Ästhetik bei Wittgenstein: Über Sagen und Zeigen 9783495997536, 3495478957, 9783495478950


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German Pages [289] Year 2000

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Table of contents :
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Abkürzungen und Zitierweise
Vorwort
1. Kapitel Sagen und Zeigen
1. Der Bereich des Sagens
2. Der Bereich des Zeigens
2. Kapitel Zeigen und Fühlen: Mystik und Ästhetik
1. Die Merkmale des Mystischen
2. Die mystischen Erfahrungen
3. Die Erfahrung des Ästhetischen
4. Das Ästhetische als Grundkategorie des Mystischen
3. Kapitel Zeigen und Dichten: Wittgensteins Schreibstil
1. Das Numerierungssystem als Stilelement des Tractatus
2. Das scheinbar Aphoristische
3. Das Metaphorische
4. Kapitel Zeigen und Erkennen: Der Solipsismus
5. Kapitel Zeigen und Bauen: Wittgensteins Architektur
1. Die Planung des Palais Stonborough
2. Wittgensteins architektonischer Beitrag
3. Sagende und zeigende Architektur
6. Kapitel Zeigen und Hören: Die Musik
1. Musik als »tautologisches Wunder«
2. Das Verstehen der Musik
3. Musik und Kultur
7. Kapitel Zeigen und Sehen: Farben und Aspekte
1. Grundfarben, Zwischenfarben, Mischfarben
2. Farblogik, Farbdimensionen und die Malerei
3. Aspektsehen und Aspektwechsel
Anhang: Abbildungen zum Palais Stonborough
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Ästhetik bei Wittgenstein: Über Sagen und Zeigen
 9783495997536, 3495478957, 9783495478950

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Felix Gmür

Ästhetik bei Wittgenstein Über Sagen und Zeigen

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997536

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B

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997536 .

Dieses Buch stellt Wittgensteins Ästhetik dar. Ausgehend von der phi­ losophischen Unterscheidung von Sagen und Zeigen wird der Zusam­ menhang zwischen mystischen und ästhetischen Erfahrungen erläutert und Wittgensteins Schreibstil untersucht. Die theoretischen Vorausset­ zungen dazu liegen im Solipsismus. Der Autor rekonstruiert Wittgen­ steins Arbeit am Daus seiner Schwester in Wien und deutet sie sowohl kunsthistorisch als auch philosophisch. Wittgensteins Äußerungen zur Musik und zu den Farben kommentieren schließlich mit Hilfe anschau­ licher Beispiele seine Auffassung von Kunst und stellen umgekehrt sei­ ne philosophischen Gedanken in ein neues Ficht. Dabei bieten sich ganz neue Einsichten. This book portrays Wittgenstein’s aesthetics. Using the philosophical differentiation between saying and pointing as a departure point, the relation between mystical and aesthetical experiences are illustrated and Wittgenstein’s writing style is examined. The theoretical prerequisites for this are found in solipsism. The author reconstructs Wittgen­ stein’s work on his sister’s house in Vienna and interprets them both from the viewpoint of art histoiy and of philosophy. Wittgenstein’s statements about music and colors provide comments, with the help of illustrative examples, on his understanding of art and conversely place his philosophical thougts in a new light. This offers entirely new insights. Der Autor: Felix Gmür, Dr. phil., lic. theol., geb. 1966 in Luzern, Stu­ dium der Philosophie, Kunstgeschichte und Theologie in Paris, Fri­ bourg und München, arbeitet z.Zt. in Basel.

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Felix Gmür Ästhetik bei Wittgenstein

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Alber-Re/he Philosophie

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Felix Gmür

Ästhetik bei Wittgenstein Über Sagen und Zeigen

Verlag Karl Alber Freiburg/München

https://doi.org/10.5771/9783495997536 .

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gmür, Felix: Ästhetik bei Wittgenstein : über Sagen und Zeigen / Felix Gmür. Freiburg (Breisgau) ; München : Alber, 2000 (Alber-Reihe Philosophie) Zugl.: München, Univ., Diss., 1997 u.d.T.: Gmür, Felix: Ästhetik bei Ludwig Wittgenstein ISBN 3-495-47895-7 Texterfassung: Autor Bildlayout nach Angaben des Autors Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2000 Einbandgestaltung: Eberle H Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in derRotis SemiSerifvon Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2000 ISBN 3-495-47895-7

https://doi.org/10.5771/9783495997536 .

Inhalt

Abkürzungen und Zitierweise.................................................. Vorwort........................................................................................

9 11

1. Kapitel

Sagen und Zeigen........................................................................

13

1. Der Bereich des Sagens......................................................... 2. Der Bereich des Zeigens.........................................................

14 30

2. Kapitel

Zeigen und Fühlen: Mystik und Ästhetik...............................

41

1. 2. 3. 4.

43 45 59 66

Die Merkmale des Mystischen............................................ Die mystischen Erfahrungen............................................... Die Erfahrung des Ästhetischen............................................ Das Ästhetische als Grundkategorie des Mystischen ....

3. Kapitel

Zeigen und Dichten: Wittgensteins Schreibstil.........................

73

1. Das Numerierungssystem als Stilelement des Tractatus . . 2. Das scheinbar Aphoristische.................................................. 3. Das Metaphorische...............................................................

76 86 93

4. Kapitel

Zeigen und Erkennen: Der Solipsismus

...................................

108

Zeigen und Bauen: Wittgensteins Architektur .........................

120

1. Die Planung des Palais Stonborough................................... 2. Wittgensteins architektonischer Beitrag ............................ 3. Sagende und zeigende Architektur......................................

122 127 134

5. Kapitel

7

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Inhalt

6. Kapitel

Zeigen und Hören: Die Musik..................................................

150

1. Musik als »tautologisches Wunder«...................................... 2. Das Verstehen der Musik..................................................... 3. Musik und Kultur..................................................................

151 158 180

7. Kapitel

Zeigen und Sehen: Farben und Aspekte..................................

210

1. Grundfarben, Zwischenfarben, Mischfarben...................... 2. Farblogik, Farbdimensionen und die Malerei...................... 3. Aspektsehen und Aspektwechsel.........................................

212 235 251

Anhang:

8

Abbildungen zum Palais Stonborough......................................

264

Literaturverzeichnis .................................................................. Personenregister........................................................................ Sachregister..................................................................................

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ALBER PHILOSOPHIE

Felix Gmür https://doi.org/10.5771/9783495997536 .

Abkürzungen und Zitierweise

Die Werke Wittgensteins werden alle abgekürzt zitiert, in der Regel nach der Werkausgabe. Sind die Texte nach Datum, Nummern oder Paragraphen gegliedert, folgen nach der Angabe der Schrift jeweils die entsprechenden Angaben, sonst lediglich die Seitenzahl ohne »S.«. Eine Ausnahme dazu bilden einzig die Verweise auf den zwei­ ten Teil der Philosophischen Untersuchungen, wo das »S.« der Sei­ tenzahl vorangestellt wird, um Verwechslungen mit dem ersten Teil auszuschließen. Die Zitierweise gilt entsprechend für die anderen ab­ gekürzt angeführten Werke. - Fremdsprachige Zitate aller Autoren sind um des guten Leseflusses willen übersetzt. - Beim ersten Hin­ weis auf eine Schrift werden alle bibliographischen Angaben ge­ macht, später nur noch Kurztitel erfaßt. Siglen von Wittgensteins Schriften: AM AüL BGM BlB BlP BPP Br BrB BüF Fraz GTB LS PB PG PTLP PU TB

Aufzeichnungen, die G. E. Moore in Norwegen nach Diktat niedergeschrieben hat Aufzeichnungen über Logik Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik Das Blaue Buch Bemerkungen über logische Form Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie (1/H) Briefe Eine philosophische Betrachtung {Das Braune Buch) Bemerkungen über die Farben Bemerkungen über Frazers Golden Bough Geheime Tagebücher 1914-1916 Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie Philosophische Bemerkungen Philosophische Grammatik Prototractatus Philosophische Untersuchungen Tagebücher 1914-1916 W

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Abkürzungen und Zitierweise

TLP ÜG V&G VB Vorl VüE WWK Z

Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logicophilosophicus Über Gewißheit Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoana­ lyse und religiösen Glauben Vermischte Bemerkungen Vorlesungen 1930-1935 Vortrag über Ethik Friedrich Waismann, Wittgenstein und der Wiener Kreis Zettel

Siglen von Schriften anderer Autoren: KrV KU Met. NE WWVI/II

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Kant, Kritik der reinen Vernunft Kant, Kritik der Urteilskraft Aristoteles, Metaphysik Aristoteles, Nikomachische Ethik Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I/II

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Vorwort

Über Wittgenstein erscheinen jährlich zahlreiche Schriften. Sie be­ fassen sich teils mit seinem ganzen Werk, teils mit Einzelthemen, kritisieren, repetieren und diskutieren das und mit dem, was an Li­ teratur bereits vorhanden ist. Sie präsentieren neue Zugänge und setzen andere Akzente. Meistens handelt es sich also um eine Ver­ bindung von Altem und Neuem. Dieses Buch möchte einen Zugang zu Wittgenstein und seinem Philosophieren eröffnen, der eher selten und zu kurz gekommen ist: Es ist die ästhetische Lesevariante. Wittgenstein wird hier als Ästhe­ tiker gelesen. Seine Äußerungen zur Ästhetik und zur Kunst, die weit zerstreut sind und von ihm selbst keine systematische Durch­ dringung erfahren haben, werden mit seinen streng philosophischen Aussagen in Zusammenhang gebracht. Dabei bieten sich da und dort ganz neue Einsichten. Im Sommersemester 1997 wurde diese Arbeit von der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Statistik der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation im Fach Philosophie angenommen. Professor Dr. Wilhelm Vossenkuhl betreute die Ent­ stehung der Arbeit so, wie es sich jeder Student wünscht: kompetent und aufgeschlossen, im rechten Maße fordernd und fördernd, mit Interesse, Zeit und Sympathie. Ihm gilt mein besonderer Dank. Pro­ fessor Dr. Eckart Förster danke ich für die Erstellung des zweiten Gutachtens. Professor Dr. Frangois Marty machte mich in Paris gründlicher mit Wittgensteins Philosophie bekannt, und Heinz Schulte half mir, den Blick zu weiten. Ich verdanke ihnen wertvolle Anregungen. Meine Eltern förderten das Vorhaben stets mit viel Lie­ be und Wohlwollen. Schließlich verdankt die Arbeit ihr Entstehen dem freundlichen Sukkurs des Schweizerischen Nationalfonds. Basel, den 1. Mai 1999

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1. Kapitel

Sagen und Zeigen

Grundlegend für die gesamte Philosophie Wittgensteins und ins­ besondere für seine Auffassung von Ethik und Ästhetik ist die schon in den Tagebüchern entwickelte und im Tractatus explizit gewordene Unterscheidung von Sagen und Zeigen. Im folgenden soll vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung Wittgensteins Ästhetik betrach­ tet werden. Dazu bedarf es auch einer neuen, einer erneuten Lektüre seiner Werke aus einem anderen, einem »ästhetischen« Blickwinkel. Insofern hätten wir dieser Untersuchung ebenso den Titel Wittgen­ stein neu lesen oder Wittgenstein als Ästhetiker lesen geben können. Wenn es wahr ist, daß alle »Schwierigkeit in der Wiederholung, der Wiederaufnahme, der neuen Kontextualisierung liegt«1, dann ist solch eine neue Lektüre des wittgensteinschen Oeuvres zugleich eine Nachbildung seiner Gedanken. Diese ginge allerdings fehl, wenn sie fieberhaft nach Zusammenhängen suchte, wo keine sind, oder wenn sie Zusammenhänge erdichten würde, die bloß fiktive sind. Ihren Wert bekommt eine sozusagen »ästhetische« Wittgenstein-Lektüre dadurch, daß sie andere, vielleicht unbekannte oder vergessene Zu­ sammenhänge aufdeckt. Das ist die Aufgabe und das Ziel der vorlie­ genden Untersuchung. Wieso unterscheidet Wittgenstein eigentlich Sagen und Zeigen? Sicher kann es sich nicht darum handeln, einfachhin zwei verschie­ dene Sinnestätigkeiten voneinander abzugrenzen. Nein, es geht ihm um eine klare Darstellung dessen, was gesagt werden kann, und das will heißen: was in philosophisch-wissenschaftlicher Sprache als einer Fachterminologie objektiv vermittelbar ist. Von daher wird schließlich das Zeigen als das Nicht-Sagbare vom Bereich des positi­ ven Diskurses ab- und ausgegrenzt. Das bedeutet jedoch nicht, daß Wittgenstein im Tractatus die unwissenschaftliche Rede und unser alltägliches Sprechen in irgendeiner Weise disqualifizieren möchte. Sein Bestreben geht vielmehr dahin, den positiven Diskurs vor me­ 1 Daniel Nicolet, Lire Wittgenstein. Etudes pour une reconstruction fictive, Paris: Aubier, 1989, 4.

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1. Kapitel: Sagen und Zeigen

taphysischem Geschwätz zu schützen. Das ist der eigentliche Grund und die Rechtfertigung für seine eindringliche Forderung nach einer künstlichen, formalisierten Sprache. Und wenn er von den Grenzen der Sprache redet, dann meint er nicht die Grenzen alltäglicher menschlicher Rede, sondern die Grenzen der Wissenschaftssprache. Einzig und allein in hezug auf diese geschieht die Grenzziehung. Die strikte Trennung von Sagen und Zeigen besagt nun keines­ wegs, wie man zunächst vermuten könnte, eine sprachphilosophischlogisch begründete Neuauflage eines unheilvollen Dualismus. Witt­ gensteins Anliegen liegt anderswo. Er formuliert es am 19. August 1919 in einem Brief an seinen Lehrer Bertrand Russell, in dem er schreibt, daß das Hauptproblem der Philosophie darin bestünde, eine Theorie dessen zu entwickeln, was in Sätzen, d. h. sprachlich gesagt und gedacht werden kann, und was andererseits lediglich gezeigt werden kann (vgl. Br 252 f.). Auf diesen Punkt hin zentriert Wittgen­ stein seine Forschungen zur Zeit der Abfassung des Tractatus, und er meint sogar, wie er im Vorwort schreibt, die Probleme endgültig gelöst zu haben. Deswegen seien die im Tractatus niedergeschriebe­ nen Wahrheiten als definitiv anzusehen. Das freilich kann seinerseits nur von einem dogmatischen und metaphysischen Vorurteil her ge­ rechtfertigt werden, daß es nämlich einen totalen Antagonismus zwi­ schen Sagen und Zeigen gibt. Die Inkompatibilität von Sagen und Zeigen besagt nämlich auch, daß sie sich gegenseitig absolut aus­ schließen, denn »was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt wer­ den« (TLP 4.1212). In bezug auf das Zeigbare ist die logische und formalisierte, wissenschaftliche Sprache inkompetent. Das Zeigbare übersteigt das Sagbare, aber nicht etwa so, daß es quantitativ oder qualitativ dem Sagbaren über- oder untergeordnet wäre, sondern in­ sofern, als es etwas schlechterdings Anderes ist: Es ist von einer an­ deren Qualität.

1. Der Bereich des Sagens Die Unterscheidung von Sagen und Zeigen geschieht vom Bereich des Sagens aus. Deswegen ist es sinnvoll, zunächst auf diesen Bereich zu schauen. Was sich sagen läßt, muß sich nach Wittgensteins Über­ zeugung klar sagen lassen, und dazu bedarf es einer klaren Sprache. Deren Wert liegt darin, daß sie im Gegensatz und in Abhebung zur Umgangssprache Verwechslungen, welche zumal die Philosophie 14

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1. Der Bereich des Sagens

durchziehen, ausschließt (vgl. TLP 3.323-3.324). Zu diesem Zweck fordert der Tractatus eine mithilfe logischer Symbole formalisierte Zeichensprache, die Unverständlichkeit und Zweideutigkeit zum vornherein gar nicht erst entstehen läßt (vgl. TLP 3.325). Wittgen­ stein will eine ideale, eine perfekte Sprache2. Es ist eine Kunstspra­ che, in der es keinen Zufall geben darf. Hierfür muß sie in Überein­ stimmung mit den Forderungen der Einheitslogik funktionieren. Dies ist indes nur durch den tautologischen, d. h. rein analytischen Charakter aller logischen Sätze zu bewerkstelligen (vgl. TLP 6.1­ 6.112). Tautologische Sätze sind notwendig, und weil es nur eine ein­ zige, nämlich die logische Notwendigkeit gibt, ist alles außerhalb der Logik zufällig, die - umgekehrt - alle Gesetzmäßigkeit erforscht (vgl. TLP 6.3; 6.37). Daß die logischen Sätze überhaupt etwas sagen, was nicht nur purer Zufall ist, rührt nun daher, daß die geforderte Kunst­ sprache die Gesetze der Logik korrekt anwendet. Dazu bedarf es einer »Erfahrung«, die streng genommen freilich gar keine ist, weil sie sich darauf bezieht, daß überhaupt etwas ist. Sie bezieht sich darauf, daß etwas ist und nicht darauf, wie es ist. Insofern die Logik angewandte Tätigkeit ist, ist sie vor aller Erfahrung, daß sich etwas so und nicht anders verhält; insofern die Logik aber verstanden werden muß, da­ mit sie auch tatsächlich angewandt werden kann, ist sie nach aller Erfahrung, daß sich etwas überhaupt verhält, d. h. daß etwas ist (vgl. TLP 5.552). Diese Erfahrung, die keine naturwissenschaftliche Größe dar­ stellt und insofern eine uneigentliche, eine Pseudo-Erfahrung ist, be­ zieht sich letztlich auf die Welt. Deren Existenz wird vom Tractatus vorausgesetzt. Die Welt, zu der wir einen sprachlichen Zugang ha­ ben, ist alles das, was der Fall ist, oder, anders ausgedrückt, die Ge­ samtheit der Tatsachen. Die Tatsache ist eine logische Größe. Sie gibt an, daß die Welt durch die Sprache geordnet und strukturiert ist, und zwar so, daß sie in Tatsachen zerfällt (vgl. TLP 1-1.2). Die Tatsache ist definiert als das Bestehen von Sachverhalten, der Sachverhalt als Verbindung von Gegenständen (vgl. TLP 2-2.01)3. Was man unter 2 Umberto Eco hat in seinem informativen und sehr lesenswerten Buch La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea (Roma-Bari: Laterza, 1993) gezeigt, daß die euro­ päische Kultur schon seit Urzeiten dem Mythos einer perfekten Sprache, sozusagen der Sprache Adams vor der babylonischen Sprachenverwirrung, anhängt. Im 20. Jahrhun­ dert zeigt sich dies insbesondere in den internationalen Sprachen der künstlichen Intel­ ligenz und in pseudo-natürlichen Kunstsprachen wie dem Esperanto. 3 Gegenstand, Sache und Ding werden im Tractatus synonym verwendet.

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1. Kapitel: Sagen und Zeigen

einem Gegenstand zu verstehen hat, sagt Wittgenstein weder im Tractatus noch anderswo klar und deutlich. Er gibt an keiner Stelle ein Beispiel eines solchen Gegenstandes, was verständlicherweise zu verschiedenen Spekulationen Anlaß gegeben hat4. Immerhin wissen wir, daß sie einfach sind, fest und von Bestand, im Gegensatz zum Sachverhalt, welcher zusammengesetzt, wechselnd und unbeständig ist (vgl. TLP 2.02; 2.027-2.0271). Ein Gegenstand besitzt aber keinen ontologischen Selbstand. Sein Selbstand erschöpft sich darin, sich mit anderen Gegenständen in diesem oder jenem Sachverhalt verbinden zu können, der seinerseits den Gegenstand bezüglich seines »We­ sens« determiniert. Deshalb kann man keinen isolierten Gegenstand denken. Das Ding ist nur im Raume seines Bezugs innerhalb eines Sachverhalts denkbar (vgl. TLP 2.011; 2.0121-2.0122). Insofern die Gegenstände, übrigens »wie die Glieder einer Kette« (TLP 2.03), einen Sachverhalt konstituieren können, haben sie Eigenschaften. Wenn das Ding mit anderen in einem Sachverhalt tatsächlich ver­ bunden ist, spricht man von externen Eigenschaften. Auf der anderen Seite bezeichnen die internen Eigenschaften eines Gegenstandes die ganze Bandbreite seiner Möglichkeiten, sich in Sachverhalten zu ver­ binden, wobei die Gesamtheit dieser Möglichkeiten die Form des Ge­ genstandes ist. Die Form des Gegenstandes ist also modal bestimmt (vgl. TLP 2.0123-2.01231; 2.014-2.0141). Der Streit um die Gegenstände konzentriert sich, kurz gesagt, auf die Frage, ob sie in irgendeinem Sinn letzte ontologische Realitä­ ten oder metaphysische Entitäten sind, also Was-Bestimmtheiten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, was Wittgenstein überhaupt interessiert und woher er kommt. Wittgen­ stein kommt von Frege und von Russell her. Ausgangspunkt der Pro­ bleme, die der Tractatus zunächst angeht, sind Fragen, die diese bei­ den Autoren aufgeworfen haben. Freges Ansinnen, die Arithmetik auf die formale Logik zurückzuführen, und Russells Typentheorie, die dieser als Antwort auf die nach ihm benannte Antinomie entwik4 Vgl. bes. die kontroverse Diskussion zwischen Hide Ishiguro (»Namen. Gebrauch und Bezugnahme«, in: Joachim Schulte [Hg.], Texte zum Tractatus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, 96-135) und Norman Malcolm (»Sprache und Gegenstände«, in: ebd., 136-154). - Weitere wichtige Beiträge stammen von Agnes Lagache, Wittgenstein. La logique d'un Dieu, Paris: Cerf, 1975, 60 ff.; John V. Canfield, »Tractatus objects«, in: Philosophia. Philosophical Quarterly of Israel 6 (1976) 81-99; Jan Ludwig, »>Substance< and >simple objects< in Tractatus 2.02ff.«, in: Philosophical Studies 29 (1976) 307-318; Peter Winch, Trying to Make Sense, Oxford: Blackwell, 1989, 3-20.

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1. Der Bereich des Sagens

kelte, bilden den Hintergrund, auf dem sich Wittgensteins Denken zu entfalten beginnt. Das wird leider oft zu wenig wahrgenommen5. Es zeigt uns aber, daß Wittgenstein von der Logik her dachte und sich zunächst für sie interessierte, nicht für ontologische Fragestellungen. Daß die Welt bzw. daß überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, läßt sich zwar nicht sagen und, wie Dieter Birnbacher gezeigt hat, aus logischen Gründen auch nicht erklären6. Daß etwas ist, ist eine me­ taphysische Prämisse, unter der auch der Tractatus steht und ohne die die Logik keinen Sinn hätte. Das ändert aber nichts daran, daß Tatsache, Sachverhalt und Gegenstand logische Größen sind. Gegen­ stände sind eigenschaftslose Einzeldinge, die sich nur dadurch unter­ scheiden, daß sie verschieden sind, also zwei Gegenstände und nicht ein einzelner (vgl. TLP 2.0233). Wenn aber die Verschiedenheit nur numerisch ist, dann sind die Gegenstände reine Wie-Bestimmtheiten logischer Art. Damit muß man sich zufrieden geben, selbst wenn es von einer ontologischen Warte aus betrachtet unbefriedigend schei­ nen mag. Wittgenstein wußte zwar um dieses Problem (vgl. TB 21.6.15), doch endgültig gelöst hat er es nicht7. Das hängt freilich auch damit zusammen, daß die Welt in Tatsachen zerfällt und nicht etwa in Gegenstände. Analog dazu könnte man dann auch sagen, daß die Sprache in Sätze zerfällt und nicht in Wörter. Die Logik inter­ essiert sich nicht für Wörter, sondern für Sätze. Es verwundert des­ halb nicht, daß der Satz das eigentliche Thema des Tractatus ist. Wittgenstein soll sein Manuskript ursprünglich mit Der Satz über­ schrieben haben8. Um Sätze handelt es sich, wenn wir uns Bilder von Tatsachen machen (vgl. TLP 2.1). Denn nur Sätze können abbilden, Gegenstän­ de nicht. Sätze drücken Gedanken aus, Gegenstände nicht. Gedanken sind logische Bilder von Tatsachen, und weil der Tatsachenraum mo­ 5 Eine frühe Ausnahme bildet Elizabeth Anscombe, An Introduction to Wittgenstein's Tractatus, London: Hutchinson, 1959. Unter den neueren Erscheinungen zu Wittgen­ stein vgl. u.a. die eigens diesem Thema gewidmeten Kapitel bei Peter Carruthers, Tractarian Semantics. Finding Sense in Wittgenstein's Tractatus, Oxford: Blackwell, 1989, 9-20 und bei Wilhelm Vossenkuhl, Ludwig Wittgenstein, München: Beck, 1995, 79-99. 6 Vgl. Dieter Birnbacher, »Wittgenstein und die >Grundfrage der Metaphysikc«, in: Wil­ helm Vossenkuhl (Hg.), Von Wittgenstein lernen, Berlin: Akademie Verlag, 1992, 121­ 136. 7 Vgl. dazu auch Norman Malcolm, Erinnerungen an Wittgenstein, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987,114. 8 Das will jedenfalls William W. Bartley (Wittgenstein, ein Leben, München: Matthes & Seitz, 1993, 46 mit Anm. 2) in Erfahrung gebracht haben.

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1. Kapitel: Sagen und Zeigen

dal zu verstehen ist, also alle wirklichen und möglichen Tatsachen umfaßt, ist Denken das Sich-Bilder-Machen von logischen Möglich­ keiten. Im Satz werden diese Bilder sinnlich wahrnehmbar aus­ gedrückt (vgl. TLP 3; 3.1). Der Gedanke ist das logische Bild schlecht­ hin, welches im Satz sinnlich wird. Kann man demnach sagen, daß der Gedanke gewissermaßen fundamentaler als der Satz ist? Bedarf der Gedanke, um Gedanke zu sein, der Ausgedrücktheit in der Spra­ che? In jedem Fall ist es sinnvoll, daß man Denken und Sprache nicht künstlich trennt, sondern den Gedanken sozusagen in den Gebrauch der Sprache, wie dies später die Philosophischen Untersuchungen tun, auflöst (vgl. PU §332). Kehren wir nochmals zu den Gegenständen zurück. Im Satz werden die Gegenstände durch Namen vertreten, welche nicht defi­ nierbar sind, sondern ein »Urzeichen« (TLP 3.26). Der Name kommt nur im einfachsten, logisch vollständig analysierten Satz vor, welcher Elementarsatz heißt. Dieser besteht aus einer Verkettung von Na­ men (vgl. TLP 4.22; 4.23). Der Name bezieht sich auf einen Ge­ genstand, der seine Bedeutung ist. Seine Konfiguration im Elemen­ tarsatz entspricht jener des Gegenstandes im Sachverhalt, d.h. er vertritt den Gegenstand im Satz (vgl. TLP 3.202-3.22). Die Elemente, aus denen der Satz besteht, entsprechen den Objekten (Dingen) in dem Maße, wie jene einen Platz im Satz haben. Deshalb kann der Satz, genauso wie das Bild, nur eine Tatsache und nicht mehr als eine Tatsache sein (vgl. TLP 2.1; 2.13-2.141; 3.14; 4.01). Aber was »macht« das Bild zur Tatsache? Was »macht« aus dem Bild ein Bild, das etwas abbildet? Abbildung ist nur möglich, wenn es eine Gemeinsamkeit zwischen Abgebildetem und Abbildendem gibt: Diese ist die logische Form (vgl. TLP 2.16-2.17; 2.18). Die isomorphe logische Form ist Garant dafür, daß die Abbildung realisiert werden kann; sie impliziert dagegen nicht, daß das Bild wahr ist, weil die Wahrheit bzw. Falschheit des Bildes in bezug auf die mögliche Wirk­ lichkeit, die es abbildet, nicht von der Form der Abbildung herrühren. Das Bild und sein Gegenstand sind nämlich zwei verschiedene Reali­ täten. Weil das Bild seinem Original äußerlich ist, hat es auch einen äußeren Standpunkt, von dem aus es abbildet: Der Tractatus nennt diesen Standpunkt »Form der Darstellung« (vgl. TLP 2.173)9. Jedes Bild muß sich sozusagen auf einen gewissen Standpunkt stellen; 9 Die »Form der Darstellung« ist nicht zu verwechseln mit der »Form der Abbildung«. Christiane Chauvire (Ludwig Wittgenstein, Paris: Seuil, 1989, 254, Anm. 127) bemerkt

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1. Der Bereich des Sagens

a priori kann es deswegen weder wahr noch falsch sein. Es kann jede Wirklichkeit ahhilden, mit der es die gemeinsame Form hat (vgl. TLP 2.171; 2.174; 2.21; 2.225). Infolgedessen kann man aus der Isomor­ phie von Tatsache und Bild noch kein Urteil bezüglich der Wahrheit des Bildes fällen. Wollen wir wissen, ob ein Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen (vgl. TLP 2.223­ 2.224; ferner 4.05). Wenn der Sinn des Bildes, der das ist, was es abbildet, in Übereinstimmung mit der Realität ist, dann ist das Bild wahr; wenn nicht, dann ist es falsch (vgl. TLP 2.221-2.222). Der Sinn eines Satzes und die Wahrheit bzw. Falschheit eines Satzes sind also verschiedene Dinge. Die Wahrheit eines Satzes, d. h. seine Übereinstimmung mit einem Sachverhalt, der der Fall ist, also einer Tatsache, kann nicht aus dem Satz selber konstatiert werden, sondern nur, wenn man ihn mit der Wirklichkeit vergleicht. Ein Satz hat hingegen Sinn, wenn er einen möglichen Sachverhalt abbildet. Was Wittgenstein unter dem Sinn eines Satzes versteht, steht schon früh in seinen Aufzeichnungen über Logik aus dem Jahre 1913: »Was wir wissen, wenn wir einen Satz verstehen, ist dies: Wir wissen, was der Fall ist, wenn der Satz wahr ist, und was der Fall ist, wenn er falsch ist. Aber wir wissen nicht (notwendig), ob er wahr oder falsch ist« (AüL 195; vgl. TLP 4.024). »Jeder Satz ist wesentlich wahr-falsch (...) So hat der Satz zwei Pole, die dem Fall seiner Wahrheit und dem Fall seiner Falschheit entsprechen. Dies nennen wir den Sinn des Satzes« (AüL 196).

Es ist interessant zu sehen, daß der Sinn des Satzes nicht etwa von seiner Wahrheit abhängt, sondern lediglich von seiner Verständlich­ keit. Verständlich ist ein Satz dann, wenn er wahr sein kann und dies zeigt, und das heißt natürlich auch, daß er potentiell falsch sein kann (vgl. TB 21.10.14; TLP 2.203; 3.02; 3.13). Demnach ist jeder Satz sinnvoll, wenn er einen möglichen Sachverhalt abbildet, also minde­ stens eine hypothetische Situation. Dadurch hat er einen Bezug zur Wirklichkeit. Ist dieser Bezug hergestellt, kennt man den Sinn des Satzes, welcher in diesem Fall etwas sagt (vgl. TB 25.12.14). Nun aber offenbart sich der Sinn selbst nicht talis qualis im Satzausdruck. Denn ein Sachverhalt als solcher ist im Satz selbst nicht enthalten. Der Bezug, den der Satz zu einem Sachverhalt hat, gehört zur Ord­ richtig, daß die »Form der Darstellung« auf die Äußerlichkeit und Andersheit des Bildes in bezug auf die Tatsache verweist.

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1. Kapitel: Sagen und Zeigen

nung der Projektion. Diese ist hingegen im Unterschied zu dem, was projiziert wird, im Satz enthalten. Mittels des hergestellten Bezugs zwischen Satz und Wirklichkeit ist der Satz sinnvoll, doch weil wir uns im Raum der Möglichkeiten und Hypothesen befinden, ist die einzige Form dieses Sinnes notwendigerweise in den Satz einge­ schlossen. Sein Inhalt allerdings kann nur gezeigt werden (vgl. TLP 3.13). Jeder Satz ist also entweder sinnvoll, oder er ist es nicht. Das klingt banal, bedeutet aber etwas Wichtiges, daß es nämlich Sätze mit ein wenig Sinn nicht gibt und auch nicht geben kann. Deswegen gibt es auch kein Mittelding zwischen vollständig determiniertem Sinn und Unsinn. Will man nun wissen, ob ein Satz überhaupt etwas sagt, d. h. sinnvoll ist, muß man wissen, ob diese oder jene hypothe­ tische Situation eintreffen kann. Dazu muß man die Wahrheits­ bedingungen eines Satzes kennen und wissen, von welchen Elemen­ tarsätzen er eine Wahrheitsfunktion ist. Ist ein Satz a priori keine Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen, kann er auch keine Tatsa­ chen abbilden. Sätze, die keine möglichen oder wirklichen Tatsachen abbilden, nennen wir metaphysisch. Sie können a priori keinen Sinn haben10. Metaphysische Sätze sind nichtig. Die Metaphysik fällt von einem logischen Standpunkt aus notwendig in Ungnade, und zwar nicht aus Abschätzigkeit ihrer Interessen und Neigungen, sondern ganz im Gegenteil aufgrund ihres Anspruchs, sinnvoll über andere Dinge als die Tatsachen zu reden. Der Tractatus disqualifiziert Metaphysik als Geschwätz und Wortgeschwall, als reinen Unsinn. Wenn nämlich die Sätze, die über die Welt als Gesamtheit Aussagen machen, keinen Sinn haben und nicht verstanden werden können, dann rührt das daher, daß sie keine Wahrheitsbedingungen haben. Jeder sinnvolle Satz muß aber eine Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen sein. Wenn es nun trotzdem einen sinnvollen Satz über die Welt als ganze gäbe, würde er etwas aussagen, dessen Wahrheit vollständig von der Realisation gewisser möglicher Sachverhalte in der Welt abhinge und folglich ein Satz wäre, der beschriebe, wie sich die Dinge in der Welt 10 Diese Theorie haben sich die Philosophen des Wiener Kreises vollständig zu eigen gemacht: vgl. z.B. Rudolf Carnap, »Überwindung der Metaphysik durch logische Ana­ lyse der Sprache«, in: Erkenntnis 2 (1931) 219-242. In diesem berühmten Artikel schreitet Carnap zur Demontage der Metaphysik, indem er insbesondere einen Text von Heidegger analysiert und dessen Unsinn aufzeigt.

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verhalten. Er sagte also gar nichts über die Welt in ihrer Gesamtheit: Weil die Welt nämlich alles ist, was der Fall ist, kann es keinen Satz über die Welt als ganze geben, weil dieser Satz etwas sagte, was so­ wohl der Fall ist als auch gleichzeitig nicht zur Welt gehört, also nicht der Fall ist. Das ist aber offensichtlich unmöglich11. Der Sinn eines Satzes hängt nicht von seiner Wahrheit ab. Auch ein falscher Satz hat Sinn. Hat er aber auch eine Bedeutung? Die Beschäftigung mit dem Begriffspaar »Sinn und Bedeutung« steht in besonderem Maße in der Tradition Freges12. Dessen Artikel »Über Sinn und Bedeutung« aus dem Jahre 1892 hat Wittgenstein mit Si­ cherheit gekannt. Freges Ausgangspunkt ist die Frage: Was drückt die Beziehung a=b aus? Der Abendstern und der Morgenstern bezeich­ nen beide den Planeten Venus. Es ist derselbe Stern. Das, was die beiden Worte bezeichnen, ihre Bedeutung, ist dieselbe. Aber ihr Sinn ist ein anderer, weil die Worte auf verschiedene Weise den Gegen­ stand bezeichnen, so daß jener auch auf verschiedene Weise gegeben sein muß13, denn der Abendstern taucht abends, der Morgenstern morgens auf. Folglich hat ein Name gleichzeitig Sinn und Bedeu­ tung. Die Bedeutung ist der Gegenstand, den er bezeichnet, der Sinn ist die Art und Weise, wie der Gegenstand gegeben ist: »Ein Eigen­ name (Wort, Zeichen, Zeichenverbindung, Ausdruck) drückt aus sei­ nen Sinn, bedeutet oder bezeichnet seine Bedeutung. Wir drücken mit einem Zeichen dessen Sinn aus und bezeichnen mit ihm dessen Bedeutung«14. Wittgenstein übernimmt mehr oder weniger Freges Begriff der Bedeutung und gebraucht ihn im Sinne von >das, worauf sich der Ausdruck bezieht< (vgl. TLP 3.203). Hingegen verwirft er dessen These, wonach sowohl Sätze als auch Namen Sinn und Bedeutung haben. Bedeutung haben bei Frege und Wittgenstein beide, Namen 11 Das unterstreicht Jacques Bouveresse, Wittgenstein: La rime et la raison. Science, ethique, esthetique, Paris: Minuit, 1973, 40, ausdrücklich. 12 Wittgenstein war Frege sein ganzes Leben lang dankbar. Er schreibt im Vorwort zum Tractatus, daß er »den großartigen Werken Freges« viel schulde, erwähnt ihn, was als Hommage anzusehen ist, viermal in den Philosophischen Untersuchungen (§§22; 49; 71; S. 249), macht kurz vor seinem Tod eine Bemerkung hinsichtlich seines bewun­ dernswerten Stils, den er mit dem von Freud vergleicht (VB 573), und gibt zu, daß der Stil seiner Sätze sehr durch jenen Freges beeinflußt worden sei (Z §712). 13 Vgl. Gottlob Frege, »Über Sinn und Bedeutung«, in: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hg. von Günther Patzig, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 61986, 40-65, hier 41. 14 Frege, »Über Sinn und Bedeutung«, 46.

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und Sätze. Die Bedeutung eines Namens ist sein von ihm hezeichneter Gegenstand (vgl. TLP 3.203), die Bedeutung eines Satzes dem­ zufolge die Tatsache, die ihm entspricht (vgl. AM 214). Wir verste­ hen die Bedeutung eines Satzes, wenn wir wissen, oh er wahr oder falsch ist; unahhängig davon verstehen wir nur seinen Sinn (vgl. AüL 202; TLP 4.024). Wir sehen hier noch einmal, wie grundlegend der Satz für Witt­ gensteins Logik ist. Nur Sätze können nämlich einen Sinn hahen. Bei Frege hahen auch Namen Sinn, hei Wittgenstein aher nur Sätze, in deren Zusammenhang ein Name erst Bedeutung erlangt (vgl. TLP 3.3). Das heißt einerseits, daß es ausgeschlossen ist, daß man die Be­ deutung eines Namens unahhängig von dessen »Gehrauch« im Satz finden kann. Denn nur der Satz allein hat Sinn. Andererseits setzt das voraus, daß der Satz nur dann Sinn hahen kann, wenn Namen Bedeutung hahen, sich also auf Gegenstände heziehen (vgl. TLP 4.024; 4.0312; 5.4733). Epistemologisch ist die Sprache primär, wie Jörg Zimmermann zutreffend hemerkt15. Die Sprache ist voraus­ gesetzt, wenn Wittgenstein Logik hetreiht. Von Wahrheit und von Sinn kann man nur auf der Ehene des Satzes sprechen. Natürlich giht es auch eine Verhindung von Satz und Wirklichkeit: »Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit« (TLP 4.01 und 4021). Das verdeutlicht man am hesten mit dem Beispiel, das Wittgenstein selher giht (vgl. TB 29.9.14): Nach einem Automohilunglück wenden sich die heteiligten Parteien an das Gericht, welches die Schuldigen zu ermitteln hat. Den Richtern ohliegt nun die Aufgahe, im Gerichtssaal den Unfall zu rekonstruieren. Dahei gehen sie mithilfe von Puppen vor, um die jeweiligen Situationen proheweise darzustellen. Wichtig sind hier nun nicht die Puppen selhst, sondern ihre gegenseitige Beziehung zueinander, denn die einen stehen in einem hestimmten Verhältnis zu den anderen. Genau gleich ist es im Satz. Die Elemente des Bildes stehen dergestalt in wechselseitigem Bezug, daß sie durch und mittels der Ahhildung die­ ser Bezüge, die die Gegenstände zueinander hahen, eine Situation repräsentieren. Der Satz mimt die Wirklichkeit. Die Puppen im genannten Beispiel repräsentieren die in den Unfall verwickelten Suhjekte. Sie sind also räumliche Bilder, die alles repräsentieren können, was zur Ordnung der Räumlichkeit gehört: 15 Vgl. Jörg Zimmermann, Wittgensteins sprachphilosophische Hermeneutik, Frank­ furt am Main: Klostermann, 1975, 20 u. ö.

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»Das Bild kann jede Wirklichkeit abbilden, deren Form es hat. Das räumliche Bild alles Räumliche, das farbige alles Farbige, etc.« (TLP 2.171).

Im Blick auf den Satz als Bild ruft der Tractatus selbst eine Schwierig­ keit wach. Der Satz scheint nämlich in der Tat gar nicht ein Bild der Wirklichkeit zu sein, zumindest auf den ersten Blick (vgl. TLP 4.011). Die Puppen und die Menschen im Gerichtssaal besitzen alle eine dreidimensionale Form. Doch der Satz ist zweidimensional, so daß die Abbildung irgendeiner dreidimensionalen Tatsache sich nicht mehr auf die gemeinsame Form der Abbildung stützen kann, die in diesem Fall die Räumlichkeit ist (was übrigens auch für die Malerei gilt). Andererseits bildet die (zweidimensionale) Notenschrift Musik ab, obwohl sie kein Bild dieser Musik zu sein scheint; und ebenso verhält es sich mit unserer Lautschrift. Das Beispiel aus der Musik (vgl. TLP 4.011; 4.013-4.0141) ist gewissermaßen krasser als das der Puppen, aber es zeigt umso deutlicher, daß die Abbildung, die der Satz macht, nichts von der Art einer Photographie oder dergleichen ist. Die Abbildung ist möglich unter der Bedingung der gemein­ samen logischen Form. Diese ist notwendig, und sie allein ist not­ wendig. Der Begriff der Notwendigkeit im Tractatus beschränkt sich auf die logische Form. Die Räumlichkeit ist sozusagen nur eine Zutat zur gemeinsamen logischen Form, eine Zutat, die übrigens den Ein­ druck erweckt, die Abbildung durch das Bild sei sehr einfach zu ana­ lysieren. Sicherlich ist das richtig, auf eine bestimmte Weise. Witt­ genstein sagt es selbst: »Ein Name steht für ein Ding, ein anderer für ein anderes Ding und unter­ einander sind sie verbunden, so stellt das Ganze - wie ein lebendes Bild - den Sachverhalt vor« (TLP 4.0311).

Oberflächlich ist die Analyse des Satzes »Die Flasche Wein ist auf dem Tisch« durchgeführt, wenn wir sagen, daß a (die Flasche Wein) in der Beziehung R (ist auf) zu b (dem Tisch) steht, was als Formalis­ mus aRb gibt. Das ist ein verständliches Bild (vgl. TLP 4.012). Aller­ dings ist diese Analyse des Bildes nur eine oberflächliche, eine »naive Analyse«16, keine »vollständige« (TLP 3.25). Eine Analyse ist näm­ lich erst dann vollständig und zu Ende geführt, wenn der Satz nur noch aus undefinierten Namen als seinen Elementen besteht, deren 16 Albert Shalom, »L. Wittgenstein. Du langage comme image au langage comme outil«, in: Langages 2 (1966) 96-107, hier 101.

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gegenseitiges Verhältnis mithilfe von logischen Konstanten logisch beschrieben wird. Die Namen im Satz sind Undefiniert, weil sie Va­ riablen sind und als solche »das eigentliche Zeichen des Scheinbegrif­ fes Gegenstand« (TLP 4.1272). Der entscheidende Punkt ist hier der, daß beide, Satz und Tatsache, »die gleiche logische (mathematische) Mannigfaltigkeit besitzen« (TLP 4.04). Diese Mannigfaltigkeit kann man allerdings selbst nicht wieder abbilden (vgl. TLP 4.041), was auch im Grundgedanken des Tractatus ausgedrückt wird: »Mein Grundgedanke ist, daß die logischen Konstantem nicht vertreten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt« (TLP 4.0312). Wittgenstein ist im Tractatus ein »logischer Rationalist«17. Er ist kein Positivist und auch kein Empirist. Denn weder »die Flasche Wein« noch »der Tisch« noch die Konjunktion »auf« sind einfache Gegenstände, die durch Namen repräsentiert sind. Dementsprechend ist auch der Satz, um den es sich hier handelt, nicht der Satz im empirischen Raum, sondern der Satz im logischen Raum. Das Bild stellt nämlich die Sachlage im logischen Raum, nicht im empirischen Raum vor (vgl. TLP 2.11). Der logische Raum ist der Bereich dessen, was wir denken können. Er ist der Bereich des möglich Denkbaren, nicht des wirklich Gedachten. Von hier aus sehen wir denn auch deutlich, welchen Begriff der Wirklichkeit der Tractatus hat. Er ist logisch und modal18. Die Wirklichkeit wird nämlich mithilfe von Tautologie und Kontradiktion bestimmt. Wittgenstein verfolgt damit das Ziel, der Beliebigkeit von Urtei­ len den Boden zu entziehen. Was ist damit gemeint? Am besten schauen wir uns nochmals die Elementarsätze an. Ein Elementarsatz ist ein logisch vollständig analysierter Satz, der aus einer Verkettung von Namen besteht (vgl. TLP 4.22). Er »behauptet das Bestehen eines Sachverhaltes« (TLP 4.21). Elementarsätze sind logisch unabhängig: »Ein Zeichen des Elementarsatzes ist es, daß kein Elementarsatz mit ihm in Widerspruch stehen kann« (TLP 4.211). Stünde nämlich ein Elementarsatz zu einem anderen in Widerspruch, hätten wir eine Behauptung von der Form »(p+~p)«. Wäre dieser Satz aber wahr, könnte man nicht mehr zwischen den Wahrheitswerten »wahr« und »falsch« unterscheiden. »Wahr« und »falsch« wären dann beliebige Urteile. Um diese Beliebigkeit auszuschließen, bestimmt Wittgen­ stein den logischen Raum, in dem Wirklichkeit möglich ist, durch 17 Vossenkuhl, Wittgenstein, 116. 18 Vossenkuhl stellt dies klar und überzeugend dar (vgl. Wittgenstein, 123-127).

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Tautologie und Kontradiktion. Wittgenstein interessiert sich nicht für den Satz im empirischen Raum, sondern nur um den Satz im logischen Raum. Dieser logische Raum ist eine modale Größe, denn er umfaßt als Tatsachenraum alle wirklichen und gleichzeitig auch alle möglichen Tatsachen. Der Mittelpunkt aller Sätze im logischen Raum ist die Tautologie, welche immer wahr ist und die Möglichkeit des Wirklichen angiht. Die Kontradiktion ist das Gegenteil der Tau­ tologie und schließt alle logisch unmöglichen Sätze aus. Deshalb ist sie die »die äußerste Grenze der Sätze« (TLP 5.143); sie ist immer falsch (vgl. TLP 4.46-4.464). Tautologie und Kontradiktion sind die beiden Extremfälle von Wahrheitsbedingungen, also immer bzw. nie wahr (vgl. TLP 4.46). Während die Tautologie die logisch mögliche Abbildung der Wirk­ lichkeit angibt, bestimmt die Kontradiktion die Grenze dieser Mög­ lichkeit (vgl. TLP 5.143). In diesem Sinne heißt es: »Die Tautologie läßt der Wirklichkeit den ganzen - unendlichen - logischen Raum; die Kontradiktion erfüllt den ganzen logischen Raum und läßt der Wirklichkeit keinen Punkt« (TLP 4.463).

Tautologie und Kontradiktion sagen nichts, weil sie sich nicht im Zwischenraum der beiden Pole wahr und falsch befinden. Streng ge­ nommen kann die Tautologie gar nicht wahr sein, weil sie immer wahr ist und wahr sein muß, weil sie sonst gar keine Tautologie wäre. Entsprechendes gilt für die Kontradiktion. Deshalb haben Tautologie und Kontradiktion keinen Sinn. Sie sind sinnlos und zeigen, daß sie nichts sagen (vgl. TLP 4.461). Daß ein Satz eine Tautologie ist, zeigt er selbst, unmittelbar im Symbolismus (vgl. TLP 6.127). Ein tautologischer Satz sagt nichts (vgl. TLP 5.43), und dies, daß er nämlich nichts sagt, zeigt er. Da nun aber alle logischen Sätze Tautologien sind, (vgl. TLP 6.1), zeigt sich die Logik als Spiegelbild der Welt in Tautologien (vgl. TLP 6.22). Die Tautologien zeigen, daß sie nichts sagen, unmittelbar durch ihre logische Form. Sprache und Wirklichkeit sind also durch die gemeinsame logi­ sche Form miteinander verbunden. Deshalb kann die Sprache die Wirklichkeit spiegeln. Andere Formen, beispielsweise die räumliche oder die farbige, sind nur Oberfläche. Die logische Form befindet sich hingegen in der Tiefe. Sie ist das Minimum von Identität, das gefor­ dert ist, damit die Abbildung durch das Bild möglich ist, aber sie ist auch das Minimum an Identität, das immer gegeben ist, wenn man es mit einem Bild zu tun hat: Denn »jedes Bild ist auch ein logisches« ^

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('TLP 2.182). Andererseits kann ein Bild räumlich oder farbig etc. sein, aber es ist unmöglich, daß es nur das ist, weil es dann gar kein eigentliches Bild wäre. Denn die logische Form ist die conditio sine qua non der Abbildung. Jedes Bild hat also unter anderem auch eine logische Komponen­ te, welche das Bild als solches konstituiert. Durch die logische Form erhält das Bild einen authentischen Bezug zur Wirklichkeit, weil die logische Form die eigentliche Form der Wirklichkeit ist (vgl. TLP 2.18). Sie genügt, um die Wirklichkeit abzubilden (vgl. TLP 2.19), sei es in Gedanken oder Sätzen, die in bezug auf die Logik äquivalent sind (vgl. TLP 3; 3.1; ferner 4.116). Die »Logizität« ist folglich der kleinste gemeinsame Nenner aller Tatsachenbilder. Im Fall des Ge­ dankens oder des Satzes hat man es allerdings mit einem reinen lo­ gischen Bild zu tun. Deshalb ist der Gedanke bzw. der Satz das logi­ sche Bild par excellence, weil er nur das ist. Nun kann der Satz aber nicht selber sagen, daß er ein logisches Bild ist. Er kann auch seine logische Form nicht ausdrücken, die ihn mit der abgebildeten Wirklichkeit verbindet. Selbst wenn es geschä­ he, daß ein Satz die ganze Wirklichkeit abbildete, bliebe die Benen­ nung und die Darstellung dessen, was diese Abbildung ermöglicht, jenseits seiner Möglichkeiten. Der Satz ist nämlich ein logisches Bild der Wirklichkeit und müßte den Bereich des Logischen gleichsam verlassen, wollte er die logische Form abbilden. Er müßte damit aufhören, ein Satz zu sein. Die logische Form kann folglich weder im Gedanken noch im Satz explizit gemacht werden. Sie kann nicht gesagt werden, bedingt aber andererseits, daß überhaupt etwas gesagt werden kann. Als konstitutive Forderung (vgl. TLP 3.03) ist die logi­ sche Form in diesem Sinne eine transzendentale, d. h. der Sprache vorgängige, unaussprechliche und deshalb apriorische Bedingung von Gedanken und Sätzen, d. h. von Abbildung überhaupt. Es gibt also neben den besonderen Bedingungen für jede Kategorie von Bil­ dern eine allgemeine Abbildungsbedingung. Beide sind im Sinne Kants transzendentale Möglichkeitsbedingungen, weil sie notwendig und apriorisch die Abbildung erst ermöglichen. Dabei ist logische Isomorphie in jedem Fall Voraussetzung. Die oben skizzierten Bemerkungen führen uns zu der Frage nach der Möglichkeit einer Metasprache. Wir haben bereits gesehen, daß man nichts Sinnvolles über die Bedingungen der Möglichkeiten der Sprachkonzeption des Tractatus sagen kann, sondern lediglich zu sagen vermag, daß es sie gibt. Das hängt damit zusammen, daß es 26

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keine sinnvolle Metasprache gibt und auch nicht gehen kann. Die Sprache kann nämlich nicht zum Objekt ihrer selbst werden. Ein Satz kann nichts über sich selbst aussagen, weil er seinen Sinn nicht sagen kann. Er vermag aber auch den Sinn eines anderen Satzes nicht aus­ zudrücken, weil sich der Sinn zeigt (vgl. TLP 4.022). Und »was ge­ zeigt werden kann, kann nicht gesagt werden« (TLP 4.1212)19. Was es zu sagen gibt, kann der Satz auch sagen, und er muß verstanden werden können, so daß man zu einem Ja oder Nein gelangt (vgl. TLP 4.023). Deshalb bedarf die Sprache auch gar keiner Metasprache, weil diese, wie David Favrholdt zutreffend bemerkt, nicht nur unmöglich, sondern auch überflüssig ist20. Maurice Blanchot bestreitet dies, denn er behauptet, daß hier ein Mangel bestehe, eine Schwäche, eine Ohn­ macht und eine Leere, weil ein Satz seinen Sinn und den Sinn eines anderen Satzes nicht ausdrücken kann21. Aber es ist nicht das, was entscheidend ist. Entscheidend ist vielmehr, daß sich die Sprache selbst genügt, weil sich das, was nicht gesagt werden kann, zeigt, und zwar genau dadurch, daß überhaupt etwas gesagt ist. Die Tatsa­ che, daß beispielsweise der Sinn eines Satzes nur gezeigt werden kann, hat allerdings mit irgendeinem Mangel der Sprache, wie Blanchot meint, überhaupt nichts zu tun. Wenn eine Metasprache etwas über eine Sprache zu sagen be­ hauptet, steht sie außerhalb und über der Sprache, über die sie etwas sagen will. In diesem Sinne sind metasprachliche Aussagen transzen­ dentale Sätze bezüglich jenen, worüber sie handeln. Ein Beispiel hierfür sind die Formalismen. Sie sind in einer Metasprache formu­ liert, d. h. in einer Objektsprache ausgedrückt. Nun aber fragt es sich, 19 Für Gilles-Gaston Granger, (Ludwig Wittgenstein. Presentation, choix de textes, bi­ bliographie, Paris: Seghers, 1969, 42) basiert die Ablehnung jeder Metasprache im Tractatus auf dieser Unterscheidung. An anderer Stelle (»Wittgenstein et la metalangue«, in: Revue Internationale de Philosophie 23 [1969] 223-233, hier 224) verweist er auf andere Passagen, zum einen TLP 4.121, zum anderen TLP 3.332-3.333, zum dritten TLP 4.126 und 5.53-5.534. Schließlich gelangt er zur These einer dreifachen unkorrekten Anwendung von Sprache (ebd., 228f.): 1. einer meta-linguistischen, die darin besteht, Formen und Operationen darzustellen, die eigentlich gar nicht darstellbar sind; 2. einer cis-linguistischen, worunter die Tautologie, d.h. das logische Kalkül fällt; einer trans­ linguistischen, die Werturteile auszudrücken behauptet. 20 Vgl. David Favrholdt, An Interpretation and Critique of Wittgenstein's Tractatus, Copenhagen: Munksgaard, 1964, 119. 21 Vgl. Maurice Blanchot, »Le probleme de Wittgenstein«, in: Nouvelle Revue Frangaise 11 (1963) 866-875 (wiederabgedruckt in: Ders., L'Entretien infini, Paris: Gallimard, 1969, 487-493).

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ob es einen universalen Formalismus, d. h. einen Formalismus aller Formalismen gibt. Kurt Gödel hat im Jahre 1931 bewiesen, daß dies ausgeschlossen ist, weil ein vollständiges Satzsystem ohne jegliche Voraussetzung außerhalb seiner selbst unmöglich ist. In einem for­ malisierten System kann man also immer Sätze konstruieren, die ihre Erklärung nicht innerhalb desselben Systems finden. Mit an­ deren Worten: Es gibt kein System aller Systeme, es gibt keinen Formalismus aller Formalismen, es gibt keine Metasprache aller Me­ tasprachen. Denn das Prädikat »beweisbar sein« ist nicht auf finitistische Weise applizierbar. Dadurch ist man in der schwierigen Lage, daß es immer unentscheidbare Sätze innerhalb eines formalisierten Systems geben wird22. Folgerichtig muß man von Formalismen sagen, daß sie eine in­ terne Begrenzung haben. Doch nun läuft gerade die Theorie des Sat­ zes des Tractatus auf einen Formalismus hinaus (vgl. TLP 6). Dieser präsentiert das Programm des Operators N, nämlich die negierte Existenzquantifikation als eine allgemeine Regel, die auf Satzlisten an­ gewandt wird und für alle möglichen Wahrheitsfunktionen gilt23. Dieser Formalismus, dessen Notationselemente in TLP 5.5 und 5.502 eingeführt werden und der letztlich, wegen der Sheffer-Striche, nur ein Pseudoformalismus ist, gibt das Wesen des Satzes, aber auch das Wesen der Welt an, denn »das Wesen des Satzes angeben, heißt, das Wesen aller Beschreibung angeben, also das Wesen der Welt« (TLP 5.4711). Aber die allgemeine Form des Satzes, daß sich die Dinge so und so verhalten (vgl. TLP 4.5), ist selbst im Formalismus aus­ gedrückt, d. h. in einer Metasprache. Der gesamte Tractatus erweist sich damit von einer logischen Warte aus als Unsinn. Er ist auf me­ taphysischem Fundament gebaut. Der Formalismus in TLP 6 bedeu­ tet den Einsturz der Lehre, daß die Wissenschaft als einzige erkennt­ nisfähig ist, und die Aufdeckung der Absurdität, die dahinter steckt. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine totale Frustration, weil man zuerst immerhin die Leiter besteigen darf (und natürlich auch muß), bevor man sich ihrer entledigt (vgl. TLP 6.54). Diese »Selbst­ auflösung« in Metaphysik hat also doch eine Art »Wert«, sie hat auch und unleugbar ihre gute Seite. Denn sie zeigt, wie wenig er­ 22 Vgl. Kurt Gödel, »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme«, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931) 173-198. 23 Vgl. dazu Matthias Varga von Kibed, »Variablen im Tractatus«, in: Erkenntnis 39 (1993) 79-100.

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reicht ist, wenn die philosophischen Probleme gelöst sind (vgl. TLP, Vorwort). Insofern die Sätze des Tractatus von der Welt als ganzer handeln, kann man mit Fug und Recht sagen, daß wir es hier mit einem durch und durch metaphysischen Buch zu tun haben. Dieses Buch besteht aus »unsagbaren« Sätzen, die keine Wahrheitsbedin­ gungen haben und deshalb sinnlos sind. Es gehört aber zweifellos zu den Stärken des Tractatus, daß er das am Schluß ausdrücklich zugibt und Einsicht in seine Grenzen zeigt (vgl. TLP 6.54). Durch den Satz als Bild haben wir Zugang zur Wirklichkeit, von der er gleichermaßen Abbild und Modell ist (vgl. TLP 2.12)24. Der Satz stellt uns das Mögliche vor und sagt uns, daß das Mögliche ist (ob es nun falsch oder wahr sei). Die Sprache kann dabei alles Mögli­ che abbilden, aber nicht mehr als das, und vor allen Dingen nicht ihre eigenen Bedingungen. Trotzdem wird das Unsagbare durch die Spra­ che »gestreift«, weil das Bild etwas zeigt, was die in der Sprache be­ schreibbare Wirklichkeit übersteigt. Und weil das Bild ein Bild sein kann, zeigt es, daß es etwas gibt, was die Wirklichkeit, so wie von ihr vom Tractatus die Rede ist, übersteigt oder bedingt. Wirklichkeit ist nur im logischen Raum möglich. Durch die lo­ gische Form der Sätze, welche die Welt beschreiben, zeigt sich die Wirklichkeit. Die Welt ist also eine Erscheinungsweise der Wirklich­

24 Vgl. David Pears, Ludwig Wittgenstein, München: dtv, 1971, 77. Das deutsche Wort Bild bedeutet nicht nur »Abbildung«, sondern auch »Modell«. - Der Modellbegriff spielt auch in der modernen Wissenschaftstheorie eine bedeutende Rolle. Allerdings ist Wittgensteins Abbildtheorie als Modell der Wirklichkeit wissenschaftstheoretisch kaum brauchbar, weil es letztlich nur eine einzige Theorie gibt und weil diese einzige Theorie für sich allein in Anspruch nimmt, sinnvoll zu sein. Wittgensteins Wissenschaftsmodell hat ausschließlich logischen Charakter und ist insofern erfahrungsunabhängig, während z.B. Karl R. Popper für seine Falsifizierbarkeitsthese von Theorien (die hier nicht zur Debatte steht: siehe Logik der Forschung, Tübingen: Mohr, 91989) gleichzeitig auf die Mathematik (formalisierte Sprache) und auf die Physik (Erfahrung) zurückgreift. Da sich Wittgensteins These von der einzig gültigen »Modellsprache« schließlich selbst annulliert, ist sie im Grunde genommen zum Nachweis der Wissenschaftlichkeit von Disziplinen jeder Art unbrauchbar. Das rührt u.a. auch daher, daß der Tractatus ein geschlossenes System darstellt. Dadurch wird der Modelltransfer aber unmöglich. Die­ ser hingegen spielt, um nur ein Beispiel zu nennen, bei Michel Foucault (vgl. Les mots et les choses. Une archeologie des sciences humaines, Paris: Gallimard, 1966, v.a. 355 ff.) für die drei grundlegenden Geisteswissenschaften (Psychologie, Soziologie, Literatur) eine entscheidende Rolle, weil sie durch Modelltransfer aus den drei sogenannt »positi­ ven« Wissenschaften, welche als gemeinsamen Horizont die Sprache haben (Biologie, Ökonomie, Linguistik), konstituiert werden.

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keit25. Die Welt ist nur der Teil, der dem Bereich des Sagbaren ent­ spricht. Deswegen sagt Wittgenstein: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (TLP 5.6). In dem Maße, wie die Sprache die Welt begrenzt, ist die Welt auf die Möglichkeiten der Sprache reduziert. Die Bedingungen dieser Möglichkeiten sind von der Logik a priori festgelegt. Die Logik des Tractatus ist nicht-refle­ xiv26. Sätze, die die Logik über sich selbst macht, sind unsinnig. Die Logik steht nämlich nicht außerhalb der Welt, sie kann die Grenzen der Sprache nicht von einer anderen Seite als von der Sprache selbst her betrachten. Die Logik kann sich nicht außerhalb der Welt »auf­ stellen«, denn »die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen« (TLP 5.61). Weil die Logik eine »Bedingung der Welt« und insofern »transzendental« ist (TB 24.7.16; TLP 6.13), befindet sie sich auch auf der Grenze der Welt. Sie spiegelt im Symbolismus unmittelbar die logische Form. Sie ist der Spiegel, worin sich das Unsagbare zeigt (vgl. TLP 4.12-4.121). Deshalb ist sie keine Lehre, sondern ein Spie­ gelbild der Welt. Auf das, was sie widerspiegelt, soll im folgenden eingegangen werden.

2. Der Bereich des Zeigens Die Aufgabe des Tractatus liegt gemäß den Ausführungen des Vor­ worts darin, dem Ausdruck der Gedanken eine Grenze zu ziehen. Dadurch wird der Sprache eine Grenze gezogen, und zwar mit dem Ziel, Sinn von Unsinn zu unterscheiden. Wittgensteins Differenzie­ rung von Sätzen führt zu einer dreifachen, für sich jeweils exklusiven Satz-Sinn-Relation. Dabei ist zunächst erstaunlich, daß nicht nur Sinn und Unsinn, sondern auch Unsinn und Sinnlosigkeit unter­ schieden werden. Sinnvolle Sätze und sinnlose Sätze haben beide mit der (logischen) Wahrheit zu tun, während unsinnige Sätze nichts mit Logik, damit aber auch nichts mit Wahrheit zu tun haben. Sinn­ volle Sätze können, sinnlose müssen wahr oder falsch sein, d. h. sinn­ volle Sätze sind, mit Kant gesprochen, aposteriorisch, sinnlose aprio­ risch. Sinnvolle Sätze sind demnach ausschließlich die synthetischen 25 Vgl. Vossenkuhl, Wittgenstein, 338, Anm. 53. 26 Vgl. Julian Roberts, »Das rechnende Subjekt. Philosophie des Geistes und mathema­ tische Grundlagen in Wittgensteins Tractatus«, in: Wilhelm Vossenkuhl (Hg.), Von Wittgenstein lernen, Berlin: Akademie Verlag, 1992, 53-77, hier 62-65.

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2. Der Bereich des Zeigens

Sätze der (empirischen) Naturwissenschaften. Sie fällen ein Urteil und sagen insoweit etwas Neues. Hingegen sind die analytischen und damit notwendigen Sätze der Logik und Mathematik (Tautolo­ gien und Kontradiktionen) nur sinnlose Scheinsätze, denn sie sagen nie etwas Neues, fällen darum auch nie ein Urteil, sondern gehen lediglich eine Struktur an. Unsinnige Sätze stehen indessen außerhalh der semantischen Theorie von Sinn und Bedeutung. Sie fällen ein Urteil, ohwohl sie das eigentlich gar nicht können, weil sie sich außerhalh des Tatsachenraumes des kontingenten So-Seins der Welt hefinden. Sind sie erläuternd, handelt es sich um Sätze der Philoso­ phie (vgl. TLP 4.112), sind sie mystisch, handelt es sich um Sätze der Metaphysik, d. h. um Sätze der Ethik und Ästhetik (vgl. TLP 6.42­ 6.421; 6.44; 6.522)27. Nun ist aher von entscheidender Bedeutung, daß unsinnige Sät­ ze nicht schlechterdings ohne Sinn sind. Wittgenstein gehraucht nämlich den Sinnhegriff äquivok, analog dem Begriff des Suhjekts28. Sofern es sich um den Sinn in der Welt handelt, hefinden wir uns auf der Ehene einer semantischen Bedeutungstheorie. Sofern wir uns aher als metaphysisches Suhjekt zur Welt als ganzer verhalten, ist von einem Sinn die Rede, der jenseits der Welt liegt. »Der Sinn der Welt muß außerhalh ihrer liegen« (vgl. TLP 6.41). Freilich kann von diesem Sinn nichts ausgesagt werden, weil er als Korrelat zu einem Wert aufgefaßt wird, den es in der Welt aufgrund der Äquivalenz aller Sätze gar nicht gehen kann (vgl. TLP 6.4). Deshalh kann hloß darauf verwiesen werden. In dem Maße, wie die Philosophie das Saghare klar darstellt, hedeutet sie das Unsaghare, d. h. verweist auf einen der Welt transzendenten Sinn (vgl. TLP 4.115). Jener Sinn ist dem metaphysischen Suhjekt insoweit zugänglich, als er sich zeigt. Er gehört zur Domäne des Mystischen (vgl. TLP 6.522). Das unaussprechlich Mystische zeigt sich. Daß die Formulie­ rung »es zeigt sich« einer der »Liehlingsausdrücke« Wittgensteins ist, hat Karl Popper, wenn auch mit leicht spöttischem Unterton, zu­ recht hemerkt29. In Wahrheit handelt es sich dahei aher nicht nur um eine möglicherweise literarisch und stilistisch ansprechende Wen27 Zu diesem Ahschnitt möchte ich auf die üheraus klare graphische Darstellung hei Zimmermann, Wittgensteins sprachphilosophische Hermeneutik, 31, verweisen, der ich im ührigen in weiten Teilen folge. 28 Vgl. dazu das 4. Kapitel üher den Solipsismus. 29 Vgl. Popper, Logik der Forschung, 10, Anm. 4.

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1. Kapitel: Sagen und Zeigen

düng, sondern um einen zentralen, meines Erachtens um den zentra­ len Ausdruck des Tractatus. Er durchzieht nämlich das ganze Werk und spielt auf allen drei »Sinn«-Ehenen eine Rolle. Schon Erik Stenius unterscheidet verschiedene Arten des Sich-Zeigens: Er nennt sie extern und intern30. Wolfgang Stegmüller differenziert drei Arten des Zeigens, nämlich das äußere, das innere und das mystische31. Wilhelm Vossenkuhl hebt im Zusammenhang mit der Metapher des Spiegels das fundamentale oder spekulative Zeigen vom einfacheren, oberflächlichen Zeigen ab32. Wir unterscheiden im Anschluß an Hel­ mut Fahrenbach vorerst drei Arten des Zeigens bzw. Sich-Zeigens: erstens das deskriptive, zweitens das transzendentale und drittens das transzendente Zeigen33. Mit dem deskriptiven Zeigen ist gemeint, daß der Satz seinen Sinn zeigt. Wie wir gesehen haben, hängt das Verständnis des Satz­ sinnes nicht davon ab, daß wir wissen, ob er wahr oder falsch ist. Der Inhalt des Satzes ist im Satz selbst nicht enthalten. Er ist eine dem Satz externe Eigenschaft (vgl. TLP 4.13). Deshalb sagt der Satz den Inhalt nicht, im Gegenteil: »Der Satz zeigt, was er sagt« (TLP 4.461), weil er zeigen muß, was er sagen will (vgl. TB 29.10.14), da er sonst in Ermangelung seines Wirklichkeitsbezugs gar nichts sagte. Was der Satz sagt, ist, »daß es sich so verhält« (TLP 4.022); was der Satz zeigt, ist sein Sinn. Das transzendentale Zeigen bezieht sich auf die Möglichkeits­ bedingung der Abbildung überhaupt. Das ist die logische Form, d. h. die Form der Wirklichkeit überhaupt, die dem Satz intern ist und die der Satz zeigt (vgl. TLP 4.121), aber nicht, wie wir schon gesehen haben, sagen kann, weil er sonst aufhörte, ein Satz zu sein. Zudem zeigt der Satz auch alle anderen internen Eigenschaften von Tatsa­ 30 Vgl. Erik Stenius, Wittgensteins Traktat. Eine kritische Darlegung seiner Haupt­ gedanken, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969, 233-236; 290f. 31 Vgl. Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kri­ tische Einführung, Bd. 1, Stuttgart: Kröner, 71989, 555-559. 32 Vgl. Vossenkuhl, Wittgenstein, 103-106. 33 Vgl. Helmut Fahrenbach, »Die logisch-hermeneutische Problemstellung in Wittgen­ steins >TractatusRot und grün gehen nicht zusammen an denselben Ortrot< im Satze >Das ist nicht rot< erklären will, ich dazu auf etwas Rotes zeige« (PU §429; fast gleich schon in PG 163). 40 Vgl. Hacker, Insight and Illusion, 112.

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1. Kapitel: Sagen und Zeigen

Worauf will Wittgenstein hinaus? Es geht ihm offenbar darum zu zeigen, daß wir uns die Wirklichkeit durch die Sprache und in der Sprache erschließen. Ob etwas wirklich ist, muß sich nicht erst durch die aufwendige logische Analyse bewahrheiten, sondern zeigt sich unmittelbar im Gebrauch, den wir von der Sprache machen: »Was das Ding aber ist und daß es rot ist, sagen nicht das Ding und seine Farbe, sondern Sätze einer Sprache. Die Bedeutung und Existenz von Dingen ist nur denkbar, verstehbar und mitteilbar durch Sprache«41. Es gibt keine Instanz außerhalb der Sprache, an die man appellieren könnte: »In der Sprache wird alles ausgetragen« (PG 143). Dazu gehört auch eine Feststellung wie die, daß ein Stuhl braun und nicht rot ist und wir sagen: »Dieser Stuhl ist braun«. Die Übereinstim­ mung von Denken, Sprache und Wirklichkeit kann selber nicht mehr gesagt werden, sondern zeigt sich in der Grammatik: »Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen« (PU §371)42. Da darüber nicht mehr gesprochen werden kann, nennt Wittgenstein diese Überein­ stimmung, welche auf der tatsächlichen Anwendung der Sprache nach Regeln beruht, metaphysisch: »Wie alles Metaphysische ist die Harmonie zwischen Gedanken und Wirklichkeit in der Grammatik der Sprache aufzufinden« (PG 162). Die Tätigkeit, die zu diesem Auf­ finden führt, ist das Beschreiben (vgl. PU 496). Beschreiben verhält sich gewissermaßen neutral zum Sprachgebrauch, und zwar inso­ weit, als dem Sprachgebrauch keine Vorschriften gemacht werden. Beim Beschreiben, das philosophisches Tun par excellence ist, geht es nicht darum zu postulieren, wie die Sprache sein müßte oder sein könnte, sondern darum zu erkennen, wie sie tatsächlich gebraucht wird. Die Philosophie bedient sich der Beschreibung mit dem Ziel, den Sprachgebrauch zu untersuchen. Beschreibung als grammatische Analyse kann und will den Sprachgebrauch weder begründen noch verändern, sondern »sie läßt alles, wie es ist« (PU §124). Die Auf­ gabe der Philosophie ist das Beschreiben dessen, was die Sprache zeigt, und das, was die Sprache zeigt, ist das einzige Zeigen, das die Philosophischen Untersuchungen kennen. Die drei Arten des Zeigens im Tractatus leben in Wittgensteins 41 Vossenkuhl, Wittgenstein, 144. 42 Die Nähe des Grammatikbegriffs der Philosophischen Untersuchungen zum Logik­ begriff des Tractatus hat Jacques Bouveresse untersucht. Vgl. »La notion de >grammaire< chez le second Wittgenstein« in: Revue Internationale de Philosophie 23 (1969) 319— 335.

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ALBER PHILOSOPHIE

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2. Der Bereich des Zeigens

Denken nach 1929 nur noch im sprachlichen Zeigen fort. Hingegen gibt es zwei weitere Arten des Zeigens, die sowohl im Tractatus als auch in den späteren Schriften von Belang sind. Beide stehen in en­ gem Zusammenhang mit dem transzendenten Zeigen. Ich nenne sie das stilistische Zeigen und das analoge Zeigen. Das stilistische Zeigen bezieht sich auf den eigenartigen Stil des Tractatus, den Wittgenstein übrigens sein Leben lang bewahren soll­ te. Die abgeschnittenen, aphorismenartigen Sätze des Tractatus, die literarischen Formulierungen, das fast durchgängige Fehlen von Fachausdrücken und die Metaphern, von denen später vor allem die Philosophischen Untersuchungen meisterhaft Gebrauch machen, zeigen etwas: Daß im Tractatus erstens nicht geschwafelt wird (vgl. Br 95), und daß zweitens der Mißbrauch der Sprache nicht nur in der Logik, sondern überhaupt zu verurteilen ist. Denn Form und Inhalt sind nicht voneinander zu trennen. Sie bilden eine Einheit. Aus die­ sem Grunde ist auch die Numerierung nicht zufällig (vgl. Br 103). Sie zeigt das logische Gewicht der Sätze, wie die Fußnote zu TLP 1 anmerkt. Folglich sind zum Verständnis des Tractatus nicht alle Sätze gleich wichtig, oder bildhaft gesprochen: Die Leiter, die zu besteigen ist, hat größere und kleinere Sprossen, und es genügt, wenn man nur alle größeren nimmt, um nach oben und damit zur mystischen Schau zu gelangen. Ferner wollen wir das Wiener Wittgenstein-Haus vor dem Hin­ tergrund von Sagen und stilistischem Zeigen untersuchen. Es wird dabei um die Frage gehen, ob Architektur im allgemeinen und der Wittgenstein-Bau im besonderen überhaupt etwas zeigen können. Wenn sie etwas zeigen, müssen wir uns fragen, was sie zeigen. Eine ähnliche Aufgabe steht uns bevor, wenn wir mit Wittgenstein die Musikstile der Komponisten betrachten, die seinem Geschmack ent­ sprachen. Daß dabei auch kulturphilosophische Fragen erörtert wer­ den, bedingt das Thema. Das analoge Zeigen hat mit der Motivation zu tun, die Wittgen­ stein veranlaßte, den Tractatus zu schreiben. Wenn man sagen kann, daß das Buch letztlich darauf hinausläuft, die Welt richtig zu sehen, hierdurch auf das Leben zu verweisen und zu sagen, wo genau die mystische Schau beginnt, dann muß man auch angeben können, wo­ her Wittgenstein kommt. Im folgenden Kapitel werden wir im An­ schluß an das transzendente Zeigen darlegen, daß das Paradigma my­ stischen Schauens die ästhetische Kontemplation des Gegenstandes sub specie aeternitatis ist. Dieses Paradigma hat aber seine direkte ^

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1. Kapitel: Sagen und Zeigen

Entsprechung im Tractatus seihst. Das Erstaunliche dahei ist, daß die Analogien aus der Ästhetik an zentraler Stelle, nämlich da, wo es um die internen Beziehungen des Gegenstandes und um den Satz geht, angeführt werden. Im Kapitel üher die Musik und üher die Farhen werden wir darauf speziell Bezug nehmen. Unzählige Beispiele wer­ den zeigen, woher Wittgenstein dachte, nämlich oft von einer »äs­ thetischen« Seite her, von der Kunst ausgehend. Sie hilden deshalh auch eine Verständnishilfe, nicht nur für die Logik stricto sensu, son­ dern auch für die Philosophie und einige ihrer klassischen Prohleme, vor allem aher für ästhetische Phänomene und die wittgensteinsche Kunstauffassung.

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2. Kapitel

Zeigen und Fühlen: Mystik und Ästhetik

Im Tractatus nennt Wittgenstein das, worüber man nicht sprechen kann, ganz allgemein und ohne Erläuterung das Mystische: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische« ('TLP 6.522). Selbstverständlich kann man sich die Frage stellen, wozu und mit welcher Berechtigung das Mystische überhaupt thematisiert werden soll, wenn es doch unter das Diktat des Schweigens fällt. Schweigen heißt hier allerdings nur, über das Mystische keine Sätze im Sinne der Satzbildtheorie zu äußern, d. h. nur das zu sagen, was sich klar sagen läßt. Deswegen kann der Tractatus nichts über das Mystische sagen. Trotzdem gehört das Mystische genauso zum Trac­ tatus wie etwa die Bildtheorie. Seine explizite Thematisierung geht von der fundamentalen Einheit des Werks aus, wo Sagen und Zeigen in gegenseitigem Zusammenhang stehen und wo folglich das Mysti­ sche einen integralen Bestandteil des Tractatus bildet. Was auf den letzten Seiten entwickelt wird, ist keineswegs nur ein Anhang, der dort ohne jeglichen Bezug zu den vorderen Abschnitten - aus was für Gründen auch immer - seinen Platz gefunden hätte, sondern es ist der von Wittgenstein so gewollte Schluß und unter dieser Rücksicht auch die Aufgipfelung des Werks. Negierte man das, redete man einer Einseitigkeit das Wort, wie es zum Beispiel die deswegen schon oft und zu Recht kritisierten logischen Positivisten des Wiener Krei­ ses praktizierten. Dies aber führte zu Mißverständnissen wenigstens über den Stellenwert des Mystischen im Gesamt der Abhandlung Wittgensteins. Dieser schreibt in einem Brief an Ludwig von Ficker, daß der Tractatus aus zwei Teilen bestünde: aus dem, der hier vor­ läge, und aus alledem, was er nicht geschrieben hätte; und genau dieser zweite Teil sei der wichtige (vgl. Br 96 f.). Der zweite, unge­ schriebene Teil ist deshalb wichtig, weil die Wissenschaft keineswegs alle unsere Wünsche befriedigen kann. Wir spüren nämlich, daß un­ sere Lebensfragen selbst dann noch nicht einmal berührt worden sind, wenn alle Möglichkeiten wissenschaftlicher Probleme erkannt und gelöst sein sollten (vgl. TB 25.5.15 und TLP 6.52). Diese Einsicht in die Unzulänglichkeit der Wissenschaft ge^

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2. Kapitel: Zeigen und Fühlen: Mystik und Ästhetik

genüber den Lebensfragen erwächst nicht aus einem Wissen, sondern aus einem Fühlen heraus. Man könnte sagen, daß das Fühlen eine Art der Erkenntnis ist. Zeigen und Fühlen sind verwandte Begriffe. Wenn man die beiden Termini Zeigen und Fühlen auf dem Hinter­ grund von Schopenhauer liest, wird ersichtlich, daß dem Zeigen von seiten der Wirklichkeit in einem gewissen Ausmaß das Fühlen von seiten des Subjekts entspricht1. Schopenhauer unterscheidet zwi­ schen Vernunft und Gefühl. Die Vernunft ist der kontradiktorische Gegensatz zum Gefühl. Auf der Seite der Vernunft finden wir das Wissen, den Begriff, das Abstrakte. Rationale Erkenntnis ist abstrak­ te Erkenntnis. Sie liefert uns aber nichts Neues, nichts, was wir nicht schon im Fühlen erkannt hätten: »Die Vernunft ist weiblicher Natur: sie kann nur geben, nachdem sie empfangen hat. Durch sich selbst allein hat sie nichts, als die gehaltlosen Formen ihres Operirens« (WWV1 § 10). Die ursprüngliche Form der Erkenntnis ist das Gefühl, dem die Vernunft nur eine andere, und zwar eine abstrakte Form gibt. Dadurch wird die Erkenntnis sprachlich mitteilbar, weil sie nun in Begriffe gefaßt ist (vgl. WWV1 § 12). Was wir hingegen fühlen, ist in nicht-abstrakter Form in unserem Bewußtsein gegenwärtig, bevor es die Vernunft überhaupt empfangen kann. Daher ist der Inhalt des Begriffs »Gefühl« zwar negativ, aber auch ursprünglich hinsichtlich dessen, was wir durch abstraktes Wissen erkannt haben (vgl. WWV 1 §11). Was nun nach Wittgenstein gesagt werden kann, befindet sich auf seiten der schopenhauerschen Vernunft, und umgekehrt gehört das, was gezeigt werden kann, zum Bereich des schopenhauerschen Gefühls. In dieser Perspektive ist das Zeigbare in gewisser Weise ur­ sprünglicher als das Sagbare und aus diesem Grund dasjenige, was wirklich wichtig ist. Genau dies schrieb ja Wittgenstein im oben er­ wähnten Brief an Ficker. Der Kern liegt jedoch darin, daß es zu die­ sem Unaussprechlichen einen erkenntnismäßigen Zugang gibt, weil es sich fühlen läßt: Das Mystische zeigt sich im Gefühl.

1 Vgl. Friede Ricken, »Sprache und Sprachlosigkeit. LudwigWittgenstein über Religion und Philosophie«, in: Stimmen der Zeit 207 (1989) 341-352, hier 346.

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1. Die Merkmale des Mystischen

1. Die Merkmale des Mystischen Wittgensteins Lehrer Bertrand Russell nennt vier Merkmale des Mystischen. Es ist erstens der Glaube an eine andere Erkenntnisform als die sinnlich-rationale, eine Erkenntnisform, die man Offenbarung oder inneren Blick (insight) nennen könnte; es ist zweitens der Glau­ be, daß die Wirklichkeit irgendwie eine Einheit bildet; drittens die Verneinung der Realität der Zeit, so daß Vergangenheit und Zukunft nur illusorisch sind; und schließlich die Überzeugung, daß alles Böse nur Erscheinung ist, eine Illusion des analytischen Verstandes. Kenn­ zeichnend für alle diese Fälle ist das Fehlen von Empörung und Pro­ test, also eine Haltung, die alles mit Freude akzeptiert, eine Haltung, die auf dem Gefühl unendlichen inneren Friedens beruht. Freilich ist dieser Mystizismus als Doktrin für Russell ein Irrtum. Dennoch spricht er den mystischen Gefühlen einen Wert zu, die nicht nur den Künstler, sondern auch den Wissenschaftler inspirieren können. Auch letzterer kann unter Umständen von der mystischen Art zu fühlen und der Haltung des Mystikers gegenüber dem Leben etwas lernen. Gleichwohl ist ein solcher Mystizismus als wissenschaftliche Disziplin abzulehnen, weil sie nie wirklich wird wissenschaftlich sein können2. Ob Wittgenstein diesen erstmals 1914 publizierten Artikel kannte, weiß man nicht. Dennoch ist erstaunlich, daß sich die vier Charakteristika bei Wittgenstein, zumindest implizit, wiederfinden3. Es ist zunächst das sogenannt mystische Gefühl, welches unausdrückbar ist und dessen Empfindung als »insight« zur Lösung der Lebensprobleme führt (vgl. TLP 6.52-6.522). Wir haben gesehen, wie sehr der Begriff des Fühlens als die ursprüngliche und unmittel­ bare Erkenntnisform seine Wurzeln bei Schopenhauer hat. Dieser nennt die Gefühlserkenntnis auch intuitiv und sagt von ihr, sie sei Erkenntnis »in concreto« (WWV I §12). Bei Wittgenstein bezieht sich dieses Gefühl auf die Welt als ein begrenztes Ganzes (vgl. TLP 6.45), d. h. auf die Welt, insofern sie ein in sich abgeschlossenes Gefüge darstellt. Das kann dem Glauben an die Einheit der Welt zu­ geordnet werden. Drittens ist der Mystizismus durch seine Unzeit­ 2 Vgl. Bertrand Russell, »Mysticism and Logic«, in: Ders., Mysticism and Logic, Lon­ don: Unwin Paperbacks, 1986, 20-48, hier 27-29. 3 Vgl. Brian McGuinness, »Die Mystik des >Tractatus(Ethics and Aesthetics are one)