechtsfortbildung im Disziplinarrecht, S. 11 f. VgI. auch Bender und Zimmermann, unten Anm. 2. I Dazu Bender, JZ 1957, 597 ff.; ders. MDR 1959, S. 444 ff.; Zimmermann, NJW 1954, S. 1628 ff.; 1956, S. 1263 (a. E.). 5

13 Krey

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 7

sche Wertung mißachtet, noch als bloße Auslegung des fraglichen Gesetzes auszugeben. Vielmehr wird der gesetzliche Regelungsrahmen nicht mehr ausgefüllt sondern überschritten, wenn der Normanwender den vom Gesetzgeber mit der auszulegenden Norm verfolgten rechtspolitischen Zweck "in einem wesentlichen Punkte verfehlt oder verfälscht", sofern jener Zweck deutlich erkennbar ist; und von dieser Begrenzung der Auslegung gibt es keine Ausnahme.

Kapitel 8

Rechtsfindung secundurn legern als Norrnbildung innerhalb des Bereichs gesetzlicher Regelungsrahrnen § 1. Unterscheidung der richterlichen Rechtsfortbildung innerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen von der außerhalb solcher Rahmen erfolgenden und die herkömmliche Düferenzierung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legem

I. Unsere Untersuchungen zur Natur der Gesetzesnorm als Regelungsrahmen lassen sich dahin zusammenfassen:

Die Rechtsnorm bedeutet die gesetzliche Ermächtigung an die Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung innerhalb des gesetzlichen Regelungsrahmens; diese Rechtsfindung "intra legern" haben wir Auslegung genannt. Von Auslegung kann danach nur die Rede sein, solange der Normanwender die Schranken des gesetzlichen Regelungsrahmens respektiert. Diese Schranken bilden einmal der mögliche Wortsinn des Gesetzes, zum anderen die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers, sofern sie mit hinreichender Sicherheit feststeht. D. h. nur die richterliche Rechtsfindung, die vom Normtext eines Gesetzes gedeckt und dessen deutlich erkennbarer ratio - verstanden als vom historischen Gesetzgeber verfolgter Regelungszweck - gerecht wird, ist als Auslegung einzustufen; nur sie ist Gesetzesanwendung oder genauer: Konkretisierung eines gesetzlichen Regelungsrahmens. Demgegenüber ist jede sonstige richterliche Rechtsfindung als Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen zu kennzeichnen. 11. Will man diese Unterscheidung zwischen richterlicher Rechtsfindung innerhalb und außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen mit der herkömmlichen Differenzierung zwischen Rechtsfindung secundum, praeter und contra legern vereinigen, so ergibt sich: Was man herkömmlich Rechtsfindung secundum legern nennt, ist der Bereich der Auslegung, der Anwendung einer Rechtsnorm, also der Bereich der Rechtsfortbildung innerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen; demgegenüber ist die sonstige Rechtsfindung, mag sie praeter oder contra legern erfolgen, Rechtsfortbildung außerhalb eines solchen Rahmens. 13'

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 8

In diesem Sinne möchten wir an der herkömmlichen Unterscheidung der secundum legern erfolgenden richterlichen Rechtsfindung von der praeter oder contra legern festhalten. III. Die herkömmliche Differenzierung zwischen Gesetzesauslegung und gesetzesergänzender Lückenfüllung hatten wir allerdings an früherer Stelle 1 mit der Frage konfrontiert: Ist es überhaupt noch sinnvoll, jene Unterscheidung aufrechtzuerhalten, wenn - wie sich zeigte - GeneralklauseIn "ein Stück offen gelassener Gesetzgebung" und ihre Konkretisierung der Sache nach Gesetzesergänzung ("intra legem") bedeuten2 (und wenn diese Aussage zu den Generalklauseln in mehr oder weniger abgeschwächtem Maße zudem auch für kasuistische Regelungen mit unbestimmten und normativen Rechtsbegriffen zutrifft3)? Die Antwort hierauf folgt aus den Darlegungen in den vorstehenden Kapiteln (5 - 7) und lautet: Unsere Erkenntnis, daß grundsätzlich bereits die Gesetzesauslegung als Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens rechtsfortbildender, normergänzender Natur ist, vermag an der Differenzierung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legern, wie sie hier vertreten wird, nicht zu rütteln. Denn bei der secundum legern erfolgenden Rechtsfindung handelt es sich um Rechtsfortbildung innerhalb des gesetzlichen Regelungsrahmens, während es bei der Rechtsfindung praeter (und contra) legern um Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen geht. Nur erstere erfährt die Legitimationswirkung des gesetzlichen Regelungsrahmens, die wir oben näher aufgezeigt haben4 • Durch diese Legitimationswirkung des Gesetzes für die seinen Rahmen ausfüllende Auslegung hat diese Teil an der Autorität des vom Gesetzgeber Angeordneten: Auslegung hält sich ja im Rahmen des vom Gesetzgeber sanktionierten Normtextes und respektiert die rechtspolitische Wertentscheidung der Legislative. Jene Legitimationswirkung, die der normergänzenden, normvollendenden Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens zukommt, läßt es sachgerecht erscheinen, solche normvollendende Rechtsfortbildung intra legern von der außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen erfolgender Rechtsfortbildung zu unterscheiden. IV. Ergebnis Danach ist Rechtsfindung secundum legern die Ausfüllung des Regelungsrahmens einer Gesetzesnorm und findet also ihre Schranken in dessen dargelegter Begrenzung. 1 Dazu oben, Kapitel 3, § 111 2 c. 2

3 4

Kapitel 3 aaO. Vgl. Kapitel 3, § 2 11. Kapitel 5, § 11 2.

2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 8

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§ 2. Differenzierung zwischen der Feststellung des gesetzlichen Regelungsrahmens und seiner Ausfüllung bei der Rechtsfindung secundum legem

Wenn also die secundum legern erfolgende richterliche Rechtsfindung als "Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens der angewandten Norm" verstanden wird, so soll diese Formel abschließend noch durch folgende Hinweise vertieft werden: I. Bei jener Normkretisierung im Hinblick auf den zu entscheidenden Fall sind zwei Komponenten zu unterscheiden, nämlich einerseits die Feststellung des gesetzlichen Regelungsrahmens, andererseits seine Ausfülltvng 1• Dabei ist mit der "Feststellung des Regelungsrahmens" die seiner Begrenzung gemeint, was besagen will: Es ist zu klären, ob der mögliche Wortsinn der fraglichen Norm ihre Anwendung gebietet (Begriffskern), erlaubt (Begriffshof) oder ausschließt; und es ist der vom historischen Gesetzgeber verfolgte Regelungszweck, soweit dies möglich ist, festzustellen. Der danach verbleibende Spielraum für die normvollendende Konkretisierung des Gesetzes durch ergänzende Wertung

.- eine solche ist ja regelmäßig erforderlich, weil die Wertenscheidung des Gesetzgebers wie ausgeführt zwar Leitlinie und Schranke der Auslegung ist, diese aber grundsätzlich nicht vollinhaltlich zu determinieren vermag2 ist der Rahmen, den der Normanwender auszufüllen hat. 11. Die Differenzierung jener beiden Komponenten der Rechtsfindung secundum legern - Feststellung und Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens - ist nun bedeutsam für den aktuellen Streit um das Problem der Richtigkeit (der Wahrheit) juristischer Auslegungsergebnisse1 ; denn jene Unterscheidung erlaubt eine differenzierende Betrachtungsweise des fraglichen Problems, die hier, da sie das Wesen der Rechtsfindung secundum legern weiter erhellt, wenigstens andeutungsweise skizziert werden soll: 1. Was die "Feststellung" der Schranken des gesetzlichen Regelungsrahmens betrifft, so geht es im Prinzip um einen Erkenntnisakt2 , näm1 So schon Kelsen (vgl. oben Kapitel 5, § 2 I 2); dazu unsere Auseinandersetzung mit ihm (Kapitel 5 aaO, 11 2). Ebenso u. a. W. Meyer, JuS 1973, S. 203. 2 Vgl. oben, Kapitel 7, § 2. 1 Dazu insbesondere Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, S. 18, 22; Zippelius, Über die Wahrheit vQn Werturteilen; Adomeit, JuS 1972, S. 628 ff.; ders. JuS 1973, S. 207; gegen ihn Meyer aaO, S. 202 ff.; Less, Von Wesen und Wert des Richterrechts, S. 20; Schwerdtner, Rechtstheorie 1971, S. 230 f., 236 - 239, 243. Vgl. auch J. Schmidt, JuS 1973, S. 204 ff. t Ebenso Kelsen (oben, Kapitel 5, § 2 I 2 a); Meyer aaO, S. 203.

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2. Abschn.: Die Gesetzesnorm als Regelungsrahmen - Kap. 8

lich um die Ermittlung der Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers und der sprachlichen Bedeutungsbreite von Rechtsbegriffen. Allerdings gibt es auch hier die "Zone möglicher Zweifel":!, und in dieser kommt letztlich der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung die Aufgabe zu, solche Zweifel durch autoritative Entscheidung zu klären'; aber dies ändert nichts an dem dargelegten Prinzip. Danach sind Urteile, die die Feststellung der Schranken der Auslegung betreffen, im Prinzip der Verifizierung oder Falsifizierung zugänglich5 ; denn bloße Erkenntnisakte sind auf die Richtigkeit der Erkenntnis hin nachprüfbar. 2. Anders ist es bei der eigentlichen "Ausfüllung" des gesetzlichen Regelungsrahmens, da ihr normfortbildender (normvollendender) Charakter auf die Notwendigkeit ergänzender Wertungen des Richters hinweist. Solche Wertungen aber sind mehr als ein bloßer Erkenntnisakt, sondern haben letztlich den Charakter rechtspolitischer Entscheidungen, für die Urteile wie "richtig" oder "falsch" - im Sinne von Wahrheit oder Unwahrheit empirischer (deskriptiver) Aussagen - verfehlt sindG. Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse sei dabei nochmals hervorgehoben, daß für jene ergänzenden Wertungen des Richters bei der Normkonkretisierung seine subjektiven EigenweTtungen gegenüber objektiveTen Wertungen - wie den im Grundgesetz und in Rechtsprinzipien enthaltenen oder in "standards" (z. B. "der umsichtige und besonnene Verkehrsteilnehmer") ausgedrücktennachTangig sind7• Insoweit ist auch die Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens nicht etwa dem richterlichen Ermessen anheimgestellt, sondern in erster Linie an objektiveren Maßstäben auszurichten. Nur vermögen auch diese die votitive Komponente, die Eigenwertung des Richters bei jener Rahmenausfüllung niemals gänzlich auszuschließen8•

3 Dazu - hinsichtlich der Wortsinn schranke - oben Kapitel 6, § 2 I 3 c. , Vgl. - für die Wortsinnschranke - Kapitel 6 aaO. 5 Insoweit ist die von Adomeit, Less und SchweTdtneT (aaO) vertretene These, die Unterscheidung zwischen richtig und falsch verliere im Bereich des Rechts ihren Sinn, verfehlt. Zutreffend ist demgegenüber die These von Engisch (aaO, S. 18) und WaideT (Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen für Methodologie und Systematik des Strafrechts, S. 220), bei der Rechtsfindung könne man "GTenzen des Richtigen" abstecken. 6 Insoweit haben Adomeit, Less und SchweTdtner aaO (Anm. 5) Recht. 7 Dazu oben, Kapitel 3, § 2 II 3 b (2). 8 aaO, b (1).

Dritter Abschnitt

Art. 10311 GG und der öffentlich rechtliche Gesetzesvorbehalt als Schranken für die praeter legem erfolgende Rechtsfindung im Strafrecht Kapite19

Zur Bedeutung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts als Schranke für die Rechtsfortbildung aufierhalb gesetzlicher Regelungsrahmen § 1. Rechtsprechung und Lehre zum Verständnis

des strafrechtlichen Analogieverbots I. Zur herrsdlenden Deutung des strafredltlidlen Analogieverbots Bekanntlich wurde aus dem strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt ("nullum crimen sine lege") vom RG und wird heute vom BGH sowie vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung ein Verbot strafbegründender bzw. -schärfender "Analogie" abgeleitet!; und dem folgt die h. L.2. DieRG St 29,111, 116; 32, 165, 185 f.; 56, 161, 168; 62, 369, 373. BGH St 1, 158, 167 f.; 14, 262, 264; 18, 136, 140; 20, 333, 338 f; 22, 154, 155;

1

24,54,62.

BVerfG E 14, 174, 185; 25, 269, 285; 26, 41, 42; 29, 183, 196. t So aus dem älteren Schrifttum u. a. Frank, § 2 Anm. I 2; v. Hippet, Deutsches Strafrecht, 2. Bd. S. 36 - 39; v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 21./22. Aufl., S. 86; v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Straf-

rechts, 26. Aufl., S. 110 (dort Anm. 6 gegen die Kritik am Analogieverbot von

Exner).

Auch Binding, der das Anologieverbot de lege ferenda scharf ablehnte, erkannte es de lege lata an (Handbuch, S. 27 f., 218 f.; Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, BT 1. Bd. [2. Aufl.], S.21 f.). Aus dem heutigen Schrifttum vgl. u. a.: Baumann, AT S. 157 ff.; ders., Grundbegriffe, S. 33 f.; Blei, AT S. 3lf.; Bockelmann, AT S. 16 f.; Dreher, § 1 Anm. 5 B; Eser, Strafrecht I, S. 40 f.; Jescheck, AT S. 106; Kohlrausch/Lange, § 2 Anm. I; Lackner, § 1 Anm. 1 c; Maurach, AT S. 108 ff.; H. Mayer, AT (1953), S. 85 f.; AT (1967), S. 37; Preisendanz, § 1 Anm. I 3; Schönke!Schröder, § 1 Rdnr. 13, 33; H.-L. Schreiber, SK § 1 Rdnr. 21 ff.; ders., Gesetz und Richter, S. 230; Tröndle, LK (9. Aufl.), § 2 Rdnr. 6 - 10; Welzel, Lehrbuch S. 21 f.; Wessels, AT S. 9 f. Ebenso Engisch, Methoden der Strafrechtswissenschaft, S. 65 - 67; ders., Einführung in das juristische Denken, S. 148 f.; Anm. 180 (S. 259 f.); Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 193, 195 f.; Larenz, Methodenlehre,

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ses Analogieverbot wird dabei ganz überwiegend verstanden als Verbot der Rechtsfindung über den Rahmen der Auslegung hinaus, also als Verbot der gesetzesergänzenden Lückenfüllung, d. h. der Rechtsfindung praeter legern'. Da nun - wie ausgeführt - nach h. M. der mögliche Wortsinn des Gesetzes den Bereich seiner Auslegung begrenzt4 und darüber hinaus im wesentlichen Einigkeit darüber besteht, daß der Interpret die ratio legis nicht mißachten darf 5, läßt sich das herrschende Verständnis des strafrechtlichen Analogieverbots dahin umschreiben: Strafbegründende oder -schärfende Entscheidungen dürfen nur im Wege einer solchen Gesetzesanwendung erfolgen, die vom möglichen Wortsinn des angewendeten Gesetzes gedeckt und seiner ratio legis gerecht wird. Eine über diesen Rahmen hinausgehende Rechtsfortbildung, d. h. Rechtsfindung praeter legem - und erst recht contra legem - , ist im Geltungsbereich des Art. 103 II GG verboten. ß. Kritische stimmen

1. Hier sei zunächst auf solche Äußerungen in Lehre und Rechtsprechung hingewiesen, die zwar nicht das Bestehen des strafrechtlichen Analogieverbots in Frage stellen, dessen herrschendes Verständnis aber insoweit nicht teilen, als sie entgegen der h. A. meinen, die Gesetzesauslegung dürfe - auch im Strafrecht - den möglichen Wortsinn des Gesetzes überschreiten1 • Soweit dabei zu der Frage Stellung genommen wird, worin die Schranke zwischen der Norminterpretation und der

s. 229; ders., Über das Verhältnis von Interpretation und richterlicher Rechtsfortbildung, S. 404; Esser, Grundsatz und Norm, S. 104, 154; RadbruchlZweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 152 f.; Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 135; Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, S. 67 (a. E.) f.

So auch das verfassungsrechtliche Schrifttum zu Art. 103 II GG; vgl. nur: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, S. 223; Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 103 GG Erl. II 3 c; MaunzlDilriglHerzog, Rdnr. 111; SchmidtBleibtreulKlein, Rdnr. 9. Zum österreichischen Schrifttum vgl. oben, Kapitel 6, § 1 I 1 a (3) (a), zum schweizerischen Schrifttum aaO, (b). Das StGB der DDR vom 12. 1. 1968 (GBI I 1) ordnet in Art. 4 III S. 3 an: "Die Rückwirkung und die analoge Anwendung von Strafgesetzen zuungunsten des Betroffenen ist verboten. " 3 Dazu oben, Kapitell, § 2 I 1 mit Anm. 4 - 10. 4 Eingehend oben, Kapitel 6, § 1 I. i Dazu oben, Kapitell, § 3 II 3. Vgl. weiter im folgenden Text, II. 1 Vgl. oben, Kapitell, § 3 II 2 a mit Anm. 35. Zur Sondermeinung von Schmidhäuser vgl. Kapitel 1 aaO, 2 d mit Anm. 52ff.

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durch Art. 103 11 GG verbotenen "Analogie" liege, wird auf den gesetzlichen Regelungszweck verwiesen, wobei man diesen teils im Sinne der objektiven Auslegungstheorie versteht, teils im Sinne der subjektiven2 • Diese Auffassung läßt sich also dahingehend charakterisieren: Das strafrechtliche Analogieverbot erlaubt auch eine solche "Gesetzesanwendung", die vom Normtext nicht gedeckt wird, solange sie nur der ratio legis gerecht wird; verbotene "Analogie" liegt dagegen vor, wenn die "Anwendung" eines Strafgesetzes seinem Regelungszweck widerspricht. 2. Andere Gegner der herrschenden These, Art. 103 11 GG verbiete die strafbegründende bzw. -schärfende überschreitung des Normtextes, lehnen zugleich mit jener These die Unterscheidung zwischen Auslegung und Gesetzesanalogie ab und meinen, solche Analogie halte sich im Rahmen der teleologischen, d. h. an der ratio legis ausgerichteten Interpretation; ein strafrechtliches Analogieverbot, das die Gesetzesanalogie ausschließe, gebe es also in Wirklichkeit nicht; verboten sei durch Art. 103 11 GG lediglich die von der ratio legis eines Strafgesetzes nicht mehr gedeckte "freie Rechtsfindung"3. Diese Auffassung besagt der Sache nach nichts anderes als die unter 1 dargelegte, wie wir an früherer Stelle näher ausgeführt haben4 • 3. Während die soeben skizzierten Stellungnahmen zum strafrechtlichen Analogieverbot sachlich von dessen herrschendem Verständnis abweichen - und zwar durch Leugnen der Wortsinnbindung bei der Anwendung von Strafgesetzen -, gibt es daneben Äußerungen, die jene Wortsinnbindung akzeptieren, aber gleichwohl Kritik an der These üben, Art. 103 11 GG verbiete die "Analogie"5: Diese These, so wird geltend gemacht, sei verfehlt, da sie auch jede Auslegung unmöglich mache; denn schon die Norminterpretation sei beherrscht von der Rechtsfindungsmethode des "Schlusses vom Ähnlichen auf Ähnliches", verfahre also analogisch. Ein Analogieverbot laufe also auf ein Interpretationsverbot hinaus6 •

Diese Meinung beruht auf einem Mißverständnis der sachlichen Aussage der h. M. zu Art. 103 11 GG. Denn wir haben gezeigt, daß mit dem Terminus Analogieverbot gemeint ist der Ausschluß der Rechtsfindung Kapitell, § 3 II 2 a mit Anm. 37 - 40. Dazu oben, Kapitell aaO, 2 b mit Anm. 41 ff. 4 Kapitell aaO, 2 c. 5 So Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 102 (kritisch zum Analogieverbot), S. 86 - 88 (pro Wortlautschranke); ebenso offenbar Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 161 mit Anm. 38. G Hassemer aaO. !

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praeter legern. Dagegen geht das herrschende Verständnis des Art. 103 II keineswegs dahin, verboten sei das "analogische Verfahren" des Fallvergleichs, des Schlusses von Ähnlichem auf Ähnliches auch bei der Auslegung, d. h. verboten sei auch die "innertatbestandliche Analogie"7. Folglich trifft eine solche Kritik am herkömmlichen Verständnis des Analogieverbots ins Leere, die nicht dem Verbot der gesetzesergänzenden Lückenfüllung gilt, sondern einem - von der h. M. gar nicht behaupteten - Verbot der innertatbestandlichen Analogie.

4. Zusammenfassend läßt sich also sagen: Bei dem Streit zwischen der herrschenden Deutung des strafrechtlichen Analogieverbots und deren Kritikern geht es der Sache nach um die Frage: Darf der Richter bei der strafbegründenden bzw. -schärfenden Gesetzesanwendung unter Berufung auf die ratio legis den Rahmen des möglichen Wortsinns des Gesetzes verlassen oder nicht? IU. Bindung des Richters an den "Willen des historischen Gesetzgebers" im GeItungsbereich des Art. 103 U GG?

Wir haben gesehen, daß sich die Anhänger der herrschenden Deutung des strafrechtlichen Analogieverbots und deren Kritiker insoweit im wesentlichen einig sind, als sie meinen, der Regelungszweck des Gesetzes sei Schranke seiner Auslegung und daher verbiete Art. 103 II GG jedenfalls die Anwendung von Strafgesetzen unter Mißachtung deren ratio legis. Streitig ist dabei aber, ob dieser gesetzliche Regelungszweck gleichzusetzen ist mit dem vom historischen Gesetzgeber verfolgten Zweck oder ob letzterer für ersteren nur einen unverbindlichen Anhaltspunkt darstellt. Oder anders formuliert: Es ist streitig, ob im Geltungsbereich des Art. 103 II GG die Anwendung einer Norm, die das vom historischen Gesetzgeber mit ihr verfolgte rechtspolitische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht, ausgeschlossen ist, oder ob Art. 103 II GG den Normanwender nicht an den "Willen des Gesetzgebers" bindet. Da man gewöhnlich sagt: das strafrechtliche Analogieverbot verbiete die strafbegründende bzw. -schärfende Rechtsfindung, die den Rahmen bloßer Auslegung des Gesetzes verlasse, dieser Rahmen selbst aber werde durch Art. 103 II GG nicht eingeschränkt!, läßt sich zu jenem Streit Vgl. bereits oben, Kapitell, § 2 11. Anders aber Bindokat, der meint, Art. 103 II GG verbiete die teleologische Auslegung (JZ 1969, S. 544 f.); ebenso Ruppert Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, S. 236 mit Anm. 445. Vgl. weiter die Sondermeinung von Naucke, im Geltungsbereich des Art. 103 II GG sei die "objektiv-teleologische" Gesetzesauslegung ausgeschlossen 1

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3. Abschn.: 103 II GG und öffentI.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 9 203 um die Bindung des Richters an den "Willen des historischen Gesetzgebers" durch den Satz "nullum crimen sine lege" feststellen: Wer der objektiven Auslegungstheorie darin zustimmt, daß jener gesetzgeberische Regelungszweck den Interpreten nicht binde2 , folgert daraus gewöhnlich, auch im Anwendungsbereich des Art. 10311 GG sei die Gesetzesanwendung nicht durch jenen Zweck beschränkt3. Wer demgegenüber meint, von Auslegung des Gesetzes könne dort keine Rede mehr sein, wo der Interpret die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers mißachte4 , schließt hieraus gewöhnlich, also verbiete Art. 103 II GG die strafbegründende bzw. -schärfende Normanwendung gegen jene Wertung5 • Gewöhnlich wird nun gesagt, die erstere (der "objektiven Theorie" entsprechende) Ansicht sei herrschend; doch unsere Ausführungen zum Streit zwischen dieser Theorie und der "subjektiven" dürften gezeigt haben: Angesichts des Methodensynkretismusses der Rechtsprechung und der Tatsache, daß viele namhafte Autoren - mögen sie sich dabei zur subjektiven Theorie bekennen oder eine vermittelnde vertreten in der rechtspolitischen Wertentscheidung des Gesetzgebers eine Auslegungsschranke sehen, läßt sich dieser letztere Standpunkt nicht als Mindermeinung, die einer herrschenden tlberzeugung widerspricht, einordnen. IV. Zusammenfassnng

1. Nach h. M. verbietet das strafrechtliche Analogieverbot die strafbegründende bzw. -schärfende Rechtsfortbildung über den Rahmen der Gesetzesauslegung hinaus, wobei der mögliche Wortsinn des Gesetzes jenen Rahmen begrenzen soll. Ob neben dieser Wortsinnschranke auch die der auszulegenden Norm zugrundeliegende rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers den Rahmen der Interpretation begrenzt, ist streitig, wound der Richter an die Inhaltsvorstellungen des historischen Gesetzgebers gebunden (Nachweis: oben, Kapitell, § 3 II Anm. 39). 2 Nachweise oben, Kapitel 7, § 11 2, 3. 3 So u. a. J. Baumann, Bockelmann, Eser, KohlrauschlLange, Lackner, Maurach, Schmidhäuser, Stratenwerth, Tröndle, Welzel und WesseIs (oben, Kapitel 7, § 11 Anm. 3) als Vertreter der objektiven Auslegungstheorie. 4 Nachweise oben, Kapitel 7 aaO, 1; 3, 4. 5 So insbesondere Engisch und H. Mayer (oben, Kapitel 7, § 1 1 Anm. 1); Sauer, Dahm und Sax (Kapitel 7 aaO, Anm. 22, 23, 30); vgl. weiter Jescheck, AT S. 123; ders. Studium Generale 1959, S. 111. Naucke (aaO) stellt auf die Inhaltsvorstellungen des historischen Gesetzgebers als Auslegungsschranke im Geltungsbereich des Art. 103 II GG ab; ebenso Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S. 257 f., 271,364.

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bei diese Frage in dem Sinne ungelöst ist, als sich hierzu noch keine klar vorherrschende überzeugung gebildet hat. 2. Was den Grad der Einschränkung der richterlichen Rechtsfortbildung im Strafrecht durch Art. 103 11 GG betrifft, lassen sich vier Meinungen unterscheiden: a) Die strengste geht dahin, der Interpret sei an den Normtext und zudem an den gesetzgeberischen Regelungszweck gebunden. b) Abgeschwächt ist die Einschränkung der Richtermacht im Anwendungsbereich des strafrechtlichen Analogieverbots dagegen durch die Ansicht, der Richter sei zwar an den möglichen Wortsinn des Gesetzes, nicht aber an die Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers gebunden, c) bzw. durch die Auffassung, zwar dürfe der Interpret die Schranken des Normtextes überschreiten, dagegen sei für ihn jene Wertentscheidung verbindlich. d) Am stärksten "entfesselt" wird der Strafrichter durch die Ansicht, weder der Normtext noch die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers seien Schranken der Auslegung von Strafrechtsnormen. Wir halten es gegenüber einer solchen Auflösung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts, wie sie die letztere Meinung bedeutet, mit dem Standpunkt: Art. 103 11 GG erlaubt eine solche Gesetzesanwendung, die sich im Rahmen des möglichen Wortsinns des angewendeten Gesetzes hält und jener gesetzgeberischen Wertung gerecht wird, verbietet aber, soweit es um Strafbegründung bzw. -schärfung geht, jede darüber hinausgehende Rechtsfortbildung; dieser Standpunkt ergibt sich aus den folgenden Erwägungen: § 2. Art. 103 11 GG als Verbot strafbegründender oder -schärfender Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen I. Normtheoretisdle Begründung

1. Der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt lautet:

"Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Dabei könnte "gesetzlich bestimmt" so zu verstehen sein, aus dem Gesetz müsse sich im Wege einer als bloßer Erkenntnisakt verstandenen Auslegung unmittelbar ableiten lassen, ob ein Verhalten eine Straftat darstelle. Ein solches Verständnis des Art. 103 II GG findet sich etwa bei Class, der postuliert :

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Das Strafgesetz müsse in dem Sinne alleinige Rechtsquelle sein, daß bei der Bestrafung "die Konkretisierung jeder Fallentscheidung" unter Ausschluß eines rechtsschöpferischen Anteils des Richters bei der Obersatzbildung "vom Gesetz selbst determiniert sei"1.

Indessen haben unsere Ausführungen zum rechtsschöpferischen, "normvollenden" Charakter der Normauslegung und zum Wesen des Gesetzes als Regelungsrahmen erwiesen, daß die Strafrechtsnorm grundsätzlich Produkt arbeitsteiligen Zusammenwirkens von Gesetzgebung und Rechtsprechung ist, daß die "fertige Norm", unter die der Richter seinen Fall subsumiert, Ergebnis der richterlichen Konkretisierung des angewendeten gesetzlichen Regelungsrahmens ist. Es sind also sachZogische Erwägungen, resultierend aus der Natur des Gesetzes und seiner Auslegung, die der Annahme entgegenstehen, "gesetzlich bestimmt" sei nur eine solche Strafdrohung, die sich aus dem Gesetz ablesen lasse. 2. Wenn also der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt die rechtsfortbildende weil normvollendende Konkretisierung des Strafgesetzes durch die Rechtsprechung nicht hindern kann, so bleibt für die Deutung der Formel, "gesetzlich bestimmt" müsse die Strafbarkeit sein, nur eine Verständnismöglichkeit: "Gesetzlich bestimmt" ist das Urteil, ein bestimmtes Verhalten sei eine Straftat, wenn dies Urteil im Wege der Konkretisierung des RegeZungsrahmens eines Strafgesetzes getroffen wurde. Beruht ein solches Urteil dagegen auf richterlicher Rechtsfortbildung außerhalb des Regelungsrahmens einer Strafrechtsnorm, so läßt sich beim besten Willen nicht mehr sagen, die Strafbarkeit sei gesetzlich bestimmt. Wer den gesetzlichen Regelungsrahmen zu Lasten des Straftäters sprengt und sich gleichwohl noch berühmt, dessen Strafbarkeit sei "gesetzlich bestimmt", muß sich den Vorwurf des "Etikettenschwindels" gefallen lassen. Denn hinter jener Formel steckt doch gerade die Idee der Legitimation eines Strafurteils durch das Gesetz; diese Legitimation setzt aber voraus, daß man bei der Anwendung des Gesetzes seinen Rahmen respektiert. Wer dies nicht tut, kann für sein Urteil auch nicht jene Legitimationswirkung des Gesetzes in Anspruch nehmen und sollte daher davon Abstand nehmen, jenes Urteil als "gesetzlich bestimmt" auszugeben. Da nun die Schranken des gesetzlichen Regelungsrahmens durch den möglichen Wortsinn der Norm und den mit ihr vom historischen Gesetzgeber verfolgten rechtspolitischen Zweck bezeichnet werden, ist nach unserem Verständnis des strafrechtlichen Analogieverbots dem Strafrichter durch dieses jede Normanwendung untersagt, die vom möglichen Wortsinn nicht mehr gedeckt wird oder jenen gesetzgeberischen Zweck in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht. 1 Generalklauseln im Strafrecht, S. 137.

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11. Verfassungsrechtliche Begründung

Unsere normtheoretischen Argumente werden durch verfassungsrechtliche bekräftigt, die sich aus Sinn und Zweck des strafrechtlichen Analogieverbots ergeben:

1. Zum Grundgedanken des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts Zu der Frage nach dem Grundgedanken des Art. 103 II GG werden die unterschiedlichsten Auffassungen vertreten, wobei gewöhnlich nicht zwischen den einzelnen aus dieser Verfassungsnorm abgeleiteten Verboten differenziert wird. Demgegenüber halten wir es mit Grünwald 1 für sachgerechter, diese Frage für das jeweils zu prüfende Verbot - hier: das Analogieverbot gesondert zu stellen; denn es ist ja nicht gesagt, daß etwa dies Verbot und das der Rückwirkung auf demselben Prinzip beruhen müssen2 • Folglich geht es im folgenden nur um das Problem, auf welchem Grundgedanken das strafrechtliche Analogieverbot beruht, während die Frage, ob z. B. für das Rückwirkungsverbot etwas anders gilt, dahinstehen kann. Die divergierenden Meinungen zu jenem Problem sollen nun nicht im einzelnen geschildert werden; insoweit sei auf die gründliche Erörterung bei Grünwald3 , Hans-Ludwig Schreiber' und Lemmel5 verwiesen; nur zwei Standpunkte seien hier hervorgehoben, da sie - wie wir glauben - die hinter dem Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG stehenden Verfassungsprinzpien am treffendsten erfassen: Gemeint ist einmal die Auffassung, das strafrechtliche Analogieverbot bezwecke den Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür 6 , zum anderen die Ansicht, dies Verbot sei auf das "demokratische Prinzip" zurückzuführen7 • ZStw Bd. 76 (1964), S. 13. Ebenso offenbar H. L. Schreiber, ZStW Bd. 80 (1968), S. 348 ff. (359 ff.). 3 aaO, S. 9 ff. 4 Gesetz und Richter, S. 209 ff. S Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen im Besonderen Teil des Strafrechts und der Grundsatz nullum crimen sine lege, S. 74 - 96, 156 ff. e So eingehend Lemmel aaO, S. 156 ff., 164, 170; ebenso Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz "nullum crimen sine lege", S. 15 f., 173; vgl. weiter J. Baumann, Der Aufstand des schlechten Gewissens, S. 11, 13; v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze, S. 434. Ebenso offenbar H. L. Schreiber aaO, S. 213 ff. 7 So insbesondere Grünwald aaO, S. 13 f.; vgl. weiter Dando, Das Legalitätsprinzip und die Rolle der Rechtsprechung und der Theorien, S. 43; Jescheck, AT S. 108; Krey, Zum innerdeutschen Strafanwendungsrecht, S. 93; Mangakis, ZStw Bd. 81 (1969), S. 1003; NoH, Prinzipien der Gesetzgebungstechnik, S. 172; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, S. 72; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 248 f., 253; Mai1

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Der erste Standpunkt berücksichtigt die - schon angesichts der Regelung in Art. 93 I Nr. 4 a GG - offensichtliche grundrechtliehe Komponente des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts, der letztere das Problem der Legitimation von Strafurteilen. Für beide sprechen die folgenden Gründe: a) Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür (1) Die Deutung des Analogieverbots als Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür hat die Entwicklungsgeschichte 8 dieses Verbots für sich; das ergibt sich aus einer Analyse ihrer geistesgeschichtlichen Grundlagen. Diese Analyse hat jetzt Hans Ludwig Schreiber8 in derart umfassender Weise geleistet, daß die folgende Darstellung sich im wesentlichen darauf beschränken kann, eine kurzgefaßte Bilanz seiner Ergebnisse zu ziehen, soweit jene hier relevant sind:

(a) Bekanntlich ist der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt eine Frucht des aufklärerischen Rechtsdenkens, wobei insbesondere Montesquieu hervorzuheben istlO• Für sein Rechtsdenken stand die Sicherung der individuellen Freiheit im Mittelpunkt; diesem Zweck diente sein Postulat der strikten Trennung der richterlichen von der gesetzgebenden Gewalt. Wäre jene Gewalt mit dieser verbunden - so meinte Montesquieu - dann wäre eine unerträgliche Machtfülle in die Hand der Strafjustiz gegeben und deren Willkür Tür und Tor geöffnet. Solle nicht die Macht der Strafrichter - von der er als der "puissance de juger si terrible parmi les hommes" (der unter den Menschen so schrecklichen Gewalt zu richten) sprach" die Freiheit willkürlich zerstören können, so müsse der Richter strikt an das Gesetz gebunden sein. Wenn Montesquieu also einer der "geistigen Väter" des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts wurde12, so aus Sorge um die Gefährdung der Freiheit des einzelnen durch richterliche Willkür. (b) Seinen gesetzlichen Niederschlag hat jener Gesetzesvorbehalt dann im Verlauf der Französischen Revolutionszeit gefunden, und zwar in Art. 7, 8 der "Declaration des Droits de l'homme et du citoyen" (1789) und in den Verfassungen der folgenden J abre l3 •

wald, Bestimmtheitsgebot ... , S. 147 f.; Welp, Vorangegangenes Tun ... , S. 141; vgl. weiter H.-L. Schreiber aaO, S. 218 f. Grünwald aaO stellt daneben noch auf das Gewaltenteilungsprinzip ab. 8 Dazu eingehend die Monographie von Schreiber aaO (oben, Anm. 4). Weiter Binding, Handbuch, S. 17 ff.; Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 992 ff.; Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der Strafrechtspflege; weitere Nachweise bei Schreiber aaO.

aaO. Dazu Schreiber aaO, S. 53 - 61. 11 Zitiert nach Eb. Schmidt, DRiZ 1963, S. 377. 12 Schreiber aaO; weiter Waibtinger, Die Bedeutung des Grundsatzes "nullum crimen sine lege", S. 223. 13 Dazu Schreiber aaO, S. 67 ff. ; Sax aaO, S. 992. g

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Verbunden wurden diese Bekenntnisse zum Prinzip der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit dabei mit einer strikten Bindung des Strafrichters an das Gesetz gemäß den Vorstellungen Montesquieus, wobei man soweit ging, die richterliche Gesetzesinterpretation ausschließen zu wollen14• Jene Beschränkung der Richtennacht im Strafrecht war dabei entscheidend beeinflußt von den leidvollen Erfahrungen mit dem "Mißbrauch der fast unbeschränkten richterlichen Macht in der vorrevolutionären Zeit" und sollte entsprechend den Postulaten von Montesquieu dem Schutz der individuellen Freiheit vor solcher Willkür der Strafjustiz dienen16 • (e) Die aufklärerische Forderung nach einem strikten Gesetzesvorbehalt im Strafrecht wurde außer in Gesetzen der französischen Revolutionszeit auch in Kodiftkationen des "aufgeklärten Absolutismus" verwirklicht, und zwar in österreich im "Allgemeinen Gesetz über Verbrechen und derselben Bestrafung" Joseph' II von 1787 (Josephina), in Preußen im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (ALR): Die Josephina enthielt in Teil I § p6, das ALR in § 9 II. Teil 20. Titel17 die Anordnung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts. Was die Grundlage jenes Analogieverbots der Josephina angeht, wird von Eb. Sehmidt, v. Weber, Sax, Kohlmann u. a. behauptet, damit sei nicht der Schutz des einzelnen vor richterlicher Willkür bezweckt worden, sondern es sei um die Autorität des absoluten Monarchen, um den Schutz seiner gesetzgeberischen Gewalt gegangen18• Der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt - gekoppelt mit einer strikten Bindung des Strafrichters an den Buchstaben des Gesetzes19 - habe die "absolutistische Omnipotenz" des Souverän stärken sollen; ihr gegenüber habe man richterliche Willkür ausschließen wollen. Diese Deutung des geistesgeschichtlichen Hintergrunds des Analogieverbots der Josephina ist aber zu einseitig; ihr gegenüber hat Schreiber 20 14 Vgl. oben, Kapitel 2, § 1 12 a (1) (c) mit Anm. 19 (m. w. N.). 15 Schreiber aaO, S. 73 (im Anschluß an Höhn, Die Stellung des Strafrichters in den Gesetzen der französischen Revolutionszeit [1791 - 1810], S. 22 f.). le § 1 lautete: "Nicht jede gesetzwidrige Handlung ist ein Criminalverbrechen oder sogenanntes Halsverbrechen; und sind als Criminalverbrechen nur diejenigen gesetzwidrigen Handlungen anzusehen und zu behandeln, welche durch gegenwärtiges Strafgesetz als solche erklärt werden." Zur Bedeutung dieser Vorschrift als Analogieverbot vgl. Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften, S. 181; Küper, Die Richteridee der Strafprozeßordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen, S. 62; Eb. Schmidt aaO, S. 256; weiter Schreiber aaO, S. 76 ff. 11 § 9 ordnete an: "Handlungen und Unterlassungen, welche nicht in den Gesetzen verboten sind, können als eigentliche Verbrechen nicht angesehen werden ... " Zur Bedeutung des § 9 als Analogieverbot vgl. v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. 1 S. 277, 286; Kohlmann aaO, S. 185; Schreiber aaO, S. 88 ff. 18 Eb. Schmidt aaO, S. 256; v. Weber, zstw Bd. 56 (1937), S. 671; Sax aaO, S. 992 (Anm. 251); Kohtmann aaO, S. 180 f. 1D Vgl. Teil I § 13 der Josephina. 20 aaO, S. 76 ff.

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zu Recht hervorgehoben, daß Joseph II unter dem Einfluß des aufklärerischen Denkens stand und dabei insbesondere die Lehren Beccarias von Bedeutung waren, der bekanntlich wie Montesquieu mit der strengen Gesetzesbindung des Richters den Schutz der Freiheit des einzelnen verfolgte. Schreiber kommt daher zu dem Standpunkt, der auch der unsrige ist: Für den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt der Josephina stand zwar im Vordergrund der absolutistische Gedanke von dem Schutz der Autorität des gesetzgebenden Souverän durch strikte Gesetzesbindung der Strafjustiz; "aber dieser Absolutismus war bereits durchgesetzt mit der aufklärerischen Idee der Gesetzlichkeit als Freiheitsgarantie"!l. Stärker, als dies bei der Josephina der Fall ist, wird der Gesetzesvorbehalt des ALR für den Bereich des Strafrechts von rechtsstaatlichen Gesichtspunkten mitgetragen, nämlich von der Erwägung, den einzelnen von den Gesetzen, nicht aber von der Willkür des Richters abhängig zu machen22 • (d) Die Bedeutung Anselm v. Feuerbachs für die Weiterentwicklung des strafrechtlichen Analogieverbots ist bekannt. Weniger bekannt ist dagegen, welche Gründe es wirklich waren, die ihn zu einem so engagierten Kämpfer für diesen Gesetzesvorbehalt werden ließen. Hierzu wird nämlich im anschluß an Binding23 von vielen gesagt, Feuerbach sei es im Gegensatz zu Montesquieu weniger um das aufklärerische Postulat "Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür" gegangen, sondern in erster Linie um die "Realisierung einer strafrechtlichen Theorie", nämlich der Theorie vom psychologischen Zwang24 : Nach Feuerbach war Zweck der Strafdrohung die Abschreckung (Generalprävention); diesen Zweck sollte das Strafgesetz durch psychologischen Zwang verwirklichen: Jeder Bürger sollte durch die gesetzliche Strafdrohung wissen, "daß auf die Übertretung ein größeres Übel folgen werde, als dasjenige ist, welches aus der Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach der Handlung entspringt"25. Voraussetzung für die Verwirklichung jener Zwangstheorie war nun die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit vor der Tat unter Ausschluß strafbegründender (bzw. -schärfender) RichtermachtZI • Schreiber aaO, S. 81 (a. E.) f. Schreiber aaO, S. 89 ff. VgI. weiter Kohlmann aaO, S. 182:

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"Die Beziehung zur französischen Aufklärungsphilosophie ist nicht zu übersehen." 23 aaO, S. 20 f. 24 So u. a. Kohlmann aaO, S. 188 f.; Sax aaO, S. 993 - 995; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte ... , S. 177. 25 Feuerbach, zitiert nach Kohlmann aaO, S. 188. 28 VgI. Kohlmann aaO, S. 189: "Diese Zwangstheorie ... bedurfte zu ihrer Wirksamkeit zweierlei: zum einen, daß das Übel vom Staat im voraus angedroht wird, und zum anderen, daß der Bürger davon Kenntnis nehmen kann. Beides läßt sich nur erreichen durch exakt formulierte Strafbestimmungen." 14 Krey

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Trotz dieser Koppelung des strafrechtlichen Analogieverbots mit der Theorie vom psychologischen Zwang ist aber jene These zu einseitig, Feuerbach habe das Prinzip "nulla poena sine lege" hauptsächlich als Mittel zur Verwirklichung seiner Strafrechtstheorie gesehen. Vielmehr war auch sein Rechtsdenken entscheidend von der aufklärerischen Forderung nach dem "Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür" durch das positive Gesetz geprägt. Sein politisches Anliegen war es, durch den Gesetzesvorbehalt die Befreiung von solcher Willkür zu erreichen. Schreiber kommt danach zu dem Schluß, den wir teilen: "Feuerbach hat auch straftheoretisch zu formulieren versucht, wovon er als rechtspolitischem Ziel ausgingI1." (2) Neben der geistesgeschichtlichen Entwicklung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts28 sprechen noch weitere Erwägungen für unsere These, dieser bezwecke den Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür: (a) Daß Art. 103 II GG die Freiheit des Bürgers sichern will, also Grundrechtscharakter hat", kommt schon in Art. 93 I Nr. 4 a GG zum Ausdruck. (b) Und daß dabei das Analogieverbot gerade den Schutz der individuellen Freiheit vor der richterlichen Gewalt bezweckt, folgt aus der systematischen Stellung jenes Grundrechts im IX. Teil des GG (Rechtsprechung) und seinem Zusammenhang mit den in Art.10l und 104 I GG verbrieften Grundrechten: Alle drei dienen gerade auch der Sicherung der Freiheit des Bürgers vor der dritten Gewalt.

Folglich handelt es sich nach der Wertung des Grundgesetzes beim strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt um ein Freiheitsrecht der Bürger gegenüber der Strafjustiz. b) Strafrechtliches Analogieverbot und demokratisches Prinzip Mit der dargelegten grundrechtlichen Deutung des Analogieverbots (Art. 103 II GG) ist dessen Grundgedanke aber erst in einem Teilaspekt erfaßt. Denn neben den Gesichtspunkt "Freiheitsschutz" tritt noch ein weiterer, nämlich jener der Legitimation von Strafurteilen durch das Gesetz. Grünwalds Verdienst ist es, diese Legitimationskomponente herausgestellt und mit dem demokratischen Prinzip verbunden zu haben; er führt dazu am;llo: aaO, S. 112 (Hervorhebung vom Verf.). Vgl. weiter Eb. Schmidt aaO, S. 239. Zur rechtsstaatlich-freiheitlichen Seite des Satzes "nulla poena sine lege" bei Feuerbach vgl. jetzt auch Naucke, ZStw Bd. 87 (1975), S. 881, 887. 18 Zu seiner weiteren Entwicklung nach Feuerbach vgl. die Monographie von Schreiber (aaO, Anm. 4). 11 MaunzlDilriglHerzog, Art. 103 Rdnr. 98 m. w. N. 11

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"In der Strafjustiz tritt dem einzelnen die staatliche Gemeinschaft mit einem besonders hohen Anspruch entgegen, mit dem Anspruch, über Tat und Täter ein Unwerturteil zu fällen, an das sich schwerwiegende Rechtsfolgen knüpfen. An die Legitimation zu einem solchen Urteil sind darum besonders strenge Anforderungen zu stellen. Nur der Repräsentant des Trägers der Staatsgewalt selbst besitzt diese Legitimation; in unserer Staatsordnung heißt das: nur die Volksvertretung. " (1) Auch für diese Deutung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts läßt sich seine Entstehungsgeschichte anführen: Im Deutschland des 19. Jahrhunderts nämlich verband sich die staatstheoretische Vorstellung, nicht dem Richter, sondern dem Gesetzgeber komme die Aufgabe zu festzusetzen, was bei Strafe verboten sei, im Verlaufe der "Verfassungsbewegung"31 mit dem demokratischen Postulat einer Beteiligung des Volkes durch parlamentarische Vertretungen an der Gesetzgebungs 2 • Jene Verfassungsbewegung, die getragen wurde vom Bürgertum, zielte auf eine Beschränkung der monarchischen Macht durch geschriebene Verfassungen ab. Kennzeichnen des angestrebten Verfassungstyps war dabei insbesondere die Mitwirkung von Parlamenten bei der Schaffung von Gesetzen33• Damit kam es zu einer Verknüpfung des rechtsstaatlichen Prinzips, daß staatliche Eingriffe in "Freiheit und Eigentum" des Bürgers grundsätzlich der gesetzlichen Ermächtigung bedürfen (Gesetzesvorbehalt), mit dem demokratischen Prinzip einer Legitimation solcher Gesetze durch Mitbestimmung von Volksvertretern. Folglich erhielt der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt durch das Vordringen der Verfassungsbewegung bereits im 19. Jahrhundert "einen gewissen demokratischen Charakter"M. (2) Vollends mit der Ablösung der konstitutionellen Monarchieu durch die parlamentarische Demokratie, in der das Volk Träger der Staatsgewalt ist, hat das strafrechtliche Analogieverbot einen stark "demokratischen Aspekt" erhalten: Denn das "Parlamentsgesetz besitzt Rang und Prädikat einer demo-

kratischen Mehrheitsentscheidung, wie sie sonst keinem anderen Staats-

akt zukommt"36; nur der Legislative erwächst ja in der parlamentarischen Demokratie "die unmittelbare Legitimation aus d~r Mehrheitsentscheidung des Volkes"37. Wegen dieser unmittelbaren demokratischen Vgl. oben, Anm. 7. Dazu Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 297, 327 ff.; E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 71 ff. und öfter. 3! Vgl. Kimminich aaO. 33 aaO. 3~ Schreiber aaO, S. 162 ff. (164). 3$ Dazu Kimminich aaO, S. 327 ff. se Maunz!Dürig!Herzog, Art. 20 Rdnr. 62 (im Anschluß an Ipsen). 37 Fuß, JZ 1959, S. 331; vgl. weiter Hesse, Grundzüge des Verfassungs30

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14·

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3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 9

Legitimation des parlamentarischen Gesetzgebers kann in unserer Demokratie grundsätzlich nur er das Recht in Anspruch nehmen, Straftatbestände zu setzen38• Und so läßt die Einsicht in die demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland "die Grundlagen und die Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes" für hoheitliche Eingriffe (und damit auch des strafrechtlichen Analogieverbots) "klarer hervortreten"39: Die Entscheidung über die Zulässigkeit freiheitsbeschränkender Hoheitsakte "bedarf der demokratischen Legitimation und eines demokratischen Verfahrens" (Hesse)40. (3) Gegen diese "demokratische" Deutung des Gesetzesvorbehalts nach Art. 103 II GG könnte allerdings eingewandt werden, nach h. M. kämen als Gesetze im Sinne jener Verfassungsnorm grundsätzlich auch Rechtsverordnungen in Betracht41 , und ihnen fehle die "unmittelbare demokratische Legitimation des Parlamentsgesetzes" . Indes schlüge ein solcher Einwand nicht durch:

Denn Rechtsverordnungen bedürfen ja der gesetzlichen Ermächtigung (Art. 80 I GG); dabei sind nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG4! an die durch Art. 80 I GG geforderte "inhaltliche Bestimmtheit" dieser Ermächtigung für Eingriffs- und zumal für Strafnormen in Rechtsverordnungen "strenge Anforderungen" zu stellen: Der Gesetzgeber müsse die Ermächtigung zur Strafdrohung unzweideutig aussprechen und dabei Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung so genau umreißen, "daß die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aus der Ermächtigung und nicht erst aus der auf sie gestützten Verordnung voraussehbar" seien43 • rechts ... , S. 203 - 205. Erichsen (Staatsrecht II, 1973, S. 100) spricht von einer "parlamentarischen Prärogative", die ihren Grund auch "in der unmittelbaren Legitimation des Parlaments durch Wahlen des Volkes" habe (Hervorhebung vom Verf.). Demgegenüber kommt den Organen der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung zwar auch eine "auf das Volk zurückgehende Legitimation zu" (Erichsen aaO, m. w. N.), aber nur eine mittelbare. Auch Dubischar (Vorstudien zur Rechtswissenschaft, S. 123), Papier (Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte ... , S. 32 f., 65, 99, 174), J. Ipsen (Richterrecht und Verfassung, S. 196 ff., 204), H.-P. Schneider (DÖV 1975, S. 447, 452) u. a. weisen auf die höherrangige demokratische Legitimation des parlamentarischen Gesetzgebers gegenüber dem Richter hin. 38 So insbesondere die oben, Anm. 7 genannten Autoren. 39 Hesse aaO, S. 205. 40 aaO. 41 BVerfG E 14, 174, 185 f.; 32, 346, 362 f. 4! aaO. 43 E 14 aaO. Vgl. auch E 32 aaO: Nach diesem Beschluß können auch Gemeindesatzungen "Gesetze" i. S. des Art. 103 II GG sein. Doch sei dann erforderlich, daß sich schon aus der gesetzlichen Ermächti-

3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 9

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2. Folgerungen aus dem Grundgedanken des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts für dessen Verständnis a) Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür (1) Dieser Normzweck des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts verlangt eine möglichst weitgehende Begrenzung der Richtermacht bei strafbegründenden und -schärfenden Entscheidungen. Dabei kann jenes Ziel aus sachlogischen Gründen nicht durch einen Ausschluß der richterlichen Rechtsfortbildung im Geltungsbereich des Art. 103 II GG erreicht werden; denn dem stehen unsere normtheoretischen Erkenntnisse zum Wesen des Gesetzes als Regelungsrahmen und zur Natur der Gesetzesauslegung als rechtsschöpferischer (weil normvollendender) Konkretisierung dieses Rahmens entgegen. Insoweit ist also der Standpunkt des aufklärerischen Rechtsdenkens überholt, richterliche Willkür sei durch eine strikte Gesetzesbindung im Sinne des Ausschlusses jeder rechtsschöpferischen Beteiligung des Richters bei der Rechtsfindung zu verhindern. Vielmehr kann es beim "Schutz der individuellen Freiheit vor Willkür der Strafjustiz" durch das Erfordernis "gesetzlicher Bestimmtheit" der Strafdrohungen nur um eine möglichst weitgehende Einschränkung richterlicher Rechtsfortbildung gehen - und zwar um die Beschränkung auf Rechtsfortbildung innerhalb des angewendeten Regelungsrahmens. (2) Danach wird jener Freiheitsschutz erreicht durch die Bindung des Strafrichters an die Schranken des gesetzlichen Regelungsrahmens, nämlich den "möglichen Wortsinn" des Gesetzes und die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers. Wer demgegenüber meint, auch im Geltungsbereich des Art. 103 II GG dürfe der Gesetzesanwender den Normtext überschreiten oder jene gesetzgeberische Wertung mißachten - oder gar beides tun -, befreit den Strafrichter von Fesseln, an die er nach dem Prinzip größtmöglicher Begrenzung der strafbegründenden bzw. -schärfenden richterlichen Rechtsfortbildung gebunden sein sollte, und verfehlt damit Sinn und Zweck des Analogieverbots. (3) Einer so weit gehenden Fesselung der Dritten Gewalt bei strafbegründenden und -schärfenden Entscheidungen mag man den Vorwurf übertriebenen Mißtrauens gegen die Strafjustiz entgegenhalten. Indes trifft dieser Vorwurf - wie wir meinen - in erster Linie den Verfassungsgeber, der Art. 103 II GG schuf, und allenfalls in zweiter Linie unser Verständnis dieser Grundrechtsnorm, das sich bemüht, Ernst mit ihr

gung zum Erlaß der fraglichen Satzung "ablesen (lasse), ob der in der Satzung geregelte Straftatbestand nach den Intentionen des Gesetzgebers überhaupt statuiert und wie er bewehrt werden konnte".

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3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 9

zu machen. Und im übrigen ist dort, wo es um den Schutz der Freiheit des Bürgers gegenüber dem "Leviathan Staat" (Hobbes) geht, Vertrauen gut aber Mißtrauen besser, was offensichtlich auch der Standpunkt unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung ist. b) Demokratisches Prinzip Der demokratische Aspekt des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts erfordert, daß im Verhältnis Richter/Volksvertretung allein letzterer die Aufgabe zukommt, neue Straftatbestände zu schaffen, den Rahmen vorhandener Tatbestände zu erweitern oder Strafdrohungen zu verschärfen. Wenn der Richter also zu Lasten des Täters die Schranken des Regelungsrahmens eines Strafgesetzes überschreitet, so fehlt ihm dafür die nötige demokratische Legitimation.

m.

Zusammenfassung

Das strafrechtliche Analogieverbot besagt: In seinem Geltungsbereich ist die Richtermacht darauf beschränkt, Strafgesetze anzuwenden, oder genauer gesagt: ihren Regelungsrahmen zu konkretisieren. Danach eTlaubt das Analogieverbot die Gesetzesauslegung und damit die Rechtsfindung secundum legem, veTbietet aber die über diesen Rahmen hinausgehende Rechtsfindung pTaeter1 legem. Auslegungsschranken sind dabei der mögliche Wortsinn des Gesetzes und die ihm zugrundeliegende rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers, soweit diese mit hinreichender Sicherheit zu ermitteln ist. Wir können daher jetzt feststellen, was wir im Zweiten Abschnitt dieser Arbeit noch dahingestellt hatten: Die Grenzen des Bereichs der Normauslegung sind zugleich die der Richtermacht speziell durch den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt gezogenen.

1

Und erst recht contTa legem.

Kapitel 10

Reichweite des strafrechtlichen Analogieverbots § 1. Zum Geltungsbereich des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im materiellen Strafrecht I. DelIktsfolgen

1. Strafen

a) Nach h. M.l beansprucht Art. 103 11 GG Geltung nicht nur für die Tatbestandsvoraussetzungen von Strafnormen, sondern auch für deren Strafdrohung oder genauer: für den Strafrahmen; danach beinhaltet der Gesetzesvorbehalt jener Verfassungsnorm den Satz: "nullum crimen, nulla poena sine lege". Demgegenüber nimmt eine Mindermeinung im Schrifttum an, Art. 103 II GG erfasse die Deliktsfolgen nicht; verfassungsrechtlich garantiert sei allein der Satz "nullum crimen sine lege", nicht aber "nulla poena sine lege"!. Zur Begründung dieses Verständnisses von Art. 103 11 GG wird im wesentlichen ausgeführt: Gegen die h. A. spreche der Wortlaut des Gesetzes3 ; denn in Art. 103 Ir GG sei nur die gesetzliche Bestimmtheit der "Strafbarkeit" gefordert, also nicht die der »Strafe". Zwar habe § 2 I StGB i. d. F. von 1871 den Satz "nullum crimen, nulla poena sine lege" enthalten; diese Normierung habe aber auch ausdrücklich die gesetzliche Bestimmtheit der "Strafe" verlangt. Wenn Art. 103 Ir GG demgegenüber - nach dem Vorbild von Art. 116 Weimarer Reichsverfassung4 die gesetzliche Bestimmtheit der "Strafbarkeit" genügen lasse, so sei mit dieser Wortfassung die verfassungsrechtliche Garantie des strafrechtlichen 1 Vgl. für alle MaunzlDüriglHerzog, Art. 103 Rdnr. 8; Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, S. 1011 f.; SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 8; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 21 ff., 32; BVerfG E 25, 269, 285. Weitere Nachweise bei MaunzlDüriglHerzog und SchönkelSchröder aaO. 2 So K. Peters, In welcher Weise empfiehlt es sich, die Grenzen des strafrichterlichen Ermessens im künftigen StGB zu regeln?, Verhandlungen des 41. Dt. Juristentages (1955), I., 2. Halbbd. S. 23; Welzel, Lehrbuch S. 20. a Peters aaO; ebenso offenbar Welzel aaO. 4 Art. 116 wurde von vielen dahin ausgelegt, sein Normbereich umfasse nicht die Strafdrohung (dazu unten, Anm. 10).

216 3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10

Gesetzesvorbehalts auf den Satz "nullum crimen sine lege" beschränkt, d. h. das Prinzip "nulla poena sine lege" ausgeklammert. Dieser Argumentation wird von den Vertretern der h. M. gewöhnlich die Entstehungsgeschichte 5 des Art. 103 11 GG entgegengehalten: Man meint, sie ergebe eindeutig, der Grundgesetzgeber habe mit der Formulierung "Strafbarkeit" auch die Deliktsfolgen, soweit es sich um Strafen handele, einbeziehen wollen'. Weiterhin wird geltend gemacht, auch der "Sinn" des Art. 103 11 GG erfordere diese Einbeziehung, da Straftatbestand und Strafdrohung "zusammengehörten "7. b) Die Problematik, ob jene Verfassungsnorm auch für die Strafdrohung gelte, wird vielfach in erster Linie im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz, also das Verbot allzu unbestimmter Strafgesetze8 erörtert'. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist aber nicht diese Frage nach der Bedeutung des Art. 103 11 GG für die Bestimmtheit der Strafdrohung zu beantworten, sondern allein die nach der Geltung des Analogieverbots für die Deliktsfolgen. Und hierzu wird - soweit ersichtlich - nirgendwo im heutigen Schrifttum expressis verbis die Ansicht vertreten, jenes Analogieverbot betreffe nicht die Überschreitung der gesetzlichen Strafrahmen zu Lasten des Täters, verbiete nicht die gesetzesergänzende Lückenfüllung in malam partem, soweit sie nur die Strafdrohung als solche betreffe. Eine derartige Ansicht wäre auch schwerlich haltbar: (1) Allerdings begegnet die These Bedenken, aus der Entstehungsgeschichte des Art. 10311 GG folge eindeutig, der Grundgesetzgeber habe mit der Formel "Strafbarkeit" auch die Deliktsfolgen - soweit es sich um Strafen handele - gemeint. Denn so eindeutig, wie man es glauben machen möchte, ist diese Entstehungsgeschichte nicht:

Die problematische Formulierung, die "Strafbarkeit" müsse gesetzlich bestimmt sein, wurde wortwörtlich Art. 116 Weimarer Reichsverfassung (WRV) entnommen. Art. 116 WRV war aber von beachtlichen Stimmen dahin interpretiert worden, ihm komme für die Deliktsfolgen keine Bedeutung zu10• Wenn man gleichwohl bei der Schaffung des Art. 10311 GG an dieser Formulierung des Art. 116 WRV festhielt, so setzte man damit die neue Verfassungsnorm (Art. 103 11) der Gefahr aus, jene vielfach 5 Zu ihr vgl. Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 103 Anm. I; v. Doemming, JöR 1951, S. 741 ff. 8 So Maunz!Dürig!Herzog und Schröder aaO; weiter Stree aaO, S. 29. 7 Maunz!Dürig!Herzog aaO. 8 Dazu oben, Kapitell, § 2 I (vor 1); weiter Kapitel 2, § 1 II 2 c. 8 Vgl. etwa Welzel aaO. 10 So u. a. RG St 56, 318 f.; Frank, § 2 Anm. 1. Weitere Nachweise pro und contra bei H. L. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 181 ff.

3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 217

vertretene Interpretation des Art. 116 WRV könne entsprechend für Art. 103 II GG Geltung beanspruchen, d. h. es könne so argumentiert werden: Wie schon die WRV garantiere auch das Grundgesetz nur den Satz "nullum crimen sine lege", nicht "nulla poena sine lege". Die Gefahr einer solchen Deutung des Art. 103 II GG wurde bei seiner Beratung im Rechtspflegeausschuß und im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates auch zur Sprache gebrachtl l • Doch war es jeweils der Abgeordnete Zinn, der meinte, mit dem Wort "Strafbarkeit" sei auch die Strafdrohung mit umfaßt; und damit gab man sich dann zufrieden12 • Im Plenum des Parlamentarischen Rats kam die Problematik der Formulierung "Strafbarkeit" statt "Strafe" nicht mehr zur Sprache. Aus dieser Entstehungsgeschichte des Art. 103 II GG herzuleiten, der Verfassungsgeber habe eindeutig mit dem Begriff "Strafbarkeit" auch die "Strafe" gemeint, erscheint uns als gewagt. (2) Wenn auch die These der h. A, für sie spreche der "klare Wille des Verfassungsgebers", fragwürdig ist, so läßt sich doch die folgende negative Feststellung treffen: Jedenfalls steht die h. M. nicht im,Widerspruch zu einer klar erkennbaren Wertentscheidung des Grundgesetzgebers. Denn dieser wollte mit der Einführung des Art. 103 II GG bewährte rechtsstaatliche Grundsätze wieder zu Ehren kommen lassen. Und da keine gesetzgeberische Absicht des Parlamentarischen Rates erkennbar ist, dabei sei der Satz "nulla poena sine lege" auszuklammern, widerspricht es jedenfalls nicht dem "Willen des Gesetzgebers", wenn man der h. A. folgt. (3) Auch der Normtext des Art. 103 II GG steht der h. M. nicht entgegen. Denn der mögliche Wortsinn der Formulierung "Strafbarkeit" deckt noch die Einbeziehung der Strafdrohung; Straftatbestand und Strafdrohung (Strafrahmen) gehören ja ~ wie Dürig zu Recht hervorhebt1 3 - zusammen: Für die Frage nach der "Strafbarkeit" einer Tat ist neben dem "Ob" regelmäßig das "Wie" von gleichem Gewicht für den Täter. Sprachlich bedenkenlos kann man daher zu jener Frage nach der "Strafbarkeit" auch die nach dem angedrohten Strafrahmen zählen. (4) Wenn danach Normtext und "Wille des Gesetzgebers" die Anwendung des Gesetzesvorbehalts nach Art. 103 II GG auf die Deliktsfolgen - soweit es um Strafen geht - erlauben, fragt sich, ob jene Anwendung auch geboten ist; das ist nach dem Grundgedanken des strafrechtlichen Analogieverbots zu bejahen: 11 1!

18

Dazu oben, Anm. 5; weiter Stree aaO, S. 29f.; Schreiber aaO, S. 202 f. aaO. Maunz/Dürig/Herzog aaO.

218 3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 Wie ausgeführt stehen hinter dem strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt zwei Verfassungsprinzipien, nämlich einmal der "Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür", zum anderen das "demokratische Prinzip"u. Beide schließen es aus, im Hinblick auf die Frage nach dem Geltungsbereich des Analogieverbots den Straftatbestand und die mit ihm verbundene Strafdrohung auseinanderzureißen. Strafbestand und Strafdrohung gehören ja untrennbar zusammen:; erst die Strafdrohung bringt den Unwertgehalt, den der Gesetzgeber einem Delikt beimißt, voll zum Ausdruck15 • Und was den Täter betrifft, ~o ist für ihn neben der Frage, ob er sich strafbar gemacht habe, regelmäßig gleichgewichtig die Frage, wie er bestraft werden könne, d. h. die Frage nach der gesetzlichen Strafdrohung und damit nach dem Strafrahmen.

Daher wäre die Beschränkung der Richtermacht durch den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt, was den "Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür" angeht, ineffektiv, wollte man sie nur für die Frage der Tatbestandsmäßigkeit unter Ausklammerung der Frage nach der Höhe der Strafe akzeptieren. Und wenn das demokratische Prinzip besagt, daß im Verhältnis Richter/Volksvertretung allein letzterer die Legitimation zukommt, neue Straftatbestände zu schaffen oder den Rahmen bestehender zu erweitern, dann kann es wegen der Zusammengehörigkeit von Tatbestand und Strafdrohung und deren Bedeutung für den Täter auch nur die Volksvertretung sein, die dazu berufen ist, Strafdrohungen zu verschärfen. e) Ergebnis: Das Analogieverbot nach Art. 103 II GG gilt auch für die Strafdrohung. 2. Maßregeln der Besserung und Sicherung

Sie werden vom Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG nicht erfaßt18, und zwar aus den folgenden Gründen: Dazu oben, Kapitel 9; § 2 II 1. Ebenso Dürig aaO; vgl. weiter Sax aaO; S. 1012. 11 Die Anwendbarkeit des Art. 103 II GG auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung wird, was das Rückwirkungsverbot betrifft, von der ganz h. M. abgelehnt; viele Anhänger dieser Auffassung meinen aber, für das Analogieverbot gelte etwas anderes: Insoweit erfasse Art. 103 11 GG auch die Maßregeln. (Vgl. oben, Kapitell, § 2 I 2 a (1), mit Anm. 18). Für die Anwendbarkeit des Analogieverbots des Art. 103 II GG auf die Maßregeln sind weiterhin: Bruns, GA 1959, S. 209 f.; NJW 1959, S. 1395; Geerds, Zur Problematik der strafrechtlichen Deliktstypen, S. 422; vgl. weiter Maurach, AT S. 865 (a. E.) f.; Schreiber, SK § 1 Rdnr. 25. Den hier vertretenen Standpunkt teilen demgegenüber insbesondere Maunz! DüriglHerzog, Art. 103 Rdnr. 117; Stree aaO, S. 79 f. 14 15

3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10

219

a) Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 - 72 StGB) sind bekanntlich keine Strafen17. Die Verhängung einer Strafe bedeutet nämlich den Ausspruch eines "sozialethischen Unwerturteils über den Täter"18: "Mit der Strafe wird dem Täter ein Rechtsverstoß vorgehalten und zum Vorwurf gemacht" (BVerfG19); ein solcher "ethischer Vorwurf" setzt dabei Vorwerfbarkeit und damit strafrechtliche Schuld voraus ("nulla poena sine culpa")20. Ihrer Funktion nach ist die Strafe "im Gegensatz zu reinen Präventionsmaßnahmen dadurch gekennzeichnet, daß sie auch auf Repression und Vergeltung abzielt"JIl. Anders die Maßregeln der Sicherung und Besserung: Sie sind reine Präventionsmittel22 ; ihre Verhängung bringt keinen sozialethischen Vorwurf gegenüber dem Täter zum Ausdruck, und demgemäß sind sie "schuldunabhängig"2lI. b) Diese Wesensverschiedenheit der Maßregeln gegenüber Strafen schließt es aus, erstere im Wege der Auslegwng des Art. 10311 GG in dessen Normbereich einzubeziehen. Einer solchen Interpretation jener Verfassungsnorm stände nämlich schon ihr Wortsinn entgegen. Dieser spricht ja von der gesetzlichen Bestimmtheit der "Strafbarkeit"; zu ihr ist zwar auch die Strafdrohung zu zählen, da der Straftatbestand und die mit ihm verbundene Srafdrohung als das "Strafgesetz" eine Einheit bilden; dagegen betrifft die Möglichkeit, präventive Maßregeln der Besserung und Sicherung zu verhängen, nicht die Frage der Strafbarkeit des Täters. c) Die Feststellung, eine unmittelbare Anwendung des strafrechtlichen Analogieverbots auf Maßregeln scheide aus, läßt allerdings noch die Frage offen, ob nicht eine analoge Anwendung jenes Analogieverbots geboten sei, da für den Täter die Verhängung etwa einer Maßregel mit Freiheitsentziehung24 ein ähnlich schwerer Eingriff sei wie die Verurteilung zu Freiheitsstrafe. Einer solchen Analogie bedarf es aber nicht, da für den Ausspruch von Maßregeln der Sicherung und Besserung der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts25 einschlägig ist und dieser - wie noch darzulegen 17 18

Vgl. nur SchönkelSchröder, Rdnr. 1 ff. vor § 61. Jescheck, AT S. 45 (m. w. N.); BVerfG E 22,125,132 spricht vom "ethischen

Schuldvorwurf" . 18 20 21 2!

!3

E 20, 323, 331.

aaO.

BVerfG E 20 aaO; ebenso E 22 aaO. SchönkelSchröder aaO; Jescheck, AT S. 59 ff. Jescheck aaO, S. 607.

24 So die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB); die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB); die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB). 25 Dazu oben, Kapitel I, § 2 II.

220

3. Abschn.: 103 IrGG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10

sein wird26 - in gleicher Weise wie Art. 103 II GG ein Analogieverbot als Verbot gesetzesergänzender Lückenfüllung beinhaltet27 . 3. Auflagen und Weisungen

a) Auflagen (§ 56 b StGB) Die Funktion der "Auflagen" wird in § 56 b StGB dahin bestimmt, sie sollten der "Genugtuung" für das begangene Unrecht dienen. Daher wird in der Lehre ganz überwiegend vom "repressiven Charakter" der Auflagen gesprochen28 und hervorgehoben, sie seien "strafähnliche Maßnahmen"2D. Dies Verständnis des Wesens der Auflagen macht verständlich, warum im Schrifttum vielfach die Ansicht vertreten wird, Art. 103 II GG erfasse neben den Strafen auch die Auflagen30• Demgegenüber wird von anderen gesagt, ungeachtet ihrer repressiven Natur seien Auflagen keine Strafen i. S. des Art. 103 II GG, und zwar wegen ihrer mangelnden Erzwingbarkeit31 • Zu diesem Meinungsstreit ist folgendes zu sagen: Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe unter Stratfaussetzung zur Bewährung (§§ 56 ff StGB) und die damit verbundene Erteilung von Auflagen sind als Einheit zu sehen; beide zusammen bilden die den Täter treffende repressive Sanktion, das Strafübel: Die Sanktion "Freiheitsstrafe unter Strafaussetzung zur Bewährung" ist lediglich ein "formales", "auf dem Papier stehendes" Strafübel, das sich in dem Strafausspruch erschöpft32; das "materiale" Strafübel stellt demgegenüber die ihrer Natur nach repressive, strafähnliche Auflage darSS. Wenn aber die Auflage der Sache nach Bestandteil des den Täter treffenden Strafübels ist, erscheint die Auffassung, das strafrechtliche Analogieverbot erfasse auch Auflagen, als sachgerecht. Unten, Kapitel 11, § 2. So auch Dürig und Stree aaO (oben, Anm. 16 a. E.). 28 SchönkelSchröder, § 56 b Rdnr. 1, 2. 2D SchönkelSchröder, § 56 c Rdnr. 1; Baumann, AT S. 174; Lackner, § 56 b Anm. 1; Bruns, NJW 1959, S. 1395; Schmidhäuser, AT 21/11. Abweichend aber OLG Frankfurt, NJW 1971, S. 720; Auflagen dienten vornehmlich der Resozialisierung des Täters. 30 So insbesondere Bruns aaO; ders. GA 1959, S. 208 f.; SchönkelSchröder, § 56b Rdnr. 15; vgl. weiter J. Baumann, AT 5. Aufl., S. 706; ders. GA 1958, S. 193 ff. (196 a. E.). a. A. Dreher, § 56 b Anm. 1; Dürig aaO, Rdnr. 118. Stree (aaO, S. 144 f., Anm. 26; S. 147, Anm. 34) erwägt eine .. entsprechende" Anwendung des Art. 103 Ir GG auf Auflagen. 31 Dreher aaO. 32 Vgl. dazu Blei, AT S. 349; Jescheck, AT S. 629 (a. E.) f. 33 Sinn der Erteilung von Auflagen ist es, den Eindruck zu vermeiden, "als habe es mit dem ,formalen' Ausspruch einer Strafe und ihrer Aussetzung 28

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Der dagegen erhobene Einwand, mangels "Erzwingbarkeit" seien Auflagen keine Strafen i. S. des Art. 103 II GG34, vermag hieran nichts zu ändern; die mangelnde unmittelbare Erzwingbarkeit der Erfüllung von Auflagen wird ja vom StGB dadurch kompensiert, daß der Verstoß gegen Auflagen als Grund für den Widerruf der Strafaussetzung in Betracht kommt35, was eine Art "mittelbarer Erzwingbarkeit" bedeutet. Das aber muß für den Strafcharaker der "Auflagen" genügen. Unser Ergebnis lautet also: Das Analogieverbot des Art. 103 II GG erfaßt auch die Auflagen. b) Weisungen (§§ 56 c, 56 d StGB) Für sie gilt Art. 103 II GG nicht38 : Nach § 56 c (bzw. § 56 d I) StGB erteilt das Gericht dem zu Freiheitsstrafe unter Strafaussetzung zur Bewährung Verurteilten Weisungen, "wenn er dieser Hilfe bedarf, um keine Straftaten mehr zu begehen". Danach sind Weisungen keine strafähnlichen Deliktsreaktionen, sondern dienen nur der spezialpräventiven Zielsetzung37; folglich werden sie vom Normbereich des Art. 103 II GG ebensowenig erfaßt wie die Maßregeln der Besserung und Sicherung. 11.

Straftatbestand

1. Zu Welzels These der Ausklammerung von "Abgrenzungsformeln" aus dem Schutzbereich des Analogieverbots Zu jener obenl geschilderten These Welzels ist anhand des von ihm hervorgehobenen Beispiels des § 246 StGB wie folgt Stellung zu nehmen: a) Der Tatbestand der Unterschlagung fordert die Zueignung einer Sache, die der Täter "im Besitz oder Gewahrsam hat". Wenn ungeachtet dieser Gesetzesformulierung die Vertreter der sogen. "großen berichtigenden Auslegung" § 246 StGB dahin umdeuten, Unterschlagung sei jede Zueignung ohne Gewahrsamsbruch2 , so ist mit jener Umdeutung der Bereich bloßer Normauslegung verlassen und Rechtsfortbildung außerhalb des gesetzlichen Regelungsrahmens des Unterschlagungstatsein Bewenden" (Blei aaO); durch die Auflage solle dem Täter die Verurteilung "fühlbar gemacht werden" (Jescheck aaO). 34 Oben, Anm. 31. 35 Siehe dazu § 56 f. StGB. 3& Ganz h. M.; vgl. u. a. Dreher und Dürig aaO; a. A. aber Bruns aaO. 37 SchönkelSchröder, § 56 c Rdnr. 1. 1 2

Kapitell, § 2 I 2 a (2). So Welzel aaO; vgl. weiter oben, Kapitel

6, § 3 12 a.

222 3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 bestandes gegeben, also Rechtsfindung praeter legem - und zwar zu Lasten des Täters -; denn der "mögliche Wortsinn" des Gesetzes begrenzt ja den Bereich der Auslegungsmöglichkeiten, und er ist hier gesprengt3. Die "große berichtigende Auslegung" des § 246 verstößt damit gegen das strafrechtliche Analogieverbot. Hieran gibt es nichts zu deuteln, solange man daran festhält, Art. 103 II GG verbiete dem Richter, Straftatbestände über den Rahmen des Wortsinns hinaus zu extendieren. b) Und doch ist die erstaunliche Feststellung zu treffen, daß eine Reihe von Autoren zwar unser Verständnis des strafrechtlichen Analogieverbots teilen, aber gleichwohl Anhänger der fraglichen berichtigenden Auslegung sind, nämlich Blei" Schröder' und Welzel l • Während nun Blei und Schröder zur Begründung das "kriminalpolitische Bedürfnis nach einem lückenlosen Eigentumsschutz" geltend machen und sich damit - wie wir meinen - in Widerspruch zu ihrem Verständnis des Art. 103 II GG setzen, da das Analogieverbot ja gerade der richterlichen "Extension von Strafgesetzen nach kriminalpolitischen Bedürfnissen" durch die Wortlautbindung Schranken ziehen will, sucht Welzel einen solchen Wide.rspruch zu vermeiden: Und zwar eben durch seine These, die Formulierung in § 246 StGB: " ... die er im Besitz oder Gewahrsam hat", sei kein strafbegründendes Tatbestandsmerkmal, sondern lediglich eine "Abgrenzungsformel", die eine allgemeinere Bestimmung (§ 246) an eine engere (§ 242) anschließe; und für solche Abgrenzungsformeln gelte Art. 103 II GG nicht. e) Nun ist gewiß richtig, daß das strafrechtliche Analogieverbot sich nur auf strafbegründende (bzw. -schärfende) Normierungen bezieht. Unrichtig ist aber, die fragliche Formulierung in § 246 StGB sei eine Abgrenzungsformel ohne solchen strafbegründenden Charakter, da sie umzudeuten sei in die Formel: "ohne Wegnahme". Denn gerade in dieser Umdeutung des § 246 entgegen seinem möglichen Wortsinn liegt ja der Verstoß gegen Art. 103 II GG. Das bedeutet: Gegen Welzels These, bloße "Abgrenzungsformeln" ohne strafbegründenden (bzw., wie man ergänzend hinzufügen müßte, strafschärfenden) Charakter seien vom Normbereich des Analogieverbots nicht erfaßt, ist an sich nichts einzuwenden; nur wird sie im Falle des § 246 mißbräuchlich verwen~et, indem in Widerspruch zu Art. 103 II Dazu Kapitel 6 aaO (m. w. N.). , Blei, AT S. 31 f.; ders. in: MezgerlBlei, BT 9. Aufl. 1966, S. 129, 139. (Einschränkend jetzt aber Blei, BT 10. Aufl. 1976, S. 166: Die "große berichtigende Auslegung" sei nur bei Unterschlagung durch den "mittelbaren Besitzer", § 868 BGB, richtig, da hier "eindeutig eine Stütze im GesetzeswortIaut vorhanden" sei.) 6 SchönkelSchröder, § 1 Rdnr. 48, 62 f.; § 246 Rdnr. 1. 8 Lehrbuch, S. 21 f.; 339 f., 345. 3

3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 223

ein (nach dem Gesetzestext) strafbegründendes Merkmal "berichtigend" als solche "Abgrenzungsformel" ausgegeben wird7• 2. Zur Problematik der §§ 315 I Nr. 4, 315 b I Nr. 3 StGB ("ähnlicher, ebenso gefährlicher Eingriff")

Die h. M., jene Normen seien mit dem Analogieverbot des Art. 103 11 GG vereinbar!!, erscheint zutreffend: a) Sie läßt sich allerdings nicht mit der Begründung halten, es handele sich bei der. Formel "ähnlicher, ebenso gefährlicher Eingriff" um "gesetzliche Zulassung von Analogie"'; denn das Analogieverbot des Art. 103 11 GG bindet ja als Verfassungsrecht auch die Legislative und geht einfachgesetzlichen Normierungen, die ihm widersprechen, voriG. D. h. wäre jene Formel als gesetzliche Ermächtigung an den Richter zur Rechtsfortbildung außerhalb der Regelungsrahmen von §§ 315 I, 315 b I StGB, also zur gesetzesergänzenden Lückenfüllung praeter legem mittels Gesetzesanalogie zu verstehen, so wäre sie verfassungswidrig. b) Indessen geht es bei §§ 315 I Nr. 4 und 315 b I Nr. 3 StGB nicht um eine solche Ermächtigung zur Schaffung neuer Straftatbestände mittels Gesetzesanalogiel l. Vielmehr handelt es sich bei §§ 315 I, 315 b I um Tatbestände, die hinsichtlich der Tathandlung als Generalklauseln gefaßt sind, wobei diese durch §§ 315 I Nr. 1 - 3, 315 b I Nr. 1, 2 nach der exemplifizierenden Methode 12 verdeutlicht werden; diese These bedarf näherer Begründung, die am Beispiel des § 315 b StGB erfolgen soll. 7 Jene "berichtigende Auslegung" gegen den Nonntext läßt sich auch nicht unter Berufung auf ein gesetzgeberisches Versehen rechtfertigen (anders aber anscheinend Wetzet, JZ 1952, S. 618). Denn selbst wenn die fragliche Fonnulierung in § 246 StGB auf einem Redaktionsversehen beruhte - was aber nicht der Fall ist (Bockelmann, MDR 1953, S. 5 ff.; Schröder aaO, § 246 Rdnr. 1) - würde dies an der Begrenzung der Auslegung des § 246 durch den möglichen Wortsinn des Gesetzes nichts ändern (vgI. oben, Kapitel 6, § 4 I 2; 11 2). 8 BGH St 22, 365, 366 f.; Cramer, Schafheutle, Schäfer und Schröder (oben, Kapitell, § 2 I Anm. 26); weiter Dreher, § 315 Anm. 4 D; Lackner, § 315 Anm. 3 b (unter Hinweis auf eine unveröffentlichte Entscheidung des BVerfG); RiLth, LK 9. Aufl., § 315 Rdnr. 27. Zu den Gegenstimmen - Jescheck, Stöckel, Isenbeck - vgI. Kapitell aaO. Zweifelnd DiLnnebier, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 9. Bd. S. 268. • Dazu oben, Kapitell, § 2 I 2 a (2), mit Anm. 25. 10 So zutreffend Stöckel, Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht, S. 146 f.; Jescheck, Niederschriften aaO. 11 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 24: Um gesetzesergänzende Lückenfüllung handele es sich bei der Konkretisierung solcher Fonneln nicht. 11 VgI. dazu nur Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 121; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche

224 3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10

Nach seinem sachlichen Gehalt ist § 315 b I wie folgt zu lesen: "Wer die Sicherheit des Straßenverkehrs dadurch beeinträchtigt, daß er einen gefährlichen Eingriff vornimmt, und dadurch Leib oder Leben eines anderen oder Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Ein gefährlicher Eingriff liegt insbesondere vor, wenn Anlagen oder Fahrzeuge zerstört, beschädigt oder beseitigt oder Hindernisse bereitet werden. Sonstige Eingriffe müssen diesen ähnlich und ebenso gefährlich sein." (1)

Tathandlung des § 315 b I ist danach die Vornahme eines "gefährlichen Eingriffs"13. Eine derartige GeneralklauseI könnte allerdings im Hinblick auf das Verbot allzu unbestimmter Strafgesetze (Bestimmtheitsgrundsatz) des Art. 103 II GG1' Bedenken erregen; solchen Bedenken wird nun aber durch die Verdeutlichung dieser Generalklausel nach der exemplifizierenden Methode, d. h. durch die Nennung von Beispielen, die für sonstige Eingriffe als Bewertungsmaßstab dienen, begegnet15 • Bei § 315 b I StGB handelt es sich also um eine Verbindung von Generalklausel und kasuistischer Regelwng nach der exemplifizierenden Methode: Als Generalklausel will jene Norm "gefährliche Eingriffe" erfassen; durch die Nennung von Beispielen für einen solchen Eingriff ist sie aber - was diese betrifft - zugleich eine kasuistische Regelung. Neben §§ 315 b I bzw. 315 I finden sich nun noch weitere Straftatbestände, die durch eine solche Struktur gekennzeichnet sind, nämlich u. a. § 211 StGB. Nach dieser Bestimmung ist Mörder, "wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen einen Menschen tötet". Dabei ist die Generalklausei der "niedrige Beweggrund", während § 211 hinsichtlich der Nennung von Beispielen hierfür (Mordlust u. s. w.) kasuistischer Natur ist. c) Solche Tatbestände, die Generalklausel und Kasuistik nach der exemplifizierenden Methode verbinden, sind mit dem Analogieverbot des Art. 103 II GG vereinbar: Zwar ermächtigen sie den Richter dazu, den Straftatbestand nach der Methode des "Schlusses von Ähnlichem auf Ähnliches", d. h. mit Hilfe Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften, S. 232, 258, 265, 267 f.; Wach, Legislative Technik, S. 41 ff.; jetzt auch P. Noll, Gesetzgebungstechnik, S. 264 ff. 13 Ebenso Schönke!Schröder, § 315 b Rdnr. l. 14 Vgl. oben, I Anm. 8. lS Vollends ausgeräumt werden jene möglichen Bedenken durch eine weitere Präzisierung des § 315 b, die darin liegt, daß sich aus seinem systematischen Zusammenhang mit § 315 c StGB ergibt, der "gefährliche Eingriff" müsse ein "verkehrsjremder" sein (dazu näher Schröder aaO, Rdnr. 9 ff., Krey, BT l. Bd. S. 218 f.).

3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 225 der "analogischen" Rechtsfindungsmethode zu konkretisieren. Denn die jeweilige Generalklausei wird anhand der Beispiele als Bewertungsmaßstab nach der Methode des "Fallvergleichs" ("Typenvergleichs") ausgefüllt 16• Eine derartige innertatbestandliche Analogie, d. h. das Analogieverfahren als Methode zur Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens 17, wird aber - wie ausgeführt18 - von Art. 103 II GG nicht erfaßt, da jener Gesetzesvorbehalt nur die Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen, also die Rechtsfindung praeter (und erst recht contra) legern verbietet.

3. Unechte Unterlassungsdelikte Die an früherer Stelle19 erwähnte Frage, ob die Bestrafung der unechten Unterlassungsdelikte im Wege der Gleichstellung mit den "entsprechenden Begehungsdelikten" mit dem Analogieverbot zu vereinbaren sei oder nicht, ist seit Inkrafttreten des § 13 StGB n. F. (1. 1. 1975) dahin zu präzisieren: Handelt es sich bei der Gleichstellungsregelung des § 13 StGB um die "gesetzliche Zulassung von Analogie" i. S. einer gesetzlichen Ermächtigung an den Richter zur strafbegründenden gesetzesergänzenden Lükkenfüllung, d. h. zur Rechtsfortbildung praeter legern? Dann bestünden gegen die Vereinbarkeit des § 13 StGB mit dem Analogieverbot des Art. 103 II GG Bedenken; denn dieses Verjassungsprinzip bindet ja auch den Gesetzgeber und geht daher einjachgesetzlichen Normierungen, die ihm widersprechen, vor2°. Oder geht es bei der Gleichstellungsproblematik um "innertatbestandliche Analogie" in dem Sinne, daß § 13 StGB klarstellen soll, unter den in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen erfaßten die Strafgesetze des Besonderen Teils neben der Erjolgsherbeijührung dUlTch aktives Tun auch das Unterlassen der Erjolgsabwendung? Dann dürften gegen § 13 StGB keine Bedenken aus dem Analogieverbot (sondern allenfalls aus dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG) herzuleiten sein. Wir neigen zu letzterer Deutung der Gleichstellungsregelung in § 13 StGB, d. h. zum Verständnis der Gleichstellungsproblematik als eines innertatbestandlichen Problems, was besagen will: Bei der Frage, ob z. B. § 212 StGB auch durch Unterlassen "erfüllt" werden kann, geht es um die Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens diese,. Vgl. etwa Canaris aaO. Zur "innertatbestandlichen" Analogie vgl. oben, Kapitell, § 2 I 1 a; Kapitel 9, § 111 3. 18 aaO. 18 Kapitell, § 2 I 2 a (2), mit Anm. 27 ff. 20 Vgl. oben, Kapitel 10, § 111 2 a (mit Anm. 10). 18

17

15 Krey

226 3. Absclm.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10

Norm nach den Maßstäben des § 13 StGB. Diese Deutung des § 13 kann hier aber nicht näher begründet werden: dafür bedürfte es einer eigenen Monographie21 •

4. Blankettstrafgesetze Ein Beispiel für Blankettstrafgesetze22 im Bereich des StGB bot

§ 327 a. F.: Nach dieser Vorschrift wurde bestraft, "wer die Absperrungs- oder Aufsichtsrnaßregeln, welche von der zuständigen Behörde zur Verhütung des Ein!ührens oder Verbreitens einer ansteckenden Krankheit angeordnet worden sind, wissentlich verletzt". Hier hatte der Strafgesetzgeber nur eine Strafdrohung aufgestellt, bezüglich des Verbotsinhalts aber auf andere Regelungen, mag es sich dabei um Gesetze, Rechtsverordnungen oder Verwaltungsakte handeln23, verwiesen. Bei solchen Blankettstrafgesetzen ist die ausfüllende Regelwng Bestandteil des Strafgesetzes, nämlich Kern seines Tatbestandes24 • Wenn 21 Hingewiesen sei hier noch auf die völlig neue Wege beschreitende Konzeption HeTzbeTgs (Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972), da sie - folgte man ihr - eine dogmatisch reinliche Lösung der Problematik: unechtes Unterlassungsdelikt und Analogieverbot, bieten würde: HeTzbeTg entwickelt einen neuen ("negativen") HandlungsbegTiff, dem aktives Tun und Unterlassen in gleicher Weise unterfallen, so daß beide unter ein und denselben Tatbestand subsumiert werden können. Er lehnt nämlich das "traditionelle Vorurteil" ab, man müsse den Unterlassenden dem Aktivtäter angleichen, und meint demgegenüber, umgekehrt müsse man "vom Unterlassen ausgehen und dieses auch im aktiven Tun aufzufinden suchen" (S. 169 ff., 170). Hierfür biete sich nun der Begriff des "VeTmeidens" an: Aktive Erfolgsherbeiführung und Unterlassen der Erfolgsabwendung "fänden zusammen im veTmeidbaTen NichtveTmeiden" des Erfolges (aaO), wobei tatbestandlich nur das "vermeidbare Nichtvermeiden in GaTantensteUung" sei (S. 172 ff.). Denn auch der AktivtäteT habe eine GarantensteIlung. Garanten seien ja auch Personen, die für bestimmte Gefahrenquellen verantwortlich seien, wobei zu diesen gerade auch die eigene Person des Täters als mögliche Quelle deliktischer Aktivität zu zählen sei. Als Garantenpflicht sei also auch die Verpflichtung einzustufen zu verhindern, daß man durch aktives Tun fremde Rechtsgüter verletze. Danach ist für HerzbeTg strafrechtliche Handlung das "veTmeidbaTe Nichtvermeiden in Garantenstellung", sei es durch Tun, sei es durch Unterlassen. Hieraus folgert er für Art. 103 II GG, die Bestrafung des unechten Unterlassungsdelikts sei mit dem Analogieverbot vereinbar (S. 252 f.): Wenn die Rechtsprechung aktive Handlungen und Unterlassungen unter ein und denselben Tatbestand subsumiere, so sei das unbedenklich, da man jeden Tatbestand als Beschreibung eines vermeidbaren Nichtvermeidens in GarantensteIlung auffassen könne und damit ein Begriff gefunden sei, dem Handeln und Unterlassen gleichermaßen unterfleien. 21 Zu diesem Begriff oben, Kapitell aaO, Anm. 32. Zu ihrer verfassungsrechtlichen Problematik vgI. eingehend Tiedemann, Tatbestandsfunktion im Nebenstrafrecht, S. 239 ff. und öfter. - Blankettstrafgesetze flnden sich vornehmlich im NebenstrafTecht (vgl. Tiedemann aaO). za VgI. Schönke/Schröder, 17. Aufl., § 327 Rdnr. 1- 6. 24 So u. a. BGH St 20,177,180 f. (unter Aufgabe von BGH St 7, 294); Schönke/

3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 227

Sandrock hieraus die "zwingende Schlußfolgerung" ableitet, das Analogieverbot gelte auch für diese Regelungen26, so ist dem nichts hinzuzufügen. Dabei besagt die Einbeziehung von Regelungen, die Blankettstrafgesetze ausfüllen, in den Geltungsbereich des Analogieverbots aus Art. 103 11 GG folgendes: Soweit es sich bei solchen Regelungen um Gesetze oder Verordnungen handelt, dürfen diese nicht im Wege der Rechtsfortbildung praeter legem zu Lasten des Täters ausgedehnt werden. Und soweit es bei jenen ausfüllenden Regelungen um Verwaltungsakte geht, erfaßt das Blankettstrafgesetz nur Verstöße, die ihrer Anordnung unmittelbar widersprechen, nicht aber ähnlich schwerwiegende Handlungen. 5. Zum Analogieverbot bei Akzessorietät strafrechtlicher Begriffe zum Zivilrecht bzw. öffentlichen Recht Abschließend ist noch auf die Frage nach der Geltung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts für solche Merkmale von Strafnormen einzugehen, die auf andere Teile der Rechtsordnung verweisen - z. B. der Begriff der "Fremdheit" der Sache in § 246 StGB auf das BGB2t -. Hier neigen wir trotz der Zweifel bei Sandrock 27 der wohl herrschenden Auffassung28 zu: Soweit sich ein strafrechtlicher Begriff streng akzessorisch nach anderen Bereichen der Rechtsordnung bestimmt, sei es nach Zivilrecht, sei es nach öffentlichem Recht, wird jene Akzessorietät nicht etwa durch das Analogieverbot begrenzt. Wenn z. B. § 246 StGB das nach bürgerlichem Recht bestehende Eigentum schützt, so ist eben jenes Recht für die Frage nach den Eigentumsverhältnissen am Tatobjekt uneingeschränkt maßgeblich, und zwar auch insoweit, als man im Zivilrecht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher RegeSchröder, § 2 Rdnr. 23; Tröndle, LK 9. Aufl. § 2 Rdnr. 43; J. Baumann, AT S. 124; Schmidhäuser, AT 5/47; Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, S. 43 f. Anm. 118. Kritisch Tiedemann aaO, S. 260. 21 Sandrock aaO. Die Geltung des Art. 103 II für die ausfüllenden Regelungen wird gewöhnlich nicht im Hinblick auf das Analogieverbot, sondern nur für das Rückwirkungsverbot erörtert. !8 Vgl. bereits oben, Kapitell, § 2 I 2 a (2), a. E. 17 aaO, S. 48 f., Anm. 134: "Wie die Lehre von der Akzessorietät überhaupt mit dem Analogieverbot vereinbart werden kann, ist m. E. ein ungelöstes Problem." 28 J. Baumann, Der strafrechtliche Schutz bei den Sicherungsrechten des modernen Wirtschaftsverkehrs, S. 201 ff.; Schönke/Schröder, § 1 Rdnr. 42. 1S0

228 3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10

lungsrahmen neue Rechtsinstitute - entwickelt hat.

etwa das "Sicherungseigentum"29

Denn der gesetzliche Regelungsrahmen des § 246 StGB bezieht durch sein Merkmal "fremd" alle im Zivilrecht zur Tatzeit anerkannten Eigentumspositionen ein, mögen sie unmittelbar aus dem BGB abzulesen oder im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschaffen sein. ID. Allgemeiner Teil

Die verbreitete - wenn auch nicht herrschende - These, das strafrechtliche Analogieverbot beziehe sich allein auf die Straftatbestände (und -drohungen) des Besonderen Teils des StGB sowie des Nebenstrafrechts, nicht aber auf den Allgemeinen Teilt, vermögen wir nicht zu teilen, da sie den Anwendungsbereich des Art. 103 II GG zu eng faßt: 1. Sie ist zunächst schon insoweit verfehlt, als das strafrechtliche Analogieverbot jedenfalls alle diejenigen Regelungen des Allgemeinen Teils erfaßt, die als strafbegründendes materielles Recht der Sache nach die in den Straftatbeständen des Besonderen Teils vertypten Verbote und Gebote ergänzen, - nämlich die Regelungen über das Strafanwendungsrecht2, über Mittäterschaft und Teilnahme sowie über Versuch-; hierfür sprechen die folgenden Erwägungen:

a) (1) Daß die Normen des Strafanwendungsrechts materielles Strafrecht und zudem strafbegründender Natur sind, haben wir bereits an anderer Stelle dargelegt3; dort haben wir festgestellt: Die Regelung des Geltungsbereichs der deutschen Strafgesetze für Auslandstaten (und Inlandstaten von Ausländern) ist grundsätzlich nicht in den 29 Daß § 246 auch das Sicherungs eigentum schützt, ist ganz h. M.; vgl. nur Baumann aaO; SchönkelSchröder, § 246 Rdnr. 6; HeimannlTrosien, Rdnr. 28 vor § 242. 1 So insbesondere Hardwig, Jagusch, Maurach und Suppert (oben, Kapitell, § 2 I Anm. 36); weiter Eick, Die Analogie im Strafrecht, S. 34 f.; Maurach, JZ 1964, S. 536; ebenso - zum schweizerischen Recht - Schwander, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, S. 60 Rdnr. 13. Weitere Nachweise bei Suppert aaO. a. A. aber wohl die h. L., so insbesondere J. Baumann, Jescheck, Kratzseh, KohlrauschlLange, Roxin und Schröder (oben, Kapitell aaO, Anm. 37). Weiter J. Baumann, Grenzen der individuellen Gerechtigkeit im Strafrecht, S. 125; Engisch, Methoden der Strafrechtswissenschaft, S. 66; Burkhard, JZ 1971, S. 355; ebenso - zum schweizerischen Recht - Keller, Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlauts, S. 241. So jetzt auch Schreiber, SK § 1 Rdnr. 7, 25. Weitere Nachweise bei Kratzsch

aaO. 2 Dazu eingehend Krey, Zum innerdeutschen Strafanwendungrecht, S. 8396 (m. w. N. pro und contra). 3 aaO, S. 83 - 87.

3. Abschn.: 103 11 GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 229

jeweiligen Straftatbeständen getroffen, sondern in §§ 3 ff. StGB enthalten; "sie ist in den Allgemeinen Teil des StGB vorgezogen, um nicht bei nahezu jedem Straftatbestand von neuem wiederholt werden zu müssen"4. Danach ist das Strafanwendungsrecht als "vor die Klammer gezogene" Regelung des Geltungsbereichs der strafbewehrten Verbote und Gebote strafbegründender Natur und der Sache nach Bestandteil dieser in den Straftatbeständen vertypten Verhaltensnormen, da zu ihnen ja auch die Festlegung ihres Geltungsbereichs zählt. (2) Auch die Vorschriften über die Strafbarkeit von Mittäterschaft und Teilnahme sind strafbegründend und der Sache nach Bestandteil der im Strafrecht vertypten Verbote und Gebote:

Daß dem geltenden Strafrecht der restriktive Täterbegriff zugrundeliegt und daher die Teilnahmeregelungen strafbegründender Natur sind, hat insbesondere Roxin5 überzeugend nachgewiesen. Die Straftatbestände erfassen nämlich mit der Formulierung: "wer ... , wird bestraft", nur den Täter, nicht aber Anstifter und Gehilfen, so daß §§ 26 und 27 StGB den Bereich der mit Strafe bedrohten Handlungen ausdehnen8 • Letztlich sind damit jene Normen über Anstiftung und Beihilfe "vor die Klammer gezogene" ergänzende Bestandteile der im Besonderen Teil vertypten Verbote, indem sie diese durch den Zusatz erweitern: "Du sollst zu dem verbotenen Verhalten auch nicht anstiften oder Hilfe leisten!" Diese Ausführungen zu den Teilnahmevorschriften des Allgemeinen Teils gelten entsprechend für die Normierung über Mittäterschaft (§ 25 II StGB). Auch diese ist nämlich strafbegründend7 , da die Tatbestände des Besonderen Teils mit dem Wort "Wer" nur den Täter als Zentralgestalt des Geschehens erfassen, d. h. bei den Herrschaftsdelikten8 den Träger der Tatherrschaft, während die "Mitherrschaft" des Mittäters nicht genügt. Auch die Strafdrohung für Mittäterschaft dehnt also den Bereich des Strafbaren aus, ist ein "vor die Klammer gezogener" ergänzender Bestandteil der in den Straftatbeständen vertypten Verbote. ( aaO, S. 84. 5 Täterschaft und Tatherrschaft, S. 28 ff. (und öfter); ders., Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 20. Ebenso jetzt Herzberg, JuS 1974, S. 237 f. (m.w.N.). 8 So neben Roxin u. a. Herzberg, GA 1971, S. 2 (er bezeichnet §§ 26 und 27 StGB als "echte Deliktstatbestände"); NoU, JZ 1963, S. 298; Schmidhäuser, AT 1412, 4. 7 Ebenso H. Mayer, AT (1967), S. 153; SchönkelSchröder, § 25 Rdnr. 44; eingehend jetzt Herzberg, Grundfälle zur Lehre von Täterschaft und Teilnahme, JuS 1974, S. 720; abweichend aber u. a. Schmidhäuser, AT 14/3, 4; vgl. auch Stratenwerth, AT Rdnr. 867: Man könne darüber streiten, ob die Regelung des § 47 (= § 2511 StGB n. F.) "notwendig" sei. e Dazu Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 354 f., 578 f. und öfter.

230 3. Abschn.: 103 Ir GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10

(3) Der strafbegründende Charakter der Strafnormen über Versuch liegt auf der Hand. Und ebenso klar ist, daß sie der Sache nach die im Besonderen Teil vertypten Verbote erweitern; diese Feststellung wird besonders deutlich bei der Versuchsstrafbarkeit von Vergehen, denn sie muß ja im Besonderen Teil ausdrücklich angeordnet sein (§ 23 I StGB). b) Daß für solche Regelungen wie die dargelegten das Analogieverbot Geltung beansprucht, folgt aus seinem Grundgedanken sowie dem Wortsinn jener Verfassungsnorm: (1) Gemäß Art. 10311 GG kann eine Tat nUr bestraft werden, "wenn ihre Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". Dieser Wortlaut des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts spricht für die Einbeziehung des Strafanwendungsrechts' sowie der Strafbestimmungen über Mittäterschaft, Teilnahme und Versuch in den Geltungsbereich des Analogieverbots; denn diese Normen betreffen als strafbegründendes Recht unmittelbar die Frage der "Strafbarkeit" einer Tat. (2) Nur dies Verständnis des Geltungsbereichs des Analogieverbots entspricht auch seinem Grundgedanken: Wie ausgeführt bezweckt der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt zum einen den "Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür" (grundrechtliche Komponente), und zum anderen ist er Ausfluß des "demokratischen Prinzips" (Legitimationskomponente)1°. Beide Komponenten stehen einer Ausklammerung des Strafanwendungsrechts sowie der Strafgesetze über Mittäterschaft, Teilnahme und Versuch aus dem Anwendungsbereich des Analogieverbots entgegen. Denn wenn der Gesichtspunkt des Freiheitsschutzes und das demokratische Prinzip gebieten, daß die Schaffung neuer oder die Erweiterung des Rahmens bestehender strafbewehrter Verbote oder Gebote im Verhältnis Richter / Volksvertretung nur letzterer zukommt, so besagt diese Erkennnis für die Frage nach dem Geltungsbereich des Gesetzesvorbehalts aus Art. 10311 GG im Allgemeinen Teil: Dieser Gesetzesvorbehalt gilt jedenfalls fÜr alle Normierungen, die als strafbegründendes Recht die Verbotsbzw. Gebotsmaterie der Straftatbestände ergänzen; - d. h. er gilt im Strafanwendungsrecht und für die Strafbarkeit von Mittäterschaft und Teilnahme sowie Versuchl1 • • Vgl. bereits Krey, Zum innerdeutschen Strafanwendungsrecht, s. 90. Siehe Kapitel 9, § 2 11 1 b. 11 Zum Strafanwendungsrecht siehe oben, Anm. 2; für die Teilnahme ebenso z. B. Noll aaO; Roxin, Kriminalpolitik aaO, S. 20; jetzt auch Bockelmann, Zur Problematik der Beteiligung an vermeintlich vorsätzlich rechtswidrigen Taten, S. 270 f.; für den Versuch siehe Stree, Beginn des Versuchs bei qualifizierten Straftaten, S. 181 f. 10

3. Abschn.: 103 11 GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 231

c) Demgegenüber schlagen die Argumente, die gegen die Anwendbarkeit des Analogieverbots im Allgemeinen Teil geltend gemacht werden, nicht durch: (1) Soweit die Anhänger der These von der Irrelevanz des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im Allgemeinen Teil sie zu begründen suchen, beziehen sie sich in erster Linie auf Feuerbach12• Seine Vorstellungen von der Reichweite des Analogieverbots sind nun angesichts seiner Bedeutung für die Entwicklung des Prinzips "nullum crimen, nulla poena sine lege"13 gewiß Anhaltspunkte für unsere Problematik; aber sie vermögen den Interpreten des Art. 103 TI GG naturgemäß nicht zu binden. Und zudem werden Feuerbachs Ausführungen zur Geltung des Analogieverbots im Allgemeinen Teil dadurch entschieden relativiert; daß sie "teilweise widersprüchlich" sind14• Sie müssen daher gegenüber dem Wortlaut des Art. 103 TI GG und dessen Grundgedanken zurücktreten. (2) Außer auf Feuerbach beruft man sich noch auf die ratio legis des Art. 103 TI GG16; doch wird dieser Gesichtspunkt nicht näher erläutert, und er vermag auch nicht zu überzeugen:

Stellt man auf den vom Gesetzgeber verfolgten Regelungszweck ab, so ergibt sich: Der Grundgesetzgeber wollte mit Art. 103 TI GG den "alten, bewährten" rechtsstaatlichen Grundsatz nullum crimen sine lege "wieder zu Ehren kommen lassen"16; damit ist hinsichtlich Bedeutung und Anwendungsbereich des Analogieverbots auf sein traditionelles Verständnis verwiesen. Schon z. Z. der Geltung des - jener grundgesetzlichen Norm entsprechenden - Art. 116 WRV "bestand aber keine Einigkeit darüber, ob der Grundsatz der Gesetzesgebundenheit im Strafrecht ausschließlich auf die Strafbestimmungen des Besonderen Teils des StGB sowie der strafrechtlichen Nebengesetze zu beziehen oder auch für das im Allgemeinen Teil geregelte materielle Strafrecht zu beachten sei"17. Ein klarer "Wille des Gesetzgebers" zu unserer Problematik ist daher nicht feststellbar. Und daß der Grundgedanke des Analogieverbots für den hier vertretenen Standpunkt spricht, haben wir oben gezeigt. (3) Schließlich wird für die Ansicht, das Analogieverbot sei im Allgemeinen Teil des StGB ohne Bedeutung, noch geltend gemacht, anderen1! So Hardwig, zstw Bd. 78 (1966), S. 8 f.; Suppert, Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen Lage", S. 298 mit Anm. 288. 13 Dazu insbesondere jetzt H. L. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 102 ff. 14 Vgl. Suppert aaD. 15 So Suppert aaD. 16 Vgl. Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 103 Anm. I; v. Doemming, JöR 1951, S. 741 ff. 17 Krey, Zum innerdeutschen Strafanwendungsrecht, S. 91 (m. w. N.).

232 3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10

falls bedürfe es einer "umfassenden Revision der Rechtsprechung" (Hardwig)18.

Mit diesem Einwand haben wir uns schon an anderer Stelle befaßt18a ; daher soll es hier mit der Feststellung sein Bewenden haben: Die Notwendigkeit, Ansichten der Rechtsprechung (und Rechtswissenschaft) am Maßstab des Art. 103 II GG zu überprüfen, sollte man nicht als - nach Möglichkeit zu vermeidende - Unbequemlichkeit sehen, sondern als Chance für einen Zugewinn an Rechtsstaatlichkeit werten. d) Die hier vertretene Meinung hat die Konsequenz, daß einige Theorien zu Problemen des Allgemeinen Teils mit dem strafrechtlichen Analogieverbot kollidieren; gemeint sind u. a. die folgenden: (1) Zur Problematik des innerdeutschen Strafanwendungsrechts die verbreitete Lehre, im Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR seien die §§ 3 ff. StGB "analog" anzuwendeni'. (2) Zu §§ 26 und 27 StGB die Meinung, Anstiftung und Beihilfe setzten entgegen dem klaren Wortlaut des Gesetzes - keine vorsätzlich begangene Haupttat voraus. Dies gilt sowohl für die Lehre, es komme auf die Vorsätzlichkeit der Haupttat nicht an20, als auch für die Theorie der "vorgestellten Vorsätzlichkeit", nach der es genügen soll, daß der Teilnehmer irrig annimmt, der Täter handele vorsätzlichl1• Denn wenn der Gesetzestext eine "vorsätzlich begangene" Haupttat fordert, wird dem nur die Lehre von der tatsächlichen Vorsätzlichkeit gerecht!!. 2. Die Bedeutung des Analogieverbots im Allgemeinen Teil ist aber nicht auf die Materien Strafanwendungsrecht, Mittäterschaft, Teilnah18

Hardwig aaO. Krey aaO, S. 88 f.

18a

1. Vertreter jener Lehre sind insbesondere: Dreher, § 3 Anm. 5 B; Gallas, ZStW Bd. 80 (1968), S. 15; Jescheck, AT S. 147; Lüttger, GA 1965, S. 349; Tröndle, Rdnr. 83 vor § 3; Welzel, Lehrbuch S. 27; weitere Nachweise bei Krey aaO, S. 18 f., Jescheck aaO. Zur Unvereinbarkeit dieser Lehre mit dem Analogieverbot vgl. bereits Krey aaO, S. 83 ff., 95 f. (Für die Behandlung der DDR als Ausland i. S. der §§ 3 ff. StGB und damit für eine unmittelbare Geltung dieser Vorschriften im Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR sind: Krey aaO, S. 99 ff.; Lackner, Anm. 4 a vor § 3; J. Baumann, AT S. 81; Blei, AT S. 40; Schmidhäuser, AT 5/84; Stratenwerth, AT Rdnr. 99; SchönkelSchröder, Rdnr. 51 vor § 3). 20 Jene Ansicht findet sich bei Schmidhäuser, AT 1. Aufl. 1970, 14/88 (abgeschwächt aber in der 2. Aufl. 1975, 14/94). Daß sie gegen den Wortsinn der §§ 26 f. StGB und damit gegen das Analogieverbot verstößt, betont u. a. Jescheck, AT S. 499. 21 Diese Theorie vertreten u. a. J. Baumann, AT S. 575; Eser, Strafrecht II, S. 169 f., A 19 - 22; Jescheck, AT S. 499. Daß sie dem Normtext der §§ 26, 27 StGB und damit dem Analogieverbot des Art. 103 II GG widerspricht, heben insbesondere hervor: Bockelmann aaO (oben, Anm. 11); Herzberg, JuS 1974, S. 575 (a. E.). 22 Ebenso u. a. Bockelmann aaO; Maurach, AT S. 724; Schönke/Schröder, Rdnr 36 vor § 25; Samson, SK, Rdnr. 27 vor § 26.

3. Abschn.: 103 11 GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 233

me und Versuch beschränkt. Vielmehr erfaß Art. 103 11 - wie dargelegt23 - auch den Satz "nulla poena sine lege"; und soweit danach das Analogieverbot für die Deliktsjolgen gilt24 , besteht dieser Geltungsanspruch unabhängig davon, ob sie im Besonderen oder - ihn ergänzend - Allgemeinen Teil (z. B. § 48 StGB - Rückfall-) geregelt sind. 3. Unsere Kritik der These, das Analogieverbot bestehe nicht im Allgemeinen Teil, läßt sich also dahin zusammenfassen: Dieses Verbot erfaßt neben den im Besonderen Teil enthaltenen Straftatbeständen und den dort angedrohten Strafen auch die jene Tatbestände und Strafdrohungen ergänzenden strafbegründenden bzw. -schärfenden Regelungen des Allgemeinen Teils. Es fragt sich aber, ob dem Gesetzesvorbehalt des Art. 103 11 im Allgemeinen Teil eine noch weiterreichende Bedeutung zukommt. a) Dies wird von den Autoren, die wie wir den Anwendungsbereich des Analogieverbots nicht auf den Besonderen Teil beschränken, überwiegend angenommen: Man meint nämlich, die Einschränkung des Normbereichs von Erlaubnissätzen bzw. von Entschuldigungsgründen (sowie von Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründen) entgegen ihrem Wortsinn - d. h. die teleologische Reduktion solcher Regelungen25 - zu Lasten des Täters verstoße gegen das Analogieverbot26 • Dieser Standpunkt hat beispielsweise Kratzsch zu der These geführt, die Einschränkung des als zu "schneidig" empfundenen Notwehrrechts aus sozialethischen Erwägungen finde durch den "im Wortlaut zum Ausdruck kommenden Sinn und Zweck" des § 32 StGB ihre Grenze; weitergehende Begrenzungen des Notwehrrechts verstießen gegen Art. 103 11 GGu. Oben, Kapitel 10, § 1 I. u aaO. !5 Zur "teleologischen Reduktion" als "Unterschreitung des Wortsinns" vgl. oben, Kapitell, § 3 II 1 a (2); Kapitel 6, § 1 I 1 a (2); zu ihrer Natur als Mittel der Rechtsfindung praeter legem siehe oben, Kapitell, § 1 II; § 2 I 1 a. 28 So insbesondere J. Baumann, AT S. 124; Jescheck, AT S. 107, 411 (a. E.) f.; Kratzsch, GA 1971, S. 65 ff.; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 201; Würtenberger, Rechtsstaatsgedanke und strafrechtliche Rechtswidrigkeit, S. 133; so auch die unten, Anm. 29 genannten Autoren. Weitere Nachweise (pro und contra) bei Suppert aaO, S. 56 Anm. 75; er lehnt die fragliche Meinung ab. Einige Autoren meinen, Art. 103 Ir GG verbiete (nur) die contra legem erfolgende Einschränkung gesetzlicher Rechtfertigungs- und Entschuldigungs- bzw. Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründe; so Engisch, Die normativen Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 131; Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, S. 8. Bringewat (Funktionales Denken im Strafrecht, S. 102 f.) meint, das Analogieverbot verbiete die "willkürliche Einschränkung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen". Zur vermittelnden Konzeption Roxins vgl. unten, Anm. 36. 27 Kratzsch aaO, S. 75; ders., JuS 1975, S. 437 f. 23

234 3. Abschn.: 103 11 GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10

Als dem Analogieverbot widersprechende Einschränkung des Strafaufhebungsgrundes Rücktritt wurde die oben erwähnte "teleologische Reduktion" des § 46 Nr. 2 StGB a. F. in der Rechtsprechung des RGt8 angesehen!a. b) Zu jener These der Geltung des Analogieverbots für Fälle der teleologischen Reduktion von Normen, die Taten erlauben oder entschuldigen bzw. die Strafbarkeit des Täters entfallen lassen, zustimmend oder ablehnend Stellung zu nehmen, fällt - das sei offen eingeräumt - sehr schwer; sowohl für ersteres wie für letzteres sprechen nämlich gute Grunde: (1) Gegen die fragliche These ließe sich sagen: Während der Strafgesetzgeber den Bereich der strafbewehrten Verbote und Gebote im Sinne einer abschließenden Regelung festgelegt hat, ist der Bereich der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe demgegenüber vom Strafrecht ohne Anspruch auf Vollständigkeit geregelt: Erlaubnissätze, die Verstöße gegen strafbewehrte Verhaltensnormen rechtfertigen können, sind nicht nur im StGB enthalten; vielmehr finden sie sich vornehmlich in anderen Gesetzen, etwa der StPO, dem BGB, der ZPO und insbesondere auch im öffentlichen Recht30 ; und zudem können Erlaubnissätze auch im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt werdens1• Die letztere Feststellung gilt entsprechend auch für EntschuldigungsgründeS!. Wenn danach die Schaffung neuer Erlaubnissätze und erst recht die Ausweitung bestehender keine "genuin strafrechtliche Materie"38, sondern gerade auch Aufgabe der Normbildung im Zivilrecht und öffentlichen Recht ist, und wenn zudem die Ergänzung der bestehenden Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgrunde durch Richterrecht erfolgen kann, legt dies die Ansicht nahe: Das strafrechtliche Analogieverbot betrifft nur die "in den Straftatbeständen vertypten negativen Verhaltensmuster", d. h. die "Umschreibung der Vgl. Kapitel 6, § 3 II. la So Baumann, AT (5. Auf!. 1968, S. 521); Jescheck, AT S. 411 (a. E.) f.; Kohlrausch/Lange, § 46 Anm. VII 2 a; SchönkelSchröder, 17. Auf!. 1974, § 46 Rdnr. 33 f.; Schröder, Die Koordinierung der Rücktrittsvorschriften, S. 384; Welzel, Lehrbuch S. 199. ao StPO: z. B. § 127 I, 11; BGB: z. B. §§ 228,229; ZPO: z. B. § 808; öffentliches Recht: hier sei nur an das Verwaltungsvollstreckungsrecht erinnert. 81 Dazu RG St 61, 242; 62,137 (.. übergesetzlicher Notstand"). Daß die Erweiterung des Bereichs von Erlaubnissätzen im Wege richterlicher Rechtsfortbildung praeter legem dem Analogieverbot nicht widerspricht (.. analogia in bonam partem"), ist heute fast allgemeine Ansicht (dazu eingehend jetzt Suppert aaO, S. 293 ff. m. w. N.). 8! Vgl. dazu etwa die Lehre, der Schuldvorwurf bei Fahrlässigkeitsdelikten könne unter dem Gesichtspunkt der .. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens entfallen" (Jescheck, AT S. 451 f.; eingehend jetzt G. Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, S. 141 ff. m. w. N.). 88 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 18

S. 143 Anm. 64.

3. Abschn.: 103 11 GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 235 Verbotsmaterie" in den Tatbeständen (Suppert 3C) sowie - darin bedarf Supperts Standpunkt auf jeden Fall der Ergänzung - die strafbegrundenden Normen im Allgemeinen Teil, die ergänzender Bestandteil jener Verbots-

materie sind, nicht aber den Bereich der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgrunde für Verstöße gegen jene Verbotsmaterie. Anderenfalls nämlich stände man bei der richterlichen Rechtsfortbildung im Zivilrecht und öffentlichen Recht - soweit sie Rechtfertigungsgrunde betrifft - vor folgendem Dilemma: Wenn Sinn und Zweck eines Erlaubnissatzes ihn als sprachlich zu weit gefaßt erscheinen lassen, also als der teleologischen Reduktion bedürftig, wäre dem Zivilrechtler bzw. dem Öffentlichrechtler eine solche Rechtsfortbildung grundsätzlich erlaubt; dagegen dürfte der Strafrichter jene Rechtsfortbildung - selbst wenn sie seine Kollegen bei den Zivil- oder Verwaltungsgerichten in ständiger Rechtsprechung praktizieren sollten nicht anerkennen, falls sich dies strafbarkeitsausdehnend auswirken würde. Eine solche Konsequenz würde dem Grundsatz der "Einheit der Rechtsordnung" zuwiderlaufen. Daher trachtet man danach, sie wie folgt zu vermeiden: Man sagt, nur für die im StGB geregelten Erlaubnissätze gelte die These, das Analogieverbot verbiete die teleologische Reduktion von Rechtfertigungsgrunden35 • Ein solches Auseinanderdividieren der Erlaubnissätze wäre aber sachwidrig, und zwar schon deswegen, weil sie fast ausnahmslos außerhalb des StGB normiert sind und die bedeutsamste Ausnahme - das Notwehrrecht - zudem in StGB und BGB enthalten ist; d. h. jene These würde durch ihre Beschränkung auf die im StGB festgelegten Rechtfertigungsgrunde praktisch leerlaufen. Und außerdem erscheint eine solche Differenzierung zwischen StGB-Erlaubnissätzen und den zahllosen anderen unter dem Gesichtspunkt der "Einheit der Rechtsordnung" als willkürlich; denn erstere wie letztere gelten ja in allen Bereichen des Rechts. (2) Den dargelegten Gründen für die Ablehnung jener These stehen aber gute Gründe für eine Zustimmung gegenüber: Ob der Richter den Bereich des Strafbaren dadurch ausweitet, daß er den vom Wortsinn begrenzten Regelungsrahmen eines Strafbestandes überschreitet, oder dadurch, daß er einen Erlaubnissatz oder Entschuldigungsgrund entgegen seinem klaren Wortsinn nicht anwendet, bedeutet für den Täter ein und dasselbe, nämlich die Begründung seiner Strafbarkeit im Wege richterlicher Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen. Der Gesichtspunkt des "Schutzes der individuellen aaO, S. 56 Anm. 75; S. 298. So Kratzsch, GA 1971, S. 72 (a. E.); ders., JuS 1975, S. 437 mit Anm. 18, S. 438 mit Anm. 35. 34

35

236 3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 Freiheit vor richterlicher Willkür", den das Analogieverbot bezweckt, und auch der Wortlaut des Art. 103 II GG legen daher die Ansicht nahe: Diese Verfassungsnorm verbiete die strafbegründende teleologische Reduktion von Erlaubnissätzen sowie Entschuldigungs-, Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründen in gleicher Weise 38 wie die Ausweitung von Straftatbeständen mittels Gesetzesanalogie.

(3) Bei Abwägung der Argumente pro und contra neigen wir einem differenzierenden Standpunkt zu, nämlich dem:

(a) Das Analogieverbot steht der strafbegründenden teleologischen Reduktion von Erlaubnissätzen nicht entgegen; (b) demgegenüber schließt es eine solche Reduktion von Gesetzen, die den Täter entschuldigen oder Strafausschließungs- bzw. Strafaufhebungsgründe enthalten, aus. Diese Differenzierung beruht auf folgenden Erwägungen: Der entscheidende Gesichtspunkt für die erste These - (a) - ist, wie sich zeigte, der Topos "Einheit der Rechtsordnung"37; und zudem spricht für jene These, daß die Erlaubnissätze keine "genuin strafrechtliche Materie" sind38 • Beide Argumente treffen nun auf solche Normen, die den Täter entschuldigen oder seine Strafbarkeit ausschließen bzw. aufheben, nicht zu. Für die These (b) waren daher die oben erwähnten Argumente "Wortlaut" des Art. 103 II GG und "Schutz der individuellen Freiheit vor richterlicher Willkür" durchschlagend, während diese Argumente bei der These (a) wegen des (übergeordneten) Gesichtspunkts "Einheit der Rechtsordnung" zurücktretenmußten.

4. Ergebnis: Das strafrechtliche Analogieverbot ist auch im Allgemeinen Teil des StGB bedeutsam; es gilt nämlich: a) Im Bereich der Regelungsmaterien Strafanwendungsrecht, Mittäterschaft, Teilnahme und Versuch; b) für die vom Satz "nulla poena sine lege" erfaßten Deliktsfolgen, mögen diese im Besonderen oder im Allgemeinen Teil angedroht sein. 38 Roxin meint demgegenüber, zwar beziehe sich das Analogieverbot auch auf die Einschränkung von Erlaubnissätzen, doch bringe die "Dynamik der Rechtfertigungsgründe der Natur der Sache nach eine Auflockerung des nullum-crimen-Prinzips mit sich": Der Gesetzestext sei hier keine Schranke; sondern unzulässig sei nur, "durch kriminalpolitisch motivierte Erwägungen ein gesetzliches Regelungsprinzip hinwegzuinterpretieren" (Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 21 f.). Dazu meinen wir, daß das Analogieverbot stets denselben Gehalt hat, nämlich das "Verbot der Rechtsfortbildung praeter (und insbesondere contra) legem" bedeutet, wobei der "mögliche Wortsinn" als Schranke zwischen der (zulässigen) Rechtsfortbildung secundum und der praeter legem erfolgenden dient (ebenso Suppert aaO, S. 56 Anm. 75 a. E.). 37 Dazu oben im Text, (1). 38 aaO mit Anm. 33.

3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 237 c) Und es verbietet die strafbegründende teleologische Reduktion von Normen, die den Täter entschuldigen oder seine Strafbarkeit ausschließen oder aufheben.

IV. Strafzumessungsrecbt (Regelbeispiele für "besonders schwere Fille")

Nach Arzt gilt das Analogieverbot auch für solche Regelbeispiele, d. h. insbesondere für die in § 243 Nr. 1 - 6 StGB genannten1 : Er meint, es verstoße gegen Art. 103 II GG, wollte man "die Exemplifizierung in § 243, also die Umschreibung, was regelmäßig als besonders schwerer Fall anzusehen sei, für andere besonders schwere Fälle ... als Richtlinie" behandeln. Dem ist zu widersprechen. Die oben gezeigte "Analogiewirkung" der Regelbeispiele für die Antwort auf die Frage, ob trotz Nichtvorliegens eines solchen Beispiels nach § 243 gleichwohl ein "besonders schwerer Fall des Diebstahls" anzunehmen sei2, betrifft nämlich lediglich eine erlaubte "innertatbestandliehe Analogie". Zur Begründung dieser These sei auf unsere Ausführungen zur Vereinbarkeit der §§ 315 I Nr. 4, 315 b I Nr. 3 StGB ("ähnlicher, ebenso gefährlicher Eingriff") mit dem Analogieverbot verwiesen3 : Wenn schon im Bereich der Straftatbestände die gesetzliche Ermächtigung, eine generalklauselartige Regelung am Maßstab von exemplifizierenden Beispielen im Wege des "Schlusses vom Ähnlichen auf Ähnliches", also "analogisch" zu konkretisieren, dem Analogieverbot nicht widerspricht, so ist erst recht eine derartige "innertatbestandliche Analogie" bei der Anwendung von Strafzumessungsregeln für "besonders schwere Fälle" statthaft. § 2. Zur Geltung des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts im Strafverfahrensrecht I. Ordnungsgeld, Ordnungshaft

Soweit es sich bei strafprozessualen Maßnahmen um Ordnungsgeld oder Ordnungshaft handelt, sind sie dem Analogieverbot des Art. 103 II GG unterworfen1 • "Ordnungsgeld" und "Ordnungshaft"2 sind vom "Zwangsgeld" und von der "Zwangshaft" zu unterscheiden: Erstere Maßnahmen sind "repressive Rechtsfolgen für einen vorangegangenen Ordnungsverstoß"3; sie haben also strafähnlichen Charakter, wenn sie 1 !

3 1 2 S

JuS 1972, S. 515 f.

Kapitell, § 2 I 2 a (4). Oben, Kapitel 10, § 1 II 2. Nachweise oben, Kapitell, § 2 I 2 b (2), Anm. 49. Vgl. etwa §§ 51,70 StPO; 178 GVG; 890 ZPO.

Siehe die Begründung des Entwurfs eines EG StGB (oben, Kapitell aaO,

238 3. Absehn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 auch keine "Kriminalstrafen" sind4• Dagegen sind letztere bloße "Zwangsoder Beugemaßnahmen", die ausschließlich darauf gerichtet sind, "ein künftiges Verhalten durchzusetzen"'.

Die Begründung für die Anwendbarkeit des Art. 103 11 GG auf Ordnungsgeld und -haft folgt aus ihrer poenaZen Natur; denn das Analogieverbot gilt für alle Sanktionen mit Strafcharakter, gleichgültig, ob es sich dabei um Krirninalstrafen oder sonstige poenale Eingriffe handelt'. D. Anwendbarkeit im Bereldl der Normen über die Verfolgbarkeit des TAten?

Sieht man mit der h. M. in den Normen über die VerjoZgbarkeit des Täters - nämlich insbesondere die Regelung über Verfolgungsverjährung und Antragserfordernis -

kein materielles Strafrecht, sondern Strajverjahrensrechtt, so betreffen sie nicht die Frage der "Strafbarkeit" des Täters, so daß entgegen Baumann! eine wnmittelbare Geltung des strafrechtlichen Analogieverbots für jene Normen ausscheidet. Doch erscheint dann eine "entsprechende" Anwendung des Analogieverbots des Art. 103 II GG als zumindest gut vertretbar: Wenn nämlich - wie ausgeführt - die strafbegründende teleologische Reduktion von Entschuldigungs-, Strafausschließungs- oder StrafaufhebungsAnm. 48). Dort wird die Verwandtschaft solcher Verstöße mit Ordnungswidrigkeiten hervorgehoben - und für letztere gilt Art. 103 II GG nach (fast) einhelliger Ansicht (vgl. oben, Kapitell, § 2 I 2 c). 4 Vgl. BVeTfG E 20, 323, 331 ff. (zur repressiven "Ordnungsstrafe" alten

Rechts). 5 So die Entwurfsbegrundung aaO (oben, Anm. 3). 8 VgI. nur MaunzlDiLriglHerzog, Art. 103 II Rdnr. 113 ff. (Für Ordnungswidrigkeiten vgI. oben, Anm. 3.) 1 Für das Antragserfordernis vgI.: BGH St 20, 22, 27; ebenso die h. L., vgl. für alle Jescheck, AT S. 664, SchönkelSchröder, § 77 Rdnr. 8 (beide m. w. N.). Abweichend aber Hilde Kaufmann, Strafanspruch, Strafklagerecht, S. 152154; J. Baumann, Der Aufstand des schlechten Gewissens, S. 17. Für die VerfolgungsverjähTUng vgl.: BGH st 2, 300, 305; BVerfG E 25, 269, 286 ff.; ebenso die h. L.; für alle: SchönkelSchröder, Rdnr. 3 vor § 78; Maurach, AT S. 951. a. A. Kaufmann aaO, S. 154; Baumann aaO. Eine verbreitete Ansicht mißt ihr eine "gemischt materiell-rechtliche und prozessuale Natur" bei, so. u. a. Jescheck, AT S. 669 m. w. N. I VgI. oben, Kapitell, § 2 I 2 b (1), Anm. 44. Wie hier die h. M.; vgI. u. a. BVerfG aaO; SchönkelSchröder, 17. Aufl. 1974, § 2 Rdnr. 58; Tröndle, LK (9. Aufl.), § 2 Rdnr. 9; MaunzlDiLriglHerzog, Art. 103 Rdnr. 111 i. V. m. Rdnr. 109. Kritisch jetzt aber SchönkelSchröder, 18. Auf!. 1976, § 1 Rdnr. 44. VgI. auch BGH St 7, 256, 258: Einer analogen Anwendung des § 232 StGB ("es sei denn ... ") stehe zwar nicht das strafrechtliche Analogieverbot, aber der Ausnahmecharakter jener Norm entgegen; ebenso Tröndle aaO.

3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 10 239 gründen jenem Gesetzesvorbehalt widerspricht, liegt es nahe, unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit der Interessenlage auch die teleologische Reduktion von Vorschriften zu untersagen, welche die Verfolgbarkeit des Täters betreffen. Denn im letzteren wie im ersteren Fall würde eine solche teleologische Reduktion bedeuten, daß ein Täter, der nach dem Buchstaben des StGB nicht bestraft werden könnte, im Wege "richterlicher Rechtsfortbildung entgegen dem Wortlaut des Gesetzes" doch bestraft würde. Für eine sinngemäße Anwendung des strafrechtlichen Analogieverbots auf die Regelungsmaterie, welche die Verfolgbarkeit des Täters betrifft, spricht zudem der Umstand, daß Art. 103 II GG für die objektiven Strafbarkeitsbedingungen' gilt'. Diesen aber ist mit den Strafverfolgungsvoraussetzungen gemein, daß der Täter im Falle ihres Fehlens nicht bestraft werden darf. Diese "Gleichheit der Interessenlage" für den Täter legt es nahe, wie die objektiven Strafbarkeitsbedingungen so auch die Vorschriften über die Verfolgbarkeit des Täters dem Analogieverbot zu unterstellen.

Zu ihnen Jescheck, AT S. 418 ff. , Jescheck aaO, S. 107.

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Kapitel 11

Der öffentlichrechtliche Gesetzesvorbehalt als Schranke für die Rechtsfortbildung auaerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen im Strafrecht . § 1. Reichweite des öffentlichrechtlichen

Gesetzesvorbehalts im Strafrecht Der öffentlichrechtliche Vorbehalt des Gesetzes für hoheitliche Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers 1 hat auch im Bereich des materiellen und formellen Strafrechts Bedeutung; denn diese Rechtsmaterien sind ihrer Natur nach öffentliches Recht. Allerdings werden die bedeutsamsten staatlichen Eingriffe im Bereich des Strafrechts - nämlich die Verurteilung zu einer Kriminalstrafe (sowie die Verhängung von sonstigen Sanktionen mit poenalem Charakter) -

von dem Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG erfaßt. Dieser strafrechtliche Gesetzesvorbehalt ist also für jenen Kernbereich der hoheitlichen Eingriffe im Strafrecht eine Sonderregelung, neben der dem allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes des öffentlichen Rechts keine Bedeutung zukommt. Doch ist auch im Geltungsbereich des Art. 103 II GG der besondere Gesetzesvorbehalt des Art. 104 I GG für freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu beachten; denn anders als jener verlangt dieser ein förmliches Gesetz!.

Neben solchen hoheitlichen Eingriffen im Strafrecht, die poenaler Natur sind, gibt es aber noch zahlreiche andere; für letztere gilt der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts. Zu ihnen zählen: Im materiellen Strafrecht alle Deliktsfolgen ohne Strafcharakter, also insbesondere die Maßregeln der Besserung und Sicherungs. Im Strafprozeßrecht alle Eingriffe von hoher Hand in die Rechtssphäre des Bürgers (außer Ordnungsgeld bzw. -haft), also namentlich prozessuale Zwangsmitte14 sowie Eingriffe in die Rechte des Verteidigers5 • Dazu oben, Kapitell, § 2 II 1. aaO, 2 a. 3 Ebenso Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 79 f.; Maunz/Dürig/ Herzog, Art. 103 Rdnr. 117. 4 Nachweise oben, Kapitell, § 2 II Anm. 30. s Dazu aaO, Anm. 31. 1

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3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 11

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Danach ist auch für den Strafrechtler die Frage bedeutsam: Beinhaltet der öffentlichrechtliche Vorbehalt des Gesetzes - in gleicher Weise wie Art. 103 II GG - ein AnaZogieverbot, d. h. ein Verbot der Rechtsfindung praeter legem? Jene Frage ist zu bejahen, und zwar aus folgenden Gründen: § 2. Der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts als Analogieverbot

Für diese These 1 sprechen einmal normtheoretische Erwägungen, weiterhin die Parallelität jenes Gesetzesvorbehalts zum strafrechtlichen und schließlich sein Grundgedanke. I. Normtbeoretische Erwägungen

Der Vorbehalt des Gesetzes für hoheitliche Eingriffe besagt, sie könnten nur "auf Grund" eine Gesetzes erfolgen2 , bedürften also einer gesetzlichen ErmächtigungsgrundZage. Dies Erfordernis ist nur solange erfüllt, als ein behördlicher oder richterlicher Eingriff in Rechte des Bürgers von dem RegeZungsrahmen einer ermächtigenden Rechtsnorm gedeckt wird, d. h. wo ein solcher Eingriff aufgrund Gesetzesanwendung als "Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens" erfolgt. Wird dagegen eine Eingriffsgrundlage im Wege behördlicher oder richterlicher Rechtsfortbildung außerhaZb des Regelungsrahmens gesetzlicher Eingriffsnormen gewonnen, so läßt sich beim besten Willen nicht mehr sagen, der Eingriff werde "auf Grund eines Gesetzes" vorgenommen, beruhe auf einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Wer den Regelungsrahmen einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung zum Nachteil-des Bürgers sprengt und sich gleichwohl berühmt, der Eingriff erfolge "auf Grund" jenes Gesetzes, muß sich den Vorwurf des "Etikettenschwindels" gefallen lassen. Denn er erweckt den Anschein, als werde der Eingriff von der Autorität des vom Gesetz Angeordneten gedeckt, während in 1 Sie ist für den Gesetzesvorbehalt im Steuerrecht (prinzip der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung) h. M. - siehe oben, Kapitell, § 2 II 1 b. Außerhalb des Steuerrechts versteht das BVerfG jedenfalls den Gesetzesvorbehalt des Art. 104 I GG als Analogieverbot; im übrigen aber ist die Frage, ob der Vorbehalt des Gesetzes im öffentlichen Recht ein Analogieverbot beinhaltet, in der Rechtsprechung ungeklärt und im Schrifttum streitig (Nachweise oben, Kapitell, § 2 II 1 c). (Nachzutragen ist noch, daß auch Jesch - Gesetz und Verwaltung, S. 33 die hier vertretene Ansicht teilt.) , ! Vgl. etwa die Formulierung des Gesetzesvorbehalts in Art. 2 II S. 2, 104I GG.

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Wirklichkeit die Legitimationswirkung des Gesetzes3 nur soweit reicht wie sein Rahmen.

n. Parallelität des öffentllchrechtlichen Gesetzesvorbehalts zum strafrechtlichen Jesch 1 gebührt das Verdienst, diese Parallelität am stärksten hervorgehoben zu haben: Für ihn sind Art. 103 11 GG auf der einen und der Gesetzesvorbehalt für sonstige hoheitliche Eingriffe2 auf der anderen Seite die beiden "Komponenten eines umfassenden Gesetzmäßigkeitsprinzips" ; und wenn man nun den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt als Analogieverbot interpretiere, so sei der Gesetzesvorbehalt für sonstige Eingriffe "nicht anders zu verstehen".

In der Tat ist der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt nur ein Unterfall eines allgemeinen, alle Eingriffe von hoher Hand erfassenden Vorbehalts des Gesetzes: Was das Verhältnis Gesetzgebung auf der einen und vollziehende Gewalt sowie Rechtsprechung auf der anderen Seite angeht, so sollen die beiden letzteren die Rechte des Bürgers nur "auf Grund" eine Gesetzes schmälern dürfen. Zweite und Dritte Gewalt sind also nicht befugt, ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage belastende Hoheitsakte vorzunehmen. Und wenn nun im Bereich des Strafrechts dieser Gesetzesvorbehalt als Analogieverbot (im Sinne des Verbots der Rechtsfindung praeter legern) gedeutet wird, ist nicht recht einzusehen, warum er im (übrigen) öffentlichen Recht anders zu verstehen sein sollte. Dem kann man auch nicht entgegenhalten, Art. 103 II habe ja gegenüber dem Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts jedenfalls insoweit eine weiterreichende Bedeutung, als jene Verfassungsnorm geschriebene Gesetze verlange, also Gewohnheitsrecht ausschließe, während der Vorbehalt des Gesetzes im öffentlichen Recht nicht so weit gehe3 ; und darum brauchten letzterer und Art. 103 II auch hinsichtlich des Analogieverbots nicht gleichbedeutend sein. Jener Einwand würde nämlich verkennen, daß die Frage des Gewohnheitsrechts nicht unmittelbar mit dem das Verhältnis Gesetzgebung einerseits, Behörden und Gerichte andererseits betreffenden Analogieverbot als Schranke der RechtsfortbiIdung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen zusammenhängt. Jedenfalls was diese Schrankenfunktion des Gesetzesvorbehalts angeht, besteht aber kein Anlaß, den strafrechtlichen und öffentlichrechtlichen unterschiedlich zu behandeln.

3 Zur Legitimationswirkung des Gesetzes für die seinen Rahmen konkretisierende Auslegung vgl. oben, Kapitel 5, § 1 12 a - c; Kapitel 7, § 2 I. 1 Gesetz und Verwaltung, S. 33. 2 Jesch nennt (als pars pro toto) Verwaltungsakte. 3 Vgl. dazu oben, Kapitel 1, § 2 II Anm. 5.

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m.

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Grundgedanke des öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalts

Daß dieser in gleicher Weise wie der strafrechtliche als Analogieverbot zu verstehen ist, folgt insbesondere auch daraus, daß beide auf denselben Verjassungsprinzipien beruhen 1• Beide bezwecken nämlich den "Schutz der individuellen Freiheit2 vor obrigkeitlicher Willkür", wobei der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt die richterliche, der öffentlichrechtliche vornehmlich die vollziehende Gewalt (daneben aber auch die richterliche) im Auge hat. Und beide Gesetzesvorbehalte sind Ausdruck des "demokratischen Prinzips":

1. Schutz der individuellen Freiheit vor obrigkeitlicher Willkür Diese Komponente folgt schon aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzesvorbehalts für hoheitliche Eingriffe in die Rechte des Bürgers3 : Bereits im Rechtsdenken Montesquieus war der Gesichtspunkt des "Schutzes der individuellen Freiheit vor obrigkeitlicher Willkür"durch die freiheitsverbürgende Herrschaft des Gesetzes ("frei sein heißt von nichts anderem als dem Gesetz abhängen"4) zwar vornehmlich auf das Strafrecht ausgerichtet~, aber nicht hierauf beschränkte. Neben der aufklärerischen Wurzel des allgemeinen Gesetzesvorbehalts für hoheitliche Eingriffe in Freiheit (und Eigentum) war für seine Weiterentwicklung die das 19. Jahrhundert bestimmende Verfassungsbewegung 1 entscheidend. In ihrem Verlauf setzte sich nämlich das rechts staatliche Postulat eines durch den Gesetzesvorbehalt "gegen eigenmächtige Eingriffe der Exekutive geschützten Individualbereichs" durchs.

2. Demokratisches Prinzip Auch für diese Deutung des öffentlichrechtlichen Vorbehalts des Gesetzes spricht seine Entstehungsgeschichte. 1 Zum Grundgedanken des Gesetzesvorbehalts nach Art. 103 II GG vgl. oben, Kapitel 9, § 2 11 1. 2 Sowie des Eigentums. 3 Vgl. zu dieser Entstehungsgeschichte u. a. Jesch aaO, S. 102 ff.; Erichsen, Staatsrecht I, S. 22 ff.; ders., Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsakt, S. 148 f.; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, S. 16 ff. 4 So schon Voltaire (zitiert nach H.-L. Schreiber, Gesetz und Richter, S. 53). 5 Vgl. oben, Kapitel 9, § 2 11 1 a (1) (a). 6 W. JeUinek, Verwaltungsrecht, S. 88. 7 Dazu oben, Kapitel 9 aaO, 1 b (1). S Vgl. Jesch aaO, S. 108 (a. E.) f. Auch Anschütz (VerwArch 1906, S. 330) führt den öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalt auf den Gedanken des "Schutzes vor Willkür" zurück. So auch Tipke, steuerrecht S. 26, für den steuerrechtlichen Gesetzesvorbehalt.

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Denn im Verlauf jener "Verfassungsbewegung", d. h. der Auseinandersetzung zwischen Fürstensouveränität und Volkssouveränität, verfolgte man mit dem Postulat eines Gesetzesvorbehalts für Eingriffe in "Freiheit und Eigentum des Bürgers" zugleich mit dem rechtsstaatlichen Ziel "Freiheitsschutz" das demokratische nach einer Mitwirkung der Bürger an der Gesetzgebung, jedenfalls soweit es um Eingriffsnormen ging': Der Gesetzesvorbehalt, so sagt Jesch, sollte den Bürgern "Freiheit vom Staat durch Teilhabe am Staat", und zwar in der Form eines Mitwirkungsrechts an der Gesetzgebung bei Eingrüfsgesetzen, sichern10• Vollends mit der Ablösung der konstitutionellen Monarchie durch die parlamentarische Demokratie hat der Gesetzesvorbehalt einen stark "demokratischen Aspekt" erhalten: Denn wegen der unmittelbaren demokratischen Legitimation des parlamentarischen Gesetzgebers, die diesen gegenüber der Zweiten und Dritten Gewalt heraushebtl1 , kann in unserer Demokratie im Verhältnis Gesetzgeber / vollziehende und rechtsprechende Gewalt grundsätzlich nur jener das Recht in Anspruch nehmen, Normen, die hoheitliche Eingriffe gestatten, zu setzen. Und so ist Hesse beizupflichten, wenn er feststellt: "Die Einsicht in die Funktion der Gesetzgebung im Rahmen der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes läßt zugleich die Grundlagen und die Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes klarer hervortreten!!." 3. Wenn nun strafrechtlicher und öffentlichrechtlicher Gesetzesvorbehalt auf demselben Grundgedanken beruhen und dieser für das Verständnis des Gesetzesvorbehalts aus Art. 103 II GG als Analogieverbot spricht13, so resultiert daraus, daß auch der Gesetzesvorbehalt des öffentlichen Rechts als Analogieverbot zu deuten ist. IV. Ergebnis

Der öffentlichrechtliche Vorbehalt des Gesetzes verbietet es der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt, Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers im Wege der Rechtsfortbildung aw.ßerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen, d. h. praeter (und erst recht contra) legem zu begründen. Und da wir als Schranken des gesetzlichen Regelungsrahmens den

, Jesch aaO; vgl. weiter oben, Kapitel 9, § 2 II 1 b (1). 10 Jesch aaO. Siehe jetzt auch Krebs aaO, S. 27. 11 Vgl. bereits oben, Kapitel 9 aaO, b (2). 11 Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 207. Die demokratische Wurzel des öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalts betonen außer Hesse u. a.: Stüer, JR 1974, S. 445, 449; Tipke aaO; BVerwG, DÖV 1975, S. 347 f. und S. 349. Kritisch aber Papier, Die ftnanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S. 172 ff., 214. 11 Vgl. oben, Kapite19 aaO, 2.

3. Abschn.: 103 II GG und öffentl.-rechtl. Gesetzesvorbehalt - Kap. 11

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möglichen Wortsinn des Gesetzes und die rechtspolitische Wertentscheidung des historischen Gesetzgebers bezeichnet haben, ergibt sich:

Gesetzliche Eingriffsermächtigungen dürfen nicht über ihren Wortsinn hinaus ausgeweitet werden1 ; und den mit ihnen vom historischen Gesetzgeber verfolgten, feststellbaren Regelungszweck dürfen die Behörden und Gerichte nicht zum Nachteil des Bürgers mißachten. Das Verständnis des öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalts als Analogieverbot hat für den Strafrichter u. a. zur Folge, daß eine analoge Anwendung stTafprozessualer EingTiffsermächtigungen! unzulässig ist. Hiergegen wird noch vielfach verstoßen' - aber wohl weniger aufgrund einer prinzipiellen Ablehnung des hier vertretenen Standpunkts, als wegen mangelnder Reftexion über die Bedeutung jenes GesetzesvorbehaIts und seine Ausstrahlung in das Strafverfahrensrecht.

1 Ebenso fÜT den GesetzesvoTbehalt des SteueTTechts u. a. Tipke, stuW 1972, S. 265 f., 269; PapieT aaO, S. 171 ff., 178; dahin tendiert auch die neuere Rechtsprechung des BFH (Nachweise bei Tipke aaO; ders., Steuerrecht, S. 81 Anm. 10; Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, S. 37). Abweichend u. a. SandTock aaO, S. 32 ff., 42. Wie hier fÜT den GesetzesvoTbehalt des ATt. 104 I GG: BVeTfG E 22, 183, 195 (dazu oben, Kapitell, § 2 II 1 c (1); Kapitel 6, § 1 11 b (2) (c». So ganz allgemein fÜT alle hoheitlichen Eingriffe u. a.: PapieT aaO, S. 179 i. V. m. S. 178; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 28 III c 7 (S. 163), die zu Recht darauf hinweisen, gesetzliche EingTiffsermächtigungen dürften nicht über den Wortlaut des Gesetzes hinaus ausgeweitet werden. 2 d. h. die Anwendung einer zwar nicht nach ihrem Wortsinn, aber nach ihrer ratio passenden Eingriffsermächtigung. a Vgl. nur OLG Hamm, NJW 1974, S. 1667 (zu § 112 a I Nr. 1 StPO); BGH st 25, 42, 43 a. E. (zu §§ 230 II, 233 II StPO).

Thesen 1. Generalklauseln und kasuistische Regelungen mit unbestimmten, normativen Rechtsbegriffen sind keine "fertigen" Normen in dem Sinne,

daß ihr Sinn und Bedeutungsumfang dem Richter bereits vorgegeben und von ihm im Wege einer als Erkenntnisakt verstandenen Auslegung lediglich festzustellen sind. Vielmehr sind solche Normierungen noch "unfertig" in dem Sinne, daß sie der normvollendenden Auslegung (Konkretisierung) im Hinblick auf den zu entscheidenden Fall bedürfen. Sie sind also nur Regelungsentwürfe (Regelungsrahmen). Da nun grundsätz"': lich jeder Rechtsbegriff mehr oder weniger unbestimmt und normativ ist, läßt sich ganz allgemein sagen: Gesetze sind grundsätzlich nicht mehr als nur Regelungsentwürfe, die 'der rechtsfortbildenden Konkretisierung durch Bildung richterlichen Fallrechts bedürfen; zugleich bedeuten sie die gesetzliche Ermächtigung an den Richter zu dieser Konkretisierung als "Rechtsfortbildung im Rahmen der anzuwendenden Norm". Auslegum.g, verstanden als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens, ist danach grundsätzlich normvollendender, normergänzender, also rechtsfortbildender Natur.

2. Gleichwohl ist es richtig, an der herkömmlichen Differenzierung zwischen Rechtsfindung secundem (intra), praeter und contra legem festzuhalten: Was man herkömmlich Rechtsfindung secundum legem nennt, ist der Bereich der Auslegung, der "Anwendung einer Rechtsnorm", also der Bereich der Rechtsfortbildung innerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen. Demgegenüber handelt es sich bei der über diesen Rahmen hinausgehenden Rechtsfindung praeter oder gar contra legem um Rechtsfortbildung außer halb gesetzlicher Regelungsrahmen. Diese Differenzierung ist auch unabhängig von der Problematik des strafrechtlichen Analogieverbots sachgerecht, nämlich im Hinblick auf die richterliche Argumentationslast bei der Rechtsfortbildung; denn diese Argumentationslast ist bei der Rechtsfortbildung innerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen grundsätzlich geringer als bei der diesen Rahmen sprengenden. 3. Formale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens und damit Auslegungsschranke ist der mögliche Wortsinn des Gesetzes, wobei maßgeblich auf den "heutigen Sprachgebrauch des täglichen Lebens" abzustellen ist. Diese Auslegungsschranke darf nicht unter Berufung auf

Thesen

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einen als weiterreichend angenommenen "juristischen Sprachgebrauch" überspielt werden. Doch kommt in der "Zone möglicher Zweifel" über den vom Wortsinn abgesteckten Rahmen dem "juristischen Sprachgebrauch" Bedeutung zu: Was diese Zone betrifft, haben de facto die Juristen und letztlich die (höchstrichterliche) Rechtsprechung das Monopol zur Konkretisierung der Wortsinnschranke der Auslegung; und insoweit ist es faktisch der juristische Sprachgebrauch - oder genauer: der Sprachgebrauch der Rechtsprechung - der für den "möglichen Wortsinn" des Gesetzes maßgeblich ist. Von der Bindung der Auslegung an den möglichen Wortsinn des Gesetzes gibt es keine Ausnahmen - weder bei Redaktionsversehen, noch sonst. 4. Neben der formalen Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens durch den möglichen Wortsinn des Gesetzes gibt es noch eine materiale Auslegungsschranke, nämlich die ratio legis, verstanden als der vom Gesetzgeber verfolgte Regelungszweck, als seine rechtspolitische Wertentscheidung - sofern sie mit hinreichender Sicherheit feststeht. Diese These bedeutet nicht, daß wir der subjektiven Auslegungstheorie anhängen; denn deren Aussage: "Auslegungsziel sei die Ermittlung des Willens des historischen Gesetzgebers", ist verfehlt: Einmal deswegen, weil Auslegung als gegenwartsbezogene Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens zu verstehen ist, zum anderen deswegen, weil jene Aussage der subjektiven Theorie nicht genügend berücksichtigt, daß Auslegung normvollendenden, rechtsfortbildenden Charakter besitzt, also nicht lediglich einen bereits feststehenden Normsinn ermittelt. 5. Von Auslegung als Konkretisierung des gesetzlichen Regelungsrahmens kann daher nur die Rede sein, wenn sie die Schranken dieses Rahmens respektiert, d. h. mit dem möglichen Wortsinn des Gesetzes vereinbar ist und der rechtspolitischen Wertentscheidung des Gesetzgebers gerecht wird. Jede Rechtsfortbildung, die entweder den Normtext mißachtet oder jene Wertentscheidung verfehlt, ist als Rechtsfortbildung außerhalb des gesetzlichen Regelungsrahmens einzustufen, mag es sich dabei in casu um Rechtsfortbildung praeter legern handeln oder gar um contra legern erfolgende. 6. Der Rechtsfortbildung außerhalb gesetzlicher Regelungsrahmen sind durch das strafrechtliche Analogieverbot (Art. 103 II GG) Schranken gezogen: Soweit es um strafbegründende oder -schärfende Entscheidungen geht, ist die richterliche Rechtsfortbildung auf die Konkretisierung der Regelungsrahmen der Strafgesetze, d. h. auf deren Auslegung, beschränkt, während die Rechtsfortbildung praeter und erst recht contra legern unzulässig ist. Das bedeutet: Nach unserem Verständnis des straf-

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Thesen

rechtlichen Analogieverbots ist dem Strafrichter jede strafbegründende oder -schärfende Normanwendung untersagt, die vom möglichen Wortsinn nicht mehr gedeckt wird oder den gesetzgeberischen Regelungszweck in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht. 7. Die verbreitete - wenn auch nicht herrschende - Ansicht, das strafrechtliche Analogieverbot beziehe sich allein auf die Straftatbestände (und -drohungen) des Besonderen Teils des StGB sowie des Nebenstrafrechts, nicht aber auf den Allgemeinen Teil, ist verfehlt. 8. Neben dem Analogieverbot des Art. 103 11 GG bedeutet auch der öffentlichrechtliche Gesetzesvorbehalt für hoheitliche Eingriffe in die Rechte des Bürgers eine Schranke für die richterliche Rechtsfortbildung im Strafrecht: Der öffentlichrechtliche Gesetzesvorbehalt beinhaltet in gleicher Weise wie der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt ein Analogieverbot. Er gilt im materiellen Strafrecht insbesondere für die Straftatfolgen, die keinen poenalen Charakter haben (z. B. die Maßregeln der Besserung und Sicherung), im Strafverfahrensrecht namentlich für prozessuale Zwangsmittel.

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Sachregister Die Zahlen bezeichnen die Seiten des Buches ähnlicher, ebenso gefährlicher Eingriff 31, 32, 223 akzessorische Rechtsbegriffe 33, 227 f. Allgemeiner Teil, Geltung des Analogieverbots 33 f., 228 ff., 248 Analogie, innertatbestandliche 28, 29, 141, 202, 225, 237 Analogieverbot - Begriff 27 ff., 199 ff., 247 f. - Bedeutung 22, 27 ff., 110 f., 199 ff. - Geltungsbereich im Strafprozeßrecht 35 f., 237 ff. - Geltungsbereich im Strafrecht 29 ff., 215 ff. - Grundgedanke 206 ff. - öffentliches Recht 38 ff., 44 - Zivilrecht 44 Andeutungstheorie 186 f. arbeitsteiliges Zusammenwirken von Gesetzgeber und Richter bei der Normbildung 98, 100, 101, 205 aufklärerisches Rechtsdenken 56 ff. Auflagen 30,31,220 f. Auslegung - analogischer Charakter 28, 51, 115, 141,189,201 - ergebnisbezogene 120 - und Gesetzesanalogie 24, 25, 43, 44,49 ff. - Grenzen 22, 43 ff. - als Normvollendung 78 f., 80 ff., 97 ff., 113, 182, 183, 187, 205, 246 f. - und Rechtsfindung secundum legem 19, 24, 26, 43, 195 ff. - und Rechtsfortbildung 77 f., 101, 151,246 f. - und teleologische Reduktion 44, 130, 159, 167 f. - als typologisches Verfahren 143 f., 149 f. - volitives Element 103 ff.

Auslegungsbild - dogmenhistorisch 56 ff. - heutiges 67 ff., 80 ff., 116 ff. - Kelsens 121 ff. Begriffsjurisprudenz 61 f. Begriffshof/-kern 46 ff., 156 ff., 197 Bestimmtheitsgebot 21,27,89 f. Blankettstrafgesetze 33, 226 f. Demokratische Legitimation der 3. Gewalt 121, 211, 214, 244 DruCkfehler. 48,168,171 Fallrecht, richterliches 90 ff., 101 Freirechtsbewegung 65 ff., 103 Generalklauseln 80 ff., 113, 196, 223 f., 246 Gesetzesanalogie 25,40,49 ff., 142 Gesetzesanwendung, analoge - siehe Gesetzesanalogie Gesetzesanwendung, unmittelbare 24, 43, 49 ff., 73, 107 Gesetzesnorm - als Bewertungsnorm 68 ff., 113, 178,184 - Delegationsfunktion 114,124,148 - Legitimationswirkung 114, 124, 127, 148 f., 150, 189, 196, 242 - als Regelungsrahmen 113 ff., 163, 182 - Richtlinienfunktion 115, 124, 189 Gesetzesvorbehalt, öffentlich-rechtlicher - als Analogieverbot 38 ff., 112, 138, 241 ff., 248 - Begriff 19, 20 - Geltungsbereich im Strafrecht 41 f., 219, 240 ff., 248

Sachregister -

Grundgedanke 243 f. im Steuerrecht 37, 38, 39 Verwandtschaft mit dem strafrechtlichen 38,242 gesetzgeberischer Regelungszweck als Auslegungsschranke 53, 54, 162,184 ff., 202 ff., 247, 248 gesetzgeberische Wertentscheidung - als Auslegungsschranke 64, 73, 162 f., 173 ff., 184 ff., 195, 196, 202 ff., 213 f., 245, 247 - als materiale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens 173 ff., 188 ff. - Feststellung der 190 ff. Gewohnheitsrecht 21, 27 Interessenjurisprudenz 62 ff. Interpretationsverbote 57 - 59, 201 kasuistische Tatbestandsfassung 81, 224,246

Konkretisierung 87,246,247 Lücken intra legern 87 f., 96, 98 Lückenfüllung, gesetzesergänzende - siehe Rechtsfindung praeter legernMaßregeln der Besserung und Sicherung 30, 145 f., 218 ff., 240, 248 möglicher Wortsinn - als Auslegungsschranke 22, 45 ff., 108 ff., 127 ff., 186 f., 195 f., 200 ff., 222, 245, 246 ff. - Ausnahmen von der Bindung der Auslegung an den -? 48, 168 ff., -

247

als formale Begrenzung des gesetzlichen Regelungsrahmens 127 ff., 163 heutiger Sprachgebrauch 162 f., 246

natürlicher

Sprachgebrauch 48,

154 ff., 166, 246

technisch-juristischer Sprachgebrauch 154 ff., 160 ff., 246 f.

normative Rechtsbegriffe 71, 98, 101, 105,113,158,196,246

267

Ordnungsgeld 36, 237 f. Ordnungshaft 36, 237 f. Ordnungswidrigkeitenrecht 36 objektive Theorie 50, 51, 142, 162, 173 ff., 201, 203 Paktentheorie 191 ratio legis als Auslegungsschranke 22, 53, 54, 18-5, 200 ff. Rechtsanalogie 25,27,40,44 Rechtsfindung contra legern 19, 26, 67, 174, 186, 188, 193, 195, 196, 200, 225, 244, 246 f.

Rechtsfindung praeter legern - und Analogieverbot 19, 20, 21, 27 ff., 43, 199 ff. - Begriff 19, 24 f., 195 ff. - Mittel der 25 - und öffentlich-rechtlicher Gesetzesvorbehalt 19, 20, 21, 38 ff., 44 - und Regelungslücke 25, 26 Rechtsfindung, richterliche - Argumentationslast 148 f., 151, -

246

Fallrecht 90 ff. Stufen der 19, 24, 108 ff., 151, 193,

246

Rechtsfindung secundum legern - und Auslegung 19, 24, 26, 43 - Begriff 19, 195 ff., 246 - Grenzziehung zur Rechtsfindung praeter legern 43 ff., 108 ff., 195 f. Rechtsnorm siehe GesetzesnormRechtsprinzipien 70, 105 Redaktionsversehen 48, 169, 171 f. Regelbeispiele 34, 35, 237 Reine Rechtslehre 121 ff. Rückwirkungsverbot 21, 27, 30, 36, 93

Strafbarkeitslücken 23 Strafprozeßrecht - Geltung des Analogieverbots 35, -

36

Geltung des öffentlich-rechtlichen Gesetzesvorbehalts 20, 41 f. Strafzumessungsrecht 34 subjektive Theorie 50, 72, 73, 104, 142, 162 f., 173 ff., 201, 253, 247 Subsumtion 24, 43, 55 f.

268

Sachregister

Tatbestandsermessen 104 ff., 125, 192 teleologische Reduktion 25, 27, 44, 48, 50, 130, 159, 167 f., 201, 233 ff.

Vorbehalt des Gesetzes - siehe Gesetzesvorbehalt Vorverständnis und Methodenwahl 104,134 f.

unbestimmte Rechtsbegriffe 45, 98, 101,105,113,158,196,246 Unterlassungsdelikte 32, 33, 225 f.

Weisungen 30, 31, 221 Wertungsjurisprudenz 64 f., 67 ff. Wille des Gesetzgebers - als Auslegungsschranke 53, 54, 162, 171, 173 ff, 184, 202 - Ermittlung des 190 ff.

verfassungskonforme Analogie 139 verfassungskonforme Auslegung 69 f., 139, 193 Volitives Element der Rechtsfindung 103, 104, 124 - 126, 198

Zwangsmaßnahmen, strafprozessuale 20,42,240,245,248