Studien zu Luthers Weltanschauung: Ein Beitrag zur Frage der Einordnung Luthers in Mittelalter oder Neuzeit [Reprint 2019 ed.] 9783486745672, 9783486745665


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German Pages 65 [76] Year 1920

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Table of contents :
Inhaltsübersicht
Erster Abschnitt. Methodologische Vorfragen
Zweiter Abschnitt. Aufriß der „mittelalterlichen" Weltanschauung
Dritter Abschnitt. Probleme der Lutherforschung
Vierter Abschnitt. Luthers Persönlichkeit und Hauptpunkte seiner Lehre
Fünfter Abschnitt. Luthers Auffassung von der Gesellschaft (Staat und Kirche)
Sechster Abschnitt. Schlußergebnisse
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Studien zu Luthers Weltanschauung: Ein Beitrag zur Frage der Einordnung Luthers in Mittelalter oder Neuzeit [Reprint 2019 ed.]
 9783486745672, 9783486745665

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Historische Bibliothek Herausgegeben von der

Redaktion der Historischen Zeitschrift

43. Band:

Studien zu Luthers Weltanschauung Ein Beitrag zur Frage der Einordnung Luthers in Mittelalter oder Neuzeit Von RICHARD W O L F F

München und Berlin 1920 Druck und Verlag von R. Oldenbourg

Studien zu Luthers Weltanschauung Ein Beitrag zur Frage der Einordnung Luthers in Mittelalter oder Neuzeit von

RICHAED

WOLFF

München und Berlin 1920 Druck und Verlag von R. Oldenbourg

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten Copyright 1090 bei B. Oldenbourg, München

Ernst Troeltsch zu eigen.

Inhaltsübersicht. Erster Abschnitt:

Methodologische Vorfragen

. . .

Seite

1—5

Zweiter Abschnitt: Weltanschauung

Aufriß der »mittelalterlichen«

Dritter Abschnitt:

Probleme der Lutherförschung .

20—29

V i e r t e r A b s c h n i t t : Luthers Persönlichkeit und Hauptpunkte seiner Lehre

29—38

F ü n f t e r A b s c h n i t t : Luthers Auffassung Gesellschaft (Staat und Kirche)

38—58

Sechster Abschnitt:

Schlußergebnisse

von

5—20

der

59—65

Erster Abschnitt.

Methodologische Vorfragen. Jede geistesgeschichtliche Untersuchung birgt Gefahren in sich. Der Forscher betritt hier noch wenig gerodeten Urwald; ihn führen nicht, wie den »Historiker im engeren Sinne«, bequeme Wege sicherer und erprobter Forschungsmethoden zum gewünschten Ziele. Nicht faßbar und wägbar sind für ihn die Objekte, wie für den Naturforscher; nicht untrüglich erkennbar die aus bisheriger Unbekanntheit herausgeschälten historischen Tatsachen. Und doch ist das Bestreben nach einer möglichst exakten Erfassung großer ideengeschichtlicher Komplexe nicht etwa nur dem Verlangen einer überfeinerten und durch allzu große Anhäufung nackter Tatsachenreihen ermüdeten und nach Abwechslung suchenden greisenhaft gewordenen Geschichtswissenschaft entsprungen, sondern es ist gerade zum Verständnis und zur organischen Verbindung historischer Fakten eine unbestreitbare Notwendigkeit. Nicht um ein geistreiches Spiel mit Worten und Begriffen, um Übertragung von für die Geschichtsdisziplin ungeeigneten Forschungsmethoden handelt es sjch, sondern um die Durchdringung der historischen Materie mit historischem Geiste. Gleich zu Anfang erhebt sich da ein schwerwiegendes Problem: die Frage nach dem »prius«. Ist es der Geist, der sich den Körper b a u t , befruchtet die Idee die Materie oder schaffen die natürlichen Bedürfnisse den historischen Zustand, dem hernach dann eine theoretisierende, zusammenfassende Betrachtung und Lehre nur den Stempel aufzudrücken hat ? Jede bündige Entscheidung und Stellungnahme für oder wider ist hier als dogmatische Geschichtsbetrachtung, die eben keine Geschichtsbetrachtung ist, abzulehnen. Generalisieren führt hier nicht zum Ziel. Gesetze können hier nicht aufgestellt werden. Jeder neue UnterWolff.

1

2 suchungskomplex stellt den Historiker vor neue Fragen; zwingt ihn von neuem zur selbständigen Aufrollung des Problems. Ein sorgfältiges Abwägen aller im gegebenen Falle vorliegenden Tatsachen ergibt für jede Untersuchung eine besondere Antwort. Nur historischer Takt ist hier maßgebend. Es gibt Fälle, in denen man sich dafür wird entscheiden müssen, daß eine im Reich des Abstrakten geborene Anschauung oder Lehre befruchtend und tief umgestaltend auf die Zeitverhältnisse gewirkt h a t ; wie man umgekehrt wird erkennen können, daß eine Folge von Kausalreihen, die dem Auge zunächst nicht erkennbar waren und erst durch mühseliges, kritisches Arbeiten vom Schutte der falschen Vorstellungen freigelegt werden mußten, zusammengewirkt hat, um einer geschichtlichen Epoche die Struktur zu geben, die hernach in Lehrgebäuden der Wissenschaftler formuliert wurden und dann allerdings von nachhaltiger Bedeutung für die Zeitverhältnisse werden konnten. Ist nun der geistige Gehalt einer geschichtlichen Periode analysiert, so ergibt sich ein neues Problem, das gerade am wenigsten beachtet worden ist: ist die zeitliche Abgrenzung in Einklang zu bringen mit dem Inhalt des betreffenden Zeitraumes, und ist ferner nur der soeben erfaßte Inhalt auch wirklich ganz ausgedeutet; erschöpft sich in ihm alles Wesentliche seiner Epoche, saugt er alle Werte in sich auf, oder sind nicht auch neben ihm noch andere Charakteristika möglich und reicht seine Wirkungsmöglichkeit nicht auch noch in andere Zeitalter hinauf oder hinab ? Die verschiedenen Fragen bergen zugleich die Antwort in sich. Auch hier ist keine allgemein gültige Antwort möglich; jeder Zeitraum verlangt seine aus den nur ihm eigentümlichen Momenten herausgearbeitete Lösong. Wohl kann einer Zeitspanne eine Anschauung als die charakteristischste inne wohnen; aber niemals ist diese die einzige und niemals beschränkt sie sich zeitlich oder selbst räumlich auf jene Epoche, der sie den Namen gegeben hat. Durch diese Mannigfaltigkeit und fortwährende Verschiebungen der Basis ist in unsere Terminologie, die hiermit nicht hat Schritt halten können, eine begreifliche Verwirrung gekommen, die es außerordentlich erschwert, in den ohnehin schon schwierigen Fragen eine »communis opinio« zu erlangen. Je größer die Zeitspanne und je weiter die räumliche Ausdehnung einer Epoche ist, deren geistigen Gehalt man auf einen Nenner bringen will, um so stärker machen sich die soeben angedeuteten Schwierigkeiten bemerkbar. Der Mensch, der nun einmal d a s Element der Geschichte ist, hat einerseits von Natur angeborene Eigenschaften, die sich immer weiter vererben; zu diesen treten andererseits die zufällig

3 erworbenen, die von Süßeren Umständen — einer Unsumme von Kausalreihen — abhängigen Eigenschaften. Aus ihrer Spannung, dem gegenseitigen Verhältnis zueinander, der Durchdringung, Verschmelzung, dem Vorherrschen der einen oder Zurückdrängen der anderen Momente entsteht das unendlich mannigfaltige Bild des menschlichen Lebens, das wir — soweit es der Vergangenheit angehört — Geschichte nennen. Darum wird niemals eine geschichtliche Epoche ein absolut einheitliches Signum tragen können. Es sei — da auch biologische Momente in der Geschichte des Menschen mitsprechen — ausnahmsweise ein Vergleich aus der Naturgeschichte gestattet. Ebenso wie im Erdreich die geologischen Schichten nicht fein säuberlich auf einander gereiht sind, sondern in größter Mannigfaltigkeit im Gemengelager durcheinander wachsen, wobei selbstverständlich auch einer bestimmten Formation innerhalb eines bestimmten Raumes der überwiegende Einfluß vorbehalten sein mag, so vollzieht sich auch der Ablauf menschlicher Epochen und Zeitgeiste in gleicher durch Kausalität und Kontinuität bedingten Mannigfaltigkeit, deren Regellosigkeit dem einen Zufall oder Willkür scheinen, dem anderen noch nicht genügend erkannte oder mit menschlichen Sinnen nicht erkennbare Ursachen haben mag. Für die Geschichte des abendländischen Kulturkreises hat man sich seit über zweihundert Jahren an eine dreifache Teilung gewöhnt; man scheidet in Altertum, Mittelalter und Neuzeit 1 ). Rein äußerlich betrachtet, sind die Periodisierungen, die jüngst *) Vgl. meine Abhandlung: Wandlungen in den Anschauungen über das Reformationszeitalter (Korrespondenzblatt des Gesamtvereins... 1916, S. 55 —69) und Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, 5. u. 6. Aufl., Leipzig 1908, S. 70—84, daselbst auch die weitere Literatur. Ferner ist zu nennen Alfred Dove, Der Streit um das Mittelalter (Hist. Zeitschrift 116), 1916, S. 209—230; Georg v. Below, Die Ursachen der Reformation (Hist. Bibl. Bd. 38), 1917, S. 177, Anm., 1, Emil Göller, Die Periodisierung der Kirchengeschichte und die epochale Stellung des Mittelalters zwischen dem christlichen Altertum und der Neuzeit (Freiburg i. Br., Rektoratsrede, 1919) und Fritz Friedrich, Versuch über die Perioden der Ideengeschichte der Neuzeit und ihr Verhältnis zur Gegenwart (Hist. Zeitschr. 122 (1920) S. 1—43). — In schärfster Weise lehnt Oswald Spengler (Der Untergang des Abendlandes, Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte Bd. I, 6. Aufl., München- 1920, S. 20 ff.) das »unglaubwürdig dürftige und sinnlose Schema (Altertum-Mittelalter-Neuzeit)« ab, »dessen absolute Herrschaft über unser historisches Bewußtsein uns immer wieder gehindert hat, die eigentliche Bestimmung der kleinen Teilwelt, wie sie sich seit der deutschen Kaiserzeit auf dem Boden des westlichen 1*

4 als Übungen der Kindervernunft 8 ) bezeichnet worden sind, als Abgrenzung der Stoffmasgen annehmbar. Für das Verständnis jedoch der so auseinander geteilten Universalgeschichte ist dieser Brauch von höchst unglücklicher Wirkung gewesen. Mehr oder weniger willkürliche Einschnitte reißen eng zusammenhängende Kulturkomplexe auseinander. Am meisten ist dem Verständnis der dadurch zu Grenzgebieten gestempelten Epochen Abbruch getan worden. Es ist kaum möglich, eine der drei großen Perioden der Weltgeschichte des Abendlandes als eine absolute Größe zu betrachten; man wird sie stets in Relation zu einer Nachbarperiode setzen müssen. Bei Untersuchungen z. B. über spezifisch antike Vorstellungen wird ein Vergleich mit modernen oder mittelalterlichen Vorstellungen unvermeidlich sein. Eine Definition mittelalterlicher Staatsauffassung wird nicht zu geben sein ohne Heranziehung moderner oder antiker Staatslehren. Freilich eine solche Geschichtsbetrachtung ist nicht geeignet, die historische Erkenntnis zu fördern, wenn auch ihre Berechtigung und der positive praktische Nutzen nicht verkannt werden sollen. Nicht reine Erkenntnis, sondern politische oder ethische Werturteile sind das Ergebnis derartiger Betrachtungen. Schwerste Verstöße gegen historische Prinzipien sind hierbei zu vermerken. Vor allem ein Fehler ist anscheinend unausrottbar und hat grenzenlose Verwirrung angerichtet. Nämlich die Übertragung von Gegenwartsfragen und -Interessen auf vergangene Zeiten; die Rückprojizierung vom Standpunkte des Beschauers geltender Zustände und Begriffe auf weit zurückliegende Perioden, in denen derartige Momente jedoch gar nicht gesucht werden dürfen. So haben z. B. die großen neuen Zeitmerkmale des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts: Nationalismus und Sozialismus die Geschichtsforschung aufs nachhaltigste beeinflußt; überall suchte und »fand« man im Altertum und im Mittelalter Parallelerscheinungen zu den Tagesfragen, erblickte man angebliche Spiegelbilder der Gegenwart. Es sei nur auf die Beurteilung des BauernEuropa entfaltet hat, in ihrem Verhältnis zur Weltgeschichte -r zur Gesamtgeschichte des höheren Menschentums also — nach ihrem Range, ihrer Gestalt, ihrer Lebensdauer vor allem richtig aufzufassen«. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Spenglers, die den Versuch unternimmt, »Geschichte vorauszubestimmen« (I), scheint mir in diesem Zusammenhange, noch dazu in einer Anmerkung, nicht am Platze. Vgl. über ihn die eindringliche Kritik Troeltschs in Hist. Zeitschr. 120, 1919, S. 281 ff. 8 ) Richard Fester, Die Säkularisation der Historie (Hist. Vierteljahrschr. X I , 1908, S. 443).

5 krieges oder auf die berühmte Sybei-Ficker-Kontroverse über die mittelalterliche Kaisergeschichte hingewiesen. Man erkannte, was man suchte; aber man verkannte vielfach, was war. Es ist nötig, die historische Binsenwahrheit immer wieder zu wiederholen, daß man zur Erforschung historischer Tatsachen und Ideen vom Standpunkte des Beschauers möglichst vollständig abstrahieren muß und nur den selbständigen immanenten Eigenwert des Objektes gelten lassen darf. Freilich darf man nicht so formalistisch sein wollen und dabei nur Terminologie und Begriffe der zu erforschenden Periode gebrauchen, um sie uns dadurch verständlich zu machen. Einige zusammengeraffte Lesefrüchte aus Piaton, Aristoteles und den Stoikern machen dem modernen Menschen noch nicht den Geist der Antike verständlich; ein modernes Gewand für die alte Figur muß gefunden werden. Man käme auch schon deshalb mit jener formalistischen Methode nicht zum Ziele, weil in einer bestimmten Periode der Vergangenheit die Menschen nicht die Ausdrucks- und Denkformen besessen haben, die den Charakter ihrer Zeit verständlich machen könnten; weil ferner — und das'ist das wichtigste — ihnen ihre Eigenart gar nicht zum Bewußtsein kommen konnte, selbst zu einer Zeit, wo sie in stärkster Blüte und Entfaltung war. Erst wenn sie sich abhebt von einer anderen, neuen Anschauung, mag sie den Menschen jener alten Art zum Bewußtsein kommen, also erst zu einer Zeit der Auflösung einer Geschichtsperiode.

Zweiter Abschnitt.

Aufriß der „mittelalterlichen" Weltanschauung. Alle bisher angedeuteten methodologischen Probleme und Schwierigkeiten treten in Erscheinung bei einer geistesgeschichtlichen Untersuchung des » M i t t e l a l t e r s « . Die Geschichte der romanisch-germanischen Christenheit, die in dem Jahrtausend von 500—1500 sich abspielt, pflegt man Mittelalter zu bezeichnen. Es ist eine Ungeheuerlichkeit, das gewaltige, unendlich vielgestaltige und entwicklungsreiche Geschehen dieses großen Zeitraumes einheitlich bewerten zu wollen; als ob die Zeit nach dem Hinsinken des west-römischen Imperiums bis zu den Tagen Martin Luthers und Karls V. so entwicklungsarm gewesen wäre und so grundverschieden von ihrem Vorgänger und

6 Nachfolger, daß sie inhaltlich ein streng abgesondertes Ganzes bilden könnte. Faßt man die Geschichte nur auf als den Ablauf von Geschehnissen und Tatsachen, so wird man das Mittelalter a'ls die Alleinherrschaft der katholischen Papstkirche definieren können, in der die jungen germanischen Völker den überlegenen Kulturgehalt der romanischen Völker in sich aufnahmen. In der Spannung zwischen germanischer und romanischer Art wird mehrfach der Wesenskern des Mittelalters erblickt. Diese Definition ist eine rein äußerliche und umschreibt nur den Tatsachenstoff jenes Jahrtausends 1 ). Erblickt man in der Geschichte jedoch nicht nur die Masse des äußeren Geschehens im Völkerleben, sondern sucht in ihr vergangenes Leben zu ergründen, die Entwicklung und Wandlung des Denkens der Menschen zu beobachten, kurzum, stellt man sich auf den universalgeschichtlichen, den kulturphilosophischen Standpunkt, dann wird alle Periodisi.erung hinfällig, dann scheitert jede Definition an zwei Unmöglichkeiten. Einmal ist es unmöglich, spezifisch mittelalterlichen Geist nur im Mittelalter, d. h. von 500—1500 nach Christi Geburt zu suchen; andererseits ist jene Epoche nicht restlos ausgefüllt durch einen nur mittelalterlichen Menschen. Antike Vorstellungen werden niemals unterdrückt und finden nicht erst in der sogenannten Renaissance ihre plötzliche Auferstehung, genau so ist der »moderne« Mensch tief im Mittelalter zu finden, und schließlich sind nicht nur Reste, sondern sehr bedeutende Wesensmerkmale mittelalterlicher Kultur in unseren Tagen noch wirksam. l ) So etwa bei Albert Erhard, Das Mittelalter und seine kirchliche Entwicklung (Mainz u. München 1908) und bei Reinhold Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte III u. IV, 1,. 2. u. 3. Aufl., Leipzig 1915 u. 1917. Daß gegen diese anerkannten Werke hiermit keine Kritik zum Ausdruck gebracht werden soll, versteht sich von selbst. Die Wirkung namentlich bei Seeberg ist jedoch die, daß der nationale Impuls der neuesten Zeit zu stark zurückverfolgt wird in Zeiten, wo er schlechterdings noch keine Daseinsberechtigung hatte. Ganz besonders anfechtbar ist das konstruktive Betonen der nationalen Idee im germanischen Volkstum des Mittelalters bei Arnold E. Berger, Die Kulturaufgaben der Reformation, % Aufl., Berlin 1908. — Vgl. hierzu im allgemeinen die trefflichen Bemerkungen bei Andreas Walther, Die deutsche Frage im Ausgang des Mittelalters (Preuß. Jahrb. Bd. 152, 1913, S. 109—116), ferner die vorzüglichen Ausführungen von Peter Rassow, Luthers deutsche Kraft (Preuß. Jahrb. Bd. 174, 1918, S. 306 bis 319) und die neuerdings von Karl Albrecht Bernouilli herausgegebenen Nachlaßbemerkungen von Franz Overbeck, Christentum und Kultur (Basel 1919, S. 113 f.).

7 Man hat deshalb mit Recht eine Scheidung in »begriffliches« und »zeitliches « Mittelalter vorgeschlagen 1 ), und nur von ersterem, das den Wesenskern mittelalterlicher Weltanschauung behandelt, soll hier die Rede sein. Im Gegensatz zur Neuzeit und dem modernen Geiste kann man nun tatsächlich von einer einheitlichen mittelalterlichen Kultur reden: nämlich von der Kultur der katholischen Kirche. Sowohl die katholische Kirche als auch die katholische Kultur, deren grandiose Einheitlichkeit unerreicht geblieben ist, sind geschichtliche Produkte, nur sehr allmählich entstanden und aus sehr heterogenen Elementen zusammengesetzt. »Katholizismus ist Synkretismus«. »Alle Religionen des Mittelmeerbeckens haben Bausteine zu diesem gewaltigen Dom herbeigetragen; die ägyptische und syrische, die jüdische und kleinasiatische, die hellenistische und römische und später auch die germanische 2 )«. Erst im Mittelalter (d. h. im zeitlichen) ist diese Religion im Abendlande abgeschlossen worden; erst im hohen Mittelalter ist die katholische Kirche mit ihrer alles umfassenden Organisation der päpstlichen Hierarchie vollendet worden. Erst vom hohen Mittelalter an, zu einer Zeit, als bereits Zersetzungserscheinungen der päpstlichen Allmacht zu erkennen waren, ist der mittelalterliche (oder wie jetzt häufiger gesagt wird: der »gotische3)«) Mensch, ist die wirkliche mittelalterliche Weltanschauung zu voller Durchbildung gelangt und sie bleibt auch noch weiter bestehen zu einer Zeit, wo längst das sogenannte zeitliche Mittelalter zu existieren aufgehört hatte. Erst von den Tagen Thomas von Aquino's an beherrschte das abstrakte — jedoch aus den Realitäten geschöpfte — Lehrgebäude des Katholizismus das mittelalterliche Denken und gab auch dem sehr realen Handeln der Stellvertreter Christi auf Erden die Richtschnur. Die mittelalterliche Weltanschauung findet ihren kongenialen Ausdruck in der christlichen Einheitskultur. Diese Kultur beruht »auf dem Glauben an eine absolute und unmittelbare göttliche Offenbarung und auf der Organisation dieser Offenbarung in der Erlösungs- und Erziehungsanstalt der Kirche 4 )«. *) Fritz Kerfi, Recht und Verfassung im Mittelalter (Hist. Zeitschrift Bd. 120, 1919, S. 76 ff.). 2 ) Friedrich Heiler, Luthers religionsgeschichtliche Bedeutung (München 1918), S. 7 u. 6. . 3 ) Ernst Troeltsch, Humanismus und Nationalismus in unserem Bildungswesen, Berlin 1917, S. 27; vgl. dazu Georg v. Below a. a. O. S. 177, Anm. 1, und neuerdings Hans Preuß, Luther und der gotische Mensch, Leipzig 1919. 4 ) Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (Hist. Zeitschr. Bd. 97, 1906, S. 5

8 Das schöpferische Prinzip, das alles Denken und Fühlen des mittelalterlichen Menschen reguliert, ist das Prinzip der Einheit. Eine innige Verschmelzung von Vielheit und Einheit im göttlichen All. Das Verhältnis von Makrokosmus zu Mikrokosmus durchzieht die ganze Schöpfung. Die in dem Makrokosmus, d. i. dem Weltganzen waltende göttliche Schöpfungskraft wirkt in gleichem Maße in einem Teil des Ganzen, in dem Mikrokosmus. Von dem Ganzen gehen die Wirkungen auf das einzelne, auf das Individuum, von diesem zum Ganzen zurück. »Der Gegensatz zwischen dem (auch separat); 2. Aufl. in Hist. Bibl. Bd. 24, 1911, S.9). - Daß ich in diesem Abschnitte über die Weltanschauung des abendländischen mittelalterlichen Menschen zwar versuche, das Problem selbständig durchzudenken, aber nicht auf eigenen Quellenforschungen fuße, wird jedem einleuchten und verständlich sein, wenn er an die Arbeiten der Forscher, wie Gierke und Bernheim, der Kulturphilosophen, wie Dilthey und Troeltsch erinnert wird. Auch ich möchte — gegen einen etwaigen Vorwurf mangelnder Selbständigkeit und Wissenschaftlichkeit — mir die Bemerkungen Kurt Wolzendorffs in seinem trefflichen Buche: Staats- und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, 126. Heft), Breslau 1916, S. 23, Anm. 1, bezüglich seiner Abhängigkeit von Gierke unter Hineinbeziehung obengenannter Autoren zu eigen machen. Daß ich neben diesen die wissenschaftlichen Ergebnisse aus den geschichtlichen und philosophiegeschichtlichen Gesamtdarstellungen, den kirchengeschichtlichen, dogmengeschichtlichen und kirchenrechtlichen Hand- und Lehrbüchern und Enzyklopädien mit großem Nutzen zu Rate gezogen habe, bedarf wohl kaum einer besonderen Erwähnung; von einer Aufzählung der Literatur im einzelnen glaube ich jedoch Abstand nehmen zu dürfen. — Von den Schriften Otto v. Gierkes sind zu nennen: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3, S. 106 ff. u. 502 ff., sowie Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 3. Ausg., Breslau 1913; von Ernst Bernheim, Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik und Geschichtschreibung, Bd. I, Tübingen 1918; von Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Bd. I, Leipzig 1883, S. 381 — 446, und seine berühmten Abhandlungen zur Geistesgeschichte, die jetzt in Bd. 2 seiner gesammelten Schriften (Leipzig u. Berlin 1914) vereinigt sind. Von Ernst Troeltsch seien in diesem Zusammenhang außer der eingangs dieser Anmerkung erwähnten Schrift nur genannt: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Geschichte der christlichen Religion (Die Kultur der Gegenwart T. I, Abt. IV, 1), 2. Aufl., 1909, S. 431 — 792; ferner das Hauptwerk: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften Bd. I), Tübingen 1912; Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht (Hist. Zeitschr. Bd. 106, 1911, S. 237 — 267); christliches Naturrecht in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart Bd. IV, 1913,

9 Endlichen u n d Unendlichen scheint w a h r h a f t i g bewältigt zu sein 1 )«. Das Prinzip dieser Einheit ist G o t t . Von ihm geht alles a u s , zu ihm s t e h t alles in Beziehung. Das Weltbild ist ebenso, wie in der A n t i k e , geozentrisch und in einer dreifachen Stufenfolge g e d a c h t . Himmel, E r d e u n d Hölle sind die drei Schichten des Kosmos, von denen die E r d e , u m welche sich alles d r e h t , den zentralen Platz einnimmt. Infolge des — man k ö n n t e beinahe sagen —• panentheistischen Gottesbegriffes war die W i s s e n s c h a f t und das Denken des mittelalterlichen Menschen nicht auf E r k e n n e n der Dinge gerichtet, sondern klang aus in dem Bekennen des göttlichen Schöpfers. Sp. 697 — 704. Andere Schriften werden später erwähnt. Meine Stellungnahme zu Troeltsch ist bereits kurz in meiner Abhandlung: Wandlungen in den Anschauungen usw., a. a. O. S. 67 ff. angedeutet; die vorliegende Untersuchung wird noeh genug Gelegenheit bieten, den Einfluß der Troeltschschen Lehren auf meine Auffassungen über Luther klarzulegen. Gelegentlich allzueifrigen Kritikern an Troeltschs epochemachenden Untersuchungen möchte ich die Bemerkung entgegenhalten, daß bei einem so systematisch schaffenden Geiste, wie Troeltsch, es wirklich nicht darauf ankommt, ihn auf Irrtümer in Einzelheiten oder gelegentliche Übertreibungen festnageln zu wollen. Troeltsch hat derartige Irrtümer in neuen Auflagen oder späteren Abhandlungen stets beseitigt bzw. durch neue Beleuchtung desselben Gegenstandes gewisse, zuerst notwendige Einseitigkeiten korrigiert. Die glänzende Auseinandersetzung Adolf Harnacks: Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. III, 4. Aufl., Tübingen 1910, S. 690 ff., mit Troeltsch zeigt, daß die Gegensätze wirklich nicht unüberbrückbar sind. Daß Troeltsch jeden Geisteshistoriker und Reformationshistoriker im besonderen gezwungen hat, aus bisheriger Einseitigkeit heraus zu gehen und die letzten Probleme von neuem aufzurollen und durchzudenken und daß er den zu behandelnden Objekten einen bescheideneren, aber um so zutreffenderen Platz in der Weltgeschichte — eben weil seine Betrachtung nicht dogmatisch und konfessionell gebunden, sondern universalgeschichtlich ist — angewiesen hat, darin liegt der bleibende Wert seiner Werke, dem auf die Dauer sich kein Forscher entziehen kann. Besondere Dienste leisteten für die Untersuchung über mittelalterliche Weltanschauung noch die Schriften von Karl Rieker, Die rechtliche Stellung der evangelischen Kirche Deutschlands, Leipzig 1893, Kap. I; Fritz Kern, Humana Civilitas (Staat, Kirche und Kultur), Eine Dante-Untersuchung (Mittelalterliche Studien I, 1, Leipzig 1913); Alfred v. Martin, Mittelalterliche Welt- und Lebensanschauung im Spiegel der Schriften Coluccio Salutatis (Hist. Bibl. Bd. 33, 1913) und die Besprechung Kerns von dieser Schrift in Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Bd. 12, 1914, S. 612 ff. *) Ernst Cassirer, Freiheit und Form, Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1917, S. 12.

10 Übersinnliche Metaphysik, Spekulation und Offenbarungsglaube, theologische Transzendenz normierten das menschliche Denken. Durch die Hineintragung des Sündenbegriffes in die überweltlich-übersinnliche Sphäre kam jener dem mittelalterlichen Empfinden ganz eigentümliche und ihn scharf von Antike und Moderne abgrenzende Zug der Weltflucht und Jenseitigkeit, der Askese und des Supranaturalismus. Der Augustinische Sündenpessimismus hat wahrhaft revolutionierend die soziologische Struktur der abendländischen Welt weit über ein Jahrtausend gebildet und beherrscht. Hier kann man die überwältigende Macht, die eine Idee in der Menschheitsgeschichte auszuüben vermag, erkennen. Freilich andere Wesensmerkmale der mittelalterlichen Kultur sind entstanden durch Anpassung an die realen Verhältnisse, an das historisch Gegebene. Die katholische Einheitskultur ist das Produkt zweier grundverschiedener historischer Komplexe. Es ist einmal das biblischprophetische Lebensideal des enthusiastischen Urchristentums, die nur die auf die Lebensbedingungen des Orients zugeschnittene Gesellschaftslehre des biblischen Kanons, die völlig unwirkliche Sozialethik der Bergpredigt und die ebenso staats- und weltfremde Lebensgemeinschaft der ersten Anhänger Christi. Auf der anderen Seite steht die gewaltige Organisation des römischen Imperiums, die vollendetste Ausprägung antiker Staats- und Rechtsschöpfung. Aus der Auffrischung des hohl- und kraftlos gewordenen Riesenorganismus des römischen Weltreiches mit dem jugendfrischen Blute neuer schöpferischer religiöser Gedanken, aus der Verschmelzung zweier so entgegengesetzter Elemente zu einer — wenn auch nur relativen Einheit — ist ein in seiner äußeren lapidaren Einheitlichkeit in der Weltgeschichte unübertroffener Bau entstanden. Freilich durchzog infolge der Vereinigung zweier so verschiedener Prinzipien von Anfang an ein tiefgehender Dualismus die neue christliche Epoche und erzeugte schmerzliche Antinomien; aber der vollzogene Kompromiß vermochte doch so meisterlich widerstrebende Ideen und Kräfte umzubiegen, daß die jugendkräftigen primitiven Barbarenvölker des germanischen Nordens mit gleicher Willfährigkeit sich dem religiösen Zwange der neuen Lehre beugten, wie die kulturübersättigten Völker des Mittelmeerbeckens. Die Einheitlichkeit der einen und alleinigen, d. i. der katholischen Lehre und Kultur überbrückte stets alle natürlichen Gegensätze. Das christlich-religiöse Motiv blieb stets das stärkere. Der Gegensatz der beiden historischen Elemente der kirchlichen Einheitskultur, entstanden aus den Verschiedenheiten des prophetisch-biblischen und des antiken Grundcharakters, ist zu

11 einem sich durch die ganze abendländische Geschichte ziehenden Urgegensatz geworden. Es ist der Gegensatz von Offenbarung und Vernunft, von Glauben und Erkennen, von Metaphysik und Erkenntnistheorie. Eine Synthese ist auch der mittelalterlichen Weltanschauung nicht gelungen. Das religiöse Motiv ist das Grundmotiv geblieben, wenn es auch die entgegengesetzten Grundstimmungen zwar unterdrückt aber niemals vernichtet hat. • Das Gefühl der Allgegenwärtigkeit Gottes gab der mittelalterlichen Geistesart das eigentümliche Gepräge. Die Wissenschaft wurde von ihm beherrscht. Die Theologie wurde d i e Wissenschaft des Mittelalters. Alle anderen Wissensgebiete hatten nur Daseinsberechtigung, soweit sie der theologischen Endabsicht : dem Dienen Gottes huldigten. Die Folge hiervon war eine Verkümmerung des individualistischen Triebes im Menschen, eine ungeheure Stärkung des autoritativen gottergebenen Gehorsamgefühls, eine dem antiken und modernen Menschen völlig fremde Typisierung und Schematisierung des unfrei gewordenen und nicht autonomen Denkens. Daß diese neuartige Weltanschauung sich in der abstrakten .Sphäre des Geistes ziemlich rein durchsetzen konnte, war leichter möglich als die Durchdringung der Welt des Tatsächlichen. Auch hier, wo es darauf ankam, soziologisch zu wirken, siegt das überweltlich-übersinnliche Prinzip, aber nur infolge eines sehr starken Kompromisses mit dem Natürlich-Gegebenen. Die unauslöschlichen Menschheitsgegensätze bleiben bestehen, sie werden nur zurechtgebogen zur Einheit in Gott. Von hier aus ist zu verstehen, daß man das Geheimnis der mittelalterlichen Weltgeschichte zu erblicken vermochte in der Synthese von weltverneinender Askese und weltbeherrschender Hierarchie der Papstkirche 1 ). Augustin, der angesichts des Zusammenbruchs der alten Welt lebte und wirkte, galt im allgemeinen bisher als der Schöpfer einer mittelalterlichen Weltanschauung. Seine »civitas dei« ist das meistgelesene Buch des Mittelalters geworden. E r ist der Schöpfer einer grandiosen Kulturethik gewesen; aber er ist, wie treffend nachgewiesen ist 2 ), nicht als Begründer der mittelalterlichen ' *) Heinrich v. Eicken, Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung, Stuttgart 1887 (3. unveränderte Aufl., 1917). Auf Grund der Beanstandungen dieses Werkes durch Hertling und Troeltsch baut von Martin den allgemeinen Teil seiner S. 9, Anm. genannten Schrift auf. Trotz der berechtigten Kritik ist das Eickensche Werk noch immer unentbehrlich. a ) Ernst Troeltsch, Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter im Anschluß an die Schrift »De Civitate Dei« (Hist. Bibl. Bd. 36, 1915).

12 Sozialethik, sondern als E x p o n e n t der christlichen Antike zu w e r t e n . Er h a t die a n t i k e Philosophie und K u l t u r d u r c h t r ä n k t mit christlich-spiritualistischem Geiste. Trotzdem k a n n nicht geleugnet werden 1 ), daß die W i r k u n g seiner Schriften, in Sonderheit seiner »civitas dei« eine so gewaltige war, daß alle K u l t u r f a k t o r e n des Mittelalters irgend eine A n k n ü p f u n g an den Augustinismus f a n d e n . Nicht der I n h a l t seiner Schriften, sondern die Umbiegung durch spätere Meister m a c h t e n ihn zum Präzeptor der christlich-abendländischen K u l t u r . Spezifisch mittelalterliche Begriffe, wie Kirche und Imperium, sind ihm f r e m d ; aber sind trotzdem ohne Anlehnung an seine W e l t a n s c h a u u n g nicht möglich geworden. Die Weltverneinung, die a b g r u n d t i e f e Verachtung alles Irdischen ist von ihm aus zu verstehen. Der Gegensatz von »civitas dei« u n d »civitas terrena« oder »diaboli« b r a u c h t nicht schlechthin Gottes»staat« u n d Teufels»staat« zu bedeuten, aber der S c h w e r p u n k t bei Beurteilung der Lebensverhältnisse wird doch stets auf die durch die E r b s ü n d e v e r d e r b t e Menschheit, zu der im Gegensatz das göttliche Jenseits steht, gelegt. Das erstrebenswerteste Ziel ist, in den Zustand der »pax«, des höchsten Gutes, der vollendeten Harmonie in Gott zu gelangen. Doch da die Menschen durch S a t a n in »superbia«, in den s ü n d h a f t e n Zus t a n d der Abkehr von Gott verstrickt sind, e n t s t e h t das Hoffen der wirklich Guten auf das Jenseits oder auf die E r f ü l l u n g des paradiesischen Zustandes auf E r d e n , der w a h r h a f t e n Theokratie auf E r d e n . Augustin, Thomas von Aquino, Dante, Nicolaus von Cusa, L u t h e r u n d Calvin: der Afrikaner, Italiener, Deutsche und Franzose in mehr als t a u s e n d J a h r e n h a b e n hier ihre gemeinsame Quelle f ü r zentrale Momente ihrer L e h r e n ! Von hier aus ist auch die merkwürdigste und sehr wichtige Erscheinung des Mittelalters: die Askese u n d das Mönchtum zu verstehen. Die entschiedenen, kompromißlosen Christen entflohen schon auf E r d e n den Sünden der Welt u n d suchten •— entweder als Anachoreten, wie in ältester Zeit, oder in klösterlicher Gemeinschaft als Mönche •— durch Abkehr von irdischer u n d menschlicher K u l t u r zur reinen Vollkommenheit bei ständigem Verkehr ihrer Seele m i t Gott im Gebet zu gelangen. • Die eschatologisch-chiliastischen Vorstellungen des Mittelalters, die gerade in der Masse zu gewissen Zeiten im Mittelalter besonders lebendig waren, haben, wenn auch nicht ihre E n t s t e h u n g , so doch ihre eigentümliche P r ä g u n g der tief in die D e n k u n g s a r t des mittelalterlichen Menschen eingeimpften, pessimistischen und welt') Gegen Troeltsch: Bernheini a. a. O. S. 10 und öfter.

13 verneinenden Grundstimmung zu verdanken. Antichrist und Friedenskaiser sind die gebräuchlichsten Ausmünzungen dieser theokratischen Idee geworden. Doch können »vita contemplativa« und »vita speculativa«, so sehr ihnen von dem wahrhaft Gläubigen der Vorzug vor der »vita activa«, dem werktätigen Leben gegeben wurde, nicht zur Norm für die Menschheit werden; darum ist die Sozialgeschichte des Mittelalters nicht auf dem nur negierenden, weltflüchtigen Prinzip der Askese aufgebaut, sondern sie ist erwachsen aus einem außerordentlich biegsamen Kompromiß zwischen der »lex evangelii« und der »lex naturae«. Man half sich theoretisch damit, daß man beide aus der »lex dei« herleitete und die »lex naturae« als vor dem Sündenfall ebenfalls göttlichen Ursprungs betrachtete. In dem ewigen Kampf zwischen Ideal- und Naturgesetzen wurde in der mittelalterlichen Gesellschaftslehre letzteren die Daseinsberechtigung nicht abgesprochen, sie wurden nur filtriert mit der religiösen Metaphysik der christlichen Lehre. Irrtümlich ist die Vorstellung, als ob der mittelalterlichen Welt das Naturrecht fremd gewesen sei, als ob durch das Aufkommen der natürlichen Weltordnung im siebzehnten Jahrhundert ein völlig neues, das Mittelalter endgültig ablösendes Geistessystem entstanden sei 1 ). Gerade erst durch die Anknüpfung an die antike, an die römische Stoa, an Cicero und Seneca wurde das Christentum fähig, soziologisch zu gestalten und aufzubauen. Unter Verwerfung eines absoluten Naturrechtes half man sich im christlichen Mittelalter durch Relativierung desselben. In der Ethik der Scholastik, vor allem des hl. Thomas ist — unter Ablehnung des noch Augustin beherrschenden Spiritualismus Piatons — in Verbindung mit der neuerstandenen aristotelischen Metaphysik die christliche Soziallehre des Mittelalters vollendet. Das moderne Naturrecht unterscheidet sich von dem mittelalterlichen durch die Loslösung von dem soteriologischsupranaturalistischen Prinzip, durch eine Verweltlichung und Diesseitsstimmung. Es ist nur eine Verschiebung der Akzente; freilich ist die Wirkung eine so gewaltige, daß dadurch eine neue Weltanschauung entstanden ist. Ganz ähnlich vollzog sich der Kompromiß zwischen Idealund Naturgesetzen in der eigentlichen Entwicklungsgeschichte des 1 ) Hiergegen der Das stoisch-christliche Rel. in Gesch. u. Ggw. in Realenzyklopädie f. S. 2 2 5 - 2 4 1 .

wahrhaft erleuchtende Aufsatz von Troeltsch, Naturrecht usw.; sein Artikel »Naturrecht« in IV, 697 ff. und sein großer Artikel »Aufklärung« protest. Theol. u. Kirche Bd. II, 3. Aufl., 1897,

14 zeitlichen abendländischen Mittelalters: in der Geschichte des katholischen Kirchentums. Von fundamentaler Bedeutung für die ganze mittelalterliche Geschichte ist die Heilige Schrift, insonderheit das Neue Testament geworden. Bereits in den Herrenworten und in der Paulinischen Lehre, wie sie in der neutestamentlichen Überlieferung vorliegen, sind die Wurzeln des gesamtchristlichen Kirchenbegriffes zu finden. Bereits hier auch beginnen die Antinomien der übersinnlichen Transzendenz und der Welt der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen. Schon das christologische Dogma der Zweinatur Jesu, das Wirken Jesu als Menschensohn und Gottessohn, ist ein Charakteristikum für den Urgegensatz zwischen Ideal- und Naturgesetzen. Jesus steigerte durch seine Predigten die israelitisch-jüdische Hoffnung auf das Reich Gottes, die ßaoifeia xwv ovQavoiv; das Reich Gottes, von dem auch Johannes in der Wüste predigte, war nahe; von diesem himmlischen Reiche wurde das Heil erwartet, die Erlösung. Und andererseits wieder erklärte Jesus, der in seinen Predigten das Reich Gottes stets mit irdisch-menschlichen Mitteln vorstellte, daß durch ihn das Reich Gottes gekommen sei, daß er der Messias, der Gesalbte des Herrn, der Christus sei. Christus war kein Kirchenstifter, wie es die offizielle katholische Kirche lehrt, und doch ist sein Wirken kirchenbildend geworden. Seine Schüler und Anhänger, die in ihm den Messias verehrten und nach seinem Tode auf seine Wiederkehr warteten, nannten sich die htxkrpia Israels, die Gottesgemeinde, d. i. die von Gott Gerufenen. Von hier aus vollzieht sich aus der Sphäre des rein Geistigen der Übergang zu einer rechtlichen Verbandseinheit, zur Kirche als Anstalt. Am folgenreichsten für die der christlich-mittelalterlichen Weltanschauung eigentümliche Übertragung übersinnlicher Elemente auf rechtlich-weltliche Institutionen und Organisationen wurde die Paulinische Vorstellung von der christlichen Gemeinde. Christus ist das Haupt der Gemeinde, die Mitglieder derselben sind die einzelnen Glieder dieses »Leibes«. Die Gemeinde ist also der von Christi Geist beseelte Organismus, t/uela di ¿are oaifta Xqiacov schreibt Paulus den Korinthern I, 12 v. 271). Diese Vorstellung von dem »corpus mysticum« Wurde für den mittelalterlichen Kirchenbegriff von zentraler Bedeutung. Aüch die *) Vgl. dazu ebenda v. 4—6, 12 ff. und Röm. 12, 4—6. Vgl. die soeben erschienene Untersuchung von Traugott Schmidt, Der Leib Christi (aoüfta XQIOTOV), Eine Untersuchung zum urchristlichen Gemeindegedanken, Leipzig 1919, S. 97.

15 der mittelalterlichen Denkungs- und Anschauungsweise besonders nahe liegende anthropomorphe Ausspinnung von der Kirche (also einer ursprünglich rein geistigen Institution) als eines lebendigen menschlichen Organismus ist bereits bei Paulus zu finden. Auch die Katholizität und Universalität der Gemeinde ist von Paulus schon behauptet und gefordert: »Ein Leib und Ein Geist, wie ihr auch berufen seid, auf einerlei Hoffnung eures Berufes. Ein Herr, Ein Glaube, Eine Taufe, Ein Gott und Vater unser aller, der da ist über euch allen und durch euch alle und in euch allen 1 ).« Je weiter sich die Anhängerschaft zeitlich von ihrem Haupte Christus entfernte, je größer die Zahl der Verehrer und je verzweigter die einzelnen Gemeinden wurden, um so selbstverständlicher, ja innerlich notwendiger wurde die Schaffung einer realen, rechtlichen Institution und Organisation; die Kirche wurde eine Anstalt. Die bisher gewonnenen Merkmale einer inneren, rein geistigen, in der Idee begründeten Gemeinde wurden übertragen auf die äußere Institution der Kirche. Die geglaubte Kirche ging auf in der verfaßten Kirche. Das Haupt dieser Kirche, Christus, ist unsichtbar, die Kirche selbst ist sichtbar; sie ist die mit den Sakramenten versehene, göttliche, zu Heils- und Gnadenzwecken gestiftete christliche Anstalt. Analog dem Zusammenleben Jesu mit seinen Jüngern wurden allmählich die Gemeinden von Bischöfen in monarchischer Weise geleitet. Entsprechend der zentralen Bedeutung Roms als Reichshauptstadt genoß auch der Bischof der dort ansässigen christlichen Gemeinde hervorragende Bedeutung. Er wurde zum ersten Bischof der Christenheit, zum Papst. Auch die geistigen Wurzeln des Papsttums liegen im Neuen Testament. Aus den zwei berühmten und vielumstrittenen Herrenworten (Matth. 16, 18 f. und Joh. 21, 15 ff.): »Du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und will dir des Himmelreiches Schlüssel geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein« und dem dreimaligen Befehl Christi an Petrus: »Weide meine Lämmer«, leitete das Papsttum theoretisch seine Existenzberechtigung und seine Universaltheokratie ab. Im großen und kleinen, innerhalb der sich immer fester organisierenden und der straffen rechtlichen Struktur des römischen Weltreiches sich bedienenden, nunmehr zur Staatskirche gewordenen christlichen Kirche vollziehen sich die schon öfters betonten Filtrationen übersinnlicher Vorstellungen in reale Körper. 1

) Ephes. 4,4 — 6; vgl. dazu ebenda 1, 22.

16 Aus dem Mattfaäuswort wird für den Papst, als den Nachfolger Petris auf dem Bischofstuhl in Rom, das Amt des »vicarius Christi«, des Stellvertreters Christi auf Erden hergeleitet. Ebenno wie Christus seiner Zweinatureneigenschaft entsprechend Mittler zwischen Gott und den Mensehen ist, wird ein Mittleramt zwischen Gott und den Christen in dem göttlichen Amte des Priesters geschaffen. Es ist nicht die Aufgabe dieser Schrift, eine Entwicklung des Papsttums und seiner priesterlichen Hierarchie zu geben. Nur die spezifisch mittelalterlichen Kulturelemente in ihnen sollen herausgeschält werden, soweit sie für das Verständnis der mittelalterlichen Weltanschauung wesentlich sind. Ideen und reale Mächte durchdringen sich in ihr und formen allmählich zu harmonischer Einheit die mittelalterliche Kultur des soteriologischen Supranaturalismus. Aus diesem Kulturelement ist die abendländische Geschichte zu verstehen. Von ihm gehen alle ihre Probleme aus; so auch eines der allerwichtigsten: die mittelalterliche Staatslehre und die mittelalterliche Staatsentwicklung, die sich widerspiegeln im Kampf zwischen »regnum« und »sacerdotium« 1 ). Die Auseinandersetzung der beiden Imperialismen des Mittelalters: des Kaisertums und des Papsttums ist der Inbegriff mittelalterlicher politischer Geschichte; daß er mit dem Siege der papalen Macht endete, ist nicht in letzter Linie der weltgeschichtlich-wirkenden Kraft der Idee zuzuschreiben. Dieser Kampf ist in hohem Maße auch ein geistiger gewesen, man kann ihm mit gutem Grunde eine zentrale Bedeutung in der Geistesgeschichte des Mittelalters einräumen. Freilich darf er nicht so verstanden werden, als ob er ein Kampf zweier verschiedener Weltanschauungen, zweier entgegengesetzter Prinzipien gewesen wäre. Die allumfassende Einheit der göttlichen Weltordnung bleibt stets oberster unantastbarer Grundsatz. Selbst Friedrich II. und der Verfasser des »defensor pacis«, Marsilius von Padua, weichen nicht von diesem Grundsatze ab; ebenso wenig wie selbst Gregor VII. — trotz seiner bekannten Auslegung der' Augustinischen »civitas terrena« : des Staates als des Teufels Werk — oder andere extrem l

) Neben den in S. 8 Anm. genannten Schriften von Gierke, Bernheim und Rieker geben alle profan- und kirchengeschichtlichen Darstellungen jener Zeit den nötigen Aufschluß. In gedrängter Kürze sind besonders unterrichtend: Albert Hauck, Der Gedanke der päpstlichen Weltherrschaft bis auf Bonifaz VIII., Leipziger Universitätsschrift 1904, und Albert Werminghoff, Verfassungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittelalter (Grundriß der Geschichtswissenschaft II, 6), II. Aufl., 1913, S. 3 9 - 4 8 .

17 kurialistische Theoretiker und Publizisten den göttlichen Urspi ung und den göttlichen Zweck des Staates leugnen. »In eadem civitate sub uno rege duo populi sunt, et secundum duos populos duae vitae, duo principatus, duplex jurisdictionis ordo procedit 1 ).« Aller Kampf und Streit wird immer »ad unum reducitur«. Und dieses Eine bleibt stets die göttliche Weltordnung. Theoretisch gesprochen handelt es sich nur um Abgrenzungen der geistlichen und weltlichen Kompetenzen innerhalb des einen und einzigen Gottesreiches. So lange diese theokratische und universalistische Vorstellung von der Weltordnung herrschte, so lange also von- d e r mittelalterlichen Weltanschauung nicht abgewichen wurde, existiert kein begrifflicher Gegensatz zwischen Staat und Kirche. Eine solche unhistorische Gegeneinanderstellung ist erst in die Geschichte hineingetragen worden im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, als der Streit um das Vaticanum und der Kulturkampf die moderne Kirche und den modernen Staat in schärfsten Gegensatz zu einander gebracht hatten und die Frage der Trennung von Kirche und Staat ein politischer Schlachtruf geworden war. Im Zeitalter der christlichen Einheitskultur ist jedoch von einem solchen nicht die Rede. Wegen der dominierenden Vorstellung einer einheitlichen Weltordnung kennt das Mittelalter keine Staatslehre, sondern nur eine Gesellschaftslehre. Und vermöge des gegenstandslosen, teleologisch-metaphysischen, nicht auf Erkenntnis gerichteten unkritischen Denkens befaßte sich die auf staatliche Dinge gerichtete Betrachtung des mittelalterlichen Menschen nicht mit dem wirklichen zuständlichen Organismus, sondern nur mit theoretischen Gebilden, die der ethischen Transzendenz entsprechend einen Idealtypus darstellen sollten. Der mittelalterliche Theoretiker, wenn er sich —modern ausgedrückt — mit Staatsauffassung und Staatsanschauung beschäftigte, schilderte nicht den Staat, wie er war, sondern entwarf ein Bild von Temporalien der einen und göttlichen Weltordnung, wie sie seiner supranaturalistischen Grundstimmung gemäß sein sollte. Das soll natürlich nicht heißen, daß es im Mittelalter keinen Staat gab und daß keine realen Kräfte im Staats- und Verfassungsleben im Mittelalter existierten. Aber sie waren für den Theoretiker eine »terra incognita« und die Folge dieser rein geistigen und völlig unwirklichen Publizistik selbst auf die Gestaltung öffentlich-rechtlicher Institutionen blieb nicht aus. In dem Kampf zwischen »regnum« und »sacerdotium«, der doch von unverkennbar tiefer Wirkung auf die Entwicklung des x ) Summa mag. Stephani Tornacensis bei Gierke, Genossenschaftsrecht III, 518 Anm. 8. Wolfr. 2

18 abendländischen Verfassungslebens gewesen ist, holten sich die Vertreter des kurialistischen wie des imperialen Systems ihre Waffen aus dem gemeinsamen Arsenal ihrer universal-theokratischen Weltanschauung. Die Bibel mit ihren zahllosen Antinomien und neben ihr die auf ihr aufbauende Tradition waren die unerschöpflichen Quellen im Kampfe der Geister. Christus ist das Haupt der Gottesgemeinschaft, der »ecclesia« (ein Ausdruck, der ebenso häufig selbst von Kurialisten für das weltliche wie für das geistliche Regiment gebraucht wurde); deshalb ist die Monarchie die zu bevorzugende Staatsform auf Erden. Das Wort des Herrn im Markusevangelium 12,17: »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«, ferner Römer 13, 1: »Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat, denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet« und schließlich Petrus in der Apostelgeschichte 5, 29: »man muß Gott mehr gehorchen, denn den Menschen«, sind die unzählige Male in der christlichen Literatur angeführten Zitate, auf denen sich die gesamte Staatsauffassung des mittelalterlich orientierten Menschen gründet 1 ). Also die Auffassung einer reinlichen Scheidung zwischen geistlichem und weltlichem Regimente, ferner die bereits von den Märtyrern ausgeübte Lehre vom duldenden Gehorsam gegen jedwede schlechte und unchristliche Obrigkeit, sowie schließlich die Gehorsamskündigung gegen den »rex iniquus«, den »tyrannus« sind hier belegt. Welche weltgeschichtlichen Perspektiven eröffnen sich hier! Nach fast zweitausend Jahren sind ihre Wirkungen noch spürbar: die Wurzeln protestantisch-konservativer Ethik und Staatsauffassung sowie der radikalen Demokratie liegen eng bei einander. Ein rein formalistisches Prinzip: nämlich die Tatsache, daß jene fundamentalen Widersprüche in sich ihre Quelle in der schlechthin unwiderruflichen inspirierten Heiligen Schrift haben, vermag auf Tausende von Jahren jene Gegensätze zu bändigen. Bei der theokratischen Grundstimmung des mittelalterlichen Menschen war es leicht begreiflich, daß in dem Ringen der beiden Gewalten um die Macht der geistlichen der Vorrang blieb, um so mehr als die politische Lage des Kaisertums dem Aufstreben des Papsttums förderlich war. In langsam aufsteigender Linie •— wenn auch gelegentlich unterbrochen durch tiefen Fall, wie im neunten und in der Mitte des elften Jahrhunderts — vollzieht sich die mehr als sechshundertjährige Entwicklung von Papst Gregor I., *) Zur Entstehungsgeschichte des kirchlichen Widerstandsrechts vgl. Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im Mittelalter (Mittelalterliche Studien I, 2), 1914, S. 204 ff.

19 der 593 sich als Untertan des Kaisers bezeichnet, hinweg über Stephan II., Nikolaus I., Gregor VII., Innocenz VIII. bis zu Bonifaz VIII., der 1302 in der berühmten »unam sanctam«-Bulle den rigorosesten Caesaropapismus ausspricht. Anknüpfend an die Herrenworte an Petrus von den zwei Schwertern wird von den kurialistischen Publizisten in Anspruch genommen, daß von Christus die Ausübung der geistlichen und weltlichen Gewalt auf Erden dem Papste verliehen sei; daß also der Papst als alleiniger Herr des christlichen Universalreiches über dem Kaiser stehe. Nur ganz gelegentlich ist umgekehrt die entsprechende Forderung von weltlicher Seite gestellt worden. Bekannt sind ferner die Gleichnisse von Sonne und Mond, von Seele und Leib, von Haupt und Gliedern usw., die der anthropomorph gestaltenden Phantasie des primitiven mittelalterlichen Menschen tiefen Eindruck machten. Weitere Beziehungen auf die Heilige Schrift, so die Auslegung des Danielschen Traumes von den vier Weltreichen ließen den Papst, den »vicarius Christi«, in dem Empfinden der gläubigen Christenheit als den obersten Herrn der Erde erscheinen. Die in den Chroniken und Geschichtswerken immer wieder vorgetragene päpstliche Lehre von der »translatio imperii« durch den Papst von den oströmischen Kaisern auf die deutschen brachte ebenfalls die Oberhoheit des Papstes in weltlichen Dingen sinnfällig zum Ausdruck. Die Vertreter der antikurialistischen Theorie — vor allem Dante in seiner »Monarchia« — traten im allgemeinen für Gleichberechtigung der beiden Gewalten, jede innerhalb ihres Herrschaftsbereiches ein; eine Uberordnung der kaiserlichen über die päpstliche wird fast nirgends usurpiert. Die Hoheit des Papstes und seines Klerus auf dem Gebiete der Spiritualien gilt als unantastbar. Daß bei einer so gearteten Denkweise des mittelalterlichen Menschen eine Staatsrechtslehre sich nicht entwickeln konnte, wenn dem Staate keine selbständige Bedeutung, sondern nur eine untergeordnete, nicht einmal gleichberechtigte Stellung in dem einen »corpus Christianum« des Weltganzen eingeräumt wurde, ist verständlich. Doch die unaufhaltsame staatlich-politische Entwicklung seit etwa Friedrich II., der nachzugehen nicht die Aufgabe dieser Studie ist, untergrub in der Praxis die Bedeutung der einheitlichen Weltordnung des abendländischen Kulturkreises, während die Theorie noch auf viele Generationen hinaus an der Einheitlichkeit festhielt. Eine Staatslehre, die den Staat als ein mündiges, selbständiges Eigenwesen erklärte und somit auch auf die praktische Gestaltung des Staatslebens von fundamentaler Bedeutung werden mußte, konnte nur von Denkern ausgehen, die innerlich bereits gebrochen hatten mit dem transzendenten Supra•2*

20 naturalismus und der universalistisch-theokratischen Gedankenwelt der kirchlichen Kultur 1 ). Nur um den Versuch eines Aufrisses dieser Kultur handelt es sich hier. Denn nur aus ihr ist das Wirken jenes Mannes zu verstehen, dessen Einordnung in die weltgeschichtlichen Kulturepochen zurzeit wieder leidenschaftlich umstritten ist: Martin Luthers.

Dritter Abschnitt.

Probleme der Lutherforschung. Seit bald vierhundert Jahren ist die Lutherforschung unermüdlich tätig. Unübersehbar ist die Literatur geworden, und doch ist das Ergebnis nicht, wie man meinen könnte, eine klare, vollständige Herausarbeitung der Persönlichkeit und des Werkes Luthers, über die eine allgemeine Übereinstimmung erzielt worden wäre, sondern im Gegenteil: ein vollständiges Schwanken in der Beurteilung und Bewertung — wie sie in diesem Maße keiner einzigen welthistorischen Persönlichkeit beschieden ist — ist das populäre, ja selbst wissenschaftliche Ergebnis der soeben begangenen vierten Säkularerinnerung an* den 31. Oktober 1517. Eine weltgeschichtliche Persönlichkeit wird niemals widerspruchslos von der Mitwelt empfunden und von der Nachwelt verstanden werden können. Unerklärbare Reste der Persönlichkeit bleiben stets zurück und können nur von einem kongenialen Menschen intuitiv mitgefühlt werden. Ein historisches Genie ist in seinem geistigen Wirken stets revolutionär. Jeder revolutionäre Denkprozeß, mag er zu einem noch so einheitlichen und straff logisch aufgebauten System führen, ist aber seiner Entstehung nach unorganisch, widerspruchsvoll in sich, mit erheblichen Bestandteilen des alten Niederzureißenden noch durchsetzt. Daß Luther eine geniale Persönlichkeit war, wird niemand bezweifeln wollen, selbst seine heftigsten Gegner nicht; allein schon aus dieser feststehenden Tatsache lassen sich die mannigfachen ') Es genügt hier der Hinweis auf die bekannten Werke der Staatsrechtslehrer Hermann Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft (Einleitungsband aus: Handbuch des öffentlichen Rechts), 1896, S. 159—203; Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., S. 316 bis 323 u. ö.; neben diesen die verfassungsgeschichtlichen Werke, vor allem Georg v. Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, Bd. 1, Leipzig 1914.

21 Urteile über ihn verstehen. Aber noch mehr: eine geniale Persönlichkeit wird niemals fein säuberlich von der Historie in eine bestimmte Urteilskategorie rubriziert werden können; denn nicht nur die Wissenschaft, das kühl abwägende Denken kritischer Köpfe beschäftigt sich mit ihr, sondern auch — and vor allem — die dichterisch schaffende Phantasie einer großen Gemeinde in Mit- und Nachwelt formt sich das Bild nach ihrem eigenen Ich, nach ihrem inneren Bedürfnis und reflektiert das so gewonnene Ergebnis wiederum auf die Wissenschaft. Realität wird hier zum Mythos. Jeder neue Zeitgeist schafft ein neues Bild von dem Genius, so lange noch persönliche Werte für die jeweilige Gegenwart aus ihm sprechen. Wie verschiedenen Beurteilungen z. B. ist Friedrich der Große unterworfen gewesen, wie anders wird die Bewertung Bismarks in der jetzigen Zeit sein als vordem. Der Luther der Orthodoxie ist ein anderer als der des Pietismus; Aufklärung und Romantik suchen und finden abermals ganz anderes bei ihm. Die einen verleugnen den revolutionären Geist des jungen Luther, die anderen lehnen den rückfällig gewordenen alten Luther ab. Bis zur Unkenntlichkeit hat sich auch die Luther-Ikonographie gewandelt; aus dem scharf knochigen, von innerer Leidenschaft und Entbehrungen ausgezehrten Mönche ist der feiste Spießer geworden, der behäbige Hausvater, wie ihn die populäre Lutherauffasung noch heute nicht anders haben will 1 ). So grundverschieden ist die Beurteilung Luthers bei seinen Anhängern und Verehrern, die stets das Beste, was ihre Zeit, in der sie lebten, ihnen gab, aus ihm herauszuholen suchten. Wie anders denkt nun erst der Gegner über ihn. Luthers Genie ist ausschließlich r e l i g i ö s e s Genie. Millionen von Menschen ist er Religionsstifter und Gottesmann; Millionen von Menschen hingegen erscheint er als Stürzer der päpstlichen Allmacht, als Erzketzer, als Ausgeburt des Teufels. Liebe und Haß sind die Hebel gewesen, die man ansetzte, um sein Bild zu heben. Aber nicht nur das populäre Lutherbild verdankt seine Entstehung der suggestiven Kraft des religiösen Gefühls, sondern auch das wissenschaftliche. Die Wissenschaft über Luther 1 ) Heinrich Böhmer, Luther im Lichte der neueren Forschung, 5. Aufl., 1918 (von mir benutzt in 4. Aufl., 1917). Zur Luther-Ikonopraphie vgl. noch Georg Stuhlfauth, Eine kirchengeschichtliche Bildniszentrale (Zeitschr. f. Kircheng. 28, 1919, S. 41 ff.). — Ferner Horst Stephan, Luther in den Wandlungen seiner Kirche (Studien z. Gesch. d. Protest., 1. Heft, 1907); Gustav Wolf, Quellenkunde der deutschen Reformationsgeschichte II, 1. Gotha 1916, S. 167 ff., und meine Abhandlung: Wandlungen in den Anschauungen über das Reformationszeitalter, a. a. O.

22 stand und steht heute noch zum allergrößten Teile unter dem Zeichen des Konfessionalismus 1 ). Das ist sehr begreiflich. Denn es handelt sich hier um Stellungnahme zu religiösen Fragen, die doch allerpersönlichster Natur sind. Deshalb muß dieses subjektive Moment als ein sehr beachtenswertes Imponderabile stets bei der Bewertung einer noch so objektiv sein wollenden Lutherforschung mitberücksichtigt werden. Ein gutes Stück noch lange nicht überwundener Heldenverehrung haftet der heutigen Wissenschaft über Luther an. Das Gegenstück zu der Heroisierung ist natürlich Verunglimpfung auf der Gegenseite. Mit einem überscharfen und einem stumpf gewordenen Auge arbeitet eine derart auf inbrünstigen Gefühlen aufbauende Methode. Der Verehrer weilt mit Vorliebe bei jenen Eigenschaften und Leistungen Luthers, um derentwillen er ihn liebt; er versteht es mit feinster wissenschaftlicher Methode und schärfster Akribie und Dialektik jene Züge herauszuarbeiten, die an ihm groß und genial sind. In gleichem Maße verkümmert sein Sinn für die Schattenseiten des Genius, denen er entweder kein Interesse oder kein Verständnis entgegenbringt. Hilflos steht er der üppig wuchernden Legende gegenüber. In umgekehrtem Verhältnis steht der Gegner Luther. »Luther, in Dir ist nichts Göttliches 2 )«, heißt es bei Pater Denifle, und ein krasses Haßgemälde entrollt sich in seinem Lutherwerk. Bei ihm, wie den übrigen katholischen Lutherforschern, wird mit außerordentlicher Treffsicherheit und scharfem Spürsinn all das bloßgelegt, was liebevolle Heiligenverehrung auf protestantischer Seite verhüllte. Beiden Methoden sind wertvolle Teilergebnisse zu verdanken. Doch dem nur mit negativer Kritik arbeitenden Oppositionellen bleibt ein wirkliches Verständnis in die großartige Gedankenwelt Luthers verschlossen. Hier kommt der protestantische Apologet naturgemäß durch die Möglichkeit der Einfühlung dem Wesen des Reformators viel näher. Luthers Art und Bedeutung ist nur zu verstehen, wenn man ihn von seinem religiösen Zentrum aus zu erfassen sucht. Die katholische For*) Dieses Urteil muß aufrecht erhalten bleiben trotz H. Böhmers Ansicht (a. a. O. S. 19), daß die Forschung über Luther und das Reformationszeitalter seit Ranke in ein wissenschaftliches Fahrwasser gelenkt sei und wenn auch, so schreibt er, »die alte dogmatisierende Geschichtschreibung trotzdem nicht in den wohlverdienten Ruhestand treten wollte, so kann sie doch seitdem nicht mehr soviel Schaden stiften, wie einst. In den Kreisen der Wissenden hat sie seitdem allen Kredit verloren.« — Vgl. auch Troeltsch, Soziallehren, Vorw., S. IX u. 186; Overbeck, Christentum und Kultur, S. 117 f. ') Heinrich Denifle, Luther und Luthertum in der ersten Entwicklung I, 2. Aufl., 1906, S. 797 ff.

23 schung, so wertvolle positive Ergebnisse ihr auch zu verdanken sind, verschwindet fast vollständig hinter der kaum noch zu übersehenden Masse protestantischer Forschungen an Luthers Werk. Doch auch die protestantische Lutherforschung, soweit sie — wenn auch vielleicht vielfach u n b e w u ß t — apologetischen Charakter t r ä g t , entbehrt m i t u n t e r der so laut gepriesenen Voraussetzungslosigkeit. Und das bittere W o r t Denifles, daß die Protestanten zwar an Christi Göttlichkeit Kritik üben dürfen, d a ß aber an Luther nicht gerüttelt werden darf, t r i f f t in vieler Hinsicht noch zu 1 ). Von der »Säkularisation der Historie« ist für die deutsche Reformationszeit und für Martin Luther noch immer nicht dem hohen Stande der modernen Wissenschaft entsprechend allseitig der richtige Gebrauch gemacht worden. Hiermit soll nicht gegen hervorragende und in höchstem Maße wissenschaftliche protestantisch-theologische Arbeiten ein Vorwurf erhoben werden. Ohne deren verdienstliche Leistungen wäre keine Lutherforschung möglich. Aber es muß doch gesagt werden, daß Luther — auch wenn er ein religiöses Genie ist — eine eminent historische Persönlichkeit ist, an die zur richtigen Einschätzung ihrer universalgeschichtlichen Bedeutung allein der historische Maßstab angelegt werden kann und darf. Der Historiker von Fach hat aber — sobald es sich um Martin Luthers Werk und Zeit handelte — nur allzu oft die Führung dem tfieologisch vorgebildeten, in theologischer Systematik und Dogmatik denkenden Gelehrten überlassen und sich dessen Resultate zu eigen gemacht. Für einen Theologen aber kommt es auch bei historischer Forschung in erster Linie auf die Herausarbeitung dogmengeschichtlich oder dogmatisch wichtiger Momente an. Ihn interessiert weniger das universalgeschichtliche Fundament, aus dem heraus vom historischen Standpunkte allein Lehre und Wirken Luthers zu verstehen sind. Die Folge davon ist, daß für ihn Luther völlig original und wurzellos dasteht; daß der Theologe in dem Reformator nur das Neue genuin-protestantische der Untersuchung für Wert hält, und daß er die genetische Entwicklung dieses Neuen aus dem mächtigen Mutterschoße der katholischen Kultur gar nicht oder nur getrieben durch Angriffe aus dem katholischen Lager in den Kreis seiner Forschungen gezogen hat. Um so dankenswerter ist es im Interesse der »universitas litteraria« zu begrüßen, daß in jüngster Zeit gerade von protestantisch-theologischer Seite die Enge bisheriger Betrachtung verlassen ist und Luther von universalgeschichtlichem S t a n d p u n k t e !) Denifle a. a. O., Vorrede S. III.

24 aus neu untersucht worden ist. Die Kritik an dieser epochemachenden Tat Ernst Troeltschs zeigt jedoch wiederum, daß obige Beanstandungen an der im allgemeinen noch zu sehr im Kirchlichen befangenen Forschung über Luther berechtigt sind. Der allzu weit ins Spezialistentum hineingleitende Zug der Wissenschaft der vergangenen Jahrzehnte und der Gegenwart hat — unbeschadet seiner Berechtigung, ja auch Notwendigkeit und seiner großen Verdienste •— in hohem Maße ferner zu den außerordentlich verschiedenen Auffassungen über Luther geführt. Sein Kampf gegen den Papst ist von so tief gehender Wirkung geworden, daß fast alle Disziplinen der Geisteswissenschaften mit Luther sich zu beschäftigen haben. Nicht nur der Historiker und Theologe, sondern auch der Philosoph, der Literarhistoriker und Philologe, der Kirchenrechtler und Staatsrechtler, ebenso wie der Nationalökonom und Soziologe haben sich eingehend mit ihm zu befassen. Alle genannten Wissenschaftszweige schöpfen aus derselben Quelle, arbeiten aber jeder mit einer anderen Methode, bauen fast nur auf ihrer eigenen Fachliterartur auf und zeitigen so in weitestem Maße von einander abweichende Auffassungen; der Kontakt ist verloren gegangen. Und schließlich noch ein letzter, wie es scheint, am wenigsten beachteter, aber gerade der wichtigste Umstand, warum eine so unselige Zerrissenheit in der gegenwärtigen Beurteilung Luthers' zu beobachten ist. Als Hauptquelle — ja fast als einzigste Quelle — ist von Anfang der Lutherforschung an das ungewöhnlich reiche Schrifttum des Reformators von Freund und Feind herangezogen Worden. Der Biograph, dem es hauptsächlich auf die sichere Fundierung der äußeren Lebensgeschichte ankommt, hat längst erkannt, eine wie trübe Quelle mitunter Luthers eigene Worte und Schriften sind. Die von Kalkoff 1 ) angewandte philologisch-kritische Methode, sowie die restlose Heranziehung der in Archiven lagernden und der sonstigen über Luther aussagenden Quellen hat für die entscheidenden Jahre seiner Wirksamkeit völlig neue Ergebnisse gezeitigt. Die neueste Luther-Biographie von Scheel 2 ), in welcher mit scharfer Kritik die Richtigkeit der Lutherworte nachgeprüft und vor allem die Umwelt, in der Luther lebte, zum Verständnis seines Werdens herangezogen worden ist, reinigt das herkömmliche Lutherbild von den zahlreichen Legenden und schafft die sichere Grundlage zum Erkennen des historischen Luther. Daß dieselbe Vorsicht bei Benutzung lutherischer 1 ) Vgl. meinen Aufsatz, Entscheidungsjahre der Reformation (Deutsche Literaturzeitung 1917, Sp. 1403—1412). *) Otto Scheel, Martin Luther I, 2. Aufl., II, 1917.

25 Schritten zum Studium seiner Persönlichkeit, Lehre und Wirksamkeit angewandt werden müßte, ist — wie es scheint — wenig beachtet worden. Ein Blick in die Registerbfinde der Erlanger Ausgabe zu den deutschen Schriften und etwa in den Registerband von Grisars 1 ) Lutherbiographie läßt die unendliche Vieldeutigkeit des Schrifttums Luthers erkennen. Kaum ein Gegenstand des öffentlichen oder selbst des religiösen Lebens, worüber bei Luther nicht zwei verschiedene, wenn nicht gar entgegengesetzte Ansichten aus seinen Schriften zu belegen wären. Daher das leichte und wirksame Arbeiten der konfessionellen Gegner. Mit seinen eigenen Worten wird Luther geschlagen und gebrandmarkt als ein durch und durch unwahrer, sittlich verdorbener und degenerierter Mensch. Ein jeder findet, je nach seiner Auflassung oder Absicht, die Zitate bei Luther, die er sucht. Wie anders schreibt ein positiver Theologe: etwa Wilhelm Walther 2 ) oder Grützmacher 8 ), als ein Liberaler: wie etwa W. Herrmann 4 ) über Luthers religiöse Persönlichkeit. Ein Blick in die lange Reihe der wertvollen Untersuchungen über Luthers Theologie von Theodosius Harnack 6 ) an über Julius Köstlin 6 ) bis zu Reinhold Seeberg 7 ) zeigt, daß — trotzdem die kirchlichen Standpunkte der genannten Theologen nicht wesentlich verschieden sind — aus dem gleichen Material etwas ganz anderes herausgearbeitet werden kann. Erscheint heute eine Untersuchung über Luthers Ethik oder Schriftprinzip oder Kirchenbegriff oder Auffassung vom Staate, so erscheinen bald darauf andere über den gleichen Gegenstand, die auf Grund anderer Belegstellen aus Luther zu einem neuen vielfach kontroversen Standpunkte kommen 8 ). Die inneren Widersprüche in Luthers Schriften, die mit dem katholischerseits häufig erhobenen Vorwurf der Lügenhaftigkeit Hartmann Grisar, Luther, 3 Bde., 1911/12. *) Etwa in seinen Schriften gegen Janssen und Denifle oder in: Luthers Charakter (1917) oder: Das Erbe der Reformation (2. Aufl., 4 Hefte, 1917). 8 ) Seine große Abhandlungenserie in Neue kirchliche Zeitschrift 1915/18 und seine Erlanger Rektoratsrede (1917): Wie kann sich der Altprotestantismus noch nach 400 Jahren wissenschaftlich behaupten? *) Der Verkehr des Christen mit Gott, 5./6. Aufl., 1908. 5 ) Luthers Theologie, 2 Bde., 1862, 1886. 6 ) Luthers Theologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem innern Zusammenhange, 2 Bde. (2. Aufl.), 1901. 7 ) Lehrbuch der Dogmengeschichte IV, 1 (2./3. Aufl.), Die Lehre Luthers, 1917. 8 ) Literaturangaben in den nächsten Abschnitten.

26 seines Charakters keineswegs erklärt sind, können nun aber nicht mit dem Einwände entkräftet werden: es handle sich hier nicht um Widersprüche in sich, sondern um verschiedene Stufen seiner Entwicklung, innerhalb deren sich die Ansichten des Reformators geändert und geklärt hätten. Gewiß, der jugendliche Luther des Jahres 1520 ist ein anderer wie nach den Ereignissen von 1525 und in den letzten 15 Jahren seines Lebens. Gewisse durchgängige Entwicklungszüge, die ihren Niederschlag in den Schriften gefunden haben, sind unverkennbar. Trotzdem aber verteilen sich die Widersprüche, selbst in den wichtigsten religiösen Fragen, in seinen Schriften über seine ganze Lebenszeit. Es gibt z. B. verschiedene gegensätzliche Äußerungen Luthers vor 1517 über das Schriftprinzip, ebenso wie in den späteren Stadien; dasselbe läßt sich zu allen Zeiten seiner Wirksamkeit für andere Fragen erweisen 1 ). Die Gegensätze sind unleugbar; die immer wieder mit allein Aufwand an Dialektik gemachten Versuche, sie hinwegzudeuten und die bewundernswerte innere Geschlossenheit der lutherischen Gedankenwelt hervorzuheben, führen nicht zum Ziel. Es erhebt sich nun die Frage: wie sind diese Widersprüche zu erklären, und kann man überhaupt, auch wenn sie erklärt sind und ein solcher Erklärungsversuch allgemein anerkannt werden könnte, zu einer übereinstimmenden, historisch befriedigenden Ansicht über Luthers Persönlichkeit, Wirksamkeit und Lehre gelangen ? Ein Doppeltes muß zur Aufklärung der Widersprüche angeführt werden. Einmal liegen die Widersprüche in seinem Charakter und der Kompliziertheit seines Denkens. Sie gleichen sich nicht, wie einer der warmherzigsten Apologeten meint, bei ihm zu voller Harmonie aus 2 ), sondern sie liegen hart beieinander und haben in allen Zeiten auf viele einen abstoßenden Eindruck gemacht. Die sogenannte psychologische Methode des Lutherbiographen Hausrath, die auch Grisar häufig anwendet, und die mehr an die Kunst des Arztes als des Biographen appelliert, führt l ) Die Konsequenz Luthers und Unwandelbarkeit seiner Anschauungen betonen zurzeit namentlich Karl Holl (in seinen auf S. 38 Anm. 1 noch zu erwähnenden Schriften) und H. Preuß, Die Entwicklung des Schriftprinzips bei Luther bis zur Leipziger Disputation, 1901. Auf entgegengesetztem Standpunkte stehen: Otto Scheel, Luthers Stellung zur Heiligen Schrift, 1902, und Hermann Guthe, Luther und die Bibelforschung der Gegenwart, 1917. Im 5. Abschnitt dieser Studie soll an einem konkreten Fall, nämlich an Luthers Auffassung von der Gesellschaft, die eigentümliche Duplizität der lutherischen Gedankengänge zu erklären versucht werden. a ) Wilhelm Walther, Luthers Charakter, 1917, S. 2 f.

27 auch nicht zur vollen Aufklärung. Gewiß, manche Erscheinungen in Luthers Werdegang: seine Maßlosigkeit in der Polemik und im Haß, seine gelegentlichen Zügellosigkeiten neben der zartesten Weichheit eines Kindergemütes interessieren den Psychologen und Pathologen. Aber Luther nun als Neurastheniker oder einen in seinem geistigen und sittlichen Gebahren durch gewisse körperliche Gebrechen beeinträchtigten Menschen darstellen und hierin den Schlüssel zum Lutherverständnis finden zu wollen, ist absurd 1 ). Unausgeglichenheiten seines Wesens dürfen weder weggedeutet noch auf eine derartige Weise erklärt werden. Sie sind vielmehr zum guten Teile auf das Konto seiner genialen Persönlichkeit zu setzen. Die wahre Größe einer genialen, künstlerisch-intuitiv schaffenden Persönlichkeit liegt nun nicht lediglich in ihrer schriftstellerischen Leistung, sondern in ihrer unmittelbaren Einwirkung auf die Außenwelt. Derartige Persönlichkeiten sind fast immer voller Unausgeglichenheiten, die der Biograph zwar nicht verheimlichen darf, die aber für die Wertung der Gesamtleistung eines solchen Genies nebensächlich sind. Darum wird man zum Verständnis Luthers den Widersprüchen in seinen Schriften keinen allzu großen Wert beilegen dürfen und die Schriftstellen, wenn sie in das System des Forschers nicht hineinpassen sollten, nicht allzu sehr pressen dürfen. Es muß nämlich stets beachtet werden, daß Luther alles andere als ein Systematiker und logisch aufbauender Denker war. Hiermit ergibt sich von selbst der zweite Punkt, der in sehr einfacher und natürlicher Weise die Widersprüche, die in den Schriften Luthers hervortreten, aufklären kann. Die der Vollendung entgegengehende kritische Gesamtausgabe von Luthers gesamten Schriften umfaßt in etwa 70 Bänden ungefähr fünfzigtausend Seiten Großoktavformates. Dazu kommt noch die vielbändige Serie seiner Briefe. Weitaus der größte Teil des Lutherischen Gesamtwerkes besteht aus Traktaten, Predigten, Streitschriften, Glossen, Vorlesungen, Kommentaren, Briefen und nur der kleinste Teil sind wirkliche Bücher, d. h. in ruhiger Muße entstandene Schriften. Ihnen allen, selbst der letztgenannten Kategorie, haftet der Staub des Tages a n ; sie sind — modern gesprochen — nicht gelehrte, sondern journalistische Erzeugnisse. Alle schriftlichen Niederschläge sind zu einem bestimmten Zwecke geschrieben. Man denke nur an den Kampf Luthers mit seinen ehemaligen Wittenberger Genossen, wie Karlstadt und andere, an seinen Kampf gegen die Bauern. Selbst die innerlich geschlossensten Schriften des Jahres 1520 sind Erzeugnisse des Kampfes, Vgl. dazu Böhmer, a. a. O. S. 158 ff.

28 in denen nicht ein religiöses oder politisches System niedergelegt, sondern ein bestimmter Zweck erreicht werden sollte. Und doch ist mit einer Unsumme von Forschertfttigkeit und Spezialgelehrsamkeit für alle Zweige des Lebens — und worüber h&tte ein so persönlich-impulsiv schaffender Mann, wie Luther, nicht seine Stimme erhoben — in seinem Schrifttum gegraben worden, und man hat für alles Zitate gefunden! Kein Wunder, wenn jeder fand, was er suchte, und daß die Kontroverse und Polemik in der Lutherforschung nicht abreißt. Luther selbst hat eine derartige Wirkung aus der Lektüre seiner Schriften mit Beklemmung vorausgesehen; so schreibt er einmal in dem Genesiskommentar: »Nam ego ipse eam ob causam odi meos libros et saepe opto eos interire, quod metuo, ne morentur lectores, et abducant a Iectione ipsius scripturae, quae sola omnis sapientiae fons est1).« Bei der Benutzung von Luthers Schriften ist also größte Enthaltsamkeit und schärfste Kritik am Platze. Will man aus einem Lutherzitat eine Ansicht Luthers begründen, so sind zunächst mit möglichster Genauigkeit Entstehung und äußere Umstände der betreffenden Schrift, die jenes Zitat enthält, zu erforschen und aus allen erreichbaren Quellen auf die innere Verfassung und Seelenstimmung Luthers bei Ausspruch oder Niederschrift der in Frage kommenden Stelle zu achten. Eine ungeheure philologisch-kritische Kleinarbeit, die hier neu zu leisten wäre. In vielen Fällen mag es gelingen, in noch mehr Fällen aber wird die Mühe vergeblich sein, und die Widersprüche sind dann nicht mit den Hilfsmitteln exakter Methode aufzuklären. Gibt es aber nicht noch ändere Möglichkeiten, die zur richtigen Erkenntnis des historischen Luther führen können ? Es scheint doch. Die schmale Basis des Heldenverehrers, der nur aus den Erzeugnissen von Luthers Feder sich das Verständnis zu ihm erringen will, muß verlassen und das breite universal-historische Fundament muß betreten werden. Denn neben dem Lutherischen Schrifttum mit seinem unerschöpflichen Zitatenreichtum steht noch Luthers T a t , die vor allem historisch wirksame Tat, die mitunter schlechterdings mit keiner seiner Schriftstellen in Einklang gebracht werden kann. Die Gesamtpersönlichkeit Luthers, das geistige und seelische Zentrum seiner grandiosen Stoßkraft und beispiellosen Wirkungsfähigkeit auf seine Zeit muß zunächst einmal erfaßt werden. Ist *) Weimarer Ausgabe (zit. W. A.) Bd. 43, 1912, S. 93 f. Kommentar zur Genesisvorlesung (1535/45), ad. Mos. I, cap. 19, 27/29. Weitere Zitate bei Georg Buchwald, So spricht Dr. Martin Luther, 1903, S. 208 f.

29 dies geschehen, dann gehen von diesem Zentrum tausend bequeme Wege zu entlegeneren Punkten seiner Persönlichkeit, die wie Außenposten zwar mit dem Mittelpunkte in Verbindung stehen, aber zu anderen derartigen Außenposten ohne innere Fühlung sein können. Gelingt die Synthese einerseits aus Luthers Gesamtpersönlichkeit, welche zum guten Teil aus dem kritischen Gebrauch dee überreichen Schrifttums und dem richtigen Takt für das Geniale in ihr erschlossen werden mag, und andererseits aus seiner schöpferischen Wirkung auf die Umwelt; dann ist das Verständnis für den historischen Luther frei.

Vierter Abschnitt.

Luthers Persönlichkeit und Hauptpunkte seiner Lehre. Luthers Gesamtpersönlichkeit 1 ) ist lediglich religiös orientiert, und zwar mit der dynamischen Wucht und Einseitigkeit eines religiös-prophetischen Genies. Der .Sinn des Daseins liegt für ihn — wie für jeden mittelalterlichen Menschen — in der Möglichkeit eines richtigen Verhältnisses zu Gott; abweichend aber vom bisherigen ist für ihn die einzige Quelle der Erkenntnis Gottes die Bibel. In seinem Ringen nach einem gnädigen Gott — hierin der alttestamentlichen Figur Israels vergleichbar — fand er den Weg zu ihm. Das Turmerlebnis2) in Wittenberg *) Hierzu ist besonders zu vergleichen: Adolf Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte III 4 , S. 286 ff. u. 808 ff.; W. Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert (Ges. Schriften Bd. II, vor allem S. 48 ff.); Troeltsch, Soziallehren, S. 426/605; Derselbe, Luther und die moderne Welt (in; Das Christentum, Heft 50 der Sammlung: Aus Wissenschaft und Bildung, 1908, S. 69/101 u. 160/164); ferner neuerdings die glänzende Würdigung bei Friedrich Heiler, Luthers religionsgeschichtliche Bedeutung, 1918. — Überreiches Quellenmaterial ist niedergelegt in den gelehrten Werken von Th. Harnack, J. Köstlin zu Luthers Theologie, in Otto Ritschis Dogmengeschichte des Protestantismus II, 1 (1912), S. 5 ff., in Seebergs Dogmengeschichte, a. a. O. und anderen theologischen Spezialarbeiten zu Luthers Lehre. Doch wirkt die Masse solcher vielfach gegensätzlichen Quellenstellen eher verwirrend als fördernd zur Erkenntnis des Wesentlichen bei Luther. Otto Scheel, Martin Luther, II, S. 318 ff. u. 434 ff.

30 im Winter 1512/13 gab ihm die Erkenntnis, seinen Frieden mit Gott. Ihm, der bisher im Gesetz sowohl wie im Evangelium, im Alten wie im Neuen Testamente, nur die Gewinnung der Gnade als Belohnung für das menschliche Verdienst fand, wurde wie in plötzlicher Erleuchtung der Sinn des Paulinischen Wortes in Rom. 1, 16/17 klar: »Ich schäme mich des Evangeliums in Christo nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig machet alle, die daran g l a u b e n . . . . , sintemal darinnen offenbaret wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie denn geschrieben stehet: der Gerechte wird seines Glaubens leben.« Nicht auf Grund verdienstlicher Werke, nicht durch sakramentale Vermittlung findet der Christ seinen Weg zu Gott, sondern nur durch demütiges und sünden-schuldbewußtes Vertrauen auf vergebende göttliche Gnade; und dieses Vertrauen heißt Glauben. Die »justificatio dei«, die das Kernstück gesamtprotestantischer Theologie geworden ist, ist abendländisch-christliches Gemeingut; auch die mittelalterlich-katholische Theologie arbeitet mit ihr, wenn auch gerade die katholische sakramentale Wertschätzung des »opus operatum« den Sinn der paulinischen Stelle wesentlich verändert hat. Nicht in der neuen Auffassung, auch nicht in der lutherischen Entdeckung an sich liegt die religionsgeschichtliche, , j a weltgeschichtliche Bedeutung jenes theologischen Begriffes, sondern darin, daß er eine so prophetischenthusiastische Persönlichkeit, wie Luther es war, befähigte zu unerhört schöpferischer T a t . Von hier aus fand er den Weg zum Evangelium, der alleinigen christlichen Wahrheit, von hier aus kam ihm der anders geartete Gottesbegriff, das neue Frömmigkeitsideal und die neue Wertung der menschlichen Persönlichkeit. Nur durch Christus führt der Weg zu Gott, wer in Christus lebt, ist gläubig. In dieser christozentrischen Gottesauffassung liegt das Neue seiner Theologie; es ist keine Repristinationstheologie, nicht lediglich Reduktion des Katholizismus über den Augustinismus zurück zum Urchristentum, sondern es ist eigenartige Neugestaltung der biblischen Religiosität. Sie erfüllte Luther so ganz und gar, daß er, getrieben durch das weltgeschichtliche Spiel des Zufalls, d. h. veranlaßt durch von außen an ihn herantretende Umstände, mit innerer Notwendigkeit zum Exponenten seiner Zeit im Kampfe gegen das Papsttum werden mußte. Und in diesem Kampfe ist es wiederum weniger seine Lehre allein, von deren Originalität die weiterschreitende Wissenschaft immer weitere Abstriche machen wird, sondern vor allem seine Persönlichkeit, der die revolutionären Wirkungen und reformatorischen Erfolge zuzuschreiben sind. Die Erfolge waren derart, daß sie Luther so außerordentliche Achtung und Ansehen bei seinen Zeitgenossen

31 v e r s c h a f f t e n , daß er tatsächlich zum Gewissensrat seiner Zeit w u r d e , daß er weit über d a s Religiöse hinaus zu allen Dingen des öffentlichen Lebens Stellung nehmen mußte und auch aus eigenem I m p u l s e heraus dies t a t . Bei einer derartigen Inanspruchnahme seines Könnens und einer so weit gespannten Ausdehnung seiner Pflichten traten notwendigerweise auch die Schattenseiten seiner Persönlichkeit sowie die L ü c k e n und Widersprüche in seiner Lehre s t a r k hervor. Luthers bleibende B e d e u t u n g liegt in seiner Persönlichkeit; a u s ihr wuchs die große T a i : der siegreiche K a m p f gegen das seit zwei Jahrhunderten in Erschütterung geratene P a p s t t u m . Durch Beseitigung der päpstlichen Allwirksamkeit wurde der B a u der abendländisch-katholischen K u l t u r eines seiner stärksten Pfeiler b e r a u b t . Neue Anschauungen konnten eindringen und das alte Weltbild verändern und schließlich Platz für eine neue Weltanschauung schaffen. Doch ist dies nicht Luthers unmittelbare Leistung, sondern die mittelbare Wirkung seiner Persönlichkeit. Nicht er hat eine neue Weltanschauung und damit eine neue Zeit geschaffen, sondern er ist vielmehr das echte Kind seiner Zeit geblieben und hat stets die charakteristischen Grundzüge der mittelalterlichen Weltanschauung beibehalten. Keine Persönlichkeit — und sei sie noch so gewaltig — kann ihre Zeit aus den Angeln heben. Gerade darin liegt vielfach das Geheimnis der Wirksamkeit einer großen historischen Persönlichkeit, daß sie, von dem Strom getragen, das zur T a t werden läßt oder in Worte und System zu kleiden vermag, was die Umwelt unausgedrückt fühlt und fordert. Luthers Religiosität, die Verinnerlichung des Gottesverkehrs des Menschen, die Befreiung des Menschen von der Werkheiligkeit begünstigten die Entwicklung einer neuen Ethik, eines neuen Typus der Sittlichkeit, schufen den religiösen Individualismus. Dieser nun ist eine Wurzel des deulsohen Idealismus. Der deutsche Idealismus ist ein wesentlicher Bestandteil einer neuen Weltanschauung. Aber nicht der deutsehe Idealismus des 18. J a h r hunderts allein schuf eine neue Zeit und nicht der religiöse Individualismus Luthers ist die einzige Wurzel des deutschen Idealismus. Gerade durch Luthers Wirksamkeit und Lehre sind die Kräfte, die in Renaissance und Humanismus in erheblichem Maße zur Schaffung einer neuen Weltanschauung beitrugen: nämlich die Befreiung der Persönlichkeit von der religiösen Bevormundung, ein wirklicher erdhafter Individualismus, unterdrückt und zurückgedrängt worden. Der religiöse soteriologische Supranaturalismus ist das Kernstück der mittelalterlichen Weltanschauung; er blieb die selbst-

32 verständliche Voraussetzung alles Denkens, Fühlens und Handelns bei Luther; ja er ist auch heute noch die tiefste Wurzel jeder »christlichen Weltanschauung« 1 ). Die Resultanten einer solchen Grundstimmung sind hier wie dort die gleichen. Die Universalität der christlichen Kultur blieb auch für Luther das stets gewollte Ziel. Sein Reformwerk — auch wenn es die erstrebte Abwendung aller Christen von der Papstkirche zum reinen Evangelium nicht verwirklichen konnte — riß zwar den äußeren Einheitsbau der katholischen Kirche ein, zerstörte aber nicht die gemeinsamen Fundamente der Kultur. Mit innerer Notwendigkeit folgt aus der supranaturalen Heilserwartung in Beziehung zur Welt eine weltentrückte Grundstimmung, ein Hoffen auf das Jenseits, eine Auffassung von dem Erdenleben als einer Durchgangsstation zum besseren Jenseits, zum göttlichen Leben in Christus. Die Weltverneinung ist Luther genau so eigen geblieben, wie dem mittelalterlichen Katholizismus. Trotzdem hat gerade hier die protestantische Forschung einen fundamentalen Unterschied zwischen Luther und dem von ihm beseitigten Alten zu betonen gesucht. Mit Unrecht. Es werden hier wohl Ausdrucksformen, äußere Merkmale und Erscheinungen verwechselt mit innerlichen Überzeugungen, Grundstimmungen und Gefühlen. Die äußere AUBdrucksform des Sündenpessimismus war nun in frühchristlicher und katholischer Zeit die Askese und das Mönchstum. Gewiß, Luther hat dem Mönchstum und der Askese als Lebensform innerhalb seines neuen Kirchentums ein Ende bereitet und hier ebenso wie im Kampfe gegen das Papsttum die Möglichkeit zu einer neuen Weltauffassung gegeben, er hat auch hier das Erdreich umgepflügt und frischer Luft und Wind und Sonne und Regen den Weg geöffnet zu befruchtender Wirkung auf die Schößlinge im Erdboden; sie selbst aber hat er nicht umzugestalten vermocht. Luther und das Luthertum, der orthodoxe, wie der pietistische Protestantismus fassen die Welt durchaus pessimistisch auf. Ein Blick in die religiöse Lyrik8), als den sublimsten Gefühlsmesser für Lebensauffassungen und Weltanschauungen bestätigt dies. Selbst Luthers großartigstes Lied und Glaubensbekenntnis, das die vollendete Harmonie und Ruhe des Menschen — selbst auf Erden —, weil er durch Christus seinen Weg zur Gnade Gottes l ) Vgl. besonders v. Below, Die Ursachen der Reformation, a. a. O. 8. 166 ff.; siehe auch S. 63 dieser Studie.. *) Vgl. Paul Althaus, Zur Charakteristik der evangelischen Gebetsliteratur im Reformationsjahrhundert, Leipziger Universitätsrede 1914.

33 gefunden hat, bekundet, ist durchaus weitabgewandter Grundstimmung: »Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: Laß fahren dahin, Sie habens kein Gewinn, Das Reich mufi uns doch bleiben.« oder Josua Stegmann (gestorben 1632): »Ach -bleib mit deinem Schutze Bei uns, du starker Held, Daß uns der Feind nicht trutze, Noch fäll' die böse Welt.« oder des Pfarrers Valerius Herberger (gestorben 1627): »Valet will ich dir geben, Du arge, falsche Welt; Dein sündlich böses Leben Durchaus mir nicht gefällt. Im Himmel ist gut wohnen, Hinauf steht mein Begier, Da wird Gott herrlich lohnen, Dem, der ihm dient allhier1).« Religiöse Verinnerlichung und weit verneinende Auffassung des menschlichen Daseins sind ebenso, wie bei Luther, in der Mystik die ethischen Kernpunkte. Darum ist Luther nun jedoch noch nicht mit den katholischen Mystikern des Abendlandes, ohne die er zwar nicht zu denken ist, zu identifizieren; in wesentlichen Punkten weicht er selbst in der Ausprägung seiner Religiosität und Frömmigkeit, seiner Auffassung von Gott und Christus von den Meistern Eckehart, Tauler oder Seuse ab. Nicht Weltanschauungsgegensätze liegen zwischen ihnen, sondern der Unterschied scheint in erster Linie und hauptsächlich ein charakterologischer zu sein. Auf der einen Seite hinschmelzender, sich selbstverzehrender Weltindifferentismus, erzeugt aus spiritualistisch-sensualistischer Passivität und Unvermögen den Realitäten des Lebejas standzuhalten; dagegen auf der anderen Seite bei Luther ein übermächtiger, starker Voluntarismus, ein zu Taten und Kampf drängender Zug, der dem durch die Erbsünde verdorbenen Menschentum Trotz bieten will und durch Überwindung der Versuchung den gnädigen Gott erringen will. Luthers Trutzlied: »Ein feste Burg ist unser Gott« und Dürers Weitere Beispiele, die sich noch sehr vermehren ließen, gibt Troeltsch, Luther und die moderne Welt, a. a. O. S. 75. ') In diesem Punkte weiche ich von Heiler, a. a. 0 . ab.

Woiif.

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34 »Ritter, Tod und Teufel« sind die Komplemente zu den quietislisch-femininen Vorstellungen der Mystiker. Weltverachtung und Weltverneinung bei beiden: jedoch »volentem fata ducunt, nolentem trahunt«. Aus dem weitenrückten Jenseitsgefühl heraus sind Luthers außerordentlich lebendige, durchaus mittelalterliche Vorstellungen vom Teufel und Antichrist zu verstehen und zu würdigen1). Nur ein richtiges Stilgefühl und die Vergegenwärtigung der Tatsache, daß der Teufelsglaube für ihn in der Bibel seine Begründung findet, vermag diesem für den gegenwärtigen Menschen besonders befremdenden und abstoßenden Zuge Luthers gerecht zu werden. Die reizvolle Auslegungskunst, die hier sofort den Psychiater konsultiert und auf den modernen Menschen so bestrickend wirkt, ist natürlich nicht am Platze. Getreu dem mittelalterlichen Zeitgeiste sind auch Luthers Geschichtsanschauungen, trotzdem er im Kampfe gegen den Papst von der humanistischen Kritik gelernt hat. Man denke nur an seine Auslegung des Danielschen Traumes bei seinem Versuche, das Reich der Türken in das Schema der vier Weltmonarchien einzugliedern2). »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Dieses Herrenwort ist auch für Luther das Leitmotiv bei seiner Wertung des Menschen und dessen Stellung in der Welt geworden. Diese weltflüchtige Tendenz in Luthers Ethik ist nicht, wie behauptet worden ist 3 ), *) Vgl. vor allem Hans Preuß, Die Vorstellung vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik, 1906. ») Heerpredigt wider die Türken, 1529, W. A. Bd. 30, 2 (1909), S. 163 ff. Der Türke ist das kleine Horn, das zwischen den zehn Hörnern des vierten Tieres wuchs. Das vierte Tier ist das vierte Weltreich, nämlich das Römische. Die zehn Hörner sind die Kaiser. Das Römische Reich ist das letzte und mächtigste. Daraus folgt, daß der Türke kein neues Weltreich mehr errichten kann. Luther beschließt diese Beweisreihe mit der für ihn und seine Zeit so charakteristischen Begründung: »Darümb mus der Türcke kein keiser werden, noch ein new odder eigen keiserthum auffrichten, wie ere wol ym syn habt, Aber es wird und mus yhm gewislich feylen odder Daniel würde zum lügener, Das ist nicht müglich« (a. a. O. S. 166). 8 ) Karl Eger, Die Anschauungen Luthers vom Beruf, 1900, S. 157. — Für das Folgende ist neben der soeben genannten vortrefflichen Schrift und der auf S. 29 Anm. 1 erwähnten Literatur eine weitschichtige Literatur vorhanden, aus der jedoch nur genannt sein mag: Ernst Luthardt, Die Ethik Luthers (2. Aufl., 1875); Siegfried Lommatzsch, Luthers Lehre vom ethisch-religiösen Standpunkte, 1879; Ernst Troeltsch, Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon (1891, vor allem S. 137/43); A. Lang, Die Reformation und

35 Ausflufi gelegentlicher Stimmungen, sondern Grundzug seiner Auffassung vom sittlichen Wert des Menschendaseins. Freilich ermöglichen sein fröhlicher Gottesglaube, seine Rechtfertigungslehre und sein willensstarker erdhafter Charakter ihm auch eine ganz andere Beurteilung des menschlichen Berufes, die entschieden moderne Züge trägt und von unzweifelhafter Weltoffenheit und -Bejahung zeugt. Jedoch sind auch dies nur Ansätze, die durch Luthers zumeist ganz anders gerichtete Wirksamkeit und die Verknöcherung im Luthertum zunächst unterdrückt wurden. Für die katholische Ethik steht zu oberst die Vorstellung von der Scheidung der Christen in zwei bzw. drei Klassen. Der höhere gottgeweihte Mensch ist der Priester, das höhere Leben auf Erden ist das des Mönches, der in beschaulichem, gotterfülltem Dasein die Berührung mit den irdischen, sündhaften Begierden zu vermeiden sucht. Der Laienmensch dagegen, dem die göttliche Weihe fehlt und dem die Gnade Gottes nur durch das Amt des Priesters zuteil wird, der sein Leben fristet durch Arbeit, durch natürliche Beschäftigung und Betätigung seines Triebes, steht an niederer Stelle. Freilich hat die außerordentlich anpassungsfähige Ethik des Katholizismus diese rigorose Trennung in der Praxis nicht so streng durchgeführt. Durch die Theorie von der ursprünglichen Göttlichkeit auch des Naturrechts duldete und anerkannte sie alle Berufszweige des menschlichen Lebens — auch diejenigen, welche dem göttlichen Gebote Christi und des Dekalogs direkt zuwiderliefen — und versagte dem Laien nicht die sogar durch Sakrament geweihte Erfüllung der natürlichen Triebe. Immerhin blieb die »vita contemplativa« in höherem Ansehen als die »vita activa«. Mit dieser Qualitätsschichtung der Menschen hat Luther gebrochen. Auf Grund seiner Anerkennung des allgemeinen Priestertums der Christenmenschen (worüber im nächsten Abschnitt noch ausführlich zu reden ist) kennt er keine Unterschiede in ihrem Verkehr mit Gott, keine Wertunterschiede in ihrer beruflichen Tätigkeit auf Erden. Jeder noch so armselige Beruf, hat, wenn er Liebesdienst für den Nächsten ist, für Luther nicht nur sittliche Berechtigung, sondern ist eine höchst christliche Tat. In dieser Verselbständigung — freilich auf religiöser Grundlage — des menschlichen Berufes und der Gleichberechtigung vor Gott liegt etwas außerordentlich Neues, ein großer Fortschritt in sozialdas Naturrecht (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, Jg. 13, 1909, Heft 4); Seeberg, Lehrbuch a. a. O. S. 201 ff. und die vorzüglich orientierende Greifswalder Reformationsrede von Johannes Kunze. Das Christentum Luthers in seiner Stellung zum natürlichen Leben, 1918.

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36 ethischer Hinsicht, an den eine neue Weltanschauung direkt anknüpfen könnte, wenn nicht Luthers zwiespältige Anschauungen hier selbst wieder den Weg ins Freie verbaut hätten. Der Katholizismus verstand den Dekalog und die »lex Christi« in eigentümlicher Weise zu verschmelzen und das Naturrecht zu christianisieren. Luthers Ansichten von Gesetz und Evangelium waren durchaus zwiesp<iger Natur; einmal erkannte er das Alte Testament als eine Vorstufe des Neuen an und billigte ihm somit den Offenbarungscharakter zu. Im anderen Falle hingegen waren beide für ihn zwei getrennte Welten. In letzterem Falle galt das Naturrecht, dessen Vernünftigkeit er zwar zugab, dessen Göttlichkeit er dann aber in Abrede stellte, für Juden und Heiden bindend, nicht aber für Christen. Hieraus ergaben sich widersprechende Auffassungen von den einzelnen Funktionen des Menschen, die besonders deutlich z. B. bei seiner Ansicht über die Ehe in Erscheinung traten. Luther erkannte zwar jeden Beruf als göttlich an, forderte aber zugleich auch, daß der Mensch, z. B. eine Magd, die in. ihren Beruf durch gottgewollte Fügung hineingestellt sei, in ihm den Liebesdienst für den Nächsten in treuer Pflichterfüllung und Gehorsam ausüben müßte; er bestimmte jeden Menschen zum Ausharren in leidendem Gehorsam und Passivität auf seinem Posten. Er schloß die freie Willensbestimmung des Menschen aus. Somit engte er die neu gewonnene Verselbständigung des irdischen Berufes erheblich ein und bog die Weltoffenheit wieder zurück zur Weltentsagung; denn »Gott hat uns ynn die weit geworffen unter des Teuffels hirsschafft, Also, das wir hie kein Paradis haben, sondern alles Unglücks sollen gewarten alle stunde an leib, weib, kind, gut und ehren1).« Ähnliche Gegensätze liegen in Luthers Freiheitsbegriff2). Noch heute gelten der in protestantischer Anschauung aufl

) W. A. Bd. 19 (1897), S. 644, in der Schrift: Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können, 1526. Zitiert bei Erich Brandenburg, Martin Luthers Anschauungen vom Staate und der Gesellschaft (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte XIX, 1, Nr. 70), 1901, S. 17, Anm. 35. ') Auch hierzu eine große Literatur: neben der auf S. 34 Anm. 3 vor allem: W. Köhler, Reformation und Ketzerprozeß, 1901; Paul Wappler, Inquisition und Ketzerprozesse in Zwickau zur Reformationszeit, 1908; H. Hermelink, Der Toleranzgedanke im Reformationszeitalter (Schriften d. Ver. f. Refg. Jahrg. 26, 1908/09, S. 3 9 - 5 0 ) ; Nikolaus Paulus, Protestantismus und Toleranz im 16. Jahrhundert, 1911; Karl Völker, Toleranz und Intoleranz im Zeitalter der Reformation, 1912; Karl Seil, Der Zusammenhang von Reformation und politischer Freiheit, 1910; schließlich Heinrich Hoffmanns Artikel »Toleranz« in Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. V, 1913, Sp. 1271/84. —

37 gewachsenen Allgemeinheit die Vorstellungen als unerschütterlich, daß durch die Reformation, besonders durch Luther religiöse und geistige Freiheit im Denken und Handeln geschaffen worden seien. An sie knüpfen sich — so ist die weit verbreitete Ansicht — die Glaubensfreiheit und politische Freiheit, Toleranz und moderne Wissenschaft. Mit ihnen begönne eine neue Weltanschauung. In einer der glücklichsten Schaffensstunden seines Lebens, wo der religiös-prophetische, wie der dichterisch-künstlerische Genius ihn in gleichem Maße beseelte, schrieb Luther sein Büchlein von der Freiheit eines Christenmenschen. In wuchtigem Auftakte beginnt diese »Summe eines christlichen Lebens« mit der berühmten, auf zwei Paulus-Worten aufgebauten Antithese: »Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan« und »Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und ydermann unterthan« 1 ). Der innere, geistige Mensch wird in seinen religiösen Angelegenheiten, die Sachen des Gewissens sind, niemandem als Gott für verantwortlich erklärt. Auf diesen Satz kann sich tatsächlich eine neue geistesgeschichtliche Entwicklung von welthistorischer Bedeutung aufbauen. Freiheit in religiöser Betätigung und geistigen Dingen, Gewissensund Gedankenfreiheit, Toleranz und Autonomie des Denkens sind die Vorbedingungen einer neuen Staats- und Weltanschuaung und der modernen Wissenschaft geworden und können sich mit Recht auf diesen und andere Aussprüche Luthers ähnlicher Art berufen. Aber darum ist Luther doch noch nicht der Schöpfer einer auf religiöser und geistiger Freiheit beruhenden neuen Weltanschauung geworden. Der zweite Teil seines Traktates von der Freiheit eines Christenmenschen schränkt ja selbst bereits in erheblichem Maße die Freiheit des religiösen Bekenntnisses bis zur Undurchführbarkeit ein. Furchtbar hat diese lutherische Verurteilung zur Passivität und die unbedingte Gehorsamsverpflichtung auf dem Luthertum gelastet und aus der Gewissensfreiheit eine Märtyrerethik erzeugt. Aber selbst die Freiheit des geistigen Menschen in religiösen Dingen, die Luther in den entscheidenden Jahren so wundervoll zu verkünden wußte, wurde im Laufe der Jahre von Sehr beachtenswert ist die glänzende Arbeit des zu früh vollendeten Walter Sohm, Territorium und Reformation in der hessischen Geschichte 1526—1555 (1915). Jedoch ist der Grundgedanke in der von des Verstorbenen Vater, Rudolf Sohm, in dem Geleitwort gewählten Pointierung: »Das Territorium des 16. und 17. Jahrhunderts mußte intolerant sein, damit der Staat des 18. und 19; Jahrhunderts tolerant werden könne«, äbzulehnen. Vgl. hierzu die Besprechung von C. Brinkmann in Lit. Zentralblatt 1915, Sp. 1223 ff. ») W. A. Bd. 7 (1897), S. 21.

38 ihm erheblich eingeschränkt. Ganz dem mittelalterlichen Empfinden entsprechend suchte Luther die durch ihn wiedergewonnene Lehre des Evangeliums rein zu erhalten und konnte deshalb im Rahmen des evangelischen Kirchentums nur die e i n e auf die Autorität der Bibel gestützte Lehre dulden. Der Kampf mit den Wiedertäufern und Schwarmgeistern machte ihn immer härter und intoleranter und machte die Errungenschaften des allgemeinen Priestertums fast illusorisch. Glaubensfreiheit und Toleranz, mehr noch politische Freiheit und modernes Staatsempfinden sind also nicht die Kinder Luthers und der Reformation, die hierin genau so mittelalterlich empfanden und handelten, wie der Katholizismus. Weitere Konsequenzen aus Luthers Anschauungen von der religiös-sittlichen Stellung des Mensohen führen hinüber zu seinen Vorstellungen von der christlichen Gesellschaft, von Staat und Kirche, und sollen im folgenden Abschnitt untersucht werden. Hier galt es nur als unbedingte Voraussetzung für das Verständnis von Luthers Ansichten über allgemeine Fragen des kirchlichen und politischen Lebens einen festen Grund zu schaffen in einer Beleuchtung seiner Gesamtpersönlichkeit und seiner Weltanschauung. Fünfter Abschnitt.

Luthers Auffassung von der Gesellschaft (Staat und Kirche). Ein Versuch, Luthers Ansichten über Staat und Kirche einheitlich und systematisch- eduktiv zu entwickeln und darzustellen, begegnet in erhöhtem Maße den früher angeführten Schwierigkeiten 1 ) 2 ). *) Siehe Abschnitt III dieser Schrift. s ) Die Literatur hierzu ist unübersehbar. Auf die S. 29 Änm. 1, S. 34 Anm. 3 und S. 36 Anm. 2 angeführten Schriften ist nochmals zu verweisen. Die Hauptwerke, in denen eine vollständige Auseinandersetzung mit der älteren Literatur erfolgt ist, sind: Rudolf Sohm, Kirchenrecht Bd. I (1892), S. 460 ff.; Karl Rieker, Die rechtliche Stellung der evangelischen Kirche Deutschlands in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis zur Gegenwart, 1893, S. 40—114. Derselbe Verfasser hat sich zu diesem Thema noch geäußert in dem Vortrage: Protestantismus und Staatskirchentum (Zeitschr. f. Kirchenrecht Bd. 29, 1897, S. 145 — 182) und in dem Aufsatze: Staat und Kirche nach lutherischer, reformierter und moderner Anschauung (Hist. Vierteljahrschr. Bd. 3,

39 In Besprechung der Artikel vier bis zwölf der zwölf Artikel der aufrührerischen Bauern schreibt Luther: »Die andern artickel von freyheyt, des wiltprets, vogel, fissch, holtz, weide, von diensten, zinsen, auffsetzen, zeyßen, todfall etc. befelh ich den recht1898, S. 370—416). — Dazu treten vor allem: Erich Brandenburg, Martin Luthers Anschauung vom Staate und der Gesellschaft (Sehr. d. Ver. f. Refg. Nr. 70), 1901, S. 1 - 3 0 , der zuerst mit aller Schärfe den weltflüchtigen Charakter von Luthers Ethik zum aufbauenden Verständnis für Luthers Staatsauffassung betont; ferner Karl Müller, Kirche, Gemeinde und Obrigkeit nach Luther (1910), der den mittelalterlichen Aufriß der lutherischen Gesellschaftslehre vorzüglich erkennen läßt; vgl. auch seine Kirchengeschichte I I , 2 (1916), S. 11 ff.; W. Köhler, Die Entstehung der »reformatio ecclesiarum Hassiae« von 1526 (Deutsche Zeitschr. f. Kirchenrecht Bd. 16, 1906, S. 199—232); Gustav v. Schultheß-Rechberg, Luther, Zwingli und Calvin in ihren Ansichten über das Verhältnis von Staat und Kirche (Zürcher Beiträge zur Rechtswissenschaft 24), 1909. — Karl Müller setzt sich in seiner Schrift von 1910 mit zwei kurz zuvor erschienenen Arbeiten auseinander, einmal mit Paul Drews: Entsprach das Staatskirchentum dem Ideale Luthers? (Zeitschr. f. Theologie und Kirche, Jg. 18 (1908), Ergänzungsheft), sodann mit H. Hermelink: Zu Luthers Gedanken über Idealgemeinden und von weltlicher Obrigkeit (Zeitschr. f. Kirchengeschichte Bd. 29, 1908, S. 267/322 u. 478/89). Eingehend verarbeitet sodann das Problem Karl Holl in zwei Untersuchungen: Luther und das landesherrliche Kirchenregiment (Zeitschr. f. Theol. u. Kirche Jg. 21 (1911) Ergänzungsheft 1) und Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff (Festschrift, Dietrich Schäfer zum 70. Geburtstag dargebracht von seinen Schülern, 1915, S. 410/56), von dessen Anschauungen und Ergebnissen ich jedoch abweiche. Ganz kürzlich hat sich mit Holl auseinandergesetzt Friedrich Meinecke, Luther über christliches Gemeinwesen und christlichen Staat (Hist. Zeitschr. Bd. 121, 1920, S. 1 — 22). Von älteren Behandlungen des Themas seien noch erwähnt die Skizzen von Theodor Brieger, Die kirchliche Gewalt der Obrigkeit nach der Anschauung Luthers (Zeitschr. f. Theol. u. Kirche, Jg. 2, 1892, S. 513/34); Max Lenz, Luthers Lehre von der Obrigkeit (Berliner Universitätsrede 1894; wieder abgedruckt in des Verfassers Kleine Schriften 2. Auflage 1913, S. 1 3 2 - 1 4 9 ) und B. Beß, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, 1894. Der Vortrag von Th. Kolde, Der Staatsgedanke der Reformation und die römische Kirche, 1903, bietet der Wissenschaft wegen der zu stark in den Vordergrund gestellten Kulturkampfstimmung nichts. Max Lenz hat sich kürzlich noch einmal mit dem Problem: Martin Luther und die protestantische Staatsidee (in: Die protestantische Staatsidee . . . hrsg. v. W. van der Bleck 1919, S. 43—57). Einen vorzüglichen Überblick über den ganzen Fragenkomplex und den Stand der wissenschaftlichen Kontroverse bietet Emil Sehling,

40 verstendigen, Denn myr alls eym Euangelisten nicht gepurt hyrynnen urteylen und richten. Ich soll die gewissen unterrichten und leren, was gottliche und Christliche Sachen betrifft1).« Sehr häufig finden sich solche Selbstbeschränkungen Luthers auf sein göttliches Amt in seinen Schriften; ebenso häufig aber auch Sätze folgenden Inhalts: »Denn ich mich schier rhümen möchte, das sint der Apostel zeit das weltliche schwerd und oberkeit nie so klerlich beschrieben und herrlich gepreiset ist, wie auch meine feinde müssen bekennen, als durch mich8).« Geschichte der protestantischen Kirchen Verfassung, 2. Aufl. (Grundriß der Geschichtswissenschaft II, 8), 1914, S. 1—19. Selbstverständlich beschäftigen sich alle Lehr- und Handbücher des protestantischen Kirchenrechts eingehend mit dieser Frage. Aus den historischen und geschichtlichen Gesamtdarstellungen der Reformationszeit, sowie den Biographien Luthers, die ebenfalls an dem Problem nicht vorbeigehen können, seien nur erwähnt: Fr. v. Bezold, Staat und Gesellschaft der Reformationszeit (Kultur der Gegenwart II, V, 2), 1908, S. 66 ff.; Grisar, Luther, Bd. I (1911), S. 571 ff. und Bd. III (1912), S. 482 ff., dessen tendenziöse Darstellung die starken Spannungen in Luthers Ansichten besonders grell hervortreten läßt!, und schließlich A. E. Berger, Luther und die deutsche Kultur (II, 2 von: Martin Luther in kulturgeschichtlicher Darstellung), 1919, 8.16 ff. u. S. 410 ff. — Ein Vortrag desselben Verfassers: Luther und der deutsche Staatsgedanke, gehalten am 7. Oktober 1919 auf der ersten Jahresversammlung der Luthergesellschaft in Wittenberg liegt vorläufig nur in einem Referat der Mitteilungen der Luthergesellschaft, 1. Jg., 1919, S. 72 f. vor. Danach entwickelt Berger gemäß seiner bekannten und m. E. unhaltbaren Auffassung Luthers Staatsgedanken als einen wesentlich germanisch-deutschen Staatsgedanken, der nicht aus dem Begriff der Gesellschaft entstanden sei. Vgl. gegen Bergers Auffassung die auf S. 6 Anm. 1 zitierte Literatur. Zu unserem Thema ist als Zitatensammlung wichtig: Hermann Jordan, Luthers Staatsauffassung, 1917. Die Dissertation des Amerikaners Frank G. Ward, Darstellung und Würdigung der Ansichten Luthers vom Staat und seinen wirtschaftlichen Aufgaben (Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle, Bd. 21, 1898) ist nur als Stoffsammlung von Wert. Schließlich ist noch die Dissertation eines Schweden, E. Billing (Upsala 1900), zu nennen: Luthers lära om staten i dess samband med hans reformatoriska grundtankar och med tidigare kyrkliga läror. — Weitere Literatur, zumal zu Luthers Stellung zur Kirche, folgt in den späteren Anmerkungen dieses Abschnittes. l ) W. A. Bd. 18 (1908), S. 327. *) W. A. Bd. 19 (1897), S. 625, in der Schrift: Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können (1526) ; vgl. Grisar, Bd. III, S. 498, Brandenburg, S. 1 und v. Bezold, S. 66.

41 Diese gegensätzliche Stellungnahme Luthers, die während seiner ganzen Wirksamkeit zu beobachten ist und keineswegs als spontane Stimmungsausbrücbe zu bewerten ist, beleuchtet blitzartig die von Luther selbst ausgehende Unmöglichkeit, von ihm ein geschlossenes System zu verlangen. Und doch haben nicht nur Geschichte und Wissenschaft, sondern bereits die Mitwelt des Reformators, ja in letzter Linie er selbst auf seiner Lehre und Tat ein neues Kirchentum und einen neuen Staat aufgebaut. Um diese inneren Widersprüche aufzuhellen, ist es notwendig, sich immer wieder des Kerns der Persönlichkeit Luthers und des Zentrums seiner Lehre und Wirksamkeit zu erinnern. Luther hat die christliche Religion zurückgeführt auf das Evangelium. Diese neue Lehre und Wahrheit gilt es, für ihn zu bewahren; für ihre Erhaltung kämpft er mit allen Mitteln; nicht mit der verstandesscharfen Logik eines gelehrten Philosophen oder Rechtslehrers, sondern mit der elementaren Wucht und suggestiven Überzeugungskraft eines genialen Propheten. Was jenseits dieser Linie liegt, bewegt ihn innerlich nicht ausschließlich. Daß er trotzdem zu allen Dingen des öffentlichen Lebens Stellung nimmt und daß seinem Worte auch in außerreligiösen Fragen mit derselben Spannung gelauscht wurde, wie seiner Verkündigung des Evangeliums, liegt in der überragenden Stellung und Bedeutung, die ihm seine reformatorische Tat verschafft hat, und in der leidenschaftlichen Bewegtheit seines Temperamentes, das sich nicht bescheiden konnte und das sich nicht bescheiden wollte, wenn es galt, zum Schutze des bedrohten Evangeliums, auch in außerreligiösen Dingen, in den Kampf zu ziehen. Luthers Worte, Schriften und Taten, welche organisatorischen, sozialethischen und. politischen Dingen zugewendet sind, sind voller Unausgeglichenheiten und Widersprüchen. Das ist eine Tatsache, mit dpr sich die Wissenschaft abfinden muß. Alle bis auf den heutigen Tag mit juristischer und theologischer Methode — das heißt auf deduktiv-konstruktivem Wege — gemachten Versuche, irgend eine Seite lutherischer Wirksamkeit (soweit sie von dem religiösen Zentrum abführt) in einem geschlossenen System vorzuführen, muß scheitern und hat nur die Folge, daß die Kontrovers-Literatur immer weiter anschwillt. Darum ist Luther nun aber noch lange nicht ein innerlich von Widersprüchen durchsetzter und von Zweifeln gequälter, nervenschwacher Mensch, wie ihn Grisar darzustellen sucht. Ganz im Gegenteil. Die Gradlinigkeit und Konsequenz seines Handelns, Wirkens und Schreibens auf seinem ureigensten Gebiete als Doktor der Heiligen Schrift, als Verkünder und Verteidiger des Evangeliums, ist von

42 so gewaltiger Größe, wie sie in der Weltgeschichte nicht überboten worden ist. Dies zu beachten ist für die Beurteilung Luthers als Politiker und Kirchenorganisator wesentlich. Es liegt eine große Tragik sowohl für Luther als auch auf für das auf ihn aufbauende Luthertum darin, daß Luthers Wirken sich nicht auf die Verkündigung seiner religiöse^ Ideale beschränkt hat und beschränken konnte, sondern daß er zugleich Theologe und Kirchenstifter wurde. Gemeindekirchentum, Staatskirchentum und Summepiskopat, landesherrliches Kirchenregiment im Tcrritorialstaate, intolerante Kirchenzucht im absoluten Polizeistaate und schließlich auch Gewissens- und Glaubensfreiheit im modernen Staate sehen in Luther ihren — wenn nicht d e n ausschließlichen — intellektuellen Urheber. Brennende kirchen- und staatspolitische Fragen der jüngsten Vergangenheit suchte man in Luther zu ergründen. Seine Ansichten über den (gegenwärtigen) Staat und die (gegenwärtige) Kirche wurden erforscht und zur Belebung im Tageskampf verwertet. Das moderne Problem des Verhältnisses von Staat und Kirche, d. h. die Befreiung des Staates von der Kirche und die Trennung des Staates von der Kirche wurde auf Luther zurückgeführt. Man trieb Geschichte von oben und nicht von unten, d. h. man suchte aus den Fernwirkungen und nicht aus den Wurzeln das Lehrgebäude des Reformators aufzurichten. Seit den ziemlich gleichzeitig erschienenen glänzenden Darlegungen Sohms und den grundlegenden Untersuchungen Riekers ist mit dieser unhistorischen Betrachtungsweise gebrochen worden, wenn auch die neuen Ergebnisse nur schwer liebgewordene, alte Anschauungen verdrängen können. Luthers Ansichten über Staat und Kirche sind nur aus dem mittelalterlichen Gesellschaftsbegriff heraus zu verstehen. Es gab damals noch keinen modernen S t a a t ; der moderne Staat mit seiner immanenten Diesseitigkeit, seiner nationalen Geschlossenheit und politischen Freiheit ist nicht von Luther geschaffen. Erheblichen Anteil an dessen Schöpfung hat des Reformators Zeitgenosse Macchiavelli, zu dessen Anschauungen Luther — wenn er sie gekannt haben würde — im schärfsten Gegensatze gestanden hätte. Einen modernen Staat kennt Luther also nicht; darum kann für ihn das moderne Begriffspaar Staat und Kirche nicht vorhanden sein; ebensowenig wie bekanntlich das mittelalterliche Ringen zwischen »sacerdotium« und »imperium« aufzufassen ist als ein Kampf zweier gegensätzlicher Gemeinwesen. Nur aus der mittelalterlichen Weltanschauung heraus, die in der christlichen Welt eine göttliche Einheit erblickt, sind Luthers Ansichten zu verstehen.

43 Erheblich erschwert wird nun dieses Verständnis durch die Verschiebung der Terminologie. Luther kennt das Wort »Staat« 1 ) noch nicht und doch muß man diesen modernen »terminus« anwenden, wenn man wesensähnliche Begriffe bei Luther bezeichnen will. Daß hierdurch gewisse Unebenheiten sich nicht ganz werden vermeiden lassen, ist klar. Weltliches Regiment oder Obrigkeit sind die von Luther am häufigsten gebrauchten Worte, die nun, wenn auch nicht ganz korrekt, mit Staat bezeichnet werden sollen. Von den Elementen eines Staates: Regierung, Regierte und Gebiet beschäftigt sich Luther nur — ganz entsprechend der mittelalterlichen Anschauung — mit den beiden Ersteren. Nicht die rechtliche Stellung eines Amtes mit seinen Rechten und Pflichten beschäftigt ihn, sondern ihn interessieren am Amt und Werk zumeist nur die persönlichen Leistungen seines Inhabers, von dessen Pflichten, nicht aber von dessen Rechten er viel zu sagen weiß. Das Verhältnis zwischen Herrscher und Untertan wird eingehend erörtert. Das Gebiet und seine verfassungsmäßige Struktur, seine ethnologische und nationale Grundlage nimmt er kritiklos als eine vorhandene Tatsache hin. Das Römische Reich deutscher Nation mit seiner aristokratisch-ständischen Gliederung, das Territorium mit seiner Untergliederung vom Landesherrn bis zur Gemeinde, von der Gemeinde bis zum einzelnen Untertan, die große Fülle sich kreuzender Obrigkeitsverhältnisse sind für ihn so unbeachtenswerte Tatsachen, daß ihm — im Gegensatz zum modernen staats- und verfassungsrechtlich geschulten Blick — deren Existenz gar nicht zum Bewußtsein kommen konnte. Den Staat und die mit diesem Komplexe zusammenhängenden Fragen analysiert er nicht, wie das moderne Staatsrecht es tut, vom positiv-rechtlichen deskriptiven Standpunkte, sondern er moralisiert vom religiös-ethischen Standpunkte über den Staat. Ganz wie der mittelalterliche Philosoph oder Theologe raisonniert er über das Seinsollende und ignoriert fast ganz das Seiende. Eine Staatsrechtswissenschaft existiert noch nicht. Und schließlich noch ein wesentliches vorauszuschickendes Moment zum Verständnis von Luthers Staatsauffassung. Wenn auch Luther — von seinem Standpunkte nicht mit Unrecht — sich rühmen konnte, wie kein zweiter seit den Aposteln, ja mehr ') Zur Geschichte des Wortes »Staat«, das erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von Italien aus über Frankreich sich in Deutschland eingebürgert hat, vgl. den Artikel »Staat« von Ed. Loening in Handwörterbuch der Staatswissenschaften Bd. VII 3 , 1911, S. 692 ; Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. X, 2, Sp. 280/82 und Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1914, S. 129/35.

44 noch als Augustin und Ambrosius, die Anschauungen über den Staat geklärt zu haben, wenn auch die Anführung aller seiner Aussprüche über den Staat Bände füllen könnte, so hat er doch kein einziges Buch geschrieben, das ein System seiner Staatslehre enthielte, trotzdem er einer, und zwar einer der bekanntesten Schriften zu diesem Thema vom Jahre 1523, geradezu den ein System vermuten lassenden Titel gegeben hat: »Von weltücher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei.« Weder diese Schrift, noch die Schrift: »An den christlichen Adel« oder »Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können« (1526) oder die mit dem Bauernkrieg und den Wiedertäufern und derf Schwarmgeistern zusammenhängenden Schriften, noch die unübersehbare Masse von Aussprüchen zum genannten Fragenkomplexe in den homiletischen und exegetischen Schriften und anderwärts wollen mehr sein, als durch den Augenblick veranlaßte Äußerungen. So will Luther — um nur die beiden wichtigsten Schriften, an denen die Kontroverse sich stets von neuem entzündet, zu nennen — in der Schrift an den Adel die päpstliche Hierarchie und ihre Übergriffe in die Funktionen des Staates bekämpfen, während er in der Schrift von weltlicher Obrigkeit die dem Evangelium feindlichen Obrigkeiten, die sich der Verbreitung der Übersetzung des Neuen Testamentes entgegenstellten, in ihre rein weltlichen Schranken zurückweist. Ein Vergleich der Äußerung der beiden Schriften zeigt die völlige Gegensätzlichkeit. Luther hat darum noch nicht notwendigerweise seine Ansichten gewandelt, ist seinem Ideal untreu geworden, wie vielfach in fälschlich rationalisierender Bewertung ihm vorgeworfen wird, noch weniger sind diese gegensätzlichen Äußerungen — wie auch versucht ist — zu einer Einheitlichkeit zusammen zu kitten. Luther ist Beinem Grundsatze: dem Kampf für das Evangelium treu geblieben; das Staatliche — als an der Peripherie seiner Gedankenwelt liegend — kommt nu in Frage, soweit es dem Evangelium nützlich oder hinderlich ist. Nicht viel anders ist es mit den Aussprüchen, Schriften und Taten, die sich mit der Kirche und Kirchenverfassung beschäftigen, wenn auch hier Luther, da sie seinem göttlichen Berufe näher liegen, eine Reihe »ad hoc« geschriebener Schriften aufzuweisen hat. Aber auch hier nicht wegzudeutende Widersprüche, Wandel der Anschauungen und Beeinflussung durch äußere Verhältnisse. Soweit die unerläßlichen Voraussetzungen zum Verständnis von Luthers Theorie und Praxis in den mit Staat und Kirche zusammenhängenden Fragen. Entsprechend der mittelalterlichen Auffassung ist auch Luthers Staats- und Kirchenbegriff nur zu

45 entwickeln aus dem übergeordneten Begriff der christlichen Einheitskultur. Der Gegensatz zwischen Ideal- und Naturgesetz, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, der der mittelalterlichen Weltanschauung, ihrer Ideen- und Realgeschichte so eigentümlich ist, und — wie oben entwickelt ist — durch einen außerordentlich biegsamen Kompromiß überbrückt worden ist, durchzieht auch Luthers Denken und Wirken. Nur daß bei ihm, bei der Starrheit seines Charakters und der Stärke seines Wollens die Spannungen schroffer hervortreten, als in der die natürlichen Bedürfnisse des Menschen so fein herausfühlenden und berücksichtigenden Ethik des Katholizismus. Die in der Freiheit eines Christenmenschen zum Ausdruck gebrachte Antithese vom freien und unfreien Menschen, vom jenseitigen und diesseitigen Menschentum hat Luther zwar für seine Person zur Harmonie zu verschmelzen gewußt; in seiner Lehre und vor allem in deren Wirkungen ist sie ungelöst geblieben. Man kann somit aus Luthers Lehre — von der hier nur die Gesellschaftslehre, und zwar nur deren hauptsächlichste Gebiete: Staat und Kirche erörtert werden sollen — zwei Gedankenreihen herausschälen, die sich naturgemäß nur selten, wie in einem Idealschema, in absoluter Reinheit erkennen lassen, sondern zumeist in einem bunten Spiel von gegenseitigen Kreuzungen durcheinander gewürfelt vorfinden. Die eine dieser Vorstellungsreihen ist die s p i r i t u a l e, r e i n g e i s t i g e , jenseitige; unbekümmert um die Unerfüllbarkeit in der Wirklichkeit postuliert der Reformator hier das Seinsollende. Eine solche Gedankenreihe ist nicht, wie vielfach in der Wissenschaft angenommen wird, die einzige; aber sie ist vielleicht die Luther innerlich befriedigende. Im Gegensatz hierzu steht nun das Ringen Luthers: die Realitäten des Daseins, denen er keineswegs blind und verständnislos gegenübersteht, mit dem göttlichen Inhalt des Evangeliums zu verbinden. Es kommen hier Gedankenreihen zur Entwicklung, die man, im Unterschied zu den rein geistigen, d i e s s e i t i g e nennen könnte, die vielleicht noch häufiger als die spiritualen von Luther ausgesprochen, geschrieben und zur Anwendung gebracht worden sind, die ebenfalls wie jene andere, echt lutherisch sind; aber doch nur als eine innere Abfindung mit den gegebenen Verhältnissen aufzufassen sein werden. Luthers soziologische Ansichten gehsn, wie schon gesagt, von der Vorstellung vom christlichen Einheitskörper aus. Es ist zu deren Verständnis nötig, die in den mehr spiritualen Gedankenreihen zum Ausdruck gebrachten Auffassungen Luthers von dem

46 Wesen des Christen, seinen Begriff Christenheit und das Verhältnis von Mensch zu Christ zu analysieren 1 ). Scharf scheidet Luther zwischen dem wahren Christen und dem natürlichen Menschen, auch wenn er getaufter Christ ist. Der wahre Christ oder Christ schlechthin ist der christgläubige Mensch, der in der Erfüllung von Gottes Wort und nach den Bestimmungen Christi und des Evangeliums lebt. Ein solcher Christ, ein Heiliger, ein Erleuchteter, lebt nur nach inneren Gesetzen, ist Gast auf Erden, ist völlig losgelöst von allen irdischen Fesseln, ist frei, ist ein König aller Dinge. Er geht durch die Welt, wie ein Schatten, er lebt auch auf Erden schon im Reiche Christi, im Himmelreich. Diese völlig entmaterialisierte und vergeistigte Auffassung des Christenmenschen ist in der Askese und Mystik des Mittelalters auch schon vorhanden. Sie hat, wie bei Luther, ihre Wurzel in der Lehre Christi. Die Beziehungen eines solchen Christen zu dem natürlichen Leben sind nur zu denken auf dem Boden einer weltverneinenden und weltverachtenden, supranaturalen Grundstimmung. Dem Reiche der Welt steht das Himmelreich, das Reich Gottes, gegenüber. »Der Fürst dieser Welt« ist der Satan, der Fürst des Christentums ist Christus. Auch diese Auffassung, die Luther vielfach bis ins einzelne ausspinnt, ist mittelalterlich. »Das weltliche reich gehet über die Schelcke und böse buben, Das geistliche gehet über die Christen und Kinder Gottes. Der Keiser ist ein Schalckswirt, Denn er hat in seinem Reich und hause eitel schelck und buben. Widerumb Christus ist ein König der fromen, welcher in seinem Reich eitel Christen hat.« So predigt Luther in Auslegung von Job. 18,19—24 am 16. Januar 15292) und an einer anderen Stelle dieser Predigt heißt es: »So dir nun gewalt und unrecht geschieht, sprich: Das ist der weit R e g i m e n t . . . . Wir dienen hie in einem wirtshause, da der Teufel Herr ist und die Welt Hausfrawe und allerley böse Lüste sind das hausgesind, und diese alle sampt Hausherre, Hausfrawe und hausgesinde sind desEuangelii feinde und Widersacher.«Wenn nun auch diese Gedankenreihe dem Mittelalter durchaus geläufig ist, so scheidet sich Luther von ihm in der Befolgung dieser Anschauung bei der Entwicklung seines Kirchenbegriffes 3 ). 1

) Vgl. hierzu neben den in nachfolgender Anmerkung zu nennenden Schriften vor allem Karl Eger a. a. O. S. 68 ff. 2 ) W. A. Bd. 28 (1903) S. 281 und 329; vgl. auch Brandenburg a. a. O. S. 5. 3 ) Die Literatur über Luthers Kirchenbegriff ist außerordentlich kontrovers. Zum Teil ist sie auf S. 29 Anm. 1, S. 34 Anm. 3, S. 36, Anm. 2 und S. 38 Anm. 2 angeführt worden; dazu kommen noch die noch immer unentbehrliche und vollständigste Untersuchung von

47 Die Auffassung von dem gemeinsamen Leben Christi mit seinen Anhängern auch nach seinem Tode, die Vorstellung von der Christenheit auf Erden als dem sichtbaren Leibe Christi, dessen unsichtbares Haupt der im Himmel weilende Christus ist, ist die Keimzelle der mittelalterlich katholischen Gesellschaftslehre geworden. Das ocöfja XQIOTOV, das »corpus mysticum« ist organisiert in der Kirche, der batXrpia, d. h. der Vereinigung des Gottesvolkes. Die Organisation dieses Christenvolkes auf Erden geschieht in dem christlichen Staate, in welchem die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist, zu regieren über die Menschen mit dem geistlichen und weltlichen Schwerte. Aus dieser Auffassung heraus, unter Anerkennung der kirchlich-weltlichen Organisation als einer geschichtlich gegebenen Realität und der Spiritualität des Christenvolkes im »corpus mysticum« baut sich Luthers Gesellschaftslehre auf. Seine Erkenntnis von der weltlichen Entartung und sittlichen Verwilderung der Papstkirche treibt ihn, nachdem ihm die neue Auffassung der christlichen Wahrheit im Evangelium aufgegangen war, zum Kampf gegen diese, läßt ihn zu einer neuen Auffassung des Kirchenbegriffes kommen; wenn auch der mittelalterliche Aufriß von der Göttlichkeit und Katholizität der christlichen Gesellschaft, des christlichen Weltstaates unangetastet bleibt. Es wird ihm alles innerlicher, geistiger. Die Kirche oder d. h. die Christenheit ist »eyn vorsamlunge aller Christgleubigen auff erden«, »ein vorsamlung der hertzen in einem glauben« 1 ). Die Kirche oder, besser gesagt, die Christenheit, das christliche Volk, ist unsichtbar, nicht abhängig von einem weltlichen Oberhirten, von dem Papste und seiner weltumspannenden Hierarchie, nicht gebunden an eine räumliche Vereinigung; sie ist überindividuell, übernational, ist spiritualuniversalistisch. Die Kirche ist unsichtbar, sie bedarf keines Hauptes auf Erden. Das unsichtbare Haupt der Christenheit ist Christus; er Julius Köstlin, Luthers Lehre von der Kirchc, neue Ausgabe 1868; ferner Reinhold Seeberg, Der Begriff der christlichen Kirche I, 1885, S. 78 ff.; Ernst Rietschel, Luthers Anschauung von der Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit der Kirche (Theol. Stud. u. Krit. Jg. 73, 1900, S. 404 bis 456), hier die vollständigste Erörterung des Problems und Anführung der älteren Literatur. Rudolf Sohm hat seine bekannte Ansicht über diese Frage neuerdings im schroffsten Gegensatz zu Troeltsch noch schärfer formuliert und pointiert in: Weltliches und geistliches Recht (S.-A. aus der Festgabe der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Karl Binding), 1914, S. 43 ff. ') W. A. Bd. 6 (1898), S. 292 f. in der Schrift von 1520: Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig.

48 ist in jedem Christen. Das Christenvolk bedarf keiner Organisation, keiner Gesetze; es ist eine übersinnliche Gemeinschaft vollkommen gleichwertiger Heiliger. Es bedarf keines Mittlers im Verkehr mit Gott; kein besonders geweihter Priester hat sich zwischen die Mitglieder der über die ganze Welt zerstreut wohnenden Gemeinde und Gott zu stellen. Alle sind gleichen Standes, alle sind Priester, sind Heilige. Ein jeder kann predigen, kann taufen, ja ein jeder kann — wie es gelegentlich heißt — das Abendmahl reichen. Doch bei dieser äußersten Konsequenz des allgemeinen Priestertums ist Luther, selbst bei Entwicklung der rein geistigen Gedankengänge selten stehen geblieben; er schränkte die unbegrenzte Betätigungsmöglichkeit der wahren Christgläubigen insofern ein, als er zur Verabreichung der Sakramente und vor allem zur Verkündigung des Evangeliums, des Wortes, einen durch die Gemeinde zu bestimmenden Prediger bestellt wissen will. Aber dieser Prediger ist kein Vertreter eines besonderen Standes; denn alle Christen sind Priester durch die Taufe. Ein Unterschied zwischen Priester und Laien existiert nicht. Es ist bekannt und braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden, daß Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum mit all ihren Folgerungen als Ausgangspunkt für die gemeindekirchliche Entwicklung angesehen worden ist, und daß Luthers ebenso bekannte, hiervon völlig abweichende Ansichten über die Notwendigkeit des Predigtamtes und der episkopal-monarchisch regierten Kirche und des landeskirchlichen Regimentes als ein Bruch mit dem ursprünglich Neuen und als ein Rückfall in den Katholizismus angesehen worden sind und vielfach noch angesehen werden. Luther hat die in der Richtung des allgemeinen Priestertums und der Kirche als der Versammlung aller Christgläubigen liegenden Gedanken nie fallen gelassen. In ihnen liegt zunächst kein konstitutives, sondern ein religiöses Prinzip, das unbekümmert um die Realisierbarkeit aus innerer Notwendigkeit heraus entsprungen ist; es hat darum trotzdem seine Bedeutung als organisierendes Prinzip gehabt. Die Übertragung der Lehre vom allgemeinen Priestertum aus der Sphäre des rein Geistigen, Religiösen in die weltlich-sinnliche Sphäre, ihre Vergröberung und radikale Ausnutzung durch die Schwarmgeister und Wiedertäufer drängte Luther im Laufe der Jahre häufig ab von der oben entwickelten Linie; die Notwendigkeit des Organisierens einer an sich nicht organisierbaren Materie entwickelte in ihm mehr und mehr die andere, diesseitige Gedankenreihe, obwohl auch diese bereits von Anfang an erkennbar ist1). 1 ) Vergl. Walter Sohm, Die Soziallehren Melanchthons (Hist. Zeitschrift Bd. 115, 1915, S. 64 ff., bes. S. 68).

49 In Verfolgung der rein religiösen und spiritualen Gedankengange ist Luther von souveräner Gleichgültigkeit gegen die weltlichen Angelegenheiten. Der Christ lebt nun einmal in dieser schlechten Welt, er muß sich mit ihr abfinden, denn sein Los auf Erden heißt leiden, das Kreuz tragen und er muß den von der Welt diktierten unchristlichen Gesetzen gehorchen; sein Gewissen und seiner Seele Seligkeit können diese nicht berühren. Essen und Trinken, die Ehe, kurzum alles Natürliche ist zwar notwendig, aber nicht christlich. Der Kaiser, der Fürst oder jede Obrigkeit ist nicht christlich, die Heiden haben viel vortrefflichere Gesetze gemacht als die Christen, eben weil sie nicht Christen sind, sondern nur nach dem Dikt te der Vernunft gelebt haben. Der wahre Christ hat mit allen diesen Dingen nichts zu tun. Die Obrigkeit darf sich nicht unterfangen in Gewissensfragen, d. h. in rein religiösen Dingen dem Christen hineinzureden; sie ist nicht dazu da die Seelen zu regieren, dies ist allein Christi Amt, bezw. des seine Lehre zum Ausdruck bringenden göttlichen Wortes. Mit besonderer Heftigkeit verwahrt sich Luther in solchen Zusammenhängen z. B. gegen den Versuch, den Kaiser als Oberhaupt der Christenheit zu bezeichnen und ihn zum Kampfe gegen die Türken anzufeuern. Der Kaiser ist kein Christ und die gegen die Türken ziehenden christgetauften Heere sind keine Christen. Man sieht: bei einer derart von allem Irdischen losgelösten Abstraktion der Dinge kann von einer positiven Staatsauffassung Luthers nicht die Rede sein. Das religiöse, spiritual-kirchliche absorbiert das weltlich-staatliche vollkommen. Von jeher hat die Wissenschaft bei der Beschäftigung mit Luthers Ansichten von Staat und Kirche sich mit dem Verhältnis dieser beiden zu einander beschäftigt. Bis auf den heutigen Tag ist eine Einigung darüber noch nicht erzielt. Das Interesse an diesem Problem — das in Wahrheit für Luther aber gar kein Problem ist — ist bedingt durch mehr politische als historische Auffassung desselben. Staat und Kirche als von einander unabhängige rechtliche Institutionen sind moderne Erzeugnisse und können deshalb für Luther nicht existieren. So häufig er auch über die Funktionen von weltlichem und geistlichem Regiment gesprochen und geschrieben hat und so folgenreich auch die durch seinen Angriff auf die päpstliche Hierarchie bewirkte Verschiebung innerhalb jener beiden Sphären geworden ist, so hat er doch niemals jene Gedankengänge haben können, die den vom modernen Standpunkte rückschauenden Beobachter bei ihm interessieren. Große Vorsicht ist deshalb bei Auslegung und WOlff.

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50 Beurteilung einzelner besonders wichtiger Stellen seiner Schriften am Platze 1 ). Es kann nun nicht, wie so h&ufig, aus Luthers Schriften gefolgert werden, daß durch die vollständige Beschränkung des weltlichen Regimentes auf weltliche Funktionen der moderne (unchristliche) Staat von ihm geschaffen worden sei. Die berühmte Stelle in der Schrift an den Adel: »Christus hat nit zwey noch zweyerley art corper, einen weltlich, den andern geistlich. Ein heupt ist und einen corper hat er2)«, kann nicht anders gedeutet werden, als daß hierin die mittelalterliche so oft erwähnte Auffassung von der einheitlichen, christlichen Weltordnung zum Ausdruck gebracht worden ist. Staat und Kirche sind, wie Rieker 8 ) anschaulich ausgedrückt hat, nicht zwei selbständige Kreise, sondern die beiden Brennpunkte einer Ellipse und diese ist das »corpus cbristianum«. Wie verhält sich nun das »corpus christianum« zum »corpus mysticum«? Sind dies notwendigerweise Gegensätze bezw. inkommensurable Größen; drückt das erstere nur die Summe kirchlich-staatlicher Institutionen, das andere nur eine rein geistige Seelengemeinschaft in Christo aus? Auf den ersten Blick will es gewiß so scheinen. Aber — wie im zweiten Abschnitt dieser Studie dargelegt worden ist — gibt das Neue Testament, das ja für Luther d i e Quelle seiner religiösen Lehre und seiner Auffassungen von Welt und Leben geworden ist, nicht bereits schon den genügenden Aufschluß dafür, wie aus unzweifelhaft vorliegenden Antinomien eine innere Einheit durch Verschmelzung möglich wird ? Bereits im Neuen Testament, bereits sogar in den verschiedenen Herrenworten, ist die Möglichkeit zur Lösung gegeben; dort sowohl, wie im Urchristentum und im katholischen Mittelalter, werden die Gegensätze zwischen Idee und Realem zurechtgebogen zu einer lebensfähigen Einheit. Der rein geistige Begriff des »corpus mysticum« wird dem lebendigen, daseienden Weltorganismus substituiert. Der weltliche Kosmos wird christianisiert. So auch bei Luther, der — ohne sich eines Widerspruches bewußt zu werden — jenen oben zitierten Ausspruch in seiner Schrift an den Adel belegt durch Stellen aus Rom. 12 und 1. Kor. 12, die nur von der rein geistigen transzendenten Gemeinschaft der an Christus Glaubenden handeln4). Die *) Wie nötig dies ist, hat besonders Meineckes scharfsinnige Untersuchung bewiesen. 2 ) W. A. Bd. VI (1888), S. 408. •) Rieker a. a. O. S. 54. *) Vgl. Meinecke a. a. O. S. 11. Mir scheint, daß durch diese Verschmelzung beider Begriffe die Gegensätze in den Ansichten Riekers und Holls am ersten auszugleichen sein werden.

51 Gegensätze, die bei Luther in seiner ganzen Lehre so augenfällig sind, werden einem durchaus verständlich, wenn man ihn von unten aus, aus der gesamten christlichen Vergangenheit, in der sie Gemeingut sind, betrachtet. Sie bleiben rätselhaft und unlöslich, wenn sie vom modernen Standpunkte aus gedeutet werden. Daß es nicht angeht, Luthers Auffassung von Staat und Kirche nur aus der rein geistigen Sphäre, die aus dem »corpus mysticum« und sich aus diesem Ideenkreise ergebenden Folgerungen eine absolute Gröfie macht, zu ergründen, wird einem klar, wenn man Luthers mehr diesseitige Gedankenreihen über Staat und Kirche einer Prüfung unterzieht. Die Kirche, d. h. das Christenvolk ist unsichtbar; auch die sichtbare Kirche, die »notae externae ecclesiae«, die Ausdrucksformen, in Wort und Predigtamt, sind nur den Gläubigen erkennbar, also auch unsichtbar — so ist die rein religiöse Deutung des lutherischen Kirchenbegriffes, die von Sohm, Rietschel und anderen als die alleinige angesehen wird —; aber trotzdem lehrt auch Luther: »extra ecclesiam nulla salus!« Auf einer unsichtbaren Kirche läßt sich kein Lehrgebäude errichten, kein Kirchentum stiften. Luther war trotz seiner weltentrückten Grundstimmung zu weltoffen, als daß er die Notwendigkeit einer Organisation nicht einsah. Nicht erst nach dem Zusammenbruch der Hoffnungen Luthers auf die reine zwanglose und nur mit innerlichen Mitteln erreichbare Durchsetzung seiner Lehre, den die einen in die Zeit der Kämpfe mit Karlstadt und Münzer, die anderen in das Sturmjahr 1525 setzen, sondern von Anbeginn der reformatorischen Entwicklung Luthers und in stetem bunten Durcheinander mit den vollkommen vergeistigten Ideen beschäftigen sich seine Gedanken mit den Realien des Lebens. Immerhin wird man sagen können, daß im Laufe der Zeit die mehr materiellen Gedanken Luthers stärker in den Vordergrund traten, als die rein geistigen. Er wird in ihnen mehr von den Zeitverhältnissen und äußeren Umständen getrieben, wechselt bezw. verändert und entwickelt seine Anschauungen hier in erhöhtem Maße, ist viel weniger selbständig als auf seinem ureigensten Gebiete der Verkündigung des reinen Evangeliums. Es kann unmöglich die Aufgabe dieser Studie sein, die außerordentlich zahlreichen Fragen zu beantworten, die sich nun aus Luthers Stellung zur Entwicklung des äußeren evangelischen Kirchentums ergeben. Ob oder — wenn ja — warum Luther die ursprüngliche Absicht, die Kirche auf dem Prinzip des LaienChristentums aufzubauen, fallen gelassen hat, warum er zugelassen hat, daß in den Visitationen immer mehr das Schwergewicht von der Prüfung und Läuterung des evangelischen Zustandes der Pfarrer überging auf eine Beaufsichtigung der Geistlichen durch 4»

52 den Landesherrn, warum er die ursprüngliche Ansicht von der Bekämpfung der Ketzer mit geistigen Mitteln aufgegeben hat und die schroffste Verfolgung und Vernichtung durch den Landesherrn geduldet und gefordert hat, warum es mit seinem Wissen und Zutun und, ohne daß er das gehindert hat, geschehen ist, daß alle Funktionen des Bischofs auf den Landesherrn übergingen, daß dieser ursprünglich vielleicht als »Notbischof« gedacht, schließlich auch bei Streitigkeiten in Fragen der reinen Lehre hinzugezogen wurde und den Ausschlag gab, — alle diese und noch viele andere Fragen, die in so überreichem Maße erörtert worden sind, stehen hier nicht nochmals zur Diskussion. Es handelt sich in dieser Studie nur darum, die lutherische Gedankenwelt zu erkennen zu suchen und nur die für das Verständnis seiner Weltanschauung wesentlichen Momente aus seiner Persönlichkeit, Lehre und Wirksamkeit herauszuarbeiten. Die' Tatsache kann nun nicht weggeleugnet werden, daß zwischen der Kirche als »communio sanctorum«, als einer Versammlung im Herzen und der auf die schroffe Autorität und Alleinherrschaft der Bibel gestützten Zwangskirchenanstalt 1 ) ein Unterschied ist, den Luther zwar noch in seiner Person verschmelzen konnte, der aber in seiner Wirkung auf die Außenwelt unüberbrückbar wurde. Diese schließliche Ausgestaltung der lutherischen Kirche, die so himmelweit abweicht von den Idealen von 1520, nur auf Konto eines verwässernden Rationalismus seiner Mitarbeiter, vor allem Melanchthons, zu setzen und auf die Schultern schwächlicher Epigonen, eben jenes orthodoxen Luthertums, abbürden zu wollen, ist nicht möglich. Mag auch diese schroffe Entwicklung weniger aus Luthers Schriften, in denen biB an sein Lebensende die rein geistige Gedankenrichtung auch zu Worte kommt, zu erkennen sein, sie ist darum doch vorhanden. Sie hat sich vollzogen zu Luthers Lebzeiten, ohne daß er seine bis zum letzten Atemzuge ungebrochen gewesene Autorität dagegen eingesetzt hätte. Man darf schließlich auch nicht sagen, daß allein die Tatsachen mächtiger als die Ideen Luthers gewesen wären, daß er gegen sie nicht hätte ankämpfen können, sondern es ist die eingangs ausgeführte Wechselwirkung in der Geschichte zwischen Ideen und Tatsachen auch an ') Die gegen Troeltsch gerichteten Ausführungen von Friedrich Loofs, Luthers Stellung zum Mittelalter und Neuzeit (Hallenser Rektoratsrede 1 9 0 7 ; in Deutsch-evangelische Blätter J g . 32, 1 9 0 7 , S. 5 1 3 / 3 8 ) , bestreiten mit besonderer Schärfe die Zwangskultur bei Luther (S. 527 ff.), halten sich dabei aber wie die meisten Gegner Troeltschs, so vor allem auch Sohm (a. a. O. 1914), ganz einseitig an die rein geistigen Gedankenreihen Luthers, in denen sie allein den echten Luther sehen.

53 Luthers Werk und Persönlichkeit zu erkennen. Die geschichlichen Tatsachen wirkten auf L u t h e r so mächtig ein, daß sie hinwiederum seiner Lehre eine entschiedene Richtung aus dem Abstrakten in das Gebiet des Gegenständlichen gaben. Der Caesaropapismus eines Bonifaz VIII., die unumschränkte Handhabung der zwei Schwerter durch die Kirche bestand selbst zu Zeiten der »unam sanctam« Bulle restlos nur noch in der Theorie. Es ist jetzt allgemein bekannt 1 ) und wird durch jede Spezialuntersuchung von neuem bestätigt, daß nicht erst durch die Reformation der weltlichen Obrigkeit in kirchlichem Dingen ein wesentlicher Einfluß eingeräumt worden ist. Der Niedergang der beiden höchsten Autoritäten in der Christenheit, des Papsttums und des Kaisertums schuf in Deutschland im späten Mittelalter eine neue Lage, die durchaus den Territorialfürsten zugute kam. Das Papsttum hatte das Bedürfnis in seinem Selbstbehauptungskampfe gegen die konziliare Bewegung durch Verleihung von größeren Rechten an den weltlichen Arm sich dessen Unterstützung gegen die Bischöfe zu vergewissern. Der Kaiser als »advocatus ecclesiae« kam hierfür nicht mehr in Frage, da seine Machtstellung im Reiche immer mehr zugunsten der Territorialfürsten zusammenschrumpfte; an seine Stelle traten nun auch in Erringung kirchlicher Privilegien die Landesfürsten. Die Gewalt des Bischofs in weltlichen Dingen und in kirchlichen Verfassungsfragen glitt immer mehr hinüber auf die werdende Landeshoheit des betreffenden Gebietsfürsten. So geschah es auch, wie überall im Reiche, in Kursachsen, dessen Verhältnisse das tägliche Vorbild für Luther wurden 2 ). So kam es denn, daß die Reformation, die bereits eine ziemlich entwickelte Landeshoheit in kirchlichen Dingen vorfand, mit historischer Notwendigkeit in ein Landeskirchentum, in ein Kirchenregiment, d. h. die vollständige Gewalt des Landesherrn *) Am ausführlichsten ist die Literatur über die vorreformatorische Entwicklung der kirchlichen Landeshoheit zusammengefaßt bei A. Werminghoff, Verfassungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittelalter, 2. Aufl., 1913, S. 87 ff.; vgl. auch Sehling a. a. O. *) Erich Brandenburg, Zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregimentes im albertinischen Sachsen (Hist. Vierteljahrschr. N. F. IV, 1901, S. 195 ff.); Karl Müller, Die Anfänge der Konsistorialverfassung im lutherischen Deutschland (Hist. Zeitschr. Bd. 102, 1909, S. 1 ff.); Rudolf Zieschang, Die Anfänge eines landesherrlichen Kirchenregimentes in Sachsen am Ausgange des Mittelalters, Leipziger philos. Dissertation 1909 und K. Pallas, Die Entstehung des landesherrlichen Kirchenregiments in Kursachsen vor der Reformation (Neue Mitteilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen, Bd. 24, 1910, S. 129/71).

54 in kirchlichen und religiösen Dingen innerhalb seines Gebietes, einmünden mußte. »So sind es also — wie Hmtze 1 ) treffend sagt — nicht eigentlich evangelische Prinzipien, sondern politische und soziale Verhältnisse, die die Formen des evangelischen Kirchenregiments bestimn.t haben. Die historische Lage hat einen stärkeren Einfluß geübt, als die Doktrinen; ja diese selbst zeigen deutlich die Einwirkung der realen Verhältnisse, unter denen die Ausbreitung der evangelischen Lehre stattfand.« Was hier für die Reformatoren und Reformation in ihrer Gesamtheit gesagt ist, gilt im einzelnen auch für Luther. Luther hat die Eingriffe der päpstlichen Kirche in weltliche Funktionen stets bekämpft, er hat für die dem Evangelium anhängenden Christen den Wirkungskreis der Kirche auf die persönlichsten Fragen des Glaubens und Gewissens beschränkt. Er hat die päpstliche Hierarchie durch die Aberkennung des besonderen Priesterstandes gebrochen. Er hat zwar gelegentlich mit großer Schärfe das weltliche Schwert vor Eingriffen in die religiöse Gewalt gehindert, er hat aber ebenso der weltlichen Gewalt auf Grund des allgemeinen Priestertums das Notrecht und die Pflicht zugestanden und auferlegt, in die kirchlichen Verhältnisse, wenn diese von der dazu befugten Gewalt vernachlässigt werden sollten, bessernd und ändernd einzugreifen. Letzteres war das Häufigere. Er blieb jedoch stets im Rahmen der mittelalterlichen Zwei-SchwerterTheorie. Im Banne rein religiöser Gedankenreihen reißt er die Mauer des Priesterstandes nieder, statuiert das allgemeine Priestertum der Christgläubigen und löst anscheinend die einheitliche christliche Weltordnung auf. Bei erdwärts gerichtetem Blicke aber teilt er die Welt in drei neue Stände 1 ) ein, die er gelegentlich in neuer Spiritualisierung drei Hierarchien nennt. Die Welt zerfällt in drei »ordines« bezw. »status«: nämlich den »ordo oeconomicus«, den »ordo politicus« und den »ordo ecclesiasticus«. Alle drei Stände sind von Gott eingesetzt; in allen drei Ständen ist eine leitende Persönlichkeit, kraft göttlichen Amtes, und sind geleitete Personen, Regierte, Untertanen, die zu gehorchen haben. Im »ordo ecclesiasticus« ist der Prediger das Oberhaupt und die Gemeindeglieder sind die Untertanen. Im »ordo oeconomicus«untersteht dem Haus') Otto Hintze, Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen (Hist. Zeitschr. Bd. 97, 1906, S. 73; wieder abgedruckt in des Verfassers Historische und Politische Aufsätze, Bd. III, S. 115). 2 ) Am ausführlichsten hierüber: Köstlin, Luthers Lehre von der Kirche, a. a. O., und K. Köhler, Die altprotestantische Lehre von den kirchlichen Ständen (Zeitschrift f. Kirchenrecht Bd. XXI, 1886).

55 vater die ganze Familie und das Hausgesinde im weitesten Umfange ; er hat das unumschränkte Regiment, zu strafen, zu richten und zu lehren. Dieser »status oeconomicus «ist die sittliche Grundlage des ganzen öffentlichen Lebens. Nach denselben Grundsätzen geht es auch in dem »ordo politicus« zu. Wie anders faßt Luther das Wesen einer Obrigkeit vom rein spiritualen Gesichtspunkt auf! Dort ist der Kaiser usw. kein Christ, dort ist der Fürst dieser Welt Satan, dort sind Heiden bessere Regenten als Christen, dort gibt es keinen christlichen Staat; hier bei erdwärts gerichtetem Blicke wird die Obrigkeit zur christlichen Obrigkeit, ist der Regent ausgestattet mit einer Reihe von Pflichten zur Erhaltung des Evangeliums und der christlichen Sittlichkeit, muß er strafend einschreiten gegen die Ketzer, hat die Obrigkeit ganz bestimmte Kulturaufgaben, wird §ie zum Funktionär des christlichen Polizeistaates. Dort im Bereiche der wahren Christen ist kein Gesetz nötig; hier muß es sein zur Bestrafung der Bösen, zum Schutze der Guten. Im Verhältnis des Untertans zur Obrigkeit kommt in beiden Gedankenreihen die gleiche Forderung zum Ausdruck; nämlich die der unbedingten Gehorsamspflicht. Denn »jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat, denn es ist keine Obrigkeit, denn von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott geordnet.« Doch ist die Ausprägung dieser Gehorsamspflicht eine erheblich verschiedene, je nach der jeweils betonten Vorstellungsreihe. Dort ist der Christ der weltentrückte Heilige, der als Gast auf Erden den Gesetzen gehorcht, die nicht für ihn sind, zu denen er kein inneres Verhältnis hat; er gehorcht ihnen, auch wenn es sein müßte gegen seine Überzeugung, als Märtyrer, denn: »Nehmen sie den L e i b . . . . , das Reich muß uns doch bleiben.« Hier gehorcht er als Christ der christlichen Obrigkeit, die weiser und verständiger ist als er. Dort die asketische Weltindifferenz, von der aus der Christ — nur um sein Seelenheil bemüht — den Gehorsam als lästiges Übel betrachtet; hier ist er der Christ, der sein Seelenheil auch darin findet, wenn er in sozialem Altruismus den Gehorsam ausübt, als Werk christlicher Nächstenliebe. Dort ist es eine völlige Gegensätzlichkeit zwischen menschlicher Vernunft und göttlicher Offenbarung, zwischen Gesetz und Evangelium; hier findet eine Durchdringung des Naturrechts mit dem Göttlichen statt. Also auch bei Luther genau derselbe Verschmelzungsprozeß, wie im urchristlichen und katholischen Gesellschaftsbegriff. Die rein geistige, transzendente Sphäre ergießt sich in die irdische, christianisiert das Dasein auf Erden. Die Pflichten des Untertans zur Obrigkeit stehen für Luther fest; mit eiserner Konsequenz hat er sich bekanntlich gegen jeden

56 Aufruhr gewendet; viel weniger sicher ist er bei der Beurteilung der Pflichten der Obrigkeit gegen die Untertanen. Nichts ist törichter, als Luther einen Fürstenknecht zu schelten, wie es die sozialistische Geschichtsauffassung t u t ; er hat die kräftigsten Worte gegen die pflichtwidrige Obrigkeit gefunden. Schwankend und voller Widersprüche jedoch steht Luther dem Satze: »Man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen «gegenüber. Es ist bekannt, daß dieses Bibelwort eine Hauptwurzel der mittelalterlichen Widerstandslehre und somit auch der modernen radikalen Demokratie geworden ist. Die mittelalterliche Auffassung vom »rex iniquus« und der Absetzbarkeit eines »tyrannus« findet sich auch bei ihm; aber der Konflikt zwischen dem leidenden Gehorsam und der entschlossenen Tat der gewaltsamen Verteidigung des Evangeliums bleibt ungelöst 1 ). Die Schmalkaldener haben schwer unter dieser unpolitischen Auffassung ihres geistigen Führers gelitten; das gleiche Schicksal ist dem quietistisch-patriarchalischen lutherischen Fürstentum im Zeitalter der Gegenreformation beschieden gewesen, ganz im Gegensatz zu der rücksichtslosen Entschlossenheit zum Kampf für ihre religiösen Ideale bei den Kalvinisten Westeuropas. Die Ansichten Luthers über die Einteilung der Welt in drei Stände kann man, so häufig er sie vorgetragen und im einzelnen ausgeführt hat, nicht als eine feste Lehre des Reformators auffassen. Sie ist für ihn nicht von konstitutiver Bedeutung geworden, sondern mehr ein religiöser Anschauungskomplex geblieben. Die Idee des allgemeinen Priestertums mag der Ausgangspunkt gewesen sein; daher auch die häufige Bezeichnung der drei Stände, als der drei Hierarchien. Wie wenig systematisch Luther im Gegensatz zu dem auf ihm aufbauenden Luthertum hier vorgeht, zeigt z. B. seine gelegentliche Einteilung der menschlichen Berufe in Anlehnung an Piatons Tiohreia in zwei Stände, oder wie er es hier l ) Vgl. Karl Müller, Luthers Äußerungen über das Recht des bewaffneten Widerstandes gegen den Kaiser (Sitzungsberichte der Kgl. Bayer. Akademie d. Wiss., Philos.-hist. Kl., 1915, 8). Auf Grund des von Müller gesicherten Quellenmaterials ist die vortreffliche vergleichende Studie von Fritz Kern' entstanden: Luther und das Widerstandsrecht (Zeitschr. d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgeschichte Bd. 37, Kanon. Abt. Bd. 6, 1916, S. 331—340). Ein Referat hierüber findet sich schließlich bei Hans Fehr, Das Widerstandsrecht (Mitt. d. Inst, f. österr. Geschforsch. Bd. 38, 1918, S. 20/23). — Die ältere Arbeit von Ludwig Cardauns, Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volks gegen die rechtmäßige Obrigkeit im Luthertum und im Calvinismus des 16. Jahrhunderts, Bonner philos. Dissert. 1903, ist durch obige Schriften überholt.

57 nennt, in zwei Ämter oder Stände: »Agriculturam und Militiam«, d. i. in Nährstand und W e h r s t a n d A u c h bringt ihn die niemals aufgegebene mittelalterliche Gesellschaftsauffassung von den zwei Gewalten, der kirchlichen und weltlichen, von selbst wieder zu einer Zweiteilung zurück. Denn da der »ordo oeconomicus« und »politicus« beide weltlicher Natur sind, also beide im Gegensatz zur Kirche stehen, so verschmelzen sie für ihn innerlich zu dem alleinigen weltlichen »ordo«. Vergegenwärtigt man sich nun noch einmal Luthers Auffassung, Lehre und Wirksamkeit von Staat und Kirche und dem Verhältnisse beider zueinander, so ist zu sagen, daß der mittelalterliche Aufriß von der Zweiteilung der Gewalten innerhalb der christlichen Gesellschaft bleibt. Trotz der sich aus der Lehre vom allgemeinen Priestertum ergebenden Möglichkeit einer völligen Auflösung dieses Weltbildes hat Luther diese Konsequenz nicht gezogen. Entgegen der hochmittelalterlichen Anschauung von der Suprematie des geistlichen Schwertes über das weltliche hat er die Kirche, d. i. die verfaßte und organisierte Institution in ihre religiösen Schranken zurückgewiesen. Doch auch dies ist durchaus mittelalterlich; denn während des ganzen Mittelalters, überwiegend natürlich im frühen und ausgehenden Mittelalter, wurde die Gleichberechtigung beider Schwerter bezw. Schlüssel sowohl von geistlichen wie weltlichen Publizisten und Theoretikern vertreten und gelehrt. Durch die Beseitigung des Priesterstandes und der gesamten päpstlichen Hierarchie, sowie durch Verkündung der Lehre von der Gleichheit der Menschen vor Gott, vollzog sich nun aber doch bei Luther eine außerordentliche Verschiebung in dem Verhältnisse der beiden Gewalten innerhalb des christlichen Einheitsreiches. Der weltliche Arm der Christenheit, der nun auch priesterlich geworden, wird — wie Melanchthon es formuliert hat — zum »praeeipuum membrum ecclesiae«; der Landesherr erhält die »custodia utriusque tabulae«. Die ungeheure Autorität Luthers bei Mit- und Nachwelt, sowie die Stärkung der Landeshoheit (welche bereits am Ausgang des Mittelalters in stetig fortschreitender Entwicklung kirchliche Hoheitsrechte sich usurpiert hatte) durch den Kampf der Reformatoren gegen das Papsttum förderten den deutschen Territorialstaat in seiner Ausbildung zum modernen Staate in erheblichem Maße. Darum ist doch, wie gezeigt worden ist, Luthers Staatsauffassung durchaus mittelalterlich gewesen und ist in wesentlichen Punkten, so in der Vertiefung des religiösen supranaturalen Berufes ») W. A. Bd. 19 (1897), S. 654 in der Schrift: Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können (1526).

58 des Stäates, der modernen Auffassung von der Diesseitigkeit desselben, wie sie in der Renaissance soeben zum ersten Male zum Ausdruck gekommen war, direkt hinderlich geworden. Das Interesse an staatlichen Dingen bleibt für Luther als Mann des Evangeliums stets Nebensache. Luther ist keineswegs, wie Hermelink1) es kürzlich zum Ausdruck gebracht hat, zu den größten Realpolitikern der Nation zu zählen, sondern man kann es vielmehr als ein Verhängnis betrachten, »daß — wie Kern2) es ausgedrückt hat — ein Mann mit der Ethik der Märtyrerakten als die oberste Autorität reichsständischer Politik des 16. Jahrhunderts dastand «. Es wird unmöglich sein, Luthers Ansichten, von dem was heute mit Staat und Kirche bezeichnet wird, in einem Satze und unter einem Gesichtspunkte zu definieren. Die tiefen Gegensätze und Widersprüche sind im vorstehenden bloßgelegt worden. Es muß aber möglich sein, ihre Herkunft zu verstehen. Dies kann geschehen, wenn man sich neben den wiederholt angeführten äußeren Umständen stets die doppelte Antithese, mit der dieser gewaltige Mann ringt, und die ein unlösliches Widerspiel sich kreuzender Ansichten und Auffassungen zum Ausdruck bringt, vergegenwärtigt: nämlich einmal die rein religiöse, spirituale und die diesseitige, aber christianisierte Auffassung von den Dingen auf Erden, sodann die bereits in der Wirksamkeit Christi zum Ausdruck gekommene Gegensätzlichkeit, die Luther in der Freiheit eines Christenmenschen in die wunderbaren Worte kleidet: »Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan« und »Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan«. Berücksichtigt man diese doppelten Gegensätze als unerläßliche Vorbedingung zu dem überaus schwierigen Verständnis von Luthers Gesellschaftslehre, dann wird man Meineckes3) feinsinnige Definition von Luthers Staatsbegriff sich zu eigen machen dürfen: »Der weltliche Staat ist für ihn eine universal gegebene gottgefügte Realität, der christliche Staat ein Postulat, das innerhalb der Christenheit zu verwirklichen ist«. 1

) A. a. O. Zeitschr. f. Kirchengeschichte 1908, S. 488. *) A. a. O. Zeitschr.. der Savigny-Stiitung, S. 339. •) A. a. O. S. 20.

59 Sechster Abschnitt.

Schlußergebnisse. Nachdem in den bisherigen Abschnitten dieser Studie die lutherische Gedankenwelt und Weltanschauung zu analysieren versucht ist und den Wirkungen der Tat des Reformators und seiner Auffassungen über die wichtigsten Vorgänge des öffentlichen Lebens auf Mit- und Nachwelt nachgegangen ist, ist der Weg frei geworden zu der seit den Arbeiten Troeltschs zur Diskussion stehenden, heiß umstrittenen Frage nach der Einordnung Luthers in Mittelalter oder Neuzeit 1 ). Es muß zunächst daran erinnert werden, daB in vorliegender Abhandlung Inhalt und Bedeutung des Wortes Mittelalter in seinen Beziehungen zu Luther nicht »zeitlich«, sondern »begrifflich« aufgefaßt worden ist, während es sich in der nun zu erörternden Kontroverse um die Festlegung Luthers auf das zeitliche Mittelalter oder die zeitliche Neuzeit handelt. Es muB also von dem bisher eingenommenen Standpunkte abgesehen werden und ebenfalls eine Beantwortung der Frage gesucht werden: ob mit Luthers Weltanschauung und Tat eine neue Zeit angesetzt werden kann oder — wenn nicht —, ob die bisherige Zeitbegrenzung des Mittelalters um zirka 1500 (1492 l

) Vgl. meine Abhandlung im Korrespondenzblatt a. a. O. ; ferner Heinrich Hoffmann, Der neuere Protestantismus und die Reformation (Studien zur Geschichte des neuen Protestantismus, Heft 11, 1919), und G. v. Below, Die Ursachen der Reformation, a. a. O. (vor allem in der Beilage: Die Reformation und der Beginn der Neuzeit, S. 108/82). In diesen Schriften ist die umfangreiche Literatur ausgiebig angeführt und behandelt worden. — Von Troeltschs Schriften ist neben seinem Stuttgarter Vortrag (Hist. Bibl. Bd. 24), seinen großen Darlegungen in Kultur der Gegenwart und in den Soziallehren vor allem zu nennen: Das Wesen des modernen Geistes (Preuß. Jahrb. Bd. 128, 1907, S. 1 - 4 0 ) , Luther und die moderne Welt (a.a.O.), Renaissance und Reformation (a. a. O.) und sein Beitrag zum Reformationsjubiläum: Luther und der Protestantismus (Neue Rundschau Jahrg. 28,1917, S. 1297 — 1325). — Sehr beachtenswert ist das für einen allgemeineren Leserkreis geschriebene Buch von Karl Vogl, Der moderne Mensch in Luther, 1908: vgl. schließlich noch: J. Kübel, Luther als moderner Mensch (Süddeutsche Monatshefte 1909, I, S. 280 ff.). Johannes Haller, Die Ursachen der Reformation, 1917, S. 33, ist der Meinung, daß Troeltschs Ansicht überwiegend abgelehnt worden sei und »daß sie als glänzendes Paradoxon höchstens einen gewissen heuristischen Wert haben mag.« Diese weit über das Ziel schießende Meinung wird durch einen Blick z. B. in die obengenannte Schrift von H. Hoffmann oder etwa in die schönen Reformations-Jubiläums-

60 bezw. 1517) aufgegeben und das Zeitalter Luthers, wenn nicht noch spätere Epochen, zum Mittelalter hinzugeschlagen werden muß. Zwei Standpunkte — oder wenn man will, zwei Geschichtsauffassungen — sind hier auseinanderzuhalten. Politisch-historische und ideengeschichtliche Betrachtung stehen sich hier gegenüber. Für die erstere ist das Entscheidende die äußerlich sichtbare Tat, welche in der äußeren Gesamtkonstruktur wesentliche Veränderungen hervorzurufen vermag. Zu den bedeutsamen Umwandlungen in der Staats- und Verfassungsgeschichte Europas, zu der Verschiebung der wirtschaftlichen Grundbedingungen, dem Zusammenbruch eines tausendjährigen Reiches im Südosten Europas und dem damit verbundenen Vordringen einer neuen fremden Rasse, der Türken, zu der Entdeckung eines neuen Weltteiles im äußersten Westen mit ihren unübersehbaren wirtschaftlichen Verschiebungen, zu der zunehmenden nationalen Geschlossenheit der Staaten, dem Erwachen eines Nationalgefühls in den Völkern, zu der intensiven Entwicklung der nationalen Sprache in Literatur, Politik und Wissenschaft, dem Beginn der historischen Kritik im Humanismus, zu der Entdeckung des modernen Menschen in der Renaissance: zu allen diesen einschneidenden Veränderungen, die in die Wende des 15. zum 16. Jahrhunderts fallen, tritt Luthers Tat der Beseitigung der päpstlichen Alleinherrschaft im christlichen Abendlande mit allen ihren tiefgreifenden Folgen im Staat'sbetrachtungen von Robert Holtzmann, Luther und die deutsche Kultur (Protestantische Monatshefte, Jg. 22, 1918, S. 1 ff., bes. S. 5) widerlegt. — Die außerordentlich reiche Jubiläumsliteratur hat sich überwiegend mit dem durch Troeltsch in die Diskussion geworfenen Problem beschäftigt und steht lange nicht mehr auf dem scharfablehnenden Standpunkte, wie die ersten Kritiken vor etwa zehn Jahren; ausgenommen vielleicht Max Lenz, der in einem bisher unvollendet gebliebenen Aufsatze in den Preuß. Jahrb. Bd. 170, 1917, S. 165/189 über Luthers weltgeschichtliche Stellung sich die Kritik an Troeltsch dadurch besonders leicht macht, daß er absichtlich nur auf den Stuttgarter Vortrag von 1906 und nicht auf die späteren das Thema erheblich vertiefenden Arbeiten desselben Autors zurückgreift. — Besonders fördernd für die Lösung des Problems sind die vortrefflichen Schriften und Rezensionen von W. Köhler, der nicht müde wird, im Sinne einer Annahme der Troeltschen Ergebnisse zu wirken. Vgl. neben seinen beiden Schriften: Dr. Martin Luther (in v. Pflugk-Harttung, Im Morgenrot der Reformation, 1912, S. 335/448) und Martin Luther und die deutsche Reformation (Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 515, 2. Aufl. 1917), z. B. seine Rezension von Th. Brieger, Die Reformation, in Hist. Zeitschrift Bd. 115, 1915, S. 141 ff., oder seine Besprechung des v. Belowschen Buches zu diesem Thema in Hist. Zeitschr. Bd. 121,1920, S. 139 ff.

61 leben, tritt die Befreiung des Gewissens und eine neue sittliche Anschauung vom Werte des Menschenlebens: also »die moderne Zeit fängt mit Martin Luther an«1). Das sind schwerwiegende und mit guten Gründen vorgebrachte Argumente, denen man eine Berechtigung nicht wird aberkennen dürfen. Diese Ansicht ist nicht nur die von jeher allgemein übliche gewesen, sondern sie ist unstreitig heute noch die vorherrschende. Doch auch von'dem soeben entwickelten Standpunkte aus ist eine Reihe der angeführten Gründe nicht unwidersprochen geblieben. Der Ubergang vom Mittelalter zum modernen Staate läßt sich nicht auf eine kleine Zeitspanne, wie eben die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, pressen; es liegt hier ein jahrhundertelanger Entwicklungsprozeß vor, dessen Anfänge bis weit in das Mittelalter, bis in die Zeiten Friedrichs II. zurückreichen und dessen Endpunkt viel später als in die Zeit Martin Luthers anzusetzen ist. Auch wird man die Reichsreformon Maximilians I. und Karls V. nicht so sehr als einen Ginschnitt im deutschen Verfassungsleben bewerten können; denn die seit der Zeit Karls IV., seit den Tagen der-goldenen Bulle bestehende Reichsverfassung hielt im wesentlichen unverändert stand bis in das Zeitalter Napoleons. Ähnlich liegen die Dinge auf wirtschaftlichem Gebiete, wo zwar in der Zeit Luthers eine schwerwiegende Preisrevolution einsetzte, doch auch der Ubergang von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft vollzieht sich nur sehr allmählich; er beginnt weit vor der Reformationszeit und ist auch nach ihr noch nicht zum Abschluß gekommen. Auch in der Entwicklung der Stadtverfassung, der Rezeption des römischen Rechtes, der Entstehung des modernen Beamtentums und der modernen Verwaltung, sowie in dem Übergang vom Söldnerheer zum stehenden Heer ist das gleiche festzustellen. Es muß bei allen solchen Entwicklungsprozessen beachtet werden, daß sie — im Gegensatz zu der Schnellobigkeit der Gegenwart — sehr langsam vonstatten gehen, daß sie zumeist von Süden und Westen ausgehen und erst sehr allmählich nach Norden und Osten vorwärtsschreiten. Noch weniger unwidersprochen ist die vorliegende Ansicht geblieben bezüglich der Ausprägung des modernen, d. h. autonomen, individualistischen Menschen. Immer weiter zurück verlegt man den Anfang der geistigen und künstlerischen Renaissance und erblickt in der Reformation und gerade durch sie das gewaltsame Ende der Bewegung. Ganz und gar nicht wollen sich die philosophischen Systeme in das Schema hineinfügen lassen. Alle Werke der Geschichte der Philosophie setzen die Dauer des Th. Brieger in Reformation (in: v. Pflugk-Harttungs geschichte, Neuzeit 1500/1650, S. 191).

Welt-

62 philosophischen Mittelalters viel weiter herauf, als dies die politische Geschichte tut. Und schließlich Luthers und der Reformation Werk kann, wie gezeigt ist, nicht als restlos einschneidend aufgefaßt werden. Es liegt hier derselbe Einschätzungsfehler vor, wie er so häufig bei der Bewertung Luthers anzutreffen war. Das wirklich Neue in der reformatorischen Gedankenwelt wird als die alleinige und ausschließliche historische Leistung Luthers und seiner Mitarbeiter angesehen. Man vergißt oder leugnet dabei die erheblichen Widersprüche in der reformatorischen Lehre und verkennt, daß das Neue nur meteorartig auftrat, daß es eingekapselt in dem Alten zunächst sich gar nicht auswirken konnte, daß das. Neue nicht das allein echte historische Erkennungszeichen der Reformationszeit war und daß das Alte in ihr ebenso echt und erheblich stärker als das Neue war. Kurzum: bleibt die Ansicht von dem Beginn der Neuzeit durch Martin Luther schon in politisch-geschichtlichen Momenten nicht widerspruchslos, so versagt sie in Fragen der Geistesgeschichte vollkommen. Zu ganz anderen Resultaten gelangt die ideengeschichtliche Betrachtung. Nicht politische Geschichte, nicht die Feststellung epochaler Veränderungen im Staatsleben der Völker, sondern die Entwicklung der Kultur und der menschlichen Gesellschaft im Rahmen der gesamten Menschheitsgeschichte ist ihr Beobachtungsfeld. Sie fragt nicht nach rein tatsächlichen Veränderungen der Staats-, Verfassungs- und Wirtschaftsformen, sondern sie fragt nach der Entwicklung der Weltanschauungen; Epochen setzen für sie erst da ein, wo innerhalb der gesamten Kultur eine Weltanschauung die andere ablöst. Luthers Leistung prüft sie nicht daran: was bedeutete er für Christentum, Kirche und Religion, sondern daran: ob durch sein Werk das bisherige Weltbild des abendländischen Kulturkreises grundlegend verändert worden ist oder nicht. Sie antwortet darauf mit Nein; für sie beginnt eine neue Epoche erst mit der Ablösung der christlich-supranaturalen Weltordnung durch die natürlichdiesseitige im Zeitalter der Aufklärung. Durch eine solche Fragestellung eröffnen sich ganz neue Gesichtspunkte. Luther wird nicht mehr einseitig gewertet vom kirchengeschichtlichen Standpunkte, den die politische Geschichte dann übernommen hat, sondern vom universalgeschichtlichen Standpunkte. Hierin liegt das Wesentliche der Troeltschen Untersuchung und nicht darin, wie erst durch die Kontroverse vergröbernd behauptet worden ist, daß er Luther in das Mittelalter zurückgestoßen habe. Bringt nun die ideengeschichtliche Betrachtung die Lösung des Problems: ob Luther zum Mittelalter oder zur Neuzeit gehöre ? Auch wenn man im verallgemeinernden Sinne annehmen möchte,

63 daB sie Weltanschauungsgegensätze unter Benutzung des üblichen Schemas: Mittelalter und Neuzeit untersucht, so muß man diese Frage ebenso yerneinen, wie bei Erörterung der politischen Geschichtsauffassung. Beide Standpunkte, so berechtigt sie auch sind, sind einseitig und berücksichtigen die Wechselwirkung von Idee und Materie nicht genügend; wenn auch zugegeben werden muB, daB die geistesgeschichtliche Methode der Lösung erheblich näher kommt, weil es sich bei Luthers und der Reformation Werk hauptsächlich um geistesgeschichtliche Fragen handelt. Wenn beide an sich berechtigte und begründete Standpunkte nicht zum Ziele führen, so wird man weiter fragen müssen, ob die Frage Uberhaupt gelöst werden kann? Nein; denn die Fragestellung ist an sich unmöglich. Eine Lösung ist nur dann möglich, wenn man sich zu einer vollständigen Verschiebung der Fragestellung entschließen kann und zugesteht, daß die zeitlichen Grenzen zwischen Mittelalter und Neuzeit derart fließend sind, daß sie überhaupt nicht fixierbar sind, wenn man das Problem hinüberschiebt von dem »zeitlichen« Mittelalter und Neuzeit auf das » b e g r i f f l i c h e « Mittelalter und Neuzeit, wenn man die durch Willkürakte errichteten Schranken niederreißt und die epochalen Gegensätze nicht in der Zeit, sondern unbekümmert um dieselbe im R ä u m e sucht und Luther hier einzuordnen trachtet. Von hier aus lassen sich dann die bisher unüberbrückbar erscheinenden Gegensätze beider Standpunkte bezw. Geschichtsauffassungen vereinigen. Das begriffliche Mittelalter ist im wesentlichen einheitlich und seine Eigenart läßt sich, wie gezeigt ist, definieren; das wesentlichste Erkennungsmerkmal der abendländisch-christlichen Kultur ist die auf dem soteriologischen Supranaturalismus beruhende Einheitskultur. Die das Mittelalter — wohl verstanden das begriffliche — ablösende neue Zeit ist nur negativ zu charakterisieren: sie hat keine einheitliche Kultur mehr, die Einheitlichkeit ist aufgelöst. Ein wesentlich neues Moment ist die in der natürlichen Weltordnung basierte Diesseitigkeit. Nicht mehr ausschließlich teleologische Metaphysik und religiöse Transzendenz, sondern in erheblichem Maße gegensätzliche Denkformen: wie autonomer Kritizismus, Rationalismus und Erkenntnistheorie schaffen das neue Weltbild. Das Entscheidende ist aber, daß jede Einheitlichkeit aufgelöst ist, daß die moderne Zeit aufgeht in vollständigem Eklektizismus. Keineswegs geht ihr der soteriologische Supranaturalismus verloren 1 ). Hierauf ist besonderer Wert zu legen; denn die moderne Weltanschauung ist nicht zu denken *) Vgl. besonders v. Below a. a. O. S. 174 ff.

64 ohne den jeder höheren Religiosität innewohnenden Erlösungsgedanken mit seinen spekulativen Jenseitshoffnungen. Aber der Supranaturalismus ist nicht mehr die alles normierende Basis einer einheitlichen Weltanschauung; er hat seine Totalität eingebüßt und behauptet sein Dasein durch Aufgehen in ihm völlig wesensfremden Erscheinungsformen. Der durch die Menschheitsgeschichte sich ziehende Urgegensatz zwischen Ideal- und Naturgesetz ist auch heute noch aufs stärkste wirkend; die Frage der Verständigung beider in Form eines Kompromisses ist heute noch ebenso brennend wie in den Anfängen der Geschichte; die verschiedenen Ausgestaltungen des Kompromisses bilden den Inbegriff der Menschheitsgeschichte. Eine Synthese ist anscheinend unmöglich. Beachtet man dies und läßt man die — in der Geschichte so überaus hemmend wirkenden — Periodisierungen: Mittelalter/Neuzeit fort, dann ist die Lösung des Problems schnell möglich. Als vor etwa 200 Jahren das Dreiperiodenschema sich einzubürgern begann, war der Unterschied zwischen der damaligen Neuzeit und dem zeitlichen Mittelalter tatsächlich ein beträchtlicher. Heute schrumpft der Gegensatz zwischen dem Zeitalter eines Cellarius und der Zeit um 1500 erheblich zusammen, haben sich ganz neue Gegensätze gebildet, die ein Fortbestehen der fundamentalen Einschnitte: Mittelalter/Neuzeit nicht mehr rechtfertigen können. In dem Begriff Neuzeit liegt schließlich ein Werturteil; eine sehr überhebliche Einschätzung der Gegenwart, eine Verächtlichmachung vergangener Zeiten durch den kulturherabsetzenden Sinn des Wortes Mittelalter; es ist eine Betrachtung der Weltgeschichte unter der Perspektive des ewigen Fortschrittes. Emanzipiert man sich von einer solchen dogmatischen Geschichtsbetrachtung und reißt man die Schranken zwischen zeitlichem Mittelalter und Neuzeit nieder, vergegenwärtigt man sich, daß die Weltanschauungen — wie eingangs bemerkt — in dem Riesenbau der Weltgeschichte im Gemengelager liegen, dann ist die Frage, die hier zu lösen versucht wird, beantwortbar. Unter diesem Gesichtspunkte paßt nicht mehr auf Luther das vielzitierte Dichterwort: »Sein Geist ist zweier Zeiten Schlaohtgebiet 1 )«; sondern man wird Luther unbeschadet des Neuen, das in ihm lag, in den mittelalterlichen Weltanschauungskreis hineinstellen müssen, ohne seine einzigartige Größe damit auch nur im geringsten anzutasten. So betrachtet, fällt aber auch das Konrad Ferdinand Meyer, Huttens letzte Tage; zitiert nach der 86./93. AufL, 1919, S. 80.

65 für viele so kränkende und subjektive der ganzen Fragestellung fort. Millionen von Menschen, die als katholische*) Christen sich in der modernen Welt ebenso einzurichten wissen, wie die Anhänger Luthers und Calvins, können nicht mehr die Einordnung ihrer Weltanschauung in das Mittelalter als eine Beleidigung empfinden; ebenso muß die Reizbarkeit protestantischer Theologen und Geschichtsforscher aufhören, die in der Kontroverse sich immer wieder geltend gemacht hat, weil Ansehen und Gegenwartswirkung des Mannes, an dessen Lehre und Persönlichkeit sich ihre allerpersönlichsten Empfindungen anknüpfen, durch eine Rückversetzung in das durch ihn beendete »Mittelalter« vernichtet worden wäre. Man wird dann nicht mehr mit Brieger2) in dem von ihm unterlegten Sinne sagen dürfen: »Noch immer liegen Mittelalter und Neuzeit im Streite.« Die Möglichkeit eines gemeinsamen Verstehens von Luthers Persönlichkeit und Werk ist somit für kirchlich und religiös beeinflußte und unbeeinflußte Forscher, gegeben. ') Vgl. die bewußt auf Thomas von Aquino zurückgreifende und dessen für die Jetztzeit noch maßgeblich erachtende Staatsauffassung eines modernen Katholiken: Heinrich Schroers, Katholische Staatsauffassung, Kirche und Staat, 1919. ') Brieger a. a. O. S. 224.

Wolff.

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Heinrich von T r d t e h k M Lehr- und Wanderlahr« 1834—1867. Erzahlt von T h e o d o r S c h l e m a n n . X I I u. 291 S. 8*. 2. Aufl. In Leinw. geb. M. 10.—. Briefe Samuel Pufendorft an Christian Thomaslus (1687—1663). Herausgegeben und erklärt von E m i l O l g a s . 78 S. 8*. In Leinw. geb. M. 4.—. Heinrich van Sybel, Vortrige und Abhandlungen. Mit einer biographischen Einleitung von Professor Dr. V a r r e n t r a p p . 378 S. 8*. In Leinw. geb. M. 14.—. Die Fortschritte der Dlplomatlk seit Mablllon vornehmlich In Deutschland-Österreich. Von R i e h . R o s e n m u n d . X u. 125 S. 8*. In Leinw. geb. M. 6.—. Margareta von Parma, dtatthalterin der Niederlande (1659—1567). Von F e l i x R a c h f a h l . V I I I u. 276 S. In Leinw. geb. M. 1 0 . - . Studien zur Entwicklung und theoretischen Begründung der Monarchie im Altertum. Von J u l i u s K a e r s t . 190 S. 8*. In Leinw. geb. M. 6.—. Die Berliner Mlrztage von 1848. Von Prof. Dr. W. B u s c h . 74 S. 8*. In Leinw. geb. M. 4.—. Sokrates und sein Volk. Ein Beitrag zur Oeschichte der Lehrfreihelt. Von Dr. R o b . P ö h l m a n n . VI u. 133 S. 8*. In Leinw. geb. M. 7 . - . Hans Karl von Wlnterfeldt. Ein General Friedrichs des OroBen. Von Ludwig Moliwo. X I u. 203 S. 8«. In Leinw. geb. M.10.—. Die Kolonlalpolltlk Napoleons I. Von O. R o l o f f . X I V u. 258 S. 8*. In Leinw. geb. M. 10.—. Territorium und Stadt. Aufsatze zur deutschen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte. Von O e o r g von B e l o w . X X I u. 342 S. 8*. In Leinw. geb. M. 14.—. Zauberwahn, Inquisition u. Hexenprozess« im Mittelalter u. die Entstehung der groBen Hexenverfolgung. Von J o s e p h H a n s e n . X V I u. 538 S. 8*. In Leinw. geb. M. 20.—. Die Anfinge des Humanismus In Ingolstadt. Eine literarische Studie zur deutschen Unlversitatsgeschlchte. Von Prof. O u s t . B a u c h . X I I I u. 115 S. 8*. In Leinw. geb. M. 7 — . Studien zur Vorgeschichte der Reformation. Aus schleslschen Quellen. Von Dr. A r n o l d O. M e y e r . X I V u. 170 S. 8*. In Leinw. geb. M. 9.—. Die Caplta agendorum. Ein kritischer Beitrag zur Oeschichte der Reformverhandlungen in Konstanz. Von Privatdoz. Dr. K e h r m a n n . 07 S. 8*. In Leinw. geb. M.4.—. Verfassungsgeschlchte der australischen Kolonien u. des »Common wealth of Australla«. Von Dr. D o e r k e s - B o p p a r d . X I und 340 S. 8*. In Leinw. geb. M. 16.—. O a r d l n e r , Oliver Cromwell. Autor. Übersetzung aus dem Englischen von E. K i r c h n e r . Mit einem Vorwort von Prof. A. S t e r n . V I I u. 228 S . In Leinw. geb. M. 11.—. Innozenz III. und England. Eine Darstellung seiner Beziehungen zu Staat und Kirche. Von Dr. E l s e O O t s c h o w . V I I I u. 1 9 7 S . In Leinw. geb. M. 9.—. Die Ursachen der Rezeption des Rflmtschen Rechts in Deutschland. Von Oeorg v . B e l o w . X I I u. 100 S. 8*. In Leinw. geb. M . 9 — . Samtliche Preise sind unverbindlich.

R. Oldenbourg in München und Berlin

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Herausgegeben von der Schriftleitungder Historischen Zeitschrift Bd. 20: Bayern Im Jahre 1866 und die Berufung des Forsten Hohenlohe. Eine Studie von Dr. K a r l A l e x a n d e r von M ü l l e r . XVI u. 292 Sv In Leinw. geb. M. 13.50. Bd. 21 : Der Bericht des Herzogs Ernst II. von ¡Coburg Uber den Frankfurter FUrstentag 1863. Ein Beitrag zur Kritik seiner Memoiren von Dr. K u r t D o r i e n . XVI u. 170 S. 8*. Kart. M. 8.—. Bd. 22: Die Spanler in Nordamerika von 1513—1824. Von E. D a e n e l l . XV u. 247 S. 8°. Kart. M. 12.—. Bd. 23: Die Überleitung Preußens In das konstitutionelle System durch den zweiten Vereinigten Landtag. Von H a n s Mähl. XII u. 268 S. 8°. Kart. M. 12.—. Bd. 24: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Von E r n s t T r o e l t s c h . 2. vermehrte Auflage. 104 S. 8°. Kart. M. 5.60. Bd. 25: Liselotte und Ludwig XIV. Von Dr. M i c h a e l S t r i c h . VIII u. 154 S. 8«. Mit einer Tafel. Kart. M. 10—. Bd. 26: Staat und Kirche In den arianlschen Königreichen und Im Reiche Chlodwigs. Von Dr. H a n s von S c h u b e r t . XIV u. 199 S. 8". Kart. M. 12.—. Bd. 27 : Die Schule Johann Sturms und die Kirche StraBburgs. Von W. S o h m . XIV u. 317 S. 8». Kart. M. 16.—. Bd. 28: Frankreich und die deutschen Protestanten in den Jahren 1570/73. Vön W. P l a t z h o f f . XVIII u. 215 S. 8«. Kart. M. 12.—. Bd. 29: Vom Lehnstaat zum Ständestaat. Ein Beitrag zur Entstehung der landständischen Verfassung. Von H a n s S p a n g e n b e r g . XII u. 207 S. 8». Kart. M. 12.—. Bd. 30: Prinz Moritz von Dessau im siebenjährigen Kriege. Von M a x P r e i t z . VI u. 184 S. 8* mit 1 Porträt, 2 Schriftstücken in Faksimile und 6 Kartenskizzen. Kart. M. 10.—. Bd. 31 : Machiavelli Geschichtsauffassung und sein Begriff virtù. Studien zu seiner Hlstorlk. Von E d u a r d W l l h . M a y e r . VIII u. 125 S. 8*. Kart. M. 8.—. Bd. 32: Der Obergang des Fürstentums Ansbach an Bayern. Von F r i t z T a r r a s c h . VIII u. 182 S. 8°. Kart. Mi 10.—. Bd. 33: Mittelalterliche Welt- und Lebensanschauung im Spiegel der Schriften Coluccio Salutatis. Von A. v. M a r t i n . XII u. 166 S. 8». Geheftet M. 8.—. Bd. 34: Die hessische Politik in der Zeit der Reichsgrflndung (1863—1871). Von E r n s t Vogt. X u. 229 S. 8». Kart. M. 12.—. Bd. 35: Napoleon, England und die Presse