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German Pages 390 Year 1998
HANS KUDLICH
Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg
und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 114
Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot Anwendbarkeit und Konsequenzen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots für die Ausübung strafprozessualer Verteidigungsbefugnisse
Von Hans Kudlich
Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Ulrich Sieber, Würzburg
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kudlich, Hans: Strafprozeß und allgemeines Mißbrauchsverbot : Anwendbarkeit und Konsequenzen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots für die Ausübung strafprozessualer Verteidigungsbefugnisse / von Hans Kudlich. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Strafrechtliche Abhandlungen ; N.F., Bd. 114) Zugl.: Würzburg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09527-8
Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-09527-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ
Vorwort Der „Mißbrauch strafprozessualer Befugnisse" ist ein in der Diskussion vielfach bemühter, schillernder Begriff. Gleichwohl wurde er bisher in seinen methodentheoretischen, verfassungsrechtlichen und strafprozessualen Grundlagen noch selten ausführlich beleuchtet. Ziel dieser Arbeit ist der Versuch, die zentralen Fragestellungen der Mißbrauchsproblematik herauszuarbeiten und Wege für mögliche Lösungen aufzuzeigen. Die Arbeit wurde im Wintersemester 1997/98 von der Juristischen Fakultät der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten über den Abschluß des Manuskripts im Herbst 1997 hinaus in den Fußnoten noch bis Februar/März 1998 berücksichtigt werden. Aufrichtigen Dank schulde ich insbesondere Herrn Professor Dr. Ulrich Sieber, der mich an seinem Lehrstuhl freundlich aufgenommen, nach besten Kräften gefördert und den Fortgang dieser Arbeit in hervorragender Weise unterstützt hat. Ferner gilt mein Dank Herrn Professor Dr. Rainer Paulus, der nicht nur rasch das Zweitgutachten erstellte, sondern mir auch manche wertvollen Anregungen gab. Mein Freund Dr. Dr. Ralph Christensen hat sich viel Zeit für ertragreiche Diskussionen, insbesondere zu den methodischen und verfassungsrechtlichen Fragestellungen, genommen. Frau Professorin Dr. Ellen Schlüchter gab mir den Hinweis auf die interessante Thematik. Herrn Professor Dr. Friedrich-Christian Schroeder und Herrn Professor Dr. Eberhard Schmidhäuser danke ich für die Aufnähme der Arbeit in die Strafrechtlichen Abhandlungen, N.F. Meine Kollegen am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht, Informationsrecht und Rechtsinformatik, insbesondere die Herren Stephan Bleisteiner, LL.M., Bernhard Günther, Jörg Knupfer und Johannes Patzelt, waren mir durch die freundschaftliche Atmosphäre stets ein Rückhalt. Herr Tobias Sedlmeier unterstützte mich bei der Formatierung der Druckvorlage. Vor allem aber danke ich meinen Eltern, die mich seit meiner Kindheit und bis heute in jeder erdenklichen Weise unterstützen, sowie meiner lieben Frau Manuela, die mir die erforderliche Kraft für die Arbeit gegeben hat, obwohl sie selbst aus eben diesem Grund oft zurückstehen mußte. Ihr und meinen Eltern ist dieses Buch gewidmet. Hans Kudlich
Inhaltsübersicht Einleitung: Gegenstand und Gang der Arbeit
17
1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs und seiner Bekämpfung im Strafprozeß 2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots A. Allgemeine Methodenlehre
21 60 60
B. Verfassungsrechtliche Beurteilung
116
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
177
D. Zusammenfassung und Konkretisierung der Ausgangshypothese
248
3. Teil: Das allgemeine Mißbrauchsverbot in der Rechtsprechung
259
A. Allgemeine Grundsätze der Rechtsprechung und ihre Bewertung
260
B. Einzelne Fallgruppen
271
C. Zusammenfassung
331
4. Teil: Ausblick de lege ferenda - insbesondere zur Frage einer allgemeinen Mißbrauchsklausel
340
Gesamtzusammenfassung und Ergebnisse
362
Literaturverzeichnis
372
Sachwortverzeichnis
386
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Gegenstand und Gang der Arbeit
17
1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs und seiner Bekämpfung im Strafprozeß 21 I. Ausgangshypothese: Mißbrauch als zweckwidriger Einsatz von Befugnissen 21 II. Gesetzliche Regeln zur Mißbrauchsabwehr de lege lata
26
1. Systematisierung und Begriffsklärung
26
2. Überblick über die gesetzlichen Regelungen
29
a) Allgemeine und bereichsspezifische Mißbrauchsklauseln
29
b) Spezielle Mißbrauchstatbestände
30
c) Vorschriften zur Mißbrauchsprävention
34
3. Übergreifende Gesichtspunkte und spezifische Auslegungsfragen 38 III. Möglicher Anwendungsbereich brauchsverbots
eines ungeschriebenen
Miß42
1. Lücken im System der Mißbrauchsabwehr de lege lata
42
2. Zum Meinungsstand in der Literatur
45
3. Beispiele für den Anwendungsbereich eines allgemeinen Mißbrauchsverbots in der Rechtsprechung 47 a) Die Beschränkung des Beweisantragsrechts auf den Verteidiger 47 b) Ablehnung eines mißbräuchlichen Hilfsbeweisantrags
48
c) Unzulässige Zeugenladung
51
d) Entziehung des (direkten) Fragerechts
52
e) Exkurs: Der Verlust von Verfahrensrügen
53
IV. Gegenstand und weiterer Gang der Arbeit 2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots A. Allgemeine Methodenlehre
58 60 60
Inhaltsverzeichnis
I. Grundlagen
61
1. Normtheoretischer Hintergrund
61
2. Außen- und Innenmetaphorik
64
3. Erkenntnismodelle und Erzeugungsmodelle in der Rechtsfindung 67 II. Einordnung des allgemeinen Mißbrauchsverbots im traditionellen Schema der Rechtsfindung 68 1. Einordnung und Abgrenzung des Mißbrauchsverbots System der Rechtsfindung
im 68
a) Rechtsfindung secundum legem
69
b) Rechtsfindung praeter legem
77
c) Rechtsfindung extra legem, sed intra ius
89
2. Das Mißbrauchsverbot als eigenständige Metapher in der allgemeinen Methodenlehre 92 a) Einordnung als gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung...
92
b) Besonderheiten gegenüber anderen Formen der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung 95 c) Objektiver und subjektiver Mißbrauch
97
III. Anhaltspunkte für die Behandlung des Mißbrauchs aus der neueren Methodendiskussion 99 1. Hermeneutikdiskussion und Vorverständnislehre a) Kritik am tradierten Verständnis und Konzeption
100 100
b) Konsequenzen für die Frage nach einem ungeschriebenen Mißbrauchsverbot 103 2. Sprachwissenschaft und Rechtserzeugung durch Normkonkretisierung 104 a) Kritik am tradierten Verständnis und Konzeption
104
b) Konsequenzen für ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot 108 IV. Ergebnisvergleich und Konsequenzen für ein allgemeines Mißbrauchsverbot 109 V. Zusammenfassung und weiterführende Fragen
113
1. Legitimation und Grenzen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots 113 2. Voraussetzungen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots
114
10
Inhaltsverzeichnis
3. Rechtsfolgen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots
115
4. Konkretisierung der Ausgangshypothese
116
B. Verfassungsrechtliche Beurteilung I. Verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte 1. Grundrechtsrelevanz der Mißbrauchsreaktionen
116 118 118
2. Verfassungsrechtliche Verankerung von Strafrecht und Strafprozeß 125 II. Formell-verfassungsrechtliche Grenzen einer wortlautüberschreitenden Rechtsfindung 126 1. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage: Problemstellung und Überblick 126 2. Die Bedeutung des nulla-poena-Grundsatzes für die Rechtsfindung im Strafprozeßrecht 133 a) Ansatzpunkte im Wortlaut des Art. 103 II GG
134
b) Geschichtlicher Hintergrund des Art. 103 II GG
136
c) Funktionen nach modernem Verständnis des Art. 103 II GG 138 3. Die Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes für die Rechtsfindung im Strafprozeßrecht 141 a) Geschichtlicher Hintergrund des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes 143 b) Anwendungsbereich des Vorbehalts des Gesetzes
145
c) Vereinbarkeit eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots mit dem Vorbehalt des Gesetzes: Analyse anhand einzelner Aspekte des Vorbehaltsgrundsatzes 147 aa) Gewaltenteilung
148
bb) Demokratieprinzip
150
cc) Willkürverbot
154
III. Materiell-verfassungsrechtliche Aspekte
160
1. Das Strafverfahren als Seismograph der Staatsverfassung Grundrechtsschutz im Strafverfahren 160 a) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
161
b) Die Wesensgehaltsgarantie
163
Inhaltsverzeichnis
c) Die Konsequenzen für die Anwendung des Mißbrauchsprinzips 164 2. Das Strafverfahren als Forderung der Verfassung - Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege 166 a) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
167
b) Kritik am Topos der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege 167 c) Eigene Stellungnahme
169
d) Zur Abwägungserheblichkeit des Funktionstüchtigkeitstopos in Einzelfällen 173 IV. Zusammenfassung und weiterführende Fragen
175
1. Legitimation und Grenzen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots 175 2. Voraussetzungen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots
176
3. Rechtsfolgen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots
176
4. Konkretisierung der Ausgangshypothese
177
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
177
I. Prolegomena: Zum Erfordernis einer spezifischen strafprozessualen Betrachtung 178 1. Zur Legitimation eines allgemeinen Mißbrauchsverbots
179
2. Zu den Voraussetzungen eines Mißbrauchsverbots
181
3. Zu den Rechtsfolgen eines Mißbrauchs
187
4. Zwischenergebnis
189
II. Zur Legitimation eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots Mißbrauchsverbot und strafprozessuale Form 189 1. Die „moralinfreie" Haltung des Prozeßrechts
189
2. Der prozessuale Formrigor und Rechtsmißbrauch
191
3. Der „Wert der schützenden Form im Strafprozeß"
194
III. Zum Inhalt eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots - Mißbrauchsverbot und Ziel des Strafverfahrens 199 1. Bezugspunkt des Zweckwidrigkeitsurteils
199
2. Einzelne Zielvorgaben
203
a) Strafprozeß und materielles Strafrecht
203
b) Wahrheitsermittlung als Ziel des Strafprozesses
209
12
Inhaltsverzeichnis
c) Gerechtigkeit als Ziel des Strafprozesses aa) Kurze Hinführung zum Gerechtigkeitsbegriff
213 214
bb)Der Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und anderen Prozeßzielen 218 d) Schutz der kollidierenden Rechtsgüter als eigenes Prozeßziel 220 3. Ziele, Zwischenziele und Zielkonflikte
222
a) Ziele und Zwischenziele
222
b) Auflösung von Zielkonflikten: Rechtsfrieden als Ziel des Strafprozesses 223 c) Bedeutung der Zielkonflikte für das Mißbrauchsproblem... 227 IV. Zu den Rechtsfolgen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots Mißbrauchsverbot, Mißbrauchsreaktion und prozessuale Wertkategorien 229 1. Unzulässigkeit der Rechtsausübung
230
2. Entziehung von Rechten
234
V. Feststellung und Ahndung des Mißbrauchs in der strafprozessualen Verfahrensstruktur 236 1. Auswirkungen des Vorverfahrens auf das Mißbrauchsurteil.... 236 2. Amtsaufklärung und Beteiligteninitiative
238
3. Feststellung des subjektiven Mißbrauchselements
240
4. Zurechnungsprobleme zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger 243 5. Zuständigkeit zur Mißbrauchsreaktion anforderungen
und Begründungs-
D. Zusammenfassung und Konkretisierung der Ausgangshypothese
245 248
I. Legitimation eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots im Strafprozeßrecht 249 II. Voraussetzungen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots im Strafprozeßrecht 250 1. NichtVorliegen einer abschließenden Regelung in der lex scripta 251 2. Betroffene Verfahrensbefugnisse
252
3. Zweckbestimmung, insbesondere Berücksichtigung von Zwischenzielen, Zielkonflikten und funktionaler Bindung 253
Inhaltsverzeichnis
4. Typische verfahrensfremde Zwecke
254
5. Erfordernis und Nachweis eines subjektiven Mißbrauchselements 255 III. Rechtsfolgen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots im Strafprozeßrecht 256 IV. Zusammenfassung: Prüfungspunkte in der konkreten Fallanwendung 258 3. Teil: Das allgemeine Mißbrauchsverbot in der Rechtsprechung A. Allgemeine Grundsätze der Rechtsprechung und ihre Bewertung
259 260
I. Legitimation eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
260
II. Voraussetzungen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
261
1. Grenzen des Mißbrauchsprinzips
261
2. Einzelne Mißbrauchskriterien
264
3. Zur Erforderlichkeit eines subjektiven Mißbrauchselements.... 266 III. Rechtsfolgen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots B. Einzelne Fallgruppen
267 271
I. Beschränkung des Beweisantragsrechts auf den Verteidiger wegen Mißbrauchs durch den Angeklagten - BGHSt 38,111 275 1. Beschreibung der Fallgruppe und Entscheidung des BGH
275
2. Aufnahme in der Literatur
277
3. Bewertung und eigene Stellungnahme
279
a) Mißbrauchsargumente
280
b) Rechtsfolge des Mißbrauchsurteils
285
c) Ergebnis
289
II. Unzulässiger Antrag auf Vernehmung eines Richters - BGHSt 7, 330 und BGH StV 1991, 99 290 1. Beschreibung der Fallgruppe und Entscheidungen des BGH ... 290 2. Aufnahme in der Literatur
291
3. Bewertung und eigene Stellungnahme
293
a) Mißbrauchsargumente
293
b) Rechtsfolgen des Mißbrauchsurteils
296
c) Ergebnis
299
14
Inhaltsverzeichnis
III. Unzulässigkeit eines BGHSt 40, 287 ff
mißbräuchlichen
Hilfsbeweisantrags 299
1. Beschreibung der Fallgruppe und Entscheidung des BGH
299
2. Aufnahme in der Literatur
300
3. Bewertung und eigene Stellungnahme
301
a) Mißbrauchsargumente
302
b) Rechtsfolgen des Mißbrauchsurteils
304
c) Ergebnis
305
IV.Mißbrauch des Zeugenladungsrechts - KG JR 1971, 338
305
1. Darstellung der Fallgruppe und Entscheidung des KG
305
2. Aufnahme in der Literatur
306
3. Bewertung und eigene Stellungnahme
307
a) Mißbrauchsargumente
308
b) Rechtsfolgen des Mißbrauchsurteils
311
c) Ergebnis
312
V. Die Entziehung des Fragerechts nach § 240 I I StPO
312
1. Darstellung der Fallgruppe und Entwicklung in der Rechtsprechung 312 2. Aufnahme der Literatur
316
3. Bewertung und eigene Stellungnahme
317
a) Mißbrauchsargumente, insbesondere die Auslegungsproblematik der §§ 239-241 StPO 317 b) Rechtsfolgen des Mißbrauchsurteils
320
aa) Die Entziehung des „direkten" Fragerechts - vorherige Vorlage an das Gericht 320 bb)Die Entziehung des Fragerechts für bestimmte Verfahrensabschnitte - Untersagung weiterer unzulässiger Fragen 322 c) Ergebnis VI. Die Entziehung des letzten Wortes
325 326
1. Darstellung der Fallgruppe und Entscheidungen in der Rechtsprechung 326 2. Bewertung und eigene Stellungnahme
327
Inhaltsverzeichnis
a) Mißbrauchsargumente
327
b) Rechtsfolgen des Mißbrauchsurteils
330
c) Ergebnis
331
C. Zusammenfassung I.
331
Übergreifende Grundsätze in der Rechtsprechung
332
1. Legitimation eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
332
2. Voraussetzungen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots... 332 3. Rechtsfolgen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
333
II. Ergebnisse der in der Rechtsprechung entschiedenen Fallgruppen 333 1. Beschränkung des Beweisantragsrechts auf die Ausübung durch den Verteidiger 334 2. Unzulässige Benennung eines Richters als Zeuge
335
3. Unzulässiger Hilfsbeweisantrag zur Schuldfrage
336
4. Unzulässigkeit einer Zeugenladung bei rein demonstrativen Zwecken 336 5. Entziehung des (direkten) Fragerechts wegen fortgesetzten Mißbrauchs 337 6. Entziehung des letzten Wortes
338
4. Teil: Ausblick de lege ferenda - insbesondere zur Frage einer allgemeinen Mißbrauchsklausel 340 I. Mißbrauch im Strafprozeß und Prozeßrechtsreform
341
1. Zum Zusammenhang zwischen Mißbrauch und Reformvorhaben 341 2. Zum äußeren Rahmen von Reformmaßnahmen II. Reformvorschläge zu einzelnen Befugnissen
342 344
1. Das Beweisantragsrecht
345
2. Frage-, Erklärungs- und sonstige Antragsrechte
349
3. Das Ablehnungsrecht nach §§ 24 ff. StPO
351
III. Einführung einer allgemeinen Mißbrauchsklausel
353
1. Traditionelle Einwände gegen eine allgemeine Mißbrauchsklausel 354 2. Vorzüge einer allgemeinen Mißbrauchsklausel, insbesondere gegenüber objektivierten Vorfeldtatbeständen 356
16
Inhaltsverzeichnis
IV. Fazit Gesamtzusammenfassung und Ergebnisse
358 362
I. Gang der Arbeit
362
II. Überblick über die wichtigsten Ergebnisse
366
III. Resümee
369
Literaturverzeichnis
372
Sach wort Verzeichnis
386
Weniger bekannt ist das Paradox der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. (...) Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, Anmerkungen zu Kapitel 7.
Einleitung: Gegenstand und Gang der Arbeit „So wenig zu leugnen ist, daß Antrags- und Erklärungsrechte in massiver Weise zu verfahrensfremden Zwecken mißbraucht werden können, so problematisch ist in diesen Bereichen jeder Versuch, dem durch die Verkürzung dieser Befugnisse zu begegnen."1 Diese offensichtlich um Ausgewogenheit bemühte Stellungnahme des damaligen Bundesjustizministers Hans-Jochen Vogel aus dem Jahre 1978 deutet in wenigen Worten das breite Spektrum der rechtlichen Probleme und möglichen Standpunkte an, die auch heute noch die Diskussion über den Mißbrauch im Strafprozeß beherrschen: Von der einen Seite wird vehement über die „Möglichkeit des Mißbrauchs" geklagt, der „die Gerichte (...) zum Spielball einer Verteidigung macht, die es darauf anlegt, (...) die Richter weichzukochen"2; von der anderen Seite wird unermüdlich vor einer Antastung rechtsstaatlich gebotener Standards gewarnt. 3 Waren es in den 70-er Jahren in erster Linie die Terroristenprozesse 4 oder andere Verhandlungen mit stark politisch orientierter Verteidigung, die den Gerichten zu schaffen machten, so werden - nachdem die Mißbrauchsdiskussion in den 80-er Jahren etwas abgeklungen war - heute vor allem Prozesse aus dem Bereich der Wirtschafts-, Betäubungsmittel- und Bandenkriminalität, aber auch Extremistenprozesse angeführt. 5
1
NJW 1978, 1217, 1225. Bertram, NJW 1994, 2186, 2188 f.; vgl. auch Wassermann, NJW 1994, 1106. 3 Vgl. statt vieler Bandisch, StV 1994, 158 ff.; Herzog, StV 1995, 372 ff.; Scheffler NJW 1994, 2191 ff.; Welp, StV 1994,161 ff. 4 Vgl. auch Fischer, NStZ 1997, 212, 213. Ein beeindruckendes Bild der Prozesse gegen Angehörige der RAF zeichnet Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten, 1993. 5 Vgl. etwa die Beispiele bei Malmendier , NJW 1997, 227. Gegen vorschnelle Reaktionen aufgrund einer vermeintlichen Überforderung der Justiz die Stellungnahme des Frankfurter Arbeitskreises Strafrecht, StV 1997, 497 ff. 2
2 Kudlich
y
18
Einleitung: Gegenstand nd Gang der Arbeit
Wie sich die Geschichte dabei wiederholt, zeigen auch die sehr ähnlichen Fragestellungen, mit denen sich die strafrechtliche Abteilung des 50. Deutschen Juristentags6 und 20 Jahre später die des 60. Deutsche Juristentags7 beschäftigten: Während es 1974 um die Einführung spezieller Verfahrensvorschriften für Großverfahren ging, stellte man 1994 die Frage, ob ganz allgemein Änderungen des Strafverfahrensrechts mit dem Ziel vorgenommen werden sollten, „ohne Preisgabe rechtsstaatlicher Grundsätze den Strafprozeß, insbesondere die Hauptverhandlung, zu beschleunigen". Dabei wurde 1994 neben weiteren Vorschlägen (speziell im Bereich des Beweisantragsrechts), die man ebenfalls unter den Problembereich des Mißbrauchs fassen könnte, sogar die Idee einer allgemeinen Mißbrauchsklausel diskutiert und nur mit einer bemerkenswert geringen Mehrheit abgelehnt. Diese lange anhaltende bzw. erneut erwachte Aktualität hat immer wieder zu Beiträgen geführt, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Mißbrauchsproblematik beschäftigen. So ist z.B. aus der Literatur der 70-er Jahre der bis heute grundlegende Aufsatz Webers 8 zu nennen und aus der jüngsten Vergangenheit für einzelne Facetten der Thematik etwa auf Beiträge von Fischer, Kempf, Kröpil, Kühne, Niemöller oder Rüping hinzuweisen.9 Dagegen fehlt es soweit ersichtlich bisher an einer Monographie zur allgemeinen Problematik des Mißbrauchs im Strafprozeß. 10 Dieser Befund rechtfertigt das Un-
6
Vgl. dazu das Gutachten C zum 50. Deutschen Juristentag (1974) von Grünwald. Vgl. dazu das Gutachten C zum 60. Deutschen Juristentag (1994) von Gössels. Nach dem Juristentag 1994 wurden Aspekte des Themas auch auf dem 20. Strafverteidigertag 1996 in Essen sowie auf dem 6. Strafrechtsfrühjahrssymposum des DAV 1996 in Karlsruhe diskutiert. 8 Weber, GA 1975, 289 ff. 9 Vgl. Fischer, NStZ 1997, 212 ff.; Jahn, ZRP 1998, 103 ff.; Kempf; StV 1996, 507 ff.; Kröpil, DRiZ 1996, 448 ff.; ZRP 1997, 9 ff.; JuS 1997, 355 ff.; JR 1997, 315 ff.; JZ 1998, 135 f.; Kühne, StV 1996, 684 ff.; Malmendier , NJW 1997, 227 ff.; Niemöller, StV 1996, 501 ff.; ders., StraFo 1996, 104 ff. ; Nüsse, StraFo 1996, 34 ff.; Rüping, JZ 1997, 865 ff. Umfangreiche Nachweise zu Beiträgen zum Mißbrauch aus den letzten Jahren finden sich bei Fischer, NStZ 1997, 212, 213 (FN 3) und Niemöller, StV 1996, 501, 502 (FN 14). 10 Zu einzelnen Aspekten des Mißbrauchs im Strafprozeß vgl. z.B. Brei, Grenzen zulässigen Verteidigerhandelns, 1991; Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten, 1993; Thole, Der Scheinbeweisantrag im Strafprozeß, 1985. Offenbar auch Jahn, „Konfliktverteidigung" und Inquisitionsmaxime (angekündigt für 1998, hier allerdings keine Berücksichtigung mehr möglich). Soweit ersichtlich, fehlt es darüber hinaus sogar an einer neueren monographischen Darstellung des Mißbrauchs als allgemeinem methodischen Problem; sofern überhaupt, werden - wie freilich auch hier überwiegend vor allem Teilbereiche, insbesondere das Zivilrecht untersucht. Eine noch vergleichsweise umfangreiche allgemein-methodische Untersuchung findet sich in der (in ihrem Schwerpunkt aber ebenfalls zivilistischen und privatrechtshistorischen) Salzburger Habilitationsschrift von Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, der seinerseits in seinem Vorwort feststellt (S. 5), daß dem Mißbrauch eine unangemessen 7
Einleitung: Gegenstand und Gang der Arbeit
19
ternehmen einer ausführlicheren Darstellung, in der z.B. auch ausreichend Raum für die Bezüge zur Methodenlehre und zum Verfassungsrecht zur Verfügung steht: Den 1. Teil der Arbeit bildet eine knappe Phänomenologie des Mißbrauchs und seiner Bekämpfung im Strafprozeß: in dieser erfolgt zunächst als Ausgangshypothese eine erste Begriffsbestimmung des „Mißbrauchs". Im Anschluß daran wird das gesetzliche Instrumentarium zur Mißbrauchsbekämpfung kurz erläutert. Anhand einer systematisierten Betrachtung dieses Instrumentariums sowie mit einschlägigen Beispielen aus der Rechtsprechung werden der mögliche Anwendungsbereich eines ungeschriebenen allgemeinen Mißbrauchsverbots aufgezeigt und die wesentlichen zu klärenden Fragen herausgearbeitet. Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt vor allem im 2. Teil unter Rückgriff auf allgemeine Grundlagen: Dabei wird die Mißbrauchsproblematik zunächst in ihren methodologischen Kontext gestellt. Hierbei stehen das Spannungsverhältnis zwischen Normtexttreue und Einzelfallgerechtigkeit sowie der Zusammenhang von Normtext und Entscheidungsfindung im Mittelpunkt. Auf einer zweiten Stufe werden verfassungsrechtliche Gesichtspunkte betrachtet. Für Mißbrauch und Mißbrauchsbekämpfung sind dabei sowohl formell-verfassungsrechtliche (insbesondere der Gesetzesvorbehalt) als auch materiell-verfassungsrechtliche Aspekte (Grundrechtsschutz einerseits, Rechtsgüterschutz durch Strafrecht andererseits) von Bedeutung. Auf einer dritten Ebene schließlich werden spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte erörtert. Dort wird zum einen klargelegt, weshalb die Lösungen, die in anderen Rechtsgebieten (und insbesondere in der Zivilrechtswissenschaft) für die Mißbrauchsproblematik bestehen, nicht ohne weiteres auf das Strafprozeßrecht übertragen werden können; zum anderen werden die spezifischen strafprozessualen Wertungen zu den verschiedenen Sachfragen dargestellt. Die unter Berücksichtigung aller drei Ebenen zu findenden Ergebnisse werden dann im 3. Teil mit der Rechtsprechung zum ungeschriebenen Mißbrauchsverbot im Strafprozeßrecht verglichen. Dieser Vergleich erlaubt einerseits eine Bewertung der übergreifenden Gesichtspunkte in der bisherigen Rechtsprechung sowie auch der Ergebnisse in den einschlägigen Einzelentscheidungen anhand der im 2. Teil erarbeiteten Lösungen. Andererseits wird auch eine gewisse schärfere Konturierung des aus den allgemeinen Grundlagen gezeichneten Bildes ermöglicht. Demgegenüber wäre es sicher ebenso vorstellbar, den umgekehrten Weg zu wählen und zunächst zu analysieren, welche Antworten die Rechtsprechung auf die gestellten
geringe Aufmerksamkeit in der (insbesondere österreichischen zivilrechtlichen) Literatur zuteil werde. 2*
20
Einleitung: Gegenstand 'ind Gang der Arbeit
Sachfragen anbietet, um diese dann einer kritischen Bewertung anhand von methodischen, verfassungsrechtlichen und strafprozessualen Maßstäben zu unterziehen. Da aber unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten zumindest in der Form der Darstellung kein zwingender Vorrang eines mehr induktiven oder eines eher deduktiven Vorgehens besteht, sprechen zwei wichtige Argumente für den hier gewählten Weg, zunächst von den allgemeinen Grundlagen auszugehen und erst auf deren Grundlage einzelne Entscheidungen näher zu würdigen: Zum einen entspricht ein solches Vorgehen eher den methodischen Anforderungen in einer Rechtsordnung, die im Ausgangspunkt vom geschriebenen Gesetzesrecht und nicht vom case law durch den Richterspruch geprägt ist.11 Zum anderen hat sich - soviel sei hier bereits vorweggenommen - in der Rechtsprechung zur Mißbrauchsfrage (noch) kein geschlossenes und abgerundetes System herausgebildet, wie es etwa in manchen richterrechtlich geprägten Bereichen des Privatrechts der Fall ist; vielmehr erschöpfen sich die Entscheidungen zumeist in - z.T. auch nicht näher begründeten - Aussagen zu Einzelfällen, und auch in der Literatur wurde der Versuch einer umfassenden Dogmatik des strafprozessualen Mißbrauchs noch nicht unternommen. Der 4. Teil schließt mit einem Ausblick de lege ferenda. In diesem werden zum einen aktuelle einzelne Reformmaßnahmen kurz dargestellt und bewertet, da durch diese auch der Anwendungsbereich eines allgemeinen Mißbrauchsverbots weiter eingeengt werden könnte. Zum anderen werden Chancen und Risiken einer gesetzlichen allgemeinen Mißbrauchsklausel skizziert.
11
Ähnlich wohl Mader, S. 97 f.
1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs und seiner Bekämpfung im Strafprozeß I. Ausgangshypothese: Mißbrauch als zweckwidriger Einsatz von Befugnissen 1. Schenkt man einem neueren Beitrag zur Problematik des Mißbrauchs im Strafprozeß Glauben, so ist an sich der „Mißbrauch (...) ein einfacher Begriff, der in jedem Zusammenhang, im Alltag wie im Recht, dasselbe bedeutet, nämlich zweck- oder bestimmungswidrige Verwendung" 1. Überträgt man dies in einen juristischen Kontext, so wird ein Recht mißbraucht, „wenn es nicht zu der vom Gesetz gewollten Interessenförderung, sondern zur Erreichung mißbilligenswerter Ziele ausgeübt wird" 2 ; bedeutungsgleich erscheint eine Definition, nach der „Rechtsmißbrauch im Strafprozeß (...) als Gebrauch von Handlungsbefugnissen (...) zu - ausschließlich - anderen als den ihrer Bestimmung entsprechenden Zwecken" beschrieben wird. 3 Es ist evident, daß solche Definitionen für den Rechtsanwender noch viele Fragen offen lassen, so z.B. nach der Legitimation eines Instituts „Rechtsmißbrauch", nach dem Bezugsrahmen und der Bestimmung der Zweckwidrigkeit sowie schließlich nach den Folgen eines einmal als solchen erkannten Mißbrauchs. Gleichwohl soll in (zumindest sachlicher) Übereinstimmung mit den meisten terminologischen Varianten als erste Arbeitshypothese davon ausgegangen werden, daß ein Mißbrauch strafprozessualer Befugnisse dann vorliegt, wenn diese in einer Weise eingesetzt werden, die dem Zweck der Befugnis - auch unter Berücksichtigung ihrer Funktion im Regelungszusammenhang des Gesetzes - nicht entspricht. 4 Freilich ist eine solche Umschreibung vor allem dann sinnvoll, wenn an die Einordnung als mißbräuchlich auch gewisse Konsequen1
Vgl. Niemöller, StV 1996, 501, 502. So Weber, GA 1975, 289, 295 („institutioneller Mißbrauch"). 3 So Niemöller, StV 1996, 501, 502. Vgl. ferner die ähnliche Definition von Kröpil, JR 1997, 315, 316, 317, der den „nicht verfahrenszielkonformen" Einsatz einer gesetzlichen Befugnis nennt; dabei bezieht er sich allerdings nur auf den Begriff des Mißbrauchs in § 2411 StPO, zu der Frage einer allgemeinen Geltung dieser Definition bzw. sogar eines Mißbrauchsverbots wird dort nicht näher eingegangen. 4 Vgl. zum Gesichtspunkt der Zweckwidrigkeit neben den in Fn. 1, 2 Genannten auch die Umschreibungen bei Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten, 1993 („verteidigungsfremdes Verhalten"), Fischer, NStZ 1997, 212, 215 („Er liegt stets dann vor, wenn Verfahrensrechte mit einem [...] Ziel in Anspruch genommen werden, das [...] der Förderung dessen, was der jeweilige Verfahrensbeteiligte von Rechts wegen mit diesem Recht durchsetzen darf, nicht förderlich sein kann."), Peters, JR 1971, 340 („prozeßwidrige" bzw. „prozeßfremde Ziele") und Rüping/Dornseifer, JZ 1977, 417 („dysfunktionales Verhalten im Prozeß"). 2
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1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs im Strafprozeß
zen geknüpft werden. Deshalb soll die Arbeitshypothese bereits hier um die - allerdings bereits bedeutend weniger übereinstimmend beurteilte - Vermutung ergänzt werden, daß es im Falle eines festgestellten Mißbrauchs die Möglichkeit geben sollte, diesen gegenwärtig abzuwehren oder sogar für die Zukunft zu verhindern. Ob man den mißbräuchlichen Einsatz strafprozessualer Befugnisse (nicht nur unter Berücksichtigung rechtsstaatlicher Vorgaben für sanktionsfähig, sondern überhaupt) für sanktionsbedürftig hält, hängt nicht nur vom jeweiligen Verständnis des Strafprozeßrechts in vielen Einzelfragen ab. Vielmehr ist auch entscheidend, wie weit man den Mißbrauchsbegriff faßt, d.h. ob man bereits jeden Zweifel an der „Zweckgemäßheit" genügen läßt oder eine Zweckwidrigkeit einer bestimmten Qualität fordert: Ohne Überlegungen späterer Teile vorwegzunehmen (die im übrigen ebenfalls zeigen werden, daß ein engeres Verständnis des Mißbrauchsbegriffs vorzugswürdig ist), sei bereits klargestellt, daß der Mißbrauchsbegriff hier eng verstanden werden soll: unter ihn können daher allenfalls Verhaltensweisen fallen, die in ihrer Zweckwidrigkeit vom Normalfall der Rechtsausübung deutlich abweichen. Die hier erfolgende, von der lex lata ausgehende und auch stark methodologisch geführte Diskussion soll also nicht mit allgemeinen Überlegungen zur Entlastung bzw. Beschleunigung der Strafrechtspflege in Regelfällen (die ihren Schwerpunkt in einer Betrachtung de lege ferenda haben müßte) vermengt werden. Plakativ ausgedrückt geht es „um die 8500 Beweisanträge in einem Verfahren und nicht um die Anträge auf Vernehmung eines Ermittlungsbeamten in 8500 Verfahren" 5. Umgekehrt geht es - obwohl insoweit gewiß Abgrenzungsprobleme auftreten können - nicht um die Fälle einer „offenen Störung"6 der Hauptverhandlung durch „ungebührliches Verhalten" i.S.d. § 178 GVG, denen vorrangig durch sitzungspolizeiliche Maßnahmen zu begegnen ist und die i.d.R. auch in keinem scheinbaren inneren Zusammenhang mit strafprozessualen Verteidigungsbefugnissen stehen. Weitgehend ausgeblendet bleiben soll auch die materiell-rechtliche Frage, ob bzw. wann ein Mißbrauch prozessualer Befugnisse, wenn er durch den Verteidiger erfolgt, zur Strafvereitelung nach § 258 StGB wird. Tendenziell muß aber klar sein, daß mit jeder Erweiterung der Anerkennung eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots die Divergenz zur materiellen Strafnorm größer wird: erkennt man gewisse funktionale Bindungen der prozessualen Rechte an und ermöglicht damit die Bewertung eines Verhaltens als „nicht prozeßordnungsgemäß", führt dies noch nicht dazu, daß auch die engeren materiell-rechtlichen Anforderungen an eine Strafvereitelung vorliegen. Hier wirkt sich aus, daß die prozessualen Wertkategorien von (Un-) Zulässigkeit oder (Un-) Begründetheit nicht stets mit der materiellen Bewertung der Rechtswidrigkeit übereinstimmen.7
5 Vgl. auch das umgekehrte Zitat bei Fischer, NStZ 1997, 212, 213, der betont, daß sich die „Krise des Strafprozesses" gerade in dem umgekehrten Phänomen manifestiert und daß in der aktuellen Diskussion teilweise eine Vermengung beider Fragen erfolgt. 6 Zum Begriff der „offenen" (im Gegensatz zur „verdeckten") Störung vgl. Greiser/Artkämper, Die gestörte Hauptverhandlung, 1997, Rn. 41 ff. einerseits, Rn. 136 ff. andererseits; dort auch umfassende Nachweise zur Behandlung solcher Störungen. 7 Vgl. zu den prozessualen Wertkategorien näher unten 2. Teil CIV, S. 229 ff. Gegen eine generelle Gleichsetzung von nicht-prozeßordnungsgemäßem Verhalten und Strafvereitelung auch Jahn, ZRP 1998, 103 ff.
I. Ausgangshypothese: Mißbrauch als zweckwidriger Einsatz von Befugnissen
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2. Das Schwergewicht der Mißbrauchsdiskussion liegt dabei auf Verhaltensweisen des Angeklagten bzw. seines Verteidigers; allerdings wird vor allem (jedoch keinesfalls ausschließlich!) von Seiten der Strafverteidiger immer wieder betont, daß sich „mißbräuchliches Verhalten im Prozeß44 auch in den Reihen der Strafvcrfolgungsbehörden feststellen läßt.s Ohne daß an dieser Stelle eine Aussage darüber getroffen werden könnte, welche Prozeßbeteiligten tatsächlich am häufigsten mißbrauchsrelevante Verhaltensweisen zeigen, soll dem Einwand des „peccatur intra et extra 4'9 jedenfalls zugestanden werden, daß konstruktiv ein Mißbrauch i.S. des zweckwidrigen Einsatzes von gesetzlichen Befugnissen durch die Strafverfolgungsbehörden ebenso gut denkbar ist wie durch die Verteidigung: Dies ergibt sich nicht nur aus der Feststellung Karl Peters', daß das „Strafverfahren (...) Ausfluß der staatlichen Macht" sei, welche stets „die Gefahr des Machtmißbrauchs in sich44 trage, 10 sondern vielmehr daraus, daß es sich beim Mißbrauch nach der hier verwandten Definition im Ausgangspunkt um ein allgemeines methodisches Phänomen handelt. Wenn hier gleichwohl das Problem des Mißbrauchs und seiner Bekämpfung nicht in Bezug auf alle Verfahrensbeteiligten untersucht, sondern im wesentlichen auf den Angeklagten und seinen Verteidiger verengt wird, so hat dies seinen Grund zum einen im o.g. Schwergewicht der Diskussion, zum anderen in einer erforderlichen Beschränkung mit Blick auf den Umfang der Arbeit. Selbst in der - auf den ersten Blick durchaus übergreifend angelegten - Untersuchung der allgemeinen Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots im Strafprozeß wird schnell deutlich werden, daß sich die Mißbrauchsfrage nicht einheitlich beantworten läßt: So treten sowohl bei verfassungsrechtlichen Überlegungen 11 als auch bei Argumenten aus Spezifika des Strafprozeßrechts 12 für den Angeklagten und die Strafverfolgungsbehörden jeweils völlig unterschiedliche Wertungsgesichtspunkte in den Mittelpunkt, wie z.B. im Rahmen der Grundrechtsbezüge (Grundrechtsträgerschaft des Angeklagten, Grundrechtsbindung des Staates) oder der Rolle im Strafprozeß. M.a.W.: sobald über die sehr weite Hypothese der Zweckwidrigkeit als einem zentralen Wertungsgesichtspunkt des Mißbrauchs hinaus Aussagen gemacht werden sollen, würde
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Vgl. z.B. Hamm, NJW 1993, 289, 297; Kempf, StV 1996, 507, 511 unter Hinweis auf Meyer, JR 1980, 219, 220; aber auch Kühne, StV 1996, 684, 689 und Rüping, JZ 1997, 865, 869. Beispiele für denkbare Mißbräuche bei Staatsanwälten oder Richtern bei Fischer, NStZ 1997, 212, 215. 9 Vgl. Herdegen, NStZ 1995, 202. 10 Peters, Strafprozeßrecht, § 13 I 1 (Hervorhebungen dort). 11 Vgl. dazu unten 2. Teil B, S. 116 ff. 12 Vgl. dazu unten 2. Teil C, S. 177 ff.
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1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs im Strafprozeß
die Behandlung von Angeklagtem bzw. Verteidiger und Strafverfolgungsbehörden in Argumentation und Ergebnis weit auseinanderlaufen. 13 Zwei grundsätzliche Gesichtspunkte zum Mißbrauch durch die Strafverfolgungsbehörden seien jedoch an dieser Stelle noch erwähnt: Was zum einen die - beim Angeklagten besonders brisante - Frage nach der Möglichkeit auch eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots betrifft, besteht prima vista Anlaß für die Vermutung, daß dieses für die Strafverfolgungsbehörden weniger Schwierigkeiten bereiten würde; gerade bei Eingriffen in grundrechtlich geschützte Positionen werden weithin keine Bedenken dagegen geäußert, dem staatlichen Handeln (z.B. mit dem Argument einer verfassungskonformen einschränkenden Auslegung) Grenzen zu ziehen, die im Gesetz keinesfalls ausdrücklich genannt sind.14 Was zum anderen die unterschiedlichen Teile des staatlichen Strafverfolgungsapparats angeht, besteht (zwar nicht unbedingt hinsichtlich der wesentlichen Wertungen, vgl. o., wohl aber) hinsichtlich der betroffenen Verhaltensformen eine größere Ähnlichkeit der Verteidigung mit der Staatsanwaltschaft als mit dem Gericht. Zwar stehen sich nach der Struktur des deutschen Strafverfahrens Angeklagter und Staat nicht als „Parteien" gegenüber,15 jedoch besitzen in der Hauptverhandlung die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte bzw. sein Verteidiger weitgehend die gleichen prozessualen Befugnisse (insbesondere Antrags- und Fragerechte), die auch grundsätzlich den gleichen Zwecken dienen. Dabei besteht zwar ein wichtiger Unterschied darin, daß auch die Staatsanwaltschaft der o.g. Grundrechtsbindung unterliegt; unmittelbar während der Hauptverhandlung sind hierbei jedoch insbesondere die sogenannten Prozeßgrundrechte von Bedeutung,16 auf die der staatsanwaltschaftliche Sitzungsvertreter wesentlich weniger einwirken kann als etwa das Gericht. Schließlich soll noch ein weiterer Aspekt nicht unerwähnt bleiben, der das Verhältnis von Mißbrauch durch den Angeklagten und die Strafverfolgungsbehörden zueinander betrifft: Selbst wenn es richtig sein sollte, daß der Mißbrauch durch die Strafverfolgungsbehörden mindestens eben so häufig auftritt wie der durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger, 17 kann dies in erster Linie nur Anlaß sein, dieses Verhalten kritischer 13 Vgl. auch Fischer, NStZ 1997, 212, 216, der zwar auch die Möglichkeit des Mißbrauchs bei allen Beteiligten sieht, gleichwohl aber davor warnt, die „entscheidenden Unterschiede zu übersehen". 14 Vgl. in diesem Zusammenhang ferner Kühne, StV 1996, 684, 689, der potentiell mißbrauchsrelevante Verhaltensweisen der Gerichte als Fälle der fehlerhaften Rechtsanwendung beurteilt - auch dies ein Weg, der beim Angeklagten so nicht denkbar ist, da er zwar rechtlich relevante (Prozeß-) Handlungen vornehmen kann, dadurch aber nicht im dort verstandenen Sinne „Recht anwendet". Ähnlich Fischer, NStZ 1997, 212, 216, der darauf hinweist, daß „mißbräuchlichem Verhalten" der Strafverfolgungsbehörden und insbesondere des Gerichts (nicht dagegen des Angeklagten) regelmäßig mit der Revisibilität des Urteils begegnet werden kann. 15 Alleine aus den fehlenden Parteirollen allerdings bereits zwingend die Nichtexistenz eines allgemeinen Mißbrauchsvorbehalts abzuleiten (wie es offenbar Fischer, NStZ 1997, 212, 216 will), geht wohl - wie auch im folgenden noch gezeigt werden wird - zu weit: selbst wenn die „Parteieigenschaft" hierfür irgendeine präjudizielle Bedeutung hätte, wäre zu beachten, daß der Angeklagte insbesondere in der Hauptverhandlung durchaus „einige parteigleiche" Rechte hat, die neben die ohnehin bestehenden (z.B. Aufklärungs-) Pflichten des Gerichts treten. 16 Vgl. dazu näher unten 2. Teil Β I, S. 118 ff. 17 So dezidiert Hamm, NJW 1993, 289, 296.
I. Ausgangshypothese: Mißbrauch als zweckwidriger Einsatz von Befugnissen
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zu begutachten und nach Wegen zu einer eventuell erforderlichen Mißbrauchskontrolle zu suchen; keinesfalls aber kann es mißbräuchliches Verhalten der anderen Seite wirklich rechtfertigen. 3. Was nun die beim Angeklagten (und seinem Verteidiger) betroffenen Verhaltensformen angeht, gäbe es zwar nach der weiten Mißbrauchsdefinition unserer Ausgangshypothese kaum strafprozessuale Verhaltensformen, die schlechterdings „unmißbrauchbar" sind; allerdings lassen sich - was durch die im Verlaufe der Arbeit beschriebenen Fallgruppen insbesondere der Rechtsprechung bestätigt werden wird 18 - durchaus gewisse Verhaltensformen vermuten, die mißbrauchsanfälliger sind als andere. Allgemein ist dabei davon auszugehen, daß bei „aktiven Befugnissen" des Angeklagten, wie z.B. Frage-, Beweisantrags- oder Ablehnungsrechten, 19 ein Mißbrauch viel eher angenommen werden kann als bei rein „passiven" Rechten, wie insbesondere dem Schweigerecht, dessen Mißbrauch nur schwerlich denkbar erscheint: Sofern man im Sinne unserer Ausgangshypothese auf die „Zweckwidrigkeit" abstellt, spricht prima vista viel für die (freilich im einzelnen zu begründende) Annahme, daß die genannten aktiven Befugnisse dem Angeklagten zu ganz bestimmten Zwecken eingeräumt werden, zu denen insbesondere nicht die Verzögerung des Verfahrens oder gar die Verhinderung seines Abschlusses gehören. Umgekehrt ist es z.B. gerade der Sinn des Schweigerechts, daß der Beschuldigte nichts aktiv unternehmen muß, was zu seiner Verurteilung führen könnte; führt nun sein Schweigen bzw. eine andere Form von Passivität20 dazu, daß die Ermittlungen nicht voranschreiten, dann liegt insoweit keine Zweckwidrigkeit vor; über diesen erfaßten Zweck hinaus ist dagegen eine Verzögerung oder Boykottierung des Verfahrens kaum denkbar. 21 Weiterhin ist bei einer Interessenabwägung im Einzelfall zu beachten, daß die aktiven Rechte, die auch Auswirkungen auf die Stellung dritter Personen (z.B. abgelehnter Richter oder nur zum Zwecke der Beleidigung und Beschimpfung geladener Zeugen) haben können, bei Abwägung aller betroffenen Interessen eher zu einem (vermeintlich) korrekturbedürftigen Ergebnis führen können als z.B. das Schweigerecht.
18 Vgl. dazu sogleich 1. Teil III 3, S. 45 ff. sowie ausführlich unten 3. Teil B, S. 271 ff. 19 Vgl. zu den mißbrauchsanfälligen Antrags- und Fragerechten auch Weiss, AnwBl 1981,321,323. 20 Zu denken wäre beispielsweise daran, daß der Beschuldigte selbst keinen PapierAusdruck von elektronisch oder elektro-magnetisch gespeicherten Daten vornehmen, sondern allenfalls eine Beschlagnahme seiner EDV-Anlage bzw. der Datenspeicher dulden muß. Vgl. zur Bedeutung des nemo-tenetur-Prinzips im Zusammenhang mit Computerstraftaten Sieber, The International Emergence of Criminal Information Law, 1992, 58. 21 Deshalb auch zu Recht krit. zur Vorstellung einer Verwirkung des Beschlagnahmeprivilegs des Rechtsanwalts Haffke, NJW 1975, 808, 809.
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1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs im Strafprozeß
II. Gesetzliche Regeln zur Mißbrauchsabwehr de lege lata Aus der Tatsache, daß einerseits als Ausgangshypothese der Mißbrauch als die zweckwidrige Ausübung einer Befugnis umschrieben wird und andererseits ein untersuchenswertes Problem überhaupt nur in Fällen besteht, in denen nach dem Gesetzeswortlaut die Rechtsfolgen der Ausübung der Befugnis gleichwohl eintreten müßten, wird deutlich, daß der Mißbrauch vor allem ein Problem der Rechtsanwendung im Einzelfall ist.22 Dies heißt umgekehrt aber keinesfalls, daß die Bekämpfung des Mißbrauchs alleine Aufgabe des Rechtsanwenders wäre; vielmehr erscheint es durchaus wünschenswert, daß der Gesetzgeber selbst Vorkehrungen gegen den mißbräuchlichen Einsatz von Verfahrensrechten schafft. In der StPO ist dies an einigen Stellen auf verschiedene Art und Weise geschehen: Die de lege lata bestehenden Normen zur Bekämpfung des Mißbrauchs sollen in diesem Abschnitt systematisiert und überblicksartig dargestellt werden. Da sich freilich zu den gesetzlichen Vorschriften bereits ausführliche Abhandlungen in der Literatur und weiterführende Hinweise in der einschlägigen Kommentarliteratur finden, kann die Darstellung dieser Einzelvorschriften hier relativ kurz ausfallen. Über diesen Überblick hinaus sind an dieser Stelle vor allem zwei Punkte von Interesse sind dabei vor allem zwei Fragen: Zum einen, ob sich die Mißbrauchsumschreibung unserer Ausgangshypothese auch in den gesetzlichen Vorschriften bzw. ihrer Auslegung widerspiegelt; zum anderen ob schon die gesetzliche Systematik gewisse Lücken erkennen läßt, die möglicherweise durch ein allgemeines, ungeschriebenes Mißbrauchsverbot geschlossen werden könnten bzw. müßten. Darüber hinaus stellt sich für den weiteren Verlauf der Arbeit aber auch die Frage, ob hinter den geschriebenen Regelungen zur Mißbrauchsabwehr verallgemeinerungsfähige Wertungen und Lösungsmodelle stehen, die - sei es in Form eines allgemeinen Rechtsgedankens, sei es in Form von Analogien für einzelne Fallgruppen - auf gesetzlich nicht geregelte Mißbrauchsfälle übertragen werden können.
7. Systematisierung
und Begriffsklärung
Alle in diesem Abschnitt vorgestellten Vorschriften haben u.a. zum Ziel, den Mißbrauch prozessualer Befugnisse zu verhindern. Nach der hier zugrunde gelegten ersten Mißbrauchsdefinition geht es also nicht um solche Vorschriften, die abstrakt ein bestimmtes „prozessual erwünschtes" Verhalten vorschreiben,
22
Zum letztlich auch hinter dem Mißbrauchsprinzip stehenden Grundproblem des Spannungsverhältnisses zwischen Normtreue und Einzelfallgerechtigkeit vgl. unten 2. Teil A I 1,S. 61 f.
II. Gesetzliche Regeln zur Mißbrauchsabwehr de lege lata
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sondern um Normen, die eine zweckwidrige Verwendung von gesetzlich eingeräumten prozessualen Befugnissen verhindern sollen und somit zumeist in einer (zumindest sachlogischen) Abhängigkeit von der Befugnisse verleihenden Norm stehen. Dem Gesetzgeber stehen dabei theoretisch verschiedene Möglichkeiten der Mißbrauchsbekämpfung zur Verfügung, die sich nach unterschiedlichen Kriterien systematisieren lassen:23 Zum einen könnte er relativ allgemein und unbestimmt untersagen, daß eine Befugnis „mißbräuchlich ausgeübt wird" (o.ä.), wobei dieses Verbot entweder für sämtliche prozessualen Befugnisse oder zumindest für einzelne (bzw. mehrere) Bereiche (z.B. das Beweisantragsrecht) angeordnet werden könnte. Insoweit könnte man je nachdem von allgemeinen oder bereichsspezifischen Mißbrauchsklauseln sprechen. Der Begriff der „Klausel'4 als solcher spielt als Bezeichnung für gesetzliche Vorschriften sonst regelmäßig keine große Rolle und wird eher im Zusammenhang mit der Vertragsgestaltungslehre gebraucht, wo er die einzelne Bestimmung eines Rechtsgeschäfts bezeichnet.24 Im Zusammenhang mit Gesetzen würde „Klausel" dann eine einzelne Vorschrift bedeuten, wobei der Begriff vor allem in der Zusammensetzung „Generalklausel" verwendet wird. Darunter wird eine möglichst allgemein gehaltene Formulierung verstanden, die nur einen allgemeinen Grundsatz aufstellt, um damit möglichst viele Tatbestände umfassen zu können, und im Einzelfall erst durch den Rechtsanwender konkretisiert wird. 25 Spricht man nun bei solchen Vorschriften, die den „Mißbrauch" verbieten, von einer „Mißbrauchsklausel", würde auch diese Assoziation der Unbestimmtheit zutreffen, da der Rechtsanwender erst (z.B. durch Fallgruppenbildung) zur Konkretisierung beitragen muß. Des weiteren wäre denkbar, daß der Gesetzgeber in bestimmten Bereichen spezifische Verhaltensformen, die für sich genommen unter die Mißbrauchsdefinition fallen würden, untersagt, wie es z.B. bei Beweisanträgen erfolgt ist, die in Verschleppungsabsicht gestellt werden. Um klar zu machen, daß hier nicht nur auf „den Mißbrauch", sondern auf eine (wenngleich nur geringfügig) konkretisierte Verhaltensform abgestellt wird, bietet es sich hier an, statt von „speziellen Mißbrauchsklausein" von „speziellen Mißbrauchstatbeständen" zu sprechen. Freilich kann diese begriffliche Einordnung nicht verbergen, daß die Unterschiede gerade zwischen speziellen Mißbrauchstatbeständen und bereichsspezifischen Mißbrauchs klausein (so v.a. §241 I StPO für die Entziehung des Rechts zum Kreuzverhör bei Mißbrauch) nur graduell sind, da auch
23
Zu einer ( der hier vorgenommenen ähnlichen) Systematisierung von Vorschriften gegen den Mißbrauch vgl. auch knapp Kröpil, ZRP 1997, 9, 10. 24 Vgl. Stichwort „Klausel" in Tilch (Hg.), Deutsches Rechtslexikon, 2. Auflage 1992, Bd. II; in Kaufmann (Hg.), Creifelds Rechts Wörterbuch, 12. Auflage 1994, erscheint der Begriff der „Klausel" alleine überhaupt nicht. 25 Vgl. Stichwort „Generalklausel" in Tilch (Hg.), Deutsches Rechtslexikon, 2. Auflage 1992, Bd. II, sowie in Kaufmann (Hg.), Creifelds Rechts Wörterbuch, 12. Auflage 1994.
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1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs im Strafprozeß
die Mißbrauchstatbestände i.d.R. noch einer weitergehenden Präzisierung bedürfen. Neben diesen Möglichkeiten, auf eine bereits stattgefundene mißbräuchliche Ausübung einer Befugnis zu reagieren, kann der Gesetzgeber jedoch auch versuchen, bei der Einräumung eines Rechts bereits solche Grenzen zu ziehen, die eine zweckfremde Ausübung (gewissermaßen schon im Vorfeld) erschweren oder unwahrscheinlich machen. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn der Gesetzgeber der Ansicht ist, daß in der zeitlich verzögerten Ausübung einer Befugnis häufig deren zweckwidriger (weil z.B. nur das Verfahren herauszögernder) Einsatz liegt, hat er zum einen die Möglichkeit, die mißbräuchliche - und als Konkretisierung oder Regelbeispiel die prozeßverschleppende - Ausübung dieser Befugnis zu untersagen; er kann jedoch auch eine Präklusionsregel treffen, nach der die Befugnis überhaupt nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich ist. Eine solche Präklusion hat den Vorteil der größeren Klarheit, zumal nicht auf subjektive Beweggründe abgestellt wird; andererseits ist sie undifferenzierter und trifft u.U. auch solche Prozeßbeteiligten, die ohne mißbräuchliche Absicht einen späteren Zeitpunkt wählen wollen. Ähnliche abgestufte Gestaltungsvarianten stellen sich für den Gesetzgeber auch in anderen Rechtsgebieten: So ist z.B. im öffentlichen Sicherheits- bzw. Gefahrenabwehrrecht zwischen der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Handlung mit der Möglichkeit späteren behördlichen Einschreitens (so z.B. bei der grundsätzlichen Gewerbefreiheit mit der Möglichkeit der Gewerbeuntersagung nach § 35 GewO), einem präventiven Verbot mit (gebundenem) Erlaubnisanspruch (z.B. im Baurecht) und einem repressiven Verbot mit Genehmigungsvorbehalt (so z.B. nach § 3 Bannmeilengesetz) zu unterscheiden,26 welche nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit je nach Grad der Gefährlichkeit einer Sache bzw. einer Handlung sowie nach ihrer Bedeutung für den Bürger angeordnet werden können.27 Überträgt man diesen Verhältnismäßigkeitsgedanken auf das Strafprozeßrecht, spricht viel dafür, nach Möglichkeit eine „spätere Eingriffsbefug26
Vgl. zum Ganzen näher Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1995, § 9 Rn. 51 ff.; (dort auch zum sog. Anzeigevorbehalt und der Figur der Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt, die im wesentlichen dem hier erstgenannten Regelungstypus der grundsätzlichen Erlaubnis entspricht); Gusy> JA 1981, 80 ff. Aus dem Blickwinkel des Umweltrechts, in dem die Genehmigungsverfahren eine besonders wichtige Rolle spielen, Arndt, in Steiner (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 1995, VIII Rn. 77 f. 27 Auch im Zivilrecht kann man das abgestufte System der Gefahrbekämpfung bzw. hier: der Zuweisung des Schadensrisikos erkennen: So hat der Gesetzgeber für bestimmte Sachen, von denen eine Gefahr droht, die nicht verboten, sondern aus Gründen der Sozialadäquanz hingenommen wird, wenigstens eine Gefährdungshaftung eingeführt, nach der derjenige, der von der gefährlichen Sache profitiert, verschuldensunabhängig für Schäden eines anderen aufkommen muß, in denen sich die Gefahr der Sache realisiert (vgl. z.B. §§ 833 BGB, 7 StVG). Daß es dabei nicht nur auf die Gefahr, sondern auch auf die Bedeutung für den Bürger ankommt, wird auch hier z.B. darin deutlich, bei der Tierhalterhaftung für Luxustiere eine Gefährdungshaftung, für Haustiere eine Haftung für vermutetes Verschulden statuiert ist. Vgl. allgemein zu dem hier zugrundeliegenden Spannungsverhältnis von Freiheit und Verantwortung als legislativem Grundproblem Kudlich, in: Duttge (Hg.), Freiheit und Verantwortung (erscheint 1998).
II. Gesetzliche Regeln zur Mißbrauchsabwehr de lege lata
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nis bei grundsätzlicher Zulässigkeit" (so z.B. durch eine Mißbrauchsklausel), statt eines bereits „anfänglichen Verbots" (so z.B. in Form einer Präklusion) vorzusehen. Zur Abgrenzung von den o.g. Mißbrauchsklauseln und sonstigen Mißbrauchstatbeständen soll im folgenden für solche objektiven Regelungen, die bereits im Vorfeld das Entstehen einer mißbrauchsanfälligen Konstellation verhindern wollen, der Begriff „Vorschriften zur Mißbrauchsprävention" bzw. „mißbrauchspräventive Vorschriften" verwendet werden.
2. Überblick über die gesetzlichen Regelungen a) Allgemeine und bereichsspezifische Mißbrauchsklauseln Eine (geschriebene) allgemeine Mißbrauchsklausel kennt die StPO nicht. Aber auch bereichsspezifische Mißbrauchsklauseln im o.g. Sinne, d.h. also gerade unter Verwendung des Begriffs des „Mißbrauchs" bzw. des „Mißbrauchens" finden sich nur an ganz wenigen Stellen: aa) § 2411 StPO bestimmt, daß der Vorsitzende einem Prozeßbeteiligten, der seine Befugnis zum Kreuzverhör i.S.d. § 239 StPO mißbraucht, diese entziehen kann.28 Dabei soll ein Mißbrauch des Kreuzverhörs im ganzen dann anzunehmen sein, wenn der Befragende nicht nur einzelne unzulässige Fragen stellt, sondern auch nach Abmahnung durch den Vorsitzenden das Kreuzverhör ungebührlich ausdehnt und weiterhin überwiegend unzulässige Fragen stellt.29 Allerdings erfaßt § 241 StPO seinem Wortlaut nach nur die Befugnis zum Kreuzverhör nach § 239 StPO, welches ohnehin nur den Ausnahmefall darstellt, und ist deswegen nur von eingeschränkter Bedeutung; dagegen ist eine Entziehung des Fragerechts nach § 240 I I StPO nicht geregelt. bb) Nach § 138a I Nr. 2, II StPO ist ein Verteidiger von der Mitwirkung an einem Verfahren auszuschließen, wenn der (qualifizierte) Verdacht besteht, daß er den Verkehr mit dem inhaftierten Angeklagten dazu mißbraucht, Straftaten zu begehen oder die Sicherheit einer Vollzugsanstalt erheblich zu gefährden. Allerdings handelt es sich insoweit um keinen Mißbrauch prozessualer Befugnisse i.e.S., da die „strafbaren oder sicherheitsgefährdenden Handlungen" al-
28 Vgl. zu § 241 II StPO und seiner Einbindung in die Systematik der §§ 239241 StPO auch unten 3. Teil Β V 3 a, S. 317 ff. Zur Ableitung einer allgemeinen Mißbrauchsdefinition aus § 241 I StPO vgl. Kröpil, JR 1997, 315 ff.; zur Entstehungsgeschichte des § 241 I (freilich mit zweifelhaftem Ertrag für die Mißbrauchsfrage) ders., DRiZ 1996,448 ff. 29 Vgl. LR-Gollwitzer, § 241 Rn. 2; SK/StPO-Schlüchter, § 241 Rn. 2.
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lenfalls „bei Gelegenheit der Wahrnehmung einer prozessual gewährten Befugnis" begangen werden, nicht aber als Ausübung der Befugnis selbst.30
b) Spezielle Mißbrauchstatbestände In größerer Zahl als die Mißbrauchs klausein finden sich in der StPO Vorschriften, die ein bestimmtes, im hier verstandenen Sinne mißbräuchliches Verhalten verbieten (bzw. gestatten, entsprechende Prozeßhandlungen z.B. als unzulässig zurückzuweisen), ohne auf den Begriff des „Mißbrauchs" abzustellen.31 aa) In den Regelungen über die Ablehnung wegen Befangenheit ordnet § 26a I Nr. 3 StPO die Verwerfung der Ablehnung als unzulässig an, wenn dadurch „offensichtlich das Verfahren nur verschleppt oder nur verfahrensfremde Ziele verfolgt werden sollen." Die Beispiele, die sich in der Rechtsprechung für diese Voraussetzungen finden, zeigen deutlich, daß die Zweckwidrigkeit auch bei diesen spezieller geregelten Mißbrauchstatbeständen ein wesentlicher Aspekt ist: So wurde in einer Entscheidung des KG vom 05.01.1966 32 die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuches durch das Landgericht auf die sofortige Beschwerde hin mit der Maßgabe aufrechterhalten, daß dieses nicht „nur" unbegründet, sondern sogar unzulässig geweseil sei. Das KG ging davon aus, daß „der Verurteilte mit der Eingabe ausschließlich Zwecke verfolgt, die einem Ablehnungsgesuch fremd sind", und daß es sich nur um eine in das Gewand eines Ablehnungsgesuches gekleidete Schmähschrift handele.33 Dies Schloß das KG zum einen daraus, daß das Gesuch im wesentlichen den Inhalt früherer erfolgloser Ablehnungsanträge wiedergab (und damit kaum erfolgversprechend war), zum anderen daraus, daß es vervielfältigt und einem breiten Leserkreis zur Verfügung gestellt wurde (und deshalb offensichtlich dem Zweck der öffentlichen Schmähung des Gerichts dienen sollte). In einer weiteren Entscheidung des KG vom 26.10.1973 34 wurde mit ähnlichen Gründen ebenfalls ein verfahrensfremder Zweck i.S.d. § 26a I Nr. 3 StPO angenommen: Einerseits war das Ablehnungsgesuch in seinen tatsächlichen Grundlagen durchgehend unwahr, und die darin enthaltenen Behauptungen wurden nach Ansicht des KG 30
Vgl. auch Weber, GA 1975, 289, 296 (Hervorhebung dort), der ebenfalls dem Gedanken nahesteht, daß es sich bei § 138a StPO „gar nicht um echte Mißbrauchsfälle handelt". Im Ergebnis ähnlich Kröpil, JR 1997, 315, 316 f.; zur Entstehungsgeschichte des § 138a StPO ders., DRiZ 1996, 448,450 ff. 31 Hier sei noch einmal betont, daß die statt dessen verwandten Begriffe u.U. genauso einer näheren Ausfüllung bedürfen wie der des Mißbrauchs. Gleichwohl sind sie insoweit enger, als sie häufig nur einen (bzw. einzelne) Facette(n) des bunt schillernden „Mißbrauchs" erfassen. 32 KG JR 1966, 229 f. 33 Vgl. KG JR 1966, 229, 230. 34 KG G A 1974, 220 f.
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„offensichtlich aufs Geratewohl aufgestellt"; andererseits war das Gesuch vor Eingang beim angerufenen Gericht in der Verhandlung eines unzuständigen Gerichts und vor Vertretern der Presse bekannt gegeben worden. Ebenso wie in der erstgenannten Entscheidung stellte das KG darauf ab, daß der Antragsteller aus diesen Gründen mit dem Erfolg dieses Ablehnungsgesuches nicht ernsthaft rechnen konnte, so daß auch subjektiv „nur verfahrensfremde", nämlich demonstrative Zwecke verfolgt werden konnten, eine tatsächliche Ablehnung der Richter aber gar nicht beabsichtigt war. In einer Entscheidung des OLG Koblenz vom 03.01.1977 schließlich wurde ebenfalls ein Ablehnungsgesuch nach § 26a I Nr. 3 StPO als „nur sachwidrig" zurückgewiesen. Auch in dieser Entscheidung wurde darauf abgestellt, daß die inhaltlichen Anforderungen an eine erfolgreiche Ablehnung in keiner Weise ersichtlich seien.36 Für einen Mißbrauch und ein zu Demonstrationszwecken genutztes Antragsverhalten sprachen nach Ansicht des OLG u.a. die Tatsache, daß innerhalb kürzester Zeit mehrere Ablehnungsgesuche - davon gegen einen Richter gleich mehrere und insgesamt gegen alle beteiligten Richter - vorgebracht wurden, die sich nur auf Vermutungen stützten und beleidigenden Inhalt hatten. Daraus und aus der Tatsache, daß keine eine Ablehnung auch nur im Entferntesten tragenden Gründe genannt sind, schloß das OLG, daß es dem Antragsteller nicht darum ging, die Unbefangenheit des Gerichts zu sichern, sondern sein allgemeines Mißtrauen gegen die Justiz zu äußern und diese zu verunsichern. bb) Nach § 241 II StPO können Fragen, die nach § 240 I I StPO durch bestimmte Prozeßbeteiligte (u.a. auch den Angeklagte und seinen Verteidiger) grundsätzlich gestellt werden dürfen, zurückgewiesen werden, wenn sie „ungeeignet" sind oder „nicht zur Sache gehören". Eine Frage ist nach h.M. ungeeignet i.S.d. § 241 I I StPO, wenn sie die Wahrheitserforschung nicht oder nicht in zulässiger Weise fördert, 37 und sachfremd, wenn sie der Aufklärung des Prozeßgegenstandes weder mittelbar noch unmittelbar dienen kann.38 Orientiert man sich an diesen Definitionen der h.M. wird klar, daß eine klare Unterscheidung und Abgrenzung nur auf den ersten Blick stattfindet, daß sich aber bei genauerer Betrachtung deutliche Überschneidungen ergeben. Wichtiger als eine Abgrenzung ist dabei (insbesondere auch für die hier interessierende Frage) die Konturierung des Überbegriffes der „unzulässigen Fragen" 39: Als maßgebliche Kriterien werden hierfür der Widerspruch zum Verfahrensrecht und die fehlende Sachaufklärung genannt.40
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OLG Koblenz, GA 1977, 184 f. Dies wird nicht zuletzt auch daraus ersichtlich, daß das OLG den Antrag zusätzlich auch wegen fehlender Glaubhaftmachung nach § 26a I Nr. 2 StPO für unzulässig hielt. 37 Vgl. statt vieler nur SYJStFO-Schlüchter, § 241 Rn. 4 m.w.N. 38 Vgl. statt vieler nur SK/StPO-Schlüchter, § 241 Rn. 4 m.w.N. 39 Ebenso SK/StPO-Schlüchter, § 241 Rn. 4, nach der auch die nachfolgende Umschreibung erfolgt. 40 Dabei ist bei zweiterem freilich zu berücksichtigen, daß die Institutionalisierung eines Fragerechts über die Vernehmung durch das Gericht hinaus bereits zeigt, daß das Gesetz im Einzelfall von einer unterschiedlichen Einschätzung über die Bedeutung einer Frage für die Sachaufklärung zwischen dem Gericht und den frageberechtigten übrigen 36
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1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs im Strafprozeß
Auch diese Kriterien lassen sich mit der Arbeitshypothese des Mißbrauchs als Zweckwidrigkeit zur Deckung bringen: So liegt der Gesichtspunkt der Zweckwidrigkeit vor allem der „fehlenden Sachaufklärung" zugrunde. Dabei wird der „Zweck" als allgemeiner Begriff hier durch die Sachaufklärung als Zweck des Fragerechts konkretisiert (was im übrigen für viele prozessuale Befugnisse möglich ist). cc) Nach § 244 III 2 Mod. 6 StPO kann ein Beweisantrag abgelehnt werden, wenn er zum Zweck der Prozeßverschleppung gestellt wird. 41 Die Vorschrift ist eine der wichtigsten Ausprägungen des allgemeinen Mißbrauchsprinzip und wird teilweise auch erweiternd dahingehend ausgelegt, daß darunter „alle Scheinbeweisanträge" (und damit auch einige Konstellationen, die hier als Fallgruppen des allgemeinen Mißbrauchsprinzips erörtert werden) fallen. 42 Die Berührungspunkte zur Zweckwidrigkeit werden deutlich, wenn man sich die Voraussetzungen vor Augen hält, die die h.M. an das Vorliegen der Verschleppungsabsicht stellt: Das Gericht muß davon überzeugt sein, daß die Beweiserhebung nichts zugunsten des Antragstellers ergeben wird (und der Antrag somit objektiv zweckwidrig ist 43 ) und daß auch der Antragsteller sich dessen bewußt ist und den Antrag ausschließlich zur Verfahrensverzögerung gestellt hat (und somit subjektiv zweckwidrig handelt).44 Auf die weit verbreitete Klage vor allem unter den Tatrichtern, daß der Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht durch die hohen Voraussetzungen in der Rechtspre-
Prozeßbeteiligten ausgeht und hierbei für den Regelfall einen Vorrang des Frageinteresses annimmt. 41 Zur Frage, ob die - im Wortlaut übereinstimmende, aber auf präsente Beweismittel bezogene - Vorschrift des § 245 II 3 Mod. 5 StPO gleich ausgelegt werden kann vgl. ausführlich (im Ergebnis verneinend) Thole, Der Scheinbeweisantrag im Strafprozeß, 1992, 209 ff. Da die Auffassung, die das verneint, letztlich in der Verschleppungsabsicht fast nur noch ein Synonym für die Mißbräuchlichkeit des Beweisantrags sehen kann, ohne einen echten Zusammenhang zum Verschleppungselement herzustellen, ist ein näheres Eingehen auf diese hier nicht erforderlich, da eigentlich kein wirklich spezieller Mißbrauchstatbestand mehr vorliegt. 42 So z.B. Alsberg/Nüse/Meyer, 637 f.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 67. 43 Die objektive Zweckwidrigkeit ergibt sich aus dieser Prognose; das weitere objektive Element der voraussichtlichen nicht unerheblichen Prozeßverzögerung (vgl. dazu SK/StPO-Schlüchter, § 244 Rn. 118) ist per se kein Kriterium der objektiven Zweckwidrigkeit bzw. Mißbräuchlichkeit, sondern vielmehr eine Schranke des Ablehnungsgrund aus Gründen der Verhältnismäßigkeit: die Prognose der Ergiebigkeit des Antrags für den Antragsteller ist durch die dafür erforderliche (und auch zulässige, vgl. BGHSt 21, 118) Vorwegwürdigung immer mit gewissen Risiken belastet, die nicht eingegangen werden sollen, wenn eine nur unerhebliche Verzögerung droht. 44 Vgl. nur BGHSt 21, 118; 29, 149, 151; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 68; nähere Darstellung und weitere Nachweise bei Alsberg/Nüse/Meyer, 639 ff.; KMRPaulus, § 244 Rn. 430 f.; SK/SlPO-Schlüchter, § 244 Rn. 118 f.
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chung des BGH45 weitgehend seine praktische Bedeutung verloren habe (was freilich nicht zuletzt auch damit zusammenhängen könnte, daß ein dysfunktionales Prozessieren eine echte Ausnahme bildet), soll hier ebenso wenig näher eingegangen werden wie auf die Frage, ob diese enge Auslegung völlig, teilweise oder kaum zu Recht vorgenommen wird. Gewisse Berührungspunkte mit dem Mißbrauch im Sinne der objektiven Zweckwidrigkeit sind im übrigen auch bei den Ablehnungsgründen der §§ 244 III 2 Mod. 2 und 4, 245 II 3Mod. 3 und 4 StPO (Bedeutungslosigkeit, mangelnder Zusammenhang und völlige Ungeeignetheit) insofern zu erkennen, als all diese Beweismittel dem Zweck der Beweisaufnahme (nämlich der Wahrheitsfindung) nicht dienen können. Gleichwohl werden sie zu Recht regelmäßig nicht im Zusammenhang mit dem dysfunktionalen Prozessieren genannt, da ihnen nicht zuletzt (in praxi sicher nicht stets, aber zumindest mit Blick auf ihre tatbestandlichen Voraussetzungen) jedes subjektive Mißbrauchselement fehlt. 46 dd) Nach § 23 Ja StPO (der eine gewisse Ergänzung und Fortführung des §231 I I StPO darstellt) wird die Hauptverhandlung auch in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt, wenn dieser sich vorsätzlich und schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt hat.47 Die Vorschrift ist insoweit als Ausprägung des Mißbrauchsverbots zu verstehen, als der Angeklagte nicht vorsätzlich das grundsätzliche Erfordernis seiner Anwesenheit nach §§ 230 , 231 I StPO - das hier die mißbrauchte „prozessuale Befugnis darstellt" - dadurch zweckwidrig für seine Ziele instrumentalisieren darf, daß er sich in einen Zustand versetzt, in dem er nicht verhandlungsfähig ist. ee) Nach § 266 III 1 StPO schließlich muß einem Antrag des Angeklagten auf Unterbrechung der Verhandlung im Falle einer Nachtragsanklage dann nicht stattgegeben werden, wenn dieser „offenbar mutwillig oder nur zur Verzögerung des Verfahrens gestellt ist" 48 . Maßgeblich ist auch hier die Zweckwidrigkeit: Sinn der Unterbrechung nach § 266 I I I 1 StPO auf Antrag des Angeklagten ist es, ihm die Möglichkeit zu geben, sich auf diesen neuen Vorwurf einzustellen. Beantragt er die Unterbrechung aber nicht aus diesem Grund, liegt ein objektiv zweckwidriger Antrag vor, dessen subjektive Komponente im Tatbestandsmerkmal der Mutwilligkeit der Verzögerungsabsicht deutlich wird.
45 Allgemein zur Bedeutung der Revision im Beweisrecht Büsdorf y StV 1995, 310, 315 ff., sowie Alsberg/Nüse/Meyer, 867 ff. 46 Vgl. ausführlicher zur Bedeutung der anderen Ablehnungsgründe des § 244IIIV StPO (sowie des § 245 StPO) für die Behandlung von mißbräuchlichen bzw. Scheinbeweisanträgen Thole, 81 ff., 95 ff., 201 ff. 47 Zur verfassungsrechtlichen (Problematik, aber im Ergebnis) Zulässigkeit der Vorschrift vgl. BVerfGE 41, 246, 249 m. krit. Anm. Grünwald, JZ 1976,767 ff. 48 Dabei wird „mutwillig" zumeist als bloße Lust am Widerspruch umschrieben, vgl. KK-Hürxthal, §§ 266 Rn. 10; KMR-Sax, § 266 Anm. 9; SK/StPO-Schlüchter, § 266 Rn. 22. Genauere, etwa Fallgruppen bildende Ausführungen finden sich auch in der Kommentarliteratur nicht.
3 Kudlich
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1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs im Strafprozeß
c) Vorschriften zur Mißbrauchsprävention Die bisher dargestellten Mißbrauchsklauseln oder speziellen Mißbrauchstatbeständen betreffen jeweils den Fall, daß eine Befugnis i.w.S. bereits zweckwidrig ausgenutzt wird (bzw. werden soll) und darauf in gewisser Weise reagiert werden darf, sei es durch Zurückweisung entsprechender Anträge oder Entziehung der Befugnis. Die im folgenden beschriebenen Vorschriften zur Mißbrauchsprävention i.e.S. dagegen begrenzen eine bestimmte Befugnis bereits objektiv in der Weise, daß eine mißbräuchliche Ausübung möglichst ausgeschlossen werden soll. 49 Die wichtigsten dieser Vorschriften zur Mißbrauchsprävention, die an eine real bestehende prozessuale Befugnis anknüpfen, diese aber objektiv mit der Tendenz beschränken, einen Mißbrauch einzuengen,'0 sind die folgenden:" aa) Nach §25 11 StPO ist die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit - vorbehaltlich der Ausnahmen des Abs. II - nur bis zum Beginn der Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse möglich. Mit dieser Präklusion kann der Mißbrauch des Ablehnungsrechts (das sich schon durch das teilweise Erfordernis einer anderen Gerichtsbesetzung zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch, vgl. § 27 StPO, zur Verfahrensverzögerung geradezu anbietet32) zumindest in Fällen eingeschränkt werden, in denen dieser Mißbrauch sich in einer bewußt hinausgezögerten Antragstellung
49 Noch einen Schritt weiter würde der Gesetzgeber gehen, wenn er bestimmte - an sich denkbare - Befugnisse völlig ausschließen würde, so wenn er z.B. förmliche Aussetzungs- bzw. Unterbrechungsanträge in §§ 265, 266 StPO gar nicht zulassen, sondern die Entscheidung darüber ausschließlich ins Ermessen des Gerichts stellen würde. Indes soll diese Möglichkeit (über die sich zudem ohnehin immer nur sehr hypothetisch reden ließe) hier ausgespart bleiben, da insoweit mangels prozessualer Befugnis der Mißbrauch derselben gar nicht mehr wirklich thematisiert werden kann. 50 Die Vorschriften zur Mißbrauchsprävention engen zwar regelmäßig nur bestimmte Spielarten eines Mißbrauchs ein, so z.B. eine Präklusion nur die bewußt späte und verfahrensverzögernde Ausübung eines Rechts. Gleichwohl zeigen auch sie die Fragwürdigkeit einer Aussage wie „ein Verfahrensrecht, das nicht mißbraucht werden kann, verdient den Namen nicht", vgl. Schulz, StV 1991, 354, 362. Daß z.B. eine (Ausnahmen zulassende!) Präklusion beim Recht der Richterablehnung besteht, beeinträchtigt allenfalls geringfügig die Effektivität dieser Befugnis, kann aber doch keineswegs dazu führen, den Charakter der §§24 ff. StPO als Verfahrensrecht zu schmälern. 51 Eine ausführliche Aufzählung von Vorschriften, die alle Ausprägungen der „objektiven Strafverfahrensbezogenheit" darstellen sollen, findet sich bei Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten, 1993, 38 ff.; die für die vorliegende Untersuchung einschlägigen Vorschriften werden auch hier erwähnt; viele der dort genannten Vorschriften haben allerdings keinen Bezug zum vorliegenden Thema. 52 Ähnlich Niemöllen StV 1996, 501, 504.
II. Gesetzliche Regeln zur Mißbrauchsabwehr de lege lata
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äußert.'1 Die Ausnahmevorschrift des § 25 II StPO sichert die Möglichkeit der späteren Ablehnung in Fällen, in denen diese vorher nicht möglich war und sich deshalb auch später als möglicherweise zweckentsprechend herausstellt. Ob die spätere Ablehnung in den Fällen des § 25 II StPO tatsächlich nicht mißbräuchlich erfolgt, kann zwar abstrakt nicht beantwortet werden. Jedenfalls ist aber das Risiko des Mißbrauchs in diesen Fällen nicht größer als bei einem Ablehnungsgesuch, das bis zum von § 25 I 1 StPO vorgeschriebenen Zeitpunkt erfolgt, so daß eine andere Behandlung nicht geboten ist.54 bb) § 137 / 2 StPO beschränkt die Zahl der vom Angeklagten bestimmbaren Wahlverteidiger auf drei. Auch diese Vorschrift dient der Mißbrauchsprävention, da eine unbeschränkte Zahl 5 ' von Verteidigern das Risiko einer Prozeßverschleppung oder gar Vereitelung erhöhen würde. 56 Auf Grund dieser festen Beschränkung muß nicht in jedem Einzelfall vom Gericht geprüft werden, ob die Wahl einer größeren Zahl von Verteidigern im konkreten Fall objektiv zur Prozeßverschleppung führt bzw. subjektiv darauf abzielen soll und damit einen zweckwidrigen Einsatz der Verteidigung darstellt. Geradezu exemplarisch für die Vorschriften zur Mißbrauchsprävention im Vorfeld ist bei § 137 I 2 StPO, daß als Anknüpfungspunkt ein eindeutiger und objektiver Parameter gewählt wurde und es auf die Gefahr (oder gar das Vorliegen) eines Mißbrauchs im konkreten Fall nicht ankommt. Allerdings ist neben den darin begründeten Vorteilen der Klarheit, Rechtssicherheit und vor allem Unabhängigkeit von richterlichen Einschätzungen auch der Nachteil zu sehen, der darin begründet liegt, daß eine Vertretung durch mehr als drei Verteidiger, selbst wenn diese sachlich und funktional erfolgt und aus Rechtsgründen einmal sinnvoll wäre, nicht möglich ist.57
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Der Zusammenhang zwischen Präklusion und Mißbrauch wird im übrigen mittelbar auch in § 26a StPO deutlich, wo die erleichterte Ablehnung wegen Unzulässigkeit nach dem speziellen Mißbrauchstatbestand des § 26a I Nr. 3 StPO, aber auch wegen einer i.S.d. § 25 I 1 StPO verspäteten Antragstellung nach § 26a I Nr. 1 StPO möglich ist. 54 Die Möglichkeit, ein solches späteres Ablehnungsgesuch z.B. nach § 26a I Nr. 3 StPO abzulehnen, bleibt selbstverständlich unbenommen. 55 Ob die Beschränkung auf gerade drei Verteidiger zwingend ist, kann natürlich mit guten Gründen bezweifelt werden, indes erscheint auch keine andere Zahl signifikant mehr oder weniger sinnvoll, so daß hinsichtlich der konkreten Anzahl von einer Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers auszugehen ist. 56 Vgl. Weber, G A 1975, 289, 296. 57 Zugegebenermaßen handelt es sich hier in doppelter Hinsicht um ein hypothetisches Problem: zum einen weil es selten Fälle geben wird, die in ihrer rechtlichen Komplexität der Betreuung durch mehr als drei Verteidigern bedürften, zum anderen, weil § 137 I 2 StPO weder ausschließen kann noch will, daß zur Vorbereitung der Verhandlung intern eine Spezialisierung und Aufteilung auf mehr als drei Verteidiger erfolgt. 3»
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1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs im Strafprozeß
cc) Mit Wagner' 8 kann eine Regelung zur Mißbrauchsprävention auch in § 220 II, III StPO gesehen werden, wonach der Angeklagte bei Selbstladung einer Beweisperson die dieser entstehenden und gesetzlich erstattungsfähigen Kosten (vorstrecken und) endgültig tragen muß, wenn sich ergibt, daß die Vernehmung der geladenen Person einer Aufklärung der Sache nicht dienlich war. Hier besteht zwar insofern ein Unterschied zu den o.g. §§ 25 I 1, 137 I 2 StPO, als nicht ein objektiver Umstand vor der Ausübung der Befugnis Anknüpfungspunkt der gesetzlichen Regel ist, sondern durchaus erst retrospektiv beurteilt wird, ob die Ausübung zweckgerecht erfolgte. Gleichwohl ist § 220 II, I I I StPO wohl am ehesten in die hier betrachtete Gruppe von Vorschriften einzuordnen, da nach dieser Vorschrift die Zweckwidrigkeit nicht etwa dazu führt, daß die Ladung als unzulässig untersagt oder als unwirksam behandelt wird.' 9 Im Vorfeld knüpft vielmehr die Gefahr einer endgültigen Kostentragung an, die durch die Vorschußpflicht nach § 220 II StPO noch besonders spürbar wird. Diese, d.h. Vorschußpflicht und Gefahr der endgültigen Kostentragung, sind aber wiederum unabhängig von einer mißbräuchlichen Ladung und bestehen alleine deshalb, weil die Selbstladung als solche ein erhöhtes Mißbrauchsrisiko trägt. Anders gewendet: Mißbrauchsprävention erfolgt hier nicht durch das Verbot einer besonders mißbrauchsanfälligen Situation, sondern durch „Androhung" einer Sanktion, wenn diese Situation tatsächlich ausgenutzt wird. dd) In gewisser Hinsicht könnte man auch § 257 III StPO als Vorschrift zur Mißbrauchsprävention beurteilen. Durch das darin enthaltene Verbot, in Erklärungen die Schlußanträge vorwegzunehmen, soll verhindert werden, daß Erklärungsrechte „objektiv strafverfahrensfremd" 60 dazu eingesetzt (und damit mißbraucht) werden, die anschließende Beweisaufnahme dadurch in ihrer Bedeutung zu relativieren, daß die bisherige Beweisaufnahme bereits so gewürdigt wird, wie es sonst nur mit ihrem Ergebnis geschieht.61 Gleichwohl paßt auch diese Vorschrift nur bedingt in die hier beschriebene Gruppe: Der Schutz vor einem solchen Mißbrauch erschöpft sich nämlich darin, daß der Gesetzgeber ihn als solchen (zumindest konkludent) erkennt und untersagt. Dem Risiko, daß der Angeklagte versucht, in seiner Erklärung entgegen § 257 I I I StPO bereits eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, wird jedoch nicht durch eine verobjekti-
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Vgl. JuS 1972,315,317. Eine solche Unwirksamkeit wird in einer für die Mißbrauchsproblematik wichtigen Entscheidung des KG, JR 1971, 338 angenommen, vgl. dazu auch unten 3. Teil Β IV, S. 305 ff. 60 Vgl. Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten, 1993,47. 61 Vgl. SK/StPO-Schlüchter, § 257 Rn. 11 i.V.m. Rn. 6, 10. 59
II. Gesetzliche Regeln zur Mißbrauchsabwehr de lege lata
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vierte Beschränkung entgegengewirkt, was freilich auch nur schwer möglich erscheint. 62 ee)Der erst Ende 1994 neu eingefügte (und von Beginn an heftig umstrittene63) § 257a StPO eröffnet dem Gericht die Möglichkeit, für „Anträge und Anregungen zu Verfahrensfragen" (d.h. z.B. Beweisanträge und Beweisermittlungsanträge, Anträge auf Aussetzung, Unterbrechung oder Einstellung sowie Äußerungen zur Verwertbarkeit von Beweismitteln64) die Schriftform zu verlangen. Dabei soll nach wohl herrschender und zustimmungswürdiger Meinung § 257a StPO insoweit eine teleologische Reduktion erfahren, als eine entsprechende Anordnung nur bei der Gefahr eines Mißbrauchs durch den davon betroffenen Verfahrensbeteiligten ergehen darf (welche sich freilich bereits im ersten Antrag zeigen kann und keine länger fortgesetzten unzulässigen Anträge voraussetzt). Auch bei § 257a StPO handelt es sich deshalb um keinen ganz typischen „objektiven Vorfeldtatbestand", da er zum einen eine (ermessensabhängige65) Anordnung, zum anderen eine wenigstens schon teilweise konkretisierte Mißbrauchs- oder zumindest Verzögerungsgefahr voraussetzt. 66 Die Einordnung als Vorschrift zur Mißbrauchsprävention erscheint allerdings insoweit berechtigt, als es nicht in erster Linie um eine Reaktion auf einen bereits stattgefundenen, sondern um die Vermeidung zukünftigen Mißbrauchs bzw. zukünftiger Verzögerungen (und damit eines zweckwidrigen Einsatzes der Antragsrechte) geht. Die prozeßökonomische Effektivität dieser Maßnahme darf freilich (von den Bedenken wegen des Eingriffs in das Prinzip der Mündlichkeit einmal abgesehen67) zumindest bezweifelt werden, kann doch weder ein zusätzliches Anschwellen der Akten noch ein erneuter Zeitverlust durch das schriftliche Verfahren ausgeschlossen werden.68 Daher bleibt gerade mit Blick auf § 257a StPO von Interesse, inwieweit - bereits de lege lata 62
Käme es also zu einem tatsächlichen Mißbrauchsfall, stellt sich die Frage, ob die Entziehung des Wortes bei dem konkreten Antrag möglich ist, und damit nach Geltung und Reichweite eines allgemeinen Mißbrauchsverbots. Ohne dieses Problem hier bereits zu vertiefen, läßt sich aber leicht vorstellen, daß eine entsprechende Reaktion sich angesichts des gesetzlich festgeschriebenen Verbots in § 257 III StPO leichter rechtfertigen ließe, als in anderen Fällen ohne gesetzlichen Anhaltspunkt. 63 Vgl. statt vieler Bandisch, StV 1994, 153, 158; Scheffler, NJW 1994, 2191, 2194 f; Schlächter, GA 1994, 397, 426 ff.; vgl. ferner Gössel, C 87, 89, nicht zur allgemeinen Vorschrift für Erklärungen, aber zu Vorschlägen für andere Verfahrenshandlungen, die schriftlich vorgenommen werden könnten. 64 Vgl. SK/StPO-Schlüchter, § 257a Rn. 3. 65 Zum pflichtgemäßen Ermessen bei § 257a vgl. SK/StPO-Schlüchter, § 257a Rn. 7. 66 Vgl. zu den unterschiedlichen Voraussetzungen an die Anordnung je nach ihrer Tragweite kleinknecht/Meyer-Goßner, § 257a Rn. 2; SK/StPO-Schlüchter, § 257a Rn. 7 f. 67 Krit. insoweit Bandisch, StV 1994, 153, 158. 68 Ebenso Scheffler GA 1995, 449, 457; SK/StPO-Schlüchter, § 257a Rn. 7; dies., GA 1994, 397,426 ff.; ähnlich auch Niemöller, StV 1996, 501, 506.
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oder wenigstens de lege ferenda - flexiblere Maßnahmen zur Mißbrauchsabwehr wie eine Beschränkung der Redezeit bei Anträgen o.ä. möglich sind.69
3. Übergreifende
Gesichtspunkte und spezifische Auslegungsfragen
a) Betrachtet man die gesetzlichen Regelungen zur Mißbrauchsabwehr im Überblick, so ergibt sich ein recht buntes Bild von (wenigen) Mißbrauchsklauseln, speziellen Mißbrauchstatbeständen und Vorschriften zur Mißbrauchsprävention, die ungleichmäßig über die verschiedenen Bereiche bzw. Befugnisse der StPO verteilt sind. Dieses Bild legt die für die Frage nach einem ungeschriebenen Mißbrauchsverbot bedeutsame Vermutung nahe, daß ein in sich geschlossenes System der Mißbrauchskontrolle in der StPO als lex scripta im Ganzen fehlt. 70 Dies wiederum läßt es zumindest fraglich erscheinen, ob die Regelungen gegen den Mißbrauch bewußt abschließend ausgestattet sind oder ob jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt gegen einen Rückgriff auch auf ein ungeschriebenes allgemeines Mißbrauchsverbot keine Bedenken bestehen würden.71 b) Die Ausgangshypothese vom zweckwidrigen Einsatz einer Befugnis als Voraussetzung des Mißbrauchs bestätigt sich in den genannten Vorschriften ebenso wie das oben bereits angesprochene Erfordernis einer näheren Konkretisierung der Befugniszwecke. Diese können z.B. für das Frage- und das Beweisantragsrecht in der (Teilhabe an der) Sachaufklärung gesehen werden, bedürfen indes in einer konkreten Entscheidung durchaus noch einer differenzierten Betrachtung und Begründung. Ferner deutet bereits der kurze Überblick über die gesetzlichen Vorschriften zwei weitere wichtige Gesichtspunkte an, die sich aus dem Abstellen auf die Zweckwidrigkeit ergeben: Zum einen liegt nahe, daß die unterschiedlichen Prozeßbeteiligten durchaus konträre Ansichten darüber haben können, wann eine Befugnis zweckgemäß eingesetzt wird (d.h. also z.B. welche Fragen der Sachaufklärung dienen), was sich letztlich schon aus der Einräumung der entsprechenden Befugnisse ergibt. Allerdings macht das Gesetz auch klar, daß es - obwohl es diese „different points of view" augenscheinlich (an-)erkennt - offenbar davon ausgeht, daß das
69
Vgl. dazu SK/SiPO-Schliichter, § 257a Rn. 7. In einer sehr kurzen exemplarischen Analyse anhand der Vorschriften der §§241 1, 138a StPO, die beide den Mißbrauchsbegriff enthalten, kommt Kröpil, JR 1997, 315 ff. zu dem Ergebnis, daß § 138 StPO für allgemeine Mißbrauchsüberlegungen gänzlich unergiebig ist; auf der Grundlage der Auslegung des § 241 I StPO hält Kröpil zwar eine allgemeine Mißbrauchsdefinition für möglich, indes sagt dies noch nichts darüber aus, welche Rolle einem allgemeinen Mißbrauchsgedanken zukommen würde. 71 Vgl. näher zu dieser Frage den anschließenden Abschnitt III, S. 42 ff. 70
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Gericht in der Lage ist, die Fälle zu erkennen, in denen die Rechtsausübung nicht mehr Ausdruck einer gegenteiligen Auffassung von der Tatsachengrundlage oder der rechtlichen Bewertung ist, sondern die Verfolgung verfahrensfremder Zwecke in einem Maße darstellt, das als Mißbrauch zu beurteilen ist. Zum anderen zeigt teils bereits die Struktur der Vorschriften selbst, teils die dazu angeführte Rechtsprechung, daß die Frage nach der Zweckwidrigkeit nicht (alleine) objektiv, sondern zumindest teilweise auch subjektiv zu bestimmen ist: So statuiert § 231a StPO sogar das ausdrückliche Erfordernis des vorsätzlichen72 und schuldhaften Verhaltens, das hier von besonderer Bedeutung ist, da dadurch erst das - unter Zweckgesichtspunkten per se indifferente Merkmal der Verhandlungsunfähigkeit eine zweckwidrige Dimension bekommt. Insbesondere in den zitierten Entscheidungen zur Richterablehnung wird aber auch deutlich, daß ein subjektives Mißbrauchselement selbst in Fällen von Bedeutung zu sein scheint,73 in denen die objektive Zweckwidrigkeit zunächst einmal auch ohne Rückgriff auf die Motive des Rechtsausübenden geprüft werden kann: Interessant ist dabei, daß in allen drei Entscheidungen die Kenntnis der Zweckwidrigkeit, die offenbar als Voraussetzung des § 26a I Nr. 3 StPO verstanden wird, zum einen aus der Evidenz der Erfolglosigkeit, zum anderen aus der demonstrativen Darbringung der Gesuche (z.T. auch außerhalb der Gerichtsöffentlichkeit) gefolgert wird. In der dritten Entscheidung könnte man überdies auf die (durch den Unzulässigkeitsgrund des § 26a I Nr. 2 StPO freilich schon speziell berücksichtigten) vergeblichen Hinweise abstellen, die dem Antragsteller vorher gegeben worden waren, damit dieser den inhaltlichen Anforderungen eines Ablehnungsgesuches (insbesondere der Glaubhaftmachung) nachkommen kann. Es erscheint durchaus erwägenswert, ob das Gericht das subjektive Element nicht durch entsprechende Hinweise „herbeiführen" kann, wenn der Antragsteller sich durch diese nicht ohnehin dazu bewegen läßt, sein Ziel nicht mehr aufrecht zu erhalten: Dies kann natürlich nicht so verstanden werden, daß - überspitzt formuliert - jedes von den geäußerten Wünschen des Gerichts abweichendes Verhalten als (subjektiv) mißbräuchlich bewertet werden dürfte. Ist aber die Zweckwidrigkeit der Rechtsausübung objektiv erkenn- und nachvollziehbar, kann ein ausreichend erläuternder Hinweis dazu führen, daß auch die subjektive Kenntnis dieser Zweckwidrigkeit unterstellt werden darf. Eine Besonderheit besteht insofern allerdings beim Fragerecht, da gerade die Ungeeignetheit und der fehlende Sachbezug (zwar nicht immer, aber doch) denkbarer Weise auch rein objektiv festgestellt werden können. Indes läßt sich dieser Unterschied in einer Besonderheit der Frage gegenüber z.B. dem Beweisantragsrecht erklären: Die innere Motivation des Fragenden - die nicht denknotwendig, aber regelmäßig Grund für die objektive Unzulässigkeit ist - kommt in der Frage selbst bereits viel unmittelbarer zum Ausdruck, während sie beim Beweisantrag erst in der späteren Nutzung des beantragten Beweismittels (also z.B. der Befragung eines Zeugen) „durchschlägt" und deshalb vor
72 73
240.
Vgl. dazu SK/StPO-Schlüchter, § 231a Rn. 7 m.w.N. Näher zur Frage nach einem subjektiven Mißbrauchselement vgl. u. 2. Teil C V 3
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dieser Nutzung „nur" als subjektives Element in Erscheinung tritt. Insoweit erschiene es auch konsequent, bei der Entziehung des Rechts zum Kreuzverhör nach § 241 I StPO ein subjektives Element zu fordern: 74 Bei jeder in gewisser Weise auf die Zukunft gerichteten Mißbrauchsreaktion kann die Zweckwidrigkeit späterer Rechtsausübungen vor allem anhand des subjektiven Elements prognostiziert werden. Ebenfalls vor allem anhand der genannten Entscheidungen zur Richterablehnung läßt sich schließlich noch ein letzter Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der „Zweckwidrigkeit" exemplifizieren: War bislang nur die Rede davon, wozu die Befugnis in Mißbrauchskonstellationen nicht eingesetzt wird (nämlich dem normgemäßen Zweck, z.B. der Sachaufklärung), so zeigen die zitierten Entscheidungen, welche Zwecke (außer der im Zusammenhang mit § 244 I I I 2 Mod. 6 StPO schon erwähnten Verschleppungsabsicht) für einen Mißbrauch vorstellbar sind: Insbesondere werden Demonstrationszwecke und die Verletzung der Rechte Dritter durch Beleidigungen genannt.75 Obwohl das Erreichen verfahrensgemäßer Ziele auch durch inkriminierende Prozeßhandlungen nicht von vornherein ausgeschlossen ist, besteht daher ein besonderer Anlaß zu prüfen, ob (auch) verfahrensgemäße Zwecke mit einem Antrag, einer Frage usw. verfolgt werden, wenn sich ein ehrverletzender oder demonstrativer Charakter der Prozeßhandlung zeigt. c) Auch zu den in der Ergänzung der Ausgangshypothese bereits angesprochenen Frage nach den Rechtsfolgen eines Mißbrauchs finden sich in den gesetzlichen Vorschriften zur Mißbrauchsabwehr erste Antworten: Die Rechtsfolgenfrage stellt sich regelmäßig nicht bei den „Vorschriften zur Mißbrauchsprävention", da diese bestimmte Arten von Mißbräuchen von vornherein unterbinden. Bei den - jeweils erst auf ein mißbräuchliches Verhalten reagierenden Mißbrauchsklauseln und speziellen Mißbrauchstatbeständen finden sich grob unterschieden zwei mögliche Rechtsfolgen: In der Mehrzahl der Fälle führt der (spezifische) Mißbrauch dazu, daß die konkrete Handlung zurückgewiesen werden kann bzw. nicht zum angestrebten Erfolg führt (so z.B. die Verwerfung des Ablehnungsantrags nach § 26a I Nr. 3 StPO, die Zurückweisung von Fragen nach §241 I I StPO, die Ablehnung des Beweisantrags nach §2441112 Mod. 6 StPO oder die Ablehnung des Unterbrechungsantrags nach § 266 I I I StPO).76 Im speziellen Fall des §2411 StPO besteht dagegen die Möglichkeit des Vorsitzenden, die Befugnis zum Kreuzverhör insgesamt zu entziehen: hier wird also nicht nur eine einzelne Ausübung eines Rechts zu-
74 A.A. insoweit wohl Weber, GA 1975, 289 296, der § 241 I StPO als Beispiel eines rein objektiv zu bestimmenden Mißbrauchs anführt. 75 Vgl. dazu auch die Entscheidung KG JR 1971, 338 m. Anm. Peters, JR 1971, 340 sowie Rüping/Dornseifer, JZ 1977,417,418 f. 76 Näher zur Frage, wie diese Möglichkeit der „ Z u r ü c k w e i s u n g " allgemein in die (straf-) prozessualen Wertkategorien eingeordnet werden kann, unten 2. Teil CIV 1, S. 230.
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rückgewiesen, sondern als Reaktion auf den Mißbrauch die Ausübung des Rechts auch für weitere Fälle untersagt. Die Tatsache, daß eine solche Rechtsentziehung nur in einem einzigen Fall in der StPO vorgesehen ist, wirft die Frage auf, ob die „gewöhnliche" Reaktion auf einen Mißbrauch nur das konkrete, als mißbräuchlich erkannte Verhalten betreffen, nicht dagegen gleichsam präventiv wirken darf; dafür könnte auch sprechen, daß es sich beim Kreuzverhör nach § 239 StPO um eine ohnehin nur selten eingeräumte, in der StPO fast schon fremdkörperartige Befugnis handelt, deren Besonderheit auch eine Ausnahme bei der Mißbrauchsreaktion gestattet, die sonst nicht möglich ist. Bei genauerer Lektüre des § 241 StPO wird aber auch ein anderer Aspekt deutlich: Die Befugnis zum Kreuzverhör kann nach § 241 I StPO nur entzogen werden, wenn sie mißbraucht wird. Nun zeigt der Vergleich mit § 241 II StPO, nach dem auch im Kreuzverhör einzelne Fragen zurückgewiesen werden können, daß ein „Mißbrauch der Befugnis" i.S.d. § 241 I StPO noch nicht in einzelnen unzulässigen Fragen liegen kann, da sonst zwischen den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 241 I und II StPO kein Unterschied bestehen würde; vielmehr ist ein Mißbrauch der Befugnis im Ganzen, also gewissermaßen des gesamten Befragungsverhaltens erforderlich. 7 Unter diesem Gesichtspunkt scheint auch die Erklärung denkbar, daß im Fall des § 241 I StPO ein anderer Anknüpfungspunkt der Mißbrauchsreaktion bestimmt ist, da auch der Gegenstand des zweckwidrigen Verhaltens bereits ein anderer ist.78 d) Wenn wir den Blick von den Erkenntnissen für unsere Ausgangshypothese noch einmal genauer auf das gesetzliche Regelungssystem gegen den Mißbrauch wenden, werden in der Systematisierung und der kurzen Einzeldarstellung auch die Vor- und Nachteile verschiedener Regelungsmechanismen erkennbar, die für Überlegungen de lege ferenda 79 vielleicht noch bedeutender sind als für die Beurteilung der lex lata. Hier zeigt sich deutlich ein Spannungsverhältnis zwischen zwei gegenläufigen Parametern: Je eher und objektiver eine Regelung ansetzt, desto bestimmter und unabhängiger von richterlicher Willkür (sowie möglicherweise auch effektiver) ist sie, desto mehr greift sie aber auch in die grundlegenden prozessualen Freiheiten (insbesondere auch der an sich loyal und funktional handelnden Prozeßsubjekte) ein. Je später umgekehrt eine Regelung ansetzt, desto weiter ist zwar grundsätzlich der Handlungsspielraum aller (insbesondere auch der an sich loyal und funktional handelnden) Prozeßsubjekte, desto unbestimmter und wertungsabhängiger wird die Regelung aber regelmäßig auch sein. Ein Paradebeispiel für den ersten Regelungstyp wäre die Beschränkung auf drei Verteidiger durch § 137 I 2 StPO, eines für den zweiten Typ eine (auch geschriebene) allgemeine Mißbrauchsklau-
77 Vgl. zu den Voraussetzungen einer Entziehung der Befugnis zum Kreuzverhör nach § 241 I StPO auch bereits oben S. 29. 78 Vgl. zur Möglichkeit einer Rechtsentziehung als Mißbrauchsreaktion und zum Korrespondieren von Gegenstand des Mißbrauchs und Mißbrauchsreaktion näher unten 2. Teil CIV 2, S. 234. 79 Vgl. zu Erwägungen zur Mißbrauchskontrolle de lege ferenda unten 4. Teil, S. 340 ff.
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sei. Bei den Erwägungen über gesetzliche Änderungen ist ein angemessener Ausgleich zwischen diesen - sich z.T. wechselseitig bedingenden - Vor- und Nachteilen anzustreben, wobei jedoch ein letzter Rest an Irrationalität hinsichtlich der Frage, welchen Kriterien man mehr Gewicht beimessen will, sicher unvermeidbar bleiben wird.
I I I . Möglicher Anwendungsbereich eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots Die im vorangegangenen Abschnitt dargestellten Vorschriften führen in ihrer Gesamtheit dazu, daß der Mißbrauch von Verfahrensrechten im Strafprozeß erheblich eingeschränkt ist bzw. werden kann: Die Vorschriften zur Mißbrauchsprävention lassen einige mißbrauchsanfällige Konstellationen erst gar nicht entstehen, die Mißbrauchsklauseln und -tatbestände geben dem Gericht für wichtige mißbrauchsanfällige Verfahrensrechte Möglichkeiten an die Hand, deren zweckwidrigen Einsatz erheblich einzudämmen. Gerade mit Blick auf die in der Einleitung kurz skizzierte aktuelle Diskussion stellt sich daher die Frage, ob über das gesetzliche Instrumentarium hinaus überhaupt noch Bedarf für ein allgemeines (und in dieser Form dann de lege lata ungeschriebenes) Mißbrauchsverbot besteht. Zu ihrer Beantwortung kann zum einen auf systematische Überlegungen anhand der oben dargestellten wichtigsten Vorschriften zur Mißbrauchsabwehr, zum anderen auf einschlägige Beispielsfälle aus der Rechtsprechung zurückgegriffen werden.
1. Lücken im System der Mißbrauchsabwehr de lege lata a) Die StPO stellt zwar ein beachtliches Repertoire an Vorschriften zur Mißbrauchsabwehr zur Verfügung; indes können bereits bei einer Zusammenschau dieser Vorschriften auch gewisse Lücken festgestellt werden. Die Lücken werden deutlich, wenn man sich - auf der Grundlage der oben dargestellten verschiedenen gesetzlichen Modelle zur Mißbrauchsabwehr- vergegenwärtigt, daß ein lückenloses System der Mißbrauchsbekämpfung voraussetzen würde, daß es - für jede potentiell mißbrauchsanfällige Befugnis -
für jede Art der zweckwidrigen Ausübung
- die Möglichkeit der Zurückweisung einer konkreten Ausübung und der Entziehung der Befugnis bei fortgesetztem Mißbrauch gäbe. Unvollständigkeiten des Systems liegen demgemäß vor, wenn für bestimmte Befugnisse gar keine Mißbrauchsreaktion vorgesehen ist, die gesetz-
III. Möglicher Anwendungsbereich eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
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lieh normierten Fallgruppen zu eng oder nicht beide denkbaren Reaktionsmöglichkeiten (Zurückweisung und Entziehung) geregelt sind: aa) Während im Beweisantrags-, Frage- (einschließlich Kreuzverhörs-) und Ablehnungsrecht sowie hinsichtlich einzelner weiterer Anträge (z.B. zur Aussetzung nach § 266 I I I StPO) Vorschriften zur Mißbrauchsabwehr zur Verfügung stehen, fanden sich z.B. für die Schlußanträge nach § 258 StPO (und insbesondere die Äußerung des letzten Wortes) sowie für das allgemeine Erklärungsrecht nach § 257 StPO lange Zeit keinerlei ausdrückliche Vorschriften zur Mißbrauchsabwehr; da auch die Leistungsfähigkeit des 1994 neu eingeführten § 257a StPO speziell zur Mißbrauchsbekämpfung erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist, 80 kann hinsichtlich der Erklärungsrechte und Schlußanträge von einer entsprechenden Lücke im System der Vorschriften zur Mißbrauchsabwehr gesprochen werden. 81 bb) Lücken hinsichtlich einzelner Arten der zweckwidrigen Ausübung einer Befugnis können sich immer dann ergeben, wenn der Gesetzestext (z.B. eines speziellen Mißbrauchstatbestandes) nur bestimmte - mehr oder weniger enge (oder zumindest eng ausgelegte) - Modalitäten des Mißbrauchs nennt: Von den drei hier genannten wichtigsten speziellen Mißbrauchstatbeständen enthält § 26a I Nr. 3 StPO in der Alternative des „verfahrensfremden Zwecks" hinsichtlich der Zweckwidrigkeit eine der Mißbrauchsumschreibung unserer Ausgangshypothese weitgehend äquivalente Formulierung, so daß nennenswerte Lücken insoweit nicht zu erwarten sind. Auch die unzulässigen, d.h. nämlich „ungeeigneten oder nicht zur Sache gehörenden Fragen" i.S.d. § 241 I I StPO decken einen weiten Bereich ab. Lücken beklagt werden dagegen im Beweisantragsrecht, wo insbesondere an den mißbrauchsspezifischsten Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht von der Rechtsprechung des BGH extrem strenge Anforderungen gestellt werden. 82 Allerdings ist im Beweisantragsrecht zu berücksichtigen, daß eine vergleichsweise ausführliche Liste von Ablehnungsgründen besteht und z.B. der Gesichtspunkt der mangelnden Sachaufklärung auch in anderen Ablehnungsgründen seinen Ausdruck findet. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang ferner der in vereinzelten Entscheidungen eingeschlagene Weg, mißbrauchsrelevante Konstellationen bei Beweisanträgen 80
Vgl. dazu näher oben 1. Teil II 2 c ee, S. 37. Vgl. dazu auch SK/StPO-Schlüchter, § 257a Rn. 1, die in den Anträgen und Anregungen zu Verfahrensfragen ein „ E i n f a l l s t o r " für Verzögerungstaktiken sieht; in dieses Bild paßt auch der Änderungsvorschlag Gössels, C 89 zu entsprechenden Befugnissen zur Wortentziehungen durch Ergänzungen der §§ 238, 241 und 257, vgl. dazu näher unten S. 349 f. 82 Vgl. zu den Anforderungen an das Vorliegen einer Verschleppungsabsicht KKHerde gen, § 244 Rn. 87 ff.; SK/StPO-Schlüchter, § 244 Rn. 118 ff.; vgl. allerdings auch zu den jüngeren gegenläufigen Tendenzen, dem Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht einen gewissen Anwendungsbereich zu schaffen, Basdorf, StV 1995, 310, 317; KK-Herdegen, § 244 Rn. 86. 81
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nicht über die gesetzlichen Ablehnungsmöglichkeiten (oder gar ihre Ausweitung) zu lösen, sondern diesen engen Bindungen dadurch zu entgehen, daß das Begehren - obwohl an sich die Voraussetzungen eines Beweisantrages vorliegen83 - als bloßen Beweisermittlungsantrag ausgelegt wird. 84 Damit entfällt nicht nur die Bescheidungspflicht nach § 244 VI StPO, sondern vor allem auch der enge Rahmen möglicher Ablehnungsgründe nach § 244 III-V StPO. So hat der BGH eine Entscheidung des OLG Frankfurt gebilligt, in der dieses den Antrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt hatte, da der Angeklagte die behauptete Beweistatsache nicht „im Sinne eines »Fürmöglichhaltens« vermutet", sondern eine „aus der Luft gegriffene (...) reine Vermutung ohne einen vernünftigen Anhaltspunkt" nur in eine scheinbare Beweisbehauptung gekleidet habe.85 In einer früheren Entscheidung hatte der BGH in einem zwar anders gelagerten, aber für die hier interessierende Frage vergleichbaren Fall zwar einen Beweisantrag angenommen, diesen aber wegen völliger Sachfremde als unzulässig abgelehnt und dabei einen „Ablehnungsgrund der Absurdität" angewandt.86 cc) Deutliche Lücken zeigen sich schließlich, soweit es um die Bandbreite der möglichen Mißbrauchsreaktionen geht: Wenn man nämlich - sei es in Anlehnung an die bestehende Vorschrift des § 241 I StPO, sei es aus allgemeinen Erwägungen heraus - davon ausgeht, daß neben der Zurückweisung einer konkreten Befugnisausübung stets auch die Entziehung (oder zumindest Beschränkungen) der Befugnis im Ganzen möglich sein müßte, so wäre diese Mißbrauchsreaktion im Gesetz nur für das Kreuzverhör, nicht dagegen für die übrigen Befugnisse wie Beweisantragsrecht, Fragerecht oder Richterablehnungsrecht möglich. b) Die Lücken, die bereits ein erster Blick in die Gesetzessystematik offenbart, sind zwar Voraussetzung dafür, daß überhaupt ein möglicher Anwendungsbereich für ein ungeschriebenes Mißbrauchsprinzip bestehen kann. Indes geht aus ihnen noch nicht zwingend hervor, daß diese Lücken durch ein Mißbrauchsverbot geschlossen werden müssen. Für eine präzise Antwort auf diese Frage müssen vielmehr zum einen die allgemeinen Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots im Strafprozeßrecht erarbeitet 87 und zum ande-
83 Vgl. zu diesen Voraussetzungen (bestimmte Beweisbehauptung und bestimmtes Beweismittel) statt vieler Alsberg/Nüse/Meyer, 34 f.; SK/SlPO-Schlüchter, § 244 Rn. 54 ff. 84 Vgl. des weiteren zu den Versuchen, mißbräuchliche „Scheinbeweisanträge" wegen formaler Mängel abzulehnen, zusammenfassend (und im Ergebnis ablehnend) Thole t 47 ff sowie zur „Herabstufungspraxis, die dem Begriff des Beweisantrags neue Aspekte abgewinnt, um den Bereich seiner Effizienz zu beschneiden", Herdegen, Meyer-GS, 188, 199. Vgl. aber auch KK-Herdegen, § 244 Rn. 86, der mittlerweile das „Trachten nach Surrogaten als eine überwundene Episode" erblickt, was mit der Aufwertung des Ablehnungsgrundes der Verschleppungsabsicht (vgl. dazu oben Fn. 82) eng zusammenhängt. Zur Abgrenzung des Beweisantrags von anderen Prozeßhandlungen (auch im untechnischen Sinn) vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, 65 ff. 85 Vgl. BGH NStZ 1992, 397 f. 86 Vgl. BGHSt 17, 28 87 Vgl. dazu vor allem den 2. Teil der Arbeit, S. 59 ff.
III. Möglicher Anwendungsbereich eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
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ren für jede einzelne Befugnis eine Entscheidung auf Grund ihrer jeweiligen Besonderheiten getroffen werden: Selbst wenn man nämlich angesichts der etwas zufällig anmutenden Anordnung der Mißbrauchsvorschriften keinen völlig abschließenden Charakter der gesetzlichen Regelungen annehmen würde, stünde dieser Befund dem Verständnis nicht entgegen, daß in einzelnen Bereichen (z.B. soweit es um die Unzulässigkeit von Beweisanträgen oder die Entziehung des Fragerechts geht) durchaus ein abschließend geplantes Regelungssystem besteht. Fest steht bisher also nur zweierlei: Soweit der Anwendungsbereich spezieller gesetzlicher Vorschriften eindeutig eröffnet ist, muß keinesfalls auf ein (allenfalls subsidiäres) allgemeines Mißbrauchsverbot zurückgegriffen werden. Umgekehrt sind aus solchen Vorschriften im Einzelfall auch Grenzen für die Anwendung eines allgemeinen Mißbrauchsprinzips - seine Geltung im Strafprozeßrecht unterstellt - denkbar. Ob allerdings ein solches allgemeines Prinzip (für das vom Gesetz durchaus ein Anwendungsbereich offen gelassen würde) im Strafprozeßrecht Geltung beanspruchen darf, läßt sich aus dem kurzen Überblick über die gesetzlichen Vorschriften noch nicht verbindlich entscheiden.
2. Zum Meinungsstand in der Literatur Trotz der (gerade in der jüngsten Vergangenheit) wiederholten Beschäftigung mit dem Themenbereich des Mißbrauchs im Strafverfahren und des vorstellbaren Anwendungsbereich eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots läßt sich der Meinungsstand in der Literatur nur schwer in knappen Zügen umschreiben. Dies liegt zum einen daran, daß vor allem in der auf bestimmte Entscheidungen bezogenen Literatur (etwa Urteilsanmerkungen) regelmäßig nur spezifische Aussagen zum jeweils zu entscheidenden Einzelfall gemacht werden und eine systematische Aufbereitung der Mißbrauchsproblematik fehlt; zum anderen werden in der Literatur häufig zwar Bedenken gegen ein allgemeines Mißbrauchsverbot geäußert, für bestimmte Situationen wird seine Anwendung aber dann doch wieder gebilligt. 88 Eine Ablehnung der Geltung des allgemeinen Mißbrauchsverbots im Strafprozeß, selbst wenn die Befugnisse „in 88 Deutlich etwa bei Kühne, StV 1996, 684, 685 (nach dem das Mißbrauchsverbot zwar nicht als „normales Instrument der Rechtsfindung", wohl aber als „ultima ratio" benutzt werden darf), Malmendier , NJW 1997, 227 ff. (der in der Rechtsordnung hinreichende Möglichkeiten zur Mißbrauchsbekämpfung vorhanden sieht, die generalklauselartige Mißbrauchstatbestände überflüssig machen, dabei aber mehrere Entscheidungen billigend erwähnt, die sich nur mit einem ungeschriebenen Mißbrauchsverbot erklären lassen) und Niemöller, StV 1996, 501, 505 (der eine Rechtsentziehung als Mißbrauchsreaktion nicht für möglich hält, aber für „Extremfälle" eine andere Behandlung postuliert).
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einer Weise mißbraucht werden, die bis zur Lähmung, bis zur Verhöhnung und bei Nutzung des »Tribunals zur Szene« für Proklamationen politischer Bekenntnisse und Ziele geradezu zur Pervertierung der Strafrechtspflegeveranstaltung des konkreten Strafprozesses reicht" 89 , ist dagegen ebenso selten wie ein eindeutiges Bekenntnis zu einem (wenngleich an strenge Voraussetzungen gebundenen) allgemeinen Mißbrauchsprinzip auch im Strafprozeßrecht: 90 Möglicherweise wegen der engeren Orientierung an der Rechtsprechung kann aber allgemein die Tendenz festgestellt werden, daß in der Kommentarliteratur 91 ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot überwiegend anerkannt wird, während im übrigen Schrifttum gerade die (wenigen) etwas ausführlicheren Stellungnahmen ein ungeschriebenes Mißbrauchsprinzip im Ergebnis eher ablehnen: So hält in jüngster Zeit z.B. Kröpil ein allgemeines Mißbrauchsverbot zwar aus verschiedenen verfassungsrechtlichen Prinzipien (wie etwa der Justizförmigkeit des Verfahrens und dem Funktionstüchtigkeitsgrundsatz) für ableit-, allerdings für nicht praktisch handhabbar; 92 Weber findet in seiner (bisher ausführlichsten) Darstellung zum „Mißbrauch prozessualer Rechte im Strafverfahren" mit dem - vom Grundsatz von Treu und Glauben unabhängig und auf der Zweckwidrigkeit beruhenden - „institutionellen Mißbrauch" zwar eine mögliche Grundlage für das Mißbrauchsurteil im Strafprozeß; er beschränkt dies aber dann im wesentlichen auf eine Erklärung für das Phänomen des Mißbrauchs und für die gesetzlichen Regelungen (einschließlich möglicher Forderungen de lege ferenda) und hält die Ableitung von Folgerungen aus einem ungeschriebenen Mißbrauchsverbot offenbar nicht für wünschenswert. 93 Da allerdings viele - grundsätzlich befürwortende wie auch ablehnende Stellungnahmen nicht ausführlicher begründet werden, 94 wird an dieser Stelle auf eine ausführlichere Darstellung des Meinungsstandes verzichtet. Vielmehr wird auf die entsprechenden, vielfach ohnehin sehr punktuell gehaltenen, Stellungnahmen jeweils in den thematisch unmittelbar einschlägigen Zusammenhängen hingewiesen.
89
So KMR-Sax, Einl. X Rn. 82, ähnlich bereits Rn. 73 ff., der solche Handlungsweisen freilich nicht billigt, aber einen Reaktionsbedarf des Gesetzgebers sieht. 90 So etwa in der Rechtsprechung vertreten im „leading case" BGHSt 38, 111. 91 Vgl. etwa KK-Pfeijfer, Einl. Rn. 22a; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl. Rn. 111; LR-Gollwitzer, Vorb. § 266 Rn. 49. 92 Vgl. Kröpil, ZRP 1997, 9 ff, der im übrigen deshalb für die Schaffung einer allgemeinen Mißbrauchsklausel eintritt. Zum Beitrag Kröpils vgl. auch das Echo von Kudlich, ZRP 1997, 295 f. 93 Vgl. Weber, GA 1975, 289 ff. 94 Ähnlich die Einschätzung bei Kröpil, JuS 1997, 354, 358.
III. Möglicher Anwendungsbereich eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
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3. Beispiele für den Anwendungsbereich eines allgemeinen Mißbrauchsverbots in der Rechtsprechung Die aus der Systematik abgeleiteten Lücken und die Frage nach einem neben den gesetzlichen Vorschriften zu berücksichtigenden allgemeinen Mißbrauchsverbot wären ein nur theoretisches Problem, wenn es in der Praxis zu keinerlei Fällen eines solchen zweckwidrigen Einsatzes von Verfahrensbefugnissen kommen würde, wenn die Rechtsprechung eindeutig bereit wäre, einen solchen Einsatz nolens volens hinzunehmen, oder wenn sie die entstehenden Lücken vorrangig auf anderen methodischen Wegen (etwa durch erweiterte Auslegung oder entsprechende Analogien) lösen würde. Indes gibt es bereits mehrere ober- und höchstgerichtliche Entscheidungen, in denen ausdrücklich oder zumindest der Sache nach auf ein allgemeines Mißbrauchsverbot abgestellt wird. Einige typische Fälle sollen im folgenden kurz vorgestellt und darauf hin untersucht werden, inwiefern auch sie tatsächlich einen Anwendungsbereich eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots nahelegen (was freilich seine - unten näher untersuchte 95 - Zulässigkeit im Strafprozeßrecht noch nicht beweisen würde!). Dabei bilden die im folgenden genannten Entscheidungen auch jeweils Beispiele für die aus der systematischen Betrachtung deutlich gewordenen denkbaren Problemkreise: für das gänzliche Fehlen von Mißbrauchsregeln für einzelne Befugnisse, für die unvollständige Aufzählung der gesetzlichen Fallgruppen auf der Tatbestandsseite oder für fehlende Regelungen auf der Rechtsfolgenseite. Eine ausführlichere Analyse der Entscheidungen soll dabei allerdings noch nicht erfolgen, sondern bleibt einem späteren Teil der Arbeit vorbehalten. 96
a) Die Beschränkung des Beweisantragsrechts auf den Verteidiger Das eindrucksvollste und wohl meistdiskutierte Beispiel für die Anwendung eines allgemeinen Mißbrauchsverbots in der höchstrichterlichen Rechtsprechung findet sich in einer Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH vom 07.11.199197. Ihr lag die Rüge eines Angeklagten zugrunde, dem das Tatgericht das weitere Stellen von Beweisanträgen selbst untersagt und nur noch über seinen Verteidiger gestattet hatte. Der Angeklagte hatte - nachdem ohnehin schon über Wi Jahre verhandelt worden war und dabei mehr als Vi Jahr fast nur Beweisanträge des Angeklagten entgegengenommen und beschieden worden waren - angekündigt, 200 weitere Beweisanträge zu stellen; ferner hatte er erklärt, 95
Vgl. vor allem unten 2. Teil, S. 59 ff. Vgl. unten 3. Teil, S 258 ff. Dort wird zur Bewertung der Rechtsprechung dann auf die Ergebnisse des zentralen 2. Teils, S. 59 ff., zurückgegriffen werden können. 97 BGHSt 38, 111. 96
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er schließe sich „schon jetzt' 4 ca. 8.500 (ihm unbekannten) schriftlichen Beweisanträgen seines Mitangeklagten an. Vor diesem Beschluß hatte das Tatgericht 106 Beweisanträge geprüft und mit detaillierter Begründung abgelehnt; dabei war es zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Gesamtbetrachtung des Inhalts der Antragstellung und deren Abfolge erkennen ließe, daß es dem Angeklagten nicht auf eine weitere Sachaufklärung ankäme, sondern ausschließlich auf die Verhinderung des Verfahrensabschlusses, und daß auch in Zukunft mit einem solchen Mißbrauch zu rechnen sei.98 Der BGH sah die Verfahrensrüge als nicht begründet an und billigte damit das Vorgehen der Strafkammer. Mit Blick auf die oben dargestellten Lücken im System der strafprozessualen Mißbrauchsabwehr wird hier das Fehlen einer auch gewissermaßen präventiv wirkenden Möglichkeit der Rechtsentziehung oder zumindest -beschränkung aktuell. Eine Entziehung oder Beschränkung des Beweisantragsrechts ist im Gesetz nicht vorgesehen. Selbst wenn alle noch zu stellenden Anträge mit geringem Begründungsaufwand hätten zurückgewiesen werden können, so hätte dies eben auch - unter Beachtung des Beschlußerfordernisses nach § 244 V I StPO - erfolgen müssen. Auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts konnte eine solche Maßnahme daher nicht getroffen werden. Als zumindest auf den ersten Blick gesetzesnähere Lösung wäre allenfalls eine Analogie zu § 241 I StPO zu erwägen, jedoch sind deren Voraussetzung hier durchaus fraglich. 99 Eine Einschränkung des exzessiven Gebrauchs des Beweisantragsrechts - deren Erfordernis in dem vorliegenden Extremfall auch in der ansonsten kontrovers geführten Diskussion weitgehend anerkannt wird 100 - ist damit nur mittels eines allgemeinen Mißbrauchsverbots (oder aber äquivalenter, auf den gleichen Wertungen beruhender und ähnlich weit vom Gesetzeswortlaut abweichender Lösungen) möglich.
b) Ablehnung eines mißbräuchlichen Hilfsbeweisantrags Nicht um die Entziehung des Antragsrechts, sondern um die Unzulässigkeit eines konkreten Beweisantrags wegen Mißbrauchs geht es in einer Entscheidung des BGH vom 21.10.1994101, in der die Mißbrauchsproblematik allerdings durch die zusätzliche Kombination mit einem Hilfsbeweisantrag auf den ersten
98
Vgl. BGHSt 38, 111, 112. Vgl. dazu näher unten 2. Teil A II 1 b, S. 77 f. 100 Vgl. etwa Basdorf,StV 1995, 310, 316; Niemöller, StV 1996, 501, 506; Schejfler, JR 1993, 170, 171; nicht nur zur Begründung, sondern auch zum Ergebnis allerdings krit. Hamm, NJW 1993, 289, 296. ,01 BGHSt 40, 287 m. Anm. Herdegen, NStZ 1995, 202 f. sowie Kudlich, JuS 1997, 507 ff. 99
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Blick etwas zurücktritt: 102 In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Verfahren wegen Untreue und Bestechlichkeit hatte die Verteidigung des Angeklagten mehrere Beweisanträge zu Tatsachen gestellt, die darauf hindeuten konnten, daß der Angeklagte keine Dienstpflicht verletzt hatte und damit die Voraussetzungen einer Verurteilung wegen Bestechlichkeit nicht vorgelegen hatten. Diese Anträge wurden aber nur für den Fall bestimmter Rechtsfolgenaussprüche, u.a. der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung oder einer Verfallerklärung von Vermögenswerten, gestellt. Der BGH bestätigte das Urteil des Landgerichts, das den Antrag als unzulässig abgelehnt hatte, und führte weitergehend aus, daß „Hilfsbeweisanträge, die sich nach der zu beweisenden Behauptung gegen den Schuldspruch richten, nach der vom Antragsteller gewählten Bedingung aber nur für den Fall einer bestimmten Rechtsfolgenbehauptung als gestellt gelten sollen", generell unzulässig seien.103 Da es hier um die Zurückweisung eines einzelnen Beweisantrags geht, ist eine Lücke im gesetzlichen Regelungssystem weniger evident als bei der o.g. Entziehung des Beweisantragsrechts; vielmehr ist zunächst zu prüfen, ob der Beweisantrag nicht nach § 244 III-V StPO, die auch unstreitig für - im Gesetz nicht ausdrücklich geregelte, aber nach einhelliger Auffassung grundsätzlich mögliche - Hilfsbeweisanträge gelten,104 zurückgewiesen werden könnte. Ist dies nicht der Fall, könnte hier die Konstellation der unvollständigen Aufzählung auf der Tatbestandsseite einer an sich bestehenden gesetzlichen Regelung |.
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vorliegen. Der in der Entscheidung mitgeteilte Sachverhalt sagt nichts darüber aus, daß die Anträge bedeutungslose, ungeeignete oder unerreichbare Beweismittel genannt hätten, so daß mangels Einschlägigkeit anderer Modalitäten allenfalls eine Ablehnung wegen Verschleppungsabsicht nach § 244 I I I 2 Mod. 6 StPO in Betracht käme: allerdings muß - wie oben bereits erwähnt - nach h.M. auch bei diesem Ablehnungsgrund die (zu diesem Zweck ausnahmsweise zulässige) Vorwegwürdigung ergeben, daß die Beweiserhebung nichts zugunsten des Antragstellers ergeben wird und daß auch der Antragsteller sich dessen bewußt
102 Entsprechend wird in einer Besprechung von Herdegen auch stärker die Strukturierung und „gebotene Fortentwicklung" des Beweisantragsrechts in den Vordergrund gestellt als der Mißbrauchsbegriff, vgl. NStZ 1995, 202, 203. 103 Vgl. BGHSt 40, 287, 289. 104 Vgl. zum Hilfsbeweisantrag Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 22; SK/StPOSchlüchter, § 244 Rn. 65 ff. Ferner Schlothauer, StV 1988, 542 ff.; Michalke, StV 1990, 184 ff. 105 Schon an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß diese Fallgruppe in der Begründung eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots regelmäßig die größten Schwierigkeiten bereitet. Gerade bei einer Aufzählung einzelner Verhaltensformen im Gesetz stellt sich nämlich die Frage, ob diese nicht abschließend zu verstehen ist und deshalb ein allgemeines Mißbrauchsverbot ausschließt.
4 Kudlich
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ist. 106 Auch daß diese Voraussetzungen vorgelegen hätten, läßt sich dem mitgeteilten Sachverhalt nicht entnehmen, so daß auch eine Ablehnung wegen Verschleppungsabsicht fraglich erscheint. 107 Gleichwohl spricht einiges dafür, ein solches Beweisbegehren abzulehnen. Zunächst ist es in sich widersprüchlich: Wenn es nämlich auf bestimmte Rechtsfolgenentscheidungen beschränkt ist, so bringt der Antragsteller damit zum Ausdruck, daß er sich nicht gegen den Schuldspruch schlechthin richtet. Betrifft aber andererseits die Beweisbehauptung Tatsachen, die zu einer Änderung des Schuldspruches führen könnten, richtet sich der Beweisantrag doch wieder gegen den Schuldspruch. Man könnte nun zwar - wegen dieser logischen Instringenz der Bedingung - auf den ersten Blick daran denken, den Beweisantrag in einen unbedingten umzudeuten und ihm dann stattzugeben. Allerdings liegt der Verdacht nahe, daß hier nicht nur aus Ungeschick eine unlogische Verknüpfung für den Hilfsbeweisantrag gewählt wurde, sondern daß vielmehr der Beweisantrag nicht auf die Sachverhaltserforschung (als eigentlichen Zweck der Beweisaufnahme) gerichtet ist. Vielmehr scheint er nur die zweckwidrige Absicht zu verfolgen, „dem Gericht eine Absprache »anzubieten«, bei der die »Leistung« des Antragstellers im Verzicht auf einen Beweisantrag zur Schuldfrage, die vom Gericht dafür erwartete »Gegenleistung« im Verzicht auf die Anordnung der mit der Antragsbedingung bezeichneten Rechtsfolge" besteht.108 Wegen der grundsätzlichen Unzulässigkeit von Absprachen dieser Art ist aber das Ansinnen des Tatgerichts nicht zu beanstanden, den darauf gerichteten Beweisantrag als unzulässig abzulehnen (und nicht etwa als unbedingten zu behandeln). Dies wiederum ist jedoch nur möglich, wenn man die Berufung auf ein allgemeines Mißbrauchsverbot zuläßt. 109
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Vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 68. Selbst wenn in diesem konkreten Fall die Voraussetzungen des § 244 III 2 Mod. 6 StPO gegeben sein sollten, so ist im übrigen jedenfalls leicht vorstellbar, daß sie (insbesondere in ihrer strengen Handhabung durch die Rechtsprechung) in anderen Konstellationen eines Hilfsbeweisantrags zur Schuldfrage bei bestimmtem Rechtsfolgenausspruch nicht vorliegen. 108 Vgl. BGHSt 40, 287, 289 f. 109 Man könnte zwar auch auf ungeschriebene Regeln über die zulässige Verknüpfung beim Hilfsbeweisantrag abstellen oder aber eine „Verschleppungsabsicht im weiteren Sinne" für alle mißbräuchlichen Anträge annehmen (so wohl Kleinknecht/MeyerGoßner, § 244 Rn. 67), indes wären diese Lösungen der Berufung auf ein allgemeines Mißbrauchsverbot argumentativ nicht überlegen und müßten sich letztlich an den gleichen Wertungsgesichtspunkten orientieren. 107
III. Möglicher Anwendungsbereich eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots 51 c) Unzulässige Zeugenladung In den oben bereits angesprochenen Kontext der politischen Auseinandersetzungen im Strafverfahren als Quelle des Mißbrauchs gehört eine Entscheidung des KG vom 10.05.1971. In dem Verfahren gegen den Angeklagten wegen Land- und Hausfriedensbruchs nach einer Demonstration gegen den Verleger Springer war u.a. in einem Beweisantrag die Vernehmung Springers als Zeuge beantragt worden. Nachdem der Beweisantrag vom Gericht abgelehnt worden war, hatte die Verteidigung Springer nach § 220 StPO vorgeladen. Da Springer zu einzelnen Verhandlungen nicht erschien, verhängte das LG eine Ordnungsstrafe nach § 51 StPO. Das KG hatte im Zusammenhang mit der Beschwerde gegen diese Ordnungsstrafe über die Wirksamkeit der Zeugenladung nach § 220 StPO zu entscheiden. Oben 110 wurde als eine mögliche (gleichsam präventive) Beschränkung des Mißbrauchs beim Zeugenladungsrecht bereits die Vorschußpflicht nach § 220 I I StPO genannt. Indes hilft diese Regelung im vorliegenden Fall nicht weiter, da sie nur die Kostentragung betrifft, jedoch nichts darüber aussagt, ob die Ladung als wirksam zu bewerten ist und der Zeuge deshalb auch zu erscheinen hat. Da weitere spezielle gesetzliche Vorschriften zur Wirksamkeit einer Ladung nach § 220 StPO fehlen, ist hier der Problemkreis des völligen Fehlens einer (reaktiven) Mißbrauchsbekämpfungsnorm für eine prozessuale Befugnis eröffnet: Eng am Gesetzeswortlaut orientiert wäre somit gegen die Verhängung der Ordnungsstrafe nichts einzuwenden. Gleichwohl erscheint fraglich, dem Zeugen im vorliegenden Fall das Erscheinen tatsächlich zuzumuten war: Im konkreten Fall ergab sich aber nach Ansicht des KG schon aus dem Inhalt der Beweisanträge und der Ladung, daß die Beweisaufnahme nur dem Zweck dienen sollte, die demonstrative Kampagne gegen Springer vor der Gerichtsöffentlichkeit fortzusetzen. Der Schutz des Zeugen durch die Zurückweisung von einzelnen Fragen ist insoweit unzureichend, da es dann jeweils bereits zu einer Ehrverletzung gekommen ist. Wenn aber „unter dem Anschein der Beweiserhebung ein Zweck verfolgt wird, der von dem Zweck des Strafverfahrens abweicht" 111 erschiene es als angemessene Lösung, bereits die Wirksamkeit der Ladung zu verneinen und somit keine Ordnungsstrafe zu verhängen. Diese Lösung ist aber wiederum nur möglich, wenn man - wie auch das KG im zugrunde liegenden Fall - die Geltung eines allgemeinen Mißbrauchsverbots anerkennt und die Ladung als unzulässig erachtet. 112
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4»
Vgl. S. 36. Vgl. KG JR 1971, 338. Vgl. KG JR 1971, 338, 340.
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d) Entziehung des (direkten) Fragerechts Gleich eine ganze Reihe obergerichtlicher Entscheidungen - beginnend mit einem Judikat des Reichsgerichts vom 04.01.1889 bis zu einem Beschluß des 4. Strafsenats des BGH vom 18.01.1996- hatten sich mit der (interessanterweise im Ergebnis mehrfach unterschiedlich beantworteten) Frage zu beschäftigen, ob neben der Zurückweisung einzelner Fragen auch die Entziehung des (direkten) Fragerechts als Ganzem möglich ist. 113 In allen Fällen wurde in der Revision gerügt, daß das Tatgericht wegen des fortgesetzten Stellens unzulässiger, d.h. nicht zur Sache gehörender und/oder beleidigender Fragen, das Stellen weiterer unzulässiger Fragen (teils dem Verteidiger, teils dem Angeklagten selbst) untersagt hatte, indem entweder die Befragung eines Zeugen gänzlich beendet oder aber eine vorherige Vorlage der schriftlich formulierten Fragen an das Gericht verlangt wurde. Auch hier liegt (wie bereits oben bei a 114 ) eine Lücke in der Systematik der Mißbrauchsabwehrvorschriften dergestalt vor, daß das Gesetz für eine bestimmte Befugnis zwar die Zurückweisung einzelner Ausübungen vorsieht, nicht aber eine präventive Entziehung der Ausübungsbefugnis bei fortgesetztem Mißbrauch: Nach dem Gesetzeswortlaut der §§ 239-241 StPO ist hinsichtlich der Befugnisse des Gerichts bei Mißbrauch zwischen dem Fragerecht nach § 240 I I StPO und dem Kreuzverhör nach § 239 StPO unterscheiden: Während beim Kreuzverhör nach § 241 I, I I StPO sowohl einzelne Fragen zurückgewiesen als auch die Befugnis zum Kreuzverhör völlig entzogen werden kann, sieht das Gesetz für das Fragerecht nach § 240 I I StPO in § 241 I I StPO nur die Zurückweisung einzelner Fragen vor. Angesichts dieser klaren Regelung ist auch äußerst zweifelhaft, ob eine Analogie zu § 241 I StPO zu begründen wäre. Allerdings kann eine Einschränkung des Fragerechts durchaus angebracht sein: Gerade bei einem fortgesetzten Mißbrauch und angesichts des oben bereits erwähnten unzureichenden Zeugenschutzes durch die Zurückweisung bereits gestellter Fragen könnte man daran denken, das Fragerecht (zumindest für einen bestimmten Abschnitt der Hauptverhandlung) zu entziehen oder den Zeugen wenigstens dadurch zu schützen, daß die Fragen vor dem Stellen dem Richter schriftlich vorzulegen sind, damit dieser unzulässige Fragen schon von vornherein zurückweisen kann. Auch in diesem Fall kommt wegen des Fehlens von Befugnissen zur Rechtsentziehung außerhalb des Kreuzverhörs im Geset-
113
Vgl. vor allem RGSt 18, 365; RGSt 38, 57; BGH bei Daliinger, MDR 1973, 371; OLG Karlsruhe NJW 1978, 436; BGH 3 StR 269/80 (hinsichtlich der hier interessierenden Frage nur sehr knapp veröffentlicht in NStZ 1981, 447); BGH NStZ 1982, 158; BGH wistra 1985, 27; BGH StV 1996, 248. 114 Vgl. o. S. 47.
III. Möglicher Anwendungsbereich eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
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zestext nur eine Lösung über ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot in Betracht. 115
e) Exkurs: Der Verlust von Verfahrensrügen Ein weiterer Bereich, in dem der gesetzlich nicht explizit vorgesehene Rechtsverlust im Strafprozeßrecht eine Rolle spielt, der aber nicht unmittelbar den Mißbrauch im hier verstandenen Sinn betrifft, ist der Verlust von Verfahrensrügen 116 durch Schweigen des Angeklagten. Zu diesem gibt es - anders als zur hier im Mittelpunkt stehenden Frage - bereits eine Fülle von Rechtsprechung und Literatur (auch in monographischer Form). 1,7 Wegen der (unter bb dargestellten) strukturellen Unterschiede zwischen der Rügepräklusion und den hier interessierenden Mißbrauchsfällen sowie ihrer bereits weitläufigen Behandlung soll nur eine kurze, exkursartige Darstellung der Problematik erfolgen, soweit sie für den vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist. aa) Zur Verdeutlichung der Problematik und des Anwendungsbereiches des Rügeverlusts durch Schweigen kann das Beispiel der kommissarischen Vernehmung dienen:118
Der (verteidigte) Angeklagte, der vom Termin einer kommissarischen Vernehmun entgegen § 224 StPO nicht benachrichtigt wurde, widerspricht der Verlesung des Ve nehmungsprotokolls in der Hauptverhandlung nicht. Mit der Revision rügt er aber spä ter das pflichtwidrige Unterlassen der Terminsmitteilung. Nach ganz h.M. kann nun die Revision auf einen Verstoß gegen § 224 StPO nur gestützt werden, wenn der (verteidigte) Angeklagte der Verlesung des Vernehmungsprotokolls in der Hauptverhandlung ausdrücklich widersprochen
115 Gerade bei der Entziehung des Fragerechts wäre freilich - über die allgemeine Frage nach der Geltung eines solchen Prinzips im Strafprozeßrecht hinaus - besonders sorgfältig zu prüfen, ob dieses mit der scheinbar eindeutigen Systematik der §§ 239241 StPO zu vereinbaren ist. Vgl. dazu näher unten 3. Teil Β V 3 a, S. 316 ff. 1,6 Dabei ist „Verlust" von Verfahrensrügen ein halbwegs neutraler Oberbegriff, während - wie Kindhäuser, NStZ 1987, 529, 530 zu Recht feststellt - in Begriffen wie „Verzicht" oder „Verwirkung von Verfahrensrügen" bereits eine Stellungnahme zugunsten eines bestimmten Modells liegt, wie dieser Verlust erklärt werden kann. 117 Vgl. dazu (jeweils auch mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung und weiterer Literatur) vor allem Jescheck, JZ 1952, 400 ff.; Kindhäuser, NStZ 1987, 529 ff.; Lang, Der Verlust von Verfahrensrügen beim Angeklagten durch Rückgriff auf den Verwirkungsgedanken, 1994; Schlüchter, in Geppert/Dehnicke (Hg.), Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, 445 ff.; Schmid , Die Verwirkung von Verfahrensrügen im Strafprozeß, 1967. 1,8 Vgl. dazu aus der Rechtsprechung bereits RGSt 4, 310, 302; 58, aus der Rechtsprechung des BGH BGHSt 25, 387, 389.
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1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs im Strafprozeß
hat.119 Obwohl eine § 296 ZPO vergleichbare Vorschrift in der StPO fehlt, tritt damit in diesem Fall (und noch einigen weiteren Fällen 120 ) ohne gesetzliche Grundlage eine Präklusionswirkung ein. Da diese gleichbedeutend mit dem Verlust eines Rechtes (bzw. zumindest mit der Möglichkeit, sich auf dessen Verletzung zu berufen) ist und von einem Verhalten des Angeklagten abhängt, bestehen durchaus Berührungspunkte zum Rechtsverlust durch Mißbrauch. bb) Andererseits ist unübersehbar, däß ein wesentlicher Unterschied zu den anderen hier genannten Fällen darin liegt, daß kein mißbräuchlicher Gebrauch eines Rechts stattfindet, sondern daß gerade der Nichtgebrauch des Rechts bzw. präziser: die fehlende sofortige Rüge zu seinem Verlust führt. Man könnte bei oberflächlicher Betrachtung zwar annehmen, daß der eigentliche „Mißbrauch" hier nicht in der fehlenden sofortigen Rüge (in der Verhandlung der Tatsacheninstanz), sondern in der späteren Rüge (in der Rechtsmittelinstanz) und damit doch in einer Art Rechtsausübung liegt: Stellt man sich z.B. vor, daß der Angeklagte einen Verfahrensfehler in der Tatsacheninstanz nicht rügt, die mit dem Verfahrensverstoß zustande gekommene Entscheidung dann aber widerspruchslos hinnimmt, würde man auf den ersten Blick vielleicht gar nicht daran denken, daß ein Mißbrauchsproblem vorliegen könnte. Allerdings trifft diese Vorstellung nicht ganz den Kern des Problems: Vielmehr wird bei dem Angeklagten im soeben gebildeten Beispiel, der trotz eines Verfahrensfehlers die Entscheidung nicht rügt, das Mißbrauchsproblem nicht deswegen weniger deutlich, weil etwa kein Mißbrauch stattfinden würde, sondern weil der durch die Verwirkung eingetretene Rechtsverlust nicht auffällt, wenn der (frühere) Rechtsinhaber nicht mehr versucht, es geltend zu machen. Insoweit gilt hier nämlich die Besonderheit, daß der Rechtsverlust nicht innerprozessual ausdrücklich festgestellt und für die weitere Verhandlung angeordnet wird, sondern erst erkennbar wird, wenn im Rahmen eines Rechtsbehelfs die Verletzung des (aber bereits verwirkten und deshalb nicht mehr eingreifenden) Rechts gerügt wird. 121
119
Vgl. neben den Nachweisen in Fn. 118 nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, §224 Rn. 12 m.w.N. Kritisch zu der Möglichkeit eines Verlustes von Verfahrensrügen Scheffler, GA 1996, 44 f. (in einer Besprechung der Arbeit Langs, Der Verlust von Verfahrensrügen beim Angeklagten durch Rückgriff auf den Verwirkungsgedanken, 1994). 120 Vgl. zu weiteren Beispielen für den Anwendungsbereich des Rügeverlusts Kindhäuser, NStZ 1987, 529, 530 f mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen in FN 1218. Einen etwas abweichenden Fall betrifft, da keine Verfahrensfehler des Gerichts betroffen sind, das von der Rechtsprechung statuierte (in der Literatur jedoch z.T. heftig kritisierte) Erfordernis, Verstöße gegen § 136 StPO in der Hauptverhandlung bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt zu rügen. 121 Zwar wird auch in den o.g. Fällen des Rechtsverlustes durch explizite, innerprozessuale Anordnung dieser häufig in der Rechtsmittelinstanz gerügt. Allerdings entscheidet das Rechtsmittelgericht dann „nur" darüber, ob die Maßnahme des das Recht entziehenden Gerichts rechtmäßig war, und hat nicht originär festzustellen, ob ein Rechtsverlust stattgefunden hat, über den in der Vorinstanz (gerade) nicht gesprochen wurde.
III. Möglicher Anwendungsbereich eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
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Dieser Unterschied zwischen „Rechtsverlust durch Nichtausübung'4 und „Rechtsverlust durch mißbräuchliche Ausübung" ist keinesfalls ein rein begrifflicher und darüber hinaus auch nicht etwa ein mehr oder weniger zufälliger und damit vernachlässigenswerter. So sind z.B. von den Sonderfällen des provozierten Verfahrensfehlers abgesehen im ersten Fall die Strafverfolgungsbehörden für das prozeßrechtswidrige Verhalten verantwortlich, während im zweiten Fall das (zumindest prozeßzwecfcwidrige) Verhalten vom Angeklagten ausgeht. Andererseits hätte im ersten Fall der Angeklagte die Möglichkeit, seinem (vermeintlichen) Recht durch eine rechtzeitige Rüge während des Ausgangsverfahrens 122 relativ effektiv zur Geltung zu verhelfen, während es im zweiten Fall keine andere Möglichkeit gibt, sein (vermeintliches) Recht auszuüben. Dies zeigt, daß über die äußeren Umstände hinaus auch die Interessenlage beim Nichtgebrauch und beim Mißbrauch eines Rechtes so unterschiedlich ist, daß eine weitreichende Übertragung von Begründungssträngen aus dem in Rechtsprechung und Literatur schon umfänglich behandelten Bereich des Verlust von Verfahrensrügen auf die hier interessierende Mißbrauchsproblematik nicht möglich ist. Einzelne Sachargumente könnten aber auf ihre Übertragbarkeit zumindest überprüft werden, soweit es sich um Lösungsansätze handelt, die i.w.S. auf den Grundsätzen des Mißbrauchs oder der Verwirkung aufbauen. In der Begründung des Rechtsverlusts durch Schweigen zeigen sich auch in der Tat bei einigen Modellen 123 Berührungspunkte zur hier interessierenden Mißbrauchsproblematik: 124
122
Vgl. Kindhäuser, NStZ 1987, 529, 533 f., der auf die Kompensation des Verfahrensfehlers durch ein „nicht-gesetzesförmiges Zwischenrechtsbehelfsverfahren" als „Kompensationsrecht" abstellt. 123 Vgl. dazu im Überblick Kindhäuser, NStZ 1987, 529, 532 ff., ausführlich Schmid , Die Verwirkung von Verfahrensrügen im Strafprozeß, 1967 und Lang, Der Verlust von Verfahrensrügen beim Angeklagten durch Rückgriff auf den Verwirkungsgedanken, 1994. 124 Daneben werden vor allem noch zwei andere Lösungswege vertreten, bei denen es mit dem Mißbrauch kaum Gemeinsamkeiten gibt, die aber ihrerseits aus anderen Gründen problematisch sind: So wird vor allem in der früheren Judikatur teilweise beim Schweigen des Angeklagten das „Beruhen" auf der Rechtsverletzung verneint. Dies ist indes zumindest auf der Grundlage der h.M. zum Begriff des Beruhens wenig überzeugend, weil das Schweigen allenfalls einen Verfahrensfehler „heilen", nicht aber - wenn er nicht als geheilt gelten soll - in einem kausalen Sinne ungeschehen machen kann. Nur auf den ersten Blick plausibler ist es, die Beschwer für einen schweigenden Angeklagten zu verneinen; denn diese liegt nicht in erster Linie in dem Verfahrens verstoß, sondern erst in dem Urteil. Zur Verdeutlichung: Wenn der Angeklagte im o.g. Beispiel trotz der fehlenden Benachrichtigung von der kommissarischen Vernehmung und des fehlenden Widerspruchs gegen die Verlesung freigesprochen wird, ist er nicht beschwert, d.h. die Beschwer ist vom Verfahrensverstoß nicht unmittelbar abhängig. Anders mag man entscheiden können, wenn man den Zusammenhang zwischen Rechtsfehler und Urteil als einen normativen versteht (so Schlächter, vgl. nur in: Schlüchter/Laubenthal (Hg.), Recht und Kriminalität. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Krause, 1990, 485 ff.), in den Erwägungen miteinbezogen werden können, die nach der h.M. auf einer zusätzlichen
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1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs im Strafprozeß
Ein vor allem auf Schmid " zurückgehender Lösungsansatz sieht den Grund für den Rügeverlust in der Verwirkung als Folge treuwidrigen Verhaltens begründet. Allerdings ist an diesem Ansatz problematisch, daß Treue- oder Loyalitätspflichten für das Strafverfahren zumindest generell nicht überzeugend begründet werden können, wie unten126 noch näher gezeigt wird. Da aber der Mißbrauchsgedanke auch auf andere Weise, nämlich über das Kriterium der Zweckwidrigkeit, Bedeutung erlangen kann,127 ist für die hier interessierende Diskussion zumindest von Interesse, daß nach dem Ansatz Schmids - anders als bei den Lösungen, die auf mangelndes Beruhen oder mangelnde Beschwer und damit unmittelbar gesetzlich geregelte Kriterien abstellen128 - Rechte auf der Basis eines allgemeinen Rechtsgedankens und ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage verloren gehen können. Nicht in der Verletzung einer Loyalitätspflicht gegenüber dem Gericht, sondern einer Obliegenheit gegenüber sich selbst sieht Kindhäuser den Grund für einen Rügeverlust durch Schweigen begründet.129 Dieser Ansatz, der für den Rügeverlust durch Schweigen zu sinnvollen Ergebnissen kommt und vor allem den Vorteil hat, die auch hier kurz angedeuteten Schwächen anderer Ansätze zu vermeiden,130 ist allerdings auf die Problematik des Mißbrauchs im hier interessierenden Sinne nicht übertragbar: Erscheint es nämlich noch nachvollziehbar, daß den Angeklagten die Obliegenheit treffen soll, für ihn nachteilige Verfahrensfehler schnellstmöglich zu rügen, so ist eine Obliegenheit, seine (z.B. Antrags-) Recht nicht mißbräuchlich einzusetzen nicht mehr begründbar, wenn ein solcher Einsatz seinen (wenngleich nicht rechtlich schützenswerten) Interessen entspricht. Insbesondere kann eine Obliegenheit nicht mit der Gefahr des sonst drohenden Rechtsverlustes begründet werden; läge doch ein Zirkelschluß darin, eine - den Rechtsverlust rechtfertigende Obliegenheit - damit zu begründen, daß bei ihrer Annahme ein Rechtsverlust eintreten kann.
Wertungsstufe bzw. mit anderen Modellen erklärt werden müssen (vgl. auch unten Fn. 130). 125 Die Verwirkung von Verfahrensrügen im Strafprozeß, 1967, insb. S. 297 ff. 126 Vgl. unten 2. Teil C I 2 a, S. 181 ff. m.w.N. 127 Dagegen kann zugegebenermaßen für den Verlust von Verfahrensrügen kaum auf den Mißbrauch wegen Zweckwidrigkeit abgestellt werden. Wenn nämlich mit der Revision ein bestimmter Verfahrensfehler gerügt wird, erfolgt dies gerade mit dem - den entsprechenden Verfahrensvorschriften und dem Institut der Revision entsprechenden Zweck, ein Urteil daraufhin zu überprüfen, ob es möglicherweise auf dem Verfahrensfehler beruht, und es bejahendenfalls aufzuheben. 128 Vgl. dazu oben Fn. 124. 129 Vgl. Kindhäuser, NStZ 1987, 529, 533 ff. unter Fortführung der Ansätze von Niese, JZ 1953, 219, 221 f. und Bohnert, NStZ 1983, 344, 347 ff. 130 In diesem Sinne sogar Kindhäuser selbst, NStZ 1987, 529, 533, der die Probleme dieses Ansatzes eingesteht, aber „keine befriedigende Alternative" dazu sieht. Vgl. aber auch Schlüchter, in: Schlüchter/Laubenthal (Hg.), Recht und Kriminalität. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Krause, 1990, 485, 489, die andeutet, daß die Wertungen, die hinter dem notwendig normativen Kriterium der „Obliegenheit" stehen, auch bereits bei einer normativen Betrachtungsweise des Zusammenhangs zwischen Rechtsfehler und Urteil berücksichtigt werden könnte. Ähnlich bereits in Geppert/Dehnicke (Hg.), Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, 445, 467, wo allerdings auch der Ansatzpunkt des versäumten Zwischenrechtsbehelfs gewürdigt wird (S. 465 f.).
III. Möglicher Anwendungsbereich eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
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In einer neueren Arbeit zum „Verlust von Verfahrensrügen" begründet Lang131 diesen durch eine Güterabwägung, die einen Interessenausgleich zwischen dem Justizgewährungsanspruch und der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege schaffen müsse. Ungeachtet der Frage, wie tragfähig dieser Ansatz zur (alleinigen) Begründung eines Rügeverlusts ist,132 kann er für die Mißbrauchsdiskussion zumindest fruchtbar gemacht werden: Auch hier geht es u.a. um einen Ausgleich zwischen den Interessen an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und Individualrechten des Angeklagten bzw. rechtsstaatlichen Garantien seiner Befugnisse. Zwar weist Schefflers zum Modell Langs grundsätzlich zu Recht darauf hin, daß auf diese Weise nicht alle Angeklagtenrechte unter den Vorbehalt eines Funktionstüchtigkeitsgrundsatzes gestellt werden dürfen, was die beschuldigtenfreundliche Gewährung von Rechten auf den Kopf stellen würde.133 Allerdings gilt dieser (auch auf die Mißbrauchsdiskussion übertragbare) Hinweis nur insoweit, als die mit jeder Form von Rechtsgewährung verbundene potentielle Belastung des Strafverfahrens, die bewußt in Kauf genommen wird, nicht zu einer Einschränkung eben dieser Rechte bzw. ihrer Ausübbarkeit führen kann. Soweit aber das Strafverfahren durch die Ausübung einer Befugnis mehr als von der Intention des Gesetzes vorgesehen beeinträchtigt wird, erscheint eine Einschränkung der Wahrnehmung dieser Befugnisse dem Verfahrensrecht durchaus nicht mehr fremd, sondern sogar für eine seinem Zweck und seiner Funktion entsprechende Verwirklichung angemessen. cc) Zusammenfassend kann man somit zwischen der hier interessierenden mißbräuchlichen Ausübung prozessualer Befugnisse und dem Verlust von Verfahrensrügen gewisse Gemeinsamkeiten, aber auch grundlegende strukturelle Unterschiede (insbesondere zwischen dem Mißbrauch und dem Mc/ifgebrauch von Rechten) feststellen. Dies läßt zwar eine Übertragung von Ergebnissen dieser Diskussion auf die Mißbrauchsproblematik nicht zu, wohl aber ein Fruchtbarmachen von dort entwickelten Denkansätzen. Bedeutsam ist dabei zunächst der Befund, daß von der heute h.M. ein Verlust von Verfahrensrügen (und damit mittelbar auch von Rechtspositionen) auch jenseits ausdrücklicher gesetzlicher Regelungen für möglich gehalten wird, nachdem die - methodisch zunächst vorzugswürdig erscheinende - Anknüpfung an geschriebene Rechtsmittelvoraussetzungen wie das Beruhen und die Beschwer zumindest auf der Grundlage der h.M. nicht überzeugen kann. Eine ähnlich weit gehende Mißbrauchskontrolle hat dann allerdings auch mit der gleichen Hauptschwierigkeit zu kämpfen wie die Figur des Verlust von Verfahrensrügen: Ungeachtet einer möglicherweise weitgehenden Übereinstimmung über die Vernünftigkeit des Ergebnisses wird ein dogmatisch allgemein überzeugender Weg zu diesem Ergebnis bislang noch nicht angeboten; darüber hinaus ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten die Vereinbarkeit eines solchen Weges mit dem Vorbehalt des Gesetzes problematisch. 134
131 Der Verlust von Verfahrensrügen beim Angeklagten durch Rückgriff auf den Verwirkungsgedanken, 1994. 132 Krit. Scheffler, GA 1996,44 f. 133 Vgl. Scheffler, GA 1996, 44, 45. 134 Vgl. dazu näher unten 2. Teil Β II 3, S. 113 ff.
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1. Teil: Phänomenologie des Mißbrauchs im Strafprozeß
I V . Gegenstand und weiterer Gang der Arbeit 1. Betrachtet man die bisher skizzierten Erscheinungsformen des Mißbrauchs und seiner Bekämpfung im Strafprozeßrecht, ergibt sich folgendes Bild: Die weite Ausgangshypothese vom Mißbrauch als zweckwidrigem Einsatz von gewährten Befugnissen findet sich sowohl in den gesetzlichen Vorschriften zur Mißbrauchsabwehr als auch in weiteren Beispielsfällen, in denen die speziellen gesetzlichen Vorschriften nicht eingreifen, grundsätzlich bestätigt. Dabei ist ein Mißbrauch im o.g. Sinne im Strafverfahren sowohl durch den Angeklagten und seinen Verteidiger als auch durch die Strafverfolgungsbehörden (im Hauptverfahren v.a. Gericht und Staatsanwaltschaft) möglich. Wenn sich die weitere Darstellung im wesentlichen auf den Angeklagten und die Verteidigung beschränkt, so soll dies deshalb nicht die Problematik des staatlichen Mißbrauchs leugnen, sondern geschieht vor allem zur Eingrenzung der Untersuchung. Eine gemeinsame Darstellung beider Problemkreise verspricht dabei wenig Erfolg, weil zu erwarten ist, daß die wichtigen Wertungsgesichtspunkte, die über die Zulässigkeit eines allgemeinen Mißbrauchsverbots im Strafprozeß entscheiden und die vage Formel von der Zweckwidrigkeit konkretisieren könnten, jeweils zu unterschiedlich ausfallen. 2. Was das Verhältnis von geschriebenen Regelungen zur Mißbrauchsabwehr und einem eventuellen ungeschriebenem allgemeinen Mißbrauchsverbot angeht, wurde deutlich, daß die StPO durchaus eine Vielzahl unterschiedlicher Vorschriften enthält, die den Mißbrauch von Verfahrensrechten eindämmen bzw. entsprechende Reaktionsmöglichkeiten an die Hand geben. Gleichwohl zeigen sich bereits bei einer systematischen Gesamtschau der vorhandenen Regelungen gewisse Lücken, die durch die praktischen Beispiele aus der Rechtsprechung bestätigt wurden. 135 Daß damit ein Bedürfnis, zumindest aber ein Anwendungsbereich für ein über den Gesetzeswortlaut hinausgehendes allgemeines Mißbrauchsverbot nicht von der Hand zu weisen wäre, heißt freilich noch nicht, daß ein solches im Strafprozeßrecht auch tatsächlich zulässig ist, sondern begründet um so mehr die Notwendigkeit, dieser bisher nur vereinzelt behandelten Problematik näher nachzugehen.
135
A.A. insoweit wohl Malmendier , NJW 1997, 227 ff., insb. 235 (re. Sp. unten), der „wenn auch nicht immer optimale", so doch „hinreichende" Möglichkeiten in der StPO vorgegeben sieht. Allerdings ist - wie oben (Fn. 88) bereits erwähnt - zu beachten, daß Malmendier z.B. gewisse Beschränkungen des Fragerechts wenig überzeugend als noch vom Gesetz gedeckt erachtet, vgl. auch unten 2. Teil, Text bei Fn. 95, S. 84, und in seine Auflistung der bereits möglichen Mißbrauchsreaktionen auch die Einschränkungen des Beweisantragsrechts nach BGHSt 38, 111 aufnimmt (vgl. NJW 1997, 227, 229), die geradezu als Standardbeispiel für eine ungeschriebene Mißbrauchsbekämpfung einzuordnen ist (vgl. dazu bereits oben S. 47).
IV. Gegenstand und weiterer Gang der Arbeit
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3. Auf Grund dieses Befundes steht auch im weiteren Verlauf der Arbeit die Frage nach einem ungeschriebenen Mißbrauchsverbots im Strafprozeßrecht eindeutig im Mittelpunkt; dagegen sollen die speziellen gesetzlichen Vorschriften gegen den Mißbrauch, die, überwiegend in der (nicht zuletzt Kommentar-) Literatur bereits ausführlich behandelt sind, nicht näher untersucht werden. Hinsichtlich des allgemeinen Mißbrauchsprinzips nun sind mehrere Fragestellungen von Interesse, die im 2. Teil von den allgemeinen Grundlagen her beantwortet werden sollen: - die Geltung eines allgemeinen und ungeschriebenen Mißbrauchsverbots im Strafprozeßrecht (d.h. also die Frage, ob und warum es überhaupt zu berücksichtigen ist), - seine Voraussetzungen (d.h. also die Frage, wann ein mißbräuchliches Verhalten angenommen werden kann) sowie - seine Rechtsfolgen (d.h. also die Frage, mit welchen Reaktionen einem als solchen erkannten Mißbrauch begegnet werden kann).
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots Im vorangegangenen 1. Teil wurde deutlich, daß die Anwendung eines allgemeinen ungeschriebenen Mißbrauchsverbots im Strafprozeß vor allem drei Fragen aufwirft: seine Legitimation (bzw. seine grundsätzliche Zulässigkeit), seine Voraussetzungen und seine Rechtsfolgen (d.h. die Reaktionsmöglichkeiten). Diese Fragen ziehen sich durch mehrere Ebenen, welche in diesem zentralen 2. Teil der Arbeit systematisch nacheinander untersucht werden: aus dem Blickwinkel der allgemeinen Methodenlehre, nach verfassungsrechtlichen Kriterien und schließlich unter Berücksichtigung spezifischer strafprozessualer Gesichtspunkte. Hierbei ist insbesondere von Interesse, inwiefern bestimmte Wertungsgesichtspunkte auf allen Ebenen (vielleicht nur unter verschiedenen Bezeichnungen) immer wieder auftauchen bzw. inwiefern auf der jeweils spezielleren Ebene Ergebnisse der vorhergehenden bestätigt oder gerade modifiziert werden.
A. Allgemeine Methodenlehre Die Tatsache, daß der Mißbrauchsgedanken in allen Rechtsgebieten von (freilich mehr oder weniger großer) Bedeutung ist, sowie der im 1. Teil häufig zutage getretene Umstand, daß es bei den Mißbrauchsfragen um Abweichungen vom Wortlaut gesetzlicher Regelungen geht, zeigen, daß der Mißbrauch (auch) ein allgemeines rechtsmethodisches Problem ist. Daß unsere Untersuchung mit dieser methodischen Dimension beginnt, rechtfertigt sich damit, daß dort gefundene Ergebnisse grundsätzlich in allen Rechtsgebieten (und damit auch im Strafprozeßrecht gelten), wenn sie nicht durch Besonderheiten modifiziert werden. Anders formuliert: Kann man auf der Grundlage der allgemeinen Methodenlehre ein Mißbrauchsverbot begründen und strukturieren, so stellt sich für das Strafprozeßrecht (nur noch) die (möglicherweise leichter zu beantwortende) Frage, ob das Mißbrauchsverbot dort durch spezielle Gründe - seien sie verfassungsrechtlicher, seien sie spezifisch strafprozessualer Natur - ausgeschlossen sein soll (dazu in den Kapiteln A und B). Dagegen ist es (zwar nicht falsch, aber) nicht primär erforderlich, seine Geltung dort aus darüber hinaus gehenden Gründen zu erklären, wie es z.B. (teilweise unter Rückgriff auf Überlegungen bei Weber1) in jüngerer Zeit Kröpil versucht;2 die in diesem Zu1
Vgl. Weber, GA 1975, 289, 294. Vgl. Kröpil, ZRP 1997, 9, 10 ff. Im gleichen Sinne zu den Erwägungen Kröpils auch bereits Kudlich, ZRP 1997, 295. 2
Α. Allgemeine Methodenlehre
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sammenhang genannten Argumente (wie z.B. Rechtsstaat oder Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege 3) sind freilich umgekehrt auch für die Frage nach einem Ausschluß des Mißbrauchsverbot im Strafprozeß bzw. seiner konkreten Handhabung von Interesse.
I. Grundlagen 1. Normtheoretischer
Hintergrund
In unserer - bisher durchaus tragfähig erscheinenden - Ausgangshypothese wurde (Rechts-) Mißbrauch als der zweckwidrige Einsatz rechtlicher Befugnisse umschrieben. Obwohl entsprechende Phänomene nicht nur in den o.g. Beispielen4 dargestellt werden konnten, sondern angesichts der unüberschaubaren Vielfalt denkbarer Sachverhaltskonstellationen auch nicht einmal unwahrscheinlich sind, wird die Figur des Rechtsmißbrauchs in der methodenwissenschaftlichen Literatur - soweit überhaupt 5 - nur sehr knapp behandelt.6 Die für die Rechtsfindung damit verbundene grundlegende und jeder Form von gesetztem Recht zwangsläufig eigentümliche7 Problematik läßt sich jedoch kurz wie folgt erklären: Eine Rechtsnorm als abstrakt-generelle Regelung kann nie alle denkbaren Fallgestaltungen so exakt umschreiben, daß einerseits die Anwendbarkeit der entsprechenden Norm auf alle Fälle, die erfaßt werden sollen, andererseits die Nichtanwendbarkeit auf alle Fälle, die nicht erfaßt werden sollen, gesichert sein könnte.8 Vielmehr hat der Gesetzgeber bei der gesetzlichen 3
Vgl. dazu etwa Kröpil, ZRP 197, 9, 12, dessen Ableitung eines Mißbrauchsverbots gerade aus der Justizförmigkeit freilich ungewöhnlich ist, da die Justizförmigkeit (unter dem Gesichtspunkt der Formstrenge) eher als ein Gegenargument denkbar wäre; freilich kommt auch Kröpil dann unvermittelt zu dem Endergebnis, daß ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot im Strafprozeß nicht möglich ist. 4 Vgl. ο. 1. Teil III 3, S. 47 ff. 5 Keine Erwähnung im Index finden die Stichworte „Mißbrauch" bzw. „Rechtsmißbrauch" z.B. in den Werken zur Methodenlehre von Pawlowski, 1991, Priimm, 1986, Reisch, 1995; Schapp, 1983 und Zippelius, 1980 und auch in den unten in Fn. 6 genannten Werken wird die Mißbrauchsproblematik sehr kurz abgehandelt. 6 Dabei erfolgt die Einordnung zumeist als richterliche Rechtsfortbildung „über den Plan des Gesetzes hinaus" (so z.B. bei Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 4 ) oder als Fall des Judizierens contra legem (so z.B. bei Bydlinski, 496 ff). 7 Vgl. Rebe, JA 1977, 6 („notwendige und konstitutive Eigenart von gesetztem Recht - gleich welchen Ranges") 8 Radbruch, Zeitschrift für Theorie des Rechts 1938, 46, beschreibt diesen Zustand mit den Worten: „Das Leben kennt nur fließende Übergänge, aber der Begriff zieht quer durch solche Übergänge scharfe Grenzen. Wo das Leben nur ein »mehr oder minder« zeigt, verlangt der Begriff eine Entscheidung: »entweder - oder«." Besonders deutlich zeigt sich die Problematik im materiellen Strafrecht, in dem die (über das allgemeine Bestimmtheitsgebot hinausgehenden) Anforderungen des Art. 103 II GG (vgl. dazu auch unten 2. Teil Β II 2, S. 126 ff.) erfüllt werden müssen. Vgl. dazu aus neuerer Zeit BVerfGE 92, 1 ff. (Sitzblockaden, vgl. dazu aber auch BGH NJW 1995, 2643; aus der
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Regelung für den Anwendungsbereich des Tatbestands9 einer Norm auf typische Fallgestaltungen abzustellen und auch auf der Rechtsfolgenseite bestimmte normative Entscheidungen anzuordnen, wobei er nur in gewissen (v.a. durch das Bestimmtheitsgebot, aber auch das Gewaltenteilungsprinzip 10 gesetzten) Grenzen die Flexibilität seiner Regelungen durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe bis hin zu Generalklauseln oder der Einräumung von Ermessen auf der Rechtsfolgenseite erhöhen kann. Dadurch kann es zwangsläufig vorkommen, daß eine konkret bestehende Situation von der vom Gesetzgeber typisierend angenommenen Konstellation in der Weise abweicht, daß zwar alle im Gesetz formulierten (insbesondere deskriptiven 11) Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, die Anwendung der Vorschrift auf den konkreten Fall aber gleichwohl „ungerecht" erscheint. Normtheoretisch fällt hiermit also die Figur des Rechtsmißbrauchs in die Gruppe der Lösungswege für „das Problem der notwendigen Selektivität von gesetzlichen Tatbeständen"12 und damit in den Problemkreis, der sich aus dem Spannungsverhältnis von Normtreue einer- und Problemgerechtigkeit andererseits ergibt.
umfangreichen Literatur zu diesen Entscheidungen vgl. Amelung, NJW 1995, 2586 ff.; Krey, JR 1995, 221 ff., 265 ff.; Scholz, NStZ 1995, 417 f.); BVerfG NJW 1995, 2776 (Begriff der Bedrohung in § 241 StGB, dazu Küper, JuS 1996, 783 ff.); BGH NJW 1996, 328 (zum Begriff des Magazins in § 308 StGB a.F.). Vgl. zum Zusammenhang zwischen diesen zu engen und zu weiten Fassungen von gesetzlichen Normen auch Stockei, Gesetzesumgehung, 92 f., wo dargelegt wird, daß eine Gesetzesumgehung nicht nur darin liegen kann, unzulässigerweise die Tatbestandsmerkmale der zu umgehenden Norm zu vermeiden, sondern auch darin, etwaige von dieser Norm bestehende Ausnahmevorschriften mißbräuchlich auszuweiten bzw. in Anspruch zu nehmen; vgl. dazu auch Keller, Die zweckwidrige Verwendung von Rechtsinstituten des Familienrechts, S. 12; zum Zusammenhang zwischen Rechtsmißbrauch und Gesetzesumgehung Mader, S. 136 ff., der den Umgehungsfall der Tatbestandserschleichung sogar weitgehend mit dem institutionellen Mißbrauch gleichsetzt, was freilich im Strafprozeßrecht mangels ausdrücklichen Umgehungsverbotes oder klarer Regelung, wann eine Umgehung vorliegt, in der Sache nicht weiterhilft. 9 Der Begriff des Tatbestandes ist hier nicht (nur) strafrechtsspezifisch als Straftatbestand, sondern als beschriebener Lebenssachverhalt im Unterschied zur Rechtsfolge der Norm zu verstehen. 10 Letztendlich hängt auch die gerichtliche Nachprüfbarkeit einer Norm von ihrer Bestimmtheit ab, so daß ein gewisses Maß an Klarheit auch unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung, konkret: unter dem Gesichtspunkt der Prüfungsdichte durch die dritte Gewalt gegenüber Handlungen der Exekutive, geboten ist. 11 Der Begriff des „deskriptiven Tatbestandsmerkmal" hat seine Bedeutung v.a. im Bereich des materiellen Strafrechts und hier speziell im Bereich der Irrtumslehre, kann aber sinnvoll auch in anderen Rechtsgebieten eingesetzt werden. Zumindest bei einzelnen normativen Tatbestandsmerkmalen oder deskriptiven Merkmalen mit „normativer Färbung" (zu diesem Begriff mit Beispielen vgl. Jescheck/Weigend, § 26IV 1) läßt sich schon die Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale an sich durch eine entsprechende Ausfüllung der wertenden Begriffe vermeiden. 12 Rebe, JA 1977, 6, 7 sowie Mader, S. 72 f.
Α. Allgemeine Methodenlehre
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Dieses Spannungsverhältnis wird in der neueren (rechts-) philosophischen Diskussion vor allem von der Richtung der Dekonstruktion und den amerikanischen critical legal studies aufgenommen.13 Hier findet sich das „seit ihren Anfängen jeden Versuch einer rechtlichen Kodifizierung der Gerechtigkeit in Gesetzen" begleitende Unbehagen14 zu einem Paradox der Gerechtigkeit gezeichnet, das sich aus der Aporie zwischen Regel- und Einzelfall ergibt: einerseits müsse sich eine (zumindest kodifizierte) Gerechtigkeit an den Kriterien wie „Gesetzmäßigkeit" oder „Legitimität" und damit an der Regel orientieren.1' Andererseits wird durch eine bindende Regel die „doppelte Differenz (...) zwischen den Menschen und ihren Handlungen" sowie zwischen verschiedenen Ständen einer stets fortlaufenden zeitlichen Entwicklung eingeebnet,16 die eine „gerechte, angemessene Entscheidung" aber gerade berücksichtigen müßte.17 Damit sei die Gerechtigkeit zwar als Begriff, nicht aber als Problem (auf-) lösbar.18 Im Rahmen dieses Widerstreits zwischen Regelfall und Einzelfall bzw. zwischen Regel und Ausnahme betont das Mißbrauchsargument eindeutig den Einzelfall bzw. die Ausnahme.19 Dementsprechend ist zu erwarten, daß eine genauere Untersuchung des Mißbrauchsverbots vor allem Konflikte mit der Regelungskomponente der Rechtsanwendung, also etwa der allgemeinen Gesetzesbindung, dem Gesetzesvorbehalt und der Begründungslast für Ausnahmen von der Regel aufzeigen wird. Die Problematik ist besonders deutlich, soweit - wie es im Strafprozeßrecht mangels einer allgemeinen Mißbrauchsklausel teilweise der Fall wäre 2 0 - auf den allgemeinen Gedanken des Rechtsmißbrauchs ohne jede Verankerung im Gesetz zurückgegriffen werden müßte. Aber auch soweit allgemeine (z.B. § 242 BGB) oder spezielle (z.B. § 241 I StPO) Mißbrauchsklauseln bestehen, muß in ganz ähnlicher Weise her-
13 Vgl. insbesondere zur Dekonstruktion exemplarisch Derrida , Gesetzeskraft, 1991; Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit, 1994. 14 Vgl. Menke, in: Haverkamp (Hg.), Gesetz und Gerechtigkeit, 1994, 279, der das Beispiel des Fremden in Piatons Πολιτικος anführt, der das Gesetz mit einem „selbstgefälligen und ungelehrigen Menschen" vergleicht, der „die Unähnlichkeit der Menschen und der Handlungen" vernachlässige. 15 Vgl. Derrida , Gesetzeskraft, 1991,46 ff. 16 Vgl. Menke, in Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit, 1994, 279. 17 Vgl. Derrida , Gesetzeskraft, 1991, 54. In diesen beiden Aspekten der Gerechtigkeit spiegelt sich die Unterscheidung zwischen der iustitia commutativa und der iustitia distributiva wieder, vgl. dazu näher unten 2. Teil C III 2 c, S. 213 ff. 18 Vgl. Derrida , Gesetzeskraft, 1991, 51 f. 19 Dies darf aber unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit nicht dazu führen, daß das Mißbrauchsverbot als eine bloße „Billigkeitskontrolle im Einzelfall" oder als „Anerkennung eines Korrektivbedürfnisses ohne klare Voraussetzungen" mißverstanden wird, vgl. auch Mader, S. 80 ff.; vielmehr wird es gerade ein Hauptanliegen der folgenden Arbeit sein, die Voraussetzungen und Grenzen eines solchen Korrektivs herauszuarbeiten. 20 Zu den gesetzlichen Vorschriften zur Mißbrauchsbekämpfung in der StPO vgl. näher oben 1. Teil II, S. 26 ff.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
ausgefunden werden, wann ein von dieser Klausel erfaßter Mißbrauch (z.B. des Kreuzverhörs nach § 239 StPO im Fall des § 241 I StPO) vorliegt. Beim Mißbrauch i.S.d. zweckwidrigen Einsatzes von Rechten besteht jedoch eine wichtige Besonderheit gegenüber anderen Spannungsfeldern zwischen Normtreue und Gerechtigkeit, die für die nachfolgende Untersuchung immer wieder eine Rolle spielen wird: In der Ausübung des Rechts wird beim Mißbrauch nicht „nur" ein Verstoß gegen vermeintlich übergeordnete (z.B. Gerechtigkeits-) Vorstellungen durch einen zu weiten Regelungsbereich der Norm, sondern auch ein Widerspruch zum Sinn der Norm selbst durch ein zu weites Interpretationsergebnis mittels der gängigen Auslegungskriterien gesehen. M.a.W.: wenn ein zweckwidriger Einsatz von Rechten als mißbräuchlich sanktioniert wird, soll nicht der mit der Norm verfolgte Zweck zugunsten anderer Vorstellungen von einem „richtigen" oder „gerechten" Ergebnis zurückgedrängt, sondern die Anwendung einer Norm gerade auf das ihrem Sinn entsprechende Maß gesichert werden.
2. Außen- und lnnenmetaphorik Der zuletzt genannte Gesichtspunkt des „Zurückdrängendes der Anwendung einer Norm auf das ihrem Sinn entsprechende Maß" gibt (auch aus Gründen einer klaren Terminologie) Anlaß dazu, schon an dieser Stelle die Begriffe der „Innen- und Außentheorie" zu nennen. Mit diesen soll umschrieben werden, woher die Wertungen kommen, die das „dem Sinn der Norm entsprechende Maß" bestimmen. Der Meinungsstand in Deutschland ist dabei (insbesondere in der Zivilrechtsdogmatik zum Mißbrauch) von der allgemeinen rechtstheoretische Behandlung des Rechtsmißbrauchs in der 30-er Jahren durch Siebert geprägt. 21 Bei Siebert steht die Begründung einer „Innentheorie" des Rechtsmißbrauchs im Mittelpunkt. 22 Nach dieser Innentheorie wird ein bestehendes subjektives Recht nicht (wie von der „Außentheorie" angenommen) durch ein anderes, gleichsam außerhalb stehendes Recht begrenzt; vielmehr trägt jedes (subjektive) Recht seine Grenzen schon immanent in sich; diese werden nach Siebert insbesondere durch den „Gedanken der Gemeinschaft und des Gemeinnutzes" 23 gezogen, sind aber durchaus in dem Sinne „von den Umständen des
21
Vgl. v.a. Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung, 1934 und Vom Wesen des Rechtsmißbrauchs, 1935. 22 Vgl. insbesondere Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung, 1934, 85, 87 ff. Die Innentheorie entspricht auch heute der h.M. im Zivilrecht, vgl. Palandt-Heinrichs, § 242 Rn. 38 m.w.N., MüKo-/?o//i, § 242 Rn. 45. 23 Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung, 1934, 88.
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Einzelfalles abhängig", daß je nach diesen entschieden werden kann, „ob eine Handlung noch Inhaltsverwirklichung (Rechtsausübung) ist oder nicht" 24 . Der Einfluß Sieberts kann schon daraus ersehen werden, daß dem richterrechtlich festgestellten Mißbrauch im deutschen Zivilrecht in der Folge seiner Arbeit im Vergleich zu den meisten anderen kontinentaleuropäischen Staaten eine ungewöhnlich große Rolle zukam und bis heute zukommt, während sich das Bild bis in der 30-er Jahre eher umgekehrt darstellte.25 Die Zurückführung der bis heute herrschenden Begründungsansätze vor allem auf die Werke Sieberts wird dabei teilweise kritisch betrachtet, da sich diese als normative Anknüpfungspunkte ihrer dogmatischen Feststellungen stark an der Ideologie des Nationalsozialismus orientieren, wie z.B. das Vorwort aus „Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung" zeigt: „Gleichzeitig sollte gezeigt werden, daß diese Lehre (d.h., von der Unzulässigkeit der Rechtsausübung - H.K.) den Pflicht- und Gemeinschaftsgedanken und die Zurückdrängung des Eigennutzes in dem Inhalt der Rechte zu verwirklichen mag, womit ein wichtiges Stück nationalsozialistischer Rechtsauffassung zu unmittelbarer Geltung gebracht werden kann."26 Haferkamp kommt in seiner ausführlichen Untersuchung über „Die heutige Rechtsmißbrauchslehre - Ergebnis nationalsozialistischen Denkens?" zu dem Ergebnis, daß „Sieberts Lehre zwischen 1934 und 1945 (...) als Angriff auf das Privatrecht konzipiert" war, mit dem „das subjektive Privatrecht hoheitlicher Kontrolle unterstellt" werden sollte, und die Figur des Rechtsmißbrauchs somit in erster Linie kollektiven staatlichen Zwecken diente, anstatt „verschiedene Interessen der Privatrechtssubjekte abzugleichen"27. Ungeachtet dessen wurde aber die Innentheorie Sieberts von der ganz h.M. übernommen, wobei freilich die Anknüpfung der maßgeblichen Wertungen nicht mehr an der nationalsozialistischen Ideologie vorgenommen wird. Insoweit greift Kempf sicherlich zu kurz, wenn er die angeblich nationalsozialistische Wurzel der Mißbrauchslehre als grundsätzliches Argument gegen diese anführt; 28 wie oben bereits angedeutet wurde, gibt das Mißbrauchsprinzip keine Ergebnisse vor und ist keine normative Größe, so daß es durchaus auch ohne Annäherung an die nationalsozialistische Ideologie Anwendung finden kann.29
24
Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung, 89. Nach Sieberts Modell ist ein Handeln, das keine Rechtsausübung mehr darstellt, dann ein Handeln ohne Recht bzw. außerhalb des Rechts. Die Möglichkeit, die immanenten Grenzen je nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen, ist Sieberts Reaktion auf das wichtigste Argument der „Außentheorie", daß bei immanenten Grenzen des Rechts die äußeren Umstände des Einzelfalls unberücksichtigt bleiben müßte, vgl. Siebert a.a.O., 88 f. 25 Vgl. Haferkamp, Die heutige Mißbrauchslehre - Ergebnis nationalsozialistischen Denkens?, 1995, S. 341 f. 26 Die naheliegende Frage, inwieweit eine solche Äußerung an exponierter Stelle erforderlich war, um das Werk besser publizieren zu können, ohne daß damit wirklich eine Identifizierung mit der „nationalsozialistischen Rechtsauffassung" verbunden ist, kann hier allerdings nicht beantwortet werden. 27 Vgl. Haferkamp, 340. 28 Vgl. StV 1996, 507, 510 (FN 45). 29 Vgl. zu der Tatsache, daß nicht jede zwischen 1933 und 1945 erfolgte rechtlich Entwicklung zwangsläufig nationalsozialistisches Gedankengut enthalten muß, überzeugend Spendet, JuS 1996, 871 ff. 5 Kudlich
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Die bis heute verbreitete Innen- und Außenmetaphorik ist zwar aus mehreren Gründen problematisch: Zum einen ist unter dem Gesichtspunkt des Gesetzes als Rechtste*^" zweifelhaft, ob von „Grenzen innerhalb des Textes" gesprochen werden kann; vielmehr erfolgt die Konturierung der Bedeutung von im Text verwandten Zeichenketten niemals innerhalb der Zeichenkette alleine, sondern gerade außerhalb, d.h. in Abgrenzung zu anderen Zeichenketten.11 Zum anderen ergibt sich auch die Reichweite einzelner gesetzlicher Schutzsphären aus ihrer Abgrenzung zu jeweils anderen Schutzsphären; dies zeigt sich besonders deutlich in der herrschenden verfassungsrechtlichen Dogmatik (nicht im Zusammenhang mit dem Rechtsmißbrauch, sondern mit der Einschränkung von vorbehaltlos gewährten Grundrechten), in der Elemente einer Außen- und einer Innentheorie nebeneinander verwendet werden: typischerweise wird in diesem Zusammenhang von verfassungsimmanenten Grenzen (d.h. von innen 32 ) gesprochen, die sich aus kollidierendem Verfassungsrecht (d.h. von außen) ergäben. Ist man sich aber dieser Schwierigkeiten bewußt und berücksichtigt man, daß es sich bei den Begriffen „innen" und „außen" nur um verkürzte Metaphern handelt, kann die Unterscheidung von Innen- und Außentheorie (die ohnehin weniger scharf ist, als es die insbesondere vor den Schriften Sieberts bestehende Kontroverse 33 annehmen läßt) durchaus herangezogen werden. In diesem modifizierten Sinne ist in der Tat die Innentheorie vorzugswürdig. Sie bringt dann aber zum Ausdruck, daß die „immanenten" Schranken gerade nicht durch das Recht überlagernde, ideologische Werte wie denen „der Gemeinschaft und des Gemeinnutzes", sondern nach Möglichkeit durch andere gesetzliche Grundentscheidungen aktualisiert werden müssen. Es ist vielmehr sogar davor zu warnen, alle subjektiven Rechte (insbesondere die Rechte des Angeklagten im Strafprozeß) unter einen pauschalen immanenten „Gemeinschaftsnutzensvorbehalt" zu stellen. Als Konsequenz aus dieser Überlegung wird daher - ungeachtet der Begründung für die Figur des Mißbrauchs im einzelnen - im weiteren Verlauf der Arbeit stets darauf zu achten sein, daß auf dem Mißbrauchsprinzip beruhende Rechtsbeschränkungen stets in enger
30 Zu Konsequenzen aus der Eigenschaft von Gesetzen als Texten vgl. jüngst die ausgezeichnete Untersuchung über „Rechtstext und Textarbeit" von Mülle r/Chris tensen/Sokolow ski, 1997. 31 Vgl. zur Juristischen Methodik und Sprachkritik etwa Müller, 133 f. sowie zur Beliebigkeit von Zeichenketten per se auch Müller/Christensen/Sokolowski (o. Fn. 30), 32 f., 73. 32 Zuzugeben ist, daß insofern ein Unterschied besteht, wenn von verfassungs-, d.h. dem gesamten Grundgesetz immanenten Schranken gesprochen wird, und nicht von Schranken, die in jedem Grundrecht selbst und alleine angelegt sind. Vgl. aber auch zurDeutung einer Innentheorie mit Blick auf kollidierendes Recht Mader, S. 93. 33 Vgl. Haferkamp, 341.
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Orientierung an dem beschränkten Recht selbst und nicht mit abstrakten Prinzipien gerechtfertigt werden müssen.
3. Erkenntnismodelle
und Erzeugungsmodelle in der Rechtsfindung
Beschäftigt man sich mit der Stellung des allgemeinen Mißbrauchsverbots in der Methodenlehre, so ist schließlich von nicht unerheblicher Bedeutung, welches Verständnis von der Rechtsfindung durch den Richter (oder jeden anderen Anwender) man zugrunde legt. In unserem durch weitgehende gesetzliche Normierungen geprägten Rechtssystems ist insbesondere die Frage nach der Bedeutung des Gesetzes(texts) und seiner Interpretation von Interesse: 34 Hierbei geht die traditionelle (bis heute herrschende und außerhalb der methodentheoretischen Spezialliteratur meist stillschweigend zugrunde gelegte) Ansicht bei der Entscheidung von einem Akt der Rechtserkenntnis aus, wobei der Gegenstand der Erkenntnis der objektiv vorgegebene Gegenstand Recht ist. Aus diesem Recht wird dann die vom Gesetzgeber bereits vorvollzogene Entscheidung in einem Verfahren strenger Syllogismen abgeleitet (juristische Determination). Da allerdings ein eng verstandener Positivismus angesichts der begrenzten Normtextmasse für die unbegrenzte Vielfalt tatsächlicher Sachverhalte nicht immer eine befriedigende Lösung anbieten kann, wird das Determinationsmodell um zusätzliche Wertungen (wie Rechtsprinzipien oder in letzter Konsequenz die Gerechtigkeit 35) „aufgeladen", aus denen Entscheidungen deduziert werden können, wenn der Gesetzestext alleine keine (überzeugende) Lösung bietet.36 Demgegenüber gehen neuere Ansätze - wenngleich mit erheblichen Unterschieden im einzelnen 37 - von einem Modell der Rechtserzeugung aus. Das Recht ist damit nicht Gegenstand der richterlichen Erkenntnis, die auf syllogistisch-deduktive Weise erlangt wird, sondern einer (mehr oder weniger norm34 Vgl. dazu und zum folgenden den Überblick von Hassemer, in: Kaufmann/Hassemer, C 4, 248 ff.; ferner zum Unterschied der Modelle etwa Müller;, 119 ff.; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung, 1989, 66 ff., 182 ff.; einen guten Überblick über die sprachwissenschaftlichen Grundlagen des Interpretationsproblems geben die Beiträge in Eco , Zwischen Text und Autor, 1994. 35 Vgl. zur Gerechtigkeit als Wertungskriterium, welches an Art. 20 III GG anknüpfen soll, Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, 65: »Artikel 20 GG bildet die materiale Ergänzung zum rein formalen Justizgewährungsanspruch, in dem die Rechtsprechung an das »Recht«, im Sinn von nicht kodifizierter Gerechtigkeit gebunden wird." 36 Vgl. zu den verschiedenen Methoden der Rechtsfindung im vor allem von Larenz geprägten erweiterten Determinationsmodell sogleich II, S. 68 ff., jeweils m.w.N. 37 Vgl. nur die unterschiedlichen Vorstellungen von der Gesetzesbindung bei Esser und Müller, vgl. dazu unten III, S. 97 ff.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
textgeleiteten) Erzeugung, die durch sprachliche Begründungszwänge erschwert wird. 38 Ein Rückgriff auf überpositive Prinzipien ist damit regelmäßig nicht erforderlich, da die Konkretisierungsleistung des Gesetzes nicht auf den eindeutigen Wortlaut reduziert ist; umgekehrt kann das Gesetz auch niemals alleine einen objektiven Rechtsgegenstand als Legitimationsgrundlage anbieten, sondern muß diese Legitimation durch Begründung der erzeugten Entscheidungsnorm erst herstellen. 39 Schon diese kurze Skizze der - im Anschluß ausführlicher dargestellten unterschiedlichen Modelle von der Rechtsfindung lassen erahnen, daß sie für die Begründung eines allgemeinen Mißbrauchsverbots möglicherweise zu teilweise verschiedenen Ergebnissen, jedenfalls aber unterschiedlichen Begründungen kommen werden. Deshalb wird im Anschluß nicht nur die Einordnung des allgemeinen Mißbrauchsverbots im traditionellen Schema der Rechtsfindung dargestellt (sogleich II.), sondern werden auch die neueren Ansätze (insbesondere in ihren Konsequenzen für ein Mißbrauchsverbot) untersucht (unten III.), um im Idealfall eine übergreifende Argumentation zu ermöglichen.
II. Einordnung des allgemeinen Mißbrauchsverbots im traditionellen Schema der Rechtsfindung 7. Einordnung und Abgrenzung des Mißbrauchsverbots im System der Rechtsfindung Dadurch, daß die Frage nach einem Mißbrauchsverbot zu dem allgemeinen Spannungsverhältnis von Normtreue und Einzelfallgerechtigkeit in Beziehung gesetzt wird, ist allerdings über mehrere wichtige Punkte noch nichts ausgesagt, die für eine methodische Annäherung an das Mißbrauchsprinzip von Bedeutung sind. So ist noch offen, in welchem Verhältnis ein Mißbrauchsverbot zu den klassischen Rechtsfindungsmethoden steht,40 inwiefern sie es bereits auflösen oder zumindest entschärfen können und ob sich aus den an sie gestellten Anforderungen auch Grenzen für Geltung und Reichweite eines allgemeinen ungeschriebenen Mißbrauchsverbots ergeben. Ausgehend vom Grundsatz der Bindung an Gesetz und Recht nach Art. 20 I I I GG wird von der tradi-
38 Hinsichtlich der Textinterpretation kann hier im Gegensatz zum Determinationsmodell auch von einem „Irritationsmodell" gesprochen werden, vgl. Müller/Christensen/Sokolowski (o. Fn. 30), 34 („Denn der Gesetzgeber kann durch die Vorgabe des Ausgangstextes des schöpferischen Prozeß der Rechtsnormsetzung immerhin nachdrücklich »irritieren«.); Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 442. 39 Vgl. zum Rechtserzeugungsmodell i.e.S. der sog. Strukturierenden Rechtslehre ausführlicher unten III 2, S. 104 ff. m.w.N. 40 Vgl. zu dieser Frage auch knapp Mader, S. 132 ff.
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tionellen Ansicht in der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre je nach Nähe zum vorgegebenen positiven Recht zwischen drei Stufen zur Ermittlung des auf den gegebenen Fall anwendbaren Rechtssatzes unterschieden, nämlich der Rechtsfindung secundum legem, praeter legem und contra legem. Da die methodische Problematik eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots innerhalb dieses traditionellen Schemas am leichtesten verdeutlicht werden kann und es auch (vor allem außerhalb der methodentheoretischen Spezialliteratur) noch regelmäßig Anwendung findet, soll es auch der ersten Einordnung und Abgrenzung eines allgemeinen Mißbrauchsverbots zugrunde gelegt werden. Um die beschriebenen Rechtsfindungswege und ihre Tauglichkeit zur Mißbrauchsabwehr zu veranschaulichen, werden diese im folgenden nicht nur jeweils kurz beschrieben, sondern auch auf den oben41 bereits dargestellten leading case zur Beschränkung des Beweisantragsrecht auf eine Ausübung durch den Verteidiger angewandt, den der BGH über die Figur des Rechtsmißbrauchs löste.42
a) Rechtsfindung secundum legem Nach einer gebräuchlichen Definition geht es bei der Auslegung (Rechtsfindung secundum legem) von Gesetzen darum, den „Sinn eines (sc. Gesetzes-) Textes (...) zum Verständnis" zu bringen. 43 Zu diesem Zweck können verschiedene Kriterien herangezogen werden, die dabei helfen, die Bedeutung des Norm texts zu erschließen: die Wortwahl des Gesetzgebers, die Gesetzessystematik, die Entstehungsgeschichte, der Sinn und Zweck der Regelung sowie die Vorgaben der Verfassung. 44 Da nun das oben dargestellte Spannungsverhältnis zwischen Problemgerechtigkeit einerseits und der abstrakt-generellen Regelung in Rechtsnormen andererseits erst auftritt, wenn ein Fall, der nach den Grundsätzen der Auslegung „an sich" erfaßt würde, doch nicht nach dem entsprechenden Gesetz gelöst werden soll, könnte man auf der Grundlage des traditionellen Auslegungsverständnisses allgemein sagen, daß die Gesetzesauslegung der Arbeit mit dem Institut des Mißbrauches logisch voran geht. 41
Vgl. oben, 1. Teil III 3 a, S. 47. BGHSt 38, 111 ; vgl. dazu auch näher unten 3. Teil Β I, S. 275 ff. 43 Larenz/Canaris Kapitel 4 Abschnitt la. 44 Auch eine spezifische Auslegung des Strafprozeßrechts setzt an diesen Kriterien an, muß aber - insbesondere bei teleologischen Argumenten - strafprozessuale Besonderheiten bzw. Grundstrukturen berücksichtigen, vgl. Tiedemann, in: Wasserburg/Haddenhorst (Hg.), Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren, Festgabe für Karl Peters, 1984, 131, 132. Diese Forderung berücksichtigt der vorliegende Gang der Gedankenführung dadurch, daß vor allem im 3. Kapitel dieses Teils (C, S. 177 ff.) spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte zur Überprüfung und Konkretisierung der allgemeinen (Zwischen-) Ergebnisse herangezogen werden. 42
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Gleichwohl wirken beide Vorgehensweisen im Bestreben zusammen, zu (vermeintlich) „sinnvollen" Ergebnissen zu kommen: Zwar ist ein wesentlicher Unterschied dabei, daß die Auslegung nach traditionellem Verständnis stets vom Wortsinn des Gesetzes gedeckt bleiben muß und der Mißbrauchsgedanke erst jenseits der Wortsinngrenze seine eigentliche Bedeutung erhält. Jedoch sind es - abgesehen von der Wortlautgrenze - die gleichen Kriterien, die auch zur Ermittlung des Zwecks der Vorschrift herangezogen werden müssen, um die Frage nach der „Zweckwidrigkeit" i.S. der Ausgangshypothese klären zu können: Ob man die zur Auslegung herangezogenen Gesichtspunkte als Auslegungsmethoden oder aber - so dezidiert Larenz/Canaris - besser als Auslegungskriterien oder leitenden Gesichtspunkten bezeichnen sollte, muß für den vorliegenden Zweck nicht näher untersucht werden. Zuzustimmen ist Larenz/Canaris aber sicher insoweit, als die Verwendung des Begriffes verschiedener Auslegungsmethoden nicht dazu führen darf, daß man von voneinander unabhängigen, zur freien Auswahl des Gesetzesinterpreten stehenden, Möglichkeiten ausgeht. Vielmehr ist die Auslegung als ein Vorgang zu sehen, bei dem verschiedene Kriterien zu berücksichtigen sind, denen ein unterschiedliches Gewicht zukommt. Da freilich die Ansichten darüber, welche Kriterien im Zweifelsfall den Vorzug verdienen, auseinandergehen, liegt in gewissem Umfang gleichwohl das jeweilige methodische Vorverständnis des Anwenders zugrunde. aa) Ausgangspunkt (und zugleich Grenze) einer jeden Auslegung im klassischen Verständnis ist der mögliche Wortsinn (sogenannte grammatische Auslegung), worunter der natürliche Sprachgebrauch bzw. - soweit eindeutig erkennbar - der besondere Sprachgebrauch des betreffenden Gesetzes zu verstehen ist. Die Anknüpfung an den Wortsinn liegt nicht zuletzt deshalb nahe, „weil angenommen werden kann, daß derjenige, der etwas sagen will, die Worte in dem Sinne gebraucht, in dem sie gemeinhin verstanden werden." 47 Für die oben beschriebene und hier zu bewältigende Problematik des Auseinanderfallens von Gesetzeswortlaut und Einzelfallgerechtigkeit freilich bringt die grammatische Auslegung keine Lösung; überspitzt ausgedrückt könnte man sie sogar eher als Wurzel denn als Lösung des Problems bezeichnen, geht es doch teilweise gerade darum, daß ein Sachverhalt dem Wortsinn nach von einer Norm gerade erfaßt wird, der „eigentlich" nicht darunter fallen soll. Im oben angeführten Beispiel nach BGHSt 38, 211 ergibt eine rein grammatische Auslegung folgenden Befund: Wie sich aus §§ 244 ff. StPO mittelbar ergibt, besteht im Strafverfahren - angesichts fehlender weiterer Regelungen und sub specie Art. 103 I GG48 auch für den Angeklagten - die Möglichkeit, Beweisanträge zu stellen. 45
2f).
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Vgl. Kapitel 4 Überschrift zu Abschnitt 2 und ausdrücklich in Kapitel 4 Abschnitt
Kapitel 4 Abschnitt 2f). Larenz/Canaris Kapitel 4 Abschnitt 2a). 48 Vgl. zur verfassungsrechtlichen Absicherung des Beweisantragsrechts durch Art. 103 I GG unten 2. Teil Β I, S. 118 ff. Genau genommen sind mit der Anwendung 47
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Dabei können Beweisanträge zwar unter den Voraussetzungen der §§ 24411I-V, 245 StPO abgelehnt werden. Doch sind bereits deren Voraussetzungen so eng, daß im Beispielsfall eine Ablehnung aller gestellten bzw. vorbereiteten Beweisanträge unwahrscheinlich gewesen wäre. Vor allem aber wollte das Gericht in dem der Entscheidung BGHSt 38, 211 zugrundeliegenden Fall nicht (nur) einzelne (oder alle) Beweisanträge ablehnen, sondern das Recht des P., Beweisanträge zu stellen, generell einschränken. Die Beschränkung auf die Stellung von Beweisanträgen durch den Verteidiger ist indes nirgends in der Strafprozeßordnung explizit vorgesehen oder auch nur angedeutet, so daß eine grammatische Auslegung eine solche Anordnung unter keinen Umständen decken könnte. bb) Ebenfalls stark am Gesetzestext, aber nicht nur an der konkret auszulegenden Norm, sondern auch an ihrem Umfeld innerhalb des Gesetzes, ist die sogenannte systematische Auslegung orientiert. Wegen der vielfältigen Bedeutungsmöglichkeiten, die auch die meisten Alltagsbegriffe enthalten, ist die jeweils im Einzelfall ausschlaggebende Bedeutung oft besser zu erfassen, wenn man sieht, in welchem Zusammenhang der Begriff jeweils gebraucht wird. 49 Dabei darf man freilich nicht die Augen davor verschließen, daß es in nicht unerheblichem Maße auch wieder vom Vorverständnis 50 des Gesetzesinterpreten abhängt, ob man Regelungen in parallelen oder in unmittelbarer Nähe zur auszulegenden Norm gelegenen Vorschriften als exemplarisch oder gerade als Ausnahmevorschrift versteht. 51 Gerade die Gesetzessystematik i.S.d. näheren eines Gegenschlusses aus § 244 III StPO und/oder einer Berufung auf das GG die Grenzen einer puristisch verstandenen grammatischen Auslegung i.S. einer Nachvollziehbarkeit aus dem Gesetz ohne eigenen Erkenntnisakt schon überschritten. „Rein grammatische" Auslegung soll hier nur so zu verstehen sein, daß noch keine weiteren Auslegungstopoi mit herangezogen werden. 49 Larenz/Canaris Kapitel 4 Abschnitt 2b) stellen mit Recht fest, daß es sich bei der systematischen Auslegung insofern um den einfachsten Anwendungsfall der aus der Semantik bekannt gewordenen Figur des „hermeneutisehen Zirkels" handelt. Ebda, auch anschauliche Beispiele zur systematischen Auslegung aus dem Bereich des Zivilrechts. 50 Vgl. zur Problematik des Vorverständnisses auch unten 2. Teil A III 1, S. 100 ff. 51 Ein anschauliches Beispiel dafür aus dem Bereich des Strafverfahrensrecht bildete der - seit der Entscheidung BGHSt 38, 214 überholte - Streit darüber, ob ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 136 StPO zu einem Verwertungsverbot für die so gewonnene Aussage führt. Teilweise wurde gegen die Annahme eines Beweisverwertungsverbot hier systematisch mittels eines Gegenschlusses zu § 136a III 2 StPO argumentiert: da dort die Unverwertbarkeit der Aussage ausdrücklich angeordnet ist, müsse bei der benachbarten Vorschrift des § 136 StPO das Fehlen einer entsprechenden Anordnung so verstanden werden, daß hier eine Verwertbarkeit grundsätzlich möglich ist. Die Gegenmeinung sah hingegen in § 136a III 2 StPO nur eine spezielle Regelung für den Fall, daß der Beschuldigte der Verwertung zustimmt. Vgl. dazu die Darstellung bei Roxin, § 24 Rn. 33 ff. (welcher selbst freilich schon vor der Entscheidung BGHSt 38, 214 für ein Beweisverwertungsverbot eintrat). Das Beispiel zeigt, daß eine systematischen Auslegung im Einzelfall die Auslegung der Norm(en) voraussetzt, die ihrerseits zur Auslegung einer anderen Norm herangezogen werden sollen. Daß dabei nicht wieder eine systematische Auslegung anhand der,Ausgangsnorm" erfolgen kann, liegt auf der Hand, da sonst aus dem hermeneutischen Zirkel ein Zirkelschluß zu werden droht.
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Umfelds der auszulegenden Norm ist damit in hohem Maße ambivalent. Allerdings wird man mit Hilfe anderer Kriterien häufig Anhaltspunkte dafür finden können, in welche Richtung die Systematik eher deutet. Des weiteren können sich Auslegungsgesichtspunkte im Einzelfall auch aus dem größeren gesetzlichen Zusammenhang ergeben, so z.B. hinsichtlich der Frage, welche Zwecke ganze Abschnitte eines Gesetzes verfolgen und für welches Auslegungsergebnis diese Zwecke streiten. In unserem Beispielsfall könnte man unter systematischen Gesichtspunkten an eine Einschränkung des Beweisantragsrechts bei Mißbrauch in der Form denken, wie sie beim Fragerecht nach § 241 I StPO möglich ist; allerdings ist dieses Argument ambivalent und könnte auch Grundlage eines Gegenschlusses bilden. Auch eine Parallele zur Ablehnung eines einzelnen Beweisantrags wegen Verschleppungsabsicht nach § 244 III 2 Mod.6 StPO ist bereits nicht eindeutig, da aus der speziellen und engen Regelung auch der Schluß gezogen werden könnte, daß weitere Einschränkungen des Beweisantragsrechts (auch und gerade durch seine Entziehung) keinesfalls möglich sein sollen. cc) Wenn der allgemeine (oder besondere gesetzliche) Sprachgebrauch und die Systematik noch verschiedene Deutungen einer Norm zulassen, können zur Auslegung - soweit erkennbar - die Regelungsabsicht und die Normvorstellungen des Gesetzgebers herangezogen werden. 52 Teilweise wird dabei die historische Auslegung i.S. einer Auslegung anhand von früheren gesetzlichen Regelungen noch von der als genetische bezeichneten Auslegung anhand der Gesetzgebungsmaterialien unterschieden. 53 Insbesondere bei Normen, die nachträglich und erst in verhältnismäßig jüngerer Zeit ins Gesetz aufgenommen wurden (wie es bei zahlreichen Vorschriften der StPO der Fall ist 54 ) können sich hieraus Anhaltspunkte dafür ergeben, welche Grenzfälle der Gesetzgeber gerade erfaßt wissen wollte und welche nicht. 55 dd) Schließlich wird als letzte Form des klassischen Auslegungskanons die sogenannte teleologische Auslegung genannt, die sich an Sinn und Zweck einer Norm orientiert. Um den Unterschied zur historischen Auslegung (i.S.d. vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks) klarzumachen, kann man hier mit Larenz/Canaris von „objektiv teleologischen" Kriterien sprechen. Diese sollen 52
Vgl. zur historischen Auslegung Larenz/Canaris Kapitel 4 Abschnitt 2c) (beachtenswert dort v.a. die Gedanken darüber, wer in diesem Zusammenhang als „Gesetzgeber" zu sehen ist). 53 Vgl. Müller, 204 ff.. 54 Vgl. exemplarisch die interessante Auflistung der Beschleunigungs- und Rechtspflegeentlastungsgesetzgebung bei Scheffler, GA 1995, 449 ff. 55 Neben einer klaren Antwort durch den Gesetzgeber in die eine oder andere Richtung ist es außerdem möglich, daß der Gesetzgeber die Lösung einer Frage bewußt Rechtsprechung und Lehre überlassen wollte; in solchen Fällen steht dann zumindest fest, daß der gesetzgeberische Wille einem bestimmten Ergebnis nicht entgegensteht und somit ein „Wettbewerb des besseren Arguments" jedenfalls möglich ist.
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entweder unabhängig von konkreten Äußerungen des Gesetzgebers jeder rechtlichen Regelung zugrunde liegen (wie die Forderung nach gerechter Sachentscheidung oder ausgewogener Berücksichtigung aller betroffenen Interes sen56), oder sie ergeben sich aus den Strukturen des geregelten Sachbereichs und dem Erfordernis „sac/igerechter" Problemlösungen. Dieses spezifisch auf den Zweck abstellende Auslegungskriterium hat naturgemäß mit dem Rechtsmißbrauch, der als zweckwidriger Einsatz einer Befugnis umschrieben wurde, die meisten Berührungspunkte. 57 Aus diesem Grund liegt es aber auch nahe, daß die Einwände, die gegen eine Überbetonung der teleologischen Auslegung denkbar sind, gegenüber einem allgemeinen Mißbrauchsprinzip ähnlich oder sogar in besonderer Weise angebracht werden können. Gerade bei den objektiv-teleologischen Kriterien im o.g. Sinne ist sorgfältig zu prüfen, ob sie sich aus dem Gesetz selbst (mittels grammatischer oder systematischer Argumente), aus seiner Entstehungsgeschichte (mittels historischer oder genetischer Argumente) oder aus einer anderen Rechtsquelle (wie bei der im Anschluß kurz dargestellten verfassungskonformen Auslegung) ergeben und nicht nur ein rechtspolitisches Postulat ohne eine lege artis ableitbare Grundlage im Gesetz enthalten. Gerade mit teleologischen Argumenten ist in vergleichsweise hohem Maße die Gefahr einer subjektiv gefärbten Festlegung des Gesetzeszwecks und einer damit verbundenen Auslegung verbunden, die nur bereits vorher gewünschte Ergebnisse bestätigen soll. Andererseits kann kaum bestritten werden, daß jede Rechtsnorm als Sollensnorm eine sinnvolle Regelung i.d.S. treffen sollte, daß der mit ihr verfolgte Zweck bestmöglich zur Geltung gelangt. Die teleologische Auslegung (und ebenso das Mißbrauchsverbot) haben aber (u.a.) das Ziel, den Gesetzeszweck stärker zu akzentuieren. Da nun aber gesetzliche Regelungen nicht um ihrer selbst Willen angewandt werden, sondern gerade um in der Lösung sozialer Interessenkonflikte im weitesten Sinne bestimmte Ziele zu erreichen, 58 darf die Bedeutung teleologischer Argumente auch nicht unterschätzt werden. Eine
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Vgl. Larenz/Canaris Kapitel 4 Abschnitt 2d) Ähnlich Mader, S. 134 m.w.N. 58 Völlig zutreffend sieht Haft, Juristische Rhetorik, 1990, 11 f. das Wesen des Rechts im Ausgangspunkt darin, „das Chaos sozialer Konflikte zu bewältigen", wozu die verschiedenen Argumente vorgebracht und gewichtet sein wollen. Dies aber könne „genau gesehen auch ohne Gesetze, alleine aufgrund einer Beschäftigung mit dem Fall selbst, erfolgreich geschehen. Denn entweder ist die Entscheidung mehr oder weniger eindeutig vorgezeichnet; dann bedarf es des Gesetzes nicht. Oder sie ist problematisch und kann ebensogut wie im einen auch im anderen Sinne gefällt werden; dann hilft das Gesetz im Grunde genommen auch nicht weiter." Ergänzend könnte man sogar noch hinzufügen, daß das Gesetz in Fällen, in denen es einer relativ eindeutig vorgezeichneten Lösung entgegensteht, eher schadet als nützt. Vgl. dazu auch Naucke, in: Geerds/Naucke, Festschrift für Hellmuth Mayer, 1966, 565, 567 f. 57
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Reihe von Autoren geben deshalb bei einem unklaren Auslegungsergebnis sogar der teleologischen Auslegung den Vorrang. Im Ausgangsbeispiel nach BGHSt 38, 111 könnte man zwar unter teleologischen Gesichtspunkten als (selbstverständlich noch näher zu belegende59) These davon ausgehen, daß Sinn und Zweck des Beweisantragsrechts des Angeklagten, nämlich einen Beitrag zur Sachaufklärung (oder jedenfalls doch zur Annahme eines bestimmten, durchaus auch für ihn günstigen Sachverhalts) leisten zu können,60 durch rein verfahrensboykottierende Anträge nicht erfüllt werden können. Allerdings findet sich im Beweisantragsrecht ausdrücklich gerade keine Norm, die einer solchen Auslegung zugänglich wäre, so daß die teleologischen Argumente alleine nicht weiterhelfen. Sogar die Ansicht, die der Teleologie im Zweifel den Vorrang einräumt, käme zu keinem anderen Ergebnis, da gerade kein Zweifelsfall besteht. ee) Aus der im deutschen Recht geltenden Normenhierarchie, die auch in Art. 1 III, 20 I I I ihren Ausdruck findet, kann schließlich das Gebot einer verfassungskonformen Auslegung abgeleitet werden. 61 Diese unterscheidet sich allerdings von den bisher genannten Auslegungskriterien dadurch, daß sie keine eigenen Argumente für das Textverständnis vorgibt, sondern nur als Kontrolle des mittels anderer Argumente gefundenen Ergebnisse fungiert: 62 Da Rechtsnormen, die formell oder materiell mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, i.d.R. nichtig sind,63 ist bereits nach dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers im Zweifel die (bzw. eine) Auslegung zu wählen, die mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Dies gilt um so mehr, als auch das Grundgesetz nicht zu einem weitreichenden rechtlichen Vakuum, sondern zu verfassungsgemäßen gesetzlichen Regelungen führen soll. Das BVerfG drückt dies mit den Worten aus: „Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen jedenfalls eine zu einem verfassungsgemäßen Ergeb-
59
Vgl. zur Wahrheitsermittlung unten 2. Teil C III 2 b, S. 209 ff. Zum Zusammenhang zwischen gerichtlichen Aufklärungspflicht und dem Beweisantragsrecht der übrigen Prozeßsubjekte vgl. SK/SiPO-Schlüchter, § 244 Rn. 52 f.; soweit insofern die gerichtliche Aufklärungspflicht und die Antragsrechte der übrigen Prozeßsubjekte als nicht vollständig deckungsgleich verstanden werden, so bezieht sich dies in erster Linie auf den Umfang der dadurch jeweils ausgelösten Pflicht zur Beweisaufnahme, weniger auf unterschiedliche Zwecke beider Institute. 61 Vgl. dazu Larenz/Canaris Kapitel 4 Abschnitt 2e. Speziell zur Bedeutung der Verfassung für das Strafprozeßrecht in einer „hierarchisch verstandenen Rechtsordnung" auch Tiedemann, in: Wasserburg/Haddenhorst (Hg.), Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren, Festgabe für Karl Peters, 1984, 131, 143 ff. 62 Soweit dagegen bestimmte Verfassungsnormen als Argument für die Bedeutung des Normtexts herangezogen werden, liegt keine verfassungskonforme Auslegung i.e.S., sondern eine systematische Auslegung anhand eines anderen Normtextes vor. 63 Unstreitig, vgl. statt vieler nur Jarass/Pieroth-7ara55, Art. 20 Rn. 23a; dort wird auch klargestellt, daß diese Folge nur eintritt, wenn keine verfassungskonforme Auslegung möglich ist. 60
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nis führt, so ist diese geboten."64 Wegen der zentralen Garantie von Grundrechten im Grundgesetz dürfte der Gesichtspunkt der Verfassungskonformität im Strafprozeßrecht die größte Rolle bei der Auslegung staatlicher Eingriffsbefugnisse, d.h. vor allem strafprozessualer Zwangsmaßnahmen, spielen.65 Speziell für die verfassungskonforme Auslegung gilt daher, daß diese - wenn überhaupt - eine Alternative zur Arbeit mit dem Prinzip des Rechtsmißbrauchs vor allem darstellen kann, soweit es um einen Mißbrauch durch die staatlichen Strafverfolgungsbehörden geht.66 Die verfassungskonforme Auslegung i.e.S. ist somit in unserem Ausgangsbeispiel ohne Bedeutung, da sich das vom BGH vertretene Ergebnis weder aus anderen Kriterien ergibt noch (selbst wenn es begründet werden könnte) als einzig verfassungsgemäßes zu erachten ist. Ein systematisches Argument aus dem Verfassungsrecht, das insbesondere von der Rechtsprechung - gerade in Extremfällen, wie dem in BGHSt 38, 111 geschilderten - für die Einschränkung von Verteidigungsrechten herangezogen wird, betrifft im übrigen die im Rechtsstaatsprinzip verankerte Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege. Ohne hier bereits auf diesen höchst umstrittenen Topos näher einzugehen, kann man aber davon ausgehen, daß er alleine eine im Gesetz vorgesehene Einschränkung nur selten zu tragen vermag.67 ff) Ein Überblick über die wichtigsten Auslegungskriterien führt zu dem Ergebnis, daß durchaus einzelne (in unserem Beispielsfall sogar alle) Kriterien Argumente dafür beisteuern können, einen zweckwidrigen Einsatz von Befugnissen zu unterbinden. Allerdings können diese nach dem klassischen Verständnis von der Auslegung ihre Wirkung erst entfalten, wenn die erforderliche Mißbrauchsreaktion im Gesetzestext mehr oder weniger deutlich vorgesehen ist. Wo aber keine Rechtsnorm besteht, die einer entsprechenden Auslegung zugänglich wäre, kann aus einer solchen auch kein bestimmtes Ergebnis abgeleitet werden, selbst wenn dieses Ergebnis mit den für eine Auslegung geltenden Kriterien an sich begründet werden könnte. Traditionell ausgedrückt: Der Wortsinn ist die äußerte Grenze einer jeden Auslegung,68 d.h. auch durch an64
BVerfGE 88, 145, 146 Dagegen dürfte mit z.B. der Anerkennung sogenannter selbständiger verfassungsrechtlicher Be weis verwertungs verböte die Grenze der Auslegung i.e.S. bereits überschritten sein. 66 Oben wurde bereits erwähnt, daß von der h.M. aus Gründen der Verfassungskonformität auch Einschränkungen staatlicher Befugnisse bedenkenlos hingenommen werden, für die es im Wortlaut der entsprechenden Norm keine Anhaltspunkte gibt. 67 Offenbar mit größerem Zutrauen in den Funktionstüchtigkeitsgrundsatz als Auslegungskriterium aber Malmendier , NJW 1997, 227, 228. 68 H.M., vgl. etwa aus der Literatur Larenz/Canaris Kapitel 4 Abschnitt 2f); Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 83; Bydlinski, 467 ff.; speziell aus dem strafrechtlichen Schrifttum z.B. Tröndle, § 1 Rn. 10a; Sch/Sch-Eser, § 1 Rn. 55; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 1996, § 17 IV 5; Wessels, Strafrecht AT, 1995 §211 Rn. 56; aus der Rechtsprechung etwa BVerfG 71, 108, 114 f.; BGHSt 28, 224, 230; 20, 129, 133; 34, 171, 178; kritisch zur absoluten Tragfähigkeit einer Wortlautgrenze Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 78 f., der aus sprachwissenschaftlicher Sicht be65
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
dere als die grammatische Auslegung können nur Rechtsfolgen begründet werden, die vom Wortsinn einer entsprechenden Rechtsnorm gedeckt sind. Das führt für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Auslegung und der Figur des Rechtsmißbrauchs zu zwei, zumindest auf den ersten Blick z.T. durchaus konträren, Antworten: - Einerseits könnten die Kriterien, die für die Auslegung herangezogen werden, auch der Beantwortung der Frage dienen, wann ein Rechtsmißbrauch vorliegt, da sie für die Ermittlung des Normzwecks von Bedeutung sind. Methodisch gesehen stellt die Orientierung an solchen Kriterien einen Gewinn an Nachvollziehbarkeit und Rechtssicherheit gegenüber irgendwelchen überpositiven Gerechtigkeitsvorstellungen dar. - Andererseits ist aber auch zu berücksichtigen, daß die Anerkennung der Wortlautgrenze mit der h.M. nur dann sinnvoll ist, wenn sie nicht dadurch unterlaufen wird, daß über die Wortsinngrenze hinaus, d.h. also praeter oder sogar contra legem, der gleiche Gedankengang nur in eine andere methodische Form gegossen wird. M.a.W.: die Arbeit mit einem überpositiven Prinzip des Mißbrauchsverbots darf nicht dazu führen, daß die Grenzen der möglichen Auslegung bedeutungslos werden. Diese letzte Gefahr ist der Rechtsfindung außerhalb des Bereichs secundum legem allerdings allgemein immanent und gilt z.B. ganz genauso für den in der Methodenlehre einhellig anerkannten Analogieschluß. Daher kann sie kein ausschlaggebendes Argument gegen ein allgemeines Mißbrauchsverbot sein, sofern man eine Rechtsfindung außerhalb des geschriebenen Gesetzesrechts überhaupt zuläßt. Wichtiger erscheint es, die Grenzen zu ziehen, innerhalb derer ein solches Vorgehen möglich ist. Die Begrenzungsfunktion des Wortlauts bei der Auslegung im klassischen Sinne führt dabei zu zwei Forderungen: - Zum einen muß eine Ableitung von Rechtsfolgen aus einem ungeschriebenen Mißbrauchsverbot auf (natürlich noch näher zu beschreibende) enge Ausnahmefälle beschränkt bleiben,69 um das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Wortsinngrenze und Rechtsfortbildung nicht umzukehren.
zweifelt, daß die Bedeutung eines Wortes „statisch (sc. ist), (...) nur dem Wort selbst (sc. anheftet) und (...) von der nur äußerlich hinzutretenden Verwendungssituation unabhängig" ist. Vgl. zur Problematik einer Wortsinngrenze auch Haft, Juristische Rhetorik, 1990, 86 ff., 153 f., der das stete Erfordernis einer Begriffsangleichung durch „Deduktion, Induktion und Analogie zugleich" betont. 69 So das Postulat für die Rechtsfindung contra legem bei Bydlinski, 496 f, das aber - wenngleich in abgeschwächter Form - auch für die Rechtsfindung praeter legem gilt: auch hier kann der Rechtsanwender nämlich seine Entscheidung nicht auf die Autorität des Gesetzeswortlauts stützen. Zwar wird das Kriterium des „engen Ausnahmefalls" bei den Voraussetzungen der Analogie nie als solches erwähnt; allerdings wird der Anwendungsbereich von Analogien in äquivalenter Weise eingeschränkt wenn man die Vor-
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- Zum anderen muß es eine absolute Grenze dort geben, wo sich die Möglichkeit der Mißbrauchsabwehr nicht nur nicht aus dem Gesetz ergibt, sondern wo ihr das Gesetz sogar - ausdrücklich oder konkludent, z.B. durch abschließende Regelungen - entgegensteht. Ein strafprozessuales Beispiel für eine solche absolute Grenze dürfte § 246 I StPO darstellen, wonach ein Beweisantrag nicht mit der Begründung abgelehnt werden darf, er sei zu spät gestellt worden: Würde man in diesem Verhalten einen Mißbrauch sehen, würde diese Vorschrift unterlaufen. Daher kann in der späten Stellung eines Beweisantrags alleine noch kein Mißbrauch gesehen werden.70 Ein Mißbrauch alleine durch das zögerliche Stellen ist damit ausgeschlossen. Problematischer sind die Fälle der möglicherweise abschließenden Regelungen: So wird mit guten Gründen etwa ein abschließender Charakter für die Ablehnung von Beweisanträgen vertreten, die in § 244 StPO eine sehr ausdifferenzierte Regelung gefunden hat. Allerdings lassen sich selbst dort auch die Einbruchsteilen der vermeintlichen Abgeschlossenheit demonstrieren: Zum einen könnte die abschließende Wirkung nur so weit gehen, wie der Anwendungsbereich der Regelung. So können die Vorschriften über die Ablehnung eines Beweisantrags kaum abschließend regeln, ob nach dem allgemeinen Mißbrauchsverbot bereits das Recht, überhaupt Beweisanträge zu stellen, eingeschränkt werden kann. Zum anderen ist sogar zweifelhaft, ob § 244 III 2 StPO (der regelt, wann der zulässige Antrag auf die Durchführung einer an sich zulässigen Beweiserhebung abgelehnt werden kann) als abschließende Regelung der Annahme entgegensteht, daß das allgemeine Mißbrauchsverbot zur Unzulässigkeit des Beweisantrags bzw. zu einer i.S.d. § 244 III 1 StPO unzulässigen Beweisaufnahme führt. Überzeugender erscheint es daher, hier aus bestehenden Einzelregelungen gewichtige Argumente gegen die Annahme eines ungeregelten Mißbrauchs abzuleiten, jedoch keine unüberwindbare Grenze.
b) Rechtsfindung praeter legem Es entspricht der heute (und weitgehend auch schon früher 71) h.M., daß sich die Befugnisse der Rechtsanwender nicht in der Auslegung erschöpfen, sondern daß in bestimmten Grenzen auch eine Fortbildung des Rechts erforderlich
aussetzungen der (insbesondere) planwidrigen Regelungslücke und der vergleichbaren Interessenlage ernst nimmt. 70 Ebenso kann im übrigen wegen der damit verbundenen Verlängerung des Prozesses kein mißbräuchlicher und damit unzulässiger Beweisantrag gesehen werden, wenn dieser zur Sachverhaltsaufklärung beitragen kann; die Verschleppungsabsicht i.S.d. § 244 III 2 StPO setzt nämlich zumindest nach h.M. voraus, daß Gericht der Überzeugung ist, daß die Beweiserhebung nichts zugunsten des Antragstellers ergeben wird und daß auch der Antragsteller sich dessen bewußt ist, vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 67 m.w.N. 71 Vgl. zu der unterschiedlichen Vorstellung von der erforderlichen Gesetzestreue in der Geschichte knapp Larenz/Canaris Kap 5 Abschnitt 1., ausführlicher Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat, 1986, 1 ff., 13 ff.; Hübner, Kodifikation und Entscheidungsfreiheit des Richters in der Geschichte des Privatrechts, 1980, 7 ff.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
ist. Grund dafür ist, daß auch ein „noch so sorgsam bedachtes Gesetz nicht für jeden einer Regelung bedürftigen Fall, der dem Regelungsbereich des Gesetzes zuzurechnen ist, eine Lösung enthalten kann." 72 Wenngleich es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers ist, solche Gesetzeslücken zu füllen, so muß doch - bis dies geschieht oder auch wenn es gar nicht geschieht (bzw. nicht geschehen kann!) - der Rechtsanwender die Möglichkeit haben, die Lücken zu schließen, um zu einer „sinnvollen", d.h. hier den Wertungen des Gesetzes und der Gesamtrechtsordnung entsprechenden Lösung zu kommen. Dies gilt um so mehr, soweit (rechtlich oder faktisch) eine Entscheidungspflicht des Rechtsanwenders besteht (Gedanke des „Rechtsverweigerungsverbotes" 73). Als Instrumente stehen dabei nach h.M. vor allem die Analogie, die argumenta a maiore, a minore und e contrario sowie die teleologische Reduktion zur Verfügung. aa) Der in der allgemeinen Methodenlehre und vor allem der Rechtspraxis wichtigste Fall der Rechtsfortbildung ist die sogenannte Analogie 74, d.h. der Schluß von einem individuellen Fall auf die Behandlung eines anderen, aber ähnlichen individuellen Falles (argumentum a simile). 15 Aus dem Charakter der Analogie als Instrument zur gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung und aus ihrer Funktionsweise mit dem argumentum a simile ergeben sich ihre beiden Grundvoraussetzungen: das Vorliegen einer (planwidrigen) Regelungslücke und die Vergleichbarkeit der Interessenlage in den beiden zu vergleichenden (bzw. gleich zu behandelnden) Fällen. Ein wichtiger Unterschied zum Verbot des Mißbrauchs i.S.d. Zweckwidrigkeit ist damit, daß die entscheidende Wertung zur Lösung des Falles aus einer anderen Norm kommt. Dies hat regelmäßig den Vorteil, daß diese andere Norm im Vergleich zur Beurteilung als zweckwidrig eindeutiger erscheint; allerdings kann nicht übersehen werden, daß der Rechtsanwender sich damit von der ursprünglich die Fallösung regierenden Norm noch weiter entfernt als bei der Arbeit mit dem Mißbrauchsprinzip.
72
Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 1, S. 187 Vgl. zu diesem Gedanken (m.w.N. in FN 3) Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 1, S. 189. 74 Vgl. zum folgenden Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 2b; Bydlinski, 475 ff. 75 Damit erfolgt eine Abgrenzung der Analogie von der Deduktion (Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere) und der Induktion (Schluß vom Besonderen auf das Allgemeine). Teilweise wird die Analogie freilich als Kombination von vorhergehender Induktion und nachfolgender Deduktion verstanden (so z.B. bei Klug, Juristische Logik, 1982, 115 ff.), indes erscheint dies nicht als einzige Möglichkeit der Analogie, da der Schluß von einer Besonderheit auf die Behandlung einer anderen Besonderheit gerade nicht notwendig etwas darüber aussagt, ob es jenseits dieser (gleich behandelten) Sonderfälle auch eine allgemeine Regel gibt. Bydlinski, 477 ff. unterscheidet nach diesem Kriterium zwischen Gesetzesanalogie (reines argumentum a simile) und Rechtsanalogie (Induktion und Deduktion). Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 2b, S. 204, differenzieren ähnlich, bevorzugen aber dabei das Begriffspaar „Einzelanalogie - Gesamtanalogie44. 73
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Während mangels Rückgriffs auf andere Normen das Erfordernis der gleichen Interessenlage für die Figur des Rechtsmißbrauchs i.S.d. Zweckwidrigkeit unergiebig ist 76 und deswegen nicht näher untersucht werden soll, spielen bei der Bestimmung einer Regelungslücke Aspekte eine Rolle, die auch für die Figur des Rechtsmißbrauchs von Interesse sein könnten. Hierbei ist nach h.M. insbesondere darauf zu achten, daß nicht jede Unvollständigkeit bzw. jedes Schweigen des Gesetzes zu einer (planwidrigen) Regelungslücke in diesem Sinne führt; 77 vielmehr ist es auch möglich, daß das Gesetz einen bestimmten Sachverhalt überhaupt nicht regeln (und damit u.U. auch nicht anerkennen) wollte 78 oder aber daß das Gesetz die bestehende Regelung für ausreichend hält und andere, interessenverwandte Sachverhalte gerade nicht unter die Regelung mit einbeziehen möchte.79 Eine der Füllung durch Analogie zugängliche „Lücke" liegt also nur vor, wenn - das Gesetz für einen bestimmten Fall überhaupt eine Regelung anstrebt und - die getroffenen Regelung (d.h. entweder der Rechtssatz als solcher oder der gesetzliche Regelungskomplex80) auf eine mit der Lösung des Falles zusammenhängende Frage entweder überhaupt keine Auskunft 81 oder aber eine 76 Eine davon zu unterscheidende Frage ist, ob man Mißbrauchsfälle z.B. in einer Analogie zu § 241 I StPO lösen könnte, was allerdings - wie sogleich noch näher gezeigt wird - regelmäßig nicht der Fall ist. 77 Vgl. dazu Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 2a; Bydlinski, 472 ff. Ausführlich zur Problematik der verschiedenen Gesetzeslücken Canaris , Die Feststellung von Lükken im Gesetz, 1983. 78 Vgl. dazu Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 2a mit dem Beispiel des Wohnungseigentums. 79 Ein Beispiel für den letztgenannten Fall bildet § 181 BGB: Dieser soll nach h.M. als eine Art formale Ordnungsvorschrift auf Fälle der „Doppelvertretung" und des „Selbstkontrahierens" begrenzt und nicht analog auf alle sonstigen Interessenkonflikte bei der Stellvertretung (z.B. Übernahme einer selbstschuldnerischen Bürgschaft mit Wirkung gegenüber dem Vertretenen für eine Schuld des Vertreters) anwendbar sein. Vgl. Paiandt-Heinrichs, § 181, Rn. 1. Etwas ähnliches gilt grundsätzlich auch für den Anwendungsbereich des § 1374 II BGB, der unter dem Gesichtspunkt der bewußten Pauschalierung des Zugewinnausgleichs nur sehr vorsichtig auf interessenverwandte Vermögenszuwächse ausgedehnt wird, vgl. Pdlmdt-Diederichsen, § 1374 Rn. 26. Aus dem Bereich des Strafprozeßrechts ist die Entscheidung BVerfGE 33, 367 ff. bekannt, wonach der Katalog der zeugnisverweigerungsberechtigten Personen in § 53 StPO wegen der Interessen an einer funktionstüchtigen Rechtspflege grundsätzlich keiner Erweiterung zugänglich ist. 80 Vgl. zu diesen beiden unterschiedlichen Arten von Lücken, denen die nachstehend im Text genannten funktionalen Unvollständigkeiten entsprechen m.w.N. Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 2a, insb. S. 193 81 Ein leicht verständliches Beispiel liefert auch hier wieder das Zivilrecht: Eine unvollständige Regelung in dem Sinne, daß das Gesetz dem Anwender eine zur Fallösung unerläßliche Auskunft verweigert, enthält § 904 S.2 BGB, nach dem der Eigentümer, der nach §904S.l BGB eine Einwirkung nicht verbieten darf, einen Anspruch auf Schadensersatz hat. Hier fehlt eine Regelung, wer schadenersatzpflichtig ist, wenn der
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
mit dem Gleichheitsgrundsatz oder der Regelungsabsicht des Gesetzes nicht zu vereinbarende Antwort gibt. 82 Dabei ergibt sich das Erfordernis (und damit letztlich auch die Berechtigung des Rechtsanwenders zu) einer Lückenfüllung im ersten Fall (d.h. bei einer wirklich fehlenden Regelung) zwanglos bei der Annahme eines „Rechtsverweigerungsverbotes". Aber auch methodisch bestehen gegen die Befugnis zur Lückenfüllung in diesen Fällen keine Bedenken: der Wille des Gesetzgebers wird nicht mißachtet, da diesem die Lückenfüllung als Konsequenz jedenfalls näher steht als die alternativ denkbare völlige Nichtanwendung des Gesetzes. Dagegen ist bei einer Lückenfüllung wegen Ergebnissen, die sich unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und der Regelungsabsicht des Gesetzgebers als unbefriedigend erweisen, Zurückhaltung geboten: Sowohl „die Gerechtigkeit" 83 als auch „die Regelungsabsicht des Gesetzgebers" sind schwer operationalisierbare Größen, die im Einzelfall als Vorentscheidung eine eigenständige Wertung des Rechtsanwenders voraussetzen. Dabei ist zu beachten, daß einerseits nicht jeder (vermeintliche) rechtspolitische Fehler zu einer Gesetzeslücke führt, andererseits aber auch nicht nur die bewußt getroffenen Entscheidungen des Gesetzgebers zu berücksichtigen sind, „sondern auch solche objektiven Rechtszwecke und allgemeinen Rechtsprinzipien, die in das Gesetz Eingang gefunden haben", wie insbesondere „der Grundsatz der Gleichbehandlung des GleichartigenBereits ohne eine nähere Konkretisierung der Zweckwidrigkeit als Voraussetzung eines Rechtsmißbrauchs läßt sich prognostizieren, daß es sich dort ähnlich verhält: Die den Mißbrauch bestimmenden Faktoren dürften ähnlich schwer operationalisierbar sein, so daß von dieser Figur ebenfalls nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht und nicht jedes unbefriedigend er-
Einwirkende und der von der Einwirkung Begünstigte nicht identisch sind. Zwar füllt die h.M. (vgl. Palandt-Bassenge, § 904 Rn. 5 m.w.N.) diese Lücke nicht durch einen Analogieschluß, sondern eher aufgrund einer allgemeinen Interessenabwägung; dies liegt allerdings daran, daß es zu dieser sehr speziellen Frage eine andere interessenverwandte Einzelnorm nicht gibt. 82 Unvollständige Regelungen in dem Sinne, daß sich mit Hilfe des Gesetzes die Rechtsfrage zwar lösen läßt, das Ergebnis aber unbefriedigend erscheint, gibt es im Be reich des Zivilrechts zuhauf. Als Beispiele seien nur die analoge Anwendung des § 223 BGB auf eine unter Eigentumsvorbehalt gelieferte Sache (vgl. Paiandt-Heinrichs, § 223 Rn. 3), die analoge Anwendung der kurzen Verjährung nach § 558 I BGB auf konkurrierende Deliktsansprüche (vgl. Paiandi-Putzo, § 558 Rn. 7) oder die analoge Anwendung des § 770 BGB auf andere Gestaltungsrechte und das Wandelungsrecht des Hauptschuldners (vgl. Palandt-Thomas, § 770 Rn. 4) genannt. 83 Zur Gerechtigkeit unter dem Aspekt als einem Ziel des Strafprozesses vgl. unten 2. Teil C III 2 c, S. 213 ff. 84 Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 2a, S. 195 (Hervorhebung dort); vgl. dort auch zur Unterscheidung von Regelungszweck und rechtspolitischen Postulaten.
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scheinende Ergebnis mit der Berufung auf einen angeblichen Mißbrauch (und damit gegen den Gesetzes Wortlaut) korrigiert werden kann. Die eingeschränkten Möglichkeiten, mit Hilfe von Analogien den Mißbrauch im Strafprozeß einzudämmen, verdeutlicht die als Ausgangsfall dargestellte Entscheidung, das Beweisantragsrecht des Angeklagten auf die Stellung von Beweisanträgen durch den Verteidiger zu beschränken: - Zunächst wäre die Frage zu stellen, ob im Strafprozeß nicht überhaupt ein Verbot der Analogie zu Lasten des Beschuldigten gilt. 85 Ein solches könnte sich aus Art. 103 I I GG oder dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt ergeben. 86 Die Grenzen einer Rechtsfortbildung außerhalb des Bereichs secundum legem im Strafprozeßrecht sollen hier allerdings noch nicht vertieft werden, sondern werden im Mittelpunkt des Kapitels Β des 2. Teils stehen, in dem die verfassungsrechtliche Beurteilung eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots erfolgt. Selbst wenn man aber grundsätzlich eine Analogie zuläßt, erweisen sich ihre Voraussetzungen als zweifelhaft: - Das Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke ist nicht unproblematisch, da die Gründe für die Ablehnung von Beweisanträgen in einzelnen engen Fallgruppen geregelt sind. Ob daneben noch die Möglichkeit einer (weitergehenden) Einschränkung dieses Rechts durch Analogieschlüsse mittels anderer Normen bestehen soll, ist fraglich, aber eventuell mit der Begründung vertretbar, daß es nicht um die Ablehnung bereits gestellter Beweisanträge, sondern um eine Beschränkung des Beweisantragsrechts für die Zukunft geht. - Des weiteren müßte als Analogiebasis eine Norm mit der „gewünschten" Rechtsfolge und vor allem einem vergleichbaren Regelungsinhalt gefunden werden. Für die Entziehung einer prozessualen Befugnis wäre als nächstliegende Vorschrift an § 241 I StPO zu denken,87 nach dem die Befugnis zum
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Wichtige Argumente zu dieser Frage finden sich unten 2. Teil Β II, S. 126 ff.: Die Frage nach einem Analogieverbot steht für dort zwar nicht im Mittelpunkt; zu ihrer Beantwortung werden jedoch Argumente herangezogen, die auch für Fragen des Mißbrauchsverbots von Bedeutung sind. 86 Unter methodischen Aspekten wird z.T. diskutiert, inwiefern bestimmte, insbesondere Ausnahme-Regelungen analogiefähig sind; auch bei bewußt abschließenden Regelungen ist eine analoge Anwendung problematisch, wobei es hier eindeutig weniger um die Einschränkung einer (grundsätzlich gegebenen) Analogiemöglichkeit, als vielmehr um das Fehlen einer planwidrigen Unvollständigkeit geht. 87 Femliegend wäre dagegen eine Analogie zu § 247 StPO mit der Begründung, daß die Entziehung einer einzelnen Befugnis ein einzelner Teil der gesamten Entfernung aus der Hauptverhandlung sei: die dort genannten Gründe für eine Entfernung haben völlig andere Ziele vor Augen als die Beschränkung des Beweisantragsrechts im vom BGH entschiedenen Fall, so daß von einer teleologisch vergleichbaren Interessenlage keine Rede sein kann. 6 Kudlich
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Kreuzverhör bei Mißbrauch sogar völlig entzogen werden kann. Allerdings wäre eine Analogie zu § 241 I StPO in mehrerlei Hinsicht Bedenken ausgesetzt: Zum einen ist bereits fraglich, ob § 241 I StPO nicht eine analogieunfähige Sondervorschrift ist, 88 da sie nur das Vernehmungsrecht des § 239 I StPO und bereits nicht das allgemeine Fragerecht des § 240 StPO nennt.89 Zum anderen fehlt es jedenfalls an der Vergleichbarkeit der geregelten Sachverhalte. Während es sich bei § 241 I StPO um den Entzug eines ohnehin nur selten gewährten bzw. in Anspruch genommenen, gleichsam „zusätzlichen" Rechtes geht, ist das Beweisantragsrecht ein zentrales Recht des Angeklagten, zumal es auch sämtliche Beweismittel betrifft, während das Kreuzverhör nur für den Personalbeweis von Bedeutung sein kann. Ferner führt die Entziehung des Beweisantragsrechts dazu, daß bereits auf die Wahl des Beweisstoffes, nicht nur auf die „nähere Arbeit mit dem Beweismittel" kein Einfluß mehr genommen werden kann. Denkbar wäre eine Analogie etwa - ihre grundsätzliche ihre Zulässigkeit unterstellt bei der in der Darstellung der gesetzlichen Vorschriften zur Mißbrauchsabwehr bereits erwähnten Norm des § 266 III 1 StPO: Eine solche wäre konkret in den Fällen der beantragten Aussetzung nach § 265 III StPO bei einer Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes naheliegend.90 Nicht zuletzt aus systematischen Gründen wäre die entsprechende Anwendung des § 266 III 1 StPO dann der Arbeit mit dem ungeschriebenen Mißbrauchsverbot in der Tat vorzuziehen. Will man dagegen - wofür gute, unten noch näher dargelegte91 Gründe sprechen - eine Analogie bei der Verkürzung von prozessualen Befugnissen nicht zulassen, käme auch in diesen Fällen nur eine Berufung auf ein allgemeines Mißbrauchsverbot in Betracht (wenn man ein solches anerkennt). Um den Ausnahmecharakter dieses Vorgehens zu bewahren, müßten hieran zwar strenge Anforderungen gestellt werden, so daß fraglich sein könnte, ob jeder Fall, der unter § 266 III 1 StPO fallen würde, auch eine Einschränkung des § 265 III StPO rechtfertigen könnte. Allerdings kann (auf Grund der insoweit vergleichbaren Zielrichtungen der Aussetzung bei der Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes und der Unterbrechung bei der Nachtragsanklage) die Regelung des § 266 III 1 StPO hierbei durchaus als Begründung mit herangezogen werden. Würde man dagegen eine Analogie aus methodischen Gründen (z.B. mangels entsprechender Interessenlage) ablehnen, wäre dies 88 Die weit verbreitete, letztlich auf den Grundsatz des „singularia non sunt extendenda" (vgl. etwa Dig. 40, 5, 23 § 3 a.E. und 41, 2, 44 § 1) gestützte Auffassung, daß Ausnahmevorschriften eng auszulegen und insbesondere nicht analog anzuwenden seien, wird freilich in dieser strengen Form mittlerweile überwiegend abgelehnt, vgl. nur Bydlinski, 440 (m.w.N. in FN 61). Teilweise wird darauf abgestellt, ob es sich um berechtigte oder verfehlte Ausnahmen handelt (so Bydlinski, a.a.O.); jedenfalls aber wird man eine Analogie in vielen Fällen überzeugender damit ablehnen können, daß die engere ratio der Ausnahmefalles auf den Regelfall eben nicht paßt. 89 Eine Entziehung des Fragerechts des § 240 StPO ist deshalb auch nicht unmittelbar von § 241 I StPO gedeckt; soweit eine solche gleichwohl für möglich gehalten wird, ist dies nur mit dem allgemeinen Mißbrauchsverbot zu begründen, vgl. dazu näher unten 3. Teil Β V, S. 312 ff. 90 So auch Niemöller, StV 1996, 501, 504. 91 Vgl. dazu unten 2. Teil Β II, S. 126 ff.
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zwar keine zwingende Vorentscheidung gegen die Anwendbarkeit des allgemeinen Mißbrauchsverbots, jedoch könnten diese Wertungen häufig auch hier durchschlagen. Lehnt man sowohl die Analogie als auch das ungeschriebene Mißbrauchsverbot im Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts ab, gibt es bei § 265 III StPO konsequenterweise keine Möglichkeit, die Aussetzung abzulehnen. Grenzen der Analogie und damit auch der Problemlösung durch das Hilfsmittel des Analogieschlusses ergeben sich somit also zwar naturgemäß nicht (wie nach h.M. bei der Auslegung) aus dem möglichen Wortsinn. Allerdings ist - soweit man eine Analogie zu Lasten des Beschuldigten im Strafprozeßrecht überhaupt zuläßt - zum einen das Vorliegen einer Regelungslücke, zum anderen die Existenz einer analogiefähigen und funktionsähnlichen Norm erforderlich. Damit ist der Anwendungsbereich zur Lösung von Mißbrauchsproblemen nicht unerheblich eingeschränkt. Andererseits führt dieses Ergebnis auch zu Fragen, die für die Tragfähigkeit eines allgemeinen Mißbrauchsprinzips von Bedeutung sind und die im weiteren Verlauf der Arbeit näher zu untersuchen sind: - Muß nicht auch eine (einer Regelungslücke vergleichbare) planwidrige Unvollständigkeit bestehen, um auf das Mißbrauchsprinzip zurückgreifen zu können? - Auf welche Grundlage, die beim Analogieschluß durch die analog herangezogene Norm gebildet wird, kann sich die Beurteilung eines Mißbrauchs im Strafprozeß überhaupt stützen? -
Stehen nicht die Argumente, die für ein Analogieverbot vorgebracht werden, auch einer Berufung auf das Mißbrauchsprinzip entgegen?
bb) Der Analogie nahe verwandt ist die Arbeit mit den Argumenten „a maiore ad minus" bzw. „a minore ad maiusmit denen ebenfalls ein Schluß von einer Besonderheit auf eine andere Besonderheit gezogen wird. Dabei wird aber nicht wie die Analogie (nur) auf die Ähnlichkeit der beiden Fälle (argumentum a simile), sondern (von Bydlinski 92 deshalb als „Größenschlüsse bezeichnet) auf eine Art Stufenverhältnis abgestellt.93 Freilich liegt in diesem Vorgehen nur eine insoweit „verstärkte Abart des Analogieschlusses", als nicht nur eine Ähnlichkeit, sondern sogar ein „wertungsmäßiges Stufenverhältnis" 92
Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff S. 479 f. Zur Struktur des argumentum a maiore ad minus vgl. Klug, Juristische Logik, 1982, 146 ff. und zu einem Anwendungsfall Larenz/Canarìs Kapitel 5 Abschnitt 2b, S. 208 f.. Eine genaue Unterscheidung zwischen dem argumentum a maiore und dem a minore ist nicht ganz einfach, und man wird regelmäßig das eine oder das andere Argument heranziehen können, ja nachdem, wie man „stärker" und „schwächer" in diesem Zusammenhang versteht. Teilweise scheint aus diesem Grund überhaupt nicht näher zwischen beiden Vorgehensweisen differenziert bzw. der „Erst-recht-Schluß" nur mit dem Begriff des argumentum a maiore da minus gleichgesetzt zu werden, vgl. z.B. Larenz/Canarìs a.a.O. 93
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für das Heranziehen einer bestimmten Rechtsfolge sprechen muß. Daher ergeben sich unter dem Blickwinkel der Mißbrauchsproblematik (bzw. für das ihr zugrundeliegende Spannungsverhältnis zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Normtreue) hier die gleichen Probleme wie bei der Arbeit mit dem Analogieschluß94, so daß grundsätzlich auf diese Ausführungen verwiesen werden kann. So wie oben bereits angezweifelt wurde, ob es - die grundsätzliche Zulässigkeit einer Analogie (und damit auch eines Größenschlusses) unterstellt - eine taugliche Analogiebasis für die Beschränkung des Beweisantragsrechts auf den Verteidiger gibt, ist erst recht keine Grundlage für ein argumentum a maiore oder a minore ersichtlich. Im übrigen ist - nicht nur, aber auch im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Mißbrauchsfällen - gerade hinsichtlich der Größenschlüsse ein Punkt besonders zu beachten. Die Tatsache daß z.B. eine bestimmte, im konkreten Fall zu begründende Rechtsfolge ein Minus gegenüber einer im Gesetz geregelten darstellt, legitimiert noch keinen Erstrecht-Schluß, wenn sich die gesetzliche Regelung auf eine andere Befugnis bezieht: Deshalb erscheint überaus fraglich, ob das Erfordernis der vorherigen schriftlichen Vorlage von Fragen an das Gericht „als »Minusmaßnahme« bereits aus einem Erstrecht-Schluß zu § 241 II StPO" (d.h. also zur Möglichkeit, Fragen auch endgültig zurückzuweisen) abgeleitet werden kann, wie in jüngster Zeit Malmendier vorschlägt.95 Zwar ist die Vorlage einer Frage zur Prüfung unzweifelhaft ein Minus zu ihrer (endgültigen) Zurückweisung. Allerdings muß das Vorlageerfordernis - wenn es für einen bestimmten Teil der Hauptverhandlung erst einmal ausgesprochen ist - notwendigerweise alle in diesem Teil gestellten Fragen betreffen, 96 während § 24111 StPO nur unzulässige Fragen betrifft. Da nun aber die StPO eindeutig vom Regelfall der direkten Befragung (d.h. also gerade ohne „Zwischenschaltung" des Gerichts) ausgeht, ist es methodisch nicht möglich, mit einem Erst-recht-Schluß auch solche Fragen, für die die „Maiusmaßnahme Zurückweisung" nicht gilt, der vermeintlichen „Minusmaßnahme Vorlagepflicht" zu unterwerfen. cc) Traditionell als eine Art Gegenteil des Analogieschlusses wird das „argumentum e contrarioder sogenannte Gegenschluß, bezeichnet.97 Während bei der Analogie wegen der ähnlichen Interessenlage zweier Sachverhalte die Regelung für den einen auf den anderen übertragen wird, soll beim Gegenschluß die Regelung nur für den einen Sachverhalt zeigen, daß andere Sachverhalte gerade nicht auch dieser Regelung unterfallen sollen. M.a.W.: wäh-
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So stellt sich auch hier die Frage nach einem Analogieverbot, einer planwidrigen Lücke und einer Norm, die hier sogar nicht nur (wie bei der Analogie) interessenverwandt sein, sondern für den interessierenden Fall sogar noch „besser passen" muß als für den vom Gesetzgeber vorgesehenen. 95 Vgl. NJW 1997, 227, 231. Der Eindruck einer gewissen Instringenz in der Gedankenführung wird an dieser Stelle auch dadurch nahegelegt, daß die Rede davon ist, daß aus diesem Grunde keine analoge Anwendung des (erst 1994 neu eingefügten) § 257a StPO erforderlich sei, für dessen Anwendungsbereich in FN 64 u.a. eine Entscheidung des RG (!) zitiert wird. 96 Vgl. dazu auch noch einmal im Zusammenhang mit der Entziehung des Fragerechts unten 3. Teil Β V 3 b bb, S. 322. 97 Vgl. Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 2b, S. 209; Bydlinski, 476, allerdings mit Einschränkungen.
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rend bei der Analogie gerade die gleichen Wertungsgesichtspunkte zwischen ähnlichen Sachverhalten in den Vordergrund gestellt werden, sind für den Gegenschluß die unterschiedlichen Wertungsgesichtspunkte von Bedeutung. In gewisser Weise ist das argumentum e contrario allerdings eher der Auslegung als der lückenschließenden Rechtsfindung zuzuordnen: wenn sich aus ihm nämlich ergeben soll, daß eine in einem bestimmten Zusammenhang vorgeschriebene Rechtsfolge auf einen anderen Sachverhalt (für den sie nicht explizit vorgeschrieben ist) nicht angewendet werden kann, wird damit ja gerade keine Rechtslücke geschlossen, sondern allenfalls gezeigt, daß es hier gar keine schließungsbedürftige Lücke gibt. 98 In dieser vorausgehenden Ermittlung des Sinnes der Regelung und der anschließenden Entscheidung, ob eine Norm analog angewendet oder gerade zu einem Gegenschluß herangezogen werden muß, zeigt sich eine deutliche Parallele zur oben angesprochenen Ambivalenz der systematischen Auslegung. Bei der Lösung der Mißbrauchsproblematik kann das argumentum e contrario in der Regel nicht weiterhelfen, da nach dem Telos kaum jemals der (Gegen-) Schluß möglich sein wird: „Weil das Gesetz an einer bestimmten Stelle mißbräuchliches Verhalten nicht sanktioniert, ist es an anderen Stellen zu sanktionieren." Vielmehr kann es unter Umständen als Anhaltspunkt für eine abschließende Regelung und damit als Argument gegen die Anwendung eines allgemeinen Mißbrauchsprinzips herangezogen werden: Das argumentum e contrario beruht nicht zuletzt auf der Annahme, daß der Gesetzgeber die potentiell auftretenden Sachverhalte möglichst klar und umfassend regeln möchte, d.h. daß an bestimmte Tatbestände gerade die Rechtsfolgen anknüpfen sollen, die das Gesetz dafür vorsieht (und nicht solche, die es nur anderswo vorsieht). Diese Erkenntnis mahnt aber auch zur Vorsicht vor der Ableitung von (gesetzlich nicht vorgesehenen) Rechtsfolgen für (vermeintlich) mißbräuchliches Verhalten, besteht doch grundsätzlich auch hier eine erste Vermutung dahingehend, daß durch bestimmte Verhaltensweisen die - und nur die! - Rechtsfolgen ausgelöst werden, die das Gesetz dafür vorsieht. Auf unser Ausgangsbeispiel übertragen würde das bedeuten, daß aus dem Vorliegen von Möglichkeiten der Rechtsentziehung nur beim Kreuzverhör und der bloßen Regelung der Ablehnbarkeit eines Beweisantrags im Gesetz ein wichtiges Argument dafür gewonnen werden könnte, daß eine präventive Rechtsbeschränkung beim Beweisantragsrecht gerade nicht möglich ist. Allerdings ist auch die Reichweite eines so begründeten Gegenschlusses nicht zu überschätzen: Die Tatsache, daß der Gesetzgeber allgemeine Prinzipien für bestimmte Fälle, in denen ihnen eine besondere Bedeutung zukommen könnte, noch einmal ausdrücklich erwähnt, erlaubt nicht zwangsläufig den Schluß, daß diese Prinzipien deswegen für alle anderen Fälle ihre Geltung verlieren sollten. dd) Ein weiteres methodisches Instrument, das gemeinhin der Rechtsfindung praeter legem zugerechnet wird, ist die sogenannte teleologische Reduktion. Ihr Unterschied zur Analogie besteht darin, daß sie „der ratio legis nicht gegen einen zu engen, sondern gegen einen überschießend weiten Gesetzeswortlaut
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Ähnlich Bydlinski, 476 f.; Larenz/Canaris
Kapitel 5 Abschnitt 2b, S. 209 f..
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Durchsetzung" 99 verschafft. M.a.W.: während durch den Analogieschluß Rechtsfolgen auf einen Sachverhalt übertragen werden, auf den das Gesetz sie nicht anordnet, werden mit Hilfe der teleologischen Reduktion (oder „Restriktion" 100 ) Ausnahmeregeln geschaffen, die das Gesetz nicht vorsieht, die es aber nach der ratio legis geben müßte.101 Insoweit besteht also eine deutliche Ähnlichkeit zum allgemeinen Mißbrauchsverbot, das ebenfalls vor allem Ausnahmen vom dem Wortlaut nach bestehenden Anwendungsbereich einer Norm begründet werden soll, 102 wenn das „Gebot der Gerechtigkeit, Ungleiches ungleich zu behandeln, d.h. die von der Wertung her erforderlichen Differenzierungen vorzunehmen" 103, zu einer solchen Einschränkung zwingt. Allerdings darf - was dann auch für das Mißbrauchsprinzip gelten muß - die teleologische Reduktion nicht zu einer „Auflösung des gesetzlichen Tatbestandes in bloße Billigkeitserwägungen" 104 führen; vielmehr spricht die an sich vorliegende positive gesetzliche Regelung grundsätzlich zunächst einmal dafür, daß die angeordnete Rechtsfolge eintritt (und nach dem Willen des Gesetzgebers auch eintreten soll). Allenfalls wo der Normtext eindeutig über sein Ziel hinausschießt, darf es zu einer teleologischen Reduktion kommen. Versteht man also die teleologische Reduktion eng, so könnte man in Abgrenzung zum Mißbrauchsverbot formulieren: Während bei der teleologischen Reduktion die Normlogik dazu zwingt, daß eine Ausnahme vorgenommen werden muß, führt das Mißbrauchsprinzip nur dazu, daß eine solche gemacht werden kann. M.a.W.: die Ausnahme muß zwar auch dort mit dem Normzweck vereinbar (oder von diesem sogar gefordert) sein, sich aber
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Bydlinski, 480; ähnlich Canaris , Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1983, 82,151. 100 Vgl. Bydlinski, 480, der beide Begriffe offensichtlich äquivalent verwendet wissen will. 101 Ein klassisches Beispiel einer teleologischen Reduktion aus dem Zivilrecht betrifft die Vorschrift des § 181 BGB, wonach einem Vertreter sogenannte Insichgeschäfte verboten sind. Zweck dieses Verbots ist es, durch die Doppelstellung des Vertreters drohende Interessenkonflikte zu vermeiden. Deshalb findet § 181 BGB nach mittlerweile einhelliger Ansicht in solchen Fällen des Selbstkontrahierens keine Anwendung, in denen das Rechtsgeschäft mit dem Vertreter dem Vertretenen lediglich einen rechtlichen Vorteil bringt. Vgl. dazu auch Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 2c, S. 211 ff. („das wohl eindrucksvollste Beispiel für eine teleologische Reduktion"); Palandt-Zfowrichs, § 181 Rn. 9. Im Verhältnis zur Analogie sei noch angemerkt: Soweit das Gesetz für bestimmte von der Regelung erfaßte Fallgruppen selbst eine Ausnahmeregelung vorsieht, steht teilweise als alternative Möglichkeit zur teleologischen Reduktion der Grundnorm eine Erweiterung bzw. analoge Anwendung der Ausnahmenorm zur Verfügung. 102 Aus diesem Grund sieht Weber, GA 1975, 289, 295 im Mißbrauchsprinzip auch einen Sonderfall der teleologischen Reduktion. 103 Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 2c, S. 211 104 Bydlinski, 480.
Α. Allgemeine Methodenlehre
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nicht zwingend logisch daraus ergeben. Es liegt also kein Fall vor, in dem sich der Schutzzweck der Vorschrift in ihr Gegenteil verkehrt, sondern „nur" einer, in denen das Verhalten nicht mehr innerhalb dieses Schutzzwecks liegt und deshalb keinen Rechtsschutz mehr erfahren muß. 105 In unserem Beispielsfall müßten mangels einer expliziten, teleologisch zu reduzierenden Vorschrift als Ausgangspunkt die §§ 244, 245 StPO herangezogen werden, aus denen sich das grundsätzliche Beweisantragsrecht des Angeklagten ergibt und die ferner klarstellen, daß solche Beweisanträge nur aus den in § 244 III - V StPO genannten Gründen und nur durch Gerichtsbeschluß (§ 244 VI StPO) abgelehnt werden dürfen. Eine teleologische Reduktion würde nun voraussetzen, daß es in bestimmten Fallgruppen ein Gebot der Gerechtigkeit wäre, das Recht zur Stellung von Beweisanträgen nicht bzw. nur eingeschränkt zu gewähren: Es dürfte nämlich schwierig sein, eine teleologisch notwendige (aber nicht erfolgte und deshalb praeter legem zu schaffende) Ausnahme für solche Beweisanträge behaupten, die dem Zweck (d.h. hier der Wahrheitsermittlung) nicht dienen. Zwar handelte der Angeklagte im Ausgangsbeispiel insofern zweckwidrig; anders als im Standardbeispiel der teleologischen Reduktion des §181 BGB10* verkehrt sich aber der Schutzzweck der Vorschrift hier nicht in sein Gegenteil, so daß aus Gründen einer stringenten Regelung eine Ausnahme gemacht werden müßte. M.a.W.: es wäre zwar mit dem (wie soeben definierten) Zweck des Beweisantragsrechts gut vereinbar, es unter den im Beispielsfall vorliegenden Voraussetzungen einzuschränken, allerdings besteht dafür keine teleologisch-immanente Notwendigkeit. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß diese an sich klare Unterscheidung in anderen Fällen erheblich schwieriger zu treffen sein kann und auch keineswegs immer klar durchgehalten wird: So kann man kaum behaupten, daß bei der - im einzelnen freilich umstrittenen - „teleologischen Reduktion" des § 306a I Nr. 1 StGB bei völliger Ungefährlichkeit des Feuers für Menschen107 durch eine Bestrafung der Schutzzweck der Vorschrift in ihr Gegenteil verkehrt würde. Vielmehr ist der Zweck in diesen Fällen „nur" nicht wirklich einschlägig, so daß das Verhalten (entsprechend der Verweigerung von Rechts schütz bei Befugnissen) keine rechtliche Ahndung mehr erfährt. Dagegen ließe sich unter einen weiter verstandenen Begriff der teleologischen Reduktion auch das allgemeine Mißbrauchsverbot regelmäßig fassen. Allerdings kann diese begriffliche Erweiterung nicht über die unterschiedlichen Wertungsstufen hinwegtäuschen: In solchen Fällen, in denen - wie in den hier untersuchten Mißbrauchskonstellationen - der Schutzzweck nicht in sein Gegenteil verkehrt, sondern „nur" nicht erreicht wird, müssen noch zusätzliche Gesichtspunkte hinzutreten, um eine teleologische Reduktion i.S. einer zwin-
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Gegen eine Gleichsetzung von Mißbrauchsverbot und teleologischer Reduktion auch Mader, S. 85, mit der im Ergebnis ähnlichen Erwägung, daß sonst die - im Ausgangspunkt - umfassende Anwendbarkeit des Mißbrauchsprinzips zugleich die Feststellung enthielte, daß jedes subjektive Recht lückenhaft geregelt ist, wenn es einer Form der gesetzesergänzenden Rechtsfindung bedarf. 106 Vgl. dazu oben in Fn. 101. 107 Vgl. dazu (zu §306 Nr. 2 a.F.) nur m.w.N. Tröndle, §306Rn. 1; Sch/SchCramer, § 306 Rn. 2; zur Diskussion in der Gesetzgebung zum 6. Gesetz zur Reform des Strafrechts vgl. BT-Drs. 13/8587, S. 47.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
genden Reduktion des gesetzlichen Anwendungsbereichs zu begründen. Dies zeigt sich deutlich am o.g. Beispiel der teleologischen Reduktion des § 306a I Nr. 1 StGB, deren Motivation nicht zuletzt im extrem hohen und deshalb als nicht mehr hinnehmbar empfundenen Strafrahmen liegt, während z.B. beim Gefährdungsdelikt des §316 StGB eine entsprechende Diskussion bei völliger Ungefährlichkeit der Trunkenheitsfahrt nicht geführt wird. Unabhängig von der begrifflichen Einordnung kann daher nicht jede Zweckwidrigkeit zu einer Versagung des Rechtsschutzes wegen Rechtsmißbrauchs führen, sondern nur eine nach den Gesamtumständen nicht mehr hinnehmbar erscheinende. 108 Außerdem spricht in der Abgrenzung zur teleologischen Reduktion i.e.S. einiges dafür, aus einem so verstandenen Mißbrauch keine zwingende, sondern nur eine mögliche Nichtbeachtung der Rechtsausübung abzuleiten.109 ee) Eine Gesamtbewertung der Rechtsfindung praeter legem ist auf Grund der äußerst heterogenen, unter diesen Begriff zusammengefaßten Instrumentarien nur eingeschränkt möglich und sinnvoll. Fest steht allerdings, daß auch neben ihr ein allgemeines Mißbrauchsverbot noch einen denkbaren Anwendungsbereich hat und nicht überflüssig wird, wenn man es nicht unter einen sehr weiten Begriff der teleologischen Reduktion faßt, für dessen nähere Voraussetzungen aber die nachfolgenden Überlegungen in gleicher Weise gelten müßten. Die größere Ähnlichkeit des Mißbrauchsverbots zu dieser Art von Rechtsfindung im Vergleich zur Auslegung im klassischen Sinne sind aber gleichwohl deutlich geworden, was insbesondere für die auch für das Mißbrauchsprinzip geltenden Grenzen von Interesse ist: Dies sind vor allem das Erfordernis einer nicht-abschließenden Regelung, das ultima-ratio-Prinzip („Nichthinnehmbarkeit") sowie die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit (der im nächsten Kapitel Β nachgegangen werden soll).
108
Dem entspricht es auch, wenn die Zivilrechtsprechung bei der Überwindung der Formvorschrift des § 125 BGB durch die Grundsätze von Treu und Glauben (als deren Ausprägung das Mißbrauchsverbot im Zivilrecht häufig erachtet wird) fordert, daß die Folgen „nicht nur hart, sondern schlechthin untragbar" sein müssen, std. Rspr., vgl. BGHZ 29, 10; 48, 398 sowie m.w.N. Palandt-//einric/u, § 125 Rn. 16. 109 Dies entspräche im übrigen auch der Bedeutung des Rechtsmißbrauchs im römischen Recht, wo dem aktionenrechtlichen Denken entsprechend die Abwehr eines Mißbrauch durch verschiedene Arten der Arglist einrede (exceptio doli) erfolgte, insbesondere die exceptio doli specialis bzw. praeteriti und die exceptio doli generalis bzw. praesentis, vgl. MüKo-Roth, § 242 Rn. 259. Im heutigen Zivilrecht allerdings wird der Rechtsmißbrauch überwiegend als rechtshindernde oder -vernichtende Einwendung verstanden, vgl. Palandt-Heinrichs, § 242 Rn. 41.
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c) Rechtsfindung extra legem, sed intra ius Teilweise werden mit der richterlichen Rechtsfortbildung nicht nur Gesetzeslücken110 geschlossen, sondern es werden weitere Rechtsgedanken aufgenommen oder ausgebildet, die im Gesetz selbst allenfalls eine rudimentäre Andeutung erfahren haben. Dieses Vorgehen, das sich ebenfalls an den leitenden Kriterien der Gesamtrechtsordnung orientieren muß (und in vielen Fällen gerade eingeschlagen wird, um diesen zur Durchsetzung zu verhelfen), kann als gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung oder Rechtsfortbildung über den Plan des Gesetzes hinaus bezeichnet werden. 111 Diese Form der Rechtsfortbildung wird (wenn man sich auf die klassische Dreiteilung der Rechtsfindungsmethoden secundum, praeter und contra legem beschränkt, durchaus am zutreffendsten) teilweise noch in den Bereich des Arbeitens praeter legem eingeordnet; 112 da sich aber die dafür ausschlaggebenden Wertungsgesichtspunkte normalerweise gerade nicht aus einer bestimmten Norm, sondern aus allgemeinen Rechtsprinzipien ergeben, dient es zumindest der begrifflichen Klarheit, die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung von der gesetzesergänzenden zu trennen. Da es sich somit zwar außerhalb des festgeschriebenen Gesetzesrechts, aber innerhalb der Rechtsordnung insgesamt bewegt, kann man auch von einer Rechtsfortbildung „extra legem", aber „intra ius" sprechen.113 Larenz/Canaris unterscheiden hinsichtlich des Orientierungsmaßstabs, anhand dessen eine solche Rechtsfortbildung vorgenommen werden muß, zwischen der „Rücksicht auf die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs", der „Rücksicht auf die Natur der Sache" und der „Rücksicht auf rechtsethische Prinzipien" 114 . Der Gesichtspunkt der Bedürfnisse des Rechtsverkehrs" ist namentlich auf dem Gebiet des Zivilrechts von Bedeutung, wo als unsachgemäß oder überkommen erachtete Regelungen nach den übereinstimmenden Vorstellungen und Wünschen der am Rechtsverkehr Beteiligten modifiziert werden können.115 Für die Problematik des Mißbrauchs (insbesondere im Bereich des Strafverfahrensrechts) läßt es sich allerdings kaum fruchtbar machen, da es hier jedenfalls am Interesse beider jeweils beteiligten Parteien (im untechnischen Sinne) fehlen wird, entsprechende Regelungen anzuerkennen. Vielmehr wird gerade derjenige, dem Mißbrauch vorgeworfen wird, stets darauf hinweisen, daß es keine gesetzliche Regel gebe, die sein „an sich erlaubtes" Verhalten hier ausnahmsweise verbietet, so daß es auch in seiner konkreten und aktuellen Form zulässig sein müsse.
1.0
Auch bei der teleologischen Reduktion wird teilweise von (im Gegensatz zur Analogie „verdeckten") Gesetzeslücken gesprochen. 1.1 Vgl. Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 1, S. 187, Abschnitt 4. 1.2 So im Ausgangspunkt z.B. Bär, 59; auch Bydlinski, 481 ff.. 113 Diese Terminologie wurde vornehmlich von Larenz geprägt, vgl. auch jetzt noch Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 4 vor a. 114 Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Kapitel 5 Anschnitt 4. 115 Larenz/Canaris Kapitel 5 Anschnitt 4a begründen hiermit z.B. die Rechtsinstitute des Anwartschaftsrechts, der Einziehungsermächtigung und der Sicherungsübereignung.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Als äußerst schwer operationalisierbar erscheint der Orientierungsmaßstab der „Natur der Sache" . Bedeutung erlangt die Natur der Sache vor allem im Zusammenhang mit Gleichheitsproblemen bzw. beim Erfordernis sachgemäßer Differenzierungen wie bei Art. 3 GG. Im Bereich des Zivilrechts wird sie deshalb teilweise dort herangezogen, wo eine gesetzliche Regelung grundlegende strukturelle Eigenarten der geregelten Materie mißachtet, so z.B. bei der nur historisch zu verstehenden und heute einhellig als verfehlt betrachteten Behandlung des nichtrechtsfähigen Verein nach dem Recht der Personengesellschaften. Meist werden nach der Natur der Sache durchaus mehrere Lösungen eines Problems denkbar sein und nur einzelne, sachfremde Erwägungen ausscheiden. Für die Behandlung von Mißbrauchsproblemen kann die Natur der Sache deshalb allenfalls ein negatives Abgrenzungskriterium dahingehend bilden, daß die Nichtgewährung eines an sich bestehenden Rechtes wegen angeblichen Mißbrauchs nicht „sachfremd" sein darf. Daß dagegen als einzige „sachgemäße" Lösung die Untersagung des mißbräuchlichen Verhaltens möglich ist, erscheint nur selten denkbar. Speziell im strafprozeßrechtlichen Kontext wird man außerdem bei keinem dort (insbesondere dem Beschuldigten) gewährten Recht ernsthaft behaupten können, daß es wesentlichen strukturellen Eigenheiten des Strafverfahrens zuwiderläuft und deshalb als grundsätzlich verfehlt einzustufen wäre; vielmehr handelt es sich bei der Mißbrauchsproblematik gerade darum, daß Rechte im Einzelfall bzw. in bestimmten Fallgruppen in einer mißbräuchlicher Weise gebraucht werden und sich aus diesem Grund die Frage stellt, ob die mit der Ausübung solcher Rechte normalerweise verbundene Rechtsfolge ausnahmsweise nicht eintreten sollen oder die weitere Ausübung sogar untersagt werden kann. Als rechtsethische Prinzipien werden dabei solche „richtunggebenden Maßstäbe rechtlicher Normierung" bezeichnet, die „vermöge ihrer eigenen Überzeugungskraft rechtliche Entscheidungen zu »rechtfertigen« vermögen" und sich von den „auf Zweckmäßigkeitsgründen beruhenden rechtstechnischen Prinzipien durch ihren materiellen Gerechtigkeitsgehalt" unterscheiden.117 Als solche können - im Unterschied zum z.B. bloß rechtstechnischen Prinzip der Prozeßökonomie - z.B. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der allgemeine Vertrauensgrundsatz oder der Vorrang der Menschenwürde erachtet werden.11 Es handelt sich hierbei also um allgemeine Wertungskriterien, die bereits bei der (insbesondere teleologischen) Auslegung und der gesetzesergänzenden Rechtsfindung (insbesondere bei sogenannten „Rechts- oder Gesamtanalogien" und der teleologischen Reduktion) Beachtung finden können, aufgrund ihrer zentralen Bedeutung aber auch dort zu berücksichtigen sein sollen, wo sie weder eine Stütze im Wortlaut finden noch zur Schließung einer Gesetzeslücke i.e.S. herangezogen werden müssen.
116
Eine so komplexe Frage wie die nach der Tragfähigkeit und den Grenzen der „Natur der Sache" kann im Rahmen der hier stattfindenden Begriffsklärung nicht näher erörtert werden. Vgl. zur rechtstheoretischen Problematik v.a. Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der Natur der Sache, 1957; Arthur Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 1982. Mit mehr praktischen Bezügen Kolb, Der Begriff der „Natur der Sache" in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1963. 1,7 Vgl. Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 4c, S. 240. 118 Vgl. zu diesen Beispielen Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 4d.
Α. Allgemeine Methodenlehre
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Darüber hinaus wird vereinzelt sogar eine Orientierung am allgemeinen Maßstab der „Gerechtigkeit" für möglich gehalten.119 Die - durch die in Art. 20 I I I GG erwähnte Bindung an Recht und Gesetz als Deduktionsgrundlage zulässige - bilde in der Kette hintereinandergeschalteter Erkenntnisobjekte von Gesetzestext, Rechtsprinzipien und Gerechtigkeit das letzte Wertungselement, aber zugleich auch das Zentrum der Sinnstruktur, so daß erforderlichenfalls auch aus ihr selbst Rechtsfolgen abgeleitet werden könnten. Daß die bereits mit einer teleologischen Auslegung und einer Lückenfüllung verbundenen Gefahren 120 hier in besonderem Maße gegeben sind, liegt auf der Hand. Als knapp skizzierte allgemeine Grenzen jeder gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung sind deshalb folgende Gesichtspunkte zu beachten: Während die Schranken der Auslegung nach der h.M. in der Methodenlehre mit dem mögliche Wortsinn des Gesetzes und die der lückenfüllenden Rechtsfortbildung mit dem Kriterium der Regelungslücke zumindest abstrakt 121 noch mehr oder weniger klar festzustehen scheinen, erweist sich die Grenze der gesetzesübersteigenden Rechtsfindung (gerade abstrakt 122) als schwierig zu ziehen, soweit man eine solche erst einmal für grundsätzlich zulässig erachtet. Da diese Art von Rechtsfortbildung gerade nicht mehr einen singulären Ansatzpunkt (wie Wortsinn oder Gesetzeslücke) hat, läßt sich auch die Grenze ihrer Zulässigkeit nicht an einem Merkmal festmachen; vielmehr sind mehrere Kriterien zu beachten:123 - Zunächst ist eine Rechtsfortbildung in diesem Sinne nur zulässig, soweit überhaupt eine rechtlich relevante Frage zu beantworten ist. Damit scheiden Fragen aus, die in den rechtsfreien Raum (also z.B. rein gesellschaftliche Konventionen, Benimm o.ä.) fallen. Mit Blick auf den Mißbrauch im Strafprozeßrecht würden diese Grenzen überschritten, wenn eine Vorschrift nur
119 Vgl. etwa Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 1992, 65. Vgl. zur Gerechtigkeitsproblematik außerdem oben 2. Teil A l l , S. 63 und unten 2. Teil Β II 1 c, S. 213. 120 D.h. die Zurückdrängung von Wortsinn und Systematik zugunsten von wertungsorientierten Argumenten, bei denen die Grenze zwischen Wertungen des Gesetzes und Wertvorstellungen des Gesetzesanwenders leicht verwischen kann. 121 Natürlich darf nicht übersehen werden, daß sowohl der mögliche Wortsinn als auch das Vorliegen oder NichtVorliegen einer Lücke im konkreten Einzelfall äußerst schwierig zu bestimmen sein können. 122 In vielen Einzelfallen besteht mittlerweile weitgehende Einigkeit, daß eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung zulässig ist (so z.B. im Zivilrecht die - mittlerweile wohl bereits gewohnheitsrechtlich verfestigten und vom Gesetzgeber auch schon als bestehend vorausgesetzten - Institute der Haftung für positive Vertragsverletzung oder für culpa in contrahendo oder im Verwaltungs(prozeß)recht die Möglichkeit der Verwirkung), umgekehrt ließen sich unschwer Beispiele denken, in denen die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung allgemein für überschritten gehalten würden. 123 Vgl. dazu auch Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 4d.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
deshalb nicht angewendet wird, weil der Rechtsanwender ein auf sie gestütztes Verhalten etwa für unhöflich hält. Ähnlich würde auch der - sicherlich bedeutsamere - Fall liegen, in der eine Regelung als rechtspolitisch verfehlt beurteilt wird; denn auch hier liegt keine rechtlich relevante Frage für den Normanwender vor, sondern allenfalls der Gesetzgeber ist gefordert. - Des weiteren wird gefordert, daß die Frage grundsätzlich nicht durch die (gesetzesnäheren) Instrumente der Auslegung oder der gesetzesimmanenten (lückenfüllenden) Rechtsfortbildung befriedigend zu lösen sein darf. 124 Soweit auf diesen Wegen eine Lösung möglich ist, sind sie vorrangig zu beschreiten. Ob dies allerdings angesichts der engen Verankerung im Zweck der Norm auch beim Mißbrauchsprinzip gilt, sei hier allerdings schon einmal in Frage gestellt und wird unten noch näher zu erläutern sein.125 -
Schließlich muß eine Lücke i.w.S. bestehen. Unter diesem Begriff, der von der Lücke i.e.S. (die eine vorrangige lückenfüllende Rechtsfortbildung nach sich zieht) zu unterscheidenden ist, soll hier zweierlei verstanden werden: Zum einen darf das Gesetz nicht eine entsprechende Fortbildung explizit oder implizit ausschließen, so daß ein nur in engen Ausnahmefällen zulässiges contra-legem-Judizieren im eigentlichen Sinne vorliegen würde; entscheidender Gesichtspunkt ist insoweit die Frage, ob eine in jeder Hinsicht abschließende Regel vorliegen soll. Zum anderen ist (dem Problem bei der lückenfüllenden Analogie vergleichbar) zu prüfen, ob sich die Fortbildung wirklich an rechtsethischen Prinzipien oder aber an rechtspolitischen Wunschvorstellungen orientiert, deren Umsetzung alleine dem Gesetzgeber obliegt.
2. Das Mißbrauchsverbot als eigenständige Metapher in der allgemeinen Methodenlehre a) Einordnung als gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung Fragt man auf der Grundlage der bisherigen Darstellung nach Berechtigung und Einordnung des ungeschriebenen Mißbrauchsverbots aus methodischer Sicht, wird deutlich, daß mit dem zweckwidrigen Einsatz von rechtlichen Befugnissen durchaus ein Grundproblem der Anwendung jedes kodifizierten Rechts betroffen ist. 126 Dementsprechend finden sich auch gewisse Lösungsansätze bereits bei den Auslegungsmethoden (insbesondere der teleologischen 124 125 126
Vgl. Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 4d, S. 246. Vgl. sogleich unter 3., S. 92 ff. Vgl. o. 2. Teil A I 1,S.61.
Α. Allgemeine Methodenlehre
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Auslegung) und der Rechtsfindung praeter legem (insbesondere der teleologischen Reduktion). Allerdings wurde auch klar, daß diese Ansätze das Problem nur einschränken, keinesfalls aber ganz lösen können: Bei der Auslegung im klassischen Verständnis scheitert eine Bewältigung aller Mißbrauchskonstellationen vor allem an der Wortlautgrenze; eine eng verstandene (und damit sich selbst legitimierende) teleologische Reduktion kann oft nicht stattfinden, da es an den immanent-logischen Sinnwidrigkeit des Auslegungsergebnisses fehlt. Am nächstliegenden erscheint deshalb, den Mißbrauchsgedanken im traditionellen Rechtsfindungsschema als allgemeines rechtsethisches Prinzip einzuordnen, das Orientierungsmaßstab für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung sein kann, wie es in der methodentheoretischen Literatur z.T. erfolgt. 127 Auch die (i.d.R. nicht näher gekennzeichnete) Einordnung in der strafprozessualen Rechtsprechung und Literatur dürfte dem entsprechen: So spricht der BGH davon, daß „im Strafverfahren - wie in jedem Prozeß - der Gebrauch prozessualer Rechte zum Erreichen rechtlich mißbilligter Zwecke untersagt" sei und somit „ein allgemeines Mißbrauchsverbot" bestehe.128 Kleinknecht/MeyerGoßner führt aus, daß der „StPO (...) zwar eine Generalklausel darüber (sc. über den Rechtsmißbrauch) fremd" sei, aber „ein allgemeines Mißbrauchsverbot" bestehe.129 Hier liegt die Vorstellung zugrunde, daß jede Einzelvorschrift Teil eines „normgewordenen Wertesystems" darstellt und in diesem bestimmte Zwecke erfüllt. Würde die Anwendung der Einzelvorschrift in einer konkreten Konstellation diesem Wertesystem widersprechen (oder zumindest nicht entsprechen), ist es Aufgabe des Rechtsanwenders, den sozialen Konflikt im Sinne des normgewordenen Wertesystems - auch wenn das heißt: unter Nichtgewährung von Rechtsschutz für die mißbrauchte Befugnis - zu lösen.130 Diese Sichtweise 127
S. 86.
So z.B. Larenz/Canaris
Kapitel 5 Abschnitt 4c. Im Ergebnis ähnlich Mader,
128 Vgl. BGHSt 38, 111, 113; ähnlich auch das KG, JR 1971, 338: „Der Grundsatz, daß Rechte nicht mißbraucht werden dürfen, beherrscht das gesamte Rechtsleben"; vgl. auch den Leitsatz der Entscheidung des LG Bonn, NStZ 1993, 54 zum Strafvollzugsrecht: „Für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. § 109 StVollzG gilt das allgemeine Schikaneverbot." 129 Vgl. Kleinfcnecht/Meyer-Goßner, Einleitung Rn. 11, wo außerdem auch in Anlehnung an BGHSt 38, 111, 113 das Verbot, „prozessuale Rechte zur Erreichung rechtlich mißbilligter Ziele zu gebrauchen, erwähnt wird. Ähnlich auch KK-Pfeiffer, Einleitung Rn. 22a („Insoweit gilt, daß im Strafverfahren - wie in jedem Prozeß - der Gebrauch prozessualer Rechte zum Erreichen rechtlich mißbilligter Ziele untersagt ist.") und in der Frage der Einordnung Kühne, Strafprozeßlehre Rn. 134.1 („Der Begriff des Rechtsmißbrauchs ist der StPO nicht fremd."), der freilich eine Geltung des Rechtsmißbrauchsprinzips im Strafverfahrensrecht insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Formstrenge kritisch bewertet (Rn. 134.2). 130 In diesem Sinne kann man mit Naucke, in: Geerds/Naucke, Festschrift für Hellmuth Mayer, 1966, 565, 581 davon sprechen, daß sich Aufgabe und Reichweite einer
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
mag zwar nicht mehr mit dem berühmten (aber auch überholten) Bild des Juristen als „Subsumtionsautomaten" übereinstimmen; jedoch ist ein so begründetes Mißbrauchsverbot auch nicht weiter vom Gesetz entfernt als die - im klassischen Schema grundsätzliche einhellig anerkannten - Figuren der Analogie oder der teleologischen Reduktion. 131 Bereits aus methodischer Sicht ist dabei allerdings an eine (unter spezifisch strafprozessualen Gesichtspunkten noch genauer zu konkretisierende) Einschränkung hinzuweisen. Zwar ist ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Frage nach der Vereinbarkeit mit dem „normgewordenen Wertesystem" im o.g. Sinne auch Stellung einer Norm im Gesamtzusammenhang dieses Wertesystems, aus dem ihr Zweck u.U. erst exakt ermittelt werden kann. Jedoch darf diese Erkenntnis, die auch im Bild des „Ausreizens von Einzelregelungen gegen den Sinn des Ganzen"132 oder der „im Verfassungsrecht wiederkehrenden Vorstellung des gemeinschaftsgebundenen Individuums"133 ihren Ausdruck findet, nicht zu der Annahme verleiten, daß jede Rechtsausübung, die (vermeintlich) übergeordneten Gemeinschaftsinteressen widerspricht, mißbräuchlich sei:134 Unter der Geltung des GG ist nicht nur selbstverständlich, daß viele Rechte gerade zum Schutz des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft konzipiert sind; vielmehr ist es auch durchaus denkbar, daß innerhalb eines Normkomplexes (z.B. eines Gesetzes) einzelne Vorschriften bewußt zugunsten eines einzelnen Beteiligten ausgestaltet sind, obgleich der Normkomplex insgesamt vor allem Interessen der Gemeinschaft vor Augen hat. In vielen Gesetzen werden einzelnen Vorschrift aus dem jeweiligen Rechtsgebiet und der Bedeutung der Vorschrift für dieses Rechtsgebiet ergibt. Freilich ist Naucke dann auch insoweit zuzustimmen, daß der Begriff des Rechtsmißbrauchs keinen über diese Argumente anhand des Gesetzes und seiner Aufgabe hinausgehenden Erkenntnis wert hat. Indes dürfte es kein spezifisches Defizit der Figur des Mißbrauchs sein, daß seine Bezeichnung keinen Eigenwert hat, der über die ihn begründenden Wertungsgesichtspunkte hinausgeht. 131 Im übrigen ist es darüber hinaus auch „ro//i, Art. 19 Rn. 19. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art. 19 IV GG ist allerdings, daß es sich bei der öffentlichen Gewalt, gegen die Rechtsschutz begehrt wird, um die Exekutive (bzw. nach einer Ansicht in der Literatur auch um die Judikative, soweit diese als „Streitpartei in einem zweipoligen Konflikt" tätig wird, vgl. Amelung, NJW 1979, 1687, 1690) handelt.
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
2. Verfassungsrechtliche
Verankerung
von Strafrecht
125
und Strafprozeß
Allerdings sind nicht nur die Grundrechtspositionen des Angeklagten, sondern auch die Institution des Strafverfahrens verfassungsrechtlich abgesichert. Nach der Rechtsprechung des BVerfG kommt dem Strafrecht die Aufgabe zu, die elementaren Grundwerte des Gemeinschaftslebens zu sichern, die Erhaltung des Rechtsfriedens im Rahmen der sozialen Ordnung zu gewährleisten und das Recht im Konfliktfall gegenüber dem Unrecht durchzusetzen. 245 Eine solche Schutzfunktion des Strafrechts läßt sich freilich nicht nur überindividuell mit der Verantwortung des Staates für seine Bürger begründen, sondern kann auch als subjektives Recht auf staatlichen Schutz interpretiert werden. Vom BVerfG ist mittlerweile anerkannt, 246 daß aus den Grundrechten, die ursprünglich vor allem als bloße Abwehrrechte verstanden wurden, 247 auch staatliche Schutzpflichten erwachsen können. Mit Hilfe des Ansatzes, in den Grundrechten habe auch eine objektive Wertordnung Ausdruck gefunden, argumentierte des BVerfG in seinem ersten Abtreibungsurteil, die umfassende Schutzpflicht des Staates verbiete „nicht nur - selbstverständlich - unmittelbare staatliche Eingriffe" in grundrechtlich geschützte Rechtsgüter, sondern gebiete auch, „sich schützend und fördernd" vor diese zu stellen, das heiße vor allem, sie „auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. An diesem Gebot haben sich die einzelnen Bereiche der Rechtsordnung, je nach ihrer besonderen Aufgabenstellung, auszurichten." 248 Auch wenn man dem Ansatz des BVerfG 249 folgt, ist zwar zweifelhaft, inwiefern dieser Gedanke auf die Vielzahl der im Vergleich zum (auch ungebo-
245
Vgl. z.B. BVerfGE 51, 324, 343; BVerfGE 88, 203, 257. Vgl. dazu grundlegend das erste Abtreibungsurteil: BVerfGE 39, 1, 41 ff.; ähnlich argumentiert das BVerfG auch im zweiten Abtreibungsurteil, E 88, 203, 204 (Ls. 8), 254 ff; von Bedeutung ist die staatliche Schutzpflicht des weiteren im Bereich des Umweltschutzes und der Gesundheitsfürsorge, vgl. BVerfGE 49, 89 (Kalkar), BVerfG NJW 1988, 1651 (Chemiewaffenlagerung); BVerfG NJW 1987, 2287 (Schutz vor AIDS). 247 Die Interpretation der Grundrechte als Abwehrrechte, die auch nach heutigem staatsrechtlichem Verständnis noch im Mittelpunkt steht, entspringt dem Grundrechtsverständnis der liberal-staatlichen Tradition. Obgleich der dieser Auffassung zugrundeliegende Dualismus von Staat und Gesellschaft bereits zur Zeit der Verfassungsgebung nicht mehr den vorherrschenden Auffassungen entsprochen hat, wurde er bei den Grundrechten des Grundgesetzes aufgrund der Erfahrungen in der vorangegangenen NS-Zeit bewußt in den Mittelpunkt gestellt. 248 BVerfGE 39, 1,41 f. 249 So BVerfGE 39, 1, 42, 44, 45; krit. dazu das Minderheitsvotum a.a.O., 73 f., vgl. aber auch die Kritik in der Literatur, z.B. AKJGG-Podlech, Art. 2 Rn. 19; Kriele, § 218 StGB nach dem Urteil des BVerfG, ZRP 1975, 73 ff.; Abendroth, Das Abtreibungsurteil des BVerfG, KJ 1975, 121 ff. Ähnlich aber wieder BVerfGE 88, 203, 257, 262 f. 246
126
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
renen) menschlichen Leben weniger bedeutenden Rechtsgüter übertragen werden kann. Sogar das BVerfG selbst stellt nämlich klar, daß es in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden sei, wie der Staat seine Schutzpflichten erfüllt, und daß die Entscheidung darüber sowohl der Wert des verletzten Rechtsguts als auch die Rolle des Strafrechts in der modernen Gesellschaft berücksichtigen muß. 250 Eine Pflicht zur Schaffung bestimmter materieller Strafnormen läßt sich deshalb möglicherweise nur für das menschliche Leben und ähnlich überragend wichtige Rechtsgüter begründen. Dies ändert aber nichts daran, daß der größte Teil der bestehenden Straßestimmungen mit seinen Verboten und Geboten grundsätzlich als verfassungsgemäß angesehen und auch allgemein akzeptiert wird. 251 Die Durchsetzung dieser Normen kann jedoch nur durch Strafprozesse und Strafvollstreckung, mithin durch eine funktionierende Strafrechtspflege erfolgen. Aus diesem Grund ist auch die Strafrechtspflege (als Voraussetzung für die Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht und Bestandteil einer rechtsstaatlichen Ordnung) verfassungsrechtlich geschützt, wodurch in letzter Konsequenz auch ein strafprozessuales Mißbrauchsverbot gefordert oder zumindest unterstützt werden könnte.
II. Formell-verfassungsrechtliche Grenzen einer wortlautüberschreitenden Rechtsfindung 7. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage: Problemstellung und Überblick a) Zwar wurde soeben gezeigt, daß die wichtigsten bisher angesprochenen (und im 3. Teil noch näher darzustellenden) Verfahrensrechte verfassungsrechtlich - nicht nur rudimentär über die verfahrensrechtliche Dimension der materiellen Grundrechte, sondern als z.T. zentrale Ausgestaltungen der wichtigsten prozessualen Grundrechtsgewährleistungen - geschützt sind. Diese Zuordnung zu grundrechtlichen Schutzbereichen ist jedoch in vielen Fällen nur der erste Ansatzpunkt, nicht aber der wirkliche Kern der verfassungsrechtlichen Problematik: Für das Frage- und das Ablehnungsrecht wurde bereits oben erwähnt, daß ihre Einschränkungen nicht zwangsläufig zur materiellen Verfassungswidrigkeit führen müßten; auch beim Beweisantragsrecht, das nach h.M. zentral im Grundrecht des Art. 103 I GG verankert ist, bildet keineswegs nur ein unbeschränktes und unbeschränkbares Antragsrecht das verfassungsrechtlich nicht unterschreitbare Minimum. Wie auch bei anderen, materiellen 250
Vgl. BVerfGE 39, 1,42, 44, 45. Umstritten in letzter Zeit v.a. die Strafbarkeit des Drogenkonsums, vgl. dazu BVerfG NJW 1994, 1577. Vgl. dazu etwa Kreuzer, NJW 1994, 2400; Sachs, JuS 1994, 1067. 251
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
127
Grundrechten muß nicht jede schutzbereichsrelevante Maßnahme zu einer Verletzung des Grundrechts führen, sondern es besteht die Möglichkeit einer Rechtfertigung, 252 für die vor allem auf kollidierendes Verfassungsrecht zurückzugreifen ist. 253 Dies gilt in spezifischer Weise auch für den Anspruch auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren, bei denen es sich um stark normgeprägte Grundrechte handelt.254 Anders als bei Weltanschauungen, Meinungen oder Berufen (Art. 4, 5, 12 GG) gibt es keine „vorrechtliche" Möglichkeit eines rechtlichen Gehörs, die „nur" vor staatlichen Eingriffen geschützt werden müßte; vielmehr muß eine Verfahrensstruktur, die rechtliches Gehör gewährt, erst vom Gesetzgeber geschaffen werden. Dabei ist dieser zwar nicht etwa völlig frei, sondern muß das Ziel der Gewährleistung - also der Möglichkeit rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens - stets beachten;255 er ist umgekehrt allerdings nicht verpflichtet, rechtliches Gehör oder Fairneß (i.e.S.) um jeden Preis zu normieren, sondern kann bei der konkreten Ausgestaltung auch kollidierende Verfassungsgüter berücksichtigen und in einen angemessenen Ausgleich bringen.256 Auch unter dem Blickwinkel des - zumindest im Vergleich zu Art. 103 I GG teilweise weiter formulierten - Art. 6 III EMRK mit seinen verschiedenen Verfahrensgarantien (so z.B. dem Recht, dem Belastungszeugen Fragen zu stellen, nach Art. 6 Illd EMRK) ergibt sich im übrigen nicht anderes: In der Literatur zur EMRK wird einhellig betont, daß die Rechte des Art. 6 III EMRK nicht schrankenlos und um jeden Preis gewährt werden müssen,257 so daß namentlich Beschränkungen durch das Gericht wie die Ablehnungsgründe für Beweisanträge nach §§ 244, 245 StPO sub 252
Zur Trennung von Eingriff in den Schutzbereich und Verletzung eines Grundrechts vgl. allgemein Bleckmann, Staatsrecht II, 1989, 344; Manssen, Staatsrecht I, 1995, Rn. 426, 462; Pieroth/Schlink, Rn. 224 f.; 273. 253 Vgl. dazu insb. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1995, Rn. 72, 317 ff.; ferner z.B. Manssen, Staatsrecht I, 1995, Rn. 608 ff.; Pieroth/Schlink, Rn. 341 ff. Die Funktion des kollidierenden Verfassungsrechts ist bei den schrankenlosen Grundrechten wie Art. 4 und 5 III GG (aber auch Art. 103 I GG) evidenter, bildet aber auch bei der Rechtfertigung kraft Eingriffsvorbehalts den zentralen Wertungsgesichtspunkt. Dies wird daran deutlich, daß bei der Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit eines Grundrechtseingriffs stets ein legitimer Zweck zur Einschränkung des Grundrechts erforderlich ist, welcher regelmäßig in der Bewahrung oder Förderung anderer Verfassungsrechtsgüter liegt. Bei der Frage der Verhältnismäßigkeit wird ferner die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit i.e.S.) des Grundrechtseingriffes zur Förderung dieses anderen Verfassungsrechtsgutes geprüft, wobei die (häufig entscheidende) Angemessenheitsprüfung gerade auch wieder auf eine Abwägung zwischen dem geschützten Grundrecht und dem kollidierenden Verfassungsrechtsgut hinausläuft. 254 Vgl. für Art. 1031 GG BVerfGE 67, 208, 211; M/D/H - Schmidt-Aßmann, Art. 103 I Rn. 15; Jarass/Pieroth-PiVror/i, Art. 103 Rn. 5. 255 Vgl. zur parallelen Problematik bei Art. 19IVGG BVerfGE 60, 253, 259; 77, 275, 284. 256 Vgl. speziell zu Art. 103 I GG Jarass/Pieroth-Pieröf/i, Art. 103 Rn. 4 und 39 sowie allgemein zum angemessenen Ausgleich bei kollidierenden Grundrechten die in Fn. 253 Genannten. 257 Vgl. Peukert, in Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985, Art. 6 Rn. 138; IntKomEMRK-Vög/er, Art. 6 Rn. 569 ff.
128
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
specie Art. 6 III EMRK unbedenklich seien258 und im übrigen auch nur eine Kontrolle desrichterlichen Ermessens auf (richterlichen) Mißbrauch stattfinde. 259 Insoweit würden auch die hier diskutierten Mißbrauchsreaktionen schwerlich den sachlichen Gehalt des Art. 6 III EMRK verletzen. b) Die entscheidende Frage lautet somit vielmehr - gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Normgeprägtheit -, wer eine solche Verwirkung und damit eine Einschränkung des Grundrechts „ vorsehen " bzw. bestimmen kann. Hierzu finden sich in der Literatur - soweit ersichtlich - kaum detaillierte Überlegungen.260 Versucht man allerdings, sich ihr von allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen her anzunähern, wird klar, daß grundsätzlich die Beschränkungen (bzw. bei normgeprägten Grundrechten: 261 die Ausgestaltung) von Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt kraft kollidierenden Verfassungsrechts (wie bei Art. 103 I GG) keinesfalls unter (formell oder materiell) geringeren Anforderungen erfolgen darf als bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt. Deshalb ist auch bei diesen ein - zwar wohl nicht notwendigerweise förmliches, hier aber eigentlich nur als förmliches denkbares - Gesetz erforderlich, um das Grundrecht zu beschränken. Dieser - im Ergebnis auch für normgeprägte Grundrechte ohne Eingriffsvorbehalt zwingende - Zusammenhang ergibt sich letztlich aus dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, der aus Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird und nach h.M. als allgemeines Prinzip durch die speziellen grundrechtlichen Vorbehalte nur ergänzt und konkretisiert, nicht aber verdrängt wird. Er besagt, über die klassische Formulierung des „Eingriffs
258
Vgl. IntKomEMRK-Vogler, Art. 6 Rn. 572 Vgl. Peukert, in Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985, Art. 6 Rn. 138. 260 Dies belegt zugleich die oben bereits erwähnte Feststellung, daß die verfassungsrechtliche Dimension des Mißbrauchsverbots bisher nur wenig untersucht ist. Eine Andeutung findet sich offenbar z.B. bei Kröpil, DRiZ 1996, 448, 451, 452, der jedoch insbesondere die Bedeutung des Gesetzesvorbehalts angesichts der Prozeßgrundrechte nicht problematisiert. Interessant zur Frage nach der Zuständigkeit für die Mißbrauchsreaktion beim rechtlichen Gehör M/D/H/Schmidt-Aßmann, Art. 103 I Rn. 83, der sich insoweit bedeckt hält und nur davon spricht, daß eine Verwirkung überhaupt vorgesehen werden kann; freilich spricht der Begriff des „Vorsehens" eher dafür, daß Schmidt-Aßmann den Gesetzgeber vor Augen hat, der abstrakte Normen für eine Vielzahl von zukünftigen Fällen schafft, und nicht das Gericht, das in einem Einzelfall entscheidet. Dagegen stützt BoK-Rüping, Art. 103 I Rn. 72 f. (den Schmidt-Aßmann wiederum als Beleg für die Möglichkeit der Verwirkung zitiert) seine Annahme der Verwirkungsmöglichkeit vor allem auf Einzelfallentscheidungen von Strafgerichten. 261 Zum Begriff des normgeprägten Grundrechts vgl. die Nachweise oben Fn. 254. Bereits aus der begrifflichen Einordnung der betroffenen Grundrechtsgewährleistungen als „rtö/Twgeprägte" Grundrechte zu schließen, daß ihre Ausgestaltung durch Normen, d.h. also regelmäßig durch den Gesetzgeber und nicht (nur) durch den Rechtsanwender erfolgen muß, wäre freilich ein sehr formales und alleine wenig überzeugendes Argument. 259
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
129
in Freiheit und Eigentum" hinausgehend, daß ein staatlicher Eingriff in eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition einer (zumindest mittelbaren) Legitimation durch ein Gesetz bedarf. 262 Nun ist zwar die Frage, wann bei normgeprägten Grundrechten ein solcher „Eingriff 4 vorliegt, problematisch. Aus diesem Grund wird z.B. bei Art. 14 GG mitunter nicht von Eingriffen in das Eigentumsrecht, sondern von „eigentumsrelevanten" Maßnahmen gesprochen; 263 gerade bei Art. 14 GG ist aber auch anerkannt, daß jedenfalls dann eine Maßnahme vorliegt, die einer (gesetzlichen!) Rechtfertigung bedarf, wenn der gesetzliche status quo, der das Eigentum zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt umschreibt, zu Lasten des Grundrechtsbegünstigten verkürzt wird. 264 Auf das rechtliche Gehör und das Recht auf ein faires Verfahren übertragen bedeutet dies: ein Eingriff in eine grundrechtlich geschützte Rechtsposition liegt jedenfalls dann vor, wenn eine nach Art. 103 I GG bzw. für das Fair-trial-Prinzip relevante und z.Z. gesetzlich gewährte Befugnis verkürzt werden soll. 265 Da die jeweils geltende gesetzliche Regelung eine subjektive Rechtsposition des Verfahrensbetroffenen darstellt, erfordert eine Verkürzung dieser Rechtsposition als Eingriff in das (bzw. als neue Ausprägung des) Grundrecht(s) regelmäßig eine gesetzliche Grundlage. Dieser allgemeine Gesetzvorbehalt kollidiert aber mit einem ungeschriebenen Rechtsmißbrauchsverbot als Prinzip der gesetzesübersteigenden Rechtsfindung, so daß für eine Lösung unseres Problems im folgenden näher zu untersuchen ist, wie sich der Gesetzesvorbehalt und das Mißbrauchsprinzip zueinander verhalten: c) In der strafprozessualen Literatur wird der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes, der im Verwaltungsrecht eine große Bedeutung hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen266 allenfalls knapp behandelt und insbesondere auch in seiner Bedeutung für die Rechtsfindung außerhalb des Bereichs secundum legem 262 Vgl. MIOIU-Herzog, Art. 20 Rn. 55 ff; Kloepfer, JZ 1984, 685 ff.; Krey, BlauFS, 123, 141. 263 Ähnlich auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1995, 449, für den nur die Enteignung ein Eingriff i.e.S. in das Grundrecht des Art. 14 GG ist. 264 Vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 966. 265 Etwas ähnliches gilt auch bei Art. 2 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsgebot, soweit dadurch das Fair-trial-Prinzip begründet werden soll: obwohl Art. 2 GG selbst gerade kein normgeprägtes Grundrecht ist, können die näheren Ausgestaltungen eines fairen Verfahrens erst durch den Gesetzgeber geschaffen werden. 266 Mit dem Vorbehalt des Gesetzes im Straf- und Strafverfahrensrechts auch außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 103 II GG hat sich vor allem Krey mehrfach verdienstlich auseinandergesetzt. Vgl. vor allem Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977; Blau-FS, 123 ff.; vor allem auf der Grundlage der Arbeiten Kreys findet sich auch eine ausführliche Diskussion bei Bär, 69 ff., insb. 122 ff., der sich allerdings im wesentlichen auf den Bereich strafprozessualer Zwangsmaßnahmen beschränkt.
9 Kudlich
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
oft gar nicht angesprochen. 267 Soweit er ausführlicher erörtert wird, geschieht dies meist nur mit Blick auf strafprozessuale Zwangsmaßnahmen.268 Außerdem wird die Problematik dann (folgerichtig) nicht unter dem Blickwinkel des Mißbrauchsverbots (da ein Mißbrauch bei Zwangsmaßnahmen regelmäßig nur durch den Staat, nicht durch den Bürger denkbar ist), sondern der Zulässigkeit von Analogien erörtert: Deren Zulässigkeit im Geltungsbereich des Gesetzesvorbehalts anzuzweifeln, gibt es nämlich (auch bei grundsätzlicher Billigung von Analogien unter methodischen Gesichtspunkten) durchaus gute Gründe. Da es im öffentlichen Recht um die Rechtsbeziehung zwischen dem Staat und dem Bürgers, und nicht um die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern untereinander geht,269 läßt sich die unbefangene Neigung zu Analogien aus dem Zivilrecht nicht aufs öffentliche Recht übertragen.270 Es ist vielmehr naheliegend, die Anforderungen des Art. 103 II GG (wenngleich in im einzelnen abgeschwächter Form) auch auf den allgemeinen Gesetzesvorbehalt zu übertragen, da die Wurzeln beider Gesetzlichkeitsgarantien teilweise die selben sind.271 Im einzelnen lassen sich auch die meisten Argumente für ein Analogieverbot aus den - auch in Art. 103 II GG enthaltenen - verschiedenen Dimensionen des Vorbehaltsdogmas ableiten. Allerdings sind die zur Analogie vorgebrachten Argumente auch für das Problem eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbot von Interesse, da es letztlich um eine ganz ähnliche Problematik nur aus einer unterschiedlichen Perspektive handelt. In beiden Fällen findet ein vom Wortlaut des Gesetzes nicht ausdrücklich geregelter Eingriff in die Rechte des Bürgers statt: Einmal durch die Erweiterung staatlicher Eingriffsbefugnisse mittels Analogie, ein andermal durch die Beschränkung von gesetzlich zugestandenen Rechten durch das Mißbrauchsverbot. Die eine Analogie bejahenden und verneinenden Stimmen dürften dabei ungefähr die Waage halten; insbesondere im neueren Schrifttum
267 So findet z.B. das Stich wort des Gesetzesvorbehalts (oder Vorbehalts des Gesetzes; ebenso der Analogie oder des Analogieverbots) keine Erwähnung in den Stichwortverzeichnissen der Lehrbücher von Beulke, Gössel, Kühne, Ranft, und Schroeder bzw. in der Kommentarliteratur in Kleinknecht/Meyer-Goßner, KMR und im Karlsruher Kommentar. Teilweise wird die Problematik zwar gleichwohl angesprochen (so z.B. bei Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 166 FN 12), dann allerdings nur kurz und auf spezielle Probleme bezogen. 268 Vgl. vor allem die Darstellung bei SKJStPO-Rudolphi, Vorbemerkungen vor §§ 94 ff. Rn. 13 ff. sowie ferner bei Bär, 69 ff., insb. 122 ff. 269 Dies gilt grundsätzlich selbst dann, wenn diese Beziehungen mit Hilfe der staatlichen Gewalt durchgesetzt werden. Doch selbst in diesem Fall werden verfassungsrechtliche Grenzen von Eingriffsbefugnissen beachtet, vgl. nur BVerfGE 51, 97 ff. zur Bedeutung des Art. 13 GG beim Eindringen eines Gerichtsvollziehers in eine Wohnung nach § 758 ZPO. 270 Ähnlich Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973,172. 271 Vgl. dazu Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt, 1977, 38 f. sowie die Nachweise unten Fn. 329.
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
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ist aber zunehmend die Tendenz festzustellen, ein Analogieverbot (vor allem im Bereich der Zwangsmaßnahmen) auf Grund des allgemeinen öffentlichrechtlichen Gesetzesvorbehalts anzunehmen.272 d) Auch die Rechtsprechung befaßt sich selten explizit mit der Problematik und bietet - soweit sie berührt und sogar angesprochen wird - ein uneinheitliches Bild; vor allem aber ist eine Ableitung verallgemeinerungsfähiger Grundsätze kaum möglich. So stellt z.B. das BVerfG in einer Entscheidung vom 23.02.1990273 im Zusammenhang mit Straferlaß und Gesamtstrafenbildung fest, daß für verfahrensrechtliche Vorschriften ein Analogieverbot gelte; dabei könne offen bleiben; ob dieses aus Art. 103 I I GG oder aus dem allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes (und damit letztlich aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 I I I GG) herzuleiten sei. Demgegenüber führt der BGH in seiner oben schon mehrfach erwähnten und unten noch ausführlich analysierten Entscheidung vom 07.11.1991274 ohne weitere Begründung (oder auch nur Erörterung dieser Problematik) aus, daß auf der Grundlage des allgemeinen Mißbrauchsverbots - das prima vista für den Gesetzesvorbehalt ebenfalls relevant erscheint - auch ohne gesetzliche Verankerung das Beweisantragsrecht des Angeklagten nicht unerheblich eingeschränkt werden dürfe. In einer Reihe weiterer Entscheidungen wird die Frage nach einer Analogie zwar gestreift, jedoch sogar jeweils für sich genommen kaum verallgemeinerungsfähig beantwortet, z.B. weil nicht zur Möglichkeit einer Analogie im Strafverfahren überhaupt Stellung genommen wird, sondern eine solche beispielsweise mit der (zumindest konkludenten) Begründung abgelehnt wird, daß eine vergleichbare Interessenlage gar nicht vorliege: 275 So hatte z.B. der BGH in einem Urteil vom 25.06.1970276 (ebenso wie für ähnlich gelagerte Fragen verschiedene andere Obergerichte 277) die Ableitung aktiver Mitwirkungspflichten im Zusammenhang mit der Fahrtüchtigkeitsbestimmung in analoger Anwendung des § 81a StPO abgelehnt; dies wird aber vor allem darauf gestützt, daß die
272
Vgl. näher zu einzelnen Stellungnahmen in der Literatur unten 2. und 3. BVerfG NJW 1991,558. 274 BGHSt 38, 111, insb. 112 f. Vgl. dazu näher unten 3. Teil Β I, S. 275 ff. 275 Eine (über die im folgenden aufgezählten Entscheidungen hinausgehende) ausführliche Übersicht zu Entscheidungen, die sich mit der Frage einer Analogie bzw. eines Analogieverbots im Strafprozeßrecht beschäftigen, findet sich - jeweils mit kurzer Inhaltsangabe und Wiedergabe der wichtigsten Entscheidungsgründe - bei Bär, 72 ff. Die Tatsache, daß diese Entscheidungen ohne nähere Stellungnahme nur der Reihe nach aufgezählt werden, darf wohl als Bestätigung dafür gesehen werden, daß sie für eine allgemeine Beantwortung der Frage wenig hergeben. Allerdings scheint Bär nicht näher zwischen der Uneinheitlichkeit hinsichtlich der Ergebnisse und der schon per se begrenzten Aussagekraft einzelner Entscheidungen zu differenzieren. 276 BGH VRS 39, 184. 277 Vgl. nur BayObLG NJW 1963, 772; OLG Hamm NJW 1976, 1524; OLG Schleswig VRS 30, 344; aus der Literatur KMR-Paulus, § 81a Rn. 17. 273
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Interessenlage einer aktiven Mitwirkung mit der bei einer Duldungspflicht nicht vergleichbar ist. Dann wären aber selbst bei grundsätzlicher Zulässigkeit einer Analogie deren Voraussetzungen gar nicht gegeben, so daß der damit begründeten Ablehnung einer Analogie im konkreten Einzelfall kein generelles Analogieverbot entnommen werden kann. Ähnlich stellt sich die Situation bei der Ablehnung einer analogen Anwendung des § 108 StPO auf „Zufallsfunde" im Rahmen der Telefonüberwachung 278 oder gar auf Raumgespräche279 oder des § 97 II 3 StPO auf das aus § 148 StPO abgeleitete Verbot einer Überwachung des Verteidigertelefonanschlusses dar.2K() Einzig in einer Entscheidung zur analogen Anwendung der §§ 100a f. StPO auf einen Stimmvergleich auf Grund eines bei einem nicht telefonischen Gespräch aufgenommenen Tonbandes281 bemüht der BGH ausdrücklich den Vorbehalt des Gesetzes, wobei aber auch in diesem Fall eine Analogie auf Grund fehlender Interessengleichheit hätte ausscheiden müssen. In einer weiteren Gruppe von Entscheidungen wurde zwar eine Rechtsfindung praeter legem ebenfalls abgelehnt, indes spielten hier besondere Erwägungen eine zusätzliche Rolle, die nicht zwingend allgemein übertragbar sind: So hatte das BVerfG in seinem „Schily-Beschluß"28 einen Verteidi^erausschluß ohne gesetzliche Grundlage (entgegen der Vorentscheidung des BGH28 ) abgelehnt. Indes wurde dies weniger auf die Beeinträchtigung der prozessualen Situation der Angeklagten, sondern auf den gleichzeitig damit verbundenen Eingriff in die Berufsfreiheit des Rechtsanwalts gestützt. Außerdem hatte der BGH in der Vorentscheidung den Ausschluß nicht auf eine Analogie, sondern auf - vom BVerfG im konkreten Fall verneintes - Gewohnheitsrecht sowie auf eine allgemeine, den Vorschriften über die Verteidigung vorgeblich entnehmbare Wertungen und somit letztlich auf eine methodisch in keiner Weise untermauerte, rechtspolitische Beurteilung gestützt. In einem weiteren Fall hatte das BVerfG den vom BGH gebilligten284 Haftbefehl auf Grund einer analogen Anwendung des § 30 des Deutschen Auslieferungsgesetzes (DAG) beanstandet, da eine Analogie nicht den speziellen Anforderungen des § 104 GG genügen könne, der explizit eine förmliche Regelung fordere.285 Doch ist gerade dieses auf Art. 104 GG gestützte, spezielle Erfordernis eines formellen Gesetzes, welches das BVerfG in die Nähe des Art. 103 II GG rückt, nicht ohne weiteres auf jede andere grundrechtsrelevante Maßnahme zu übertragen.286 Umgekehrt tragen einzelne, eine weite Rechtsanwendung billigende Entscheidungen nicht die Annahme eines allgemeinen Grundsatzes, wonach eine Analogie stets zulässig sei. So billigt z.B. das BVerfG eine Gegenüberstellung mit einer zwangsweisen Veränderung der Haar- und Bartracht des Beschuldigten als „weite Auslegung" des (und damit gerade nicht als Analogie zu) § 81a StPO.287 Eine Entscheidung des BGH vom 278
Vgl. BGHSt 26, 298, 303 (heute gesetzlich geregelt in § 100b V StPO. Vgl. BGHSt 31, 296, 301. 280 Vgl. BGHSt 33, 347, 352 f. 281 Vgl. BGHSt 34, 39, 50. 282 Vgl. BVerfGE 34, 293. Vgl. dazu und zur Entstehung des § 138a StPO auch Kröpil, DRiZ 1996, 448,451. 283 Vgl. BGH NJW 1972, 2140. 284 Vgl. BGHSt 22, 58. 285 Vgl. BVerfGE 29,183,195 f. 286 Dies gesteht auch - der ein Analogieverbot selbst bejahende - Krey t Strafverfahrensrecht II Rn. 266 ein. 287 Vgl. BVerfGE 47, 239, insb. 246 ff. 279
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
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21.06.1956 billigte zwar die analoge Anwendung des § 251 I Nr. 2 StPO im Falle einer anwesenden, aber auf absehbare Zeit nicht verhandlungsfähigen Zeugin,2KK indes handelt es sich (nicht nur um eine recht frühe Entscheidung, sondern auch) um einen Fall, in dem subjektive Rechtspositionen des Beschuldigten allenfalls sehr mittelbar tangiert wurden, da der von § 251 StPO eingeschränkte Unmittelbarkeitsgrundsatz vor allem eine objektiv-rechtliche Dimension hat. Ebensowenig kann die allgemeine Zulässigkeit der Analogie aus einer Entscheidung des BVerfGE entnommen werden, in der die (durch Anordnung einer Unterbrechung faktische) Verlängerung der Verjährung für vor dem Erlaß dieses Gesetzes begangene (NS-) Straftaten gebilligt und ein Verstoß gegen Art. 103 II GG abgelehnt wurde:289 zum einen ist hier eher das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG als sein Analogieverbot betroffen, zum anderen ging es hier gerade um einen Akt des Gesetzgebers und nicht der Judikative, so daß sich die Vorbehaltsproblematik ohnehin nicht im hier interessierenden Sinne stellt. e) Von einer einhelligen Ansicht oder auch nur einer gesicherten Rechtsprechung zur Frage, inwieweit im Strafverfahrensrecht die Analogie 290 oder noch allgemeiner: die Rechtsfindung über den Bereich secundum legem hinaus zulässig ist, kann somit nicht gesprochen werden. Vielmehr muß das Verhältnis von Art. 103 I I GG (vgl. sogleich 2.) bzw. allgemeinem Gesetzesvorbehalt (vgl. u. 3.) und ungeschriebenem Mißbrauchsverbot von seinen Grundlagen her geklärt werden.
2. Die Bedeutung des nulla-poena-Grundsatzes für die Rechtsfindung im Strafprozeßrecht Nach Art. 103 I I GG kann eine Tat nur „bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Aus dieser (grundrechtsgleichen, vgl. Art. 93 I Nr. 4a GG) Garantie werden einhellig die Gebote der lex certa (Bestimmtheitsgebot), der lex scripta (Verbot des strafbegründenden oder -schärfenden Gewohnheitsrechts), der lex praevia (Rückwir-
288
Vgl. BGHSt 9, 297, 300. Vgl. BVerfGE 25, 269, insb. 287. 290 Im Hinblick auf die Frage nach einem Analogieverbot bleibt nicht zuletzt aus Gründen des Umfangs und der Schwerpunktsetzung die folgende Darstellung auf die wichtigsten Entwicklungslinien und entscheidenden Schaltstelllen der Diskussion beschränkt, insbesondere soweit diese auch für die Übertragbarkeit auf die Mißbrauchsproblematik eine Rolle spielen. Zur Vertiefung von Einzelfragen zum nulla-poenaGrundsatz sei vor allem auf die folgenden Werke verwiesen: Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983; ders., Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977; Schreiber, Gesetz und Richter - Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976; Schünemann, Nulla poena sind lege?, 1978; einen guten und doch überschaubaren Überblick gibt auch Bär, 85 ff. 289
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
kungsverbot) und schließlich der lex stricta (Analogieverbot) abgeleitet.291 Welchen Anwendungsbereich allerdings diese Garantien haben, ist im einzelnen nicht unumstritten, wobei die herrschende Ansicht davon ausgeht, daß Art. 103 I I GG im Strafprozeß zumindest insoweit nicht gilt, als es um rein verfahrensrechtliche Vorschriften geht. Die nachfolgende, Art. 103 II GG betreffende, Untersuchung soll aus diesem Grund auf die wichtigsten Gesichtspunkte beschränkt werden: Von Interesse ist zum einen, ob es gute Gründe gibt, von dieser einhelligen Ansicht abzuweichen; zum anderen wird Wert auf solche Aspekte gelegt, die allgemein für das Verhältnis der lex scripta zur Rechtsanwendung von Interesse sind. Die Frage nach der Geltung des nullapoena-Grundsatzes im Strafprozeßrecht soll dabei vom Wortlaut des Art. 103 I I GG ausgehend auch anhand seiner Dogmengeschichte sowie seiner (durch jene präziser zu fassende) ratio untersucht werden.
a) Ansatzpunkte im Wortlaut des Art. 103 I I GG Art. 103 I I GG fordert, daß „die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt" war. Zwar erschiene es mit dem Wortlaut des Art. 103 I I GG vereinbar, den Begriff verfassungsspezifisch weit zu verstehen 292 und unter seine Garantie all die Normen fallen zu lassen, die letztlich für die Verhängung einer Strafe von Bedeutung sein können. Dafür spricht nicht nur, daß für das von der Strafverfolgung betroffene Individuum als durch das grundrechtsgleiche Recht geschütztes Rechtssubjekt verfahrensrechtliche Vorschriften von ähnlich großer Bedeutung sein können wie das materielle Recht,293 sondern auch die systematische Stellung des Art. 103 I I GG zwischen dem Prozeßgrundrecht des Art. 103 I und der ebenfalls formalen Garantie des Art. 104 GG. Indes spricht mehr dafür, unter dem in Art. 103 I I GG verwendeten Begriff der „Strafbarkeit" ausschließlich die materielle Verbotsnorm (also die Frage,
291
Vgl. hierzu statt vieler nur aus der strafrechtlichen Literatur Tröndle, Rn. 8 ff. (der das Bestimmtheitsgebot insofern als Oberbegriff versteht); Sch/Sch-Eser, § 1 Rn. 6 ff.; Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, 27; ders., Blau-FS, 123, 130 ff.; zuletzt Hettinger , JuS 1997, L 17, 19 f.; aus der verfassungsrechtlichen Literatur AK/GG-Wassermann, Art. 103 Rn. 47 ff.; Jarass/Pieroth-Pi^ro/Λ, Art. 103 Rn. 43 ff.; Pieroth/Schlink, Rn. 1165; Sachs-Degenhart, Art. 103 Rn. 49. 292 In diesem Sinne wohl Arndt, NJW 1961, 14, 15. Lüderssen, JZ 1979, 449, 450. Allgemein zum Gebot einer weiten Auslegung von Grundrechten, nach der „die juristische Wirkungskraft des betreffenden Norm am stärksten entfaltet" wird, BVerfGE 6, 55, 72; 43, 154, 167 als Beispiele aus der ständigen Rechtsprechung des BVerfG; vgl. dazu auch Jarass/Pieroth-Zarass, Einl. Rn. 8. 293 So deutlich Bär, 104: „Ihn (= den betroffenen Bürger, H.K.) interessiert neben dem „Ob" eines strafbaren Verhaltens vor allem die Frage, mit welchen Mitteln („Wie") dies festgestellt werden kann."
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ob ein bestimmtes Verhalten unter Androhung einer Strafe verboten ist) zu verstehen, nicht dagegen die Frage, unter welchen Voraussetzungen und nach welchem Verfahren diese Strafe verhängt wird. Auch das BVerfG 294 sieht in der „Strafbarkeit" gewissermaßen nur die engste, materielle Voraussetzung der Verfolgbarkeit. Hätte der Verfassungsgeber einen weiteren Anwendungsbereich gewünscht, hätte er genauer von einer „Verfolgbarkeit" sprechen müs sen.295 Unter systematischen Gesichtspunkten ist ferner anzuführen, daß auch der Art. 103 II GG nachfolgende Grundsatz des ne bis in idem (Art. 103 III GG) den Begriff des „Strafgesetzes" und des „Bestrafens" sinnvollerweise nur i.S.d. materiellen Rechts und der darin angedrohten Sanktion verstehen kann. 296 Schließlich ist zu beachten, daß Art. 1 0 3 I I G G nicht nur wortgleich mit § 1 StGB übereinstimmt, sondern auch mit dem früheren § 2 I StGB a.F. Zwar ist Bär darin zuzustimmen, daß grundsätzlich Verfassungsbegriffe nicht durch einfachgesetzliche Formulierungen eingeschränkt werden können;297 dies schließt jedoch nicht die Vorstellung aus, daß auch der Verfassungsgeber sich an Sprachgebrauch und Inhalten des Gesetzesrechts orientiert, wenn er bei seiner Wortwahl feststehende gesetzliche Formulierungen in den Verfassungstext übernimmt. Im Ergebnis wäre somit eine weite, das Strafprozeßrecht (generell) miteinbeziehende Auslegung des Art. 1 0 3 I I G G seinem Wortlaut nach zwar nicht ausgeschlossen, die besseren Gründe sprechen aber für die grundsätzliche Beschränkung auf materielle Normen. Keinesfalls jedoch ergeben sich aus dem Wortlaut ernsthafte Bedenken gegen diese enge Auslegung der herrschenden Meinung. Die Frage, inwiefern eine Ausdehnung des nulla-poena-Grundsatzes zumindest auf alle Normen, die unmittelbar zur Strafbegründung oder Strafschärfung führen, und damit die Aufgabe einer allzu formalistischen Trennung zwischen formellem und materiellem Recht wünschenswert ist, bedarf dagegen 294
Vgl. BVerfGE 25, 269, 287, wonach mit der Strafbarkeit die Verfolgbarkeit, nicht dagegen mit der Verfolgbarkeit auch die Strafbarkeit entfallen soll; vgl. dazu auch Bökkenförde, ZStW 91 (1979), 888, 891; krit. insoweit Schünemann, NStZ 1981, 143, 144. 295 So im Ergebnis Calvelli- Adorno, NJW 1965, 273, 274; Krey, JA 1983, 233, 235; SK/StGB-Rudolphi, § 1 Rn. 10; AK/GG-Wassermann, Art. 103 Rn. 50. 296 Von diesem speziellen Zusammenhang in Art. 103 III GG abgesehen wäre der Begriff der „Strafe" eventuell sogar noch etwas weiter zu verstehen als der der „Strafbarkeit", was um so mehr dafür spricht, die Strafbarkeit in Art. 103 II GG in einem engen materiellen Sinn zu verstehen. Bär, 103, weist darauf hin, daß bei den Beratungen zum GG auch erwogen wurde, in Art. 103 II GG statt des bereits in Art. 116 WRV enthaltenen Begriffes der Strafbarkeit den der Strafe zu verwenden, welcher den gleichen Bedeutungsgehalt haben sollte. Indes ist damit noch nichts darüber ausgesagt, welcher Bedeutungsgehalt dies sein sollte: daß letztlich doch „Strafbarkeit" Aufnahme in den Verfassungstext fand, spricht wohl dafür, daß bei einer Gleichsetzung eher die Strafe im engeren Sinn der materiellen Strafbarkeit als umgekehrt die Strafbarkeit im (potentiell) weiteren Sinn der Strafe verstanden wurde. 297 Vgl. Bär, 103 f.
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im Zusammenhang mit den vom hier behandelten Mißbrauchsverbot betroffenen reinen Verfahrensnormen keiner Vertiefung. 298
b) Geschichtlicher Hintergrund des Art. 103 I I GG 299 Obwohl es schon in der Constitutio Criminalis Carolina (CCC), der „Peinlichen Gerichtsordnung" Kaiser Karl V. sowie in der „Magna Carta Libertatis (MCL)" 3 0 0 König Johanns von England aus dem Jahre 1215 in den Art. 104, 105 CCC 301 bzw. in Art. 39 MCL 3 0 2 gewisse Ausprägungen einer richterlichen Willkürkontrolle gab,303 ist der nulla-poena-Grundsatz nach heutigem Verständnis im wesentlichen „eine Frucht des aufklärerischen Denkens" 304 . Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang Montesquieu und Beccaria: Montesquieu war es, der vor allem in seinem Werk „De l'esprit des lois" die Idee des Gesetzesstaates und der Gewaltenteilung zum Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür entwickelt hatte, welche zur ihren reinen Verwirklichung eine gesetzliche Grundlage für alles staatliche Handeln bedürfe. Unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 II GG in seiner heutigen Form betrifft diese Vorstellung vor allem das Gebot der lex scripta, aber auch der lex certa und stricta.305 Dabei hatte bereits Montesquieu 298 Ähnlich für die Unterscheidung zwischen unmittelbar strafrelevanten und anderen formellen Vorschriften hinsichtlich der Frage nach einer analogen Anwendung des § 112a I 1 StPO auf Fälle des § 323a StGB Schlächter, Das Strafverfahren, Rn. 217 FN 178. Speziell für den durch Art. 104GG geschützten (und von der Untersuchungshaft betroffenen) Bereich der persönlichen Freiheit dürfte allerdings eine Analogie gegen das Gebot eines förmlichen Gesetzes verstoßen, wie es das BVerfG (E 29, 183, 195 ff.) versteht, vgl. auch Krey, Blau FS, 123, 148 (insb. FN 142, 143). 299 Zur geschichtlichen Entwicklung des nulla-poena-Grundsatzes vgl. vor allem Schottlaender, Die geschichtliche Entwicklung des Satzes: Nulla poena sine lege, 1911/1977 und Schreiber, Gesetz und Richter - Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976. Speziell zur Entwicklung des Rückwirkungsverbotes Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, 27 ff. 300 Vgl. näher zur Bedeutung der Magna Carta Libertatis insgesamt Voigt, JuS 1965, 218 ff. 301 Vgl. hierzu Schottlaender, Die geschichtliche Entwicklung des Satzes: Nulla poena sine lege, 1911/1977, 36 ff. einerseits, Schreiber, Gesetz und Richter - Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976, 27 sowie Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, Rn. 71 andererseits. 302 Vgl. hierzu Schottlaender, Die geschichtliche Entwicklung des Satzes: Nulla poena sine lege, 1911/1977, 28 einerseits, Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, S. 43 f. andererseits. 303 Näher zum Meinungsstand und mit weiterführenden Nachweisen Bär, 89 ff. 304 Vgl. Krey, Blau-FS, 123, 127. Näher Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, Rn. 13, 38. 53; Schreiber, Gesetz und Richter - Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976, 53 ff. 305 Ebenso Krey, Blau-FS, 123, 127; interessant in diesem Zusammenhang auch Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, Rn. 53, wonach ein Rückwirkungsverbot zwar auch in der Konsequenz von Montesquieus Denken gelegen hätte, dieses aber
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unter dem Eindruck der besonderen Bedeutung des Strafrechts für seine Idee des Gesetzesstaats in diesem Rechtsgebiet die „sichersten Richtlinien für Strafurteile' 4 und die „bestmöglichen Gesetze" gefordert. Diese Forderung und ihre allgemeine, staatsrechtliche Wurzel wurden von Beccaria insbesondere in seiner Abhandlung „Dei delitti e delle penne" aufgenommen und vertieft. Die Ergebnisse dieses aufklärerischen Rechtsdenkens, das Eingreifen des Staates insbesondere auch auf dem Gebiet des Strafrechts rechenbarer zu machen, wurden im ausgehenden 18. Jahrhundert auch in einigen Kodifikationen, namentlich in der „Josephina" von 1787, in die Praxis umgesetzt.306 Die weitere Durchsetzung und Ausgestaltung dieser Gedanken - und auch die prägnante Formel „nulla poena sine lege" - sind eng mit Anselm von Feuerbach verbun den:307 Er machte den nulla-poena-Grundsatz nicht nur zum Bestandteil seines Entwurfes zum „Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern" von 1813, dessen Art. 1 zum Vorbild für viele weitere Kodifikationen des 19. Jahrhundert wurde (so insbesondere auch für das „Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten" von 1851, das wiederum Grundlage für das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 war).308 Vielmehr stellte Feuerbach den nulla-poena-Grundsatz auch auf eine neue (bzw. weitere) theoretische Grundlage: Neben dem Schutz vorrichterlicher Willkür 309 begründete von Feuerbach das Gesetzeserfordernis auch mit der general-präventiven „Theorie des psychologischen Zwangs", der dem physischen Zwang durch Verhängung einer Strafe zuvorkommen und damit die Rechtsgüter noch besser schützen sollte. Eine solche Abschreckung könne aber nur auf Grund eines im voraus möglichst genau angedrohten Übels für eine bestimmte Tat und damit letztlich auf Grund einer möglichst genauen und vollständigen Kodifikation erfolgen. Nach den schon angesprochenen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts gelangte der nulla-poena-Grundsatz auch in Art. 116 WRV und - nachdem seine Geltungskraft während der nationalsozialistischen Zeit zunächst tatsächlich, bald aber auch durch Gesetzesänderungen stark eingeschränkt worden war - schließlich in Art. 103 II GG. Zwar erfolgte diese Aufnahme ins Bonner Grundgesetz sicher ebenfalls vor allem aus rechtsstaatlichen Erwägungen (und speziell auch als Reaktion auf die Entwicklung während der Jahre 1933 bis 1945); allerdings ist angesichts der großen verfassungsrechtlichen Bedeutung des Demokratieprinzips auch der bereits seit dem 19. Jahrhundert im stärker hervortretende zusätzliche Gesichtspunkt des Konstitutionalismus zu berücksichtigen, wonach die Garantie der lex scripta, certa und stricta dazu führt, daß die Strafe als intensivster Eingriff in die bürgerliche Freiheitssphäre so weit als möglich durch den parlamentarischen Gesetzgeber als einziges unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ bestimmt wird.
„gewissermaßen erst von seiner zu starken Fixierung auf richterliche Willkür befreit und zu Ende gedacht werden" mußte, um auch zum Gebot der lex praevia zu gelangen. 306 Vgl. dazu nur Schreiber, Gesetz und Richter - Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976, 75 ff. Aufnahme finden diese Gedanken außerdem z.B. auch in das Preußische ALR und in die französische Menschrechtserklärung von 1789 („Declaration des droits de l'homme et du citoyen"). 307 Vgl. Krey, Blau-FS, 123, 129. 308 Vgl. Schreiber, Gesetz und Richter - Zur geschichtlichen Entwicklung des Satzes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976,162 ff. 309 Hierzu Krey, Blau-FS, 123, 129.
be-
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Zusammenfassend kann somit als Ergebnis der dogmengeschichtlichen Betrachtung festgehalten werden, daß die Hauptwurzel des nulla-poena-Grundsatzes und damit des Art. 103 I I GG im rechtsstaatlichen Element des Schutzes vor richterlicher Willkür liegt. Dies würde durchaus einer Erstreckung seiner Geltung auf das Strafverfahrensrecht nicht entgegenstehen. Indes ist zu berücksichtigen, daß als zweite wichtige Wurzel nur für den Bereich des materiellen Strafrechts das präventive Element nach von Feuerbachs Theorie des psychologischen Zwanges hinzutritt. 310 Dies führt zu einer Sonderrolle des Strafrechts, die auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten durchaus Sinn macht, nachdem die aufklärerische, von Kodifikationsoptimismus und -euphorie genährte Vorstellung des idealen Gesetzes und des vollkommenen Gesetzesstaat einem gewissen Realismus hinsichtlich der unvermeidbaren Unvollständigkeit der geschriebenen Rechtsordnung gewichen ist: 311 Dann könnte aber als liberalistisches Minimalziel die Forderung nach einer vollständigen Normierung durch die lex scripta wenigstens (andererseits aber auch nur) für den extrem eingriffsintensiven und als ultima ratio ohnehin als lückenhaft angelegten Bereich des (materiellen) Strafrechts aufrecht erhalten bleiben.
c) Funktionen nach modernem Verständnis des Art. 103 I I GG In Übereinstimmung mit der historischen Entwicklung des nulla-poenaGrundsatzes wird auch heute der wichtigste Zweck des Art. 103 I I GG in der Bewahrung rechtsstaatlicher, aber auch demokratischer Grundsätze gesehen.312 Diese ließen - wie oben gezeigt - zwar eine Ausdehnung seiner Anwendung auf das Strafverfahrensrecht zu, fordern sie aber nicht unbedingt, da auch unter diesen Gesichtspunkten eine Sonderrolle des materiellen Strafrechts begründ310 Dabei soll hier nicht bestritten werden, daß diese Theorie (möglicherweise sogar vorrangig) auch im liberalen staatsrechtlichen Denken seine Grundlage hat; indes ändert dies nichts daran, daß von Feuerbach seine Theorie nur für das Strafrecht entwickelt und mit ihr die Aufnahme und Fortentwicklung des Grundsatzes verstärkt hat, so daß die Sonderrolle des Strafrechts damit nicht hinwegdiskutiert werden kann. 3.1 Ähnlich mit Blick auf die Anforderungen des Art. 103 II GG in seiner Ausprägung als Bestimmtheitsgrundsatz Schmidhäuser, in: Selmer/v. Münch (Hg. ), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, 231, 240 f. 3.2 Vgl. nur M/D/H-Schmidt-Aßmann, Art. 103 II Rn. 163; ähnlich m.w.N. und auf der Grundlage einer ausführlicheren Auseinandersetzung Bär, 106 ff., insb. 112. Enge Berührungspunkte insbesondere zum Rechtsstaatsprinzip weist die Interpretation des Art. 103 II GG als Gebot der Objektivität durch Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1991 Kap. 4 Rn. 9 („Die Bindung, um die es geht, soll Objektivität garantieren: Das strafbare Verhalten und das Strafmaß sollen nicht unter dem Eindruck geschehener, aber noch abzuurteilender Taten und nicht als Mittel gegen schon bekannte Täter bestimmt werden, sondern vorab und allgemein gültig, [...]", Hervorhebungen dort) bzw. als Forderung zur Distanz zwischen staatlicher Regelungsmacht und konkreten Taten und Personen durch Marxen, GA 1985, 533, 547 ff. auf.
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bar ist. Noch eindeutiger zu einer Beschränkung des Art. 103 I I GG auf das materielle Recht würde die namentlich von Sax vertretene Ansicht führen, wonach Art. 103 I I G G vornehmlich als Ausprägung des strafrechtlichen Schuldprinzips zu verstehen sei.313 Daneben lassen sich aber für eine grundsätzliche Beschränkung des Art. 103 I I GG auf das materielle Strafrecht auch noch weitere Gründe anführen, die in der Natur der Strafnormen liegen. Auch ohne die (zwar keineswegs völlig „anachronistisch gewordene" 314, aber doch) selten alleine ausschlaggebende Trennung zwischen formellem und materiellem Recht überzubetonen, können hier folgende Gesichtspunkte genannt werden: Die materiellen Verbotsnormen richten sich an den Bürger („Was ist ihm verboten?"), während sich prozessuale Vorschriften vorrangig an den Staat richten (bei Zwangsmaßnahmen: „Was ist ihm erlaubt?", bei den hier vor allem interessierenden Vorschriften: „Welche Rechte muß er dem Bürger einräumen?" 315). Damit eng zusammen hängt der Aspekt, daß die Normen des materiellen Strafrechts unmittelbar; generell und dauernd verhaltenssteuernd wirken sollen, während dem Prozeßrecht nur eine vor allem auf die jeweiligen Prozeßsubjekte gerichtete und der Dynamik des Verfahrens unterworfene Verhaltenssteuerungsfunktion zukommt. Schließlich enthält vorrangig das materielle Strafrecht ein autoritatives Unrechtsurteil (das z.B. mit dem Vorwurf einer Schädigung elementarer gesellschaftlicher Interessen und zumeist der Gewährung eines Notwehrrechts verbunden ist), während das Prozeßrecht an Stelle der Kategorie „rechtswidrig" häufig (und insbesondere bei Handlungen des Bürgers!) „nur" die Beurteilung als „unwirksam", „unzulässig" oder „unbegründet" verwendet. 316 Im Ergebnis ist damit Art. 103 I I GG im Strafprozeßrecht zumindest auf die hier interessierenden reinen Verfahrensrechte nicht anwendbar, so daß aus die313 Vgl. Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hg.), Die Grundrechte, Bd. III 2. Halbband, 1959, 999. 314 So aber Arndt, NJW 1961, 14, 15. Gegen diese Unterscheidung und mit guten Argumenten für eine Ausdehnung des Art. 103 II GG ins Strafprozeß Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, 316 ff., insb. 323 ff.; aber selbst Dannecker kommt im wesentlichen dazu, daß Art. 103 II GG nur auf solche Vorschriften des Strafprozeßrechts anzuwenden ist, die die „Bewertung der Tat" betreffen (vgl. S. 322 ff., ins. zur Verjährung und zum Strafantrag sowie S. 353 in gewissen Grenzen zum Beweisrecht); über die Geltung des Art. 103 II GG in Form eines Analogieverbotes für reine strafprozessuale Verfahrensbefugnisse wird dadurch noch nichts ausgesagt. 315 Diese unterschiedliche Adressierung des Normbefehls ist als differenzierendes Element auch stärker zu gewichten als die Forderung, daß der nulla-poena-Grundsatz auch den „Ablauf von Handlungssequenzen" und die „Ordnung von Zuständigkeiten" im zur Strafe führenden Verfahren lückenlos vorherbeschreiben müßte (was im übrigen dazu führen würde, daß Art. 101 GG im Strafrecht keine eigenständige Bedeutung mehr hätte); vgl. zu diesem Ansatz Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 321. 316 Vgl. zu den prozessualen Wertkategorien unten 2. Teil CIV 1, S. 230 f.
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ser Vorschrift ein Verbot der Rechtsfindung außerhalb des Bereichs secundum legem nicht abgeleitet werden kann und dementsprechend auch ihre überaus strengen Anforderungen keinesfalls gelten. Vielmehr beansprucht sub specie Art. 103 II GG auch heute noch die Einschätzung Belings Gültigkeit, der bereits vor rund 70 Jahren zum Verhältnis von Strafrecht, Strafprozeßrecht und Analogieverbot ausführte: 317 „Wenn § 2 StGB (vgl. heute § 1 StGB n.F., HK) das Individuum in strafrechtlicher Hinsicht vor einer zu seinen Ungunsten wirkenden Analogie sicherstellt, so beruht dies auf dem Gedanken, daß das Strafrecht, bei dem der Nachdruck gerade auf dem Leidensollen liegt, nach Ob und Wie nicht ins Ungewisse gestellt sein soll. Die Prozeßbehelligung ist generiseli anderer Art; wenn sie das Individuum in seinen Interessen beeinträchtigt, so besteht darin nicht ihr Wesen, und deshalb steht sie nicht mit dem Strafleiden, sondern mit solchen Interessenverkürzungen auf derselben Linie, die sich das Individuum im Verwaltungsrecht dem Staate gegenüber gefallen lassen muß. Es fehlt damit an der ratio, um das Analogieverbot des § 2 StGB analog in das Strafprozeßrecht zu übertragen." Kann damit auch als Zwischenergebnis davon ausgegangen werden, daß Art. 103 I I GG auf die hier untersuchten Verfahrensrechte des Strafprozeßrechts nicht anwendbar ist und diese (grund-) gesetzlich strengste Begrenzung, die regelmäßig keine Ausnahmen duldet, 318 einem ungeschriebenen Mißbrauchsverbot nicht entgegensteht, steht damit freilich noch nicht fest, daß auch im Strafprozeßrecht ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot möglich ist. Gerade der Hinweis Belings auf das Verwaltungsrecht ist offenbar (und im Blick-
317
Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 1928,22. Gewisse Ausnahmen von diesem Analogieverbot werden allerdings von der h.M. auch im materiellen Strafrecht zugelassen, ohne daß diese tatsächlich als solche benannt werden, so z.B. die frühere sogenannte „kleine berichtigende Auslegung" zu § 246 StGB. Auch die Figur der actio libera in causa ist mit Art. 103 II GG nur schwer vereinbar, was allerdings in einer neueren Entscheidung des BGH nunmehr berücksichtigt wird, vgl. BGH NJW 1997, 138 (dazu Hirsch, NStZ 1997, 230 ff.; Hruschka, JZ 1997, 22 ff.; Neumann, StV 1997, 21 ff.; Spendet, JR 1997, 133 ff.). Nach anderen Ansätze zum Verständnis von der Rechtsfindung liegen freilich jeder Entscheidung „Analogien" zugrunde, so daß eine Abgrenzung nur zwischen noch zulässiger und nicht mehr zulässiger Analogie stattfinden kann, vgl. nur Haft , Juristische Rhetorik, 1990, 154 m.w.N. Jedenfalls aber hätte bei Anwendbarkeit des Art. 103 II GG sehr viel dafür gesprochen, daß dieser auch ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot absolut ausgeschlossen hätte. Zwar wird sogar im materiellen Strafrecht teilweise mit dem Mißbrauchsgedanken argumentiert, so z.B. bei den sozial-ethischen Grenzen des Notwehrrechts, vgl. dazu ausführlich Roxin, ZStW 85 (1973), 555 ff., Baumann, MDR 1962, 349 ff.; allerdings ist hier wenigstens durch das Tatbestandsmerkmal der Gebotenheit der Notwehr eine gewisse normative Verankerung möglich. Die z.T. ebenfalls durch Rückgriff auf den Mißbrauchsgedanken gelöste Problematik im Umweltrecht, die sich unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungsakzessorietät bei z.B. erschlichenen und fehlerhaften (aber nicht nichtigen) Genehmigungen ergab, ist durch die Einfügung des § 330d Nr. 5 StGB teilweise ebenfalls Gegenstand einer gesetzlichen Regelung geworden. 318
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winkel der damaligen Zeit durchaus verständlich) noch von einem Verständnis vom Verhältnis der staatlichen Gewalt zum Individuum geprägt, das der heutigen, durch das GG bestimmten Sichtweise nicht mehr ohne weiteres entsprechen kann. Vielmehr bleibt noch die Bedeutung des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes für die Rechtsfindung im Strafprozeßrecht zu klären. Zwar könnten dessen Grenzen insgesamt eher für Ausnahmen in Einzelfällen durchlässig sein als die des Art. 103 I I GG, indes läßt sich dies erst auf der Grundlage einer genaueren Analyse entscheiden.
3. Die Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes für die Rechtsfindung im Strafprozeßrecht Da es eine gesetzliche Normierung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts nicht gibt, muß - anders als oben bei Art. 103 I I GG - auf eine Analyse des Wortlauts verzichtet werden, so daß nach einer knappen Darstellung der historischen Wurzeln der Anwendungsbereich des Vorbehaltsgrundsatzes sowie die Frage nach den daraus resultierenden Konsequenzen für ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot erörtert werden können. Da diese Problematik - soweit ersichtlich - bisher noch kaum behandelt ist, 319 muß insoweit auf (in der gebotenen Knappheit) auf die Grundlagen des Gesetzesvorbehalts320 zurückgegriffen werden. Gewisse Anregungen können sich ferner aus der - zwar noch nicht als abgeschlossen zu erachtenden, aber schon durch mehrere beachtenswerte Stellungnahmen geprägten - Diskussion über die Zulässigkeit von belastenden Analogien im Strafprozeßrecht (aber auch im sonstigen Verwaltungsrecht) ergeben. Steht doch auch diese in einem gewissen Widerspruch zu den Anforderungen eines allgemeinen Gesetzes Vorbehalts. Hier wäre zumindest für das herrschende deduktive Rechtsfindungsmodell prima vista die Annahme eines Analogieverbotes im Geltungsbereich des Vorbehalt des Gesetzes naheliegend: ein Grundrechtseingriff auf Grund der analogen Anwendung einer Vorschrift erfolgt zwar in gewissem Sinne im Zusammenhang mit einem Gesetz (nämlich mit der Vorschrift, welche die Grundlage der Analogie bildet), nicht aber auf Grund des Gesetzes in dem Sinne, daß dieses den Eingriff ausdrücklich gestatten würde. Gleichwohl kann keine Rede davon sein, daß ein solches Analogieverbot für belastende Maßnahmen321 im öffentlichen Recht allgemein anerkannt sei oder auch nur im Zentrum 319
235.
Vgl. aber aus jüngster Zeit den knappen Ansatz bei Malmendier , NJW 1997, 227,
320 Vgl. hierzu neben den in den folgenden Fußnoten Genannten v.a. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975 sowie in knapperer Form Kloepfer, JZ 1984, 685 ff.; Selmer y JuS 1968, 489 ff.; Wehr, JuS 1997, 419 ff. 321 Einzelne Wurzeln des Vorbehalts, wie z.B. das Demokratieprinzip, betreffen zwar auch die Analogie zugunsten des Bürgers, indes liegt hier nicht der Schwerpunkt der Problematik. So ist sogar bei der engeren Vorschrift des Art. 103 II GG unstreitig, daß
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des Interesses stehe. Gerade in der Literatur zum Allgemeinen Verwaltungsrecht spielt zwar der Gesetzesvorbehalt eine zentrale Rolle, seine Folgen für die Zulässigkeit einer Analogie bleiben aber regelmäßig unerwähnt,322 woraus man wohl schließen kann, daß die entsprechenden Autoren eine Analogie für grundsätzlich möglich halten.323 In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird z.T. die analoge Anwendung von Vorschriften, die Rechte bzw. Rechtsschutzmöglichkeiten des Bürgers verkürzen, ohne Diskussion der Vorbehaltsproblematik bejaht, so z.B. bei der Übertragung von Sachentscheidungsvoraussetzungen der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage auf das Widerspruchsverfahren. 324 Einzelne Autoren lehnen dagegen zumindest die belastende Analogie auch ab, wobei auf das (den Gesetzesvorbehalt umfassende) Gesetzmäßigkeitsprinzip oder allgemeiner formulierte rechtsstaatliche Bedenken hingewiesen wird. 325 Auch das Steuerrecht, in dem die Frage eines Analogieverbotes häufiger diskutiert (und das auch anderweitig zur Beantwortung der Frage für das öffentliche Recht modellhaft herangezogen326) wird, bringt keinesfalls so eindeutige Antworten, daß sich daraus verbindliche Rückschlüsse ziehen ließen.327 Ob freilich eine Analogie - sei es im öffentli-
eine Analogie zugunsten des Täters regelmäßig möglich ist; außerdem berührt auch die Mißbrauchsproblematik nur Fälle, in denen aus Sicht des Bürgers durch die Mißbrauchsreaktion eine Rechtsverkürzung erfolgt, so daß die Analogie in bonam partem bei unserer Betrachtung ausgespart bleiben kann. 322 So spricht Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1991, Rn. 428 ff. die Analogie i.R.d. unterschiedlichen Rechtsfindungsmethoden zwar an, stellt aber keinen Zusammenhang mit dem Gesetzesvorbehalt her; Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1995, spricht die Analogie nur im Zusammenhang mit dem öffentlich-rechtlichen Vertrag (Rn. 382) und dem Folgenbeseitigungsanspruch an. Schwerdtferger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, 1993, erwähnt die Analogie ebenfalls im Zusammenhang mit dem öffentlich-rechtlichen Vertrag (Rn. 261); bei der Darstellung ihrer allgemeinen Bedeutung (Rn. 226) bleibt die Vorbehaltsproblematik ausgeblendet. (Interessant ist hier allerdings der Hinweis auf die Unterscheidung zwischen der analogen Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht und der Anwendung allgemeiner Grundsätze, die im öffentlichen Recht unabhängig vom Zivilrecht gelten, dort allerdings kodifiziert sind. Vgl. hierzu auch Wolf/Bachhof/Stober, Verwaltungsrecht I, 1994, § 22 Rn. 46 f.) Auch Battis , Allgemeines Verwaltungsrecht 1985, scheint in der Analogie kein grundsätzliches Vorbehaltsproblem zu sehen (vgl. Rn. 39) und erwähnt sie schwerpunktmäßig beim öffentlich-rechtlichen Vertrag (Rn. 268 ff.). 323 Ebenso im Ergebnis Gern, DÖV 1985, 558, 560, auch m.w.N. 324 Vgl. zu Beispielen und Nachweisen aus der Rechtsprechung Kopp, VwGO, Vorb § 68 Rn. 14 ff.; vgl. dazu ferner Gern, DÖV 1985, 558, 559. 325 Vgl. bereits Anschütz, VerwArch 14 (1906), 315 f.; Friauf, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1982, 63; Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, 33; zurückhaltend auch Wolf/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Auflage 1994, § 28 Rn. 67. 326 So z.B. bei Bär, 135 ff.; Gern, DÖV 1985, 558, 560 (der das Abgabenrecht als Hauptschauplatz der Diskussion um die Analogie im öffentlichen Recht bezeichnet); Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, 37. 327 So hat das BVerfG zwar einerseits schon lange betont, daß es bedenklich sei, wenn Steuertatbestände „vom Richter neu geschaffen oder ausgeweitet" werden (vgl. nur BVerfGE 13, 318, 328; 19, 38, 49), andererseits werden aber Ausweitungen, die formal nicht unter den Begriff der Analogie, sondern der weiten Auslegung gefaßt werden, häufig großzügig hingenommen (vgl. beispielhaft BVerfGE 18, 224, 236; 19, 38, 49) und sogar die Rechtsfortbildung durch die Finanzgerichte nicht völlig ausgeschlos-
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chen Recht schlechthin, sei es im Strafprozeßrecht - letztlich tatsächlich zulässig oder unzulässig ist, muß im folgenden gar nicht entschieden werden: da es sich beim Mißbrauchsverbot gerade um keine Analogie handelt, ist dessen Zulässigkeit - wenngleich im wesentlichen anhand ähnlicher Kriterien wie beim Analogieverbot - selbständig und von diesem unabhängig zu prüfen.
a) Geschichtlicher Hintergrund des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes328 Was die Entwicklungsstränge des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes angeht, kann auf die Ausführungen zu Art. 103 I I GG verwiesen werden, soweit dessen allgemeine staatsrechtlichen Wurzeln beschrieben wurden. 329 Darüber hinaus wird in der Literatur 330 als ein wichtiger ideengeschichtlicher Hintergrund des Vorbehaltdogmas, insbesondere der berühmten Formel des „Eingriffs in Freiheit und Eigentum", auf naturrechtliches Gedankengut, vor allem auf die Lehren John Lockes hingewiesen. Dessen Vorstellung von der
sen (vgl. BVerfGE 69, 188, 203; zusammenfassend zur Rechtsprechung des BVerfG zu solchen Erweiterungen der Steuertatbestände Leisner, DVB1 1986, 705 ff.). Die finanzgerichtliche Rechtsprechung selbst neigt ohnehin zu einer großzügigst erweiternden Auslegung, die den verfassungsgerichtlichen Vorgaben kaum gerecht zu werden scheint (so bereits Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, 1971, 34 f.; deutlich auch bei Crezelius, StuW 1981, 117 ff. mit dem beziehungsreichen Titel „Verkappte Analogien in der Finanzrechtsprechung"; vgl. ferner Bär, 135 mit ausführlichen Entscheidungsnachweisen), in einer Entscheidung aus dem Jahre 1983 betonte der BFH sogar, daß im Steuerrecht „ein Analogieverbot (...) im Steuerrecht ebensowenig wie im übrigen Verwaltungsrecht" bestehe (vgl. BFHE 139, 561, 567). Auch in der steuerrechtlichen Literatur ergibt sich kein einheitliches Bild: entschiedenen Gegners einer Analogie von steuerbegründenden Tatbeständen (und teilweise sogar der Analogie zugunsten des Bürgers) stehen Stimmen gegenüber, die eine solche Analogie nicht nur für möglich, sondern unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit sogar für geboten halten, vgl. zum früheren Meinungsstand z.B. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieverbot, 1973; Sandrock, Die Einheit der Wirtschaftsordnung, 1971. Weitere Nachweise bei Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, 38 f. (FN 10); umfangreiche Nachweise zur neueren Literatur bei Bär, 136 f. (insb.FN 107-112). 328 Vgl. dazu allgemein Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975; Selmer, JuS 1968, 489 ff.; knappe, aber instruktive Überblicke finden sich auch z.B. bei Bär, 124 ff., Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, 109 ff., und insbesondere Rogali , Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht, 1992,14 ff.. 329 Vgl. bereits Jesch Gesetz und Verwaltung, 1961, 33, nach dem der „Vorbehalt des Gesetzes für Verwaltungsmaßnahmen (...) ein Unterfall eines umfassenden Gesetzmäßigkeitsprinzips (sc. ist), dessen andere Komponente der Satz nulla poena sine lege darstellt." Zustimmend Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, 242. 330 Vgl. Jesch Gesetz und Verwaltung, 1961, 117; Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975, 17 ff. m.w.N.
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„natural liberty of man" 1 verdeutlicht erst wirklich die Bedeutung individueller Freiheit, welche auf lange Sicht zu der Forderung nach besonderen Voraussetzungen für eine Beschränkung dieser Freiheit führt. 332 Daß diese „besondere Voraussetzung" gerade in einer gesetzlichen Grundlage liegt, tritt dann - wie oben schon erwähnt - vor allem bei Montesquieu klar hervor, 333 dessen Idee vom Gesetzesstaat als rechtsstaatliche Komponente des Vorbehaltsprinzips betrachtet werden kann. 334 Diese läßt sich wiederum in den Forderungen nach Schutz vor obrigkeitlicher Willkür, Rechtssicherheit und Gewaltenteilung konkretisieren. In Deutschland wurde dieses Gedankengut vor allem durch die konstitutionelle Bewegung unter maßgeblichem Einfluß des Freiherrn vom Stein verbreitet. 335 Neben dieser rechtsstaatlichen Entwicklungslinie wird auch beim allgemeinen Gesetzesvorbehalt seit dem 19. Jahrhundert eine „demokratisch-partizipatorische" Komponente deutlich. 336 Der Wille des Bürgertums nach Teilhabe am Staat erscheint hier noch klarer verständlich als beim nulla-poena-Grundsatz: Ging es bei diesem „nur" darum, daß die Strafnorm vom Parlament als (bis heute einzigem unmittelbar) demokratisch legitimierten Staatsorgan erlassen werden, so sind beim allgemeinen Vorbehalt - der z.B. auch den großen Bereich der Wirtschaftsordnung oder des Steuerrechts betrifft - Zusammenhänge betroffen, die den Bürger auch in seinen ganz alltäglichen Interessen berühren. Während diese Forderung damals politisch noch viel brisanter war als die nach Machtmäßigung des Staates in Form von selbstbindender Beschränkung des Monarchen, 337 ist der demokratische Aspekt heute (durchaus noch wichtig,
331
Diese vollkommenen „liberty of man" besteht nach Locke allerdings nur im staatenlosen Naturzustand, woraus auch nachvollziehbar wird, weshalb das naturrechtlich geprägte Freiheitsdenken vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts antistaatlich verstanden wurde; innerhalb der staatlichen Gemeinschaft gehen nach Locke diese vollkommenen Freiheiten in der „liberty of man in society" auf. Vgl. dazu näher Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975, 18 f. m.w.N. 332 Dagegen tritt im speziellen (vom nulla-poena-Grundsatz erfaßten) Bereich des staatlichen Strafens sehr viel klarer zutage, daß darin eine besondere Beeinträchtigung des Individuums liegt, die das Erfordernis bestimmter Voraussetzungen nahelegt. 333 Vgl. näher zur Bedeutung Montesquieus für die Entwicklung des Vorbehalt des Gesetzes Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1981, 30 ff., Krey, Blau-FS, 123, 139; Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, 109 f. 334 Vgl. dazu auch Kloepfer, JZ 1984, 685. 335 Vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, 123; Bär, 125. 336 Vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, 132 ff.; Pietzcker, JuS 1979, 710, 712; Selmer, JuS 1968, 498. 491. Vgl. auch den Hinweis von Roellecke, NJW 1978, 1778, wonach die Legitimation des Vorbehaltsgrundsatzes für belastende Maßnahmen im Gedanken des „volenti non fit iniuria" liegt: soweit das Parlament als „Vertreter" des Bürgers einem Eingriff zustimmt, kann darin dem Bürger gegenüber kein Unrecht mehr liegen. 337 Vgl. Kloepfer, JZ 1984, 685.
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aber) nicht mehr der Problemschwerpunkt: Durchbrechungen des Vorbehaltsgrundsatzes erfolgen durch die Exekutive (oder Judikative) sicher nicht in der Intention, daß dem Parlament das Entscheidungsrecht über eine bestimmte Frage entzogen werden soll.
b) Anwendungsbereich des Vorbehalts des Gesetzes Der - obwohl im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt, nach einhelliger Auffassung verfassungsmäßige 338 - Vorbehalt des Gesetzes verlangt auf der angedeuteten Entwicklung basierend eine gesetzliche Grundlage jedenfalls für Eingriffe in subjektive Rechte des Bürgers. 339 Er dürfte, über die klassische Formulierung des „Eingriffs in Freiheit und Eigentum" hinausgehende, die wichtigste Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips in seinem heutigen gesetzespositivistisch-formellen Verständnis 340 sein. Dies ergibt sich für viele Lebensbereiche (durch die Ausweitung insbesondere des Art. 2 I GG durch die verfassungsrechtliche Rechtsprechung sogar für den allergrößten Bereich341) auch durch die Grundrechtsgewährleistungen des GG, die zumeist klarstellen, daß ein Eingriff in sie (nur) „durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes" möglich ist. Daraus wurde teilweise geschlossen, daß der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes neben den Einzelvorbehalten des Grundgesetzes entbehrlich sei.342 Die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte erlangen jedoch ihre eigenständige Bedeutung zum einen dadurch, daß auch gegenüber dem Gesetzgeber ein Mindestbestand an Grundrechtsgeltung gewährleistet wird, zum anderen dadurch, daß sie als Eingriffsbefugnis grundsätzlich (zumindest mittelbar) ein förmliches Gesetz voraussetzen: 3 Nach h.M.344 wird mit der Formulierung „durch ein Gesetz" oder „auf Grund eines Gesetzes" in den Grundrechten des GG ein förmliches Gesetz gemeint. Dieses kann entweder selbst („durch ein Gesetz") Befugnisnorm sein oder Grundlage einer untergesetzlichen Norm, welche ihrerseits die Befugnisnorm enthält („aufgrund eines Gesetzes").
338
Vgl. nur BVerfGE 40, 327, 248; 49, 89, 126 (wo er aus Art. 20 III GG abgeleitet wird), 45, 400, 417; 48, 210, 211; 58, 257, 278 (wo auf das Rechtsstaatsprinzip, z.T. i.V.m. dem Demokratieprinzip abgestellt wird); aus der Literatur statt vieler Kloepfer, JZ 1984, 685; SYJStPO-Rudolphi, Vorbemerkungen vor § 94, Rn. 15. 339 Vgl. zur Problematik des Anwendungsbereiches des Gesetzes Vorbehalts etwa Wehr, JuS 1997,419,420 ff. 340 Vgl. dazu Jentsch, ZRP 1995, 9 ff., 11. 341 Grundlegend zur weiten Auslegung des Art. 21 GG BVerfGE 6, 32 ff.; um eine Neuinterpretation der grundrechtlichen Schutzbereich bemüht sich Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995. 342 Vgl. namentlich Vogel, VVDStRL 24 (1966), 125,151 f. 343 Vgl. SK/StPO-Rudolphe Vorbemerkung vor § 94 Rn. 16; Kloepfer, JZ 1984, 685, 687. 344 Vgl. BoK-Menger, Art. 19 Rn. 76; von Münch/Kunig-tfrefcs, Art. 19 Rn. 4; Jarass/Pieroth-Zarasj, Art. 19 Rn. 3 und Vorbemerkung vor Art. 1 Rn. 35. 10 Kudlich
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Dabei ist - auch ohne Rückgriff auf die ganz überwiegend abgelehnte Lehre vom Totalvorbehalt 345 - davon auszugehen, daß der Gesetzesvorbehalt nicht nur „uneingeschränkt auch", 346 sondern sogar in besonderem Maße für das Strafverfahren gilt, das einen besonders intensiven Eingriff in die Rechtsposition des Bürgers darstellt. 347 Wie oben bereits näher erläutert, sind insbesondere auch Beschränkungen von Verfahrensrechten in der Hauptverhandlung grundrechtsrelevant und müssen sich daher am Gesetzesvorbehalt messen lassen. Auch ein Rückgriff auf die sogenannte Wesentlichkeitstheorie des BVerfG 148 ist für die Frage nach der grundsätzlichen Geltung des Gesetzes Vorbehalts im Strafprozeßrecht weder erforderlich, noch wirklich hilfreich. 349 Geht es bei dieser doch weniger um die Frage, ob überhaupt irgendeine gesetzliche Grundlage vorliegen muß, sondern um die Grenzen, die dem Gesetzgeber bei der Delegation von Regelungen gesetzt sind. Nach der Wesentlichkeitstheorie muß der Gesetzgeber „wesentliche" Regelungen für das Gemeinwesen selbst treffen und darf insoweit nicht die Exekutive ermächtigen (bzw. der Judikative einen zu großen Spielraum geben). Da Verordnungs- oder Satzungsermächtigungen im hier interessierenden Bereich des Strafprozeßrechts ohnehin keine Rolle spielen, ist der originäre Anwendungsbereich der Wesentlichkeitstheorie also nicht betroffen. Ebenfalls unerheblich ist hier die Frage nach dem Gesetzesvorbehalt für staatliche Leistungen: Obwohl Art. 103 I GG und das Recht auf ein faires Verfahren nämlich durchaus auch eine Leistungsdimension haben, geht es in den hier interessierenden Fällen der Mißbrauchsreaktion nicht primär darum, welche Befugnisse der Angeklagte aus diesen verlangen kann, sondern inwiefern eine Verkürzung bestehender, gesetzlich festgeschriebener Befugnisse möglich sind, mithin also um eine klassische Eingriffskonstellation.
345
Vgl. dazu Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, insb. 171 f, 205. Zu den Stimmen gegen diese Ansicht vgl. statt vieler BVerfGE 68, 1, 87; Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, 115 f. m.w.N.; Rogali , Informationseingriff und Vorbehalt des Gesetzes, 1992, 16. 346 So SKJSiPO-Rudolphi, Vorbemerkung vor §94 Rn. 18 mit Verweis u.a. auf BVerfGE 47, 239. 248. 347 Ebenso Krey, Blau-FS, 123, 124 f., der zu Recht darauf hinweist, daß die spezielle Regelung des Art. 103 II GG nach h.M. für das Strafverfahren und seine Eingriffsbefugnisse (und nach Kreys Ansicht auch für die materiell-rechtlichen Rechtsfolgen der §§ 61 ff. StGB, a.A. die wohl h.M.) nicht gilt und deshalb auf den allgemeinen Gesetzesvorbehalt zurückzugreifen ist. 348 Vgl. dazu statt vieler BVerfGE 34, 52, 60; 58, 257, 268 ff.; 83, 102, 142. Aus der Literatur Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1991, Rn. 317 ff.; Kloepfer, JZ 1984, 685, 689 ff.; SK/SlPO-Rudolphi, Vorbemerkungen vor § 94 Rn. 17.; Wehr, JuS 1997, 419, 422 f. 349 Sehr verknappt insoweit Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten, 1993, 53, der - zugegebenerweise allerdings auch im Rahmen einer bloßen Vorfrage - die Geltung des Gesetzesvorbehalts im Strafprozeß mit bloßem Verweise auf die Wesentlichkeitstheorie begründet.
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c) Vereinbarkeit eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots mit dem Vorbehalt des Gesetzes: Analyse anhand einzelner Aspekte des Vorbehaltsgrundsatzes Die Annahme eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots einerseits und die Anwendbarkeit des Vorbehalt des Gesetzes für Beschränkungen der Prozeßgrundrechte andererseits stehen ganz offensichtlich in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. Für die Frage ob - und bejahendenfalls: wie - dieses aufgelöst werden kann, ist naturgemäß wieder das bereits im methodentheoretischen Kapitel angesprochene Verständnis vom Vorgang der Rechtsfindung (als Rechtserkenntnis oder Rechtserzeugung) bzw. der Funktion des Gesetzes für dieselbe (als Erkenntnisgegenstand oder Zurechnungsgrenze) von Bedeutung. 350 Bereits ohne nähere Analyse kann allerdings davon ausgegangen werden, daß für einen strengen Positivismus ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot (im Anwendungsbereich des Vorbehalts des Gesetzes erst recht) nicht möglich ist: Einschränkungen, die nicht explizit im Gesetz vorgesehen sind, können streng positivistische Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt nicht erfüllen. 351 Für ein erweitertes Determinationsmodell und die Rechtserzeugungslehre dagegen erscheint es denkbar, insoweit großzügigere Ergebnisse zuzulassen, wenn und soweit dies mit den Gründen vereinbar ist, die oben für die Geltung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts dargestellt wurden. Für das Rechtserzeugungsmodell ergibt sich dabei kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Rechtsfindung innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs des Gesetzesvorbehalts: einerseits sieht es die Gesetzesbindung nicht auf einen engen Wortlaut beschränkt, andererseits fordert es stets eine Zurechenbarkeit zu einem Normtext. Ein Unterschied könnte sich allenfalls insoweit ergeben, als die (normativ, nicht methodisch begründete) besondere Bedeutung von grammatischen Konkretisierungselementen noch mehr betont werden könnte als z.B. bei der Entscheidungsfindung im Privatrecht. Für ein erweitertes, um zusätzliche Wertungen „aufgeladenes" Determinationsmodell stellt sich die Frage, inwieweit „hinter dem Gesetz" stehende Deduktionsgrundlagen (wie allgemeine rechtsethische Prinzipien oder die Gerechtigkeit) auch im Anwendungsbereich des Gesetzes Vorbehalts herangezogen werden können:
350
Vgl. dazu oben 2. Teil AI 2, S. 64 f. sowie III 3, S. 109 f. Keinesfalls ausreichen kann insoweit die Überlegung, daß sich das Mißbrauchsprinzip schon aufgrund seiner Natur als ungeschriebenes Rechtsprinzip zwangsläufig einer gesetzlichen Regelung entziehe, so daß ein Gesetzesvorbehalt keine Bedeutung haben könne (vgl. zu diesem Gedanken im Zusammenhang mit Art. 103 II GG und den Grundsätzen der actio libera in causa Neumann, StV 1997, 23, 25, der ihn allerdings nicht weiter verfolgt). Mit diesem Argument würden sowohl der Gesetzesvorbehalt als auch die allgemeine Gesetzesbindung jede Bedeutung verlieren. 351
1
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aa) Gewaltenteilung Zunächst könnte gegen ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot das im Rechtsstaatsprinzip enthaltene Gebot der Gewaltenteilung sprechen: Danach ist die Normsetzung grundsätzlich Aufgabe der Legislative, während Exekutive und Judikative diese Normen nur anwenden bzw. vollziehen sollen. Auch wenn man diese klare Trennung zwischen Rechtssetzung in Form der Gesetzgebung und Rechtsanwendung als deduktives Subsumtionsverhalten mit den Stellungnahmen in der neueren Methodendiskussion nicht mehr als zutreffend erkennt, bliebe im Prozeß der gemeinsamen Rechtserzeugung 352 durch Legislative und Judikative immer noch ein Unterschied zwischen den unterschiedlichen Funktionen in diesem ProZeß zu beachten, wonach bei einer normorientierten Rechtserzeugung durch den Anwender zumindest bestimmte Vorgaben des Normtextautors zu beachten sind: diese ersten Vorgaben aufzustellen, ist dann aber Aufgabe des Gesetzgebers, nicht des Richters, m.a.W.: gerade weil der Prozeß der Rechtserzeugung hier generell in zwei Stufen verstanden wird, ist es wichtig, darauf zu achten, daß jeder Beteiligte nur auf der Stufe tätig wird, zu der er funktionell zuständig ist. 353 Andererseits ist das Gewaltenteilungsgebot in der deutschen Verfassung(swirklichkeit) - selbst auf dem Boden des traditionellen Verständnisses von der Teilung der Gewalten - nur mit gewissen gegenseitigen Verschränkungen angelegt, weshalb eine Verstoß dagegen nur dort angenommen wird, wo ein Eingriff in den Kernbereich der jeweils anderen Gewalt erfolgt. In der Diskussion um die Geltung eines Analogieverbots auf Grund des allgemeinen Gesetzesvorbehalts wird dabei ein solcher Eingriff in den Kernbereich durch eine Analogie zumindest dann nicht angenommen, wenn durch sie kein unvorhergesehenes Übergewicht der rechtsanwendenden Gewalten entsteht. Eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips soll danach nicht vorliegen, wenn durch die Analogie keine vollständig neue Regel für einen bisher ungeregelten Sachverhalt (d.h. auf den Eingriff in subjektive Rechte übertragen: keine neue Eingriffsbefugnis in ein Recht, in das der Gesetzgeber bisher noch keinen Eingriff vorgesehen hatte) geschaffen wird, sondern nur die bereits bestehende Regelung erweitert bzw. ergänzt (also ohnehin bereits gesetzlich vorgesehene Eingriffe in ein Recht auch unter den geregelten Fällen ähnlichen Voraussetzungen ermöglicht) werden. Dieser Gedanke ließe sich auch auf das ungeschriebene Verbot des Rechtsmißbrauch übertragen, so daß zumindest dann kein Eingriff in den Kernbereich des Gesetzgebers anzunehmen wäre, wenn für die Ausübung eines Rechts bereits bestimmte Grenzen vorgesehen sind und diese nur auch bei Vorliegen eines Mißbrauchs angewendet werden.
352 Vgl. dazu insbesondere das oben dargestellte Rechtserzeugungsmodell, wie es z.B. von Friedrich Müller vertreten wird, oben 2. Teil A III 2a, S. 104 ff. 353 Zum Gedanken der funktionellen Richtigkeit vgl. Müller, 214. Vgl. zur funktionellen Richtigkeit und dem Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Richter (der keine eigenen Normtexte formulieren darf, denen er seine Entscheidung zurechnet) auch Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit (erscheint 1997), Kap. III.
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Die gewaltenteilende Demokratie zielt nicht zuletzt auf die (auch verfahrensmäßige) Leistungsfähigkeit und die „funktionsgerechte Organstruktur" 354 des Entscheidungsträgers ab. 355 Danach gibt es nicht nur bestimmte Bereiche, die (z.B. auf Grund ihrer herausragenden) Bedeutung alleine dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten sein müssen, sondern auch solche, in denen eine genuine Kompetenz des Normanwenders (und damit z.B. auch der Gerichte) besteht.356 Ein Beispiel dafür sollen nicht zuletzt Bereiche bilden, die (noch) nicht kodifikationsreif oder -fähig sind. 357 Zwar wird in diesem Zusammenhang zumeist an z.B. neuere, naturwissenschaftliche Fragen gedacht; indes ist auch der Mißbrauch als Beispiel für Sachverhalte denkbar, die nicht umfassend und lückenlos gesetzlich geregelt werden können, wie nicht zuletzt seine Begründung mit der zwangsläufigen Unvollständigkeit von Rechtsnormen zeigte. Insoweit besteht auch ein wesentlicher Unterschied zur Analogie: Da diese nur eine bestimmte Einzelregel, die analog angewendet werden soll, vor Augen hat, ist hier nicht der Kernbereich der Judikative betroffen, vielmehr könnte der Gesetzgeber diese Vorschrift durch Umformulierung bzw. durch Wiederholung an anderer Stelle im Gesetz auch auf den Bereich für anwendbar erklären, auf den sie vom Rechtsanwender analog angewendet wird. Demgegenüber ist ein „Mißbrauch" auf so viele verschiedene Arten denkbar, daß eine dem allgemeinen Mißbrauchsverbot äquivalente (und gleichwohl bestimmtere) Regelung durch ein Gesetz kaum möglich erscheint.358 Man könnte daher die Ermittlung (und damit auch die Unterbindung) des Rechtsmißbrauchs geradezu als einen Bestandteil des Kernbereichs der judikativen Tätigkeit in der Gewaltenteilung verstehen. So wie es Aufgabe der Gerichte ist, den gesetzgeberischen Willen positiv zu vollziehen bzw. zu „vollenden" (mit unterschiedlicher Pointierung je nachdem, welches Verständnis von Rechtsfindung zugrunde gelegt wird), ist es - negativ gewendet - auch ihre Aufgabe, das Ad-Absurdum-Führen dieses Willens zu vermeiden. Soweit
354
Ossenbühl in Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts III, 1988, § 68 Rn. 48. 355 Vgl. Rogali , Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht, 1992, 24 ff., auch m.w.N. in FN 171 ff., allerdings im (insoweit noch weiter gehenden) Zusammenhang mit der grundsätzlichen Geltung des Gesetzesvorbehalts in Form des Parlaments Vorbehalts. Weiterhin Wehr, JuS 1997,419,423 f. 356 Vgl. Rogali y Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht, 1992, 25 u.a. mit dem Gegenbegriff eines „Verwaltungsvorbehalts" (unter Verweis auf Ossenbühl in Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts III, 1988, §68 Rn. 51 ff.). 357 Vgl. Vgl. Rogally Informationseingriff und Gesetzesvorbehalt im Strafprozeßrecht, 1992, 25 f. 358 Vgl. o. 1. Teil A11, S. 61. Das man dies als Argument anerkennt, setzt natürlich voraus, daß man nicht grundsätzlich bereit ist, sehenden Auges solche unbefriedigenden Ergebnisse auch auf der Basis Gesetzesumgehungen und Rechtsmißbräuchen ohne Not hinzunehmen.
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das Mißbrauchsurteil (auch) durch spezielle systematische Gesichtspunkte oder aus dem Gesamtzusammenhang der gesetzlichen Regelung abgeleitet wird, führt es außerdem sogar dazu, daß an anderer Stelle getroffenen gesetzgeberischen Wertungen durch den Richter Wirksamkeit verschafft wird. Gegen dieses prinzipielle Modell läßt sich auch nicht unbedingt einwenden, daß der Gesetzgeber spezielle Mißbrauchstatbestände schaffen könnte, wenn er eine entsprechende Mißbrauchskontrolle anordnen wollte. Sieht man in der Mißbrauchskontrolle nämlich gewissermaßen das Spiegelbild der Rechtsanwendung durch das Gericht, wird schnell deutlich, daß auch diese im Gesetz nicht ausdrücklich angeordnet wird.
bb) Demokratieprinzip Mit der Trennung der Gewalten und ihrem unterschiedlichen Legitimationsgrad verbunden ist das Demokratieprinzip. Danach besteht ein grundsätzlicher Vorrang der jeweils dem Wortsinn des Gesetzes nächsten Rechtsfindung, da nur das Gesetz einen Akt des alleine unmittelbar demokratisch legitimierten Parlaments darstellt. 359 Aus dieser Forderung aber lassen sich gute Gründe für ein Verbot belastender Analogien im Strafprozeßrecht ableiten. In der öffentlich rechtlichen Diskussion um ein Analogieverbot werden Analogien unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips zwar jedenfalls dann für unbedenklich gehalten, wenn damit die Entscheidung des Gesetzgebers gleichsam dadurch nur „weitergeführt" wird, daß sich die Analogie innerhalb der ratio legis bewegt.360 Hiergegen spricht jedoch die Erwägung, daß gerade aus demokratischen Aspekten der Gesetzesvorbehalt in manchen Bereichen zum Parlamentsvorbehalt erstarkt ist und insbesondere nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des BVerfG wesentliche Entscheidungen durch den Gesetzgeber selbst getroffen werden müssen;361 wo aber selbst eine Delegation der Rechtssetzung in einem (z.B. durch Art. 80 GG) geregelten und an sich im Grundgesetz vorgesehenen Verfahren nicht möglich ist, müßte dies für die au359
Vgl. zum Demokratieprinzip allgemein Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 1995, Rn. 127 ff.; Sachs-Sachs, Art. 20 Rn. 10 ff.; vgl. ferner im Zusammenhang mit der hier behandelten Frage Krey, Blau-FS, 123, 131 m.w.N. (allerdings zur demokratischen Komponente des Art. 103 II GG) sowie Bär, 142 ff. 360 Vgl. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, 1973, 176 f: sowie Gern, DÖV 1985, 558, 562, der allerdings die weitere nicht ganz klare Einschränkung macht, daß keine „Grundrechte verletzt" werden dürften: da ein erheblicher Streit eigentlich nur um die Analogie zu Lasten des Bürgers besteht, hängt die Frage, ob ein Grundrecht verletzt wird, ja regelmäßig in erster Linie davon ab, ob die Analogie zulässig und damit ausreichend ist, den Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. Im übrigen ist zu dieser Ansicht anzumerken, daß die Fortführung der ratio legis nur ein sehr ungenaues Abgrenzungskriterium zwischen zulässiger und unzulässiger Analogie sein kann, da es schon methodische Voraussetzung des Analogieschlusses (in Form des Erfordernis einer vergleichbaren Interessenlage) ist, daß die ratio legis ihn trägt. 361 Vgl. zur Wesentlichkeitstheorie bereits oben Fn. 348.
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ßerlegislative „Rechtssetzung durch Analogie" erst Recht gelten. Soweit mit dem BVerfG die „Wesentlichkeit" zumindest in grundrechtsrelevanten Bereichen mit der „Wesentlichkeit für die Grundrechtsverwirklichung" gleichgesetzt wird, 362 ergäbe sich für den Bereich von Grundrechtsbeschränkungen - sei es für den Bereich der Zwangsmaßnahmen i.e.S.,363 sei es für die Beschränkung von Verfahrensrechten - ein Analogieverbot im Strafprozeßrecht. 364
Allerdings erschiene es - nicht nur mit Blick auf das Demokratieprinzip, sondern auch auf andere mögliche Grenzen von Analogien - verkürzt anzunehmen, daß diese Argumente „erst Recht" und zwangsläufig auch für eine ungeschriebene Mißbrauchskontrolle gelten müssen: Zwar war oben365 die Analogie als Rechtsfindung praeter legem bezeichnet, das allgemeine Mißbrauchsprinzip dagegen in den Bereich der Rechtsfindung extra legem, sed intra ius eingeordnet worden, so daß im Sinne einer häufig (zumindest konkludent vorgenommenen) Abstufung der Rechtsfindung secundum, praeter, extra und contra legem das allgemeine Mißbrauchsprinzip noch weiter vom Gesetz entfernt wäre als die Analogie. 366 Selbst wenn diese Einordnung für andere Formen der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf übergesetzliche rechtsethische Prinzipien gelten sollte, wäre jedoch - wie oben bereits dargelegt - beim allgemeinen Mißbrauchsprinzip zu beachten, daß dieses als solches mit dem Kriterium der Zweckwidrigkeit nur gleichsam relative Maßstäbe liefert, die jeweils erst durch den Inhalt der mißbrauchten Befugnis konkretisiert werden. M.a.W.: die entscheidende Wertungsgesichtspunkte ergeben sich
362 Vgl. BVerfGE 47, 46, 78 f; 58, 257, 268 f. Ein instruktiver Überblick über andere Kriterien zur Bestimmung der Wesentlichkeit nach der neueren Literatur findet sich bei Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme im Strafprozeßrecht, 1995, 126 ff.; allerdings würden auch die dort genannten Ansätze für die vorliegende Analogiefrage überwiegend zu keinem anderen Ergebnis führen. 363 Gemeint sind hier vor allem die Befugnisse nach §§94 ff. StPO. Zum Begriff der Zwangsmaßnahme vgl. umfassend Duttge, Der Begriff der Zwangsmaßnahme, 1995. 364 Ebenso im Ergebnis Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, 244; ders., Blau-FS, 123, 149; ders., Strafverfahrensrecht Bd. I, 1988 Rn. 11, Bd. II, 1990, Rn. 266.; Bär, 147; SK/StPO-Rudolphi, Vorbemerkungen vor § 94, Rn. 27; vgl. ferner Amelung, NStZ 1982, 38, 40. 365 Vgl. o. 2. Teil A II 1 b, S. 77. 366 Auch eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt eines - dem allgemeinen Gesetzesvorbehalts nach h.M. wohl genügenden (vgl. BVerfGE 9, 338, 343; 22, 114, 128; 34, 293, 303; Krey, Blau-FS, 123, 145 f.; zweifelnd nach einem Zeitraum von über 40 Jahren seit Verfassungsentstehung z.B. SKJStPO-Rudolphi, Vorbemerkungen zu § 94 Rn. 30) - vorkonstitutionellen Gewohnheitsrechts ist nicht möglich, obwohl der Mißbrauchsgedanke insbesondere im Zivilrecht bereits lange Tradition hat. Zum einen kann man nicht auf „den Mißbrauchsgedanken" schlechthin, sondern nur auf eine konkrete Fallgruppe abstellen, zum anderen zeigt die durchaus sehr kontroverse Diskussion über die Mißbrauchsproblematik, wie sie vor allem auch im 3. Teil deutlich werden wird, daß von einer opinio communis unter den Betroffenen kaum die Rede sein kann. Vgl. zu den für die Annahme von Gewohnheitsrecht entscheidènden Gesichtspunkte auch BVerfGE 34, 293, 303 ff.
152
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
nicht aus dem Mißbrauchsprinzip als solchem, sondern durchaus aus der gesetzlichen Vorschrift 367 als Werk des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Insoweit lassen sich beim Mißbrauchsverbot die wesentlichen Argumente sogar eher aus der die Fallösung eigentlich regierenden Norm ableiten als bei der Analogie, da in ein Recht nur aus Gründen eingegriffen wird, die im Zusammenhang mit der das Recht statuierenden Norm selbst begründet werden, während sich die Analogie auf eine (zwar gesetzliche, aber eben) andere Norm stützt. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Wollte man die Entziehung (oder Beschränkung) des Beweisantragsrechts auf eine Analogie auf § 241 StPO stützen, so würde es sich dabei zwar um eine strafprozessuale Vorschrift als Grundlage der Analogie handeln. Diese Vorschrift betrifft allerdings das Beweisantragsrecht gar nicht, weswegen man - wenn man entgegen anderen Bedenken eine solche Analogie zuläßt3*8 - nicht sagen kann, daß wirklich auf Grund der spezifischen Vorschriften für das Beweisantragsrecht in dasselbe eingegriffen würde. Wird dagegen das Beweisantragsrecht mit Hilfe des allgemeinen Mißbrauchsverbots aus Gesichtspunkten eingeschränkt, die in seiner Natur und in dem Zweck seiner Statuierung zugunsten des Angeklagten liegen, so ist ein solches Vorgehen enger an der eingeschränkten Befugnis orientiert. Dies würde natürlich noch deutlicher, wenn das Bestehen eines Beweisantragsrechts nicht nur aus der Gesamtheit des Regelungskomplexes in §§ 244 ff StPO abgeleitet würde, sondern wenn es eine Vorschrift gäbe, in der ausdrücklich angeordnet würde, daß „der Angeklagte zum Zwecke der Teilhabe an der Wahrheitsermittlung das Recht hat, Beweisanträge zu stellen" o.ä. Daß dies beim Beweisantragsrecht in dieser Form nicht geschehen ist, ändert aber in der Sache nichts an der grundsätzlichen Argumentation. Man kann sogar im Gegenteil diesen Ansatz noch erweitern, wenn man berücksichtigt, daß der Mißbrauch einer Befugnis ja immer voraussetzt, daß diese vorher - ausdrücklich oder wie beim Beweisantragsrecht inzident als gleichsam fiktive Norm - eingeräumt wird. Daher gibt es mit dem Mißbrauchsprinzip immer einen Anknüpfungspunkt, der hinsichtlich dieser speziellen eingeräumten Befugnis „normtextnäher" ist als die Analogie zu einer anderen Vorschrift, die mit dieser Befugnis an sich nichts zu tun hat.369
367
Vgl. auch Weber, GA 1975, 289, 295 FN. 29, der unter Bezugnahme auf Gernhuber, Schmidt-Rimpler-FS 1957, 151, 155, gewisse Zweifel äußert, ob dem Mißbrauchsgedanken tatsächlich eine eigenständige Bedeutung zukommt oder ob es sich nicht um ein reines Problem der Interpretation von Normen handelt. Hierzu auch oben 2. Teil A II 1 b, S. 86. 368 Zu den Argumenten, die dagegen sprechen, diesen Fall mittels Analogie zu § 243 I StPO zu lösen, vgl. bereits oben 2. Teil A II 1 b, S. 81. Daß (wie es im Text ausgedrückt wird) diese Vorschrift das Beweisantragsrecht „nicht betrifft", ist dagegen kein methodischer Einwand gegen die Annahme einer Analogie, sondern sogar im Gegenteil ein bei Analogien regelmäßig und fast denknotwendiges auftauchendes Phänomen - was freilich deutlich zeigt, daß das obige Beispiel eine Problematik betrifft, die für die meisten Analogien gilt. 369 Unter diesem Aspekt der somit unmittelbar am Zweck der Norm orientierten Rechtsfindung, die sogar normnäher erscheint als die Analogie, ist es auch verständlich, wenn teilweise die teleologischen Reduktion, die ja auch auf dem Telos gerade der „reduzierten" Norm beruht (und die teilweise auch als sedes materiae des Mißbrauchsprinzips betrachtet wird, vgl. vor allem Weber, GA 1975, 289, 295), als nicht durch
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
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Zur Begründung kann auch noch einmal auf einen Gedanken aus der Rechtserzeugungslehre zurückgegriffen werden. Wenn (bzw. soweit) an die Stelle eines rein deduktiven Subsumtionsverständnisses bei der Auslegung ein Modell der normtextorientierten Rechtserzeugung tritt, das die tradierte Unterscheidung zwischen Rechtsfindung secundum und praeter legem überwindet, zeigt sich die Notwendigkeit, keine Schlüsse auf die (Un-) Zulässigkeit eines bestimmten Vorgehens alleine aus der Bezeichnung zu ziehen, sondern die zugrundeliegenden Kriterien näher zu untersuchen. Selbst bei einer grundsätzlichen Orientierung an der traditionellen Methodik (oder zumindest ihren Begriffen) darf daher bei der Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Gesetzesvorbehalt nicht dabei stehen geblieben, aus der nominellen Einordnung der Rechtsfindung extra legem, sed intra ius gegenüber der praeter legem zu schließen, daß die Bedenken gegen eine Analogie aus dem Gesetzlichkeitsgrundsatz für das Mißbrauchsverbot „erst recht" gelten müsse. Das Verständnis, nach dem das allgemeine Mißbrauchsverbot nicht nur nicht in den Kernbereich der Legislative eingreift, sondern umgekehrt sogar im Kernbereich der Judikative liegt (vgl. o.), 370 hat auch Auswirkungen auf die Beurteilung der Rechtsfindung nach dem Demokratieprinzip. Wenn ein Entscheidungsprozeß einerseits im Kernbereich der Judikative verankert ist, andererseits von der unmittelbar demokratisch legitimierten Legislative nicht zu bewerkstelligen ist, so kann es dem Demokratiegebot nicht widersprechen, wenn die Judikative diese Entscheidung auch trifft (was darüber hinaus zur unverfälschten Durchsetzung des Willens des demokratischen Gesetzgebers auch erforderlich ist). Zwar wäre es unter dem Gesichtspunkt des Demokratiegebotes sicher vorzugswürdig, wenn der Gesetzgeber diese Befugnis ausdrücklich (in Form einer Mißbrauchsklausel) zum Ausdruck bringen (oder schon im Vorfeld des Mißbrauchs diesen ausschließende Regelungen schaffen) würde. Indes kann in diesem nicht optimierten Vorgehen alleine noch kein Verstoß gegen das Demokratieprinzip gesehen werden.
Art. 103 II GG ausgeschlossen bewertet wird (so offenbar Hruschka, JR 1968, 454, 455). Ob dieser kühne Schluß bei Art. 103 II GG als der strengsten Ausformung des Gesetzlichkeitsprinzips zutreffend ist, mag zwar durchaus zweifelhaft sein; er zeigt jedoch, daß das Mißbrauchsprinzip keineswegs ohne weiteres als „noch normferner als die Analogie" bezeichnet werden kann und daß die Annahme, der (im Vergleich zu Art. 103 II GG schwächere) allgemeine Gesetzesvorbehalt stehe einem ungeschriebenen Mißbrauchsverbot nicht entgegen, gar nicht so femliegend ist. 370 Die zentrale Bedeutung der Judikative für die Mißbrauchsabwehr wird noch in einem weiteren Punkt deutlich: Würde der Gesetzgeber ein allgemeines Mißbrauchsverbot in Form einer allgemeinen Mißbrauchsklausel statuieren, müßte das Gericht zu dessen Handhabung regelmäßig einen erheblich größeren argumentativen Aufwand betreiben, als wenn eine bestimmte Analogie (z.B. durch einen Verweis) „gesetzlich angeordnet" würde.
154
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
cc) Willkürverbot ( l ) E i n e weitere Wurzel des Gesetzesvorbehalts bildet das ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip verankerte Willkürverbot. Danach sollen in den Worten des BVerfG grundsätzlich staatliche „Eingriffe meßbar und in gewissem Umfang für den Staatsbürger vorhersehbar und berechenbar" sein.371 Eine Rechtssicherheit, in welcher der Bürger darauf vertrauen kann, daß nur in den gesetzlich geregelten Fällen in seine Rechte eingegriffen wird, 372 besteht aber gerade nicht, wenn der Gesetzesanwender in eigener Entscheidung und ohne entsprechenden „Auftrag" der Legislative den Regelungsrahmen einer Norm überschreitet. 373 Da aber selbst nach traditionellem Verständnis von der Rechtsfindung in der Auslegung eine Verengung der Gesetzesnorm auf den jeweils konkreten Entscheidungssatz erforderlich ist (und nach dem neueren Verständnis der Rechtserzeugungstheorie die Entscheidungsnorm - wenngleich normgeleitet - neu zu schaffen ist), kann unstreitig nicht gefordert werden, daß der zu entscheidende Lebenssachverhalt explizit im Gesetz erfaßt ist, sondern nur daß die Grenzen der von einer Norm erfaßten möglichen Lebensbereiche eingehalten werden. Somit erscheint gerade unter dem Gesichtspunkt des Gesetzesvorbehalts der an den Gesetzgeber gerichtete Bestimmtheitsgrundsatz als Kehrseite des an die Rechtsanwendung gerichteten Willkürverbots, wie nicht zuletzt auch die Verankerung des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotes im speziellen Gesetzesvorbehalt des Art. 103 II GG deutlich macht.374 Folgerichtig bemüht sich für die Frage nach einem Analogieverbot im öffentlichen Recht Gern375 - unter ausdrücklicher Verortung der Problematik am Gesetzesvorbehalt - um einen differenzierenden Ansatz mit Hilfe der zur Bestimmtheit von
371 Vgl. bereits BVerfGE 9, 137, 147 und ähnlich öfter zur Beschreibung der rechtsstaatlichen Funktion des Gesetzesvorbehalts (vgl. z.B. BVerfGE 22, 330, 245; 56, 1,12;
82, 6, 12).
372 So wohl auch Bär, 147, der etwas mißverständlich davon spricht, daß der Bürger „auf Eingriffe des Staates nur in den gesetzlich geregelten Fällen vertrauen dürfe 4'. Vgl. ferner Krey, Blau-FS, 123, 142, der den plastischen Begriff der „Orientierungsgewißheit für den Bürger" verwendet. 373 Vgl. auch Krey, Blau-FS, 123, 147: „Wird der Normtext oder die ratio legis einer Eingriffsermächtigung mißachtet, so läßt sich beim besten Willen nicht mehr sagen, der Eingriff erfolge »auf Grund eines Gesetzes«."; ähnlich bereits ders., Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, 241 f. Dabei ist für die Analogiefrage ein enger, am Wortlaut orientierter Bezugspunkt für den Vertrauensschutz des Bürgers zu wählen, der sich (i.S.d. Orientierungsgewißheit, vgl. o. Fn. 372) nur am möglichen Wortsinn orientieren muß, nicht am weiteren Sinn der Regelung. Welcher Sinn nämlich der Regelung gegeben werden kann und insbesondere, ob sie durch die Rechtsanwender analog herangezogen würde, ist für den Bürger (zwar möglicherweise nachvollziehbar, aber) regelmäßig kaum vorhersehbar. Vgl. dazu näher Bär, 149 ff. 374 Vgl. dazu Schmidhäuser, in: Selmer/v. Münch (Hg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, 231 ff. 375 Vgl. Gern, DÖV 1985, 558 ff., insb. 563.
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
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Rechtsnormen:376 Als Ausgangspunkt legt Gern dar, daß nach dem Vorbehaltsgrundsatz und dem Bestimmtheitsgebot der Grad der verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmtheit eines Gesetzes von den Besonderheiten des jeweils zu regelnden Lebenssachverhalts und den zur gesetzlichen Regelung führenden Umständen abhänge. Dabei seien einerseits Wertigkeit und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung, andererseits Praktikabilitätserwägungen (insbesondere Schwierigkeiten der Formulierung eines gesetzlichen Tatbestands) zu beachten. Dies alles sei auch bei der Frage nach einer Analogie zu berücksichtigen, da „ein lückenhaftes Gesetz im Ansatz noch unbestimmter ist als ein förmlich festgeschriebener unbestimmter Rechtsbegriff. 44377 Daher setze die Lückenfüllung durch Analogie im Verwaltungsrecht voraus, daß die auszufüllende Rechtsnorm die Möglichkeit eines Eingriffs selbst bereits festlegt, so daß nur noch Einzelfragen (offenbar Modalitäten des Eingriffs oder ähnlich gelagerte Gründe für einen grundsätzlich vorgesehenen Eingriff) durch Analogie geregelt werden dürfen; dabei sei unter Gesichtspunkten der Rechtssicherheit zusätzlich zu beachten, daß die Lückenhaftigkeit des auszufüllenden Tatbestands und der Inhalt der „Ausfüllung" für den Bürger (und zwar nach Gem: für den vernünftigen Argumenten zugänglichen Normalbürger) im wesentlichen vorhersehbar ist.378 Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze spricht zunächst einiges dafür, eine Mißbrauchsreaktion, die einen neuen „Eingriffstatbestand" (z.B. die im Gesetz nicht vorgesehene Entziehung des Beweisantragsrechts) schafft, überhaupt nicht zuzulassen. Spätestens erreicht wäre die Grenze eines zulässigen ungeschriebenen Mißbrauchsverbotes bei neuen Eingriffstatbeständen aber jedenfalls dort, wo - im o.g. Sinne Gems - der „vernünftigen Argumenten zugängliche Normalbürger" nicht mehr in der Lage ist, nach entsprechender Aufklärung über den Gesetzesinhalt auf Grund seiner Parallelwertung die Lückenhaftigkeit des Gesetzes sowie die Notwendigkeit und den Inhalt der Lückenfüllung zu erkennen.379 Zwar könnten auch hier wieder die Unterschiede zwischen der (zwar auf einer gesetzlichen, aber eben einer anderen Vorschrift basierenden) Analogie und dem (in der zweckwidrigen Verwendung der in Frage stehenden Befugnis selbst begründeten) allgemeinen Mißbrauchsverbot von Bedeutung sein: Wenn eine genauere gesetzliche und damit vorhersehbarere Regelung nicht möglich ist, spricht gerade angesichts der engen Beziehung zwischen Normzweck und Mißbrauchsverbot einiges dafür, auch das unschärfere und damit willküranfälligere ungeschriebene Mißbrauchsverbot nolens volens hinzunehmen, zumal dieses umgekehrt auch „rechtsstaatsrelevante" Werte durchzusetzen hilft (so die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, 380 das Gebot materieller Gerech376
Zum Zusammenhang zwischen Analogie und Bestimmtheitsgrundsatz femer Schmidhäuser, in: Selmer/v. Münch (Hg.), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, 231,232. 377 Vgl. Gern, DÖV 1985, 558, 563. 378 Vgl. Gern, DÖV 1985, 558, 563. Hinsichtlich der zur Ausfüllung heranzuziehenden Norm mit „vergleichbarer Interessenlage" möchte Gern die Wertung des Art. 3 GG heranziehen, wonach es sich um eine Gleichheit in den rechtlich wesentlichen Gesichtspunkten handeln müsse, vgl. a.a.O., 563 f. Sachlich kann freilich Art. 3 GG regelmäßig keinen Hinweis dafür geben, wann eine solche Gleichheit vorzunehmen ist. 379 Vgl. nochmals Gern, DÖV 1985, 558, 563. 380 Vgl. dazu ausführlich unten 2. Teil Β III 2, S. 166 ff.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
tigkeit 381 und schließlich die Verwirklichung des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks 382 ). Letztendlich kann aber diese an der Bestimmtheitsproblematik orientierte Gedankenführung keine wirklich entscheidenden Argumente für die Zulässigkeit eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots unter Willkürgesichtspunkten sein: denn jedenfalls in solchen Fällen, in denen für bestimmte Befugnisse im Gesetz nicht vorgesehene Beschränkungen erfolgen sollen, geht es nicht (wie es bei einem speziellen Mißbrauchstatbeständen, jedenfalls aber bei einer allgemeinen Mißbrauchsklausel 383 der Fall wäre) um die möglichen Grenzen des Bestimmtheitsgebots,384 sondern um die Frage, ob durch überhaupt nicht im Gesetz erwähnte Rechtsbeschränkungen das Willkürverbot verletzt ist. (2) Somit kommt es spätestens an dieser Stelle entscheidend auf die oben schon angeschnittene Frage nach der Rolle des Gesetzes innerhalb des Rechtsfindungsprozesses an: 385 Wie bereits erwähnt, hat der Gesetzesvorbehalt für das Rechtserzeugungsmodell keine über die allgemeine Gesetzesbindung wesentlich 386 hinausgehende Bedeutung. Eine Entscheidung wäre danach nicht willkürlich, wenn die im Mißbrauchsverbot liegende Ausnahme von der Regel mit (normgeleiteten) Argumenten begründet werden kann, die den Argumenten für die Einhaltung der Regel überlegen sind. Für das erweiterte Determinationsmodell kommt es dagegen darauf an, woran die Bindung des Gesetzesvorbehalts geknüpft wird: Ist dem Gesetzesvorbehalt auch dann genügt, wenn sich die belastende Maßnahmen auf die „hinter den Gesetzen" stehenden Deduktionsgrundlagen (wie allgemeinen Rechtsprinzipien) zurückführen lassen, bestehen keine grundsätzlichen Bedenken gegen das allgemeine Mißbrauchsver bot. 387 Folgt man dagegen zumindest im Anwendungsbereich des Gesetzes^or-
381 Vgl. zur Gerechtigkeit als Ziel des Strafverfahrens unten 2. Teil C III 2 c, S. 213 ff. 382 Hier sei noch einmal klargestellt: Selbstverständlich ist zwar nicht sichergestellt, daß jede richterliche Mißbrauchskontrolle auch dem Willen des Gesetzgebers entspricht; indes ist dies auch bei keiner sonstigen (insbesondere betont engen oder weiten) Rechtsanwendung der Fall. Ohne ein gewisses Grundvertrauen, daß die Rechtsanwender sich bemühen, den gesetzgeberischen Willen bestmöglich zu verwirklichen, sind Jurisprudenz und praktische Rechtsanwendung schlechterdings nicht möglich. 383 Zur hier verwandten Terminologie vgl. o. 1. Teil II 1, S. 26 ff. 384 Vgl. hierzu und zur mit der Erkenntnis dieser Grenzen verbundenen Forderung nach einer nur noch „relativen Bestimmtheit" (die dann aber ernster zu nehmen wäre als das gängige Bestimmtheitspostulat) Schmidhäuser, in: Selmer/v. Münch (Hg. ), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, 231 ff. 385 Vgl. dazu ausführlicher oben 2. Teil A I 2, S. 64 f. sowie III 3, S. 109 f. 386 Denkbar wäre es allerdings, im Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts das grammatische Konkretisierungsmodell noch stärker zu betonen, als es in einer „rechtsstaatsgetreuen Methodik" von Müller, S. 186 ohnehin gefordert wird. 387 Diesen Weg scheint Malmendier , NJW 1997, 227, 235 beschreiten zu wollen, wenn er den aus Art. 20 III GG abzuleitenden Auftrag zur Rechtsfortbildung durch die
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
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behalts einem engeren Positivismus, d.h. verlangt man eine Ableitbarkeit nur aus dem Gesetz, ist bei strafprozessualen Befugnissen kein Raum für ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot. Da nun gerade im Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts das tradierte Rechtsfindungsverständnis grundsätzlich strenger positivistische Anforderungen stellt (wie es insbesondere beim traditionellen Verständnis des speziellen Gesetzesvorbehalt nach Art. 103 I I GG deutlich wird), 388 ist ein allgemeines Mißbrauchsverbot im Strafprozeßrecht verfassungsrechtlich mit ihr kaum zu vereinbaren. Aus diesem Grund ist es überraschend (oder vielleicht gerade verständlich), daß sich die verfassungsrechtliche Problematik als solche in der bisherigen Diskussion nur wenig (und in der Rechtsprechung der Strafgerichte überhaupt nicht 389 ) angesprochen findet. Die verfassungsrechtlichen Probleme eines allgemeinen Mißbrauchsverbots werden deutlich, wenn man die strengen Kriterien betrachtet, die das BVerfG in seiner Entscheidung zur Zulässigkeit des Verteidigerausschlusses im 34. Band entwickelt hat:390 Trotz gewisser Fallgruppen ist das bisherige Bild des Mißbrauchs im Strafprozeßrecht eher unbestimmt und schemenhaft, und steht somit nur „»in Umrissen«, also nur unvollkommen und lückenhaft" fest, was nach Ansicht des BVerfG gerade nicht für die Beschränkung eines Rechts (dort konkret: für den Ausschluß von der Verteidigung) genügen soll.391 Freilich ist zu beachten, daß sich diese Einschränkung des BVerfG auf das Vorgehen des BGH bezieht, mit dem anhand allgemeiner Kriterien und dem Zweck einer ganzen Reihe von Vorschriften eine Einschränkung der Verteidigung (bzw. der Berufsausübung des Verteidigers 392) gerechtfertigt werden sollte, deren Mißbrauch i.e.S. (d.h. im Sinne eines zweckwidrigen Einsatzes der gesetzlichen Verteidigungsbefugnisse) gar nicht vorgebracht wurde.393 Gleichwohl wäre nach diesen Grundsätzen auch ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot im hier verstandenen Sinne verfassungsrechtlich fragwürdig, da jedenfalls mangels gesetzlicher Normierung das nähere Verfahren und die Zuständigkeit zur Mißbrauchskontrolle nicht gesetzlich geregelt sind, was das BVerfG grundsätzlich gefordert hatte.
Gerichte als im Rahmen einer Abwägung höher einzuschätzen bezeichnet als den Gesetzesvorbehalt. 388 Gerade die Stimmen in der Literatur, die sich ausführlicher mit der Frage von Gesetzesvorbehalt und Rechtsfindung außerhalb des Bereichs secundum legem beschäftigen, neigen überwiegend zu einem engeren positivistischen Verständnis auch beim allgemeinen Gesetzesvorbehalt, vgl. etwa Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, 240 ff.; Bär, 122 ff. 389 Vgl. dazu unten 3. Teil A und C, S. 260 ff., 331 ff. 390 Vgl. BVerfGE 34, 293 ff., insb. 301-303. 391 Vgl. BVerfGE 34, 293, 302. 392 Die Verfassungsbeschwerde konkret machte sub specie Art. 12GG eine Verletzung der Berufsfreiheit des Verteidigers, nicht der Verteidigungsrechte des Angeklagten geltend. 393 Vgl. hierzu auch Weher, GA 1975, 289, 296, Kröpil, JR 1997, 315, 316 f. sowie bereits oben 1. Teil II 2 a bb, S. 30, wo jeweils dargelegt wird, daß § 138a II StPO kei-
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
(3) Allerdings sollte ein allgemeines Mißbrauchsverbot nicht unter Berufung auf den Vorbehaltsgrundsatz von vornherein und in jedem Fall ausgeschlossen werden, selbst wenn dazu die Wege des tradierten Rechtsfindungsverständnisses teilweise verlassen werden müssen.394 Insbesondere die oben zur Gewaltenteilung und zum Demokratieprinzip vorgebrachten Überlegungen, aber auch die größere Plausibilität des Ergebnisses sprechen dafür, auch die Grenzen des Willkürverbotes etwas weniger eng zu ziehen. Einer nicht näher begründeten „Ausnahme für Extremfälle" 395 , aber auch einem durch die sehr vage Kategorie „der Gerechtigkeit" 396 aufgeladenen Determinationsmodell ist dabei die Orientierung am Rechtserzeugungsmodell vorzuziehen. Seine insgesamt sehr plausible Struktur und Argumentationsweise wurden oben bereits näher dargestellt. 397 Auch wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Rechtserzeugungslehre sich gerade bemüht, zu erklären, wie Rechtsfindung tatsächlich erfolgt (und wegen der praktischen Uneinlösbarkeit des bloßen „Nachvollzugs eines bereits Vorvollzogenen" auch nur erfolgen kann). 398 Vor allem aber können die Vorgaben des Rechtserzeugungsmodells bei der praktischen Anwendung des ungeschriebenen Mißbrauchsverbots in mehrfacher Weise hilfreiche Dienste leisten: Zum einen wird die Begründung des Mißbrauchsurteils klarer gefaßt, weil dieses anhand der gleichen (etwa grammatischen, vor allem aber systematischen, historisch-genetischen oder teleologischen) Kriterien gefällt wird, die auch sonst zur Rechtsfindung herangezogen werden; daß dies (auch bei Orientierung am tradierten Rechtsfindungsmodell) ein wichtiges Postulat ist, wurde oben bereits erwähnt. Zum anderen wird die unbefriedigende „Alles-oderNichts-Lösung" vermieden, die sich ergibt, wenn man entweder einen gesetz-
nen prozessualen Mißbrauch im eigentlichen Sinne betrifft, da sich der Handelnde nicht unmittelbar auf eine gesetzliche Vorschrift beruft. 394 Daß diese Abweichung keinen völligen Bruch mit dem tradierten Verständnis von Gesetzesvorbehalt und Rechtsfindung bedeutet, wurde bereits auf den Überlegungen auf S. 147 ff. deutlich, da das allgemeine Mißbrauchsverbot sich immerhin mit dem Demokratieprinzip und dem Gewaltenteilungsgrundsatz und damit mit zweien der drei wichtigsten Wurzeln des Gewaltenteilungsgrundsatzes als vereinbar erwies. Die dort genannten Argumente mögen bei einem weniger strengen Verständnis des Willkürverbots sogar auch dort durchschlagen; allerdings würde ein solches Vorgehen zu einer Aufweichung des Gesetzesvorbehalts ohne klare Konturen führen, während eine Anlehnung an das Rechtserzeugungsmodell eine weitergehende Flexibilität gestattet, ohne zu einer Aufweichung aller Grenzen zu führen. 395 In diesem Sinne etwa Kühne, StV 1996, 684, 685 (zwar nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gesetzesvorbehalt, aber zur ähnlich gelagerten Frage nach der methodischen Zulässigkeit der Kategorie Rechtsmißbrauch). 396 Vgl. dazu oben S. 91; zur sehr problematischen Ableitung von Folgen aus „der Gerechtigkeit" vgl. auch unten S. 214 f. 397 Vgl. o. 2. Teil A III 2, S. 104 ff. 398 Vgl. hierzu außerdem Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 119 m.w.N.
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
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lieh nicht explizit behandelten Mißbrauch schlechterdings dulden muß oder aber ohne klare Kriterien eine grundrechtsrelevante Mißbrauchsabwehr zuläßt. Insoweit kann ein Gedanke auf das Mißbrauchsverbot und den Gesetzesvorbehalt übertragen werden, den Schmidhäuser für das Bestimmtheitsgebot entwickelt hat: 3 " eine weniger absolute Grenze, die dafür ernster genommen wird, kann der Sache mehr dienen, als eine zu strenge Grenze, die dann in Einzelfällen ohne klare Begründung überschritten wird. Ein wesentlicher Verdienst des Rechtserzeugungsmodells ist es gerade, daß die Vorstellung eines engen Gesetzespositivismus nur durch einen „Richterpositivismus" und eine „Legitimation durch eine gesetzestranszedent gedachte Gerechtigkeit" ersetzt wird; 400 vielmehr wird mit der normtextgeleiteten Rechtsnormkonkretisierung ein Weg aufgezeigt, auf dem trotz Ablehnung eines strengen Deduktionsmodells „unter Bindung an den vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext und im Rahmen einer gegebenen (sc. juristischen - H.K.) Argumentationskultur (...) nicht willkürlich" entschieden wird. 401 Das Mißbrauchsurteil darf dementsprechend nicht einfach „behauptet" werden, sondern muß mit Hilfe der juristischen Argumentationstechnik dem Normtext noch zugerechnet werden können: ist dies möglich, wird nicht gegen den Gesetzesvorbehalt verstoßen; anderenfalls kann es auch bei noch so unbefriedigend erscheinenden Ergebnissen nicht gerechtfertigt werden. Über die hier interessierenden Fälle des Mißbrauchs von Verfahrensbefugnissen hinausgehend sei gegenüber rechtsstaatlichen Bedenken angesichts einer vermeintlich drohenden Auflösung des Gesetzesvorbehalts noch folgendes bemerkt. Daß der Gesetzesvorbehalt nach wie vor seine Bedeutung behält, wird nicht nur durch die Anforderungen an die juristische Argumentationstechnik im Prozeß der Entscheidungszurechnung gewährleistet. Für viele Grundrechte führt das Rechtserzeugungsmodell ohnehin zu keinen weitergehenden Eingriffsbefugnissen als ein klassisches (enges) Determinationsmodell: Bei allen Grundrechten mit einem einfachen, ohne Rückgriff auf einfachgesetzliche Rechtsnormen bestimmbaren Schutzbereich (so etwa weitestgehend bei den Art. 2, 5, 6, 8, 9, 10, 12 oder 13 GG) kommt die Zurechenbarkeit einer in diese gleichsam „vorrechtlichen" Schutzbereich regelmäßig nur beim Vorliegen entsprechender Eingriffsbefugnisse in Betracht. Einzig bei den Prozeßgrundrechten mit ihren stark normgeprägten Grundrechten ist schon zur näheren Konstituierung des Schutzbereichs eine gesetzliche Regelung erforderlich, aus deren System sich im Einzelfall auch ohne explizite Eingriffsnorm ergeben kann, daß bestimmte Ausübungen der eingeräumten Befugnisse vom Normzweck keinesfalls mehr gedeckt sind.
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Vgl. Schmidhäuser, in: Selmer/v. Münch (Hg. ), Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, 231 ff. 400 Vgl. dazu auch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung, 165, 167, der ein solches Vorgehen wissenschaftstheoretisch als „degenerative Problemverschiebung" kennzeichnet (vgl. S. 166). 401 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung, 153.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
(4) Nur ergänzend sei angemerkt, daß die Untersuchung auch dann nicht an dieser Stelle als beendet betrachtet werden könnte, wenn man sich auf den Boden des tradierten Methodenverständnisses (i.S. eines Determinationsmodells) stellt. Zwar ist fraglich, ob die Anhänger eines erweiterten Determinationsmodell auch im Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts eine Ableitung von Ergebnissen aus allgemeinen Rechtsprinzipien oder gar der Gerechtigkeit zulassen würden, da hier gemeinhin eher strengere positivistische Anforderungen gestellt werden; immerhin wäre ein solches Vorgehen für sie aber durchaus konsequent. Vor allem aber wird die verfassungsrechtliche Grenze eines Mißbrauchsverbots als solche gerade in der Rechtsprechung bisher nicht problematisiert, so daß jedenfalls unter praktischen Gesichtspunkten nach wie vor von Interesse ist, welche weiteren Aspekte zum Mißbrauchsverbot im Strafprozeßrecht zu beachten sind, wenn man die (formell-) verfassungsmäßigen Bedenken hintanstellen würde.
I I I . Materiell-verfassungsrechtliche Aspekte 1. Das Strafverfahren als Seismograph der Staatsverfassung Grundrechtsschutz im Strafverfahren
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Schon die bisher behandelten formellen Gesichtspunkte („Welcher Natur muß eine Eingriffsbefugnis sein?") zeigen die enge Verknüpfung zwischen Strafverfahrens- und Verfassungsrecht. Auch aus materiell-verfassungsrechtlichem Blickwinkel („Welchen Inhalt müssen/dürfen prozessuale Regelungen haben?") wird diese Verknüpfung häufig betont, so etwa wenn Roxin das Strafverfahren als „Seismograph der Staatsverfassung" 402 oder Sax Strafprozeßrecht als „angewandtes Verfassungsrecht" und die „StPO als Ausführungsgesetz zum Grundgesetz" bezeichnet.403 In diesem Zusammenhang wird traditionell besonders der durch das Verfahrensrecht zu gewährleistende Schutz verfassungsrechtlicher Positionen des einzelnen Prozeßbeteiligten betont, z.B. der Grundrechtsschutz des Angeklagten. Dies erscheint auch nicht weiter verwunderlich, beinhaltet doch die Strafverfolgung die intensivsten und einschneidensten staatlichen Maßnahmen gegen den Bürger, angefangen von Duldungspflichten im Ermittlungsverfahren bis hin zur Verhängung einer Freiheitsstrafe.
402
Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht § 2 A. Vgl. KMR-Sar, Einl. II Rn. 12 (wo freilich von „angewandtem Verfahrensrecht" die Rede ist, indes dürfte es sich dabei um ein redaktionelles Versehen handeln) sowie Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hg.), Die Grundrechte, Bd. III 2. Halbband 1959, 909, 910, 967; auch das BVerfGE bezeichnet das Strafverfahrensrecht als „angewandtes Verfassungsrecht", vgl. E 32, 373, 383; ähnlich KK-Pfeijfer, Einleitung Rn. 23 403
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
161
Die Anforderungen, die sich aus verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Schutz der Verfahrensbeteiligten ergeben, betreffen in erster Linie den Be404 schuldigten und die Zeugen und rühren vor allem aus der starken Betonung der Grundrechte im Grundgesetz her. Von den drei wichtigsten aus den Grundrechten (bzw. aus dem die Grundrechte insoweit unterstützenden Rechtsstaatsprinzip 405) ableitbaren Forderungen für die Struktur eines Strafverfahrens wurden die Geltung des Gesetzesvorbehalts sowie die grundsätzliche Zuordnung der Verfahrensrechte zu den sie schützenden Grundrechten bereits im vorangegangenen Abschnitt erörtert. Zu prüfen bleibt jedoch noch, welche Anhaltspunkte für materiell-inhaltliche Grenzen einer (sei es gesetzlichen, sei es auf Grund des Mißbrauchsverbots erfolgenden) Einschränkung der prozessualen Befugnisse sich bei einer Orientierung an den Grundrechten und am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben.
a) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Das v.a. von Lerche 406 grundlegend entwickelte und in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannte 407 Prinzip der Verhältnismäßigkeit besagt - für den vorliegenden Zweck formuliert -, daß Eingriffe in verfassungsrechtlich geschützte Positionen nur erlaubt sind, wenn sie - zur Erreichung eines legitimen Ziels -
geeignet,
404 Diesen tritt der Staat nämlich in Gestalt der Strafverfolgungsbehörden gegenüber, während Staatsanwaltschaft und Gericht selbst als Teil der staatlichen Gewalt auftreten.. 405 In der neueren verfassungsrechtlichen Dogmatik hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß es Überschneidungsbereiche zwischen dem Rechtsstaatsgebot und der Grundrechten gibt, z.B. soweit es um den Vorbehalt des Gesetzes geht. Dieser wird zum einen allgemein aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet, zum anderen wird er für den grundrechtlich geschützten Bereich noch einmal durch die Grundrechte bestätigt. Vgl. dazu auch bereits S. 138. Auch die Grundrechtsgeltung selbst wird nach der klassischen deutschen Staatsrechtstradition ihrerseits als Teil des Rechtsstaatsprinzips verstanden, vgl. zu den Inhalten des Rechtsstaatsprinzips Jentsch, ZRP 1995, 9 ff., 11; Schmidt-Jortzig, NJW 1994, 2569, 2570 f. Ebenfalls das Rechtsstaatsprinzip i.V.m. dem Freiheitsgrundrecht des Art. 2 I GG soll im übrigen auch das Recht auf ein faires Verfahren garantieren, vgl. BVerfGE 26, 66, 71; 66, 313, 318; vgl. auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl Rn. 19 und YJ^-Pfeiffer, Einleitung Rn. 28; näher zum fair-trial-Grundsatz m.w.N. auch oben 2. Teil Β I, S. 121. 406 Übermaß verbot und Verfassungsrecht, 1961. Ausführlich aus neuerer Zeit etwa Remmert, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundlagen des Übermaßverbots, 1995. 407 Vgl. aus der Rechtsprechung des BVerfG nur E 19, 342, 348 f.; 23, 127,133; 55, 159, 165; 65, 1, 44; 80, 109, 120; krit. zur Bedeutung, die dieser Grundsatz dort erlangt hat, AKJGG-Bäumlin/Ridder, Art. 20 Rn. 64 ff.
11 Kudlich
162
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
- erforderlich (d.h. das relativ mildeste Mittel) und - angemessen (verhältnismäßig i.e.S.) sind. Eine Antwort darauf, wann diese Anforderungen bei Mißbrauchsreaktionen im Strafverfahren erfüllt werden, ist zwar in allgemein gültiger Form nicht möglich, sondern muß an sich für jede einzelne Maßnahme der Strafverfolgung gefunden werden. 408 Allerdings können für diese Beurteilung zumindest einige grundlegende Wertungen bzw. Vorgehensweisen genannt werden, die in jedem Einzelfall eine Rolle spielen werden: - Als legitimes Ziel, das durch die Mißbrauchsreaktion erreicht werden soll, kann seinerseits das Rechtsstaatsprinzip in zwei Ausprägungen herangezogen werden: Zum einen könnte die Herrschaft von Recht (und Gesetz) ganz allgemein gesichert werden, wenn verhindert wird, daß gesetzliche Befugnisse nicht evident gegen ihren Zweck eingesetzt werden; zum anderen könnte man auf den Schutz der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege abstellen.409 -
Die zumindest grundsätzliche Geeignetheit von Mißbrauchsreaktionen zur Unterbindung des Mißbrauchs kann bei dieser allgemeinen Betrachtung unterstellt werden. Zwar ist es durchaus vorstellbar, daß in einzelnen Fällen Mißbrauchsreaktionen gewählt werden, die das zweckwidrige Verhalten nicht (nennenswert) erschweren (dann aber wegen ihrer u.U. gleichwohl belastenden Wirkung vor allem unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten problematisch sind); wenn aber der zweckwidrige Einsatz von Rechten zurückgewiesen oder für die Zukunft untersagt wird, ist zumindest im Regelfall von einer Eignung zur Mißbrauchsabwehr auszugehen.
- Aus dem Kriterium der Erforderlichkeit ist die Forderung abzuleiten, daß Grundrechte durch staatliche Eingriffe nicht mehr eingeschränkt werden dürfen, als es zur Erreichung des jeweiligen (legitimen) Ziels unumgänglich ist. M.a.W.: wenn schonendere Maßnahmen genauso effektiv sind, sind sie den beeinträchtigenderen Maßnahmen vorzuziehen. Dieser Gesichtspunkt
408
Daß die Institution des Strafverfahrens als solches der Erreichung eines legitimen Ziels dient und dazu (trotz aller Zweifel insbesondere an der speziai präventiven und negativen generalpräventiven Wirkung von Strafe) geeignet, erforderlich und zumindest nicht notwendigerweise unangemessen ist, wird hier allerdings vorausgesetzt. Zu den Strafzwecken vgl. allgemein Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 1994, § 3. 409 Zur Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege als Argument zur Einschränkung der „Konfliktverteidigung" vgl. auch Malmendier , NJW 1997, 227, 228; zur Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips in diesem Zusammenhang Kröpil, ZRP 1997, 9, 12 (dessen Überlegungen freilich auch im Funktionstüchtigkeitstopos einmünden). Da der Funktionstüchtigkeitstopos allerdings umstritten und in seiner Handhabung nicht unproblematisch ist, ist er im Anschluß noch Gegenstand einer ausführlicheren Darstellung, vgl. u. 2. Teil Β III 2, S. 166 ff.
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
163
wird insbesondere bei der Wahl der Mißbrauchsreaktion zu berücksichtigen •
410
sein. - Das Erfordernis der Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) schließlich führt zu einer zweistufigen Güterabwägung zwischen dem verfolgten Ziel und dem beeinträchtigten Grundrecht, die einen angemessenen Ausgleich ermöglichen soll. Dabei sind auf der ersten Stufe das beeinträchtigte Rechtsgut (hier also das Grundrecht) und das geschützte Rechtsgut (hier also das Interesse, dessentwegen die Maßnahme getroffen wird) in ihrer abstrakten Wertigkeit miteinander zu vergleichen. Auf der zweiten (und entscheidenden) Stufe sind die Vor- und Nachteile für die beiden Rechtsgüter in der ganz konkreten Situation miteinander abzuwägen. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist dabei die Unterscheidung, ob die kollidierenden Interessen jeweils in ihrem Kernbereich oder nur in einer - möglicherweise äquivalent ersetzbaren - Randmodalität betroffen sind.
b) Die Wesensgehaltsgarantie Bereits aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem darin verankerten Erfordernis eines angemessenen Ausgleichs in der Güterabwägung ergibt sich, daß keines der betroffenen Rechtsgüter völlig zurücktreten darf; insbesondere dürften also durch eine Mißbrauchsreaktion die in den Verfahrensbefugnissen aktualisierten Prozeßgrundrechte nicht völlig unbeachtet blieben. Für den grundrechtlichen Bereich ist dieser Grundsatz durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 I I GG im Verfassungstext erwähnt und pointiert festgeschrieben. Anwendungsbereich und Inhalt des Art. 19 I I GG sind allerdings in mehrerlei Hinsicht umstritten. So ist bereits fraglich, ob die Wesensgehaltsgarantie nicht aus systematischen Gründen ebenso wie das Zitiergebot des Art. 19 I GG nur auf Grundrechte mit Eingriffsvorbehalten i.e.S. anwendbar sind,411 zu denen beispielsweise Art. 103 I GG nicht zählen würde. Des weiteren ist zum einen umstritten, ob Art. 19 II GG subjektiv (d.h. jedem Grundrechtsträger muß der Wesensgehalt jedes Grundrechts verbleiben) oder objektiv (d.h. der Wesensgehalt des Grundrechts muß an sich bestehen bleiben) auszulegen ist, zum anderen ob der Wesensgehalt absolut (i.S. eines unantastbaren Kerns) oder relativ (in Abwägung mit kollidierenden Interessen) zu bestimmen ist.412
4,0 So begründet z.B. das OLG Hamburg NJW 1998, 621, 623 das vom ihm aufgestellte Erfordernis einer »Abmahnung" vor der Entpflichtung eines Verteidigers wegen Mißbrauchs mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 411 Vgl. zur Abgrenzung der unterschiedlichen Gesetzesvorbehalte knapp Jarass/Pieroth-Jflras$, Art. 19 Rn. 3 f. 412 Vgl. zum Meinungsstand in beiden Streitfragen die Nachweise bei Jarass/PierothJarass, Art. 19 Rn. 6.
11*
164
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Als gesicherte Grundlage für die Grenzen möglicher Mißbrauchsreaktionen im Strafprozeßrecht können daher aus Art. 19 II GG keine über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinausgehenden Vorgaben abgeleitet werden. Unabhängig davon, ob man dieses Ergebnis auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip oder die Wesensgehaltsgarantie stützt, sind aber jedenfalls solche Mißbrauchsreaktionen unzulässig, die auf einen vollständigen Verlust eines Grundrechts, z.B. des rechtlichen Gehörs, hinauslaufen würden. Da solche Fälle allerdings schwer vorstellbar sind, liegt die Hauptbedeutung der materiell-verfassungsrechtlichen Grenzen in den Fällen, in denen (wenn nicht vollständige, so doch) sehr weitreichende Grundrechtsbeschränkungen auf ihre Verhältnismäßigkeit hin zu prüfen sind. Diese könnte insbesondere fraglich sein, wenn einzelne Ausprägungen eines Grundrechts vollständige entzogen werden.
c) Die Konsequenzen für die Anwendung des Mißbrauchsprinzips Für die Anwendung des allgemeinen Mißbrauchsverbots auf strafprozessuale Befugnisse ergeben sich damit mehrere Konsequenzen, die zum einen seine Voraussetzungen, vor allem die Auswahl der möglichen Mißbrauchsreaktion als Rechtsfolge betreffen: aa) Was zunächst die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Mißbrauchs angeht, führt die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dazu, daß ein solcher um so eher anzunehmen ist, desto mehr die konkrete Ausübung gegen den Zweck der Befugnis verstößt und desto nachdrücklicher der Verfahrensablauf beeinträchtigt wird. Wird z.B. durch einen zweckwidrig erscheinenden Antrag kein anderer Prozeßbeteiligter in seinen Rechten (etwa der persönlichen Ehre) beeinträchtigt und auch der Verfahrensablauf nur ganz geringfügig verzögert, erschiene es selbst bei ernsten Zweifeln an der Erreichung des damit verfolgten Zwecks unverhältnismäßig, diesen Antrag wegen Mißbrauchs als unzulässig abzulehnen. Da im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Bedeutung ist, ob die eingeschränkte Handlung den Kernbereich oder nur eine Randmodalität des Grundrechts betrifft, könnte ferner hinsichtlich der Zulässigkeit von Mißbrauchsreaktionen auch danach differenziert werden, wie wichtig die jeweilige Befugnis für die Gewährung rechtlichen Gehörs bzw. eines fairen Verfahrens ist. Dies wird auch in der StPO selbst deutlich, wo die Entziehung eines Rechts ausdrücklich nur für das Kreuzverhör geregelt ist, welches nach der Konzeption der StPO als weniger wichtige Befugnis erscheint. Indes ist dies für eine allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung nur ein sehr schwaches Indiz: Zwar könnte unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung möglicherweise dem Beweisantragsrecht eine übergeordnete Rolle zukommen, da die Einflußnahme auf das Prozeßgeschehen durch die Beantragung zusätzlicher Beweismittel
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
165
stärker erscheint als durch den z.B. im Fragerecht liegenden Rückgriff auf ohnehin vorhandene Beweismitteln. Jedoch wird im Ergebnis die Zuordnung einer Beeinträchtigung in den Kern- oder Randbereich in erster Linie auch wieder davon abhängen, wie weit sie geht. So ist z.B. die Entziehung des Fragerechts bei der Vernehmung eines bestimmten Zeugen ist sicher weniger schwerwiegend als die vollständige Entziehung des Beweisantragsrechts. Dagegen kann eine Beschränkungen desselben hinsichtlich eines einzelnen Beweisthemas weniger grundrechtsinvasiv sein als eine Entziehung des Fragerechts für die gesamte Hauptverhandlung (vgl. dazu auch unten cc). bb) Für die bei der methodischen Betrachtung bereits angesprochenen Frage nach dem Erfordernis eines subjektiven Mißbrauchselements 413 ergibt sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz alleine zwar keine verbindliche Antwort. Allerdings bestätigt er durchaus die hier als vorzugswürdig erachtete Annahme, daß bei einer Rechtsbeschränkung als Mißbrauchsreaktion auch zumindest ein beschränkt subjektives Mißbrauchselement als zusätzliches Korrektiv gefordert wird: So erscheint es bei der maßgeblichen Abwägung leichter vertretbar, die Rechte desjenigen einzuschränken, der sich bewußt über die gesetzlichen Zwecke hinwegsetzt. cc) Der Vorrang der weniger einschneidenden Maßnahme (vgl. o.) schließlich führt dazu, daß von den oben als grundsätzlich möglich dargestellten Mißbrauchsreaktionen eher die Zurückweisung einer einzelnen Rechtsausübung als die Beschränkung der Befugnis auch für spätere Ausübungen gewählt werden müßte. Sollte aber einmal die Beschränkung des Rechts erforderlich erscheinen, ist nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu prüfen, wie diese Beschränkung möglichst schonend ausgestaltet werden kann. Hier wäre z.B. an zeitliche oder themenbezogene Einschränkungen ebenso zu denken wie an die Zwischenschaltung geeigneter anderer Verfahrensbeteiligter als „Filter" (so z.B. durch Beschränkung einer Rechtsausübung auf den Verteidiger, Vorlage von Fragen an den Richter etc.). Tendenziell ist dabei auch ohne Untersuchung von konkreten Einzelfällen davon auszugehen, daß Rechtsentziehungen, die größere Abschnitte oder gar die ganze Hauptverhandlung betreffen, regelmäßig problematisch sind, da sich selten die Prognose treffen lassen wird, daß eine zeitlich vorübergehende oder sachlich eingegrenzte Beschränkung nicht ebenso effektiv ist. Allerdings kommt es auch insoweit wieder stark auf die Umstände des Einzelfalls an: Da es beispielsweise de lege lata bis zum Abschluß der Hauptverhandlung keinerlei zeitliche Grenzen des Beweisantragsrechts gibt, erschiene hier eine zeitlich vorübergehende Beschränkung sinnlos: alle Beweisanträge, die innerhalb dieses Zeitraum nicht gestellt werden durften, könnten dann nämlich - mit u.U. noch stärker verzögernder Wirkung - nach Ablauf des fraglichen Zeitraums gestellt werden.
4,3
Vgl. hierzu oben 2. Teil A II 2 c, S. 97 f.
166
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Insoweit ist auch die Stellung des Verteidigers in zweierlei Hinsicht von Interesse: soweit es um die Beschränkung von Befugnissen des Angeklagten geht, könnte das Urteil der UnVerhältnismäßigkeit eventuell dadurch abwendet werden, daß dem Verteidiger eben diese Befugnisse nach wie vor (selbst und originär) zur Verfügung stehen bzw. der Angeklagte seine Rechte durch den Verteidiger (im Sinne der o.g. Filterfunktion) wahrnimmt. Umgekehrt kann sich auch die Frage stellen, wie eine Entziehung von Rechten des Verteidigers zu bewerten ist: Auch hier ist zwar zu beachten, daß dem Angeklagten die meisten (und insbesondere alle hier interessierenden) Befugnisse zustehen, so daß „die Verteidigung" als Einheit gedacht darüber nach wie vor verfügen kann. Zumindest in Fällen notwendiger Verteidigung stellt sich aber die Frage, ob die einen Verteidiger anordnenden Vorschriften nicht zeigen, daß eine angemessene Verteidigung nur unter Einbeziehung eines - mit allen in der StPO für den Verteidiger vorgesehenen Rechten ausgestatteten - Verteidigers möglich ist.
2. Das Strafverfahren als Forderung der Verfassung Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege
-
Wird der Zusammenhang zwischen Strafverfahrensrecht und Verfassungsrecht erörtert, steht meistens der soeben erwähnte Aspekt der den Strafverfolgungsorganen durch die Verfassung gesteckten Grenzen im Mittelpunkt. Dies ist grundsätzlich in einem Rechtsstaat verständlich, in dem die persönliche Freiheit des Bürgers so groß geschrieben wird wie unter der Geltung des Grundgesetzes. Außerdem sind in den letzten Jahren zumeist mögliche Ausweitungen der staatlichen Befugnisse Gegenstand der öffentlichen Diskus sion, 414 welche z.B. aufgrund des Anwachsens der Organisierten Kriminalität 415 oder zur effektiveren Gestaltung des Strafverfahrens für erforderlich gehalten werden und die in besonderem Maße auf ihre Verträglichkeit mit den verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien hin untersucht werden müssen. Andererseits darf aber auch nicht vernachlässigt werden, daß dem Strafrecht - wie oben bereits angedeutet416- wichtige gesellschaftliche und ebenfalls verfassungsrechtlich bedeutsame Aufgaben zukommen, die es ohne die Durchsetzung der
414
Genannt seien nur die Gesetzesänderungen bzw. die Diskussion im Zusammenhang mit dem großen und kleinen Lauschangriff, der Kronzeugenregelung, dem Einsatz Verdeckter Ermittler, Erweiterungen der Telefonüberwachung oder Einschränkungen der Beweisantragsrechte. Zur Kritik an solchen Verschärfungen des Strafverfahrensrechts unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten vgl. z.B. Bandisch, StV 1994, 153; Wächtler, StV 1994, 159; Welp, StV 1994, 161; Herzog, StV 1994, 166. 415 Krit. zur „einzigartigen Karriere des Begriffs der »Organisierten Kriminalität«, der rechtspolitische Postulate aller Art rechtfertigen und die Verteidiger rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze in den Status von Querulanten versetzen" könne, Welp, StV 1994, 161. 416 Vgl. o. 2. Teil Β I 2, S. 125.
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
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Strafandrohungen aus dem materiellen Strafrecht mit Hilfe des Strafverfahrensund des Strafvollstreckungsrechts nicht erfüllen könnte.417
a) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Dem entsprechend erkennt auch das Bundesverfassungsgericht die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als ein wichtiges Schutzgut an, das in der Abwägung der im Strafprozeß zu berücksichtigenden Interessen eine große Rolle spielen kann.418 Maßgeblich entwickelt wurde das Prinzip dabei in der Entscheidung im 33. Band zur Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 53 I Nr. 3 StPO auf Sozialarbeiter: 419 Jede Ausdehnung der strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte führe zu einer Einschränkung der Beweismöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden, durch welche die Wahrheit und damit auch die Gerechtigkeit nur in geringerem Maße erreicht werden könnten. Da aber gerade die Gerechtigkeit auch Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips sei, ergäben sich aus diesem Grenzen für Regelungen, mit denen die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege (und sei es auch zum Schutz der Grundrechte der Verfahrensbeteiligten) eingeschränkt würde. Dabei stellt das Bundesverfassungsgericht den Topos von der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" ausdrücklich in den Zusammenhang mit den „unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafrechtspflege" an einer „möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung" und der „Aufklärung schwerer Straftaten als wesentlichem Auftrag eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens".
b) Kritik am Topos der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege Da als ein Ziel des Strafprozeßrechts auch die Wahrung der Beteiligten-, insbesondere der Beschuldigtenrechte allgemein anerkannt ist, müßte die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege an sich auch den Schutz des Beschuldigten umfassen. Auffälligerweise wird der Topos jedoch fast nur erwähnt, wenn es um die (zumindest Prüfung hinsichtlich der) Einschränkung
417
Vgl. auch die besondere Betonung des Funktionstüchtigkeitsgesichtspunktes bei Malmendier , NJW 1997, 227, 228. 418 Vgl. zur Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege aus der Rechtsprechung des BVerfG E 33, 3367, 383; 46, 214, 222 f.; 53, 152, 160; 74, 257, 262. Interessant unter Mißbrauchsgesichtspunkten Rudolphi, ZRP 1976, 165, 168, nach dem es Anliegen eines jeden Rechtsstaats sein müsse, dafür Sorge zu tragen, daß Verteidigerrechte nicht gröblich mißbraucht werden; grundsätzlich zustimmend Thole, 23\ 419 BVerfGE 33, 367, 383.
168
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
von Beschuldigtenrechten geht. " Dies hat dazu geführt, daß in der Literatur z.T. erhebliche Kritik an der „restaurativen" oder „gegenreformatorischen" Argumentation mit dieser Figur geübt wurde. Diese richtet sich vor allem gegen ihre Herleitung aus dem Rechtsstaatsprinzip, die Unbestimmtheit des Begriffes und die damit angeblich verbundene scheinbare Harmonisierung antagonistischer Interessen.421 aa) Zum einen wird angeführt, das Rechtsstaatsprinzip diene dem Schutz des Bürgers vor der staatlichen Gewalt, nicht dagegen dem Schutz des Staates vor den Rechten der Bürger. Deshalb sei es widersprüchlich und geradezu eine „Pervertierung" des Rechtsstaatsprinzips, wenn aus diesem Grundsätze abgeleitet würden, die sich gegen den Beschuldigten im Strafprozeß wenden könnten. 422 Im Kern handelt es sich dabei um die gleichen Vorwürfe, die auch der Ableitung strafbewehrter staatlicher Schutzpflichten aus den Grundrechten im ersten Abtreibungsurteil gemacht wurden. bb) Des weiteren wird die Unbestimmtheit des Begriffs der „Funktionstüchtigkeit" gerügt, der eher „verschleiernd als erhellend" wirke. 423 Mit diesem ließen sich keine Beschränkungen strafprozessualer Garantien rechtfertigen, vielmehr bedürfe es hierzu konkreter Hinweise auf Belange des Opferschutzes oder der General- bzw. Spezialprävention. Insbesondere eröffne der Begriff eine weite Abwägungsmöglichkeit, innerhalb deren die Beschuldigtenrechte vielleicht nicht in der obergerichtlichen Rechtsprechung, wohl aber in der täglichen Strafverfolgungspraxis verloren zu gehen drohten. cc) Im Mittelpunkt der Kritik schließlich steht der Vorwurf, mit dem Begriff der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege werde - insbesondere durch den Rekurs auf Gerechtigkeit, Wahrheit und Rechtsstaatsprinzip - eine Harmonisierung verschiedener Prozeßziele vorgetäuscht, die in Wahrheit in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stünden.424 Durch ein solches - scheinbar umfassendes, in Wahrheit aber regelmäßig einseitig gegen den Beschuldigten gerichtetes - Prinzip müßten die Interessen des Beschuldigten zwangsläufig verdrängt werden.
420
Vgl. dazu m.w.N. und Beispielen Hassemer, StV 1982, 275; vgl. auch Weichert, Informationelle Selbstbestimmung und strafrechtliche Ermittlung, S. 39. 421 Vgl. außer den in Fn. 420 genannten vor allem Grünwald, JZ 1976, 767 ff. 422 Vgl. zu dieser Kritik v.a. Grünwald, JZ 1976, 767, 773; ihm folgend Weichert, Informationellen Selbstbestimmung und strafrechtliche Ermittlung, 39. 423 Vgl. Weichert, Informationelle Selbstbestimmung und strafrechtliche Ermittlung, 40 f. 424 Vgl. Hassemer, StV 1982, 275, 277; ihm folgend Weichert, Informationelle Selbstbestimmung und strafrechtliche Ermittlung, 29. Zum strukturellen Antagonismus des Strafverfahrens vgl. auch Schünemann, StV 1993, 607 ff. sowie Deckers, AnwBl 1991,316,318.
Β. Verfassungsrechtliche Beurteilung
169
Insbesondere Hassemer425 betont außerdem, daß ein Inbeziehungsetzen von Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege und Rechten des Beschuldigten auch methodisch verfehlt sei. Die Freiheitsrechte des Betroffenen seien nämlich als „zentrale Werte des Strafverfahrensrechts (...) kein Zugeständnis an »liberale Strömungen«, sondern ein Verfahrensziel", während die Funktionstüchtigkeit des Verfahrens nur eine Bedingung zur Erreichung von Verfahrenszielen sei. Die Sicherung von „Verwirklichungsbedingungen" sei aber jedenfalls von untergeordneter Qualität zur Zielverwirklichung, so daß beide Elemente gar nicht auf einer Ebene miteinander abgewogen werden könnten.
c) Eigene Stellungnahme Die Kritik der Literatur an der Rechtsprechung zur Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ist in verschiedener Hinsicht ihrem Ansatz nach nachvollziehbar, ohne damit freilich im Ergebnis wirklich durchzuschlagen: Dies zeigt sich schon in dem (der Sache nach durchaus zutreffenden) ganz grundsätzlichen Vorwurf, daß der Topos der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zumeist gegen die Rechtspositionen des Beschuldigten herangezogen wird. Es ist nämlich zu beachten, daß im Rahmen der Abwägungen die Rechte des Beschuldigten oft direkt oder unter einer anderen Bezeichnung (z.B. im Rahmen der grundrechtlichen Schranken für Zwangsmaßnahmen) genannt werden, während für die vielen übrigen zu berücksichtigenden Ziele 426 gewissermaßen verkürzt der Begriff der „Funktionstüchtigkeit" gewählt wird. Mit der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" wurde also nicht tatsächlich ein neues, den Beschuldigtenrechten entgegengesetztes Abwägungskriterium geschaffen, 427 sondern allenfalls ein schlagkräftiger Name für die Gesamtheit der Belange, die nicht bereits unter einer anderen Bezeichnung Einzug in die Abwägung finden. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch bei den weiteren oben genannten Kritikpunkten: aa) Wenn in der Ableitung des Funktionstüchtigkeitsgrundsatzes eine „Pervertierung des Rechtsstaatsprinzips" gesehen wird, ist zunächst zu bemerken, daß Art. 20 I I I GG, der eine Bindung an Gesetz und Recht vorschreibt, eine solche Konkretisierung nach seinem Wortsinn durchaus zuläßt: unter die 425
Vgl. StV 1982, 275, 278 f. Zu diesen Zielen des Strafverfahrens (Verwirklichung des materiellen Strafrechts, Findung eines gerechten Urteils, Erforschung der Wahrheit) vgl. u. 2. Teil C III 2, S. 203 ff. Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege selbst ist natürlich kein Ziel des Strafverfahrens, aber eine Grundvoraussetzung dafür, daß seine Ziele erreicht werden können. 427 Vgl. exemplarisch nur BGHSt 38, 214, 220, wo die Abwägung zwischen Beschuldigtenrechten und Funktionstüchtigkeit gerade dazu führte, daß unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung ein Verwertungsverbot bei Verstößen gegen die Belehrungspflicht des § 1361 2 StPO bejaht wurde. 426
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Bindung an Recht und Gesetz läßt sich durchaus auch die Durchsetzung der Gesetze einbeziehen, welche ihrerseits zweifelsohne eine funktionstüchtige (Straf-) Rechtspflege voraussetzt. Zwar ist dieser Kritik zuzugestehen, daß das traditionelle Rechtsstaatsverständnis in Deutschland vor allem die Zügelung staatlicher Gewalt vor Augen hat. Allerdings wird auch diese Zügelung in erster Linie in einer Bindung an die „Herrschaft der Gesetze" gesehen, d.h. zentrales Anliegen ist (zumindest auch) die soeben bereits erwähnte Durchsetzung von Recht und Gesetz. Wenn sich aber in vereinzelten Konstellationen diese „Herrschaft des Gesetzes" nicht in einer Einschränkung staatlicher, sondern auch privater Interessen ausprägt, muß darin nicht unbedingt ein Rückfall in ein „vordemokratisches Staatsverständnis" zu sehen sein.428 Vielmehr könnte darin auch ein Hinweis darauf liegen, daß (ganz sicher nicht allgemein, aber eben in bestimmten Fällen) die Kräfteverteilung in der Strafrechtspflege nicht zugunsten des Staates, sondern des Beschuldigten in einer Weise verschoben ist (bzw. bei Anerkennung bestimmter Rechte verschoben würde), daß - insbesondere beim einseitigen Ausreizen von Einzelbestimmungen429 - der Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen kein angemessener mehr ist (bzw. wäre). Des weiteren ist selbst bei den Kritikern des Funktionstüchtigkeitstopos' grundsätzlich unbestritten, daß (schon aus Gründen des sonst drohenden Selbstwiderspruchs) eine effektive Verfolgung von pönalisierten Verhaltensformen stattfinden muß. Diese Pflicht des Staates läßt sich überdies auch als Pendant zum staatlichen Gewaltmonopol begründen, wie es zur Begründung des Legalitätsprinzips verbreitet anerkannt ist.430 Ob man die zur Erfüllung dieser - im Prinzip unstreitigen - Pflichten erforderliche Gesichtspunkte aus dem geläufigen Begriff des Rechtsstaatsprinzips oder aus einer sonstigen allgemeinen denknotwendigen Pflicht des modernen Staates ableitet, ist dann letztlich in erster Linie eine begriffliche Frage.431 bb) Soweit die Unbestimmtheit des Schlagworts der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" gerügt wird, ist zuzugestehen, daß sich in der Tat daraus alleine wohl kaum zwingende Entscheidungsvorgaben ableiten lassen. Indes ist dies ein Vorwurf, der nicht nur den Funktionstüchtigkeitsgrundsatz trifft, sondern alle allgemeinen Prinzipien mit ihren Unterprinzipien, wie das Rechts-
428 So aber wohl Weichert, Informationelle Selbstbestimmung und strafrechtliche Ermittlung, 39 f. 429 Vgl. auch Schlächter, in: Wolter (Hg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, 205, 231. 430 Vgl. nur Krey, Strafverfahrensrecht II, 1990, Rn. 197 (dort auch mit Nachweisen zu weiteren Begründungssträngen für das Legalitätsprinzip). 431 Einen Unterschied in der Sache macht die normative Anbindung an Art. 20 III GG freilich insoweit, als dadurch eine positiv-verfassungsrechtliche Verankerung gefunden wird; aus den oben im Text genannten Gründen wird man dieser Anbindung am Rechtsstaatsgedanken aber sicher nicht den Vorwurf des „Etikettenschwindels" machen können.
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staatsprinzip, die Gerechtigkeit oder die Menschenwürde. Außerdem ist zu beachten, daß auch in der Rechtsprechung die Berufung auf die Funktionstüchtigkeit alleine nicht immer zum Verlust der Beschuldigtenrechte führt, sondern daß vielmehr nur eine Abwägung mit diesen eröffnet wird. Teilweise wird ganz allgemein für das Rechtsstaatsprinzip vertreten, daß angesichts seiner Weite - die auch (wenngleich eingeschränkt) seine Unterprinzipien prägt - konkrete Aussagen nicht möglich seien, so daß für die verfassungsrechtliche Argumentation nur auf seine speziellen Ausprägungen (also z.B. den Grundrechtsschutz, die Rechtsschutzgarantie in Art. 1 9 I V G G , die Gesetzesbindung der Gerichte usw.) zurückgegriffen werden könne.432 Überzeugend an diesem Gedanken ist die Tatsache, daß damit eine normtextnähere Rechtsfindung in den Vordergrund gerät, was angesichts des Gesetzesbindungspostulats auch aus methodischem Blickwinkel vorzugswürdig erscheint. Allerdings kann nicht übersehen werden, daß gerade im Verfassungsrecht mit seinen sehr kurzen, schlagwortartigen Prinzipien mehr noch als bei detaillierteren einfachgesetzlichen Vorschriften eine wertende Ausfüllung der zentralen Begriffe erfolgen muß, daß dies aber andererseits auch weniger problematisch ist, da es sich häufig nur um den Rahmen handelt, innerhalb dessen dann eine genauere Regelung erfolgen kann. M.a.W.: In vielen Fällen muß mangels spezieller Regel in der Verfassung auf ein allgemeines Prinzip zurückgegriffen werden, anhand dessen allerdings auch nur festgestellt werden kann, innerhalb welcher Grenzen sich eine spezielle Regelung bewegen kann, nicht dagegen, wie sie genau aussehen muß. In den vorliegenden Zusammenhang ist auch die Ansicht einzuordnen, in den speziellen Ausformungen im GG (aber auch in den spezifischen Regelungen des einfachen Gesetzesrechts) habe sich bereits das Abwägungsergebnis des Verfassungs- bzw. des Gesetzgebers hinsichtlich des Widerstreits verschiedener Interessen niedergeschlagen.433 Daher sei die Modifikation einer solchen festgeschriebenen Norm auf Grund eines allgemeinen Prinzips eine vom Gesetzgeber nicht gewünschte stärkere Betonung des jeweiligen Prinzips, zu dessen Gunsten die Modifikation stattfindet. Mit Blick auf die o.g. Forderung nach Normtextnähe ist auch dieser Standpunkt grundsätzlich verständlich, doch darf nicht übersehen werden, daß dies dann ebenso für den umgekehrten Fall gelten müßte: Über den Wortlaut von Verfassungs- oder Gesetzesnormen hinaus dürften auch keine zusätzlichen Beschuldigtenrechte, also z.B. keine sogenannten selbständigen (= verfassungsunmittelbaren) Beweisverwertungsverböte gewährt werden. Solange dies (zu Recht) aber kaum emstlich diskutiert wird, erscheint wenig einsichtig, weshalb allgemeine verfassungsrechtliche Prinzipien nicht einmal im Rahmen einer Güterabwägung auch zu Lasten des Beschuldigten wirken können sollten. cc) Was schließlich den Haupteinwand der scheinbaren Harmonisierung tatsächlich antagonistischer Interessen zu Lasten des Beschuldigten angeht, ist
432 433
Vgl. insb. Küttig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, 246 ff., 256. Vgl. a.a.O. (Fn. 432).
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
auch hier der Kritik ein richtiger Kern zuzugestehen: Rein begrifflich scheint tatsächlich die geäußerte Gefahr zu bestehen, daß das Schlagwort der Funktionstüchtigkeit zur jeweils ausschlaggebenden Wertung aufgebläht und dabei stets zu Lasten des Beschuldigten eingesetzt wird. Andererseits erscheint diese Befürchtung (bisher) zumindest insoweit unbegründet, als die Rechtsprechung die Funktionstüchtigkeit bislang gerade nur als eines von mehreren antagonistischen Prinzipien betrachtet hat, dem andere Interessen gerade gegenüber zu stellen sind. Daß innerhalb des Funktionstüchtigkeitstopos' Beschuldigteninteressen nur scheinbar zu wenig berücksichtigt werden, läßt sich leicht erklären: Wie unten noch näher auszuführen sein wird, 434 muß es zunächst Hauptanliegen der staatlichen Strafverfolgungsbehörden sein, die Wahrheit zu ermitteln und ein gerechtes Urteil zu treffen. Soweit dies auch das Anliegen des Beschuldigten ist, werden sich naturgemäß i.d.R. weit geringere Differenzen zu staatlichen Funktionstüchtigkeitsinteressen ergeben, so daß die allermeisten Fälle, in denen die Funktionstüchtigkeit auch im Interesse des Beschuldigten liegt, zu keinen Konflikten führen. Die Konflikte treten dagegen vor allem dann auf, wenn der Beschuldigten gerade kein Interesse an einem wahren und damit gerechten Urteil hat. Diese einseitige Interessenlage des Beschuldigten ist zwar durchaus nachvollziehbar, durch den nemo-tenetur-Grundsatz anerkannt und durch seine gesetzlichen Ausprägungen normativ abgesichert. Nur kann es nicht verwundern, wenn in diesen, konfliktgeladeneren Fällen die Interessen der Strafverfolgungsbehörden denen des Beschuldigten diametral entgegenstehen. Zwar wäre es rechtsstaatlich untragbar, aus diesem Grund die Beschuldigtenrechte unter einen „Funktionsvorbehalt" in dem Sinne zu stellen, daß sie stets zurücktreten müssen, wenn sie die Strafverfolgung beeinträchtigen.435 Vielmehr ist gerade wichtig, daß die Ziele des Prozesses nicht einseitig definiert werden.436 Allerdings steht dem die richtig verstandene Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege nicht entgegen, wenn sie nur eines der Ziele darstellt, die miteinander in Ausgleich zu bringen sind, ohne daß ein Ziel (hier der Beschuldigtenschutz) „wegharmonisiert" würde.437 Schließlich ist auch die oben dargestellte Kritik Hassemers wenig überzeugend, Beschuldigtenrechte und Funktionstüchtigkeit dürften nicht miteinander abgewogen werden, da letztere von gleichsam nur mittelbarer, nachgeordneter Bedeutung sei: Wie unten noch näher darzulegen sein wird, 438 liegen die Ziele des Strafprozesses als Institution in der Durchsetzung des materiellen Strafrechts zu einem gerechten Urteil, wofür eine bestmögliche Ermittlung der Wahrheit erforderlich ist. Da insbesondere beim Versuch der Sachverhaltsaufklärung vielfältig in der Rechte der Betroffenen eingegriffen wird, ist es Aufgabe des Strafverfahrensrechts (und damit auch des Strafverfahrens im weite434
Zu den Zielen des Strafverfahrens vgl. u. 2. Teil C III 2, S. 203 ff. So wohl auch Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, 1980, 174; Scheffler, GA 1996, 44, 45. 436 Vgl. dazu auch unten 2. Teil C III 3 c, S. 227 ff. 437 Gegen eine einseitige Definition des Prozeßziels auch Schlüchter, in: Wolter (Hg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, 205, 214. 438 Vgl. unten 2. Teil C III 2 d, S. 220 f. 435
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ren Sinne), Grenzen für die rechtsbeeinträchtigenden Strafverfolgungsmaßnahmen zu setzen, indem deren Belange mit den Rechten der Betroffenen in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden. Da aber die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gerade dem Erreichen der Ziele des Strafprozesses als Institution dient, ist die Abwägung zwischen „der Funktionstüchtigkeit" bzw. Interessen, die der Funktionstüchtigkeit vermeintlich dienen, und den Beschuldigtenrechten geradezu vorgezeichnet. Sind doch die Beschuldigtenrechte auch ihrerseits gerade der Grund dafür, daß die Funktionstüchtigkeit eingeschränkt werden muß.
d) Zur Abwägungserheblichkeit des Funktionstüchtigkeitstopos in Einzelfällen In einem kritischen Beitrag zum Topos der Funktionstüchtigkeit stellt Hassemer fest, ihm sei „keine Strafrechtsordnung bekannt, die daran zerbrochen wäre, daß sie funktionsuntüchtig wurde gegenüber der alltäglichen Kriminalität", während es sehr wohl Gesellschaften gebe und gegeben habe, „die dem Interesse an effizienter Verbrechensbekämpfung ihren Formalisierungsauftrag geopfert haben". Jedenfalls zeichne sich „gesetzliches Strafunrecht (...) nicht durch ein Zuwenig, (...sondern) durch ein Zuviel an Effektivität" aus.439 Diese zutreffende Feststellung zeigt zweifelsohne die Gefahr, die darin liegt, den Funktionstüchtigkeitsgrundsatz überzubewerten bzw. seinen Vorrang in der Güterabwägung als „Normalfall" zu betrachten, von dem Abweichungen nur in engen Grenzen möglich wären. Zu weit ginge aber der Schluß, daß man deshalb auf diesen Grundsatz überhaupt nicht abstellen darf, solange nicht das Überleben der Strafrechtspflege ernsthaft gefährdet ist. 440 Ebenso wie es viele verschiedene Rechte des Beschuldigten gibt, die zu beachten sind, stärken auch verschiedene Instrumente die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege: Würde von diesen das eine oder andere in seiner Wirkung entscheidend geschwächt, müßte dies nicht stets zum Kollaps der Strafrechtspflege führen. Es ist aber nicht auszuschließen, daß die Beeinträchtigungen verschiedener Instrumentarien in ihrer Gesamtheit die Strafverfolgung deutlich beeinträchtigen. Außerdem ist nicht nur auf die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege in ihrer Gesamtheit, sondern auch in jedem einzelnen Prozeß abzustellen: Da in jedem einzelnen Verfahren die Ziele des Strafprozesses nach Möglichkeit verwirklicht werden sollen, sind auch Stö4,9
StV 1982, 275, 278; den Gedanken nimmt auch Weichen, Informationelle Selbstbestimmung und strafrechtliche Ermittlung, S. 40 auf. 440 Dieser Ansicht ist offenbar Weichert, Informationelle Selbstbestimmung und strafrechtliche Ermittlung, S. 40. Vgl. dazu auch Scheffler, GA 1996, 44, 45 (in einer Besprechung zu Lang, Der Verlust von Verfahrensrügen beim Angeklagten durch Rückgriff auf den Verwirkungsgedanken, 1994), der die Frage stellt, wie Verhaltensformen, die nur selten (beweisbar) auftreten die Effizienz und Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege (sc. im Ganzen) emsthaft tangieren könnten.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
rungen in einzelnen Verfahren zu beachten;441 schließlich werden durch Maßnahmen in einem speziellen Prozeß auch „nur" die Rechte des in concreto betroffenen Beschuldigten beeinträchtigt, nicht die aller Beschuldigten schlechthin. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird eine Mißbrauchskontrolle auch nicht schon deshalb hinfällig, weil der Mißbrauch sowohl nach der allgemeinen praktischen Erfahrung als auch ausweislich statistischer Erhebungen442 praktisch kaum eine Rolle spielen soll. Gegen die Schlußfolgerung, daß die praktische Häufigkeit eines Handelns alleine einen sicheren Rückschluß auf dessen Bedeutung zulassen, sprechen im übrigen aber auch gerade die statistischen Erhebungen selbst: In eben diesen Untersuchungen ergab sich nämlich auch, daß z.B. nur in der geringeren Zahl von Verfahren überhaupt Beweisanträge in der Hauptverhandlung gestellt werden,443 obwohl die überragende Bedeutung des Beweisantragsrechts immer wieder betont wird und wohl auch unumstritten ist. Ein großer Teil der Bedeutung sowohl der Beteiligungsrechte als auch der Möglichkeit von Mißbrauchsreaktionen dürfte insoweit in ihren general-präventiven Wirkungen liegen. Im Rahmen der Abwägung muß natürlich bei der Gewichtung berücksichtigt werden, ob bestimmte Gegebenheiten regelmäßig für die Durchführung eines Verfahrens erfüllt sein müssen, oder ob sie sich nur in seltenen Ausnahmefällen auswirken können. Insbesondere erscheint es nicht unbedenklich, wegen einer verfahrensbeeinträchtigenden Wirkung in Einzelfällen Beschuldigtenrechte generell einzuschränken, wie es mit der weitgehenden Abschaffung des Beweisantragsrechts vor den Amtsgerichten de lege ferenda bereits diskutiert wurde. 444 Umgekehrt erscheint die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Mißbrauchssanktionen beim Beschuldigten unter diesem Blickwinkel relativ unbedenklich, da diese nur in Einzelfällen Beschuldigtenrechte beschneiden, in denen die Funktionstüchtigkeit im konkreten Verfahren oft gefährdet sein wird, 441
Anders offenbar Schejfler, G A 1996, 44, 45. Vgl. hierzu aus neuerer Zeit Perron, Das Beweisantragsrecht des Beschuldigten im deutschen Strafprozeß, 1995, 281, insb. 308 ff. zu Beweisantragsverhalten in der Hauptverhandlung; ders. y ZStW 108 (1996), 128, 139 ff., v.a. 142. Allgemein zur Praxis des Beweisantragsrecht auch Barton, StV 1984, 394 ff. Eine umfangreiche empirische Erhebung speziell zum Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht hat Römbke, Der Ablehnungsgrund wegen Prozeßverschleppung gem. § 244 Abs. 3 Satz 2 6. Fall StPO, durchgeführt, der diesem im Ergebnis nur eine marginale Bedeutung zuweist. 443 Die Zahlen bewegen sich zwischen 14 und (allerdings vom Untersuchenden selbst als zu hoch angezweifelten) 50%. Vgl. Barton, StV 1984, 394, 395 f.; Perron, ZStW 108 (1996), 128, 140 f.; Vogtherr, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Strafverteidigung, 1991, 344 ff. Daß diese Zahlen immer noch deutlich höher liegen als die des vermeintlichen Mißbrauchs, steht einer Argumentation mit den gleichermaßen überraschend niedrigen Zahlen nicht entgegen, da ja das Bestehen des Beweisantragsrechts der gesetzliche Regelfall ist und Mißbrauchsreaktionen nur in extremen Einzelfällen stattfinden sollen. 444 Vgl. zu verschiedenen Reformideen zur Mißbrauchsbekämpfung unten 4. Teil II, S. 344 ff. 442
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während der mißbräuchlich Handelnde auch weniger schutzwürdig ist. Man könnte sogar sagen: um die Funktionstüchtigkeit nicht gegenüber den Beschuldigtenrechten generell (und damit unangemessen) überzubewerten, spricht mehr für Lösungen mit Hilfe von Mißbrauchsreaktionen in konkreten Einzelfällen als für allgemein geltende Einschränkungen der Beschuldigtenrechte (i.S.d. im 1. Teil genannten „Vorfeldtatbestände" zur Mißbrauchsprävention 445).
IV. Zusammenfassung und weiterführende Fragen Zusammenfassend läßt sich also die Frage nach der verfassungsrechtlichen Beurteilung eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots folgendermaßen beantworten: Die (im weitesten Sinn verstandene) Einschränkung von Verfahrensrechten als Mißbrauchsreaktion greift in Rechtspositionen ein, die grundrechtlich überwiegend durch Art. 103 I GG (Anspruch auf rechtliches Gehör) sowie Art. 2 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Recht auf ein faires Verfahren) geschützt sind. Allerdings kann eine Mißbrauchskontrolle die ebenfalls verfassungsrechtliche geschützte Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege unterstützen. Damit sind sowohl formell- als auch materiell-verfassungsrechtliche Gesichtspunkte angesprochen, die für die drei Grundfragen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots zu folgenden, die allgemeine Methodenlehre teils bestätigenden, teils modifizierenden Ergebnissen führen:
7. Legitimation und Grenzen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots Nach der allgemeinen Methodenlehre wurde ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot als eigenständige Metapher für zwar begründungsbedürftig, aber im Ergebnis unproblematisch möglich gehalten worden. Dabei spielte es keine entscheidende Rolle, welches Modell der Rechtsfindung zugrunde gelegt wurde, da die insofern trennschärferen Kriterien des Rechtserzeugungsmodells auch allgemein übertragbar erschienen. In der verfassungsrechtlichen Betrachtung erweist sich die Frage nach Zulässigkeit und Legitimation eines allgemeinen Mißbrauchsverbots erheblich schwieriger. Zwar ist durch ein solches nicht der Anwendungsbereich des strengen strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts nach § 103 I I GG, wohl aber der des allgemeinen Gesetzes Vorbehalts betroffen. Mit diesem wäre nach traditionellem Verständnis ein allgemeines ungeschriebenes Mißbrauchsverbot im Strafprozeßrecht nur schwer zu vereinbaren. Allerdings kann man das Mißbrauchsverbot auch verfassungsrechtlich überzeugend begründen, wenn man 445
Vgl. ο. 1. Teil II 2c, S. 34.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
das in der neueren Methodendiskussion z.T. vertretene Verständnis der Rechtsfindung als (normgeleitete) Rechtserzeugung teilt.
2. Voraussetzungen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots Als wichtigste Voraussetzung des Mißbrauchsverbots erwies sich in der methodischen Betrachtung der Gesichtspunkt der Zweckwidrigkeit. Diese wurde u.a. mit einer Dysfunktionalität der Ausübung einer einzelnen Befugnis im Verhältnis zum Zweck des gesamten Verfahrens(rechts) begründet; dabei wurde aber auch auf die Probleme hingewiesen, die sich insofern aus gesetzlichen Zielkonflikten ergeben. Die verfassungsrechtliche Betrachtung hilft, diese konfligierenden Ziele näher herauszuarbeiten. Auf der einen Seite steht der Grundrechtsschutz: Er führt dazu, daß die Grenzen eines Mißbrauchsverbots zumindest teilweise davon abhängig sind, wie wichtig eine Befugnis für eine Verteidigung ist. Außerdem spricht er zusammen mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dafür, als zusätzliches Korrektiv in jedem Fall ein subjektives Mißbrauchselement zu fordern und völlig unerhebliche Beeinträchtigungen des Verfahrens gar nicht mit einer Mißbrauchsreaktion zu ahnden. Auf der anderen steht die Stärkung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege: Dem Strafrecht kommen - ungeachtet der Grenzen einer punitiven Sozialkontrolle im einzelnen - wichtige Aufgaben beim Schutz sowohl von Individualrechtsgütern als auch von Belangen der Gemeinschaft (inklusive der Bewährung der Rechtsordnung) zu. Wenn nun diese Funktionstüchtigkeit - nicht nur insgesamt betrachtet, sondern auch in einzelnen Prozessen - durch den zweckwidrigen Einsatz von Verfahrensbefugnissen beeinträchtigt wird, ohne daß dies zum Schutz der Interessen erfolgt, die durch die Befugnisse an sich geschützt werden sollen, ist es auch mit Blick auf das Verfassungsrecht wünschenswert, wenn dieser Mißbrauch eingedämmt wird.
3. Rechtsfolgen eines allgemeinen Mißbrauchsverbots Aus der allgemeinen Methodenlehre ließen sich (zwar durchaus weiter fortentwickelbare, aber zunächst) nur sehr unbestimmte Aussagen über die Rechtsfolgen eines festgestellten Mißbrauchs machen: Kann ein solcher bejaht werden, so darf eine von der gesetzlichen Regelanordnung abweichende Rechtsfolge getroffen werden, die eine Verwirklichung der zweckwidrigen Absicht verhindert. Im Verfassungsrecht liegt hier der Schwerpunkt auf dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, nach dem Grundsätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit jeder Grundrechtsbeeinträchtigung ebenso berücksichtigt werden
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
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müssen, wie es bei einer gesetzlichen Regelung oder bei der Anwendung einer Mißbrauchsgeneralklausel (als Einbruchsstelle grundrechtlicher Wertungen) der Fall wäre. Dies hat zum einen Bedeutung für die Auswahl zwischen mehreren Mißbrauchsreaktionen, da jeweils zu prüfen ist, ob nicht eine genauso effektive, aber weniger weit gehende Maßnahme möglich ist. Zum anderen ergeben sich - auch im Zusammenhang mit der Wesensgehaltsgarantie - auch absolute Grenzen für die Mißbrauchsreaktion: eine solche darf keinesfalls so gewählt werden, daß etwa der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) oder das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) vollständig ausgehöhlt würden; dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die gesetzlich vorgesehenen Verteidigungsbefugnisse keinesfalls den nicht zu unterschreitenden verfassungsrechtlichen Minimalstandard bilden.
4. Konkretisierung
der Ausgangshypothese
Die Ausgangshypothese des Mißbrauchs als zweckwidrigem Verhalten kann demnach auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Betrachtung weiter konkretisiert werden: Auch im Anwendungsbereich des Gesetzes Vorbehalts läßt sich - allerdings nur bei einer gewissen Lösung vom tradierten Bild der Rechtsfindung - ein allgemeines ungeschriebenes Mißbrauchsverbot begründen. Die Annahme eines Mißbrauchs darf jedoch nicht in offenen Widerspruch zum Gesetzeswortlaut treten. Dabei ist ein sanktionsbedürftiger und -fähiger strafprozessualer Mißbrauch dann anzunehmen, wenn ein Prozeßbeteiligter prozessuale Befugnisse nicht zu dem im Gesetz vorausgesetzten Zweck, insbesondere nicht zur Wahrung seiner durch die Strafverfolgung bedrohten Grundrechte nutzt, sondern in einer Weise zu verfahrensfremden Zwecken einsetzt, die zwangsläufige gesetzliche Unschärfen hinausgeht und dadurch den Ablauf des Strafverfahrens mehr als nur unwesentlich beeinträchtigt. Bei der Wahl der Mißbrauchsreaktion sind sowohl der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die verfassungsrechtliche Wesensgehaltsgarantie zu berücksichtigen.
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte In den beiden ersten Kapiteln dieses Teils zeigte sich, daß die wesentlichen Ausgangspunkte auch für die Problematik des Mißbrauchs im Strafprozeß in der allgemeinen Methodenlehre begründet liegen und daß es sich beim Mißbrauchsverbot um eine allgemeine Kategorie handelt, die grundsätzlich in allen Rechtsbereichen vorstellbar ist. Auch die Probleme hinsichtlich seiner Legitimation in einem Regelungssystem des geschriebenen Rechts, seines Inhalts und seiner Rechtsfolgen wurden bereits grundsätzlich deutlich. Andererseits zeigte die verfassungsrechtliche Untersuchung, daß die Kategorien der allgemeinen Methodenlehre für die Stellung des Bürgers im öffentlichen Recht gewisser 12 Kudlich
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Modifikationen bedürfen. Die wesentlichen Fragen an ein ungeschriebenes Mißbrauchsverbot nimmt eine verfassungsrechtliche Untersuchung dabei insbesondere hinsichtlich seiner Legitimation (in Form der Vorbehaltsdiskussion), daneben aber auch in engen Grenzen hinsichtlich seines Inhalts (in Form der verfassungsrechtlichen Zielvorgaben) und seiner Folgen (in Form des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) auf und führt sie fort. Eine noch genauere Beschreibung des allgemeinen Mißbrauchsverbots im Strafprozeß, die auch die Ergebnisse der vorhandenen strafprozessualen Literatur angemessen einbeziehen und eine taugliche Grundlage zur Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung liefern kann, setzt nun voraus, daß abschließend auch spezifische strafprozessuale Gesichtspunkte noch berücksichtigt werden. Dadurch können die bisherigen Ergebnisse gefestigt und - wo erforderlich noch modifiziert werden; außerdem steht zu erwarten, daß für einzelne Fragen, zu denen die allgemeinen Überlegungen kaum Antworten beisteuern konnten, durch einen Blick auf strafprozessuale Spezifika noch neue Lösungsgesichtspunkte beigetragen werden können. Der erste Abschnitt dieses Kapitels bringt einer Begründung dafür, warum keine über die allgemeine Methodenlehre hinausgehenden Ergebnisse (etwa einzelne Fallgruppen) der Mißbrauchsdiskussion aus anderen Rechtsgebieten (insbesondere dem Zivilrecht) vorbehaltlos ins Strafprozeßrecht übernommen werden können und daher die spezifisch strafprozessuale Betrachtung um so wichtiger ist (sogleich I). Den Schwerpunkt des Kapitels bildet dann die Untersuchung spezieller strafprozessualer Gesichtspunkte, die für alle drei zentralen Fragestellungen an ein Mißbrauchsverbot von Interesse sind (im Anschluß IIIV): die bisherige Legitimation eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots muß den Vorgaben der (straf-) prozessualen Formstrenge genügen, die Zweckwidrigkeit von Verhaltensformen (als Inhalt des Mißbrauchsverbotes) ist an den Zielen des Strafprozesses zu messen und die Frage nach den Rechtsfolgen des Mißbrauchs könnte zumindest teilweise unter Beachtung der strafprozessualen Wertkategorien zu beantworten sein. Abschließend werden noch einige (z.T. eher „technische") Fragen angesprochen, die mit dem Fällen, dem Ausspruch und der Begründung des Mißbrauchsurteils im Rahmen der strafprozessualen Verfahrensstruktur zusammenhängen (zuletzt V).
I. Prolegomena: Zum Erfordernis einer spezifischen strafprozessualen Betrachtung Insbesondere im Zivilrecht, z.T. aber auch im öffentlichen Recht ist der Rechtsmißbrauch bereits viel länger und intensiver Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung und hat auch ungleich größere praktische Bedeutung. Gleichwohl können die dort gefundenen Ergebnisse überwiegend für das Straf-
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
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prozeßrecht nicht unmittelbar fruchtbar gemacht werden, da sie (selten) nicht in ausreichender Form begründet werden oder aber (häufiger) die Begründungen nicht übertragbar sind. Dies soll im folgenden für die drei zentralen Fragen der grundsätzlichen Legitimierung eines allgemeinen Mißbrauchsverbots, seiner Voraussetzungen sowie seiner Rechtsfolgen sowohl für das Zivil- als auch für das öffentliche Recht kurz dargelegt werden:
7. Zur Legitimation eines allgemeinen Mißbrauchsverbots a) Soweit im Zivilrecht Rechtsfindung unter Berufung auf die Figur des Rechtsmißbrauchs bzw. der unzulässigen Rechtsausübung446 erfolgt, 447 findet sich regelmäßig keine über die hier bereits aufgezeigten Begründungen der allgemeinen Methodenlehre hinausgehende Auseinandersetzung mit ihrer grundsätzlichen Zulässigkeit. Dies dürfte mehrere Gründe haben: zum einen sind viele Methodenlehren mehr oder weniger zivilistisch geprägt, 448 zum anderen spielt die besonders problematische verfasssungsrechtliche Vorbehaltsdiskussion im Zivilrecht eine absolut untergeordnete Rolle. Vor allem aber enthält das BGB mit § 242 eine Art allgemeiner Mißbrauchsklausel, die das gesamte Zivilrecht beherrscht. Zwar ist die Anknüpfung der von Rechtsprechung und Literatur gefunden Fallgruppen an § 242 BGB mehr oder weniger scheinpositivistisch,449 da sie weit über das hinausgehen, was man durch (klassisch verstandene) Auslegung und Gesetzeskonkretisierung aus der gesetzlichen Regelung ableiten könnte.450 Gleichwohl führt die Vorschrift dazu, daß sich die Zivilrechtswissenschaft (zwar durchaus mit dem konkreten Inhalt des Grundsatzes 446 Vielfach werden die Begriffe des Rechtsmißbrauchs und der unzulässigen Rechtsausübung synonym verwendet. MüKo-/tof/i, § 242 Rn. 255 sieht begrifflich im Rechtsmißbrauch den Tatbestand und in der unzulässigen (bzw. der Unzulässigkeit der) Rechtsausübung die Rechtsfolge. 447 Vgl. hierzu etwa die (weitgehenden ähnlichen, in Einzelfragen freilich voneinander abweichenden) Kommentierungen von Paiandt-Heinrichs, § 242 Rn. 38 ff. sowie MüKo-Roth, § 242 Rn. 255 ff.; ähnlich auch noch Staudinger-Weber (11. Auflage), mit einer neuen Systematisierung allerdings Staudinger-7. Schmidt 13. Auflage. Ein kurzer Überblick findet sich z.B. bei Hohmann, JA 1982, 112 ff., Mader, S. 100 ff., sowie zum Teilaspekt des „venire contra factum proprium" bei Teichmann, JA 1985,497 ff. 448 So sind die Verfasser der in Deutschland wohl verbreitetsten Methodenlehren von Larenz bzw. Larenz/Canaris ebenso Zivilrechtslehrer wie z.B. Fikentscher oder Esser. 449 So der Sache nach auch Staudinger-7. Schmidt, § 242 Rn. 182 ff. 450 Ähnlich Larenz/Canaris Kapitel 5 Abschnitt 4c (S. 241); Mader, S. 77. Vgl. aber etwa auch Keller, Die zweckwidrige Verwendung von Rechtsinstituten des Familienrechts, S. 16, wonach im Zivilrecht ein Unterschied zwischen dem normergänzenden Grundsatz von Treu und Glauben und dem normberichtigenden Mißbrauchsprinzip gemacht werden könne; gleichwohl ist zumindest im deutschen Zivilrecht eine umfassende Berufung auf § 242 BGB gerade dann erkennbar, wenn der scheinbar eindeutige Gesetzes Wortlaut überspielt werden soll.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
von Treu und Glauben, jedoch) weniger mit der grundsätzlichen Zulässigkeit eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots beschäftigt. Etwas anders ist die Situation im Zivilprozeßrecht, wo eine § 242 BGB entsprechende Vorschrift fehlt. Hier hat vor allem Zeiss mit seiner 1967 erschienenen Monographie über „Die arglistige Prozeßpartei" grundlegend auch zur Legitimation eines allgemeinen Mißbrauchsverbots Stellung genommen, das èr mit der oben bereits angesprochenen Figur des institutionellen Mißbrauchs begründet und dabei das tradierte Bild der „normgewordenen Wertordnung" heranzieht. Der Frage nach einer Übertragung der Gedanken von Zeiss auf den Strafprozeß ist Weber in seiner (bis heute grundlegenden) Arbeit über den Mißbrauch im Strafverfahren nachgegangen;451 die dort erzielten Ergebnisse finden auch hier an den jeweils einschlägigen Stellen Beachtung, so daß sich eine nähere eigene Auseinandersetzung mit den Gedanken von Zeiss erübrigt. b) Im öffentlichen Recht finden sich zum einen in verschiedenen Bereichen spezielle Mißbrauchstatbestände, die auf dem Gedanken der Zweckwidrigkeit beruhen (so etwa § 42 AO 4 5 2 , § 44a BHO a.F.453 oder die neue Vorschrift des § 49a VwVfG), aber als Fälle einer geschriebenen Mißbrauchsabwehr für die Frage nach der Zulässigkeit eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots naturgemäß wenig ergiebig sind. Zum anderen ist zwar im öffentlichen Recht als Fallgruppe eines ungeschriebenen Rechtsverlusts die verwaltungsrechtliche Verwirkung zu beachten. Jedoch wird zu dieser in der einschlägigen verwaltungsrechtlichen Literatur gerade die Frage ihrer grundsätzlichen Legitimität unter dem speziellen öffentlich-rechtlichen Gesichtspunkt des Gesetzesvorbehalts kaum explizit erwähnt. 454 Soweit in der älteren Literatur hierzu Stellung genommen und behauptet wird, die Frage nach dem Gesetzesvorbehalt überschätze dessen Bedeutung gegenüber der freien Willensmacht des Bürgers, der es ja gar nicht zu einer Verwirkung kommen lassen müsse,455 wird damit das Problem nicht wirklich erfaßt: In vielen Fällen wird ein bestimmtes vermeidba451
Vgl. Weber, GA 1975, 289 ff. Vgl. beispielsweise die Kommentierungen bei Klein/Orlopp-Brocksmeyer. Abgabenordnung, 1995 § 42 AO Anm. 4a, wonach ein Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten vor allem dann angenommen wird, wenn das Vorgehen zum Erreichen des angestrebten Ziels unangemessen ist (was seinerseits nahelegt, daß wohl ein anderes, gesetzesfremdes Ziel in Form der ausschließlichen Steuervermeidung verfolgt wird), sowie Tipke/Kruse-Kruse, AO und FGO, 1996 (mit interessanten Ausführungen zur Rechtsnatur des § 42 AO in Rn. 6 ff.); interessant zum Zusammenhang zwischen dem „ M i ß b r a u c h von Gestaltungsmöglichkeiten" und der Gesetzesumgehung noch zur alten (§ 42 AO entsprechenden) Vorschrift des § 6 II StAnpG Riedel, Die Steuerumgehung, 1968. 453 Danach war der Zuwendungsbescheid zurückzunehmen und die Zuwendung zu erstatten, wenn „Zuwendungen entgegen dem im Zuwendungsbescheid bestimmten Zweck verwendet werden" (Hervorhebungen durch den Verfasser - H.K.). 454 Keine Beachtung findet der Vorbehalt des Gesetzes beim Stichwort der Verwirkung z.B. im Kommentar von Redeker/von Oerzen und den Lehrbüchern zum Verwaltungsprozeßrecht von Hufen, Schenke, Schmitt Glaeser sowie Vie. 455 So Stich, DVB1 1956, 325, 328. 452
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res Verhalten des Bürgers Anlaß einer belastenden staatlichen Maßnahme sein, ohne daß dies den Vorbehalt des Gesetzes berührt; daher können die Vermeidbarkeit oder die eigenverantwortliche Willensbetätigung des Betroffenen keine überzeugenden Lösungsgesichtspunkte zu dieser Frage sein.456 Die in die allgemeine Problematik schwer einzuordnende Frage des Mißbrauchs und der Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG4" ist ihrerseits zu speziell, um sinnvoll auf die Problematik im Strafprozeß übertragen zu werden, während umgekehrt der stark zivilrechtlich orientierte Anwendungsbereich des Mißbrauchsgedanken bei verwaltungsrechtlichen Verträgen45* nicht verspricht, wesentlich über das Zivilrecht hinausgehende Erkenntnisse zu liefern, nicht behandelt. Schließlich wird auch auf den Mißbrauch durch den Staat459 nicht näher eingegangen, da diesem - wie oben bereits erwähnt - anderen Wertungen zugrunde liegen und für seine rechtliche Behandlung Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die beim Mißbrauch durch den Bürger so kaum weiterhelfen.
2. Zu den Voraussetzungen eines Mißbrauchsverbots a) Auch im Zivilrecht ist in vielen anerkannten Fallgruppen (zumindest auch) der Gedanke der Zweckwidrigkeit Bedeutung; da dieses Kriterium auch für den Strafprozeß maßgeblich ist, dort aber mit eigenen Wertungen aufgefüllt werden kann (vgl. dazu unten III), ist eine nähere Auseinandersetzung mit dem Zivilrecht insoweit nicht erforderlich. Darüber hinaus spielt aber im Zivilrecht in vielen Mißbrauchskonstellationen der Gedanke von Treu und Glauben im vertraglichen Gegenseitigkeitsverhältnis eine maßgebliche Rolle. Auch über diese Fälle hinaus ist zu beachten, daß letztlich § 242 BGB in seiner Gesamtheit auf dem Vorliegen einer schuldrechtlichen Sonderverbindung aufbaut, welche deshalb auch allgemein als eine (selbstverständliche) Tatbestandsvor-
456 Ähnlich für das Strafprozeßrecht Schlüchter, in Geppert/Dehnicke (Hg.), Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, 445, 448 f., die zutreffend auf den Unterschied zwischen demfinal wirkenden Institut des Verzichts und der kausal strukturierten Verwirkung hinweist. 457 Zu Art. 18 GG sei nur kurz angemerkt: Auch die gegenüber der Konzeption nach der WRV geänderte Regelung über die Verwirkung von Grundrechten spricht für die o.g. Tendenz, die Innen-/Außenmetaphorik nicht überzubewerten: Art. 18GG enthält gerade keinen generellen Gemeinschaftsvorbehalt mehr, sondern grenzt die Reichweite bestimmter Grundrechte durch den notwendigen Schutz anderer Werte ab. Zu Art. 18GG im Zusammenhang mit der Problematik des Mißbrauchs im Strafprozeß kurz Kröpil, ZRP 1997, 9, 12. 458 Vgl. allgemeine zur Anwendung des Zivilrechts auf öffentlich-rechtliche Verträge und sonstige Sonderbeziehungen: Erichsen in Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 22 Rn. 8 ff., § 29 Rn. 2; Palandt-Heinrichs, § 242 Rn. 17. 459 Vgl. dazu aus staatsrechtlicher Sicht grundlegend Pestaloiza, Formenmißbrauch des Staates, 1973.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
aussetzung genannt wird. 460 Ob man freilich eine solche Sonderverbindung für das Strafverfahren überhaupt annehmen sollte, vor allem aber ob man ähnlich wie beim einem schuldrechtlichen Sonderverhältnis (aus dem nach h.M. wechselseitige Förderungs- und Treuepflichten erwachsen) Mitwirkungs- oder Loyalitätspflichten für den Angeklagten im Strafprozeß postulieren darf, erscheint fraglich. Hierfür ist keineswegs vorentscheidend, ob man zwischen den Beteiligten im Strafprozeß ein (Prozeß) Rechtsverhältnis annimmt oder nicht: 461 Zwar mag man diese Frage angesichts der unstreitig existierenden Rechte und Pflichten der Prozeßbeteiligten, die teilweise auch und gerade im Verhältnis zueinander bestehen, durchaus bejahen und ein spezielles strafprozessuales Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten des Strafprozesses annahmen. Jedoch können - worauf Kindhäuser zutreffend hinweist 462 - aus dieser terminologischen Einordnung keine zwingenden Folgerungen für die Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben bzw. das Bestehen von „Treuepflichten" gezogen werden. Die gesetzlich normierten Rechte und Pflichten reichen nämlich zunächst einmal nur so weit, wie es das Gesetz anordnet; ob darüber hinausgehende Pflichten bestehen, ist gerade erst durch die Auslegung dieses Verhältnisses und anhand seiner maßgeblichen Wertungen zu entscheiden. aa)Was nun diese Bewertungen des Strafprozesses angeht, fällt auf, daß teilweise die Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben im Strafprozeß teils ohne nähere Begründung, teils mit dem wenig aussagekräftigen Argument der Einheitlichkeit der Rechtsordnung postuliert wird. 463 Ohne nähere Darlegung ebenfalls kein überzeugendes Argument ist der Hinweis auf einzelne Vorschriften in der StPO, die eine gewisse Pflicht zu loyalem Verhalten enthalten,
460 Vgl. Palandt-Heinrichs, § 242 Rn. 39; MüKo-Roth, § 242 Rn. 266, der allerdings betont, daß dieser Begriff im weiten Sinne zu verstehen sei. 461 Ablehnend z.B. Eb. Schmidt, Lehrkommentar Band I, Rn. 42 f.., 105 ff.; Weber, GA 1975, 289, 294. 462 NStZ 1987, 529, 532, insb. Text in und bei FN 30. Vgl. umgekehrt aber auch Mader, S. 108, wonach das Prinzip des Rechtsmißbrauchs nicht notwendig das Bestehen einer Sonderbeziehung voraussetzt; fraglich ist also insoweit nur, ob ein Mißbrauchsverbot gerade auf den Grundsatz von Treu und Glauben gestützt werden kann. 463 Vgl. dazu Fuhrmann, NJW 1963, 1230, 1232; Jescheck, JZ 1952, 400, 403; ferner die Nachweise bei Lang, Der Verlust von Verfahrensrügen des Angeklagten durch Rückgriff auf den Verwirkungsgedanken, 1994, 96 ff. (insb. FN125ff.) sowie bei Schlüchter, in Geppert/Dehnicke (Hg.), Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, 445, 453, die beide auch auf die häufig fehlende Begründung dieser Ansicht hinweisen. Eine ansatzweise, angesichts der Bedeutung für seine Untersuchung aber ebenfalls erstaunlich kurze Begründung liefert W. Schmid, Die Verwirkung von Verfahrensrügen, 1967, 303 ff. Interessant ist dabei, daß auch Schmid (S. 301) den Gesichtspunkt der Funktionswidrigkeit (und damit letztlich die unten näher darzustellenden Gedanken der Zweckwidrigkeit und der Funktionalität) anspricht, diesen aber untrennbar mit dem Grundsatz von Treu und Glauben verbunden sieht.
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
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wie z.B. die Anordnung von Fristen für bestimmte Rechtsbehelfe. 464 Ist nämlich in diesen Einzelfällen ein loyales Verhalten vorgeschrieben, so sagt dies gerade noch nichts darüber aus, was in nicht geregelten Fällen gelten soll. 465 Umgekehrt gilt freilich, daß aus der „Erlaubnis zu illoyalem Verhalten" in bestimmten Einzelfällen (so. z.B. durch § 246 StPO, durch das Recht zum Lügen 466 , die Sonderstellung des Beschuldigten im Rahmen des § 95 I StPO467) nicht eine generelle Nichtgeltung von Treu und Glauben im Strafprozeß abgeleitet werden ι
46K
kann. bb) Ausführlicher und unter Einbeziehung eines Teils der Rechtsprechung und Literatur setzt sich Katzorke mit der Frage nach der Übertragbarkeit des Grundsatzes von Treu und Glauben auf das Strafverfahrensrecht auseinander. 469 Insbesondere Katzorkes Analyse der Rechtsprechung 470, in die er den „Grundsatz von Treu und Glauben verschiedentlich (...) eingeflossen" sehen will, „ohne daß dabei freilich ausdrücklich immer ausdrücklich auf die zivilistische Grundlage hingewiesen worden wäre" 471 , ist dabei allerdings ungenau, wenn sie von der Argumentation mit dem Mißbrauchsgedanken auf die Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben (zurück-) schließt. Dieser Schluß würde nur zutreffen, wenn die Geltung von Treu und Glauben die einzig mögliche
464
Vgl. dazu Fuhrmann, NJW 1963, 1230. Gegen die Ableitung von Loyalitätspflichten aus solchen Regelungen aber Jescheck, JZ 1952, 400, 402. 465 Kritisch dazu auch Lang, Der Verlust von Verfahrensrügen des Angeklagten durch Rückgriff auf den Verwirkungsgedanken, 1994, 96 f.; letztlich handelt es sich um das oben angedeutete methodische Problem, daß es einer vorgelagerten Auslegung einer Norm bedarf, bevor entschieden werden kann, ob sie als Ausprägung einer als allgemein geltend vorausgesetzten Regel oder gerade als Ausnahme zu verstehen ist. 466 Vgl. dazu auch aus materiell rechtlicher Sicht Prittwitz, StV 1995, 270 ff. 467 Nach ganz h.M. gilt die Herausgabepflicht des § 95 I StPO über den Gesetzeswortlaut hinaus nicht für den Beschuldigten, vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 95 Rn. 5. 468 A.A. offensichtlich. Lang, Der Verlust von Verfahrensrügen des Angeklagten durch Rückgriff auf den Verwirkungsgedanken, 1994, 109, der allerdings noch andere Argumente gegen die Anwendbarkeit des Grundsatzes von Treu und Glauben erörtert. 469 Katzorke, Die Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs, 1989, insb. S. 67 ff.; dabei geht es in Katzorkes Arbeit - wie der Titel bereits zeigt - vor allem um Konsequenzen für den Staat, allerdings ist die grundsätzliche Frage der Geltung von Treu und Glauben im Strafverfahren durchaus allgemein angelegt, bevor speziell die Übertragbarkeit des Verwirkungsgedankens auf den staatlichen Strafanspruch (S. 87 ff.) in Fällen illoyalen staatlichen Verhaltens (S. 119 ff.) erfolgt. 470 Hinsichtlich der Literatur stellt Katzorke zu Recht fest, daß die Frage vergleichsweise selten behandelt wird (S. 68 f.); soweit er Stimmen aus der Literatur zitiert, sind dies solche, die eine Anwendbarkeit des Grundsatzes von Treu und Glauben im Strafprozeß bejahen, was möglicherweise auch der Mehrzahl der Äußerungen entspricht; doch kann zumindest heute insofern keinesfalls von einem eindeutigen Meinungsstand gesprochen werden, vgl. die Nachweise im Anschluß, Fn. 472 ff. 471 Katzorke, Die Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs, S. 70.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Grundlage für das Institut des Rechtsmißbrauchs ist. Dies ist aber - wie sogleich zu zeigen sein wird - nicht der Fall. Eine überzeugende Entscheidung über die Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben darf also nicht erst an der mittelbaren Folge der Möglichkeit des Mißbrauchs ansetzen, sondern muß die spezifische strafprozessuale Interessenlage berücksichtigen. Den Versuch einer solchen, tiefergehenden Begründung der Geltung von Treu und Glauben unternimmt Schlüchter im Zusammenhang mit der Problem der Verwirkung von Verfahrensrügen: 472 Gedanklicher Ausgangspunkt ist dabei, daß (bei allen Vorbehalten gegen ein Überhandnehmen des „soft law" gegenüber dem „hard law") aus Absprachen im Strafprozeß hinsichtlich disponibler Rechte zwar keine unlösbare Bindung, wohl aber eine Verpflichtung aufgrund gegenseitigen Vertrauens entsteht, die zu einem Hinweis zwingt, wenn ein Beteiligter von der Abrede abzuweichen gedenkt.473 In diesem Sinne gelte auch im Strafprozeß der Grundsatz von Treu und Glauben.474 Dieser Gedanke ist zwar für den Bereich der Absprachen überzeugend, kann aber nicht ohne weiteres dazu führen, daß auch im übrigen Strafprozeß(recht) gegenseitige Loyalitätspflichten bestehen.475 Trotz des unbestreitbaren Zusammenhangs zwischen der Möglichkeit von Vereinbarungen, der Disponibilität von Verfahrensbefugnissen und dem Grundsatz von Treu und Glauben ist nämlich zu beachten, daß der wesentliche, die Geltung von Treu und Glauben auslösende Gesichtspunkt nicht eine absprachenunabhängige allgemeine Wertung des Strafprozesses ist, sondern gerade die Absprache selbst. Nicht in erster Linie weil ein Verfahrensbeteiligter überhaupt die Dispositionsmöglichkeit hat, ob er eine Befugnis ausübt oder nicht, besteht ein berechtigtes Vertrauen der anderen Beteiligten auf eine loyale Entscheidung über diese Ausübung, sondern weil eine entsprechende Vereinbarung getroffen wurde, auf deren Grundlage auch die anderen Beteiligten im Vertrauen auf die Verbindlichkeit der Vereinbarung ihr Verhalten bestimmen. cc) Die entscheidende (und außerhalb von prozessualen Absprachen auch ohne Rückgriff auf diese Absprache zu beantwortende) Frage ist somit, ob tat472
Vgl. Schlüchter, in Geppert/Dehnicke (Hg.), Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990,445 ff., insb. 453 ff. 473 Vgl. zur Zulässigkeit von Absprachen allgemein aus jüngerer Zeit BGH NStZ 1996,448 m. Anm. Zschokelt, sowie BGH 4 StR 240/97 vom 28.08.1997. 474 Vgl. Schlüchter, in Geppert/Dehnicke (Hg.), Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, 445, 460, die freilich a.a.O. feststellt, daß die Begründung negative Konsequenzen für den Beschuldigten daraus im Vergleich zum Zivilrecht „eher größerer als geringerer Sorgfalt" bedarf. 475 Diesen Schritt scheint aber Schlüchter gehen zu wollen, wie sich aus der von ihr vorgenommenen näheren Untersuchung der Verwirkung auch außerhalb des Bereichs der Absprachen (S. 460 ff.), zum anderen schon aus ihrem Ausgangspunkt des Wechselverhältnisses zwischen Treu und Glauben und den Vereinbarungen im Strafprozeß ergibt (S. 454).
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
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sächlich und/oder normativ ein entsprechendes berechtigtes Vertrauen in ein loyales Verhalten des Beschuldigten bestehen kann. Dies wird zwar teilweise bejaht,476 mittlerweile aber von der Mehrzahl der Stimmen in der prozeßrechtlichen Literatur mit überzeugenden Gründen verneint: Zutreffend wird auf die „Kampfsituation" 477 im Strafprozeß hingewiesen, in dem es dem Beschuldigten in erster Linie darum geht, „seine Haut zu retten", so daß eine „loyale Kooperation" kaum zu erwarten ist. 478 Insoweit besteht auch ein nicht zu vernachlässigender struktureller Unterschied zu anderen Verfahrensarten, selbst wenn es auch in diesen den Beteiligten um ihren persönlichen Vorteil geht: Anders als der Zivil- oder Verwaltungsprozeß ist das Strafverfahren kein Rechtsschutzverfahren, in dem den Bürger schon zum Ausgleich dafür eine Solidaritätspflicht treffen könnte, daß das Gericht ihm zu seinem Recht verhelfen soll. Vielmehr hat er es hier in einem ohne seine Mitwirkung eingeleiteten Verfahren mit einem Gericht zu tun, das (zumindest für den Abschnitt des Hauptverfahrens) schon durch den Eröffnungsbeschluß zum Ausdruck gebracht hat, daß es eine spätere Verurteilung für wahrscheinlich hält. 479 Eine solche Haltung ist auch insbesondere durch den nemo-tenetur-Grundsatz normativ abgesichert und entspricht außerdem dem kriminologisch-empirisch einzig erwartbaren Verhalten in der für den Angeklagten (anders als für die Strafverfolgungsorgane) regelmäßig völlig ungewohnten Verfahrenssituation. 480 Aus einem anderen Blickwinkel kann man diese Argumente teilweise auch mit dem Kriterium der Freiwilligkeit verdeutlichen: Für die Situation des zivilrechtlichen Vertragsverhältnisses ist es geradezu typisch, daß die Beteiligten es freiwillig eingehen. Dies tun sie aber - für den Partner erkennbar - nur, wenn sie darauf vertrauen dürfen, daß sich der Partner den Grundsätzen von Treu und Glauben entsprechend verhält. Diese Erwartungshaltung kann dagegen dem Beschuldigten gegenüber niemand emsthaft haben. An diesem Ergebnis ändert sich auch dadurch nichts, daß unstreitig Fürsorge- (z.B. Hinweis-) Pflichten des Gerichts gegenüber dem Angeklagten bestehen.481 476 So z.B. Fuhrmann, NJW 1963, 1230, 1232; W. Schmid , Die Verwirkung von Verfahrensrügen, 1967, 303 ff. 477 Grundlegend KMR-Sax, Einl. I Rn. 10; vgl. auch Lang, Der Verlust von Verfahrensrügen des Angeklagten durch Rückgriff auf den Verwirkungsgedanken, 1994, 104, 105. 478 Vgl. Kindhäuser, NStZ 1987, 529, 532. 479 So die Interpretation des hinreichenden Tatverdachts i.S.d. § 203 StPO, vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 203 Rn. 2. Die gleiche Vorstellung vom Geschehen hat sub specie § 1701 StPO die Staatsanwaltschaft als zweites staatliches Organ, mit dem der Beschuldigte konfrontiert wird. Vgl. insgesamt zu den Argumenten gegen eine Loyalitätspflicht Kindhäuser NStZ 1987, 529, 532 f.; Lang, Der Verlust von Verfahrensrügen des Angeklagten durch Rückgriff auf den Verwirkungsgedanken, 1994, 104 ff.; Weber, GA 1975, 289, 293 ff. 480 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1262. 481 Insoweit hat trotz der methodisch nicht einwandfreien Ableitung der Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben auch die weitere Untersuchung Katzorkes (Die Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs, S. 75 ff.) zur Verwirkung des staatlichen
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Diese sind nämlich nicht aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, sondern aus dem Rechtsstaatsgebot herzuleiten. b) Auch die Wertungen des Verwaltungsrechts (die etwa bei der Verwirkung eine Rolle spielen482) können letztlich aus ähnlichen Gründen nicht ins Strafprozeßrecht übertragen werden. Zwar kann die Verhaltenserwartung einer „loyalen Prozeßführung" i.d.R. auch im Verwaltungsrecht - anders als im Zivilrecht - nicht auf eine spezielle schuldrechtliche Verbindung oder vertragliche Nebenpflichten gestützt werden. Jedoch darf trotz des typischen Über-Unterordnungsverhältnisses zwischen Bürger und Behörde aufgrund des gemeinsamen Interesses an der rechtlichen Regelung bestimmter Sachverhalte eher erwartet werden, daß sich der Bürger zumindest dadurch „kooperativ" verhält, daß er seine rechtlichen Schritte unternimmt, solange allgemein damit gerechnet werden muß, als ein loyaler Einsatz der prozessualen Befugnisse im Strafprozeß. Die unterschiedlichen normativen Anforderungen von Verwaltungs- und Strafverfahren zeigen sich dabei exemplarisch darin, daß der Beschuldigte im Strafverfahren (sowohl unter prozessualem als auch materiell-rechtlichem Blickwinkel) sanktionslos die Unwahrheit sagen darf, 483 während der Bürger, der im (dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgelagerten) Verwaltungsverfahren lügt, insoweit sanktioniert wird, als ihm auch eine bereits bestandskräftige Vorteilsgewährung in diesen Fällen problemlos wieder entzogen werden kann, vgl. § 48 I I 3 Nr. 1, 2 VwVfG. Für den Strafprozeß bleibt damit nur der Gesichtspunkt der Zweckwidrigkeit übrig: an die Stelle eines dort gerade nicht gegebenen „berechtigten Vertrauens in eine loyale Prozeßführung" tritt die - sicher weniger weit gehende! - funktionale Bindung von Verfahrensbefugnissen.
Strafanspruches durchaus ein berechtigte Grundlage. Katzorke (S. 70) zitiert bezeichnenderweise auch eine Entscheidung des BGH (JR 1984, 171 ff.) für eine angebliche Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben, die widersprüchliches Verhalten und Vertrauensschutz unter dem Stichwort des aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Prinzip des „fair trial" behandelt. 482 Vgl. zu den Voraussetzungen der Verwirkung Redeker/von Oerzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Aufl. 1994, § 58 Rn. 18; Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, 1993, Rn. 677; Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, 11. Aufl. 1994, Rn. 134; ausführlich bereits Stich, DVB1 1956, 325, 326 sowie ders., DVB1 1959, 234, 237. Bei der Verwirkung ist außerdem zu beachten, daß es sich allenfalls um einen mißbräuchlichen „Nichteinsatz", nicht aber den Einsatz eines Rechtes handelt. Daß hier große strukturelle Unterschiede zum hier interessierenden Mißbrauch bestehen, wurde bereits oben im Exkurs zum Verlust von Verfahrensrügen dargelegt, vgl. o. 1. Teil III 3 e, S. 53 f. 483 Vgl. dazu auch Prittwitz, Sanktionslose Obstruktion der Rechtspflege durch den Angeklagten?, StV 1995, 270 ff.
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
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3. Zu den Rechtsfolgen eines Mißbrauchs a) Im Zivilrecht treten in den in der Literatur genannten Fallgruppen 484 zwei unterschiedliche Rechtsfolgen auf: - Teilweise führt der Mißbrauch „nur" dazu, daß eine bestimmte Rechtsausübung unzulässig sein soll, so etwa bei der Geltendmachung eines unredlich erworbenen Rechts485 oder beim Verbot des „venire contra factum prot t 486
prium - Teilweise führt der Mißbrauch aber auch dazu, daß das Recht von einem bestimmten Zeitpunkt an mit Wirkung für die Zukunft nicht mehr ausgeübt werden darf, so etwa bei der Verwirkung wegen der Verletzung eigener Pflichten 487 oder wegen illoyaler Verspätung 488. Während in den erstgenannten Konstellationen das Schwergewicht auf den speziellen Umständen der konkreten Rechtsausübung liegt, hat die Verwirkung in gewisser Weise einen Sanktionscharakter, wenn sie als Reaktion auf einen abgeschlossenen Vorgang ein Recht auch für die späteren Fälle entzieht. Eine ähnliche Unterscheidung ist zwar auch im Strafverfahrensrecht denkbar: 489 Die Rechtsausübung durch einen Verfahrensbeteiligten könnte entweder für den jeweiligen Einzelfall für unzulässig erklärt oder für längere Zeit bzw. endgültig untersagt werden. So lag in der als Ausgangsbeispiel genannten Entscheidung BGHSt 38, 111 eine generelle Beschränkung des Beweisantragsrechts des Angeklagten mit Wirkung für die Zukunft vor, d.h. man hätte auch von einer Verwirkung des eigenen Antragsrechts sprechen können. Anders hätte der Fall dagegen gelegen, wenn nur konkrete Anträge für mißbräuchlich erklärt worden wären, das Recht zur Stellung neuer, anderer Anträge davon aber unberührt geblieben wäre. Dies wäre sicherlich die weniger einschneidende, allerdings auch die weniger effiziente Maßnahme gewesen, insbesondere wenn man gemäß § 244 VI StPO für die Ablehnung jedes einzelnen Antrags als rechtsmißbräuchlich (und damit unzulässig) einen Gerichtsbeschluß verlangen würde. Einen über diese grundsätzliche Möglichkeit von unterschiedlichen Folgen hinausgehenden Erkenntniswert für das Strafprozeßrecht hat die Differenzierung im Zivilrecht aber nicht: Dies liegt daran, daß die Unterscheidung hier vor allem begrifflicher Natur ist, ohne in der Sache zu wesentlich anderen Ergebnissen zu führen. Gerade soweit es im materiellen Recht z.B. um einen be-
484
Vgl. etwa Palandt-Heinrichs, § 242 Rn. 38 ff.; MüKo-Roth, § 242 Rn. 255 ff. Vgl. dazu Palandt-Heinrichs, § 242 Rn. 42 ff. 486 Vgl. dazu Paimdt-Heinrichs, § 242 Rn. 55 ff. 487 Vgl. dazu Palandt-Heinrichs, § 242 Rn. 46 ff. 488 Vgl. dazu Palandt-7/ewnc/u, § 242 Rn. 87 ff. 489 Zur Frage, nach welchen Kriterien diese Rechtsfolgen gewählt werden, vgl. u. 2. Teil C IV, S. 229 ff. 485
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
stimmten Anspruch geht, der durchgesetzt werden soll, spielt es im Ergebnis keine Rolle, ob die Rechtsausübung in Form der Geltendmachung des Anspruchs als unzulässige bewertet oder der Anspruch als verwirkt betrachtet wird: in beiden Fällen kann er nicht (und nie mehr) durchgesetzt werden. Die hier interessierenden strafprozessualen Befugnisse dagegen können regelmäßig im Rahmen eines Prozesses vielfach und immer wieder erneut ausgeübt werden, d.h. es ist hier eine - im vorangegangenen Absatz bereits exemplifizierte Unterscheidung zwischen dem Ausübungsrecht und seiner jeweiligen Ausübung im Einzelfall (also dem Frage- oder Beweisantragsrecht und einzelnen Fragen oder Beweisanträgen) möglich und erforderlich. Dabei macht es dann sehr wohl einen Unterschied, ob nur eine bestimmte Ausübung als rechtsmißbräuchlich bewertet und zurückgewiesen oder das Recht entzogen wird. Da eine solche Trennung dem materiellen Zivilrecht aber weitgehend fremd ist (und auch in den einschlägigen zivilprozessualen Fällen nicht im Mittelpunkt steht), bleibt es der Betrachtung spezifisch strafprozessualer Gesichtspunkte vorbehalten, Anhaltspunkt dafür zu liefern, wann welche Rechtsfolge des Mißbrauchs eintritt. b) Im Verwaltungsrecht ist Rechtsfolge der Verwirkung (als wichtigstem Fall einer ungeschriebenen Mißbrauchsreaktion) nach h.M. die Unzulässigkeit der betreffenden Rechtshandlung: Im Verwaltungsstreitverfahren 490 können auch Rechtsbehelfe, die überhaupt keiner Frist unterliegen oder für die ausnahmsweise keine Frist läuft (vor allem in Fällen des § 58 I I VwGO), unzulässig werden, wenn sie mit einer „gegen Treu und Glauben verstoßenden Verzögerung" eingelegt wurden. 491 Die Ausübung des zugrundeliegenden Rechts wird hier also auf Dauer unmöglich. Für den Strafprozeß können hieraus allerdings ebenso wenig wie oben aus den zivilrechtlichen Ergebnissen verbindliche Hinweise abgeleitet werden. Vielmehr ist dieser dauernde Rechtsverlust notwendige Folge der Konzentration auf die Verwirkung i.S.d. illoyalen Verspätung: es erschiene nämlich absolut sinnlos, als Folge dieser Verzögerung das Recht einmalig zu versagen und zu einem noch späteren (!) Zeitpunkt wieder zuzulassen.492
490 Der Begriff des „Verwaltungsstreitverfahrens" soll hier in einem umfassenden Sinn verstanden sein, der sowohl den Verwaltungsprozeß als auch das Vorverfahren nach §§68 ff. VwGO (Widerspruchsverfahren) sowie das Ausgangsverwaltungsverfahren beinhaltet. 491 Vgl. nur Kopp, §74 Rn. 18 ff.; Schenke, Verwaltungsprozeßrecht 1995, Rn. 675 ff. 492 Auch insoweit wird wieder der Unterschied zwischen der (mißbräuchlichen) „Nichtausübung" von Rechten und ihrem mißbräuchlichen Gebrauch deutlich, der es meist wenig sinnvoll macht, Ergebnisse zu dem erstgenannten Problemkreis auf den hier interessierenden zweitgenannten zu übertragen.
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte 4.
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Zwischenergebnis
Der vorangegangene kurze Abriß erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit und kann nicht einmal als Überblick über den gesamten Problemkreis des Rechtsmißbrauchs im Zivilrecht und öffentlichen Recht gesehen werden. Er macht allerdings deutlich, daß sich zwar in den anderen Rechtsgebieten zumeist die gleichen Fragen stellen wie im Strafprozeßrecht, daß jedoch die Antworten auf diese Fragen, vor allem aber die dahinter stehenden Wertungen und Begründungen, regelmäßig nicht (jedenfalls nicht in einer über die allgemeine Methodenlehre und die verfassungsrechtliche Beurteilung hinausgehende Weise) übertragbar sind. Im folgenden werden daher zu den drei zentralen Fragen nach Legitimation, Inhalt und Rechtsfolgen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots Anhaltspunkt unter spezifisch strafprozessualen Gesichtspunkten gesucht, mit Hilfe derer sich die Vorgaben aus Methodenlehre und Verfassungsrecht zu einem vollständigen und auch in konkreten Fällen praktisch anwendbaren Ergebnis ergänzen lassen.
I I . Zur Legitimation eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots Mißbrauchsverbot und strafprozessuale Form Die Frage nach der Legitimation eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots innerhalb eines Systems des geschriebenen Rechts spielte bereits in den Kapiteln über die allgemeine Methodenlehre und die verfassungsrechtliche Bewertung eine zentrale Rolle. Im folgenden Abschnitt wird untersucht, inwiefern sich die dort entwickelten Wertungen durch Charakteristika des Prozeßrechts im Allgemeinen und des Strafprozeßrechts im Besonderen bestätigt finden bzw. modifiziert werden müssen. Dabei geht es zum einen um die Frage, ob die zum materiellen Recht entwickelten Vorstellungen auf das Prozeßrecht als „technische Verfahrensgestaltung" anwendbar sind (sogleich 1.), zum anderen um die Prüfung, inwiefern die bewußte Formalisierung des Prozeßrechts (im Anschluß 2.) oder der subjektive Schutzcharakter prozessualer Befugnisse (zuletzt 3.) einer Mißbrauchsreaktion entgegenstehen:
7. Die „moralinfreie
" Haltung des Prozeßrechts
Vor allem im älteren prozeßrechtlichen Schrifttum ist von der angeblich »moralinfreien" Haltung des Prozeßrechts die Rede.493 Danach soll das Prozeß493
Vgl. v.a. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, 292; zustimmend Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, 1950, 75 (allerdings im speziellen Kontext der prozessualen Wertkategorien).
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
recht im Gegensatz zum materiellen Recht nur gleichsam technische Regelungen enthalten, die selbst keinen eigenen Gerechtigkeitswert, keine moralische Dimension haben.494 Auch hätten zumindest die „Prozeßparteien" keine Handlungspflichten, sondern allenfalls gewisse Lasten zu tragen. Spricht man aber prozessualen Vorschriften jede ideelle Werthaftigkeit ab und betrachtet sie als rein technische Verfahrensvorgaben, könnte man vordergründig betrachtet auf den Gedanken kommen, daß aus diesem Grund der Mißbrauchsgedanke im Prozeßrecht nur von ganz untergeordneter Bedeutung sein kann. Denn mit der Bewertung eines Verhaltens als Mißbrauch ist zumeist auch der Gesichtspunkt der Vorwerfbarkeit, zumindest aber der Zweckfremdheit verbunden. Indes wäre eine solche Argumentation für den Strafprozeß aus mehreren Gründen nicht haltbar: a) Zum einen werden in anderen Zusammenhängen gerade rein technischformale Regelungen geradezu exemplarisch für Erscheinungen des Mißbrauchs, der unzulässigen Rechtsausübung oder der Verwirkung angeführt, so z.B. die Form Vorschriften der §§313, 125 BGB im Zivilrecht oder die Verwirkung trotz nicht laufender Rechtsbehelfsfrist im Verwaltungsrecht. Dies erscheint auf der Grundlage des normtheoretischen Hintergrundes auch durchaus nicht erstaunlich. Gerade bei technisch-formalen Vorschriften, in denen nach einem sehr groben Raster an einen ganz bestimmten Sachverhalt (z.B. Verkauf eines Grundstücks ohne notarielle Beurkundung; fehlende Zustellung eines Verwaltungsaktes) ohne wertungsoffene Tatbestandsmerkmale eine feste, relativ inflexible Rechtsfolge geknüpft wird (z.B. Nichtigkeit des Kaufvertrags; kein Ingangsetzen der Rechtsbehelfsfrist), gibt es keine Möglichkeit, unbillig erscheinende Ergebnisse durch eine entsprechend restriktive oder extensive Auslegung (im traditionellen Sinne) zu vermeiden; daher könnte sogar relativ leicht die Konstellation des zweckwidrigen Einsatzes entstehen, die das Bedürfnis nach einer Korrektur über die Figur des Rechtsmißbrauchs weckt. b) Des weiteren ist auch bei auf den ersten Blick rein formalen, „moralinfreien" Regelungen eine Unterscheidung möglich zwischen gewissen normativen Zwecken, denen diese Regelungen wenigstens mittelbar dienen sollen, und solchen Folgen, die durch die Regelung nur als ungewollte Konsequenz eintreten (aber zugunsten der angestrebten Zwecke regelmäßig hingenommen werden). Wenn aber mit dem Beharren auf eine bestimmte vorgeschriebene Förmlichkeit oder umgekehrt durch das Einhalten einer bestimmten äußeren Handlungsform nicht der vom Gesetz beabsichtigte Zweck, sondern nur eine andere, zugunsten dieses Zwecks in Kauf genommene, eigentlich aber nicht gewollte Folge erreicht werden kann, ist die Verfolgung sachfremder Zwecke und damit möglicherweise ein Rechtsmißbrauch durchaus denkbar. 494
Vgl. hierzu femer die Zusammenstellung der Nachweise bei Volk, 174 f. (selbst
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
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So können im Strafprozeß jeder Beweisantrag und jede Frage gewisse Verzögerungen oder „Unannehmlichkeiten" mit sich bringen. Diese werden aber vom Gesetz bewußt in Kauf genommen, weil die Befugnisse wichtige Funktionen im Strafverfahren erfüllen (insbesondere der Wahrheitsermittlung und den Grundrechten des Angeklagten dienen). Wenn diese Rechte aber dysfunktional eingesetzt werden, insbesondere also nicht der Wahrheitsermittlung oder der Bewahrung schützenswerter Rechte des Angeklagten dienen, besteht kein Grund, die bekannten negativen Konsequenzen (wie Verfahrensverzögerungen) hinzunehmen. c) Schließlich ist das Strafprozeßrecht in vielen seiner Regelungen gerade nicht (und sogar noch weniger als andere Prozeßordnungen 495) „moralinfrei" und von rein technisch-formaler Natur. Vielmehr verkörpert es in besonderem Maße auch materiell-(verfassungs-)rechtliche Grundentscheidungen, soweit es z.B. um den Interessenkonflikt zwischen dem Interesse an der staatlichen Strafrechtspflege und den Freiheitsinteressen des einzelnen geht. Die verfahrensrechtlichen Rechte und Pflichten beruhen daher im wesentlichen nicht auf rein technischen Gesichtspunkten der Prozeßökonomie, sondern sind das Resultat einer - freilich abstrahierten und damit notwendigerweise nur groben - Interessenabwägung. Als Zwischenergebnis läßt sich daher festhalten, daß im Strafprozeßrecht der Mißbrauchsgedanke nicht etwa schon deswegen keinen Platz hat, weil es sich „nur" um formelles, ein Verfahren regelndes Recht handelt. Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht das (Straf-) Verfahrensrecht ganz bewußt streng formalisiert ist und aufgrund des prozessualen Formrigors die Arbeit mit dem Prinzip des Rechtsmißbrauchs unzulässig ist: 496
2. Der prozessuale Formrigor
und Rechtsmißbrauch
Für jede Rechtsnorm gilt, daß zugunsten einer vereinheitlichten Regelung ähnlicher Sachverhalte die Komplexität dieser Sachverhalte reduziert und Abstriche von der Einzelfallgerechtigkeit gemacht werden müssen.497 Im Prozeßrecht ist dies sogar in ganz besonderem Maße der Fall: Mehr noch als im materiellen Recht hat hier das Gesetz nämlich nicht nur die Funktion, auf bestimmte Verhaltensweisen angemessene Reaktionsmöglichkeiten zu bieten; vielmehr will es auch Beteiligten Verhaltensmuster an die Hand geben, die sie im Interallerdings ablehnend). 495 Für das Zivilprozeßrecht vgl. in der Auseinandersetzung mit Goldschmidt und Niese Zeiss , 32 ff.. 496 Vgl. zu dieser Frage für den Zivilprozeß Zeiss , 35 ff.. Unter „Formrigor" sollen hier nicht nur Formvorschriften im allerengsten Sinne verstanden sein, sondern im o.g. Sinne die gesamte strenge Fomialisierung. 497 Diese allgemeine normtheoretische Problem wurde oben 2. Teil A I 1, S. 61 auch als Ausgangspunkt der Mißbrauchsdiskussion gekennzeichnet.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
esse eines geregelten Verfahrensverlaufes einzuhalten haben. M.a.W.: die Individualität des Verhaltens mit dem Erfordernis ebenso individueller Reaktionsmöglichkeiten wird zugunsten einheitlicher, auf größtmögliche Klarheit und Rechtssicherheit gerichteter Regelungen zurückgedrängt. Die Verfahrensbeteiligten wissen, daß sie zur Erreichung eines gewünschten Erfolges bestimmte Prozeßhandlungen vornehmen müssen. Umgekehrt besteht grundsätzlich die Gewißheit, daß auf diese Prozeßhandlungen auch die damit verknüpfte Folge eintritt. Diese Gewißheit durch ein bewußt auf Sicherheit (und zumindest nolens volens auf geringe Flexibilität) ausgerichtetes System wird aber durch die Arbeit mit einem allgemeinen Mißbrauchsverbot gerade beseitigt. Insofern ist die Frage berechtigt, ob dies nicht mit dem Wesen des Prozeßrechts gänzlich unvereinbar ist. 498 Im Ergebnis allerdings ist dies (trotz gewisser Besonderheiten des Prozeßrechts gegenüber dem materiellen Recht) zu verneinen. a) Wie bereits mehrfach erwähnt, handelt es sich bei dem Konflikt zwischen Ergebniskorrektur im Einzelfall und Normtreue um ein allgemeines Problem, das sich im Prozeßrecht zwar verschärft, keineswegs aber ausschließlich stellt. Man könnte sogar sagen, daß sich das Mißbrauchsproblem in dem besonders streng formalisierten, häufig wenig Bewertungsspielraum in der Auslegung eröffnenden Prozeßrecht theoretisch um so häufiger stellen müßte. Zwar würde es der bewußten Formalisierung sicherlich widersprechen, die dadurch beabsichtigte und grundsätzlich auch gewonnene Sicherheit durch eine der theoretisch größeren Mißbrauchsanfälligkeit entsprechende großzügigere „Korrektur" mittels eines allgemeinen Mißbrauchsverbots zu konterkarieren. Auch würde eine ausufernde (vermeintliche) Mißbrauchskorrektur die normative Geltung der betroffenen Vorschriften aushöhlen und wäre deswegen rechtspolitisch keinesfalls wünschenswert. Eine - wie auch in sonstigen Rechtsgebieten - auf enge Ausnahmefälle beschränkte Anwendung des Mißbrauchsprinzips erscheint jedoch alleine wegen der größeren Formalisierung als solcher methodisch jedenfalls dann nicht ausgeschlossen, wenn nicht eine als zwingend abschließend zu verstehende Regelung vorliegt. b) Etwas anderes kann allerdings in den Fällen gelten, in denen die Formalisierung und die Tatbestände klarer prozessualer Rechte und Pflichten nicht nur Ausdruck der (jeder gesetzlichen Normierung immanenten) abstrakten Regelung ähnlicher Tatbestände, sondern des hinter den entsprechenden Regelungen stehenden öffentlichen Interesses ist. Wann dies der Fall ist, läßt sich naturge498 Vgl. allgemein zur Bedeutung der Formstrenge auch Vollkommer, Formstrenge und prozessuale Billigkeit, 1973 (speziell zum Strafprozeßrecht kurz auf S. 86 ff.). Zur Formbindung als allgemeines Auslegungskriterium im Strafprozeß Tiedemann, in: Wasserburg/Haddenhorst, Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren, Festgabe für Karl Peters, 1984, 131, 133 ff.
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
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mäß nur schwer und sicherlich nicht für jeden Einzelfall abschließend bestimmen. Anhaltspunkt zur Beantwortung der Frage, ob ein bestimmtes (straf-) prozessuales Verhalten dem öffentlichen Interesse dienen soll, kann jedoch sein, ob es von Amts wegen zu erfolgen hat und zur Disposition der Beteiligten steht.499 Von einer Dispositionsmöglichkeit der Beteiligten i.w.S. kann man sprechen, wenn sie durch die Nichtausübung eines Rechts bewirken können, daß dieses unwiederbringlich verloren ist: Hier bietet sich als Beispiel das Ablehnungsrecht nach § 24 StPO an: Ist der in § 25 StPO maßgebliche Zeitpunkt verstrichen, ist das Ablehnungsrecht unwiederbringlich verloren; insbesondere kann eine Revision nicht darauf gestützt werden, der Tatrichter sei befangen gewesen. Ähnlich liegt es mit dem Beweisantragsrecht: Wenn die (zeitlich in § 246 I StPO ohnehin großzügig bemessene) Möglichkeit, einen Beweisantrag zu stellen, nicht wahrgenommen worden ist, kann später nicht geltend gemacht werden, bei der Berücksichtigung eines - tatsächlich gar nicht vorgebrachten - Beweisbegehrens ergebe sich ein anderes Bild vom Sachverhalt. Kann ein Recht durch die Disposition des Berechtigten, d.h. hier konkret: durch die Nichtausübung, unwiederbringlich verloren gehen, so kann es nicht in solchem Maße im öffentlichen Interesse liegen, daß es unabhängig vom Verhalten der Beteiligten gewahrt werden muß. Dann aber bestehen auch unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses keine Bedenken gegen einen Rechtsverlust unter dem Gesichtspunkt des Mißbrauchs. Muß dagegen ein bestimmtes prozessuales Vorgehen von Amts wegen erfolgen und steht es auch nicht zur Disposition der Beteiligten, so spricht viel dafür, daß es im öffentlichen Interesse liegt und vom Beteiligtenverhalten weitgehend unabhängig ist. Dann kann der Mißbrauchsgedanke als Reaktion auf ein Beteiligtenverhalten aber auch nicht dazu führen, daß dieses Vorgehen entfallen kann. Beispielhaft kann hier die Aufklärungspflicht des Gerichts nach § 244 II StPO dienen. Diese besteht grundsätzlich unabhängig von speziellen (Beweis-) Anträgen der Beteiligten.500 Auch steht sie im übrigen nicht zu ihrer Disposition im o.g. Sinne: Selbst wenn ein entsprechender Beweisantrag nicht gestellt wurde, kann de lege lata in der Revision gerügt werden, daß ein bestimmter Sachverhalt alleine wegen der gerichtlichen Aufklärungspflicht hätte näher erforscht werden müssen.501 Dies zeigt, daß die Aufklärungspflicht im öffentlichen Interesse liegt, was wiederum zur Folge hat, daß auch bei
499 Die Abgrenzung zwischen „Prüfung nur auf Antrag" und „Prüfung von Amts wegen" hat vor allem im Zivilprozeß größere Bedeutung, da dort in weitem Umfang die Parteienmaxime gilt. Auch im vom Legalitätsprinzip geprägten Strafprozeß gibt es aber durchaus Fragen, die nicht von Amts wegen geprüft werden müssen, so z.B. ob eine Besorgnis der Befangenheit i.S.d. § 241, II StPO (anders bei Ausschließungsgründen i.S.d. §§ 22, 23, 241 StPO) vorliegt. 500 Zum Verhältnis der Beweisanträge zur Aufklärungspflicht vgl. Herdegen, MeyerGS, 187 ff.; SKJStPO-Schlüchter, § 244 Rn. 52,53 501 Zu Änderungsvorschlägen diesbezüglich vgl. zu Recht ablehnend Frister, StV 1994,445,448 f.
13 Kudlich
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
einem Mißbrauch des Beweisantragsrechts als „Sanktion14 keine Verweigerung der durch § 244 II StPO gebotenen übrigen Aufklärung in Betracht kommt. Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten, daß auch die bewußt strenge Formalisierung des Verfahrensrecht die Anwendung eines allgemeinen Mißbrauchsverbots nicht von vornherein ausschließt. Zwar zwingt sie zu einer besonders sorgfältigen Prüfung und steht dem Verlust solcher Formen entgegen, deren Einhaltung auch sonst nicht zur Disposition der Beteiligten steht. Gerade bei den hier im Mittelpunkt stehenden Frage- und Antragsrechten bleibt damit aber im Einzelfall eine Mißbrauchskontrolle durchaus denkbar. Ergänzend bleibt noch anzumerken, daß Einbußen an der durch die Formalisierung intendierten Sicherheit nicht nur durch die Arbeit mit dem allgemeinen Mißbräuchsprinzip, sondern auch durch geschriebene Mißbrauchsklauseln entstehen können. Dies gilt jedenfalls in Fällen, in denen nicht zum Zwecke der Mißbrauchsabwehr konkrete VerhaltensanWeisungen in „Vorfeldtatbeständen" gegeben werden,502 sondern - wie gegenwärtig nur in § 241 I StPO - ausdrücklich vom Mißbrauch einer Befugnis die Rede ist:503 Der Verlust an Klarheit und Sicherheit liegt hier trotz einer gesetzlichen Anordnung darin, daß die Ausnahmevorschrift zu einer klaren, kompromißlosen Regelung durch einen unbestimmten, schwer subsumierbaren Begriff gebildet wird, so daß auch die Grenzen des Regelfalles entsprechend unschärfer werden. Gleichwohl bestehen gegen solche geschriebenen Mißbrauchsklauseln (zumindest methodisch504) erst Recht keine Bedenken, zumal durch die Aufnahme der Mißbrauchsklausel klar wird, daß der Gesetzgeber im konkreten Fall keinen Verstoß gegen das öffentliche Interesse sieht, wenn das Verhalten der Beteiligten zu einer negativen Konsequenz für die entsprechende Befugnis nachteilig führt.
3. Der „ Wert der schützenden Form im Strafprozeß"
505
Spricht also auch rein methodisch die große prozessuale Formstrenge nicht zwingend dagegen, in gewissen Grenzen eine Ergebniskorrektur mit Hilfe des Mißbrauchsprinzips vorzunehmen, so ist damit noch nicht darüber entschieden, ob es nicht inhaltliche Gründe gibt, die dazu zwingen, ein Handeln innerhalb der prozessualen Formen auch dann hinzunehmen, wenn es möglicherweise
502 So z.B. in § 137 12 StPO; vgl. zu den Vorschriften zur Mißbrauchsprävention näher oben 1. Teil II 2 c, S. 34 ff. 503 Näher zur Unterscheidung zwischen solchen speziellen Mißbrauchsklauseln und bestimmten Mißbrauchstatbeständen unten 1. Teil. II, S. 26 ff. 504 Verfassungsrechtlich ist bei Mißbrauchsklauseln bzw. -tatbeständen stets die Frage der Bestimmtheitgrundsatzes zu diskutieren. 505 Vgl. zum „Wert der Form" den gleichnamigen Titel eines Beitrags von Schlüchtern in: Wolter (Hg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, 205 ff., zur Idee der „schützenden Form" Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprozesses, Bd. I, 1861, 145 f.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Bd. I, Rn. 14, 15; Müller, Ingo, Rechtsstaat und Strafverfahren, 1980,46 ff.
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
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mißbräuchlich erscheint. 506 Gerade im Strafprozeß gibt es viele formale Vorschriften i.w.S., die zu unbefriedigenden und z.T. auch ungerechten Ergebnissen führen können.507 So sind z.B. für die Ablehnung eines Richters nach § 25 StPO und für Einlegung und Begründung von Rechtsmitteln nach §§314, 317 StPO bzw. 341, 344 StPO relativ strenge Fristen einzuhalten; bei deren Versäumnis werden - außerhalb der Voraussetzungen des § 44 StPO - ein möglicherweise befangener Richter und sogar ein (vermeidbar) unrichtiges und „ungerechtes" Urteil von der StPO bewußt in Kauf genommen. Ähnliche Ergebnisse kann auch die Absicherung des Zeugnisverweigerungsrechts in der Hauptverhandlung durch § 252 StPO zur Folge haben. Die Aufzählung der z.T. engen Gründe für eine Beweisablehnung in § 244 III-V StPO schließlich führt zwangsläufig dazu, daß in vielen Fällen eine Beweisaufnahme weit über das Maß hinaus stattfinden muß, das vom Gericht zur Aufklärung des Sachverhalts für erforderlich gehalten würde. In all diesen Fällen wird es einem unbefangenen Beobachter häufig schwer fallen zu verstehen, weshalb die Rechtsordnung durch solche strenge Regeln „sehenden Auges" unbefriedigend erscheinende Ergebnisse heraufbeschwört. a) Verständlich werden die Vorschriften (und auch das grundsätzliche Hinnehmen der damit im Einzelfall verbundenen Ergebnisse) allerdings, wenn man sich vor Augen hält, daß es sich insoweit nicht um bloßen Formalismus oder Praktikabilitätsregeln handelt, sondern um Ausprägungen der „schützenden Form" oder aber des Bemühens um Rechtssicherheit: Gerade für den betroffenen Bürger ist zu berücksichtigen, daß er im Strafprozeß einem massiven Eingriff staatlicher Gewalt ausgesetzt ist. Diese wird zwar nicht unbedingt gemildert, gleichwohl aber vorhersehbar und leichter zu akzeptieren, wenn sie in fest vorgegebenen Formen ausgeübt wird. Wenn die Eingriffe in die Freiheitsrechte des Beschuldigten durch genaue förmliche Anforderungen eingeschränkt werden, umgekehrt aber auch die prozessualen Rechte des Beschuldigten klar festgeschrieben sind, wird die Gefahr zumindest verringert, daß ihm die Wahrung seiner Belange schon durch die Prozeßführung in willkürlicher Weise unmöglich gemacht wird. Die geschichtliche Erklärung des im älteren Schrifttum vor allem von Zachariae508 entwickelten Gedankens des „Schutzes durch Form" legte eindrucksvoll Eb. Schmidt in seiner Heidelberger Rektorats-Rede aus dem Jahre 1952 dar: Der mittelalterliche Strafprozeß war noch stark vom privaten Fehderecht geprägt, aus dem er sich entwickelt hatte, und sah damit - dem privaten Feind in der Fehde entsprechend - im Angeklagten 506
Vgl. dazu die Äußerung von Schulz, StV 1991, 354, 362, es müsse „der Mißbrauch des Rechts um des Rechtes willen getragen werden." Grundlegend KMR-Sax, Einl. X Rn. 73 ff., insb. Rn. 82. 507 Vgl. zu den nachfolgenden Beispielen auch Eb. Schmidt, ZStW 65 (1953), 161, 166 ff. 508 Vgl. o. Fn. 505. 13*
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
als möglichem Täter ein „landschädliches" Element, demgegenüber im Prozeß alles „Recht" sein sollte, was im Sinne einer Aburteilung zweckmäßig erschien. Dies äußerte sich im freien Belieben und der Willkür der Strafverfolgungsbehörden. 509 Zur verstärkten Formalisierung führte demgegenüber die Sorge um die Gerechtigkeit und vor allem um den Schutz des (insbesondere unschuldigen) Angeklagten.510 Die RStPO von 1877 bildete gerade hinsichtlich der Beschuldigtenrechte eine überaus liberale Kodifizierung, von deren Vorgaben in einigen Bereichen wieder abgewichen bzw. Abstriche gemacht wurden.511 So wird auch in der aktuellen Diskussion bemängelt, daß die Flut der Änderungen in den letzten Jahren nicht nur die normative Stabilität der StPO beeinträchtigt hätten,512 sondern daß hinsichtlich des Beschuldigtenschutzes mehr und mehr hinter den Standard des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückgegangen werde. Soweit dies für Einzelfragen überhaupt zutrifft, wäre es freilich nur ein sehr vordergründiger Schluß, darin käme alleine eine restaurative Sichtweise zum Ausdruck, die in jedem Straftäter eine „landschädliche" Person sieht.513 Die durch die förmlichen Vorschriften gewährten Rechte (und in vielen Fällen sogar die Tatsache selbst, daß diese Rechte in einer festen Form festgeschrieben werden) dienen also dem Schutz des Beschuldigten und bilden damit subjektive Rechte. Daher stellt sich die Frage, ob eine Mißbrauchsbefugnisse hinsichtlich der prozessualen Verteidigungsbefugnisse nicht schon deshalb ausgeschlossen ist, weil diese subjektiven Rechte des Angeklagten (bzw. seines Verteidigers) diesem zur freien Verfügung und zur Wahrung seiner persönlichen Interessen eingestanden werden. Auch der Schutzzweck der Form setzt jedoch der Annahme und der prozessualen Ahndung von Mißbrauch nur Grenzen, steht ihr aber nicht in jedem Fall entgegen: b) Wie insbesondere der Anwendungsbereich des Mißbrauchsgedankens im Zivilrecht zeigt, geht es beim Mißbrauch häufig um subjektive Rechte (dort nämlich um die Durchsetzbarkeit von materiell-rechtlichen Ansprüchen 514): 509
Vgl. Eb. Schmidt ZStW 65 (1953), 161, 170 f., vgl. auch ders., Lehrkommentar, Bd. I Rn. 14. 510 Vgl. zur Entwicklung Eb. Schmidt ZStW 65 (1953), 161, 171 ff. 511 Krit. zur Entwicklung mit einigen Beispielen Scheffler, GA 1995,449 ff. 512 Vgl. Scheffler, GA 1995,449,452 f.; Welp, StV 1994, 161. 513 Ein möglicher Grund für gewisse Ausweitungen staatlicher Eingriffsbefugnisse bzw. umgekehrt für Modifizierungen von Verteidigungsrechten könnte vielmehr auch in einem teilweise gewandelten Verteidigungsverhalten begründet liegen. Sehr anschaulich hierzu etwa Fischer, NStZ 1997, 212, 214 (in FN 29): „Daß der liberale Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts einen »Schutzwall« aus Rechtshilfevorschriften für Anlagebetrüger schaffen wollte, denen immer noch ein wichtiger Entlastungszeuge in fernen Ländern einfällt, erscheint zweifelhaft." Vgl. aber andererseits zu den (gerade auch strafprozessualen) Entwicklungen zunehmender staatlicher Eingriffsbefugnisse Hettinger , Entwicklungen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Gegenwart, 1997. 514 Vgl. Palandt-/feinric/w, § 242 Rn. 40: ,3eim Rechtsmißbrauch geht es typischerweise darum, daß die Ausübung eines individuellen Rechts als treuwidrig und unzulässig beanstandet wird." (Hervorhebungen und Ergänzung der Abkürzungen durch den Verfasser - H.K.)
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
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Auch und gerade diese werden nämlich (zumindest auf einfach-gesetzlicher Ebene513) zur Erreichung eines bestimmten Zweckes zugebilligt und sind damit einer Zweckbindung nicht von vornherein entledigt. Wenn ein Mißbrauch strafprozessualer Befugnisse dann angenommen wird, wenn diese entgegen ihrem Zweck eingesetzt werden, steht einer prozessualen Ahndung dieses Verhaltens auch der Schutzcharakter der entsprechenden Vorschrift nicht entgegen, da das konkrete Verhalten gar nicht geschützt werden soll. Eine andere Ansicht könnte sich letztlich nicht auf den Schutzzv/eck der Vorschriften berufen, sondern wäre Ausdruck eines bloßen Formalismus. 516 Somit ergibt sich auch für das Strafprozeßrecht keine absolute Grenze für ein Mißbrauchsverbot, die nicht bereits vom oben bereits behandelten verfassungsrechtlichen Willkürverbot 517 gezogen wäre: Wenn ein allgemeines Mißbrauchsverbot - wie hier vertreten - mit diesem für vereinbar gehalten wird, kann sich auch unter dem Gesichtspunkt der schützenden Form nichts anderes ergeben. Soweit dagegen das Willkürverbot (auf der Grundlage des tradierten Rechtsfindungsverständnisses mit guten Gründen) als verletzt erachtet wird, führt dies zu einem Verstoß gegen den als verfassungsrechtliche Forderung allgemein anerkannten Gesetzesvorbehalt; dann aber ist ein Rückgriff auf den in seiner Reichweite .noch schwerer zu bestimmenden „Wert der schützenden Form" entbehrlich. 515
Etwas anders liegt der Sachverhalt bei den Grundrechten: Diese können durchaus als nicht von der staatlichen Gewalt eingeräumt, sondern als gewissermaßen vorrechtlich existent zugestanden verstanden werden. Dann ist die Annahme eines Mißbrauchs, wie Art. 18 GG ihn nennt, nicht ganz so einfach zu begründen. Nicht erstaunlich ist insoweit, daß Art. 18GG selbst den Mißbrauch durch die Umschreibung „zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung" näher umschreibt und einengt. Damit ist die Vorschrift Ausdruck der „streitbaren Demokratie", vgl. BVerfGE 28, 36, 48; Jarass/Pieroth-7ara55, Art. 18 Rn. 1. Außerhalb dieser Grenzen ist ein sanktionierbarer Mißbrauch dagegen zweifelhaft, was zur Konsequenz hat, daß auch beim Mißbrauch einfachgesetzlicher Ausprägungen eines Grundrechts die Mißbrauchssanktion nicht dazu führen darf, daß das Grundrecht völlig verloren geht. 516 Vgl. allgemein zum Spannungsverhältnis von Form, Formalismus und Zweck (dort unter dem Schlagwort der Funktionalität) Schlüchter, in: Wolter (Hg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, 205 ff. Schlüchter definiert hier u.a. die Form auf der Basis eines philosophie-geschichtlichen Abrisses als die innere Kraft, die Materie zu Seiendem macht, und damit als die sich aus dem Wesen eines Seienden ergebende Gesetzlichkeit. Alleine daraus ergibt sich jedoch im Zusammenhang mit den hier bislang gefundenen Ergebnissen, daß auch die Form mißbraucht werden kann, wenn sie mit dem Wesen, der inneren Gesetzlichkeit und damit letztlich dem Zweck einer bestimmten förmlichen Vorschrift nicht korrespondiert. Einen ähnlichen Weg verfolgt auch Schlüchter, die der Form eine Funktion zuweist, welche wiederum als Aufgabe für den Gesamtzusammenhang verstanden wird. Diese Funktion kann aber nur erfüllt werden, solange der Einsatz der Form diesem Gesamtzusammenhang, d.h. Erreichung der Ziele des Strafprozesses dient, nicht mehr dagegen, wenn eine einzelne Form unzulässig gegen diese Ziele „ausgereizt" wird. 517 Vgl. o. 2. Teil Β II 3 c cc, S. 153 ff.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
c) Auf die relativen Grenzen eines Mißbrauchsverbots, d.h. also auf die Frage, ob in einem bestimmten Verhalten ein sanktionsfähiger Mißbrauch gesehen werden kann, haben die bewußt strenge Formalisierung und der Schutzcharakter der Formen durchaus Einfluß. Um die bestehenden Rechte und die Betonung der Formstrenge nicht zu konterkarieren, ist eine Beschränkung auf extreme Fälle erforderlich, da nur in diesen bessere Argumente für eine Ausnahme als für die Einhaltung der Regel sprechen. Bei der Frage der Zweckwidrigkeit (vgl. dazu näher sogleich III) ist dann nämlich zu berücksichtigen, daß die prozessualen Befugnisse und Formen dem Angeklagten durchaus auch dazu eingeräumt werden, daß er sich effektiv gegen die staatliche Strafverfolgung schützen kann. Mit Blick auf das Rechtserzeugungsmodell (das eine ungeschriebene Mißbrauchsreaktion überhaupt erst verfassungsrechtlich zulässig erscheinen läßt 518 ) müßte man daher fragen, ob sich eine Mißbrauchsreaktion einem Normtext zurechnen läßt, wenn dieser eine Reihe andere Konkretisierungselemente den Wert der schützenden Form in den Mittelpunkt rücken. Deshalb kann insbesondere eine Argumentation mit dem „Blick aufs Ganze" alleine nicht genügen, wenn der Blick auf die konkrete Norm gerade zeigt, daß eine Form einzuhalten ist bzw. daß sich aus ihrer Einhaltung eine bestimmte Rechtsfolge ergibt. Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten, daß auch der Schutzcharakter formaler Verfahrensgewährleistungen nicht notwendig ausschließt, ihre Ausübung einer Mißbrauchskontrolle zu unterwerfen. Bei der Anwendung im konkreten Fall ist jedoch zu berücksichtigen, daß es gerade Zweck der Gewährleistungen ist, daß der Angeklagte sich mit ihnen gegen die staatliche Strafverfolgung schützt; dies freilich nur durch den damit ermöglichten Einfluß auf das Verfahrensergebnis, nicht dagegen durch eine Boykottierung des Verfahrens. Ergänzend sei im Zusammenhang mit der „schützenden Form" auf einen anderen Gesichtspunkt bereits kurz hingewiesen:519 Nicht zuletzt mit dem Argument des angeblichen Mißbrauchs (und den daraus resultierenden Verfahrensverlängerungen und Überlastungen der Gerichte) wurden prozessuale Formen gelockert bzw. Angeklagtenrechte eingeschränkt: 520 Weitere Maßnahmen werden de lege ferenda diskutiert. 521 Dies führt aber dazu, daß für jeden Beschuldigten Rechtsverluste auftreten, die jeweils für sich gesehen (und wohl noch auch in ihrer Gesamtheit) zwar verfassungs rechtlich hinnehmbar, rechtspolitisch und -kulturell aber zumindest angreifbar erscheinen. Dieser Abbau der Form (zumindest aber seine politische Rechtfertigung mit der Mißbrauchsgefahr) könnte mit der Stärkung einer spezifischen Mißbrauchsabwehr verringert 518 519 520 521
Vgl. dazu oben 2. Teil Β II 3 c cc (2) und (3), S. 385 ff. Vgl. dazu auch unten 4. Teil, S. 356 ff. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Scheffler, GA 1995, 449,453 ff. Zur Reformdiskussion vgl. m.w.N. unten 4. Teil II, S. 344 ff.
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werden, die erst bei den Fällen ansetzt, in denen ein Mißbrauch festgestellt wird (und die damit den vermeintlichen Handlungsbedarf überhaupt schaffen). Es erscheint gerade im Interesse der weitestgehenden Beibehaltung der „schützenden Formen" vorzugswürdiger, wenn diese Formen in Einzelfällen, in denen sie ohnehin mißbraucht werden, „korrigiert" werden können, als wenn sie gleichsam prophylaktisch auf breiter Ebene ganz abgebaut werden. 522
I I I . Zum Inhalt eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots Mißbrauchsverbot und Ziel des Strafverfahrens Im bisherigen Verlauf der Untersuchung hat sich der Gesichtspunkt der „Zweckwidrigkeit" als wesentlichstes Kriterium zur Bestimmung von (strafprozessualem) Mißbrauch erwiesen. Da zu der damit aufgeworfenen Zweckfrage inhaltlich im allgemeinen methodentheoretischen Teil naturgemäß keine und in der verfassungsrechtlichen Betrachtung nur recht grobe Hinweise gefunden werden konnten, muß ihre Beantwortung vorrangig unter speziell strafprozessualen Gesichtspunkten erfolgen. 523
7. Bezugspunkt des Zweckwidrigkeitsurteils a) Will man die Zweckwidrigkeit näher untersuchen und mit speziellen strafprozessualen Wertungen auffüllen, ist zunächst zu klären, was genau Bezugspunkt der Zweckwidrigkeitsprüfung ist. Im vorliegenden Kontext sind nämlich drei „Zwecke" zu unterscheiden, die sich durchaus unterschiedlich entwickeln können: der Zweck des Strafverfahrens (als Institution), der Zweck des Strafverfahrensrec/ite (insgesamt) und der Zweck der einzelnen strafverfahrensrechtlichen Norm. Bezugspunkt einer konkreten Mißbrauchsprüfung (wie sie im 3. Teil der Arbeit für bestimmte Befugnisse in konkreten Konstellationen erfolgen wird) muß der Zweck der einzelnen Norm sein: Im Verhältnis zum Strafverfahrensrecht insgesamt ergibt sich das bereits aus dem Grundsatz vom Vorrang der lex spe522
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Nagler, in: Strafverteidigervereinigungen (Hg.), Aktuelles Verfassungsrecht und Strafverteidigung, Tagungsband zum 20. Strafverteidigertag, 1996, 29, 30, der in seiner Begrüßungsansprache zum 20. Strafverteidigertag 1996 konstatierte, daß mittlerweile nicht mehr die Mißbrauchs-, sondern die Gebrauchsmöglichkeit von Rechten als zu teuer in die politische Diskussion gerät. 523 Zur Bedeutung der strafprozessualen Verfahrensziele für die Mißbrauchsfrage vgl. auch knapp Kröpil, JZ 1998, 135 f., bei dem freilich die folgende Differenzierung zwischen Zielen des Prozesses als Institution und des Prozeßrechts als Bezugspunkt des Zweckwidrigkeitsurteils nicht gesehen wird.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
cialis; aber auch im Verhältnis zum Zweck des Strafverfahrens als Institution kann dieses Ergebnis nicht zweifelhaft sein: Zunächst wird ja gerade nicht geprüft, ob „das Strafverfahren als Institution" oder „das komplette Verfahrensrecht" mißbraucht werden, sondern ob eine ganz konkrete Befugnis zweckwidrig eingesetzt wird. Des weiteren könnte auch die Rechtsfolge eines festgestellten Mißbrauchs niemals das ganze Strafverfahren(srecht), sondern jeweils nur eine spezielle Befugnis(ausübung) betreffen. Schließlich liegt auch auf der Hand, daß kein Mißbrauch darin gesehen werden kann, wenn eine Norm gerade zu dem mit ihr vom Gesetzgeber verfolgten Zweck eingesetzt wird, selbst wenn dieser Zweck das Verfahren insgesamt hemmt. b) Dieser Vorrang des Zwecks der einzelnen Norm führt abstrakt betrachtet zu folgender Differenzierung: -
Soweit der Zweck einzelner Befugnisse des Verfahrensrechts auch den Zwecken des Verfahrens dienen soll, ergibt sich keine unterschiedliche Bewertung und damit kein Problem: Widerspricht eine Befugnisausübung den Verfahrenszwecken, widerspricht sie zugleich auch den Zwecken der gleichgerichteten Normen und kann möglicherweise ein Mißbrauchsurteil begründen. So soll z.B. das Beweisantragsrecht dem Angeklagten ermöglichen, auf die zur Wahrheitsfindung führende Sachverhaltserforschung Einfluß zu nehmen und damit auch dem Zweck des Verfahrens als Institution (vgl. dazu näher unten 2.b);524 werden nun Beweisanträge nur zur Verfahrenssabotage oder als Druckmittel verwendet, ohne daß die Tatsachengrundlage für die Urteilsfindung irgendwie beeinflußt werden soll, widerspricht ein solches Vorgehen sowohl dem Verfahrenszweck als auch dem Zweck der entsprechenden Norm des Verfahrensrechts. 525
-
Soweit dagegen Zwecke einzelner Befugnisse des Verfahrensrechts nicht auch denen des Verfahrens zugute kommen, kann ein Mißbrauch selbstverständlich nicht schon wegen des Nichtübereinstimmens mit den Verfahrenszwecken angenommen werden. Vielmehr ist der Zweck der Einzelvorschrift als speziellerer zu beachten, zumal entsprechende Vorschriften zumeist gerade geschaffen worden sind, um die Belastungen durch den Prozeß in einem angemessenen Rahmen zu halten. Zwar erschiene es durchaus nahelie-
524
Hierbei ist zu betonen, daß dies auch dann gilt, wenn es dem Angeklagten gar nicht darum geht, positiv zur Aufklärung des Sachverhalts beizutragen, sondern nur die sonst drohende Überzeugungsfindung des Gerichts zu irritieren und so zu einem „non liquet" beizutragen (das ihm über den Grundsatz in dubio pro reo entgegenkommt). Es ist eben gerade nicht nur Zweck des Verfahrens, eine Straftat nachzuweisen, sondern - positiv wie negativ - festzustellen, ob dieser Nachweis (prozeßordnungsgemäß) gelingen kann. 525 Die Befugnis, Beweisanträge zu stellen, ist als solche freilich explizit nicht in der StPO geregelt, sondern ergibt sich mittelbar z.B. aus den Vorschriften der §§ 244III246 StPO.
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gend, bei diesen Vorschriften eine funktionale Bindung derart anzunehmen, daß die Beeinträchtigung des Verfahrenszwecks nur dann hinzunehmen ist, wenn wenigstens der Zweck der Einzelnorm erreicht wird; indes ist hinsichtlich solcher Verfahrensrechte ein zweckwidriger Einsatz nur schwer vorstellbar. Soweit beispielsweise die Aussageverweigerungsrechte von Beschuldigten oder Zeugen dazu führen, daß die Sachaufklärung und damit die Wahrheitsfindung beeinträchtigt werden, kann im Berufen darauf kein Mißbrauch liegen, da es gerade dem Zweck der entsprechenden Verweigerungsrechte dient, die (z.B. Persönlichkeits-) Rechte der Betroffenen zu schützen. Eine Zweckwidrigkeit auch hinsichtlich des einzelnen Normzwecks wäre allenfalls denkbar, wenn der Beschuldigte eine Äußerung aus völlig sachfremden Zwecken verweigert. Allerdings ist dies praktisch schwer vorstellbar, da Beschuldigten das Aussageverweigerungsrecht zu ihrer freien Entscheidung zugestanden wird, und sich sein Zweck letztlich darin erschöpft, daß der Beschuldigte nicht auszusagen braucht, wenn er nicht möchte. Diese Unterscheidung ist nicht nur für die Frage von Bedeutung, ob im konkreten Fall ein Mißbrauch anzunehmen ist oder nicht, sondern grenzt auch die vor allem mißbrauchsanfälligen Rechte ein. Es sind dies - wie auch in den einführenden Beispielen aus der Rechtsprechung deutlich wurde 526 - vor allem Äußerungs- und Antragsrechte, die dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger zur aktiven Teilnahme am Prozeß eingeräumt werden und die auch unmittelbare Auswirkungen auf andere Prozeßbeteiligte (etwa den befragten Zeugen, den die Beweisaufnahme durchführenden oder den abgelehnten Richter etc.) haben: Zwar dienen auch diese in gewisser Weise dem Schutz des Angeklagten; jedoch gewährt das Gesetz in diesen Fällen den Schutz gerade durch eine inhaltliche Teilhabe am Prozeß, die den Zielen des Prozesses als Institution gleichgerichtet ist. Im hier verstandenen Sinne nicht mißbrauchsanfällig sind dagegen solche Rechte, die dem Angeklagten (oder anderen Verfahrensbeteiligten) als rein passive Abwehrrechte zustehen: dies sind zum einen bereits im Ermittlungsverfahren die grundrechtlichen Sicherungen gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, zum anderen alle Rechtspositionen die ihre Wurzel im nemo-tenetur-Grundsatz527 haben und dazu führen, daß der Angeklagte selbst nichts aktiv zu seiner Überführung beitragen muß. Diese weitgehende Beschränkung der durch eine Mißbrauchsreaktion betroffenen Rechte führt auch dazu, daß die hier zugelassene Heranziehung des ungeschriebenen Mißbrauchsverbots im Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts rechtsstaatlich weniger bedenklich ist, als sie manchem Betrachter auf den ersten Blick erscheinen mochte. c) Andererseits kann nicht übersehen werden, daß dieser Zweck der Einzelnorm - zwar nicht ausschließlich, aber in nicht zu vernachlässigendem Maße auch aus ihrer Funktion für das „Ganze", also für die mit dem Strafprozeß als 526
Vgl. oben 1. Teil I 3, S. 25 und III 3, S. 45 ff. Zum nemo-tenetur-Grundsatz vgl. knapp etwa Kleinknecht/Meyer-Goßner Rn. 29a; umfangreicher aus neuester Zeit vgl. Verrei , NStZ 1997, 361 ff., 415 ff. 527
Einl.
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Institution verfolgten Ziele abhängt.528 Wenngleich also das Mißbrauchsurteil für jede einzelne Befugnis im konkreten Einzelfall begründet werden muß, sind allgemeine Zielvorgaben für den Strafprozeß in zweierlei Hinsicht von Interesse: zum einen können sie es erleichtern, den Zweck von Einzelvorschriften zu ermitteln; zum anderen könnten sich aus der Frage nach dem Ziel des Strafverfahrens als solchem auch gewisse Gesichtspunkte ergeben, die bei der Zweckbestimmung bzw. dem Mißbrauchsurteil allgemein zu beachten sind. Die Kenntnis des Verfahrensziels ist im übrigen auch Voraussetzung für das Verständnis der Zwecke des Verfahrensrec/tfs (in seiner Gesamtheit), da dieses keinen Selbstzweck verfolgt, sondern eine gleichsam akzessorische Größe zum Strafverfahren als geregeltem Gegenstand darstellt. d) Zuletzt sollte man sich bereits an dieser Stelle vergegenwärtigen, daß es streng genommen nicht ganz zutreffend sein wird, von „dem Ziel des Strafprozesses" zu sprechen. Bereits vor der näheren Untersuchung liegt nahe, daß sich einer komplexen und dynamischen Einrichtung wie dem Strafverfahren zwanglos mehrere Funktionen und Ziele zuordnen lassen.529 Diese müssen einander zwar nicht zwangsläufig widersprechen; gleichwohl ist es natürlich von Bedeutung, ob und gegebenenfalls worin man ein „eigentliches" oder Hauptziel erkennen kann (da dieses in einem Konfliktfall jedenfalls vorrangig zu berücksichtigen wäre), ob sich gleichrangige „Zwischenziele" formulieren lassen (die dann jeweils nach ihrer größeren Sachnähe zur in Frage stehenden Befugnis ausschlaggebend sind) oder ob die Auflösung von Zielkonflikten in jedem einzelnen Fall im Mittelpunkt steht. Da somit alle hier interessierenden · Fragen zumindest auf dem Ziel des Strafverfahrens (als Institution) aufbauen, erscheint es auf dieser letzten „allgemeinen Ebene" sinnvoll, zunächst die wichtigsten in diesem Zusammen-
528 Vgl. hierzu auch Kröpil, JR 1007, 316, 316: „Mißbrauch liegt vor, wenn eine strafprozessuale Befugnis nicht verfahrenszielkonform eingesetzt wird." Vgl. zur „Zielbestimmung im Strafprozeß und ihre interpretatori sehe Rückwirkung auf die rechtlichen Befugnisse der Verfahrensbeteiligten" auch Tiedemann, in: Wasserburg/Haddenhorst, Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren, Festgabe für Karl Peters, 1984, 131, 140 ff, 142. So verstanden (und nicht im Sinne einer generellen und pauschalen Unterordnung der einzelnen Norm unter einen vermeintlichen Gesamtzusammenhang) ist es auch berechtigt, davon zu sprechen, daß einzelne Elemente des Verfahrensrecht „ihre Aufgabe (sc. erfüllen), wenn und solange sie dem Zweck des Prozesses, also dazu dienen, die verschiedenen Prozeßziele (...) miteinander zu harmonisieren.", vgl. Schlüchter, Wert der Form im Strafprozeß, in: Wolter (Hg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, 205, 218. 529 Vgl. nur Kleinknecht/Meyer-Goßner, Einl. Rn. 4, wo - mehrere der hier im Folgenden dargestellten Verfahrensziele zusammenfassend - das Ziel des Strafprozesses als die Schaffung von Rechtsfrieden auf dem Wege des gewissenhaften Strebens (welches die Wahrheitsfindung voraussetzt) nach Gerechtigkeit bezeichnet sind.
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
203
hang üblicherweise genannten Ziele kurz darzustellen 530 (vgl. sogleich 2.), bevor das Verhältnis dieser denkbaren Ziele untereinander sowie die Problematik von Zielen, Zwischenzielen und Zielkonflikten erörtert wird (vgl. zuletzt 3.). Eine noch genauere Betrachtung der einzelnen Normzwecke schließlich bleibt der Bewertung von Einzelfällen vorbehalten (vgl. dazu vor allem 3. Teil, S. 258 ff.). Dabei liegt auf der Hand, daß das Problem des Prozeßzwecks als eines „der am meisten diskutierten und gleichwohl am wenigsten gelösten" der Prozeßrechtslehre 531 hier nicht in einer Art Vorüberlegung gelöst werden kann. Insbesondere da die StPO selbst zu dieser Frage schweigt und die Antwort aufgrund anderer, allgemeinerer Prinzipien gefunden werden muß, erfolgt die Behandlung vor allem solcher Aspekte, die für das vorliegende Thema von Interesse sind. Eine ausführlichere Begründung wird nur an den Stellen erfolgen, an denen - soweit ersichtlich - noch nicht diskutierte Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Ideen hergestellt bzw. wo eigene Gedanken entwickelt werden sollen.
2. Einzelne Zielvorgaben a) Strafprozeß und materielles Strafrecht Der Strafprozeß stellt zwar für die meisten Bürger den intensivsten und den eigentlich „erfahrbaren" Kontakt mit der Strafrechtspflege dar; innerhalb dieser steht er allerdings nicht alleine, sondern ist stets im Zusammenhang mit dem materiellen Strafrecht zu sehen. In welchem Verhältnis Strafprozeßrecht und materielles Recht hierbei zueinander stehen, ist nicht ohne weiteres zu beantworten und hängt in beträchtlichem Maße davon ab, wie allgemein das Verhältnis zwischen Prozeß (-recht) und materiellem Recht verstanden werden. Zu dieser Frage findet sich in der allgemeinen Prozeßrechtslehre ein breites Spektrum von denkbaren Antworten: aa) Auf der einen Seite stehen die von Volk als „.Einheitstendenzen" oder „integrierende Behandlungen" bezeichneten Positionen.532 Diese gehen angesichts der Unschärfe des Rechts533 und der Fortentwicklung der Rechtsprechung davon aus, daß der Prozeß nicht dazu dient, nur ein „von vornherein festste530 Vgl. als Überblick zu den üblicherweise genannten Zielen neben den in den folgenden Fußnoten genannten Einzelnachweisen die zusammenfassenden Darstelllungen bei Volk, 173 ff. und Weigend, 173 ff. 531 Vgl. Volk, 173, mit Hinweise auf Röding. 532 Vgl. Volk, 174. 533 Vgl. hierzu Pawlowski , ZZP80 (1967), 345, 363. Bezeichnenderweise wird gerade in den zu rechtlichen Konflikten führenden Problemfällen diese Unschärfe besonders deutlich.
204
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
hendes, materielles (sc. Recht) (...) zu verwirklichen", sondern daß im Prozeß erst „das Recht - das subjektive und das objektive Recht bestimmt wird: Das Recht, das ohne den Prozeß und das Urteil unbestimmt und nur subjektiv (in verschiedener Weise) bewußt und damit objektiv (allgemein) unbewußt bleiben würde." 534 Dadurch wird eine engstmögliche Einheit von materiellem Recht und Prozeß geschaffen, da dem Prozeß nicht nur eine „dienende Funktion" bei der Verwirklichung des materiellen Rechts zukommt, sondern das materielle Recht auch als Sollensordnung erst im Prozeß tatsächlich realisiert wird. Hier ist eine gewisse Parallele zum Rechtserzeugungsmodell zu sehen, das im methodentheoretischen Teil erörtert wurde. Auch dieses geht ja davon aus, daß das Recht in Form der Entscheidungsnorm erst normtextorientiert in der Einzelentscheidung konkretisiert wird. 535 Ein wesentlicher Unterschied ist dabei jedoch, daß diese Konkretisierung zwar praktisch häufig, jedoch nicht denknotwendig im Prozeß, sondern allgemein bei der Rechtsanwendung erfolgt. Was „Recht ist" ergibt sich also nicht etwa durch das dynamische Prozeßgeschehen und das Urteil, sondern ist davon völlig unabhängig durch methodengeleitete Arbeit am Gesetzestext feststellbar, weswegen auch ein Urteil, das die methodischen Vorgaben nicht einhält, durchaus als falsch bzw. „nicht Recht" beurteilt werden kann. Zumindest in dieser extremen Form 536 kann ein Einheitsmodell, das in seiner Konsequenz die generelle Geltung des materiellen Rechts beseitigt, nicht überzeugen. Wie Volk zutreffend formuliert, ist der „konkrete Rechtssatz, dessen der Richter zu Entscheidung bedarf, (...) nicht schon dadurch legitimiert, daß er konkret ist. Die Konkretisierung muß »richtig« sein". 537 Das einem extremen Einheitsmodell als Ausweg aus einem Kreisschluß verbleibende Vertrauen in die Vernunft und Redlichkeit der Parteien, die sich in dialektischer Manier einigen werden, 538 ist - von den Schwierigkeiten seiner Anwendung im Strafverfahren abgesehen - einer generellen und objektiven Geltung des materiellen Rechts sicher unterlegen. 539 Ein Einheitsmodell, nach dem erst im Strafprozeß
534
Vgl. Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345, 368. Vgl. dazu oben 2. Teil A III 2, S. 104 ff. 536 Ob man Pawlowski - wie Volk, 174 ff., es offenbar tut - eine solche extreme Ansicht zuschreiben darf, ist trotz seiner teilweise in diese Richtung tendierenden Formulierungen allerdings zweifelhaft, da sein Ausgangspunkt in der Frage der Rechtsfortbildung liegt; zwar sind auch hier die Ergebnisse eines extrem verstandenen Einheitsmodells zweifelhaft, vgl. dazu auch Volk, 176 f., jedoch weniger irritierend als im Bereich gesetzlicher Regelungen. 537 Volk, 176. 538 Vgl. Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345, 388 f. So zu Recht Volk, 177. Dabei spielt es für diese Bewertung keine Rolle, ob diese generelle Geltung im traditionell deduktiven Schema oder im Sinne einer Vorgabe für eine normtextorientierte Konkretisierung im Sinne Müllers verstanden wird. 535
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
205
entschieden wird, was als (Straf-) Recht gelten soll, ist somit nicht überzeugend. bb) In ihrem Ausgangspunkt diametral entgegengesetzt, in den Konsequenzen aber zumindest hinsichtlich der eingeschränkten Bedeutung des materiellen Rechts als objektivem Recht erstaunlich angenähert zeigen sich solche „Trennungstendenzen" 540, nach denen der Zweck des Prozesses vom materiellen Recht letztlich unabhängig ist und der Richter im Prozeß „über dem Recht und also außerhalb desselben" steht.541 Diese vor allem von Goldschmidt entwikkelte Ansicht fußt wesentlich auf der gedanklichen Trennung von materiellen Recht und Verfahren und geht davon aus, daß es im Prozeß keine rechtlichen Ansprüche, sondern nur Aussichten auf prozessuale Erfolge gibt, so daß der Prozeßausgang auch kein Abbild der materiell-rechtlichen Ordnung, sondern das davon prinzipiell unabhängige Ergebnis des Richterspruches ist. 542 Ziel eines solchen Prozesses kann mithin nur sein, daß es überhaupt zu einer solchen Ordnung durch Richterspruch kommt, mithin also der Eintritt der Rechts kraft. 543 Kritisiert man nun an dieser Ansicht das „ethische Vakuum" 544 , so trifft dies Goldschmidts Modell nur peripher, da er selbst es vor allem auf den Prozeß im „empirischen, nicht im metaphysischen Sinne" angewendet wissen will; 5 4 5 mit Blick auf die Frage des Zwecks bleibt Goldschmidts Ansatz allerdings gerade wegen seiner vollkommenen Beschränkung auf innerprozessuale Argumente letztlich weitgehend folgen- und aussagelos, da es an einer Begründung fehlt, welchen über den Prozeßverlauf hinausgehenden Zweck die Rechtskraft erfüllen soll. 546 Dementsprechend wäre jede prozessuale Ordnung, an deren Ende ein rechtskräftiges Urteil steht, mehr oder weniger äquivalent. Ebenfalls eine beschreibende und vom materiellen Recht streng getrennte, aber über die Rechtskraft als rein innerprozessuales Ereignis hinausgehende Betrachtung des Prozesses entwickelt Luhmann: er beschränkt den Sinn des
540
So der Begriff bei Volk, 177, der im übrigen ebenfalls zu einer Bewertung kommt, nach der die Ergebnisse der „geradezu entgegengesetzten Theorien" sich wieder stark annähern. 541 Vgl. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, 246. 542 Vgl. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, insb. 246 ff. Vgl. hierzu auch Weigend, 198, der zutreffend darauf hinweist, daß Goldschmidt damit wichtige Ergebnisse der neueren Rechtssoziologie vorwegnimmt (vgl. etwa zur sozialen Funktion des Prozesses als Institution Hagen, Elemente einer allgemeinen Prozeßlehre, 1972,46 ff.). 543 Vgl. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, etwa 151 und öfters. 544 Vgl. zum Begriff Weigend, 198; Kritik findet sich etwa bei Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, 1950, 11 f. und Sax, ZZP 67 (1954), 21, 34. 545 Vgl. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, 150 f. 546 Ähnlich Volk, 178 f.; Weigend, 199, der ganz zutreffend darauf hinweist, daß es jedenfalls für den Prozeß als Institution sinnlos wäre, davon zu sprechen, daß der Staat Prozesse führt, um rechtskräftige Urteile herbeizuführen.
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
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Prozesses nicht auf die Herbeiführung von Rechtskraft, sondern postuliert eine „Legitimation durch Verfahren". Das Urteil - das bei Goldschmidt noch durch den Machtspruch des Richters begründet wird - muß durch das Verfahren so vorbereitet und abgesichert werden, daß die durch den Prozeßausgang benachteiligten Beteiligten in ihrer Unzufriedenheit mit der Entscheidung sozial isoliert und ihre Proteste „zersplittert und absorbiert" werden. 547 Durch diesen über eine rein innerprozessuale Sichtweise hinausgehenden Ansatz lassen sich zwar einige unbestimmte Vorgaben für den Prozeß entnehmen. So muß dieser so ausgestaltet sein, daß - zumindest empirisch-soziologisch, weniger normativ 548 eine Legitimation des Verfahrensergebnisses eintreten kann, was auch für das Mißbrauchsurteil von Bedeutung sein kann: zum einen muß auch dieses einem entsprechenden Legitimationsanspruch genügen, zum anderen kann es u.U. sogar geboten sein, um die fehlende Legitimation bei einem offensichtlich zweckwidrigen Einsatz von prozessualen Befugnissen zu verhindern. Andererseits sollte bei der hier vorgenommenen Entwicklung einer rechtlich-normativen Begründung des Mißbrauchsverbots dieser Gesichtspunkt keinesfalls überbetont, sondern allenfalls als Reflex einer auch aus rechtlichen Gründen gebotenen Rationalisierung und Begründung des Mißbrauchsurteils verstanden werden. So gilt auch für die Prozeßzielfrage unter Mißbrauchsgesichtspunkten, was Weigend allgemein zu Luhmanns (empirisch-soziologisch überaus wertvollem) Modell feststellt: es ist weniger „als Zielvorgabe für ein bestehendes (...) Gerichtsverfahren" als vielmehr als Beschreibung von „dessen - bei Vorliegen bestimmter Bedingungen - unausweichlicher Konsequenz" einzuord 549
nen. cc) Normative Zielvorgaben für den Strafprozeß erlauben also weder ein System der vollständigen Verschmelzung noch der rigorosen Trennung zwischen Prozeß und materiellem Recht. Strafprozeßrecht und materielles Recht sind vielmehr als zwar eigenständige, aber zusammenwirkende Rechtsmaterien zu betrachten, wobei das Prozeßrecht insbesondere den Geltungsanspruch des materiellen Recht unterstützen muß: 550 Die abstrakten Verbote, die das materielle Strafrecht dem Bürger gegenüber aufstellt, 551 hätten keine über bloße ethische Grundsätze hinausgehende Wirkung, wenn die angedrohten Strafen nicht
547
Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1978, 114 ff. Auf diese Beschränkung auf eine funktionale Analyse unter Verzicht auf eine normative Ableitung des Verfahrens weist Luhmann (u.a. auch als Reaktion auf entsprechende Kritik) selbst hin, vgl. Legitimation durch Verfahren, 1978, 6 f. 549 Vgl. Weigend, 203 f. Vgl. auch Volk, der zwar auf S. 192 betont, daß das Prozeßrecht „nicht untergeordnet" sei, auf S. 201 gleichwohl seinen „instrumentalen Charakter" anerkennt. 551 Es dürfte unstreitig sein, daß aus den Strafrechtsnormen nicht nur konditionale Verknüpfungen zwischen Handlungen und Rechtsfolgen, sondern auch Verbote erwachsen. 548
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
207
vollstreckt würden, 552 wovor wiederum ein strafprozessuales Erkenntnisverfahren stattfinden muß. Somit ist also eine Hauptfunktion des Strafverfahrens die Durchsetzung des materiellen Straf rechts. 5* Terminologisch (aber u.U. auch mit Blick auf zumindest unterschwellige Folgerungen aus einer solchen Terminologie) ist dabei darauf hinzuweisen, daß der häufig verwendete Topos der Durchsetzung des „staatlichen Strafanspruchs" ein etwas schiefes Bild zeichnet; dadurch würden (zivilistisch geprägte) „Dichotomien in das Strafrecht transplantiert", wie „subjektives Recht und objektives Recht" oder „privates Interesse und öffentliches Interesse", die für das Strafrecht eher schädlich als förderlich sei könnten.554 Es geht mithin weniger um die Durchsetzung eines subjektiven Anspruchs gegenüber dem Täter als vielmehr ausschließlich um die Verwirklichung des materiellen Strafrechts in einem rechtsstaatlich geordneten Verfahren. 555
552
Ein Zusammenhang, der übrigens schon vor weit über 2000 Jahren von Kritias, dem Onkel Piatons und Führer der „Dreißig Tyrannen", treffend erkannt und beschrieben wird, wenn er davon spricht, daß zunächst nur moralische Vorgaben bestanden, diese aber nicht eingehalten und deshalb gesetzlich sanktioniert und mittels Strafandrohung durchgesetzt wurden. (Kulturgeschichtlich interessanter ist freilich der weitere Gedankengang des Kritias, daß ein geschickter Staatsmann erkannt habe, daß die besten Gesetzes nichts nützen, wenn sie heimlich übertreten werden, und deshalb als Instanz, die Übertretungen auch dann bemerkt und ahndet, die Götter „erfunden" habe). Vgl. Diels, Die Vorsokratiker, 1934, Kritias Fragment 25. 553 Vgl. BVerfGE 20, 45, 49 („Feststellung und Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs"); Tiedemann in Roxin/Arzt/Tiedemann, C I 1, 129; Rudolphi, ZRP 1976, 165; ähnlich auch Rüping/Dornseifer, JZ 1977, 417. A.A. insoweit Paulus, Meyer-GS, S. 309, 314, der dies nur als Gebot der Strafnormen selbst sieht (allerdings diese Ansicht im folgenden selbst wieder relativiert). Wenn Paulus (a.a.O., S. 315) das Ziel des Strafverfahrens „vielmehr prozeßspezifisch, vom materiellen Recht also unabhängig" (...) als „die justizförmige Entscheidung" formulieren möchte (Hervorhebungen dort, H.K.), so ist dies zwar in gewisser Hinsicht zutreffend, vernachlässigt aber die hier bereits angedeutete und sich im folgenden als durchaus bedeutsam erweisende Unterscheidung zwischen Zielen des Strafverfahrens als Intistution und des Prozeßrechts. 554 Vgl. Volk, 183 f.; ebenso Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 1974, 11, der diese Bezeichnung (anders als für das Zivilprozeßrecht, vgl. dazu 1 f., insb. 5 f.) im Strafprozeßrecht ebenfalls für verfehlt hält. Obwohl diesen (terminologischen) Bedenken grundsätzlich zuzustimmen ist und das deutsche Strafverfahren im eng verstandenen Sinne keinen Parteienprozeß darstellt, ist allerdings auch zu berücksichtigen, daß das die Strafrechtsordnung selbst teilweise davon ausgeht, daß sich der Staat und der Angeklagte ähnlich wie „Parteien" gegenüber stehen: so muß der Täter bei der Rechtsbeugung nach § 336 StGB „zugunsten oder zum Nachteil einer Partei" handeln, und es ist unstreitig, daß die Annahme einer Rechtsbeugung grundsätzlich auch bei einer Entscheidung im Strafverfahren in Betracht kommt. 555 Diese Verwirklichung ist also nicht nur in dem Sinne zu verstehen, daß ein entsprechendes Verfahren Voraussetzung für die Verhängung einer verwirkten Strafe ist, da diese Feststellung nicht über den (zwar keineswegs trivialen, aber für den Zweck des Prozesses unergiebigen) Satz hinausgehen würde, daß Strafen nur aufgrund eines Strafverfahrens verhängt werden dürfen. Entscheidend ist vielmehr tatsächlich, daß das Strafrecht immer dann verwirklicht wird, „wenn die ihm zugrunde liegenden Ge- und
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
Der Annahme eines Prozeßzwecks „Verwirklichung des materiellen Strafrechts" kann auch nicht entgegengehalten werden, daß es in manchen Fällen zu Freisprüchen (bzw. zur Nichtanwendung des Strafrechts 556) kommt. Eine Verwirklichung des materiellen Rechts liegt - von der durch den Prozeß noch verstärkten Präventivfunktion einmal ganz abgesehen557 - ja auch dann vor, „wenn es seine Garantiefunktion zugunsten des Angeklagten entfaltet und ihm bei nicht nachgewiesener Schuld zum Freispruch verhilft" 558 . Ebenso spricht die Möglichkeit von Fehlurteilen nicht gegen den Verwirklichungsgedanken,5 9 da eine Zieldefinition nicht dadurch falsifiziert wird, daß ihr Ziel in „pathologischen Ausnahmefällen", die unstreitig an sich vermieden werden sollen, nicht erfüllt wird. 560 Vielmehr spricht bereits die Bewertung als Fehlurteil bei Nichtübereinstimmung des Urteils mit den Vorgaben des materiellen Rechts, daß dessen Verwirklichung „eigentlich" angestrebt wird und damit (ein) Prozeßziel ist. Diese Zweckbestimmung, die nur an das materielle Strafrecht angelehnt wird, könnte sich allerdings für die vorliegende Untersuchung als unzureichend herausstellen, da aus ihr alleine noch nicht klar genug hervorgeht, auf welche Weise und bis zu welcher Grenze die Durchsetzung des materiellen Strafrechts erfolgen soll: Zwar liegt jedem Strafverfahren tatsächlich ein eindeutiger und klar abgrenzbarer Lebenssachverhalt zugrunde, auf den im Rahmen des Strafprozesses das materielle Strafrecht angewandt werden könnte; allerdings besteht für die Prozeßbeteiligten häufig Ungewißheit darüber, was sich wirklich abgespielt hat und demnach zur Grundlage der rechtlichen Beurteilung gemacht werden darf. Die Frage nach dem Ziel des Strafprozesses muß deshalb z.B. auch eine Antwort darauf geben, welcher Sachverhalt einer materiellrechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden muß oder in welchem Umfang zur Ermittlung dieses Sachverhalts in die Rechte der Betroffenen eingegriffen werden darf. 561
Verbote beachtet werden, wenn aufgrund seiner sittenbildend-generalpräventiven Kraft pönalisierte Rechtsverstöße unterbleiben. Seine Verwirklichung erfolgt also nur in letzter Linie im Strafprozeß, nämlich erst dann, wenn seine primären Mittel der Überzeugungsbildung und der Gewöhnung versagt haben", vgl. Weigend, 193 f. Ganz ähnlich Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 1974, 1, 2 (allgemein), 11 (speziell für das Strafverfahren). 556 So aber z.B. Hagen, Elemente einer allgemeinen Prozeßlehre, 1972, 107 (v.a. für Fälle, in denen „der inkriminierte Vorgang dem Beschuldigten nicht zugerechnet werden kann"), der seinerseits vor allem auf die Rechtsfriedensfunktion abstellt. 557 Vgl. dazu auch schon soeben in Fn. 555. 558 Vgl. Weigend, 191. 559 So aber Sax, ZZP 67 (1952), 21, 27 f. 560 Ebenso Weigend, 191. 561 Lehnt man das Ziels des Strafverfahrens an das materielle Strafrecht an, müßte man außerdem - um zum „eigentlichen" Ziel zu gelangen - weitergehend nach dem Ziel des materiellen Strafrechts bzw. des Strafrechts in seiner Gesamtheit fragen. Dieses kann mit dem BVerfG in der Sicherung der elementaren Grundwerte des Gemeinschaftslebens und der Erhaltung des Rechtsfriedens im Rahmen der sozialen Ordnung gesehen werden. Materielles Strafrecht und Strafprozeßrecht fügen sich insoweit zum „Recht der Verbrechensbekämfpung" zusammen, womit sich möglicherweise auch in-
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Als Zwischenergebnis können mit Blick auf das Verhältnis von Strafprozeßrecht und materiellem Strafrecht jedoch folgende Gesichtspunkte festgehalten werden: Dem Zweck des Strafverfahrens als Institution widerspricht die Ausübung von Befugnissen, mit der die Durchsetzung des materiellen Strafrechts verhindert wird. Dies muß nicht notwendig auch dem Zweck der jeweiligen Einzelbefugnis widersprechen, wenn diese eine solche Verhinderung gerade zum Schutz von Individualinteressen in Kauf nimmt; wenn es sich dagegen um eine dem Verfahrensziel gleichgerichtete Befugnis handelt, kann eine solche Ausübung auch ihrem Zweck widersprechen. Des weiteren ist zu beachten, daß eine Verwirklichung des materiellen Strafrechts nur durch einen ordnungsgemäßen Abschluß des Strafverfahrens (mit welchem Ergebnis auch immer, d.h. nicht notwendig mit einer Verurteilung!) gewährleistet wird. Daher widerspricht es auch dem Zweck des Strafverfahrens, wenn durch eine Befugnisausübung dessen Ausgang länger als durch die Befugniseinräumung konkludent in Kauf genommen hinausgezögert wird.
b) Wahrheitsermittlung als Ziel des Strafprozesses aa) Häufig wird als das (bzw. als ein vorrangiges) Ziel des Strafprozesses die Ermittlung der Wahrheit genannt.562 Der Zusammenhang zwischen dieser Aufgabe und der Verwirklichung des materiellen Strafrechts liegt auf der Hand: Durchsetzung des Strafanspruches bedeutet, dann zu bestrafen, wenn tatsächlich eine pönalisierte Handlung erfolgte. Ob dies aber der Fall war, ist gerade eine Frage der zu ermittelnden Wahrheit, wenn man „Wahrheit" als „Übereinstimmung von Vorstellung und Wirklichkeit" versteht. Inwieweit man hier wissenschaftstheoretisch das Finden einer „wirklichen" Wahrheit im Sinne einer Theorie der tatsächlichen Korrespondenz oder - was überzeugender erscheint - stets nur das Erreichen einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit für
teressante strukturelle Übereinstimmungen von materiellem und formellem Strafrecht erklären ließen (zu diesen strukturellen Gemeinsamkeiten vgl. Volk, 188 ff., insb. 191 f.). Zu einer weitergehenden Analyse der Ziele und Funktionsweisen dieses „Verbrechensbekämpfungsrechts" müßte ausführlicher auf den Sinn staatlichen Strafens und die Strafzwecktheorien eingegangen werden, was freilich den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Ein Konsens über die grundsätzliche Sinnhaftigkeit staatlichen Strafens zur Bewährung zumindest der elementaren Anforderungen an ein gedeihliches Zusammenleben wird deshalb an dieser Stelle vorausgesetzt. 562 Vgl. Beulke, Strafprozeßrecht Rn. 3 („Wahrheit und Gerechtigkeit werden dadurch zu Leitprinzipien unseres Verfahrensrechts" - Hervorhebungen dort); vgl. auch Rüping/Dornseifer, JZ 1977, 417; Volk, 183; Weigend, 177; im Ansatzpunkt ähnlich, wenngleich weitergehend Tiedemann in Roxin/Arzt/Tiedemann, C11 (S. 130), der aber ebenfalls die Wahrheitsermittlung als Ziel des Strafprozesses „nach einer weit verbreiteten Ansicht" bezeichnet. 1
Kudlich
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2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
möglich hält,563 spielt in diesem Zusammenhang keine ausschlaggebende Rolle: anzustrebendes Ziel des Strafprozesses muß stets die „Wahrheit" sein, deren Erreichen man für möglich hält. In gewisser Weise relativiert wird der Unterschied zwischen beiden Ansätzen außerdem ohnehin dadurch, daß letztlich der Richter nach der von ihm gefundenen Überzeugung zu entscheiden hat, § 261 StPO. Daß hierbei theoretische Zweifel unberücksichtigt bleiben und ein solches Maß an Sicherheit genügt, dem gegenüber keine vernünftigen Zweifel mehr aufkommen können, entspricht der ganz h.M. in Rechtsprechung und Literatur. 564 Dieses hohen Maß an Wahrscheinlichkeit (und nicht nur ein geringfügiges Überwiegen der Wahrscheinlichkeit in die eine oder andere Richtung) ist es nämlich auch, welches in der Wissenschaftstheorie verbreitet an die Stelle einer Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie gesetzt wird. Eine alleine auf die Wahrheitsermittlung (als Endzweck) gerichtetes Prozeßziel würde dagegen zu kurz greifen, da der Prozeß kein historisches Forschungsvorhaben ist 565 und an seinem Ende keine Verlesung eines Protokolls über den Tathergang, sondern die Verkündung einer Entscheidung steht.566 Die Suche nach Wahrheit erfolgt also nicht wirklich um ihrer selbst willen, sondern als Grundlage für ein gerechtes Urteil oder der im Strafverfahren erstrebten „Beseitigung der Folgen einer Verdachtsituation" 567. Teilweise wird allerdings angezweifelt, ob selbst zu diesem „Zwischenzweck" überhaupt „die ganze Wahrheit" erforscht wird: Krauß führt hierzu aus,568 daß äußere Beschränkungen (etwa Personal- und Zeitmangel), Gerechtigkeitsgesichtspunkte (die zu möglichst gleichförmigen Entscheidungen hinstreben) und nicht jedesmal einzeln überprüfte Prämissen des materiellen Rechts (etwa hinsichtlich der Indétermination des „normalen" Menschen) einer unvoreingenommenen Sachaufklärung im Detail entgegenstünden. bb) Von großem Interesse für die Zielfrage sind ferner solche Beschränkungen des Prozeßziels Wahrheitsfindung, die (nicht im ontologischen oder erkenntnistheoretische Bereich wurzeln, sondern) auch das Maß an „Wahrheit"
563 Vgl. zur „Wahrheit" im Strafprozeß Volk, Wahrheit und materielles Recht im Strafprozeß, 1980, zur vorliegenden Frage v.a. S. 7 ff.; ferner Adomeit, JuS 1972, 628 ff.; Krauß, Das Prinzip der materiellen Wahrheit, in: Grünwald/Miehe/Rudolphi (Hg.), Festschrift für Friedrich Schaffstein, 1975, 411 ff.; Paulus, Prozessuale Wahrheit und Revision, in: Seebode (Hg.), Festschrift für Günter Spendel, 1992, 687 ff.; ausführlich zur Korrespondenztheorie Seilars, Wahrheit und Korrespondenz, in: Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien, 300 ff. Zu „Wahrheitsproblemen im Verfassungsstaat" vgl. außerdem die gleichnamige Schrift von Häberle, 1995. 564 Vgl. nur BGH NStZ 1988, 236; NJW 1988, 3273; NStZ 1990, 402; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 261 Rn. 2. 565 Vgl. Spendel, JuS 1964, 465,466 f.; Volk, 193. 566 Vgl. Weigend, 178; ähnlich aus zivilrechtlicher Sicht Adomeit, JuS 1972, 628, 632, der darauf hinweist, daß die Entscheidung nicht die „Wahrheit" der Rechtsbehauptung des Klägers betrifft, sondern lediglich eine Rechtsfolge anordnet. 567 Vgl. hierzu Weigend, 213. 568 Vgl. zu den folgenden Gedanken Krauß, in: Grünwald/Miehe/Rudolphi/Schreiber (Hg.), Festschrift für Friedrich Schaffstein, 1975,411 ff.
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
betreffen, das „eigentlich" erforscht werden könnte und sollte: So wird im Strafprozeß teilweise bewußt in Kauf genommen, daß die Wahrheit im Sinne einer (mit hoher Wahrscheinlichkeit gegebenen) Übereinstimmung der Vorstellung mit der Wirklichkeit nicht ermittelt bzw. nicht der Entscheidung zugrunde gelegt wird, sondern daß - in den Worten Volks - eine „prozessuale Verfälschung des Richtigen" 569 eintritt. Nach einer vielfach wiederholten Formulierung des BGH ist es „kein Grundsatz der StPO, daß die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte." 570 Dabei ergeben sich die Grenzen der Wahrheitsfindung aus der Rücksichtnahme auf andere (Individual-) Rechtsgüter bzw. Prinzipien des Strafverfahrens: In vielen Vorschriften finden sich Einschränkungen der Beweiserhebung und damit der Wahrheitsermittlung, die auf der Respektierung anderer Rechtsgüter beruhen, welche im Einzelfall als schutzwürdiger gewichtet werden als die Wahrheitsfindung im Strafprozeß. 571 Beispielhaft seien hier die Vorschriften über die Einschränkungen der Zeugenpflicht in den §§52 ff. StPO genannt. Von diesen dienen § 52 StPO dem durch Art. 6 GG gebotenen Schutz der Familie, §§ 53, 53a StPO dem (verfassungsrechtlich freilich nicht so leicht zu verortenden) Schutz des Vertrauensverhältnisses zu den genannten Berufskreisen, § 54 StPO i.V.m. §§61, 62BBG, 39 III BRRG dem Wohl der Bundesrepublik bzw. des betreffenden Landes und § 55 StPO schließlich dem in Art. 1,21 GG anzusiedelnden Schutz des Zeugen davor, sich selbst zu belasten.572 Weitere Fälle einer Einschränkung der Sachverhaltsaufklärung zum Schutz anderer Rechtsgüter sind z.B. §§ 136, 136a StPO, aber auch die speziellen Anforderungen, die im einzelnen an Zwangs- und Eingriffsmaßnahmen in den §§ 81a, 81c und 95 ff StPO gestellt werden. Neben diesen einfachgesetzlichen Schranken können sich Beweisverbote (und damit Einschränkungen der Wahrheitsfindung) auch unmittelbar aus ver-
569
Wahrheit und materielles Recht im Strafprozeß, 9. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kröpil, JZ 1998, 135, 136, der insoweit den Wahrheitsbegriff sogar auf die prozeßordnungsgemäß'zu ermittelenden Tatsachen beschränken will, was freilich in der Sache ohne Konsequenz bleibt. 570 BGHSt 14, 358, 365, mittlerweile ständige Rechtsprechung. 571 Ein ausführlicher Überblick über Beweisverbote aus den verschiedensten Gründen findet sich bei Alsberg/Nüse/Meyer, 430 ff. 572 Inwieweit daneben auch der Angeklagte vor Aussagen geschützt sein soll, deren Wahrheitswert wegen der Selbstbegünstigungstendenz des Zeugen sehr zweifelhaft ist, ist umstritten; dafür z.B. Roxin, Strafverfahrensrecht § 24 Rn. 17; ähnlich bereits Eb. Schmidt, JZ 1958, 596; Rengier, Die Zeugnis verweigerungsrechte im geltenden und künftigen Strafverfahrensrecht, 1979, 56 ff.; anders aber die Rechtsprechung, vgl. bereits BGHSt 1, 39; BGH(GS)St 11,213 und ein großer Teil der Literatur, z.B. LR-Dahs, §55 Rn. 1; Kleinknecht/Meyer-Goßner, §55 Rn. 1. Würde man diese zusätzliche Schutzrichtung bejahen, würde es sich insoweit allerdings nicht um einen Verzicht der Wahrheitsfindung zugunsten anderer Rechtsgüter handeln, sondern gerade um den Verzicht auf eine möglicherweise unzuverlässige Erkenntnisquelle. *
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. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
fassungsrechtlichen Erwägungen ergeben (sog. selbständige Beweisverbote). 573 Diese verfassungsunmittelbaren Einschränkungen der Wahrheitsermittlung 574 zeigen, daß auch die „Wahrheitserforschung (...) im Strafverfahren kein absoluter Wert" 575 ist, dem etwa alle anderen Gesichtspunkte untergeordnet werden müßten.576 Andererseits sprechen sie jedoch nicht etwa dagegen, die Wahrheitsermittlung als ein Ziel des Strafprozesses zu sehen. Gerade im Verfassungsrecht spielen häufig Fälle eine Rolle, in denen ein legitimes, staatlich verfolgtes Interesse zugunsten eines anderen eingeschränkt werden muß. Vielmehr zeigen die Fälle sogar umgekehrt, daß für eine Einschränkung gerade ein solches anderes schutzwürdiges Interesse bestehen muß: ein solches schutzwürdiges Interesse liegt aber nicht im Willen des Angeklagten, auf keinen Fall verurteilt zu werden, sondern allenfalls in der Absicherung, daß eine Verurteilung nur bei einem Nachweise der Schuld in einem rechtsstaatlichen Verfahren erfolgen kann. Nach Volk kann sich außerdem eine „prozessuale Verfälschung der Richtigkeit" aus dem Grundsatz „in dubio pro reo" ergeben.577 Indes kann darf dies nicht in dem Sinne verstanden werden, daß - wie in den oben genannten Fällen - die Erforschung der Wahrheit eingeschränkt würde: vielmehr greift dieser Grundsatz erst ein, wenn eine weitere Aufklärung der Wirklichkeit nicht mehr möglich ist bzw. gerade aus den soeben angeführten Gründen die weitergehend erforschte „Wahrheit" prozessual nicht verwertet
573 Standardbeispiel sind hier die Tagebuchentscheidungen des BVerfG und des BGH, in denen darüber zu entscheiden war, ob Tagebuchaufzeichnungen des Beschuldigten im Strafverfahren als Beweismittel verwendet werden dürfen. Auch ohne daß eine konkrete einfachgesetzliche Vorschrift dies verboten hätte, wurde eine Verwertung für ausgeschlossen gehalten, wenn sie den unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit und damit die Menschenwürde verletzen würde (vgl. grundlegend BVerfGE 34, 238 ff.; vgl. des weiteren die Entscheidungen BVerfGE 80, 367 ff.; BGHSt 19, 325 ff.; 34, 397 ff.). Allerdings kann eine Verwertung unter Abwägung mit dem Strafverfolgungsinteresse des Staates möglich sein, wobei dies im Einzelfall um so eher anzunehmen ist, je schwerer die verfolgte Straftat wiegt und je weniger der zu verwertende Sachverhalt dem Kernbereich der Persönlichkeit zuzuordnen ist. 574 Vgl. zu den grundrechtlichen Beweisverboten Alsberg/Nüse/Meyer, 512 ff. Auf den ersten Blick könnte man zwar einwenden, es gehe gar nicht um Einschränkungen der Wahrheilsermittlung, sondern erst der Anwendung des materiellen Strafrechts auf den Sachverhalt, soweit es sich um Beweisve/wriw/igsverbote handelt. Indes kann man durchaus davon ausgehen, daß diese Beweismittel, die nicht verwertet werden dürfen, zumindest ex post betrachtet auch nicht hätten erhoben werden sollen bzw. daß - unter einem anderen Blickwinkel formuliert - die mangelnde Erhebung solcher Beweise kaum erfolgreich mit der Rüge der unzureichenden Aufklärung angegriffen werden könnte. Von Interesse für den Strafprozeß ist aber nur die „Wahrheit", die auch für die Urteilsfindung relevant werden kann. 57 5 Roxin Strafverfahrensrecht § 24 Rn. 16 576 Ob man diese „anderen Gesichtspunkte" deshalb ihrerseits als eigenständige Prozeßziele einordnen muß, soll unten näher untersucht werden, vgl. 2. Teil Β II 1 d, S. 220. 577 Wahrheit und materielles Recht im Strafprozeß, 10.
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
werden darf. Zwar kann der Grundsatz „in dubio pro reo" dazu führen," 8 daß die getroffene Entscheidung nicht der materiellen Wahrheit entspricht, wenn ein Ausspruch nachteiliger Rechtsfolgen unterbleibt, obwohl diese tatsächlich zu verhängen gewesen wären. Doch kann man hierin kaum eine Durchbrechung bzw. Einschränkung des Prozeßziels der „Wahrheit" erblicken, sondern allenfalls eine mangelhafte Erreichbarkeit dieses Ziels, die sich nicht vermeiden läßt. Der Wahrheit wäre nämlich kaum mehr gedient, wenn man dem Zweifelssatz umstellen und „in dubio contra reum" entscheiden würde. Als Zwischenergebnis können daher mit Blick auf die Wahrheitsfindung im Strafprozeß folgende Gesichtspunkte festgehalten werden: Die Wahrheitsermittlung ist nicht Endzweck des Verfahrens, aber ein außerordentlich wichtiges Zwischenziel. Für viele Institutionen des Strafprozeßrechts im allgemeinen, aber auch für viele der hier interessierenden Verteidigungsbefugnisse ist sie sogar das sachnächste „Zwischenziel", da sie gerade ihr dienen: so etwa für das Beweisantragsrecht, aber auch für das Fragerecht. Eine Wahrheitsermittlung darf zwar im rechtsstaatlichen Strafverfahren nicht um jeden Preis stattfinden; allerdings sind ihre - gesetzlich vorgesehenen oder unmittelbar verfassungsrechtlichen begründeten - Beschränkungen in schutzwürdigen gegenläufigen Interessen begründet, nicht in einer willkürlichen Dispositionsfreiheit der Prozeßbeteil igten über den Vorgang der Sach Verhaltsermittlung.
c) Gerechtigkeit als Ziel des Strafprozesses Häufig wird als Ziel des Strafprozesses auch (neben anderen Zielen, insbesondere der Wahrheitsermittlung) das Finden eines gerechten Urteils genannt.579 So schillernd und scheinbar allgemein konsensfähig der Begriff der Gerechtigkeit freilich ist, so schwierig ist er zu handhaben und für die Ableitung konkreter Ergebnisse zu operationalisieren. Außerdem stellt sich die Frage, ob die Gerechtigkeit als Prozeßziel neben der Wahrheitsermittlung und der Durchsetzung des materiellen Strafrechts überhaupt eine eigenständige Bedeutung hat und ob auch sie Einschränkungen unterworfen ist. Gleichwohl wird im folgenden versucht, auch den (in Rechtsprechung und Literatur zum Strafprozeßrecht durchaus als zentral genannten) Gerechtigkeitsgedanken für die Mißbrauchsdiskussion zumindest mittelbar fruchtbar zu machen. Dazu wird zunächst der Gerechtigkeitsbegriff ausgebreitet, um aus ihm einzelne Forderungen für eine („gerechte") Verfahrensgestaltung zu gewinnen. Aus diesen Forderungen sollen auch Konsequenzen für die Mißbrauchsfrage
578
Und diesen Zusammenhang dürfte auch Volk, a.a.O. vor Augen haben. So z.B. Roxin, Strafverfahren § 1. Weigend, 178 (FN 18) sieht den Ursprung der Formel von Wahrheit und Gerechtigkeit bei Eb. Schmidt, so z.B. in Lehrkommentar Bandi, Rn. 13. 579
2. Teil: Grundlagen eines ungeschriebenen Mißbrauchsverbots
abgeleitet werden (dazu sogleich aa). In einem weiteren Schritt wird das Verhältnis zwischen der Gerechtigkeit und anderen Prozeßzielen untersucht (dazu im Anschluß bb).
aa) Kurze Hinführung zum Gerechtigkeitsbegriff (1) Es ist nicht möglich, in einer Art Vorüberlegung die Antwort auf die seit über zwei Jahrtausenden wissenschaftlich diskutierte 580 und bisher gleichwohl noch nicht befriedigend beantwortete Frage zu finden, was „Gerechtigkeit" sei. Eine solche Antwort wird noch dadurch erschwert, daß der Bedeutungsinhalt eines so ausfüllungsbedürftigen Begriffs zeit- und gesellschaftsbedingten Wandlungen unterworfen ist. 581 Deshalb wird im folgenden versucht, von einem eher abstrakt-ausfüllungsbedürftigen Modell ausgehend kurz das zu skizzieren, was hier und heute unter Gerechtigkeit verstandenen werden dürfte und welche Forderungen sich daraus für die Gestaltung des Strafverfahrens ergeben. Um den hier gesteckten Rahmen nicht zu sprengen, bietet es sich dabei an, die (zumindest für unseren Kulturkreis) geläufigste und meistzitierte Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles zum Ausgangspunkt zu nehmen,582 die hauptsäch-
580
Man darf davon ausgehen, daß die Frage nach der Gerechtigkeit die Menschheit seit Beginn der Zivilisation beschäftigt hat; aber auch die Wurzeln ihrer wissenschaftlichen Durchdringung reichen weit zurück; eine der bis heute umfassendsten Monographien zu diesem Thema ist Piatons Politeia (regelmäßig mit „Der Staat" übersetzt), der traditionell der Untertitel „Über die Gerechtigkeit" beigefügt wird. Daß dabei freilich Piatons in der Politeia entwickeltes Gerechtigkeit Verständnis mit dem unseren nicht zu vereinbaren ist, wurde vor allem durch die eindrucksvolle Analyse Poppers (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I - Der Zauber Piatons) deutlich. 581 Ein eindrucksvolles Beispiel für die Wandelung (bzw. nach Ansicht des Autors für die bewußte Verkehrung) gerade des Gerechtigkeitsbegriffs schildert Popper, a.a.O. (obere FN 580), 6. Kapitel I und II, hinsichtlich der Verwendung des Begriffs in Piatons Politeia im Vergleich zur gängigen Verwendung in der griechischen Literatur. Zur Abhängigkeit der „gerechten Strafe" von Zeit und Gesellschaft vgl. A. Kaufmann, Über die gerechte Strafe, in: Hirsch/Kaiser/Marquardt, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986,425,431. 582 Ähnlich A. Kaufmann, Über die gerechte Strafe, in: Hirsch/Kaiser/Marquardt, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 426, sowie Coing , Grundzüge einer Rechtsphilosophie, 4. Auflage, 215 (in der 5. Auflage von 1993 ist die Darstellung des Problemkreises „Gerechtigkeit" nicht unerheblich gekürzt, weswegen im vorliegenden Zusammenhang auf die Vorauflage verwiesen wird). Wie unterschiedlich der Gerechtigkeitsbegriff verstanden werden kann, zeigt übrigens gerade auch das Beispiel des Aristoteles, dessen Begriffsinstrumentarium auch heute noch vielfach verwendet wird, während z.B. seine konkrete Folgerung, daß einige Menschen nur zu Sklavenarbeiten geboren sind und es mithin gerecht ist, wenn sie diese verrichten, heute sicher nicht mehr tragbar ist.
C. Spezielle strafprozessuale Gesichtspunkte
lieh im 5. Buch der Nikomachischen Ethik entwickelt wurde und zwischen der iustitia commutativa und der iustitia distributiva unterscheidet. 583 Die iustitia commutativa (ausgleichende Gerechtigkeit) soll zu einer absoluten Gleichstellung führen und setzt deswegen die Situation einer (vorherigen) Gleichordnung voraus. Daher ist ihr Hauptanwendungsgebiet das Privat-, vor allem das Vertragsrecht;584 aber auch im Bereich des Strafrechts kann die Anwendung dieses Grundsatzes dadurch fruchtbar gemacht werden, daß alle vom Gesetz Gleichgestellten absolut gleich behandelt werden, so wenn z.B. alle „Mörder" i.S.d. § 211 StGB mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden.585 Dagegen regelt die iustitia distributiva (